Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert: eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung 9783737008914, 3737008914


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Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert: eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung
 9783737008914, 3737008914

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Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik

Band 17

Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand: Thomas Sandkühler, Michele Barricelli, Monika Fenn, Markus Bernhardt und Astrid Schwabe

Thomas Sandkühler / Charlotte Bühl-Gramer / Anke John / Astrid Schwabe / Markus Bernhardt (Hg.)

Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung

Mit 45 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-7370-0891-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild:  Chris VogelsÐnger

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Sandkühler Zum Stand von Disziplin und Verband . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Charlotte Bühl-Gramer Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung . .

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Keynotes: Why History Education? Klas-Göran Karlsson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dorothee Wierling

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T. Mills Kelly

Sektion 1: Was? Historisches Lernen in der Schule – Theorien und Themen Markus Bernhardt Was? Historisches Lernen in der Schule – Theorien und Themen. Einführung in die Sektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Johannes Meyer-Hamme Was heißt „historisches Lernen“? Eine Begriffsbestimmung im Spannungsfeld gesellschaftlicher Anforderungen, subjektiver Bedeutungszuschreibungen und Kompetenzen historischen Denkens

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75

Meik Zülsdorf-Kersting Historisches Lernen in der Schule. Überlegungen zu einer Theorie des Geschichtsunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Ulrich Baumgärtner Was sollen SchülerInnen wissen? Zu Inhalten und Themen im Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Markus Bernhardt Historia magistra vitae? Zum Gegenwarts- und Zukunftsbezug des Geschichtsunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Jutta Mägdefrau / Andreas Michler Wo ist das Kind in der Geschichtsunterrichtsforschung? Interdisziplinäre Angebots-Nutzungsforschung am Beispiel des Projekts „Adaptive Lernaufgaben in Geschichte – ALGe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Saskia Handro Kommentar : „Was?“ Geschichtsdidaktik zwischen Perzeption und Performanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Sektion 2: Für Wen? Verschiedenheit, Inklusion und Exklusion Thomas Sandkühler Für wen? Verschiedenheit, Inklusion und Exklusion. Einführung in die Sektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Bettina Alavi / Sebastian Barsch Vielfalt vs. Elite? Geschichtsunterricht zwischen Subjektorientierung und Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Marcus Otto Inklusion/Exklusion und die Anrufung von Subjekten in der Migrationsgesellschaft: Die Adressierung der Lernenden in aktuellen Geschichtsschulbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Thomas Sandkühler / Guido Lenkeit Exklusion durch historische Bildung? Fachlichkeit und gesellschaftliche Teilhabe in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Christoph Hamann Kommentar : „Für wen?“ Subjektorientierung und Inklusion . . . . . . . 255

Inhalt

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Sektion 3: Wie? Der Blick auf die Unterrichtsgestaltung Anke John Wie? Der Blick auf die Unterrichtsgestaltung. Einführung in die Sektion . 265 Saskia Handro Geschichte lesen, aber wie? Plädoyer für eine geschichtsdidaktische Profilierung von Lesestrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Stefan Benz Multiperspektivität. Vom Prinzip des Geschichtsunterrichts zum Schlüsselkonzept der interkulturellen Kompetenz . . . . . . . . . . . . . 295 Philippe Weber Dialogisches Erzählen im Geschichtsunterricht. Die Rollenverteilung zwischen Lernenden und Lehrenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Jan Hodel Sinnbildung, Erzählung, Medien. Triftigkeiten als Grundlage für die Beurteilung von Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Michele Barricelli Kommentar : „Wie?“ Die Unterrichtsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . 347

Sektion 4: Wer? Die Akteure Charlotte Bühl-Gramer Wer? Die Akteure. Einführung in die Sektion . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Katharina Litten Wie lässt sich Planung von Geschichtsunterricht bewerten? – Am Beispiel von Referendarinnen und Referendaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Mario Resch / Manfred Seidenfuß Aufgaben formulieren im Geschichtsunterricht – Das Wissen und Können angehender Lehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Peter Johannes Droste Kommentar : „Wer?“ Die Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

8

Inhalt

Sektion 5: Womit? (Digitale) Medien des historischen Lernens Astrid Schwabe Womit? (Digitale) Medien des historischen Lernens. Einführung in die Sektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Roland Bernhard / Christoph Kühberger „Digital history teaching“? Qualitativ empirische Ergebnisse aus 50 teilnehmenden Beobachtungen zur Verwendung von Medien im Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Waltraud Schreiber / Christiane Bertram Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung. Wie empirische Studien helfen können, Geschichtsunterricht besser zu verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Peter Gautschi / Martin Lücke Historisches Lernen im digitalen Klassenzimmer : Das Projekt „Shoa im schulischen Alltag“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Alfons Kenkmann Kommentar : „Womit?“ (Digitale) Medien des historischen Lernens

. . . 487

Danksagung

Der vorliegende Band dokumentiert die XXII. Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik, die unter der Überschrift „Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung“ vom 28.– 30. September 2017 in Berlin stattfand. Es war die erste Zweijahrestagung seit 1979 in dieser so geschichtsträchtigen Stadt. Seinerzeit hatte man sich in den Räumen der Pädagogischen Hochschule Westberlins getroffen.1 2017 tagten wir in der historischen Mitte Berlins.2 Die Berliner Tagung 1979 ist die einzige KGD-Zweijahrtagung, aus der keine Buchveröffentlichung hervorging. Immerhin scheint uns bemerkenswert, dass sich unsere Disziplin schon vor rund vier Jahrzehnten mit der Frage auseinandersetzte, welchen Beitrag der Geschichtsunterricht zum historischen Lernen über den Nationalsozialismus leistete.3 Die Befunde einer aktuellen, von der Körber-Stiftung in Auftrag gegebenen Erhebung verweisen auf die andauernde Aktualität dieses Themas über alle politischen Umbrüche hinweg.4 Nicht nur durch diese Umfrage, deren Ergebnis der Leiter des Bereichs Bildung der Stiftung, Sven Tetzlaff, vorstellte, sondern auch durch ein Grußwort und die Ausrichtung einer Podiumsdiskussion unter der Leitfrage „Wozu [noch] Geschichtsunterricht?“ hat die Körber-Stiftung diese Zweijahrestagung nachhaltig unterstützt. Die Humboldt Universität zu Berlin hat sich materiell und 1 Vgl. den Tagungsbericht von Joachim Radkau: Historisches Bewusstsein und Identität. In: Geschichtsdidaktik 5 (1980), S. 90–93. – Für schriftliche Auskünfte v. 12. 9. 2017 aus dem Umkreis ihrer entstehenden Dissertation zur Geschichte des Fachverbands danken wir Frau Friederike Volkmer-Tolksberg (Bochum). 2 Vgl. das Tagungsprogramm unter https://www.historicum.net/fileadmin/sxw/Didaktik/04_ Forschung/01_Zweijahrestagung/Programm_kgd_xxii_2017.pdf (aufgerufen am 20. 5. 2018). 3 Bodo von Borries: Unkenntnis des Nationalsozialismus – Versagen des Geschichtsunterrichts? Bemerkungen zu alten und neuen empirischen Studien. In: Geschichtsdidaktik 5 (1980), S. 109–126. 4 forsa Politik-und Sozialforschung GmbH: Geschichtsunterricht. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von 1.009 Bundesbürgern ab 14 Jahren sowie von 502 Schülern ab 14 Jahren im Auftrag der Körber-Stiftung. Ms. Berlin September 2017.

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Danksagung

durch die Grußworte der Universitätspräsidentin, Professorin Kunst, unserem Vorhaben verbunden gezeigt. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat es als Hauptsponsorin ermöglicht, dass die Tagung an diesem Ort – im dbb-Forum Berlin – und in diesem Rahmen – es waren rund 270 Personen anwesend – stattfinden konnte. Frau Hanna Liever hat die operative Seite dieser Kooperation betreut und war uns eine unentbehrliche Wegbegleiterin. Die Bundeszentrale hat auch durch das Grußwort ihres Präsidenten Thomas Krüger zum Ausdruck gebracht, warum ihr an der Zweijahrestagung gelegen war.5 Der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands hat durch ein Grußwort seines Bundesvorsitzenden Ulrich Bongertmann gemeinsame Interessen der beiden Verbände am Geschichtsunterricht betont, ohne Bewertungsunterschiede zu verschweigen. Ein „Markt der Möglichkeiten“ über das, was der heutige Geschichtsunterricht kann, wäre ohne die Mitwirkung vieler engagierter Schülerinnen und Schüler nicht möglich gewesen. Sie zeichneten auch für die Gestaltung des Rahmenprogramms verantwortlich. Zahlreiche studentische Hilfskräfte wirkten vor und hinter den Kulissen mit. Herr Chris Vogelsänger hat sich besondere Verdienste um das Corporate Design der Tagung erworben. Allen genannten Institutionen und Personen möchten wir im Namen des Vorstands und der Mitgliedschaft der Konferenz für Geschichtsdidaktik herzlich danken. Der persönliche Dank des Verbandsvorsitzenden geht an seine Mitarbeiterin, Dr. Sabine Moller. Ohne ihre kontinuierliche Arbeit an diesem komplexen Vorhaben hätte die Zweijahrestagung 2017 nicht so ausgerichtet werden können, wie es am Ende möglich war. Berlin, im Juni 2018 Die Herausgeberinnen und Herausgeber

5 Wir freuen uns, dass der vorliegende Band parallel zur Verlagsausgabe in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erscheinen wird.

Thomas Sandkühler

Zum Stand von Disziplin und Verband

Der Vortrag des KGD-Vorsitzenden hat an dieser Stelle traditionell zur Aufgabe, die Mitglieder über Entwicklungen des Verbands in den letzten zwei Jahren zu informieren und einen Ausblick auf den Stand der Disziplin zu geben.1

Innere Entwicklung des Verbandes Beginnen wir mit einigen wenigen Daten und einer traurigen Mitteilung. Der Verband ist von 328 auf 343 persönliche Mitglieder weitergewachsen, von denen allein seit Juni dieses Jahres – also wegen dieser Zweijahrestagung – zwölf neu in die KGD eingetreten sind. Da wir allerdings seit dem letzten Bericht auch Austritte hatten, beläuft sich die aktuelle Mitgliederzahl auf 346, darin eingeschlossen neun korporative Mitglieder. Mit Erschütterung hat der Vorstand die Nachricht aufgenommen, dass die Geschichtsdidaktikerin Jessica Seider viel zu früh verstorben ist. Sie hätte in der heutigen Sektion 4 vortragen sollen. Dort wurde ihrer bereits gedacht. Die Konferenz für Geschichtsdidaktik wird Jessica Seider ein ehrendes Andenken bewahren.

Information und Kommunikation Der Information der Mitgliedschaft dient wie bisher der regelmäßig erscheinende „Newsletter“ der KGD. Die Homepage der KGD im Portal historicum.net wird weiterhin viel frequentiert und ist mit ihrer Rubrik „Aktuelles“ die wichtigste Informationsbörse für geschichtsdidaktische Stellenausschreibungen, 1 Der Text entspricht weitgehend dem im Rahmen der KGD-Mitgliederversammlung gehaltenen Vortrag. Hinzugefügt wurde für den Druck ein Abschnitt über geschichtsdidaktische Neuerscheinungen, der im Vortrag aus Zeitgründen entfallen musste.

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Thomas Sandkühler

Konferenzankündigungen etc.2 Die 2015 vorgenommene Zusammenfassung der einschlägigen Informationen unter einer Rubrik „Wissenschaftlicher Nachwuchs“ hat sich bewährt.3 An dieser Stelle sei der Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, Astrid Schwabe, für ihre engagierte Betreuung von Homepage und Newsletter gedankt. Nach wie vor machen die Standorte von der Möglichkeit, geschichtsdidaktische Qualifikationsvorhaben über die Homepage der KGD der Fachöffentlichkeit vorzustellen, noch zu wenig Gebrauch. Darüber hinaus bietet – wie im Newsletter wiederholt kommuniziert – die bildungswissenschaftliche Datenbank ProHaBil die Möglichkeit, Qualifikationsschriften zu registrieren.4 Die Sichtbarkeit der Geschichtsdidaktik kann jedoch nur dann erhöht werden, wenn die allermeisten oder sogar alle Standorte Meldungen in ProHaBil vornehmen, weil andernfalls der unzutreffende Eindruck entstehen könnte, dass in der Geschichtsdidaktik nur wenige Qualifikationsschriften angefertigt werden.

Nachwuchsförderung Der Beschluss der Mitgliederversammlung 2011, die bis dahin in Witten-Bommerholz stattfindenden Nachwuchstagungen der KGD in ein festeres Format zu bringen, hat sich bewährt.5 Im Juli 2016 fand die VIII. Nachwuchstagung der KGD an der Universität Flensburg statt. Die gut frequentierte Tagung bot zehn jüngeren Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit, ihre Projekte vorzustellen. Das Gesprächsklima war konstruktiv-kritisch und engagiert.6 Herzlichen Dank an Uwe Danker und Astrid Schwabe für die exzellente Vorbereitung und Ausrichtung dieser Konferenz. Der zugehörige Band ist soeben erschienen.7 2 3 4 5

https://www.historicum.net/kgd/aktuelles. https://www.historicum.net/kgd/wiss-nachwuchs. http://www.fachportal-paedagogik.de/qualifizierungsarbeiten/qualifizierungsarbeiten.html. https://www.historicum.net/de/kgd/wiss-nachwuchs/nachwuchstagung/ (aufgerufen am 14. 9. 2017). Ludwigsburg 2012 (vgl. den Tagungsbericht v. 15. 4. 2013 unter https://www.hsoz kult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4760, aufgerufen am 14. 9. 2017), vgl. Tobias Arand/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Neue Wege – Neue Themen – Neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Nachwuchsforschung (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 7). Göttingen 2014; Frankfurt 2014 (Tagungsbericht v. 6. 1. 2015 unter http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5749, aufgerufen am 14. 9. 2017), vgl. Gerhard Henke-Bockschatz (Hrsg.): Neue geschichtsdidaktische Forschungen. Aktuelle Projekte (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 10). Göttingen 2016. 6 Vgl. den Tagungsbericht v. 4. 10. 2016 unter https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/ta gungsberichte-6724 (aufgerufen am 14. 9. 2017). 7 Uwe Danker (Hrsg.): Geschichtsunterricht – Geschichtsschulbücher – Geschichtskultur. Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungen des wissenschaftlichen Nachwuchses (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 15). Göttingen 2017.

Zum Stand von Disziplin und Verband

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Die Mitgliederversammlung wird sich über den Ort und die Ausrichtung der nächsten Nachwuchstagung im Jahr 2018 verständigen.

Verbandspolitik und „Außenbeziehungen“ Im März 2017 ist Holger Thünemann, Geschichtsdidaktiker an der Universität zu Köln, vom Amt des Schriftführers der KGD zurückgetreten. Diesem Schritt waren Differenzen mit Teilen des Vorstands vorausgegangen, die nicht in die Verbandsöffentlichkeit gehören. Mit Blick auf die vergleichsweise kurze noch verbleibende Amtszeit des amtierenden Vorstands hat Charlotte Bühl-Gramer das Amt der Schriftführerin kommissarisch übernommen, bis die Mitgliederversammlung einen neuen Vorstand wählt. Ich danke dem Kollegen Thünemann für seine engagierte Vorstandsarbeit und der Kollegin Bühl-Gramer für ihre Bereitschaft, diese zusätzliche Aufgabe zu übernehmen. Die Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD), die Dachgesellschaft der fachdidaktischen Disziplingesellschaften, hält ihre Mitgliederversammlungen regelmäßig in Berlin ab, so dass ich als Vorsitzender der KGD an diesen Treffen in größerer Runde teilnehmen kann. Die GFD unterhält eine eigene Buchreihe, bemüht sich um die Systematisierung fachdidaktischer Forschungsprogramme und treibt das Programm einer „Allgemeinen Fachdidaktik“ voran.8 Eine Arbeitsgruppe, der ich angehöre, kümmert sich derzeit um das zunehmend drängende Problem des Quer- und Seiteneinstiegs in das schulische Lehramt.9 Es bleibt abzuwarten, ob die Fachdidaktiken, wie schon wiederholt erbeten, in künftigen Rahmenprogrammen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung explizit berücksichtigt werden. Die erste Ausgabe der englischsprachigen Online-Zeitschrift der GFD, „Research in Subject-Matter Teaching and Learning“ (RISTAL), von der an dieser Stelle schon einmal die Rede war, soll in diesen Tagen veröffentlicht werden.10 Die Zeitschrift finanziert sich derzeit aus

8 Horst Bayrhuber u. a. (Hrsg.): Formate Fachdidaktischer Forschung. Empirische Projekte – historische Analysen – theoretische Grundlegungen (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 2). Münster 2012; Dies. (Hrsg.): Auf dem Weg zu einer Allgemeinen Fachdidaktik (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 9/Allgemeine Fachdidaktik, Bd. 1). Münster 2016. 9 Gesellschaft für Fachdidaktik e. V.: Ergänzende Wege der Professionalisierung von Lehrkräften. Positionspapier der GFD zur Problematik des Quer- und Seiteneinstiegs, Februar 2018, http://www.fachdidaktik.org/wp-content/uploads/2015/09/PP-20-Positionspapierder-GFD-2018-Erg%C3%A4nzende-Wege-der-Professionalisierung-von-Lehrkr%C3%A4f ten.pdf (aufgerufen am 4. 5. 2018). 10 Die Erstausgabe erschien tatsächlich erst am 20. 4. 2018, vgl. http://www.ristal.org/volumes/ 2018/volume-12018/?tx_news_pi1%5Bnews%5D=358& cHash=035f1d1252adc9f412b6294 823dd4ce5 (aufgerufen am 17. 5. 2018).

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Thomas Sandkühler

dem Etat der GFD und einem Zuschuss der Universität Wien an ihren Herausgeber, den früheren GFD-Vorsitzenden Martin Rothgangel. Das diesjährige Symposium der Gesellschaft für Geschichtsdidaktik Österreichs, das unlängst an der Pädagogischen Hochschule Klagenfurt stattfand, diskutierte „Professionsverständnis und Professionalisierung von GeschichtslehrerInnen“, das bereits Thema einer Zweijahrestagung der KGD war.11 Durch Abstimmung zwischen den beiden Verbänden war es in diesem Jahr möglich, Terminüberschneidungen zwischen den großen Tagungen zu vermeiden, wie sie früher gelegentlich vorgekommen sind. Ich bin gern der Einladung der österreichischen Kollegen gefolgt, in Klagenfurt eine Keynote aus deutscher Sicht beizusteuern, und begrüße Christoph Kühberger als neuen Obmann der GDÖ in unserer Mitte. Der 51. Deutsche Historikertag fand im September 2016 an der Universität Hamburg statt. Das Oberthema lautete „Glaubensfragen“.12 Die Geschichtsdidaktik war dort erneut – wie bereits beim Göttinger Historikertag – mit nur einer Sektion vertreten. Unter der Leitung von Martin Lücke trugen Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz Erfahrungen zum Thema „Die Shoah im schulischen Alltag – Zur Pragmatik und Empirie des Einsatzes von videografierten Zeitzeugeninterviews im Geschichtsunterricht“ vor.13 Herzlichen Dank an alle Beteiligten. Der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands zeichnete für zwei Sektionen verantwortlich, ferner für das „Forum für Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“, das zum zweiten Mal vom VGD in Kooperation mit dem Klett Verlag ausgerichtet wurde. Traditionell gehört der oder die Vorsitzende der KGD dem Arbeitsausschuss des Verbands der Historiker Deutschlands an. Ich freue mich, dass ich von der letztjährigen Mitgliederversammlung des VHD als Nachfolger Michael Sauers in dieses Gremium gewählt wurde.14 Der Arbeitsausschuss bereitet gegenwärtig den nächsten Historikertag vor. Er wird vom 25.–28. September 2018 an der Universität Münster stattfinden. Das Motto lautet „Gespaltene Gesellschaften“. Die Münsteraner Kollegin Saskia Handro gehört dem Ortskomitee an. Sektions11 Professionsverständnis und Professionalisierung von GeschichtslehrerInnen. 7. Internationales Symposium der Gesellschaft für Geschichtsdidaktik Österreichs, 22.-23. 9. 2017, http:// www.ph-kaernten.ac.at/fileadmin/media/REE/Programmfolder_Tagung_GD%C3%96_2017. pdf (aufgerufen am 26. 9. 2017), vgl. Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 5). Göttingen 2013. 12 https://www.historikertag.de/Hamburg2016/ (aufgerufen am 24. 9. 2017). 13 Vgl. den Tagungsbericht von Michele Barricelli. In: H-Soz-Kult, 21. 10. 2016, www.hsozkult. de/conferencereport/id/tagungsberichte-6767 (aufgerufen am 14. 3. 2018). 14 https://www.historikerverband.de/verband/vorstand-und-ausschuss/ausschuss.html (aufgerufen am 14. 3. 2018).

Zum Stand von Disziplin und Verband

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vorschläge können bis zum 31. Oktober 2017 eingereicht werden. Die Geschichtsdidaktik ist beim Historikertag üblicherweise mit zwei Sektionen vertreten. Der Arbeitsausschuss sieht gehaltvollen Sektionsvorschlägen mit Interesse entgegen.15

Publikationen der KGD Seit der Aachener Zweijahrestagung sind zwei Bände der „Zeitschrift für Geschichtsdidaktik“ erschienen, der Jahresband 2016 zum Thema „Geschichtsdidaktik postkolonial“, herausgegeben von Bernd Grewe (Tübingen), und das aktuelle Heft zur „Geschichtskultur“, herausgegeben von der Schweizer Kollegin B8atrice Ziegler (Aargau).16 Beiden HerausgeberInnen herzlichen Dank für ihr Engagement bei der aufwändigen Betreuung der beiden Hefte und ihre gehaltvollen Einführungen in die Heftthemen. Der Jahresband 2018 wird sich des gegenwärtig intensiv diskutierten Problems „Fakten und Fiktionen“ annehmen. Herausgeber ist der Hamburger Kollege Andreas Körber, dessen Call for Papers bereits vorliegt.17 Im Berichtszeitraum sind sechs weitere Bände der Schriftenreihe „Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik“ erschienen, fünf Sammelbände und eine Monographie. Gerhard Henke-Bockschatz hat die Beiträge der Frankfurter Nachwuchstagung unter dem Titel „Neue geschichtsdidaktische Forschungen“ publiziert.18 Es folgten ein Band von Christian Kuchler und Benjamin Städter über Zeitungen als Geschichts- und Lernquellen sowie der vom Vorstand gemeinsam mit Herrn Kuchler herausgegebene Aachener Tagungsband über „Geschichte im interdisziplinären Diskurs“.19 Als Ergebnis einer Flensburger 15 Im inzwischen vorliegenden Programm des 52. Deutschen Historikertags ist aus dem Umkreis der KGD die von Meik Zülsdorf-Kersting geleitete Sektion „Standardisierung oder Pluralisierung? Geschichtsunterricht in der ,gespaltenen‘ Gesellschaft“ enthalten: https:// www.historikertag.de/Muenster2018/?s=Geschichtsdidaktik (aufgerufen am 25. 5. 2018). 16 Bernd Grewe (Hrsg.): Geschichtsdidaktik postkolonial (Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 [2016]); B8atrice Ziegler (Hrsg.): Geschichtskultur (Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 [2017]). 17 https://www.historicum.net/fileadmin/sxw/Didaktik/05_Zeitschrift/CfP_ZfGD_2018.pdf (aufgerufen am 25. 9. 2017). 18 Henke-Bockschatz (Anm. 5), vgl. die Rezension von Wolfgang Hasberg. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 204–206. 19 Christian Kuchler/Benjamin Städter (Hrsg.): Zeitungen von gestern für das Lernen von morgen? Historische Tagespresse im Geschichtsunterricht (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 11). Göttingen 2016, vgl. die Rezension von Steffen Barth. In: H-SozKult, 04. 11. 2016, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26259 (aufgerufen am 1. 3. 2018); Michael Sauer/Charlotte Bühl-Gramer/Anke John/Astrid Schwabe/Alfons Kenkmann/Christian Kuchler (Hrsg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen

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Thomas Sandkühler

Tagung haben Uwe Danker und Astrid Schwabe einen Band über die „NSVolksgemeinschaft“ veröffentlicht.20 Zuletzt sind erschienen Katharina Littens Dissertation über die Unterrichtsplanung von Geschichtslehrkräften und der bereits erwähnte Band zur Nachwuchstagung 2016, herausgegeben von Uwe Danker.21 In den „Beiheften“ können und sollen Forschungsmonographien veröffentlicht werden. Um die Attraktivität der Schriftenreihe zu erhöhen, hat der Vorstand der KGD den Druckkostenzuschuss für herausragende geschichtsdidaktische Qualifikationsschriften ab dem Prädikat „magna cum laude“ von 600 auf 1.000 Euro erhöht. Anträge auf Aufnahme in die „Beihefte“ sind von den Betreuerinnen und Betreuern an den Vorstand zu richten.

Geschichtsdidaktische Neuerscheinungen Nach den Standardwerken von Joachim Rohlfes, Michael Sauer und Hans-Jürgen Pandel22, drei sehr unterschiedlichen Kompendien der Geschichtsdidaktik, sind zwei Neuerscheinungen ähnlichen Zuschnitts anzuzeigen. Ulrich Baumgärtner hat einen „Wegweiser Geschichtsdidaktik“ verfasst, der den aktuellen Kenntnisund Diskussionsstand mit deutlichem Schulbezug darbietet.23 Selbstbewusster tritt die „Geschichtsdidaktik“ der Bochumer Kollegin Nicola Brauch auf, doch

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– Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 12). Göttingen 2016, vgl. die Rezension von Robert Dittrich in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 302–308. Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Die NS-Volksgemeinschaft. Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen? (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 13). Göttingen 2017, dazu die Rezension von Philipp Mittnik. In: sehepunkte 17 (2017), Nr. 11 [15. 11. 2017], http://www.sehepunkte.de/2017/11/ 30616.html (aufgerufen am 1. 3. 2017). Katharina Litten: Wie planen Geschichtslehrkräfte ihren Unterricht? Eine empirische Untersuchung der Unterrichtsvorbereitungen von Geschichtslehrpersonen an Gymnasien und Hauptschulen (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 14). Göttingen 2017, vgl. die Rezensionen von Christian Heuer in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 294f., und Manfred Seidenfuß. In: sehepunkte 18 (2018), Nr. 2 [15. 02. 2018], http://www. sehepunkte.de/2018/02/30391.html (aufgerufen am 2. 3. 2018), vgl. Danker (Anm. 7). Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. 3. Aufl. Göttingen 2005; Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. Seelze 10. Aufl. 2012; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2. Aufl. 2017. Ulrich Baumgärtner : Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule. Paderborn 2015, vgl. die Rezensionen von Thomas Martin Buck in: H-Soz-Kult, 14. 03. 2016, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25476 (aufgerufen am 1. 3. 2018) und Matthias Weipert in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 188f.

Zum Stand von Disziplin und Verband

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wird das Buch nach Auffassung seiner Rezensenten den eigenen Ansprüchen nicht gerecht.24 Wer die geschichtstheoretischen Implikationen und Fallstricke der gegenwärtigen Geschichtsdidaktik verstehen will, kann nunmehr zu einem weiteren Buch Hans-Jürgen Pandels greifen, das sich in die Tradition der Historik25 stellt, aber an Schülerinnen und Schüler wendet: „Geschichtstheorie. Eine Historik für Schülerinnen und Schüler – aber auch für ihre Lehrer“.26 Das Buch schließt an die vielgelesene Geschichtsdidaktik Pandels an, die ja ebenfalls als „Theorie für die Praxis“27 konzipiert war, vermehrt um eine Anzahl geschichtstheoretischer Basistexte, die im Geschichtsunterricht gelesen werden können. Von ganz anderen Ausgangspunkten kommt der Schweizer Geschichtsdidaktiker Christian Mathis zu ähnlichen Empfehlungen. Schweizer Schülerinnen und Schüler seien in ihrer Auseinandersetzung mit der Schreckensherrschaft in der Französischen Revolution so stark von „präsentistischen“ Alltagstheorien und Interessen bestimmt, dass ein moderner Geschichtsunterricht Schülerinnen und Schülern das historische Denken also solches näher bringen und transparent machen müsse.28 Unter den Neuerscheinungen der letzten zwei Jahre sind die Dissertationen von Andrea Kolpatzik über Zeitgeschichte in Online-Medien sowie Christiane Bertram über den Zeitzeugeneinsatz im Geschichtsunterricht und dessen paradoxe Auswirkungen auf das historische Lernen zu erwähnen.29 Zur Empirie

24 Holger Thünemann: Rezension zu Nicola Brauch: Geschichtsdidaktik. Berlin 2015. In: HSoz-Kult, 24. 06. 2016, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25475; Manfred Seidenfuß: Einführungsliteratur zur Geschichtsdidaktik (Rezension). In: sehepunkte 16 (2016), Nr. 11 [15. 11. 2016], http://www.sehepunkte.de/2016/11/27549.html (beide aufgerufen am 1. 3. 2018); Christian Heuer : Rezension zu Nicola Brauch: Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 190–192. 25 Vgl. zuletzt Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u. a. 2013. 26 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtstheorie. Eine Historik für Schülerinnen und Schüler – aber auch für ihre Lehrer. Schwalbach/Ts. 2017, vgl. die Rezensionen von Jörg van Norden. In: sehepunkte 17 (2017), Nr. 6 [15. 06. 2017], http://www.sehepunkte.de/2017/06/28449.html (aufgerufen am 1. 3. 2018) und Johannes Meyer-Hamme. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 297f. 27 Pandel (Anm. 22). 28 Christian Mathis: „Irgendwie ist doch da mal jemand geköpft worden“. Didaktische Rekonstruktion der Französischen Revolution und der historischen Kategorie Wandel (Beiträge zur didaktischen Rekonstruktion, Bd. 44). Baltmannsweiler 2015. 29 Andrea Kolpatzik: Zeitgeschichte wird gemacht. Geschichtskulturelle Analyse von Produktion, Vermittlung und Aneignung medialer Geschichtskonstruktionen im Web 2.0 am Beispiel von FAZ, Spiegel Online, ZDF. Schwalbach/Ts. 2016, dazu die Rezension von Carolin Hestler. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 289–291; Christiane Bertram: Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance oder Risiko für historisches Lernen? Eine randomisierte Interventionsstudie (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 6). Schwalbach/ Ts. 2016, vgl. die Rezensionen von Nicola Brauch. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16

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liegt auch ein Sammelband unter dem Titel „Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung“ vor, den Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting als Ertrag mehrerer Tagungen des Arbeitskreises „Empirische Geschichtsunterrichtsforschung“ publiziert haben. Konzeptionell schließt das Buch an einen in derselben Reihe erschienenen Band zur internationalen Forschung über den Geschichtsunterricht an.30 Es stellt alle relevanten Methoden der geschichtsdidaktischen Unterrichtsforschung kenntnisreich dar und wirft die Frage nach der Abgrenzung zwischen spezifisch geschichtsdidaktischen, pädagogischen und psychologischen Forschungsformaten auf.31 Über die breit angelegte Testung des Kompetenzmodells der FUER-Gruppe berichtet ein neuerer Sammelband.32 Dem geschichtsdidaktischen Kernthema des Erzählens – früher oft narrative Kompetenz genannt – widmet sich ein Schweizer Sammelband aus theoretischer, empirischer und pragmatischer Perspektive.33 Mittlerweile artikuliert sich ein gewisses Unbehagen von Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktikern an einer als steril wahrgenommenen Kompetenzdebatte. Die österreichischen Kollegen Heinrich Ammerer, Thomas Hellmuth und Christoph Kühberger plädieren dafür, diese um die Frage nach der Subjektorientierung zu erweitern und die geschichtsdidaktische Tradition der Hinwendung zum Lernenden mit neuem Leben zu erfüllen.34 Mit ähnlicher Intention werden in einem von Saskia Handro und Bernd Schönemann herausgegebenen Münsteraner Sammelband „Weiße Flecken der Kompetenzdebatte“ identifiziert und bearbeitet.35 Dies ist zugleich der gewichtigste Band der beim

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(2017), S. 267–269, und Juliane Brauer. In: sehepunkte 17 (2017), Nr. 7/8 [15. 07. 2017], http://www.sehepunkte.de/2017/07/29845.html (aufgerufen am 1. 3. 2018). Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 5). Schwalbach/Ts. 2016, vgl. den Bericht Michael Sauers vom September 2015: Sauer u. a. (Anm. 19), S. 14f., Anm. 9. Vgl. die Rezensionen von Michele Barricelli. In: H-Soz-Kult, 31. 08. 2016, www.hsozkult.de/ publicationreview/id/rezbuecher-26068 (aufgerufen am 1. 3. 2018) und Markus Bernhardt. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 219–221. Ulrich Trautwein u. a.: Kompetenzen historischen Denkens erfassen. Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts „Historical Thinking – Competencies in History“ (HiTCH). Münster 2017. Martin Buchsteiner/Martin Nitsche (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Historische, theoretische, empirische und pragmatische Erkundungen. Wiesbaden 2016. Heinrich Ammerer u. a. (Hrsg.): Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Schwalbach/ Ts. 2015, vgl. die Rezensionen von Nicola Brauch. In: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15. 10. 2016], http://www.sehepunkte.de/2016/10/27698.html (aufgerufen am 1. 3. 2018), und Isabelle Nientied. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 186f. Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 15). Berlin 2016, vgl. dazu Thomas Sandkühler: Geschichtsunterricht und Geschichtslehrerausbildung heute, 15. 7. 2017, https://blog.historikerverband.de/2017/07/15/geschichtsunterricht-und-geschichts lehrerausbildung-heute/, Anm. 11f., 14 (aufgerufen am 1. 3. 2018).

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Lit-Verlag erscheinenden Reihe „Geschichtskultur und historisches Lernen“ im Berichtszeitraum. Dort erschienen ferner die Dissertationen von Ludger Schröer über „Individuelle didaktische Theorien und Professionswissen“ und Christian Kohler über „Schülervorstellungen über die Präsentation von Geschichte im Museum“.36 Inzwischen sind die Vorträge der Sektion „Geschichtsunterricht ohne Verlierer?“ beim Göttinger Historikertag 2014 publiziert, herausgegeben von Bettina Alavi und Martin Lücke.37 Die Theorie, Empirie und Pragmatik von Inklusion wird hier nicht auf die Herausforderung begrenzt, Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderungsbedarf in den Geschichtsunterricht einzubeziehen. Vielmehr liegt dem Band ein breites Verständnis von Diversität, „Eigen-Sinn“ und unterrichtlicher Individualisierung zugrunde. Diesbezüglich bestehen zahlreiche Anschlussstellen an kritische Gegenwartsanalysen zu den Themen Migration und Rassismus.38 Der Diversitätskategorie „Rasse“ ist ein weiterer Band aus dem Berliner Umkreis Martin Lückes gewidmet.39 Der Geschichtsunterricht sei demnach von der „Ausgrenzungskategorie race“ geprägt, die historisiert und narrativiert werden müsse, um praktische Rassismuskritik einüben zu können. Es sei dahingestellt, ob der Begriff „Rasse“ angesichts seiner historischen Belastung durch den Nationalsozialismus ohne Weiteres aus dem amerikanischen in den deutschen Sprachraum übersetzt werden kann. Ähnlich wie der vorgenannte Sammelband argumentiert Bärbel Völkel, die 36 Ludger Schröer : Individuelle didaktische Theorien und Professionswissen. Subjektive Konzepte gelingenden Geschichtsunterrichts während der schulpraktischen Ausbildung (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 14). Münster u. a. 2015, vgl. die Rezensionen von Markus Daumüller. In: sehepunkte 17 (2017), Nr. 7/8 [15. 07. 2017], http://www.sehe punkte.de/2017/07/29476.html (aufgerufen am 1. 3. 2018) und Manfred Seidenfuß. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 217f.; Christian Kohler : Schülervorstellungen über die Präsentation von Geschichte im Museum. Eine empirische Studie zum historischen Lernen im Museum (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 16). Münster u. a. 2016, vgl. die Rezensionen von Berit Pleitner. In: sehepunkte 18 (2018), Nr. 3 [15. 03. 2018], http:// www.sehepunkte.de/2018/03/29843.html (aufgerufen am 1. 3. 2018) und Julia Thyroff. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 285–288. 37 Bettina Alavi/Martin Lücke (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2016, vgl. die Rezension von Benjamin Städter. In: sehepunkte 17 (2017), Nr. 1 [15. 01. 2017], http://www.sehepunkte.de/ 2017/01/29078.html (aufgerufen am 1. 3. 2018). 38 Vgl. nur Rosa Fava: Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse. Berlin 2015; Irmhild Schrader u. a. (Hrsg.): Vielfalt und Einheit im neuen Deutschland. Leerstellen in Migrationsforschung und Erinnerungspolitik (Bildung in der Weltgesellschaft, Bd. 8). Frankfurt/M. 2015. 39 Christina I. Brüning/Lars Deile/Martin Lücke (Hrsg.): Historisches Lernen als Rassismuskritik. Schwalbach/Ts. 2016, vgl. die Rezension von Karim Fereidoonis. In: sehepunkte 18 (2018), Nr. 4 [15. 04. 2018], http://www.sehepunkte.de/2018/04/29612.html (aufgerufen am 1. 3. 2018).

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unlängst Leitbegriffen der Geschichtsdidaktik wie Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur und Identität vorgeworfen hat, koloniale und rassistische Stereotypen fortzuschreiben.40 In einer Monographie begründet die Ludwigsburger Kollegin ihre Thesen ausführlich und leitet daraus Schlussfolgerungen für den inklusiven Geschichtsunterricht ab.41 Diese sind auf die Leib-Kategorie in der Tradition der Phänomenologie basiert. Deren Eignung für die Inklusionspädagogik wird in der Fachpresse indes kontrovers beurteilt.42 Peter Schulz-Hageleits neuestes Buch widmet sich der Trauer in der und über die Geschichte sowie ihren Hindernissen.43 Das Buch dürfte nicht zuletzt für die Reflexion eines zunehmend erinnerungsstolzen Gedenkens wichtig sein. Auf die Praxis der Gedenkstättenpädagogik zielt ein aktueller Sammelband, der zugleich die Veränderung dieser Pädagogik in den letzten zwei Jahrzehnten bilanzieren möchte.44 Auf das Feld des Gedenkens, hier als Praxis der der Public History, führt auch ein von Monika Fenn und Christiane Kuller herausgegebener Sammelband, der sich mit den zahlreichen öffentlichen Bezugnahmen auf die Geschichte des Ersten Weltkriegs anlässlich seines 100-jährigen Jubiläums befasst.45 Es zeigt sich, dass in der öffentlichen Gedenkpraxis transnationale Kategorien so gut wie keine Rolle spielten. Die europäischen Nationen erinnern sich an ,ihren‘ Krieg im nationalen Rahmen. An einem ganz anderen Beispiel, nämlich der Darstellung der Kreuzzugsgeschichte in Deutschland und Frankreich, untersucht Ines-Anna Guhe in ihrer Dissertation solche narrativen Inszenierungen von Nationalgeschichte in Schulgeschichtsbüchern des 19. Jahrhunderts.46 Hier besteht Anschlussmög-

40 Bärbel Völkel: Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Überlegungen zu einem uneindeutigen Begriff. In: Ammerer u. a. (Anm. 34), S. 87, vgl. zur postkolonialen Perspektive auch Grewe (Anm. 16). 41 Bärbel Völkel: Inklusive Geschichtsdidaktik. Vom inneren Zeitbewusstsein zur dialogischen Geschichte. Schwalbach/Ts. 2017. 42 Vgl. die Rezension von Susan Krause. In: H-Soz-Kult, 11. 10. 2017, www.hsozkult.de/publica tionreview/id/rezbuecher-28105, dagegen deutliche Kritik bei Sebastian Barsch. In: sehepunkte 17 (2017), Nr. 11 [15. 11. 2017], http://www.sehepunkte.de/2017/11/30533.html (beide aufgerufen am 1. 3. 2018). 43 Peter Schulz-Hageleit: Vom „Unbehagen in der Kultur“ zur Trauer über Geschichte. Studien zur Psychohistorie des Geschichtsbewusstseins. Wiesbaden 2016. 44 Elke Gryglewski u. a. (Hrsg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen. Berlin 2015. 45 Monika Fenn/Christiane Kuller (Hrsg.): Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014. Schwalbach/Ts. 2016, vgl. die Rezension von Sebastian Wemhoff. In: sehepunkte 16 (2016), Nr. 12 [15. 12. 2016], http://www.sehepunkte.de/2016/12/ 29429.html (aufgerufen am 1. 3. 2018). 46 Ines-Anna Guhe: Die Kreuzzüge narrativ inszeniert. Nationale und europäische Kreuzzugsrepräsentation in französischen und deutschen Schulgeschichtsbüchern (1871–1914)

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lichkeit an bereits vorliegende deutsch-französische Schulbuchvergleiche.47 Wolfgang Jacobmeyers mittlerweile geflügeltes Wort vom Schulbuch als „Autobiographie der Nation“48 bestätigt sich auch mit Blick auf die Rolle, die Schulbücher bei der Konstruktion und Fortschreibung nationaler Mythen spielten und teils noch spielen.49 Dass historische Denk- und Deutungsmuster auch in handgreiflicher politischer Praxis vermittelt wurden, die im kulturalistischen Mainstream bisweilen in Vergessenheit zu geraten drohen, daran erinnert Frank Britsche in seiner Dissertation über die Rolle der Geschichte in der Leipziger Feier- und Festkultur des 19. Jahrhunderts.50 In der von Bärbel Kuhn herausgegebenen Buchreihe „Historica et Didactica“ im Röhrig Universitätsverlag erschien in der Unterreihe „Forschung Geschichtsdidaktik“ ein Sammelband über den Kalten Krieg.51 Hierüber handelt am Schweizer Beispiel auch die Dissertation von Nadine Ritter.52 Einen frischen Blick auf den Film wirft ein von Bettina Alavi herausgegebener Sammelband über die Repräsentation von Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen seit dem Vorabend des Zweiten Weltkriegs.53 Mit dem Problemkreis der digitalen Medien – genauer : des Medieneinsatzes – befassen sich gleich vier neuere Sammelbände.54

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(Erziehungswissenschaft, Bd. 78). Berlin 2016, vgl. die Rezension von Felix Hinz. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 280f. Christian Weiß: Geschichte/n zwischen den Zeilen. Nationale Identität in Geschichtsbüchern für deutsche und französische Volksschulen (1900–1960) (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 37). Köln u. a. 2015, vgl. die Rezension von B8r8nice Zunino. In: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 293f. Wolfgang Jacobmeyer : Das Schulgeschichtsbuch – Gedächtnis der Gesellschaft oder Autobiographie der Nation? In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 26 (1998) H. 1–2, S. 26–35. Roland Bernhard u. a. (Hrsg.): Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern. Von Marathon bis zum Plys8e-Vertrag (Eckert. Die Schriftenreihe, Bd. 142). Göttingen 2017. Frank Britsche: Historische Feiern im 19. Jahrhundert. Eine Studie zur Geschichtskultur Leipzigs. Leipzig 2016. Franziska Flucke/Bärbel Kuhn/Ulrich Pfeil (Hrsg.): Der Kalte Krieg im Schulbuch (Historica et Didactica. Forschung Geschichtsdidaktik). St. Ingbert 2017, vgl. die Rezension von Markus Furrer. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 275–277. Nadine Ritter : Der Kalte Krieg in den Schweizer Schulen. Eine kulturgeschichtliche Analyse (Geschichtsdidaktik heute, Bd. 6). Bern 2015, vgl. die Rezension von Thomas Metzger. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 299–302. Bettina Alavi (Hrsg.): Zwangsmigration im Film. Der Zweite Weltkrieg in deutscher, polnischer und tschechischer Spiegelung (Diskurs Bildung: Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Bd. 58). Heidelberg 2015. Wolfgang Buchberger/Christoph Kühberger/Christoph Stuhlberger : Nutzung digitaler Medien im Geschichtsunterricht (Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte – Sozialkunde – Politische Bildung, Bd. 9). Innsbruck 2015; Marko Demantowsky/Christoph Pallaske (Hrsg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. Berlin 2015; Christoph Pallaske (Hrsg.): Medien machen Geschichte. Neue Anforderungen an den geschichtsdidaktischen Medienbegriff im digitalen Wandel (Geschichtsdidaktische Studien, Bd. 2). Berlin 2015; Uwe Danker/Astrid Schwabe: Geschichte im Internet. Stuttgart 2017.

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Nicht wenige Wissenschaftsverlage haben inzwischen erkannt, dass die durchschnittlich deutlich jüngeren Geschichtsstudierenden der heutigen Generation bei ihrer primären Sozialisation in die Wissenschaft Unterstützung benötigen. Auch im Vorbereitungsdienst sind Kompendien zunehmend gefragt. Beiden Bedürfnissen trägt eine neue Reihe „Starter für Studenten und Referendare“ Rechnung, die Markus Bernhardt (Duisburg-Essen) im Wochenschau Verlag herausgibt. Bisher sind drei Bände erschienen, einer über die römische Antike, einer über das Kaiserreich, ein weiterer über die Zeitgeschichtsforschung.55 Ebenfalls aus dem Westen stammt die neueste geschichtsdidaktische Buchreihe „Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und historisches Denken“, herausgegeben von den Kölner Kolleginnen und Kollegen Jürgen Elvert, Christine Gundermann, Wolfgang Hasberg und Holger Thünemann im Verlag Peter Lang. Bisher liegen vier Bände vor : Vorträge einer geschichtsdidaktischen Ringvorlesung, die als Auftakt der Reihe an der Universität zu Köln durchgeführt wurde, die Berliner Dissertation von Matthias Bode über „Traumsommer und Kriegsgewitter“ des Ersten Weltkriegs, ein Sammelband zu Ehren Jörn Rüsens anlässlich seines Goldenen Doktorjubiläums und die Göttinger Dissertation von Marco Dräger über „Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland“.56 Die Disziplingeschichte der Geschichtsdidaktik wird weiterhin dokumentiert. Eine Zusammenstellung von biografischen Erfahrungen bekannter Protagonisten der 1970er Jahre wurde von Wolfgang Hasberg und Manfred Seidenfuß

55 Markus Bernhardt/Björn Onken (Hrsg.): Das römische Kaiserreich zwischen Geschichte, Erinnerung und Unterricht. Schwalbach/Ts. 2013; Markus Bernhardt (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich. Geschichte – Erinnerung – Unterricht. Schwalbach/Ts. 2017; Barbara Hanke (Hrsg.): Zugänge zur deutschen Zeitgeschichte (1945–1970). Geschichte – Erinnerung – Unterricht. Schwalbach/Ts. 2017. 56 Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven (Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und Historisches Lernen, Bd. 1). Frankfurt/M. u. a. 2016; Matthias Bode: Traumsommer und Kriegsgewitter. Die politische Bedeutung des schönen Sommers 1914 (Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und Historisches Lernen, Bd. 2). Frankfurt/M. usw. 2016, vgl. die Rezension von Anika Mombauer. In Francia recensio (Deutsches Historisches Institut Paris) 2018/1, DOI: 10.11588/frrec.2018.1.45575; Holger Thünemann u. a. (Hrsg.): Begriffene Geschichte – Geschichte begreifen (Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und Historisches Lernen, Bd. 3). Frankfurt/M. u. a. 2016, vgl. die Rezension von Christoph Kühberger. In: sehepunkte 18 (2018), Nr. 1 [15. 01. 2018], http://www.sehepunkte.de/2018/01/30197. html (aufgerufen am 1. 3. 2018); Marco Dräger : Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland (Geschichtsdidaktik diskursiv – Public History und Historisches Lernen, Bd. 4). Frankfurt/M. usw. 2017, vgl. die Rezension von Jan Matthias Hoffrogge. In: sehepunkte 17 (2017), Nr. 11 [15. 11. 2017], http://www.sehepunkte.de/2017/ 11/30229.html (aufgerufen am 1. 3. 2018).

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herausgegeben.57 Thomas Sandkühler hat in der Reihe „Beiträge zur Geschichtskultur“ beim Böhlau-Verlag die geschichts- und politikdidaktischen Schriften Rolf Schörkens neu ediert und in ihren historischen Kontext eingeordnet.58 Zahlreiche Neuerscheinungen sind didaktische Analysen und unterrichtspraktische Handreichungen. Es würde den Rahmen dieses Berichts sprengen, diese Monographien und Sammelbände im Einzelnen vorzustellen. Ich muss mich auf die Aufzählung einiger inhaltlich oder methodisch bemerkenswerter Titel beschränken, selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.59 Insgesamt zeigt dieser kursorische Überblick, dass die Geschichtsdidaktik als Disziplin über ein weit ausdifferenziertes Schrifttum verfügt, das zahlreiche Qualifikationsschriften jüngerer Kolleginnen und Kollegen einschließt. An dieser Stelle sei allerdings beiläufig angemerkt, dass unser Fach im Spiegel seiner Publikationen heterogen und polyzentrisch erscheint.

Stellenausschreibungen und Besetzungsverfahren Damit sind wir bei den Berufungsverfahren, die ebenfalls auf ein eher unklares Fachprofil hindeuten oder dieses sogar (gewollt oder ungewollt) zum Ziel haben. Im Berichtszeitraum wurden eine Reihe geschichtsdidaktischer Professuren ausgeschrieben und besetzt. Der Trend zu Mehrfachdenominationen hat sich fortgesetzt. Berufen wurden, in alphabetischer Reihenfolge, Michele Barricelli auf eine W 3-Professur für Geschichtsdidaktik und Public History an der Universität 57 Wolfgang Hasberg/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Reform – Erfahrung – Innovation. Biografische Erfahrungen in der Region. Ein Kapitel aus der Geschichte der Geschichtsdidaktik (Geschichtsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 8). Münster u. a. 2015, vgl. dazu die Rezension von Wolfgang Jacobmeyer. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 201–203. 58 Rolf Schörken: Demokratie lernen. Beiträge zur Politik und Geschichtsdidaktik, hrsg. v. Thomas Sandkühler (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 38). Köln u. a. 2017. 59 Bernd Kleinhans: Filme im Geschichtsunterricht – Formate, Methoden, Ziele (Historica et Didactica. Praxis. Bd. 3). St. Ingbert 2016; Vadim Oswalt: Planung von Unterrichtseinheiten. Wie man Geschichte (an)ordnen kann. Schwalbach/Ts. 2016; Sybille Kampl: Stationenlernen im Geschichtsunterricht. Allgemeine und fachspezifische Momente. Schwalbach/Ts. 2016; Manfred Quentmeier u. a. (Hrsg.): Vertrieben, geflohen – angekommen? Das Thema Flucht und Vertreibung im Geschichts- und Politikunterricht. Schwalbach/Ts. 2016; Christoph Kühberger/Herbert Neureiter : Zum Umgang mit Nationalsozialismus, Holocaust und Erinnerungskultur. Eine qualitative Untersuchung bei Lernenden und Lehrenden an Salzburger Schulen aus geschichtsdidaktischer Perspektive. Schwalbach/Ts. 2017; Markus Bernhardt (Hrsg.): 10 Stunden, die funktionieren. Geplante und erprobte Geschichtsstunden. Schwalbach/Ts. 2017.

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München, Christiane Bertram auf eine Juniorprofessur für Fachdidaktik in den Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz, Sebastian Barsch auf eine W 2-Professur für Geschichtsdidaktik an der Universität Kiel, Christian Bunnenberg auf eine Juniorprofessur für Geschichtsdidaktik an der Universität Bochum, Lars Deile auf eine Juniorprofessur für Geschichtsdidaktik und Geschichtstheorie an der Universität Bielefeld, Bernd Grewe auf eine W 3-Professur für Geschichtsdidaktik an der Universität Tübingen, Felix Hinz auf eine W 3-Professur für Geschichts- und Politikwissenschaft und ihre Didaktik mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Thorsten Logge auf eine Juniorprofessur für Public History an der Universität Hamburg, Michael Schulz auf eine W 3-Professur für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, Schwerpunkt Geschichte, an der Universität Trier, schließlich Astrid Schwabe auf eine Juniorprofessur für Public History sowie Historisches Lernen im Sachunterricht an der Universität Flensburg. In Österreich wurden berufen Alois Ecker auf eine Professur für Geschichtsdidaktik an der Universität Graz, Thomas Hellmuth auf ein Ordinariat für Geschichtsdidaktik an der Universität Wien sowie Christoph Kühberger auf ein Ordinariat für Geschichts- und Politikdidaktik an der Universität Salzburg. Allen berufenen Kolleginnen und Kollegen sei hiermit herzlich gratuliert und viel Erfolg in Forschung und Lehre gewünscht.

Drittmittel – DFG-Fachkollegien Auch im Berichtszeitraum ist die Beteiligung der Fachdidaktiken an den Gremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft unbefriedigend.60 Dem Antrag der KGD, das Fachkollegium Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft um die Subdisziplin Geschichtsdidaktik zu erweitern, war erwartungsgemäß kein Erfolg beschieden. Die Begutachtungspraxis wird also weiterhin so aussehen, dass die abschließende Beurteilung eingereichter geschichtsdidaktischer Anträge je nach Themenstellung von Fachhistorikern oder Pädagogen vorgenommen wird. Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker, die nach den Richtlinien der DFG als Gutachter in Betracht kommen, sind in diese Verfahren allerdings durchweg involviert. Die Geschichtsdidaktik stellt eindeutig zu wenige DFG-Anträge, obwohl die Ablehnungsquote geschichtsdidaktischer Anträge nicht höher ausfällt als bei anderen Subdisziplinen. Über die letzten Jahre waren es meist drei pro Jahr. Zum Vergleich: Aus der Wissenschaftsgeschichte, einem Fach vergleichbarer Größe, das künftig auch im Fachkollegium Geschichte der DFG vertreten sein wird, 60 Vgl. mit ähnlichem Tenor bereits Sauer (Anm. 30), S. 18f.

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kommen jährlich bis zu 40 Anträge. Ein Grund für die zurückhaltende Aktivität der Geschichtsdidaktik, auf die wir als Fachverband wenig Einfluss nehmen können, ist die personelle Aus- und Überlastung der Standorte. Man sollte aber fragen, ob es nicht tiefer liegende Ursachen der geschichtsdidaktischen Antragsscheu gibt, die eher im sozialpsychologischen Bereich, also im Selbstverständnis und der antizipierten Außenwahrnehmung der Fachvertreterinnen und Fachvertreter liegen. Solche und weitere Fragen der Drittmittelstrategie könnten Gegenstand einer eigenständigen Veranstaltung werden, etwa eines Antragsworkshops unter Beteiligung erfahrener respektive erfolgreicher Antragsteller, Vertreter der DFG, des BMBF etc. Die KGD ist gern bereit, ein solches Vorhaben zu initiieren.

Umfrageergebnisse Ich komme damit zu den Ergebnissen der bekannten Umfrage zum Stand der Disziplin, die im Juli 2017 durchgeführt wurde. Der Fragebogen wurde um zwei Items erweitert, blieb ansonsten aber unverändert, so dass Vergleiche mit den Vorjahren möglich sind. Von 56 versandten Fragebögen wurden leider nur 26 zurückgeschickt, nicht einmal die Hälfte.61 Diese Rücklaufquote ist, kurz gesagt, unbefriedigend und mindert die Aussagekraft der Umfrageergebnisse.62

Ausstattung Die personelle und sachliche Ausstattung der geschichtsdidaktischen Standorte hat sich nach Einschätzung der Befragten gegenüber dem letzten Berichtszeitraum wenig verändert. 17 Standorte (65 Prozent) halten sie im Hinblick auf die Lehre für ausreichend; 9 (35 Prozent) tun das nicht. Beide Werte entsprechen genau den Befunden von 2015. Nach wie vor wird darauf hingewiesen, dass zu wenige feste Stellen vorhanden seien, um die geschichtsdidaktischen Pflichtveranstaltungen abzudecken, sodass auch für anspruchsvollere Aufgaben auf Lehrbeauftragte zurückgegriffen werden müsse. Für die Forschung wird die Personalsituation ungünstiger, aber besser als bei der letzten Befragung eingeschätzt. Rund 54 Prozent (14 Standorte) halten sie für ausreichend, gegenüber 42 Prozent im Jahre 2015; 46 Prozent (12 Standorte) sind gegenteiliger Auffassung, gegenüber 58 Prozent vor zwei Jahren. Nach wie 61 2015 lag die Rücklaufquote bei 53 Prozent. Sauer (Anm. 30), S. 19. 62 Auf Nachweise der Vergleichswerte für 2015 wird im Folgenden verzichtet, vgl. aber ebd., S. 19–24.

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vor gibt es allerdings Standorte ohne dauerhafte Qualifikationsstellen, sodass die Forschung aus Drittmitteln finanziert werden muss, die wiederum schwer zu akquirieren sind oder aus den bereits genannten Gründen nicht in Betracht gezogen werden. Wissenschaftliche Mitarbeiter mit ausgesprochenen Hochdeputat-Stellen (Lehrkräfte für besondere Aufgaben etc.) können mit Forschungsaufgaben nicht ernsthaft betraut werden, weil ihre gesamte Arbeitsleistung in die Lehre fließt. Die finanzielle Ausstattung der Standorte wird so bewertet wie 2015. 58 Prozent der Standorte halten sie für ausreichend, 42 Prozent für nicht ausreichend. Die freien Antworten bestätigen das bekannte Bild, das sich auch in der Personalausstattung niederschlägt: Geschichtsdidaktische Professuren müssen häufig um ihre Grundausstattung ringen.

Verhältnis zur Fachwissenschaft Im Verhältnis zwischen Fachwissenschaft und Geschichtsdidaktik hat sich der positive Trend der letzten Jahre fortgesetzt. Rund 73 Prozent der Antwortenden fühlen sich in ihren Institutionen wertgeschätzt, gegenüber 61 Prozent vor zwei Jahren; 19 Prozent beklagen gegenteilige Erfahrungen.63 Die Rückmeldungen der Standorte verdeutlichen, dass ein positives Verhältnis zu Kolleginnen und Kollegen in der Fachwissenschaft vielfach auf Kooperationen in der Lehre oder in der drittmittelfinanzierten Forschung beruht sowie auf gemeinsamen Interessen an der Bewahrung eines deutlichen Fachbezugs der Geschichtsdidaktik. Vielerorts fehlt es andererseits am Verständnis für die Belange der Geschichtsdidaktik und an der Bereitschaft, ihre hohe Ausbildungsleistung durch eine angemessene Personalausstattung für die Forschung zu honorieren.

Studiengänge An 65 Prozent der antwortenden Standorte hat sich der quantitative Anteil der Geschichtsdidaktik an den Lehramtsstudiengängen gegenüber 2015 nicht verändert. 27 Prozent vermerken eine Steigerung, 8 Prozent eine Verringerung dieses Werts. Hier scheint also eine gewisse Konsolidierung eingetreten zu sein. Der geschichtsdidaktische Studienanteil wird ähnlich beurteilt wie vor zwei Jahren. 58 Prozent halten ihn für genau richtig, 42 Prozent für zu gering. Die Modularisierung der Lehramtsstudiengänge wird günstiger beurteilt als im letzten Berichtszeitraum: 65 Prozent bewerten sie positiv, 27 Prozent negativ. 63 In zwei Fragebögen wird hierzu gar nicht Stellung genommen.

Zum Stand von Disziplin und Verband

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Positiv werden die Stärkung und Festigung des Fachs sowie die Möglichkeit hervorgehoben, eine Lernprogression zwischen Bachelor- und Masterstudium abzubilden. Negativ wirken sich nach Auskunft der Befragten, wie schon in den Vorjahren, die Bürokratisierung und „Verschulung“ des Studiums im Zeichen von „Bologna“ sowie eine Zunahme bildungswissenschaftlicher Studienanteile zu Lasten der Fachdidaktik aus. Das Praxissemester hat gegenüber dem letzten Berichtszeitraum leicht zugenommen. Rund 58 Prozent (gegenüber 55 Prozent im Jahr 2015) der Standorte haben mit dieser Reform Erfahrungen gemacht. Zwei Drittel von ihnen (rund 66 Prozent) bewerten das Praxissemester als positiv, ein Drittel äußert sich gegenteilig. Vorzüge werden weiterhin in der steigenden Akzeptanz geschichtsdidaktischer Problemstellungen und einem höheren Reflexionsniveau der Studierenden gesehen, Nachteile im hohen Organisations- und Betreuungsaufwand, dem großen Stellenwert schul- und allgemeinpädagogischer Herausforderungen, der nicht immer unproblematischen Rolle schulischer Mentoren und einer zu frühen Einbettung des Praxissemesters in den Studienverlauf. An den vier Standorten, an denen noch kein Praxissemester vorgeschrieben ist, halten sich Hoffnungen und Befürchtungen die Waage: Den erwarteten Vorzügen forschenden Lernens und einer besseren Verbindung von Theorie und Praxis steht der Nachteil einer möglichen Abkopplung der schulischen Praxis von ihrer theoretischen Reflexion entgegen. In den zwei Jahren bis 2015 haben 13 Standorte an Akkreditierungen der Lehramtsstudiengänge teilgenommen. Seitdem sind neun weitere Akkreditierungen hinzugekommen. Die Erfahrungen sind, wie kaum anders zu erwarten, ambivalent. Nur ein Drittel der akkreditierten Professuren sieht positive Auswirkungen auf die Situation der Geschichtsdidaktik am Standort. In zwei Fällen wurden Empfehlungen im Evaluationsbericht, die Ausstattung der Geschichtsdidaktik zu verbessern, nicht umgesetzt.

Qualität des geschichtsdidaktischen Studiums Erstmals wurde in diesem Jahr nach den Fähigkeiten und Fertigkeiten gefragt, über die Studierende nach Meinung der Befragten verfügen müssen, um erfolgreich Geschichtsdidaktik studieren zu können. Die Antworten spiegeln unterschiedliche Professions- und Didaktik-Verständnisse wider. Neben eher fachunspezifischen sprachlichen und begrifflichen Fähigkeiten werden geschichtstheoretisches Interesse und die Fähigkeit, Geschichtstheorien geschichtsdidaktisch anzuwenden genannt, die Fähigkeit zum eigenständiges Denken und die Bereitschaft, das eigene Geschichtsverständnis in Frage zu stellen. Nur einmal wird ausdrücklich ein „selbstreflexives Ge-

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Thomas Sandkühler

schichtsbewusstsein“ eingefordert. Eine dritte Gruppe erwartet solide historische Kenntnisse und die Fähigkeit, sich in den Epochen fachlich zu orientieren. Auf den Geschichtsunterricht zielen auch Erwartungen wie pädagogische und psychologische Grundkenntnisse, Fähigkeiten zur didaktischen Konstruktion bzw. Reduktion und zur Planung von Unterricht. Zufrieden mit ihren Studierenden sind nur 27 Prozent der an der Umfrage teilnehmenden Standorte. Weitere 23 Prozent äußern sich hierzu nicht. Die verbleibenden 50 Prozent sind unzufrieden. Das ist ein fachlich und hochschuldidaktisch nicht gerade ermutigendes Ergebnis. Die Frage der Leistungsanforderungen und Qualifikationen sollte bei weiteren Umfragen zum Stand der Disziplin genauer in den Blick genommen werden, auch im Sinne einer Differenzierung nach Bachelor- und Masterphase.

Qualifikationsarbeiten und Projekte Im Berichtszeitraum wurden an zehn beteiligten Standorten geschichtsdidaktische Promotionen sowie zwei Habilitationsverfahren abgeschlossen. Die Zahl der laufenden Promotionen ist mit 24 erwartungsgemäß höher. Die Zahl der an einer Professur betreuten Dissertationen weist eine hohe Spannweite von durchschnittlich zwei bis zu acht geschichtsdidaktischen Vorhaben auf. Derzeit laufen erfreulich viele, nämlich neun, Habilitationsverfahren, die sich auf immerhin sieben Standorte verteilen. Rund 80 Prozent der Antwortenden sind an Drittmittelforschung beteiligt, woran die „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ des BMBF wesentlichen Anteil gehabt haben dürfte.64 Im Berichtszeitraum liefen drei DFG-Projekte, gegenüber fünf im letzten und ebenfalls drei im vorletzten Berichtszeitraum. Ein Antrag wurde abgelehnt. 65 Prozent der Standorte sind an internationalen Kooperationen beteiligt, etwas weniger als im letzten Zweijahreszeitraum.

Standing der Geschichtsdidaktik Das letzte Item des Fragebogens ist eine ganz offen gehaltene Frage nach dem gegenwärtigen Standing der Geschichtsdidaktik in der Bundesrepublik. „Welche Potenziale, Probleme und Desiderata sehen Sie?“ Wie schon bisher haben sich die beteiligten Standorte hierzu teilweise sehr ausführlich geäußert. Die Stellung der Geschichtsdidaktik wird überwiegend als gut beurteilt. Das 64 Vgl. die geographische Übersicht aller derzeit laufenden Einzel- und Verbundprojekte unter https://www.qualitaetsoffensive-lehrerbildung.de/de/projekte.php (aufgerufen am 1. 4. 2018).

Zum Stand von Disziplin und Verband

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Fach habe Expertise erworben, sich weiter professionalisiert und in der Forschung zunehmend besser aufgestellt. Auch die Qualität des geschichtsdidaktischen Nachwuchses wird hervorgehoben. Andererseits wird der wahrgenommene Boom einer psychometrischen Empirie zu Lasten von Theorie und Pragmatik des Fachs kritisiert und eine gewisse Tendenz, dass innerhalb der Geschichtsdidaktik Empirie und sich als fachhistorisch verstehende Forschung auseinanderstreben. Kritisiert wird die nach wie vor geübte Praxis, geschichtsdidaktische Professuren an ausgewiesenen Bewerbern vorbei zu besetzen oder dringend erforderliche Professuren für dieses Fach gar nicht erst einzurichten. Einzelne Befragte formulieren Zweifel am Sinn und Zweck der Kompetenzdebatte. Die Geschichtsdidaktik ist nach Auffassung einiger Umfrageteilnehmer zu breit aufgestellt und verliert ihr fachliches Proprium aus dem Blick. Zu diesem wird u. a. der Geschichtsunterricht gezählt, also das Thema der diesjährigen Zweijahrestagung.

Bilanz und Ausblick Der vorherrschende Eindruck ist, wie schon in den letzten Berichten, ambivalent. Die objektive Situation der Geschichtsdidaktik hat sich nach Auffassung der Befragungsteilnehmer weiter verbessert: personell, in den Studiengängen, im Verhältnis zum jeweiligen Kollegium, auf dem Gebiet ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichungen wie auch in der Forschung. Unser oft mit sich selbst hadernder Fachverband hat daher keinen Grund, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Ein gemeinsames Verständnis von Geschichtsdidaktik gibt es jedoch augenscheinlich nicht. Die einen sehen die Disziplin in größerer Nähe zur Geschichtswissenschaft, die anderen zur Pädagogik und Psychologie. Von solchen persönlichen Standortbestimmungen hängt natürlich auch ab, was unter solider und weiterführender Empirie verstanden wird. Vielgestaltigkeit kann man als Vorteil betrachten, und überhaupt ist die Geschichtsdidaktik keine Ausnahme von der Regel, dass sich die historischen Disziplinen in beständiger Veränderung befinden. Kehrseiten sind jedoch nicht zu übersehen. Die studienorganisatorische Zuordnung der Geschichtsdidaktik zum Bezugsfach Geschichte ist keineswegs selbstverständlich. Wo dies der Fall ist, wären die geschichtswissenschaftlichen Fachbereiche gut beraten, gute Beziehungen zu den geschichtsdidaktischen Kolleginnen und Kollegen zu pflegen oder aufzubauen, weil Lehramtsstudierende in teils erheblichem Maße die Grundversorgung der Fakultäten gewährleisten.

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Thomas Sandkühler

Michael Sauer hat in seinem letzten Bericht gefordert, die Geschichtsdidaktik möge ihr disziplinäres Selbstverständnis nicht zuletzt vom Geschichtsunterricht herleiten, um den an sie gerichteten öffentlichen Erwartungen gerecht zu werden.65 Ob diese Tagung diese Bringschuld einlöst, wird man nach ihrem Ende besser beurteilen können. Ich bin aber zuversichtlich, dass positive Impulse entstehen, wenn die Geschichtsdidaktik im Schnittfeld von Theorie, Empirie und Pragmatik eine differenzierte Bestandsaufnahme des Geschichtsunterrichts vornimmt, die womöglich dazu beiträgt, ihn zu erhalten und seine Qualität zu verbessern.

65 Sauer (Anm. 30), S. 25.

Charlotte Bühl-Gramer

Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung1

Einleitung „Der Geschichtsunterricht [muss] noch immer als „Sorgenkind der Didaktik“ erscheinen… Unter jenen Klagen sind die alten über mangelhafte Erfolge des Unterrichts, der zu wenig bleibendes, sicheres Eigentum mit ins Leben gäbe, noch immer nicht verstummt; noch immer liest und hört man, daß beschämend wenig in Geschichte gewusst und behalten werde… Auf der anderen Seite sind seit einigen Jahren neue, schwere Aufgaben an den Unterricht herangetreten … Neben der quantitativen Erweiterung soll der Unterricht aber auch qualitative Vertiefung erfahren. Um jenen Klagen abzuhelfen und diesen Forderungen gerecht zu werden, gilt es, die dem Geschichtsunterricht im allgemeinen gestellten Aufgaben sich völlig klar zu machen.“2

Dieses Eingangszitat stammt aus dem Jahr 1894 und vergegenwärtigt, dass das Schulfach Geschichte – freilich in unterschiedlichen Aufmerksamkeitskonjunkturen – auch schon im 19. Jahrhundert unter besonderer Beobachtung durch die Öffentlichkeit stand und die Frage nach seiner gesellschaftlichen Relevanz bis heute debattiert wird. Angesichts des geschichtskulturellen „Hypes“ um das Lutherjahr habe ich mich entschlossen, auf den Begriff „Thesen“ zu verzichten. Im Folgenden werden vielmehr einige wenige zentrale Spannungsfelder vorgestellt, für die sich im geschichtsdidaktischen Fachdiskurs, in öffentlich geführten gesellschaftlichen Debatten von Historikerinnen und Historikern, Akteurinnen und Akteuren der Bildungspolitik, Expertinnen und Experten der zweiten Phase der Lehrerbildung, Geschichtslehrkräften und Journalistinnen und Journalisten derzeit eine besondere Aufmerksamkeit beobachten lässt und die während dieser Tagung weiter ausgefaltet, differenziert und diskutiert werden sollen. 1 An dieser Stelle gilt mein herzlicher Dank den Kolleginnen und Kollegen aus dem Vorstand für die konstruktiven Diskussionen über die hier vorgelegte Standortbestimmung. Der Vortragstext wurde nur geringfügig verändert, der Vortragsduktus blieb erhalten. 2 Emil Stutzer : Lehr- und Lernstoff im Geschichtsunterricht, Barmen 1894, S. 5.

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1.

Charlotte Bühl-Gramer

Öffentliches Interesse am Geschichtsunterricht

Das oben benannte öffentliche Interesse geht einher mit einer außerordentlich hohen Erwartungshaltung an „richtiges“ und „erfolgreiches“ historisches Lernen und einer Sorge vor einem Verfall „des“ Geschichtsunterrichts. Die Vorstellungen von Geschichtsunterricht sind dabei auch gegenwärtig außerordentlich heterogen: Kulturpessimistische Klagen über einen angeblich zunehmenden „historischen Analphabetismus“ oder die staatsbürgerlich angetragene bildungspolitische Erwartung an Geschichtsunterricht als gesellschaftliche Reparaturinstanz und die verbreitete Annahme, der Geschichtsunterricht immunisiere gewissermaßen automatisch gegen rechtsradikale Anfechtungen und gegen Rechtsradikalismus, sind dafür nur einige Beispiele. Geschichtsunterricht war schon immer eine Bühne für gesellschaftspolitische Gruppen, die dort ihre Programme, Traditionen, Wertvorstellungen und Regeln verhandelt wissen wollten. Doch angesichts von Partikularität, Diversität, beschleunigtem Wandel und neuen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft in Deutschland sind die Ansprüche an den Geschichtsunterricht nicht nur weiter gestiegen, sondern haben sich auch außerordentlich vervielfältigt. Zugleich stehen die hoch geschraubten Erwartungshaltungen im krassen Gegensatz zu den realen Lernbedingungen eines zumindest jenseits des Gymnasiums in der Tendenz schrumpfenden „Nebenfachs“. Die Klagen über den Verlust von „historischem Wissen“ sind dabei eine Konstante, die sich – wie eingangs verdeutlicht – über mehr als ein Jahrhundert zieht. Derzeit können wir hierzu ein „Gap“ zwischen Expertinnen und Experten und Journalistinnen und Journalisten beobachten: In dem jüngst erschienenen Interviewband „Wirksamer Geschichtsunterricht“ sind sich Lehrkräfte, Seminarfachleiterinnen und -leiter und Geschichtsdidaktikerinnen und -didaktiker einig, dass das Auswendiglernen und das Abprüfen von Zahlen, Daten und Fakten nicht die Zukunft des Geschichtsunterrichts darstellt. In der Presse wird dagegen vor allem debattiert, welche Zahlen und Namen für Lernende ein Pflichtprogramm darstellen müssten. Eine Klärung, welches Verständnis von Wissen, Inhalten und Lernen dabei überhaupt zugrunde gelegt wird, bleibt im öffentlichen Schlagabtausch dabei weitgehend außen vor. Die Klage über Wissensdefizite wird dabei hartnäckig an die Kompetenzorientierung gekoppelt, und es werden Inhalte gegen Kompetenzen ausgespielt.

Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung

2.

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Das Verhältnis von Kompetenzen und Inhalten

Zweifellos haben Legitimationsfloskeln den Kompetenzbegriff ausgehöhlt und eine „Kompetenzblase“ produziert: Durch die Reduktion auf messbare Kompetenzen ist dabei das Verhältnis von Wissen, Inhalten und Kompetenzen aus dem Blick geraten. Die neuen Lehrpläne und andere bildungs- oder kultusadministrativen Papiere enthalten Etikettierungen, die die Bezeichnung „Kompetenz“ nicht verdienen. Auch die Vielfalt von Kompetenzmodellen wird überwiegend als verwirrende Vielfalt wahrgenommen, die für Lehrkräfte eine Herausforderung darstellt, die auch als Zumutung empfunden werden kann. Und schließlich gereicht auch verbands- und fachpolitisch diese Vielgestaltigkeit niemandem zum Vorteil, wenn die Geschichtsdidaktik hier Klarheit vermissen lässt, die Politikdidaktik sich dagegen auf ein fachspezifisches Kompetenzmodell einigen konnte. Doch gilt es an dieser Stelle noch einmal deutlich zu machen: Der Erwerb historischen Wissens und die Kompetenzen historisches Denken sind als komplementär zu verstehen. Kompetenzen lassen sich nur an fachlichen Inhalten erlangen. Kompetenzen gehen aber nicht in den Inhalten auf. Denn nicht die Inhalte führen zum Geschichtsbewusstsein, sondern die Fähigkeit, mit vertrauten, mit wenig hinterfragten und mit neuen, unbekannten Inhalten regelgeleitet umzugehen, um in zunehmender Verarbeitungstiefe über die eigene Stellungnahme zur Vergangenheit reflektieren zu können. Derzeit kommt eine relationale Sicht auf Kompetenzen, historisches Wissen und Inhalte in Gang. Geschichtliches Wissen assoziativ als „nur“ reproduktive Faktenhuberei abzuwerten, ist dabei ebenso eine zu kurz greifende Stereotypisierung, die wohl auch aus den langen Bemühungen gegen das „Paukfach“ Geschichte noch immer in die Gegenwart hereinragt. Ich erinnere noch einmal, dass unter allen Expertinnen und Experten von Geschichtsunterricht auch hierüber Konsens besteht. Folgende Fragen stehen daher zur Diskussion: 1. Was ist unter historischem Wissen zu verstehen? 2. Wie viel Wissen, in welcher Verarbeitungstiefe und welches Wissen braucht man, um im 21. Jahrhundert in Geschichte „kompetent“ zu sein bzw. zu werden? 3. Gibt es bestimmte Inhalte bzw. Themen, an denen Kompetenzen exemplarisch besonders gut (oder schlecht) beispielhaft vermittelt und gefördert werden können, damit Schülerinnen und Schüler – als Transferleistung– auch mit unbekannten Inhalten und Deutungsangeboten umgehen können? Ist also die thematische Auswahlfrage mit Blick auf die Kompetenzorientierung nicht neu zu konzeptualisieren?

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Charlotte Bühl-Gramer

4. Wo liegen die Grenzen für Schülerinnen und Schüler, angesichts hochkomplexen Spezialwissens der vielfältig ausdifferenzierten Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft und ihrem Expertenwissen, mit immer neuen historischen Konstellationen kreativ umzugehen? Das Unterrichtsfach Geschichte gilt als wissensreiche, aber schwach definierte Domäne: komplex aber wenig strukturiert. Wenn Schülerinnen und Schüler kompetent werden sollen, mit bisher wenig hinterfragten und unbekannten Inhalten regelgeleitet umzugehen, so sind diese unbekannten Inhalte oder neuen historischen Konstellationen keine voraussetzungslosen Addita, denen Schülerinnen und Schülern begegnen. Sie bedürfen einer Verknüpfungsleistung historischen Wissens. Kompetenz entwickelt sich erst dann, wenn die an einem Unterrichtsgegenstand erworbenen Kenntnisse und Einsichten immer wieder in Beziehung zu anderen Gegenständen gesetzt, bestätigt, modifiziert und widerlegt werden, wenn die Erkenntnis von Zusammenhängen ermöglicht und das Ergebnis solcher Denkprozesse reflektiert werden kann. Daher geht es nicht nur um eine relationale Sicht auf Kompetenzen und Inhalte, sondern darum, Kompetenzen, die historisches Denken ermöglichen und fördern und eine anschlussfähige Wissensstruktur schaffen, die weiteres Lernen ermöglicht, müssen in eine neue Balance kommen. Das exemplarische Prinzip als Auswahlprinzip ist angesichts der knappen zeitlichen Ressourcen dabei alternativlos. Aber wofür sollen die auswählten Themen beispielhaft stehen? Die Frage der Strukturierung und Anordnung ist dabei keine reine Methodenfrage und wird derzeit heftig debattiert: Ist die chronologische Strukturierung unverzichtbar für Orientierungswissen, Ausweis für die Zählebigkeit historischer Meistererzählungen und für das Festhalten an einem positivistischen Wissensverständnis oder eine überkommene Fixierung auf das starre Zeitkonzept von „vorher“ und „nachher“?

3.

Historia magistra vitae: Präsentismus, Geschichte und politische Bildung

Besonders beklagt wird in der medialen Öffentlichkeit in erster Linie mangelndes Schülerwissen zur Zeitgeschichte, ohne dass dabei geklärt würde, welches Wissen hier überhaupt gemeint ist. Es ist offenbar „schlimmer“, dass Schülerinnen und Schüler Willy Brandt und Konrad Adenauer für DDR-Politiker halten, als dass sie Fürst Metternich nur als Sektmarke und Bismarck nur als Hering kennen oder mit Marco Polo nur ein T-Shirt verbinden. Das ist zum einen

Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung

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damit erklärbar, dass die Erwachsenengeneration ihre Orientierungswünsche und -vorgaben an die nachwachsenden Generationen weitergeben möchte, zeigt aber zum anderen, dass Geschichtsunterricht nach wie vor die Rolle einer Lehrmeisterin des Lebens zugesprochen wird. Die Aufwertung der Zeitgeschichte, die seit dem sogenannten Kaisererlass Wilhelms II. bis in die Gegenwart zu beobachten ist, kann in dieser Hinsicht auch als eine Kontinuitätslinie in der Geschichte des Geschichtsunterrichts aus legitimatorischen Gründen gesehen werden. Aber man kann aus der Geschichte und durch Geschichtsunterricht keine unmittelbaren Lehren als Handlungsweisung für die Gegenwart ableiten. Dieses mitunter stark verkürzende rezeptologische bzw. präsentistische Verständnis von der Aufgabe des Geschichtsunterrichts, seine Festlegung auf Lehren scheint jedoch außerhalb von Fachdiskursen gegenwärtig – in einer Zeit beschleunigten Wandels und auf unmittelbare Nutzanwendung zielende, ökonomische Verwertbarkeit von Wissen – besonders hoch im Kurs zu stehen. Läuft der Geschichtsunterricht derzeit Gefahr, zur Bestätigungsformel der Gegenwart zu verkümmern? In welchem Verhältnis stehen Gegenwartsbezug und Alteritätserfahrung, die Eigenheit und Kontingenz vergangener Welten mit ihren spezifischen Sinnbezügen, Denkstrukturen, kulturellen Praktiken, ihrer Komplexität und Offenheit für eine ungewisse Zukunft? Geschichtsunterricht gibt keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für Gegenwart und Zukunft. Aber dennoch kann man aus oder viel eher noch an der Geschichte lernen. Daher ist Geschichte auch ein unverzichtbares Schulfach. Denn der Geschichtsunterricht ermöglicht einen Erfahrungszuwachs, relativiert die gegenwärtigen Fixierungen und Absolutheitsansprüche an die Zukunft, hält das Fragwürdige, Komplexe, Kontingente und Ambivalente einer Vergangenheit und damit das Denken in Alternativen bewusst und sensibilisiert für die Handlungsspielräume einer komplexen Gegenwart. Die Kompetenz, regelgeleitet die Komplexität von vergangener Wirklichkeit zu rekonstruieren, schützt vor populistischen Komplexitätsreduktionen, wie wir sie jüngst im Bundestagswahlkampf nur allzu oft hatten ertragen müssen. Kehrt aber nicht zugleich in einer Zeit, in der für selbstverständlich erachtete Gewissheiten durch globale Umbrüche in Frage gestellt werden und eine zunehmende Affinität für autoritäre politische Ordnungen zu beobachten ist, das Demokratielernen im Geschichtsunterricht, also die Fragen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft politischer Ordnungen und mit ihnen die Historisierung heutiger Wertmaßstäbe, die man in einer demokratischen Gesellschaft für unhintergehbar hält, zurück? Geschichtsunterricht ist keine Subkategorie der politischen Bildung, wie etwa in Konzepten einer „civic education“ mit ihrem Fokus auf der Zeitgeschichte und deren Beitrag zur staatsbürgerlichen Bildung. Denn Schülerinnen und Schüler

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Charlotte Bühl-Gramer

müssen im Geschichtsunterricht historisch argumentieren lernen. Karl-Ernst Jeismann hat dies vor 30 Jahren als Sinndeutung vergangener und darin gegenwärtiger Zeit bezeichnet. Der früheren Dichotomie von politischer Geschichte und Kulturgeschichte im Geschichtsunterricht muss damit nicht das Wort geredet werden, da diese Trennung durch die historische und interdisziplinäre Forschung inzwischen längst aufgehoben wurde, Politik immer auch kulturell vermittelt wird und sich darüber hinaus die globalen Herausforderungen unserer Gegenwart auch nicht in einem engen Begriff von Politikgeschichte erschöpfen.

4.

Geschichtskultur als besondere Orientierungsleistung des Geschichtsunterrichts

Die geschichtskulturelle Erweiterung des schulischen Unterrichts ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Gegenwarts- und Lebensweltbezugs unstrittig. Über das Konzept der Schülerorientierung und der Motivation hinaus hat die Beschäftigung mit Geschichtskultur auch eine analytische Dimension. Denn als Kommunikationsform historischen Wissens und kultureller Praxis von Geschichtsbewusstsein ermöglicht Geschichtskultur im Geschichtsunterricht eine gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit dem politischen, kommerziellen, kulturellen und populären Geschichtsgebrauch und damit die Partizipation an Geschichtskultur, die nachhaltiges Lernen über den Geschichtsunterricht hinaus ermöglichen kann. Die rationale Analyse und Bewertung von Geschichtskultur avanciert angesichts des zunehmend auch anarchischen Umgangs mit Vergangenheit in der Öffentlichkeit, ohne sich um die historische Plausibilität kümmern zu müssen, derzeit zu einer besonderen Orientierungsleistung des Fachs. Bestimmte Formen dieses Geschichtsgebrauchs unterliegen im Zeitalter der zunehmenden Digitalisierung der Geschichtskultur allerdings keinerlei ethischer Kontrollen und unterlaufen (mitunter auch ganz bewusst) die Standards der historischen Wissenschaft, was als besondere Herausforderung für die Rationalitätsstandards von Geschichte und Geschichtsunterricht gesehen werden kann. Welche Rolle soll demgegenüber die Wissenschaftsorientierung von Geschichtsunterricht weiter haben? Werden das hohe Anforderungsniveau, die Komplexität und vor allem das historische Wissen, das für eine Analyse von Geschichtskultur die Voraussetzung bildet, nicht noch zu stark unterschätzt? Auf dem Feld der Geschichtskultur ist die Auswahlfrage bislang ebenfalls nicht gestellt: Soll der Hollywoodblockbuster oder der kleine Autorenfilm im Programmkino Gegenstand einer geschichtskulturellen Analyse im Geschichtsun-

Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung

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terricht sein? Oder anders gefragt: Folgt man den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie, der Medienpräsenz, den rasanten Veränderungen durch Digitalisierung der politischen Durchsetzbarkeit und oder normativen Qualitätsmerkmalen, damit Schülerinnen und Schüler Ideen für ästhetisch oder politisch angemessene Darstellungen entwickeln können?

5.

Medien und Geschichtsunterricht – Medialisierung von Geschichte

Digitale Medien und digitales Lernen sind derzeit hochaktuelle Themen, in den Medien wie auch in Bildungspolitik und Wissenschaft. Dem Geschichtsunterricht wachsen hier zweifellos neue Lern- und Aufgabenfelder zu: Lernraum, Lernsituation, Mediennutzung, Medienpraxis und soziale Praxis ändern sich – Fragestellungen, der Kern historischer Methoden und Erkenntnisverfahren bleiben davon aber wohl letztlich unberührt. Geschichte und Geschichtsunterricht waren und sind gegenwärtig noch viel weniger ohne Medien nicht denkbar. Als wichtige Fragestellungen auf diesem Feld wären etwa zu nennen: 1. Wie ist der fachspezifische Medienbegriff mit Blick auf die Digitalisierung insgesamt und die Digitalisierung von Geschichtskultur weiter auszuschärfen, mit der eine rasante Veränderung der Geschichtskultur einhergeht? 2. Gehört der Geschichtsunterricht zu den Fächern der Medienbildung par excellence, weil hier gelernt werden kann, wie, auf welche Weise und wo verlässliche Inhalte zu recherchieren sind, wie die gefundenen Informationen kritisch bewertet und eingeordnet werden, wie in diesen Medien sinnvoll historisch gelernt werden kann, aber auch welche Fallstricke, spezifischen Herausforderungen und Chancen für historisches Lernen digitale Online-Medien beinhalten? Oder wird der Geschichtsunterricht dadurch auf einen Ort kritischer Medienanalyse und produktiver Mediennutzung reduziert? 3. Steht angesichts des digitalen Wandels als Aufgabe des Geschichtsunterrichts nicht auch die Historisierung von Medien und der Kommunikationsmöglichkeiten (vom Buchdruck über Massenmedien des 19. Jahrhunderts, dem Film etc.) auf der Agenda, also eine Medienbildung, die auch das Wissen um den Medienwandel, seine Impulse und Veränderungen einschließt?

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6.

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Schülerinnen und Schüler

Angesichts der Diversität und Heterogenität der Schülerschaft in einer soziokulturell diversen, zunehmend fragmentierten Gesellschaft – nicht nur im Zuge von Migration und Inklusion – haben sich der Lebensweltbezug historischen Lernens und die subjektiven Bedeutsamkeiten von Geschichte ausdifferenziert. Die Frage der methodischen Strukturierung von Lehr- und Lernarrangements zugunsten von Individualisierung und Binnendifferenzierung von Geschichtsunterricht ist dabei die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist angesichts einer sich ausdifferenzierenden Schülerschaft hinsichtlich ihrer unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen und Herkunftsgeschichten die Frage, welcher Geschichtsunterricht hier zu brauchen ist. Die subjektiven Orientierungsbedürfnisse Heranwachsender sind ebenso ernst zu nehmen wie die gesellschaftlichen Orientierungsvorstellungen. Die Diversität dieser Erfahrungen ist stärker einzubeziehen. Zugleich wird Schule damit auch vermehrt zum Schauplatz historischer, sozialer, kultureller und politischer Verwerfungen, die im Geschichtsunterricht - den Prinzipien historischen Denkens und methodischer Rationalität folgend - zur Diskussion gestellt werden müssen. Zweifellos ist hier eine stärkere Einbeziehung von Konzepten der transregionalen, transnationalen und transkulturellen Geschichte notwendig, um übergreifende historische Zusammenhänge zwischen verschiedenen Geschichtsräumen herauszustellen. Eine Möglichkeit wäre, die „shared history“ ins Blickfeld der Lernenden zu rücken, das heißt jene Geschichtserfahrungen, die der Geschichtsraum Deutschland und Europa mit anderen (Welt-)Regionen und Kulturen „teilt“, als Verflechtungsgeschichte stärker zu integrieren. Dabei könnten Themen immer wieder auch doppelt kodiert werden: Einmal etwa aus nationaler, dann aus globaler Perspektive, damit Schülerinnen und Schülern nicht ein Konzept „verordnet“ wird, sondern sie diese unterschiedlichen Konzepte kennen und bewerten lernen. Anknüpfungspunkte an einen geteilten Erfahrungsraum könnten aber ebenso auf der Mikroebene gesetzt werden – etwa mit der Geschichte des gemeinsamen Schul- bzw. Wohnortes in einer transkulturellen Erweiterung des Lokalen, die ebenfalls die Fokussierung auf Diversität und Heterogenität, die auch mächtige „Die-Wir-Strukturen“ befördern können, relativieren hilft. Die Frage der Auswahlkriterien ist auch hier zu stellen.

Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung

7.

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Geschichtsunterricht: Fachliche Eigenständigkeit oder Fächerintegration?

Geschichte ist vielerorts kein eigenständiges Unterrichtsfach mehr. Integrative Konzepte mehrerer Fachperspektiven in einem Schulfach werden in der Geschichtsdidaktik unterschiedlich beurteilt. Derzeit erscheint fächerintegrativer Unterricht allerdings eher als bildungspolitisches Sparprogramm jenseits des Gymnasiums, der aufgrund reduzierter Lernzeit jedenfalls mit einem Substanzverlust in quantitativer, aber wohl auch fachlicher Hinsicht einhergeht. Geschichtsunterricht wird damit derzeit zu einem sozial selektiven Unterrichtsfach. In konzeptioneller Hinsicht wäre aber auch zu fragen, ob die integrativen Konzepte nicht vielmehr die anspruchsvollsten, da perspektivisch vielfältigsten Konzepte sind. Mit Geschichtsunterricht im Fächerverbund ist überdies das Problem des fachfremden Unterrichtens verbunden, da der Fächerverbund keinerlei Verankerung in der Lehrerbildung aufweist. Wie viele Schülerinnen und Schüler in weiterführenden Schulen derzeit fachfremd erteilten Geschichtsunterricht erhalten, wissen wir nicht. Besonders diese mutmaßlich große Gruppe von Geschichtslehrkräften bedürfte einer besonderen Aufmerksamkeit und Unterstützung.

8.

Lehrerbildung

Dieser Rückgang an Fachlichkeit steht in krassem Widerspruch zur Professionalisierung der Lehrerbildung, die wie kein anderes akademisches Fach derzeit auf der hochschulpolitischen Agenda steht – zumindest kenne ich keine „Qualitätsoffensive“ für Mediziner, Juristen oder Maschinenbauer. Wenn mit dem misslichen Begriff die Bereitstellung von Ressourcen für Forschung und Lehre intendiert ist, ein Geschichtsstudium für einen Geschichtsunterricht in weiterführenden Schulen auch jenseits des Gymnasiums in allen Bundesländern zur Grundvoraussetzung wird und die Geschichtswissenschaften ihre Zuständigkeit für die Lehrerbildung jenseits von kurzen Zwischenrufen wieder zu entdecken beginnen, dann ist eine „Qualitätsoffensive“ längst überfällig. Zur Diskussion stehen auf diesem Feld beispielsweise folgende Fragen und Probleme: 1. Brauchen Studierende für das Lehramt Geschichte spezifische fachwissenschaftliche Lehrveranstaltungen bzw. spezifische Anteile der Hochschullehre, ohne dabei eine „Geschichtswissenschaft light“ zu intendieren, oder eben gerade nicht?

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Charlotte Bühl-Gramer

2. Sollten sich Lehramtsstudierende im Fach Geschichte nicht intensiver mit Geschichtstheorie befassen? Scheint doch die Verschränkung von Geschichtstheorie mit Geschichtsdidaktik wesentlich stärker als bei anderen Fachdidaktiken zu sein. 3. Wie kann eine Kooperation zwischen der fachwissenschaftlichen mit der geschichtsdidaktischen Lehre intensiviert werden? 4. Es erscheint als dringlich, den isolierten Blick auf die Teilidentität von Lehrkräften zu überwinden. Lehrkräfte werden bzw. sind nicht nur Geschichtslehrkräfte, weder im Studium noch in der Schule. Wie kann Lehrerbildung dieser Tatsache Rechnung tragen? 5. Welche Lehrerbildungsmodelle können z. B. Theorieskepsis und Transferwiderstände geschichtsdidaktischen Denkens und Wissens abbauen und wie kann Theorie-Praxis-Integration in allen Phasen der Lehrerbildung noch besser gelingen? Der Fehlbegriff der „Lehrer-Ausbildung“ und ein stark verengter Begriff von Praxisbezug auf selbst erteilten Unterricht scheint mir hier kontraproduktiv zu sein.

Schluss Ist „Geschichte“ eigentlich ein „leichtes“ oder „schwieriges“ Unterrichtsfach? Meine kurzen Ausführungen deuten wohl eher auf Letzteres hin. Auch deshalb gilt es, den Geschichtsunterricht jenseits des Gymnasiums noch stärker als bisher in den Blick zu nehmen. Aber nicht nur jenseits des Gymnasiums – und das ist die letzte Problemanzeige – wird von Lehrkräften als besondere Herausforderung derzeit das Thema „Sprache im Geschichtsunterricht“ erfahren, ob als basale Sprachförderung, historisches Begriffslernen oder elaboriertes Werkzeug fachlichen Denkens. Emil Stutzers eingangs zitierte Anmerkung, es gelte, „die dem Geschichtsunterricht im allgemeinen gestellten Aufgaben sich völlig klar zu machen“, ist Thema dieser Tagung in ihren vielfältigen Formaten. Dass dies eine immer wiederkehrende, aber stets neu zu führende Debatte ist, liegt in der Sache selbst begründet. Ich möchte Sie daher einladen, sich an der Frage, „Quo vadis Geschichtsunterricht?“ zu beteiligen. Dazu haben Sie in diesen drei Tagen die Möglichkeit.

Keynotes: Why History Education?

Klas-Göran Karlsson

Answering the question why history ought to be taught and learned, my horizon is naturally Swedish. There is an impertinent Swedish question that precedes the one in the heading: Do we really need history education at all? The question has a personal background. A quarter-century ago, as newly appointed chairman of the Swedish history teachers’ association, I recurrently called on the responsible politicians in Stockholm not to do away with school history. There was at that time an obvious risk that history would die a natural death as a Swedish school subject. The simple fact was that the historical dimension did not make sense for large parts of the Swedish political, intellectual and educational 8lites. I remember that the social democratic minister laid his hand on my shoulder and said: Klas-Göran, you must realize that Sweden is a country that looks forward, not backward. History is dead and gone, he assured me.

The Swedish Non-Use of History I was not totally unprepared for the anti-historical attitude. For many years, politicians in general, and those responsible for educational affairs in particular, had dismissed history as a conservative, nationalist subject of kings and battles. Submission of empirical evidence that this was not the case was brushed aside. When Swedish politicians finally became interested in history, they had already retired, and at that time it was too late for them to promote history teaching. Besides, I had written a thesis on the objectives of Russian and Soviet history teaching in the period from 1900 to 1940, and from the Leninist 1920s I recognized a regime who had abrogated history in favor of a splendid future, or a country that chose to legitimate itself without references to history. The ideas of the early Soviet Proletkult organization, that culture did not entail a historical heritage but rather the everyday social communication between human beings in a society characterized by equality and solidarity, were made for the Swedish

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Keynotes: Why History Education?

public discourse.1 In my world-view, these are examples of a non-use of history, i. e. a conscious ideological use of history by repressing it or in other ways leaving it out.2 Indeed, at that time, Sweden did not very often recognize its historicity. Its modernist ideology was economistic, narrow-mindedly focusing on the production and dissemination of material welfare. Neutral Sweden was securely situated outside Europe, outside the Second World War and other continental quarrels, and almost outside history. The interpretation of war was colored by what we used to call small state realism, which means that we prided ourselves with the wartime Swedish politicians’ pragmatism that skillfully kept Sweden outside of the European catastrophes. School problems were handled by representatives of socially progressive disciplines and subjects such as pedagogics and sociology, with little or no interest in historical perspectives. Historians like myself were never allowed into circles in which the future of Swedish school and teaching was decided. As in the Soviet labor school of the 20s, history disappeared into a cluster of social studies, in Russian obshchestvovedenie. Obviously, the history subject was not credited with an independent value.

The Return of History But then came not Stalin, but rather the crisis of the welfare state, the demise of the Russian-Soviet arch enemy and the end of Cold War in 1991, a new Hansa of the 1990s in the Baltic Sea region, Sweden’s entry into the European Union in 1995, and the arrival of the multicultural society and state. The historical dimension rapidly returned from a longtime historical slumber, first in public life, slower and more hesitantly in the school curriculum. In 1997, Sweden entered the Second World War, which was a very nice time to declare war since nobody gets hurt after fifty years and everyone knows whom to side with, which not all Swedes did in 1940. The symbolic Swedish war entry had been preceded by historical revelations that certainly were not new for professional historians but made headlines when they were “rediscovered” by journalists who could demonstrate that Sweden had had closer relations with Nazi Germany than pre1 The thesis is in Swedish, but a condensed version is Klas-Göran Karlsson: History Teaching in Twentieth-Century Russia and the Soviet Union: Classicism and Its Alternatives. In: Ben Eklof (ed.): School and Society in Tsarist and Soviet Russia. London 1993, pp. 204–223. 2 See Klas-Göran Karlsson: Public Uses of History in Contemporary Europe. In: Harriet Jones/ Kjell Östberg /Nico Randeraad (eds.): Contemporary History on Trial. Europe since 1989 and the Role of the Expert Historian. Manchester 2007, pp. 27–45; id.: The Uses of History and the Third Wave of Europeanisation. In: Malgorzata Pakier/Bo Str,th (eds.): A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance. New York/Oxford 2010, pp. 38–55.

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viously known, that few German Jews were given refuge in Sweden in the prelude of the war, and that forced sterilizations of “inferior” Swedish women had been a widespread medical and social practice in Sweden from the 1930s onward. Suddenly, the historical border line between Sweden and Nazi Germany and the current border line between Sweden and Europe was no longer razor-sharp. The Holocaust quickly conquered a position as a distinguished layer of Swedish historical culture, soon capable of competing with both the Vikings, the Baltic great power period of the early modern era, and the modern social democratic Folkhem, the peoples’ home. Surely, the change did not only concern historical culture, but also politics of history, since Sweden, despite its long-term dissociation from European history, soon became a prominent state in a European and global endeavor to counteract anti-Semitism, racism and intolerance by means of Holocaust education. Even a special public authority, Living History Forum, was created in Stockholm for this purpose. From 2000, the Swedish capital became the venue of four consecutive international conferences to discuss Holocaust and genocide history and politics. Fifteen years earlier, this “historicization” of the Swedish state and public sphere had been totally unimaginable, and it obviously needed a scholarly investigation.3 Gradually, the paradox that Sweden was on the verge of shutting down school history teaching while simultaneously giving strong support to Holocaust education became politically embarrassing, so history teaching reappeared in the curriculum. When I, still as a chairman, was summoned to Stockholm to receive the good news, I was told, this time by a non-socialist minister, that history teaching should not only embrace Holocaust history, but also the Gulag and Soviet Communist terror history. Even the Living History Forum incorporated the history of Communist regimes’ crimes against humanity in its agenda in 2006. This means that a prominent answer to the question “Why history education?” was that knowledge of crimes against humanity perpetrated by Nazi and Communist regimes in the past should serve to counteract present-day problems of narrow nationalist and chauvinistic attitudes in Swedish society. To be sure, the intention was good and the need obvious, but it is still unclear how this learning process should be carried out, and on what assumptions, particularly if 3 Klas-Göran Karlsson: History in Swedish Politics – the ‘Living History’ Project. In: Attila Pjk/ Jörn Rüsen/Jutta Scherrer (eds.): European History : Challenge for a Common Future. Hamburg 2002, pp. 145–162; id.: The Holocaust, Communist Terror and the Activation of Swedish Historical Culture. In: Oliver Rathkolb/Imbi Sooman (eds.): Historical Memory Culture in the Enlarged Baltic Sea Region and Its Symptoms Today. Vienna 2011, pp. 195–212. In 2001, I took the initiative in organizing a large research project, “The Holocaust and European Historical Cultures”, to analyze this rising public and political interest in Holocaust history from a Swedish starting-point. See Klas-Göran Karlsson/Ulf Zander (eds.): Echoes of the Holocaust. Historical Cultures in Contemporary Europe. Lund 2003.

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one wants to avoid the simplistic approach that I would call a political use of history. It is constructed from the formula “X is like Y”, with one of the variables always taken from the Nazi armory, while the other is what is considered an urgent problem of later days, with similarities that are greatly emphasized, while differences are toned down. Lack of trust in democracy and of tolerance are thereby reduced to cognitive problems that should be solved by history teachers. Of course, this is a very convenient attitude for any politician, but no doubt undemocratic manifestations in our society have other main roots than lack of knowledge of Nazi and Communist history and must be counteracted by many agents and from many quarters.

Emancipatory History It goes without saying that neither the general Swedish politico-pedagogical lack of trust in the possibilities of the subject, nor the instrumental use of history teaching for specific tasks of political education, have been fruitful for scholarly and didactically framed discussions on aims and objectives of history teaching in my country. Nevertheless, during my professional time, i. e. since the early 1980s, such discussions have taken place, although with varied intensity. When I started my career as a didactically informed history teacher, in a group of equals at Lund university and Malmö teachers’ training college, we all read Annette Kuhn’s “Einführung in die Didaktik der Geschichte”, and the Danish leftist equivalent, Sven Sødring-Jensen’s “Historieundervisningsteori”, both from the late 1970s. Emancipatory history was the catchword of the day, approximately understood as a history that could help human beings in general, and exploited men in particular, to get rid of historically unnecessary coercion. I must admit that I never really understood the fine distinction between unnecessary and necessary historical coercion and repression. Being a scholar within genocide studies, I know that perpetrators always have declared their evil deeds as a necessary, and thereby a good and progressive violence, certainly unfortunate for the victims, but fundamentally in the service of mankind, and that ideas of necessary coercion or violence is an expression of an ideological use of history. There is something unhistorical and unsound in the notion of political and social necessities. In my mind, the emancipatory idea concerned man as an active historical and social being, and the problem whether the individual should be regarded as a subject or an object. It certainly had its contemporary settings. Reading Kuhn and Sødring-Jensen, it became clear that coercion and emancipation were concepts closely related to a leftist, anti-capitalist struggle. However, it goes without saying that an emancipatory approach can provide the history teacher

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with a more general invitation to apply an activist and voluntarist idea on history, contrary to the structural determinism of much rigid Marxist thinking. In my emancipatory conviction now and then, most important is to demonstrate that historical man is always presented with different alternatives of action but must choose between them and make decisions which way to go. After all these years, I can still remember how I tried to demonstrate for my pupils at the senior levels in a Malmö grundskola how some of their local ancestors had changed their life to the better by emigrating, joining the union or playing football. In the 1980 history curriculum, the corresponding idea was to “believe oneself capable of influencing and improving his or her own and others’ living conditions”.4

Historical Identity in a New World In the late 1980s, East Europeans everywhere demonstrated their ability to emancipate themselves from unnecessary coercion, by overthrowing their Communist regimes. I am not sure whether it was this very practical realization of the curricular objective, or a more general terminal point of the 1968 left turn, that ended the emancipatory idea in the years round 1990. The next trend in Swedish history education was much less activist, instrumental and radical, leaving a larger space of historical interpretations to teachers and students, and having a new focus on a less distinct historical identity. I think one can conclude that the new approach was quite well-adjusted to the new, post-revolutionary Europe after 1991 that certainly did not only call for new identifications among East Europeans but for Europeans in general that no longer could rely on those situated on the other side of the Berlin Wall as the evil power in history. Maybe Hitler, the Holocaust and Auschwitz were brought out to replace the East in this role. Furthermore, identity and identification became keywords in an increasingly multiethnic and Europeanized Sweden, where at that time historical questions of what is particularly Swedish and what we share with “others” were recurrently asked. The curriculum of 1994 underlined schools’ and teachers’ responsibility that “students obtain and develop knowledge that is necessary for each individual and member of society”, and that “enables students to see themselves and present-day phenomena as links in a historical process”. “Awareness of one’s own identity as well as participation in the common cultural heritage” was timely underlined.5 To be sure, such wordings are much more in

4 Läroplan för grundskolan. Allmän del, Stockholm 1980, pp. 119–120. My translation. 5 Läroplaner för det obligatoriska skolväsendet och de frivilliga skolformerna. Lpo 94, Lpf 94. Stockholm: Utbildningsdepartementet 1994, p. 5. My translation.

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line with traditional school objectives to legitimize and socialize into the existing society, at least compared to 1980. At that time, I had left school for good, but as a historian I took a keen interest in the development of new ideas of history didactics. The period from the mid90s to 2010 was a golden age, when a much larger group of historians and history teachers than before read Reinhart Koselleck and Jörn Rüsen, entered deeper into the mechanisms of historical consciousness, and widened the scope of history didactics from the arena of history education to a more general historical culture, in which history certainly was taught and learned, but also researched, exhibited, screened, debated and celebrated. The cultural turn of history scholarship acquainted us with concepts such as experience, memory, narration and genealogy, which we tried to make operable in scholarly and educational practice. In the millennium years, there was a true “didacticization” of history scholarship in Sweden, with a row of PhD theses on the relationships between history, culture, education and politics.

Historical Consciousness and Uses of History My own contributions were mainly in the field of uses of history that I developed and analyzed from two different perspectives. One has an active, functional orientation: history is used by certain societal individuals and groups to satisfy certain needs and interests that can be described as scholarly or educational, but also as existential, moral, ideological, politico-pedagogical, and maybe even commercial. The other perspective is rather hermeneutical, starting from the idea that history is not used arbitrarily and spontaneously but is in line with cultural patterns that often are much older than we are. Thus, when we teach, and students learn history, we do not start from scratch, but have already been learned beforehand as a cultural pre-construct or preformation for the teacher to include in the history learning process. There is some indication that a use of history for, say, educational purposes, is more functional – if not always more valuable – if it corresponds to deeper and larger layers of historical culture. Unfortunately, this notion is contrary to the already mentioned fact that Holocaust history rapidly conquered a position of pride in Swedish history teaching and historical culture in general. The concept of uses of history has a salient position in the present Swedish history curriculum that has been effective since 2011, if not in the more qualified dual perspective that I just have referred to. As an overall declaration, it is stated that “human beings’ understanding of the past is entangled into their notions of

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the present and perspectives on the future”.6 This means that historical consciousness has reached a position as a fundament for all history teaching in Sweden, except on the university level, where it is still strangely absent. In general, historical consciousness must be mentioned in any discussion on the objectives of history teaching. The problem, as we all know, is how to make it an analytically and pedagogically operable concept. No doubt, it raises basic questions about history education that in my mind are not addressed in the Swedish 2011 document, at least not explicitly and sufficiently. As I see it, the most important one is how we best take charge of the central human predicament that I already have hinted at. On the one hand we are history, or have a history, that we cannot escape from and must study if we want to know from where we originate and who we are. On the other hand, we make or do history, by lifting ourselves up above history as it is, making use of experiences, memories and other kinds of historical knowledge to orientate ourselves in, make sense of and even change life and society. A history education that is serious about developing students’ historical consciousness must in my mind do justice to the entire span of the historical dimension. It must combine a genetic, prospective and developmental “be history” approach with a genealogical “make history” approach. These two basic historical perspectives always reciprocally presuppose each other. Consequently, the most qualified aims of history education must demonstrate that we certainly make history, but not entirely at our own free will, but rather in relation to who we are and where we stand. There is an emancipatory idea involved, but in a less political and more analytically elaborate way than in the 1980s. When we teach and learn history, we always perform in history, not outside it, as we too often are incited to believing in scholarly thinking. Inversely, an aim to historically demonstrate who we are will be deterministic and passivating if we do not combine it with an activist “make history” perspective, asking our questions to history and formulating the problems that we want to solve, from our posterior horizon.

6 www.skolverket.se/laroplaner-amnen-och-kurser/gymnasieutbildning/gymnasieskola/his (accessed 2/23/2018). My translation.

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1. Why history education? This question dominated the first part of last year’s annual conference for history teachers and struck me on one hand as awkward, on the other as a real challenge, since I was asked to make introductory remarks about this question together with two non-German colleagues. To talk about such a wide and complex issue as the fundamental reasons for history education in schools seemed to actually touch the most basic question: whether we can learn from history at all. Already while reading the program, and even more so after listening to the first panels, I was struck by the sense of crisis regarding history education in schools. And there were more sessions to come, suggesting a basic uncertainty which, at least in part, seems to be a reaction to the shrinking space history education is granted in schools today. This is the more alarming, as history is omnipresent in the media, in the internet and in TV-series, some of the narratives with a claim to historical truth, while others openly use history as a setting for the fantasy genre (“Game of Thrones” being one of the globally successful “history” series).1 While preparing my talk, I became ever more puzzled about the “Why”question, once you don’t just take it as a merely rhetorical one. The beginnings of school education in history coincide with the emerging nation states, which demanded for a broader, deeper and more structured and standardized historical knowledge with a strong focus on national history. Today history education considers the many connections between and interactions of different nation states, world regions, social groups and, most of all, historical epochs. Thus, the need for history education (in schools) seems quite obvious: to give students not only a secure and basic factual knowledge, but also to outline history as a meaningful phenomenon that is the result of structural changes and human 1 While playing with a number of features of a more recent history, the basic setting reminds of the European middle ages.

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agency and has a deep impact on people’s lives, experiences and aspirations. In the end, history education was always linked to high moral standards: aiming not just at knowledge, but consciousness; and the phrase that those who do not know about their history are doomed to repeat it, defines history as a central basic element of educating a good citizen (or whatever has been regarded as “good” in different historical times and places). Against this background, however, the real achievements of history education are sobering. In a nutshell, the majority of people do not have – nor think they need – more than a very basic sense of being situated in time, with a past and a future. But for most of them, this need is satisfied by listening to family stories and learning about the times their parents and grandparents lived through.2 “Knowing” about past times has a deeply personal meaning and does not necessarily ask for what we call history education. On the other hand, history can be used as an endless reservoir of human experience: struggles, drama, euphoria, violence, triumph and tragedy as well as simplicity, harmony and homogeneity – an ongoing fantasy novel. History education tries and needs to intervene in all those spontaneous ways of engaging with the past by insisting on the difference between knowledge and mere imagination, by giving depth to the knowledge of the immediate past and by enabling students to view history not only from their own perspective, but through the eyes of people from distant times, foreign regions and strangers. The degree to which these goals are achieved is difficult to measure, since they do not so much translate into knowledge that can be tested and graded, but into an attitude of curiosity, respect, empathy and self-reflection regarding the past.3 In addition, it seems impossible to evaluate the impact of parallel history information from outside of school. To conclude my answer to the “Why”- question: it is pretty obvious and easy to answer, but the path to it is very difficult to find. That is why I assume that the real question is not so much the “Why”, but the “How”. The “How” as a question of teaching methods is best dealt with by school experts and practitioners. I will address the question less on a practical but rather on a conceptual level. Before doing so, some remarks on my personal professional background might be helpful for the reader. I am a retired professor of modern German history who started out as a high school teacher (Hauptschullehrerin) in the early 1970s. Since the early 1990s until 2015 I have served as a member of the central jury and the board of the Körber Foundation’s National History Competition. As 2 For the importance of family narratives see social psychologists Harald Welzer and Karoline Tschuggnall as well as historian Sabine Moller : “Opa war kein Nazi”. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M. 2002. 3 Most of the research on the impact of history education in schools is based on questionnaires. See the first large scale project by Bodo von Borries: Geschichtsbewusstsein im interkulturellen Vergleich: Zwei empirische Pilotstudien. Pfaffenweiler 1992.

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a researcher, I have always focused on the ways so called ordinary people experience history ; and I have asked how they try to make sense of the ways the world around them and their position in it had changed – often dramatically. The historical subjects I encountered in my research: Domestic servants, ordinary GDR citizens, an educated family during WWI, a group of coffee merchants in Hamburg – understood (their) history much less through the narratives provided by formal educational institutions, but rather through the narratives created outside of such institutions, in their families, region, peer groups, social class or political movement. My access to these formative narratives was mostly through life history interviews or other ego-documents.4 My experiences as teacher as well as researcher have left me with both a deep respect for history teachers and a deep skepticism about the potential of schools to secure the kind of history education that they hope will provide the knowledge they think necessary and the consciousness they think adequate. These aspects will be addressed as a contribution to the “How”-question. The case that will serve as an example is the National History Competition for schoolchildren and youth. But I cannot focus on the competition without embedding it into wider questions of the role history education could and should play in schools today and in the future.

2. Most readers will be familiar with the “Schülerwettbewerb”.5 Since 1976 it has been conducted every second year under the patronage of the President of the Federal Republic of Germany. More than a thousand contributions are sent in each time, many of them by groups or whole classes, so that the number of students involved can easily reach five digit numbers. Initiated by and made possible with the financial resources and the professional expertise of the Hamburg based Körber Foundation, and enhanced by the patronage of the President of the Federal Republic, children and youth up to the age of 21 were 4 The following projects were substantially, but not exclusively based on Oral History : Dorothee Wierling: Mädchen für Alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichten städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende. Berlin/Bonn 1987; Dies.: Geboren im Jahr Eins. Der Geburtsjahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin 2002. During a collaborative project in the still existing GDR, we had no access to archival sources: Lutz Niethammer/Alexander von Plato/Dorothee Wierling: Die Volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. Berlin 1991; Dorothee Wierling: Eine Familie im Krieg. Leben Sterben und Schreiben 1914–1918. Göttingen 2013, is based on a private family correspondence, while my most recent monography : Mit Rohkaffee handeln. Hamburger Importeure im 20. Jahrhundert. Hamburg 2018, makes little use of oral histories. 5 See www.koerber-stiftung.de/geschichtswettbewerb (accessed 5/25/2018).

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asked to choose an aspect of a broader topic (be it a specific epoch such as Nationalsocialism or a socio-cultural phenomenon such as generations or religion) and identify a locally relevant case study for their own original research. Thus, the competition represents the essence of what has been recommended by scholars of history education as “Forschendes Lernen” (literally translated as “learning by researching” or perhaps better as “explorative studies”).6 The concept of making school kids identify, collect and interpret original sources to create their own narrative based on historical evidence is intriguing. It seems like the ideal tool to achieve some of the ambitious goals of history education mentioned earlier. The response by students, teachers and schools has been very positive each time, at times even overwhelming, in terms of the number of participants, the time and energy invested into the work both by students and their teachers, and, last but not least, the quality of the research. In that sense, we are dealing with a success story. But we cannot end here. I admire the dedication teachers show in realizing such a project, keeping their students at it, giving them advice, resources and most of all their time. The Körber foundation offers these “tutors” a lot of support and so do many schools. But conditions are extremely uneven and many teachers, I guess, give up in the middle of the endeavor or never even try. And they are not to blame: The basic structure of narrow time slots for the various school subjects, the little time that history education is granted in the curriculum, the still dominant idea of learning by listening instead of doing – plus the general – and growing – everyday burden of teachers’ work are good enough reasons to refrain from additional commitments. But obviously, the competition is a terrific opportunity for highly motivated students and teachers to engage in a serious, rewarding project which, apart from the historical knowledge acquired, gives them a deep insight in the workings of historical epistemology and lead to the creation of meaningful case studies. So, what’s the problem? For each competition, students and tutors are asked to structure their work along four steps: collecting, describing, analyzing and “transfer”. This seems to be in sync with the dominant notion of a history education which is less focused on teaching historical “facts”, but rather competences: to ask the right questions, to apply the right methods and to come up with the right conclusions, including a historical judgement on the problem at hand. I cannot go into the details of all the obstacles blocking the path towards achieving these ambitious goals. We sometimes underestimate the authority of 6 The Körber-Stiftung not only promotes explorative learning in history education but also engages in research and debates about the method. See the conference report on H-Soz-Kult: Ist forschend-historisches Lernen im Geschichtsunterricht noch zeitgemäß? Reflexion zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2012/2013. https://www.hsozkult.de/conferen cereport/id/tagungsberichte-5020 (accessed 5/27/2018).

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often dubious web-pages or worse, persuasive witnesses vis-/-vis schoolkids. Particularly problematic can be the most ambitious goal, the transfer, proving that you learnt from history for the presence and future, by formulating an adequate moral judgment – a step even experienced and wise historians hesitate to make. Unfortunately, students sometimes feel obliged to come up with a conclusion that distinguishes clearly between good and bad guys, heroes and victims; or with lessons that can be applied to their immediate present life. As we all know, history is about complexity and ambiguity, and the lessons that we can draw from it, if any, are seldom clear, or directly applicable. My own experience as a researcher has taught me that most of the phenomena I find, especially when it comes to human experience, are multilayered and contradictory. For me, that makes for the essence of the fascination history has to offer. Thus, the best contributions to the national history competition are aware of these limits. Teachers should encourage their students to a self-reflective and skeptical attitude vis-/-vis history. And many do: one of the answers is a multiperspective approach. But it does not come easy as an attitude because it violates three major needs: the quests for secure knowledge, unambiguous identification and a clear sense of one’s historical place – both in time and as belonging. As a university teacher, I often encountered first semester students who expected to finally be offered satisfactory knowledge and judgement. While my role was to introduce them to a scholarly approach to history and teach them that we can indeed know something about the past by applying the right methods, the other task remains: to make them accept how little and unsure that knowledge often is.

3. One thing that always happens when students work on their own projects is the creation of a story. It may be insufficient and in parts even incorrect, but every text, film, poster, web-page or virtual tour-guide present a historical narrative based on some type of original evidence. In doing so, they follow the basic procedure of all historiography : they seek to find all the links and causes for their case to develop the way it did, in other words: they contextualize it to tell a meaningful story about the past. When I was trained as a teacher in the 1970s, “storytelling” was totally “out”. Our teaching was supposed to be governed by learning targets or educational objectives (Lernziele). Storytelling, in contrast, stood (negatively) for the teacher as the central source of information and authority in matters of historical truth; and was thus linked to the disregard for the emancipatory needs of students. Still, depending on the school type, students were supposed to go through the whole chronology at least once.

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Meanwhile, this has changed. If I am not mistaken, current curricula are much more detailed when it comes to defining competences than relevant historical phenomena and case studies. And, given time constraints, students must find it ever more difficult to embed those case studies into the broader society or the long-term developments of which the case is a part, and which gives it its historical meaning. I think that school as an institution and teachers as its agents are there to help students to understand these contexts. History is unthinkable without a narrative structure. Therefore, chronologies matter as well as simultaneity to convey the necessary sense of causality : narratives are based on the notions of “before and after” as well as “meanwhile” to be able to answer a “Why” with a reasonable “Because”.7 In history education, narratives matter on two levels. One is what has been critically labelled the “grand” or “master” narrative, meaning the dominant, mostly national and sometimes even official narrative of a given collective.8 They provide not just the chronological framework for specific topics, but knowing about and questioning such narratives – for instances how they change over time or whose experiences dominate them – enables students to analyze them regarding the socio-cultural and normative systems which form their basis. But on another level, it is the small narrative, a life or family story, a dramatic event, a funny scene, a personal conflict, a dialogue, a memory, a travelogue, a dream – all narrative genres – which can, in a nutshell, encompass historical experiences and historical meaning. I have encountered such narratives over and over again in oral history interviews, when people tell their life stories, the domestic servant re-enacting a conflict with her mistress, or a GDR steel worker describing a typical “plan discussion”.9 Such stories are intriguing and they can and should be compared, juxtaposed, or identified according to a broader pattern (such as the way Germans stereotypically talked about sandwiches they offered slave workers in Nazi Germany). Students can learn that not all stories are true, but that their analysis reveals a truth about history as experience. The narrative structure of all historical writing seems to be inherent in the genre itself, including scholarly writing, as Hayden White has so convincingly

7 Asking about the “meanwhile” not only refers to the imagination of a broader community such as the nation state, as in Benedict Anderson: The Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York 1983; it can also mean, and does ever more often, the meanwhile of “other” peoples’ histories. 8 The term and concept was first introduced by Jean-FranÅois Lyotard: The Postmodern Condition: A Report on Knowledge. Manchester 1984. 9 But the centrality of the category of narrative see Dorothee Wierling: Memory and its Discontents. In: Roger Frie (ed.): History Flows Through Us. Germany, the Holocaust and the Importance of Empathy. New York 2017, pp. 31–45.

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shown.10 Telling a story, then, is nothing that distinguishes historians from their sources or from high school students. In creating their own narrative from diverse sources, as the latter do for the national history competition, they should be also encouraged to reflect on this process: the use they make of the sources, the story line they are following, the genre they are choosing, the claim to truth they find most legitimate or plausible. It is in the background of this experience that students are enabled to critically analyze other narratives – as provided by the family, the media, the internet. But skepticism and distance must be accompanied by the ability for empathy : the willingness to understand, recognize and acknowledge narratives that are not their own.11 The best and in a way saddest example is the textbook created by Israeli and Palestinian teachers about the region’s history. The textbook provides the Jewish-Israeli narrative about a crucial event on the right page: such as the foundation of the state of Israel, and the Palestinian version on the opposite page. Between them there is an empty space. It is not there to make students find the “correct” version, but to write down their thoughts. The most important goal, however, is reading the other’s version and acknowledging it, without necessarily accepting it. It is a wonderful project, which never made it into schools. Both the Israeli government and the Palestinian authorities refused to even consider it.12 The willingness and capability to recognize “the other” is the basic achievement we must and can expect from history education, wherever it takes place. “The past is a foreign country ; they do things differently there” – and the people living in the past are strangers to us.13 And that is how the “How”-question leads to the “Why”-question after all: history education is worth our time, effort and imagination, because to approach foreign times with an attitude of curiosity and respect, and to learn from these encounters in what way we are different and yet share humanity, makes history a learning reservoir not only for the past, but the present and future as well.

10 Hayden White: Metahistory : The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore 1973. 11 See Heinz Kohut: On Empathy. Reprinted in: International Journal of Psychoanalytic Self Psychology, 5 (2010) No. 2, pp. 122–131. 12 Sami Adwan et al: Side by Side: Parallel Histories in Israel-Palestine. New York, NY 2012. A German language version is available as PDF online under https://de.wikipedia.org/wiki/ Dan_Bar-On (accessed 5/27/2018). 13 The opening sentence of the novel: The Go-Between (1953) by the British novelist E. P. Hartley (1895–1972).

T. Mills Kelly

I think that I’ve been invited here today because I have a very simple-minded approach to a complicated problem. That problem is how we can best understand the many ways that digital technologies are changing how our students make sense of the past?1 My simple-minded approach for the past 20 years has been to tear off very small pieces of this problem, subject them to analysis, and then translate the results of my analysis into changes in my historical pedagogy. Over the years I have had some success with this method, and today I want to spend a few minutes talking about what I’ve learned and how that learning has changed the way that I teach. There exists an essential tension in history education today. For as long as historians have been thinking critically about historical pedagogy, and we have been thinking critically about that for more than a century, the essential tension we tend to talk about most often is between content knowledge and skills.2 Over all these years, historians (and in the United States, politicians) have debated endlessly the question of to what extent our pedagogies should emphasize the acquisition of content about the past (American politicians often argue that 100 percent of history teaching should be about fact-acquisition),3 and to what extent we should be teaching our students the methods of the professional historian so that they can make sense of the content they encounter. As important as this conversation is, I am interested in another essential tension in historical didactics: to what extent should we adhere closely to our professional standards when it comes to doing history (the close reading of sources, the careful analysis of texts, images, objects, etc., the ability to write clearly and analytically, and so 1 This keynote was orginally given under the title “Our Path Forward”. I removed it for editorial reasons of this book chapter. 2 See, for example, Paul Ward: Elements of Historical Thinking. Washington, D.C. 1971, pp. 4–5; Ste´phane Le´vesque: Thinking Historically : Educating Students for the Twenty-First Century. Toronto 2008, p. 6. 3 Mills Kelly : Welcome to Minsk, Florida! In: edwired.org (http://edwired.org/2006/09/06/wel come-to-minsk-florida/), accessed on 4/1/2018.

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Keynotes: Why History Education?

on), versus encouraging our students to be creative, even playful thinkers, as they learn about the past? To put it another way, how can we give them the freedom to make history on their own terms, without giving up on our standards as educators?4 We’ve been down this road before. Once upon a time, the universe of potential primary and secondary sources our students needed to master was very small. This universe mostly contained texts, whether primary or secondary, and a much smaller number of other sources, primarily maps, paintings, engravings, objects, and then in the late 19th century, photographic images. The appearance of film – first static, then moving – posed a substantial challenge to the way we taught our students about the past. Suddenly, we had documentary evidence in a visual form that we needed to teach our students to analyze. Fortunately for history teachers in those days, the skills needed to analyze images and film were not so far removed from the skills needed to analyze texts, and the cost of producing those images and films was so high that the numbers of such sources remained (relatively) small. Matters became a bit more difficult when voice and other sound recordings appeared in our archives, but again we were able to apply the methods of text analysis to these “new media” without too much difficulty.5 Even as the cost of producing these new forms of historical evidence began to drop, the availability of these sources was severely limited. If one of our students wanted to see a photographic collection held at an archive in Berlin, Paris, or Washington, D.C., he or she had to travel to that archive. As a practical matter, our students did not make those trips, because they were both cost and time prohibitive. Further, high school and undergraduate students were generally barred from the great libraries and archives. I am old enough to remember requiring a letter of introduction from my senior professor to visit our Library of Congress when I was in my final year of undergraduate studies. Today, this same institution all but begs university teachers to send their students to the Library in hopes of increasing visitor traffic and thus justifying their budgets. The result of all these factors is that until the advent of digital technologies, history teachers at all levels of the educational enterprise relied on a pedagogy of scarcity.6 Our students had to work with the sources that were availably locally, or that could be

4 id.: “But Mine’s Better”: Teaching History in a Remix Culture. In: The History Teacher 44/3 (2011): pp. 369–377. 5 See, for example, Peter Seixas: Confronting the Moral Frames of Popular Film: Young People Respond to Historical Revisionism. In: American Journal of Education, 102, no. 3 (May, 1994): pp. 261–285, and Natalie Davis, Slaves on Screen: Film and Historical Vision, Cambridge, Massachusetts 2000. 6 John McClymer : The AHA Guide to Teaching and Learning With New Media. Washington, D.C 2005, pp. 4–5.

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purchased in a printed collection, and thus our teaching revolved around what was possible in this small universe of sources. By contrast, our students today are making history in a world of unimagined abundance. There are perhaps 100 million historical primary sources online in formal archives and libraries. Informal archives such as Flickr.com, Ancestry.com, and other similarly massive databases of historical content contain billions of sources that our students might use for their research. Billions. Before the digital turn, it was possible to expect a historian to examine all, or at least most, of the original sources on his or her topic. Today such a notion is simply laughable in many areas of historical research. Instead of a trying to learn about the past in an environment of scarcity, our students are being overwhelmed by the amount of historical data available. This new age of abundance demands new analytical tools and, not surprisingly, these new tools can yield new results. To cite one example among many, the online database, The Proceedings of the Old Bailey, 1674–1913, contains scanned copies of the transcripts of 197,745 criminal trials held at London’s central criminal court. These transcripts contain approximately 127 million words.7 How can a student of history possibly make sense of so many sources? The answer to this question is that a student cannot if he or she has been taught only the conventional methods of the historian. Without an introduction to the fundamentals of information architecture, training in the use of text analysis software, and the methods used for analyzing data generated by such software, our students have no hope of taking full advantage of what a massive database of historical sources like the Old Bailey project might offer. Fortunately, there are a growing number of accessible resources for history teachers to help them learn how to teach these methodological techniques to their students.8 If we are going to be serious about teaching our students to use these tools and techniques, however, we have to start teaching them about such things in high school. If we wait until they arrive at the university, the learning curve may well be so steep that many, if not most of our students will simply default to what they already know – how to read a text or image, and how to write about it. I would like to suggest that at the high school level we need to be introducing history students to the fundamentals of the architecture of historical information (metadata standards, interoperability, etc.) and to the simplest 7 See, The Proceedings of the Old Bailey, https://www.oldbaileyonline.org/. For more on the methods used to mine this database, see Dan Cohen et al.: Data Mining with Criminal Intent. Final white paper, August 31, 2011. In: http://criminalintent.org/wp-content/uploads/2011/ 09/Data-Mining-with-Criminal-Intent-Final1.pdf (accessed on 4/1/2018). 8 See, for example, James Baker : On metadata and cartoons. British Library, Digital Scholarship Blog, May 16, 2013. In: http://britishlibrary.typepad.co.uk/digital-scholarship/2013/05/onmetadata-and-cartoons.html (accessed on 4/1/2018).

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Keynotes: Why History Education?

forms of text analysis using basic platforms like Voyant.9 Then at the undergraduate level, we can ask them to begin working with large corpora of texts rather than individual or small groups of texts. Graduate students can then begin to do sophisticated work with these corpora using ever more sophisticated analysis software.10 The same advice holds for emerging image analysis tools.11 Only when our students understand the structures of digital information and how we, and they, might work within these structures, can they come to grips with more complex problems such as how metadata becomes a form of information hegemony. The previous example is offered as just one of many ways that the digital turn in historical scholarship and teaching complicates matters for the teaching historian. Just as important, however, is what the wide variety of digital tools, sources, and methods means for us as we decide how much latitude we will give our students to be creative – to make history on their own? I argue that if we really want our students to unleash their creativity, to use their minds to do new and interesting things with the raw material of the past in ways that might surprise (and sometimes frustrate) us, we must give them permission to do just that.12 Those of us of a certain age, i. e., over 25, know that our students are using technology very differently from how we use it. They think of email as a way to communicate with old people. They send text messages on their phones only if they have to, preferring Snapchat, WhatsApp, and other messaging platforms. And they are deploying information technologies in new and interesting ways when they study the past. During yesterday’s session of this conference we saw an example of students who had created a new historical app for smartphones. Students of mine have used GIS software to map cases of tuberculosis among the rural poor of Virginia, have worked with forensic anthropological studies using ground penetrating radar to analyze the burial practices of slave families at a local plantation, and have created video mashups of historical content to produce sophisticated and challenging digital stories. But – and this is the most difficult part for teaching historians – we must hold them to our standards even as we turn them loose to make history on their own in their own ways. So, for instance, when one of my students shows me something he or she has created in digital form, my first question is almost always, “What is 9 https://voyant-tools.org/docs/#!/guide/about (accessed on 4/1/2018). 10 Shawn Graham/Scott Weingart/Ian Milligan: Getting Started with Topic Modeling and MALLET. In: The Programming Historian 1 (2012), https://programminghistorian.org/les sons/topic-modeling-and-mallet (accessed on 4/1/2018). 11 See, for example, Kate Bagnall/Tim Sherratt: Invisible Australians (http://invisibleaustra lians.org/) and especially the real face of white Australia (http://invisibleaustralians.org/ faces/) (both accessed on 4/1/2018). 12 T. Mills Kelly : Teaching History in the Digital Age. Ann Arbor 2013, pp. 1–13.

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your evidence?” I insist that they demonstrate the same care with historical sources and attribution that I would expect from a well-crafted essay. I want them to show me, in some form, how they analyzed that evidence and which conclusions they reached and which they rejected and why. I expect proof that their conclusions or results are sustained by that evidence in the same ways I would expect in an essay. Sometimes my pedantry about evidence frustrates them, because they have become enamored by the design, the style, and the user experience they have created. Design, style, and an elegant user experience are all well and good, and really should be a requirement, but I tell them over and over, style is not a substitute for substance. Analysis without evidence is not history. And so we negotiate, my students and I, between their increasingly playful approaches to the past, their increasingly entrepreneurial uses of evidence, their unexpected ways of presenting evidence and conclusions drawn from that evidence, and my insistence that for their work to be history it must also demonstrate a command of the values of the professional historian. I no longer care if they write an essay in my courses, in part because they write such essays in other courses and so still develop as writers in that medium. What I want is evidence that they did some kind of careful research, that they assessed their sources carefully, that they considered multiple perspectives as they completed their analysis, and that their analysis is sustained by the evidence they worked with. But I also care that they understand the implications of the databases they are working with, that they realize that metadata has meaning, and that they have presented their work in ways that advance our understanding of the past. If we are willing to take some risks, to allow our students to be creative, some of them will inspire us with their work, some will challenge us to think differently about the past we thought we knew, some will frustrate us, and some will do work that we judge to be merely competent. But all of them will know that they can make history.

Sektion 1: Was? Historisches Lernen in der Schule – Theorien und Themen

Markus Bernhardt

Was? Historisches Lernen in der Schule – Theorien und Themen. Einführung in die Sektion

Wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, wird die Frage danach, was Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht eigentlich lernen sollen, häufig auf einem erschreckend trivialen Niveau geführt. Ausgangspunkt sind zumeist die Defizite, die beim historischen Wissen von Schülerinnen und Schülern festgestellt werden. Die nachfolgenden Analysen bedienen sich dann in der Regel der gleichen Topoi: Erstens: Die Menschen der Gegenwart wissen im Gegensatz zu früher im Grunde nichts über Geschichte. Zweitens: Solches Wissen sei aber zum Verständnis der Gegenwart unbedingt notwendig. Drittens: Der Geschichtsunterricht hat bei der Vermittlung dieses Wissens versagt.1 Dazu ist folgendes zu sagen: Zum einen wird – vor allem im öffentlichen Kontext – kaum je reflektiert, was mit historischem Wissen genau gemeint ist, also was ausdrücklich zum Verstehen der Gegenwart eigentlich gewusst werden soll. In der öffentlichen Diskussion zeigt sich in dieser Hinsicht regelmäßig ein äußerst schlichtes Verständnis von Wissen als (Fakten-)Kenntnis: Über historisches Wissen verfügt demnach, wer Bismarck als Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs identifizieren kann, als historischer Banause gilt, wer Walter Ulbricht nicht kennt – ganz gleich wie diese punktuellen Kenntnisse kontextualisiert sind.2 Zum anderen wird gar nicht realisiert, auf welchen Voraussetzungen das Schulfach Geschichte beruht, um den Erwerb dieses im seinem Umfang 1 Ein Beispiel dafür sind die Studien des Berliner Politologen Klaus Schroeder u. a.: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen. Frankfurt/M. u. a. 2012; Monika Deutz-Schroeder/Klaus Schroeder : Oh, wie schön ist die DDR. Kommentare und Materialien zu den Ergebnissen einer Studie. Schwalbach/Ts. 2009. Die theoretischen und methodischen Unzulänglichkeiten derartiger Studien sind oft dargelegt und kritisiert worden: z. B. Markus Bernhardt: Der „Späte Sieg der Diktaturen“ – Resultat ergebnisoffenen Unterrichts? In: Public History Weekly 2 (2014) 9, DOI: dx.doi.org/10.1515/ phw-2014-1578. 2 Bodo v. Borries: Fallstricke interkulturellen Geschichtslernens: Opas Schulbuchunterricht ist tot. In: Viola B. Georgi/Rainer Ohliger (Hrsg.): Crossover. Bonn 2009, S. 25–45, kritisiert dieses aus der bürgerlichen Tradition der Allgemeinbildung stammende Konzept als „theoretischen Unsinn“.

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wenig definierten Wissens zu gewährleisten. Zum Beispiel stehen für das Fach Geschichte an nordrhein-westfälischen Gymnasien in den Klassen 5 bis 9 maximal sechs Stunden zur Verfügung – von der Vor- und Frühgeschichte bis zur deutschen Wiedervereinigung und darüber hinaus.3 Hier müssten Lehrerverbände und unser Verband die Politik dringend zu einem Umdenken bewegen.4 Demgegenüber bestehen beträchtliche Erwartungen an den Geschichtsunterricht. Seit den 1960er Jahren haben sich die Lerninhalte gewaltig ausgeweitet.5 Galt es früher, die Nationalgeschichte im europäischen Kleid in zumeist politikgeschichtlicher Perspektive zu vermitteln – auch hier wurde im Übrigen schon über Zeitmangel geklagt, ist es seitdem zu einer starken Ausweitung der möglichen Inhalte gekommen, beginnend mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte über die Geschlechter- und Umweltgeschichte bis zur Globalgeschichte oder zur postkolonialen Geschichte. Angesichts einer Gegenwart, die durch Globalisierung, Digitalisierung, Migration, Terrorismus, Umweltprobleme, durch den ungeregelten Kapitalismus, die Delegitimierung Europas, den Aufstieg von Nationalismus sowie von rechten und autokratischen Ideologien gekennzeichnet ist, stellt sich die Frage, wie die „Lernstruktur des Faches Geschichte“ beschaffen sein muss.6 Soll der Geschichtsunterricht bei Antworten auf die gegenwärtigen Herausforderungen eine wichtige Rolle spielen, müsste er zumindest die Zeit dafür erhalten. Wie auch immer : im Geschichtsunterricht kann nicht das Ganze der Geschichte unterrichtet werden. Das damit verbunden Problem der Stoffauswahl oder -reduktion führte in den Jahrzehnten nach 1945 zu verschiedenen, meist aus der Pädagogik stammenden „Zauberformeln“, die Linderung versprachen, 3 In den anderen Schulformen bietet die Stundentafel dem Fach Geschichte noch weniger Raum. In Realschulen teilen sich die drei Fächer Erdkunde, Geschichte und Politik in den sechs Schuljahren der Sekundarstufe I 21 Stunden, das sind sieben pro Fach, also etwas mehr als eine Schulstunde je Jahr und Fach. An Gesamtschulen und Hauptschulen sind es 18 Stunden, mithin eine Stunde pro Jahr und Fach. Gesetz- und Verordnungsblatt (GV. NRW.) Ausgabe 2005 Nr. 24 vom 27. 5. 2005, Anlage 1–6. Online im Internet: URL: https://recht.nrw.de/lmi/ owa/br_vbl_detail_text?anw_nr=6& vd_id=3779& ver=8& val=3779& sg=& menu=0& vd_ back=N (aufgerufen am 10. 5. 2018). 4 In einem „Positionspapier 2017“ des Geschichtslehrerverbands Nordrhein-Westfalen werden die Probleme benannt und entsprechende Forderungen erhoben. Online im Internet: URL: https://www.geschichtslehrerverband-nrw.de/app/download/9032273384/VGD+NRW+Pa per+2017–1.pdf ?t=1523006901 (aufgerufen am 10. 5. 2018). 5 Peter Gautschi: Geschichtsunterricht erforschen – eine aktuelle Notwendigkeit. In: Markus Bernhardt u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 21–59, hier S. 21f., hat diese teilweise widersprüchlichen Erwartungen benannt und erläutert. 6 Diese Frage formulierte Bodo von Borries: Das Fach Geschichte im Spannungsfeld von Stoffkanon und Kompetenzentwicklung. In: Ders.: Lebendiges Geschichtslernen. Bausteine zu Theorie und Pragmatik, Empirie und Normfrage. Schwalbach/Ts. 2004, S. 138–168, hier S. 138.

Was? Historisches Lernen in der Schule

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aber zu keinen dauerhaften Lösungen führten. Zu nennen sind das „exemplarische Prinzip“, auf das man in den 50er Jahren große Hoffnungen setzte.7 Oder die Curriculumdiskussion um 1970, die den Schulstoff unter dem Blickwinkel künftiger Qualifikationen sortieren wollte.8 Ebenfalls in den 1970er Jahren bemühten sich mehrere Kommissionen von Expertinnen und Experten aus Geschichtswissenschaft, Geschichtsdidaktik und Schulpraxis um eine „kategoriale Strukturierung“ des historischen Stoffes, um zu relevanten Inhalten zu gelangen.9 Die Methodendiskussion in den 90er Jahren sowie zuletzt die Kompetenzorientierung versprachen, Strategien und Einsichten im Umgang mit Geschichte zu vermitteln, die den Schülerinnen und Schülern auch nach dem Ende ihrer Schulzeit dauerhaft zur Verfügung stehen sollten.10 Besonders das Auswahlprinzip der Kompetenzen bezieht sich auf Konzepte und Kategorien einer zweiten Ebene von Geschichte, die im anglo-amerikanischen Raum „second order concepts“ genannt werden.11 Lerninhalt ist hier die „Grammatik des Fachs“ und weniger seine Lexik.12 All diese Konzepte waren und sind mit der Hoffnung verknüpft, gewissermaßen übergeordnete Gesichtspunkte als Lernziele zu identifizieren, die eine Art strukturelles Grundgerüst der Geschichte bilden sollten. Der Geschichtsunterricht zeigte sich diesen Zauberformeln gegenüber aber immun, weil sich immer wieder herausstellte, dass der eine oder andere Aspekt davon der inneren Logik des Faches widersprach. Das „exemplarische Prinzip“ stieß zum Beispiel an seine Grenzen, als die Frage aufkam, ob eine Einzelfall-Wissenschaft wie die Geschichte überhaupt solche exemplarischen Elemente benennen könne, die stellvertretend auf die Mehrzahl der historischen Phänomene anwendbar sind. Ähnliches ließe sich über die anderen Zauberformeln sagen. Vielleicht liegt das daran, dass der Geschichtsunterricht und seine Didaktik keine Unterabteilung der Allgemeinen Didaktik sind, sondern ihre Konzepte aus der Erkenntnislogik

7 Joachim Rohlfes: Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik 1953 bis 1969. In: Klaus Bergmann/Gerhard Schneider (Hrsg.): Gesellschaft, Staat, Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500–1980. Düsseldorf 1982, S. 381–414, hier S. 408–410. 8 Horst Kuss: Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht in der alten Bundesrepublik. Zur Entstehung der neuen Geschichtsdidaktik und zur Reform des Geschichtsunterrichts seit 1970. In: Uwe Uffelmann (Hrsg.): Historisches Lernen im vereinten Deutschland. Nation – Europa – Welt. Weinheim 1994, S. 61–88. 9 Joachim Rohlfes/Karl Ernst Jeismann (Hrsg.): Geschichtsunterricht. Inhalte und Ziele. Arbeitsergebnisse zweier Kommissionen. Stuttgart 1974. 10 Gewohnt polemisch, aber kenntnisreich zieht Bilanz: Hans-Jürgen Pandel: Kompetenzen – Ein Rückblick nach zwölf Jahren. In: Geschichte für heute 9 (2016) H. 3, S. 20–34. 11 Peter Seixas/Tom Morton: The Big Six. Historical Thinking Concepts. Toronto 2013. 12 Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel; Kategorien der Geschichtsdidaktik und Praxis der Unterrichtsanalyse. Stuttgart 1976.

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der Geschichtswissenschaft entwickeln müssen. Ein Teil der Vorträge dieser Sektion ist diesem Zusammenhang gewidmet. Ein zweiter Punkt, der den Geschichtsunterricht zu einem schulischen Sonderfall macht, ist seine Überfrachtung mit von außen kommenden Aufgaben. Da er eine staatliche Bildungsveranstaltung ist, bestimmen die Regierungen auch immer Ziele, die dem historischen Lernen heteronom gesetzt werden, wie Friedrich J. Lucas diesen Vorgang in dem 60er Jahren bezeichnete.13 Wenn etwa die Rede von „Demokratiefähigkeit“ und einer Erziehung zum „mündigen Staatsbürger“ ist, sind das sicher Ziele, die wir alle teilen. Man darf aber nicht vergessen, dass erstens diese Ziele aus dem Fach selbst nicht hervorgehen und zweitens, dass im Subtext solcher Forderungen immer auch kulturelle Überzeugungen mitspielen, welche Rolle die Geschichte bei der Formatierung von kollektiven Identitäten spielt oder spielen sollte. Darüber, was unter Identität zu verstehen ist, gibt es allerdings vielerlei unterschiedliche Ansichten.14 Und diese Ansichten werden in der politischen Arena mit Verve ins Feld geführt. Ohne das zu vertiefen, kann man sagen, dass es beim historischen Lernen in der Schule immer auch um Gesinnungsbildung geht. Wie solche Identitätsfragen in einer Einwanderungsgesellschaft sinnvoll gestellt und beantwortet werden, wird in der Geschichtsdidaktik seit etlichen Jahren diskutiert.15 Für den konkreten Geschichtsunterricht hat das, soweit ich sehe, bislang kaum Folgen gehabt. Historisches Lernen bewegt sich also schon auf der Seite des Gegenstandes immer zwischen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen (Dimensionen), pädagogischen Schlüsselproblemen und gesellschaftlichen Erwartungen, die Peter Gautschi, Ulrich Mayer und ich „Basisnarrative“ genannt haben. Wir haben diese Elemente in einer Grafik „Zur Logik der Themenbestimmung für historische Bildung“ auf der linken Seite verortet (Abb. 1).16 Das bringt mich zu einem weiteren Punkt dieser Einführung. Die Wahl der Themen hängt ja nicht im luftleeren Raum, sondern auch immer von den Voraussetzungen der Schülerinnen und Schülern ab, die sich damit auseinander13 Friedrich J. Lucas: Grundriß der Geschichtsdidaktik (1967), in: Ursula Becher u. a. (Hrsg.): Geschichte als engagierte Wissenschaft. Zur Theorie einer Geschichtsdidaktik. Stuttgart 1985, S. 150–181, hier S. 152. 14 Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktische Dimensionen der Identität. Bedingungs- und Entscheidungsfelder historischen Lernens in der Schule. In: Herbert Raisch/Armin Reese (Hrsg.): Historia Didactica. Geschichtsdidaktik heute. Idstein 1997, S. 221–231. 15 Bodo von Borries: Nachdenken über „Historische Identität angesichts von EU, Migration und Globalisierung?“ In: Ders: Historisch Denken Lernen – Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe. Opladen/Farmington Hills 2008, S. 119–154. 16 Ulrich Mayer/Peter Gautschi/Markus Bernhardt: Themenbestimmung im Geschichtsunterricht der Sekundarstufen. In: Michel Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 378–404, hier S. 382.

Abbildung 1: Zur Logik der Themenbestimmung für historische Bildung

GESCHICHTSKULT UR

PERSPEKTIVEN DES ANGEBOTS

Zur Logik der Themenbestimmung für historische Bildung : Ein Passungsprozess zwischen kulturellen und individuellen Ansprüchen (M. Bernhardt, P. Gautschi, U. M ayer . August 2010)

Basisnarrative (K ollektives Gedächtnis)

Schlüsselprobleme («grosse» Fragen der Gegenwart)

Geschichtswissenschaftliche Dimensionen (Sinnbildungsbereiche)

UNIVERSUM DES HISTORISCHEN

THEMA

ermöglicht

ORIGINALE BEGEGNUNG

ASPEKTE DER NUTZUNG

Überzeugungen (Einstellungen und Haltungen)

K ompetenzen (Fähigkeiten und Fertigkeiten)

Wissen (Begriffe und Konzepte)

LERNENDES INDIVIDUUM

Was? Historisches Lernen in der Schule

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GESCHICHTSBEWUSSS TSEI N

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Markus Bernhardt

setzen sollen. Insofern sind auch das Wissen, die Kompetenzen und die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler bei der Themenbestimmung zu berücksichtigen. Lehrerinnen und Lehrer sind es schließlich, welche die beiden Seiten im Geschichtsunterricht aufeinander beziehen müssen. Wir stehen also bei der Frage nach den Theorien und Themen des historischen Lernens in der Schule vor einem komplexen Feld. Die folgenden Beiträge widmen sich unterschiedlichen Aspekten dieses Feldes. Johannes Meyer-Hamme stellt unter der Frage Was heißt historisches Lernen? Überlegungen darüber an, wie ein fachspezifischer Lernbegriff des Historischen konzipiert beziehungsweise weiterentwickelt werden könnte. Im Anschluss an die Konzepte von Jörn Rüsen, Bodo v. Borries, Hilke Günther-Arndt und Sam Wineburg sieht er historisches Lernen durch drei „Dimensionen“ bestimmt: durch den Aufbau und die Entwicklung von Kompetenzen des historischen Denkens, durch die Kenntnis und Reflexion der Geschichts- und Erinnerungskultur sowie durch die Erweiterung und den Umbau von subjektiven historischen Sinnbildungen. Er verortet das historische Lernen gewissermaßen als einen dynamischen Prozess zwischen Kenntnissen, Kompetenzen und Identitätsbildung auf dem Feld der Geschichtskultur. Meik Zülsdorf-Kersting stellt eine Theorie des Geschichtsunterrichts vor, welche die Begegnung von Individuen und Geschichte im Unterricht systemtheoretisch konzipieren will. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass das individuelle historische Denken und der institutionalisierte Geschichtsunterricht theoretisch auf zwei unterschiedlichen Ebenen, in zwei unterschiedlichen Systemen gefasst werden müssen. Geschichtsunterricht wird als soziales System verstanden, das sich in Kommunikation realisiert und mit dem Geschichtsbewusstsein der Akteure strukturell gekoppelt ist und kognitiv-emotionale Effekte auslöst. Steuerungsmöglichkeiten des Unterrichts erscheinen jedoch beschränkt. Der Kerngedanke besteht darin, dass das soziale System Unterricht und das individuelle System Geschichtsbewusstsein nach jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten arbeiten und die gegenseitige Beeinflussung problematisch sei. Verschiedene Befunde der empirischen Unterrichtsforschung könnten so besser erklärt werden. Im Beitrag von Ulrich Baumgärtner wird die fundamentale Frage gestellt: Was sollen SchülerInnen wissen? Im Zuge der Kompetenzorientierung, so die Hauptthese des Autors, seien die Fachlichkeit von Geschichte und die damit verbundene Frage nach den Inhalten des Geschichtsunterrichts in den Hintergrund getreten. Ausgehend von dieser Feststellung wird erörtert, was unter historischen Wissen zu verstehen sei und welche Auswahl- und Strukturierungskriterien zur Geltung gebracht werden könnten, um zu einer inhaltlichen Ausgestaltung des historischen Lernens zu gelangen. Der Autor legt einen konkreten Auswahlvorschlag vor und diskutiert ihn. Dieser soll allerdings kein

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idealtypischer Lehrplan sein, sondern als Beispiel dienen, um zu erläutern, was Schülerinnen und Schüler tatsächlich wissen sollen. Markus Bernhardt geht von der Beobachtung aus, dass der Sinn von Geschichtsunterricht aktuell in Zweifel gezogen wird, weil gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen nicht mehr mit vergangenen Erfahrungen bewältigt werden könnten. Der Autor will demgegenüber nachweisen, dass auch in einer zukunftsoffenen Gesellschaft Historisches Lernen nicht nur möglich, sondern sogar geboten ist. Das setze allerdings voraus, Geschichte weniger unter der Perspektive des Gewordenseins zu konzipieren. Denn eine solche Perspektive betone kausal-genetische Notwendigkeit und vertreibe die Kontingenz aus der Geschichte. Stattdessen solle historischen Ereignissen ihre damalige Offenheit, ihre Kontingenz wiedergegeben werden, um zu zeigen, dass es keinen Fahrplan der Geschichte gebe, sondern dass es auch von unseren Handlungen abhängt, wohin die Reise geht. Jutta Mägdefrau und Andreas Michler berichten aus ihrem Forschungsprojekt ALGe (Adaptive Lernaufgaben in Geschichte), in dem geschichtsdidaktische mit pädagogischen und psychologischen Forschungsfragen verknüpft werden. Es geht um die Wahrnehmung von Aufgaben im Geschichtsunterricht durch Schülerinnen und Schüler und um die Frage, welche Faktoren dazu beitragen, die Lernenden zur vermehrten Anwendung von tiefenorientierten Lernstrategien zu bringen. Die Autorin und der Autor plädieren für eine enge Forschungszusammenarbeit von Erziehungswissenschaften und Geschichtsdidaktik, weil sich durch die unterschiedliche Perspektivierung „Sache“ und „lernendes Individuum“ in der Forschungspraxis besser verbinden ließen. Es hat sich beispielsweise gezeigt, dass das Fachinteresse ein zentraler Faktor dafür ist, für wie interessant Aufgaben gehalten werden – unabhängig davon, wie strukturiert sie gestellt worden sind.

Johannes Meyer-Hamme

Was heißt „historisches Lernen“? Eine Begriffsbestimmung im Spannungsfeld gesellschaftlicher Anforderungen, subjektiver Bedeutungszuschreibungen und Kompetenzen historischen Denkens1

Über Geschichtsunterricht wird wieder einmal diskutiert. In den Medien wie DER SPIEGEL, DIE ZEIToder FAZ wurden jüngst Artikel über die Notwendigkeit und die Relevanz aber auch über Probleme und Kontroversen von Geschichtsunterricht publiziert. So forderte der Lehrer Arne Ulbricht bei SPIEGEL ONLINE, dass Geschichte ein Hauptfach werden solle,2 der SWR produzierte eine Sendung unter dem Titel: „Geschichtsunterricht in der Krise“, stellte darin unterschiedliche Standpunkte vor und gab schließlich die Antwort, dass Geschichtsunterricht am besten funktioniere, wenn „die Schüler in chronologischer Reihenfolge die Epochen kennenlernen und sich dann mit einer Fragestellung aus der Gegenwart bestimmten Aspekten nähern“, ohne die empirischen Ergebnisse und didaktischen Debatten, die gegen diese These stehen, hinreichend zu berücksichtigen.3 Diese Liste ließe sich leicht fortsetzen, sie wurde nicht zuletzt in der Diskussion um den Berliner Rahmenplan 2015 auf Public History Weekly geführt.4 Ein Merkmal dieser Debatte ist, dass ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was das spezifisch Historische des historischen Lernens sein soll, formuliert werden. Ich habe den Eindruck, dass es hier Klärungsbedarf gibt, auch weil es geschichtsdidaktische Handbücher und Einführungen gibt, die teils ganz 1 Die hier vorgestellten Überlegungen sind vielfach diskutiert worden. Ausdrücklich bedanke ich mich bei den Studierenden der Universität Paderborn und Andreas Körber, der 2016 seine bisher unpublizierten Überlegungen zum Lernbegriff in Paderborn vorgestellt hat. 2 Arne Ulbricht: Darum sollte Geschichte Hauptfach werden. Geschichte ist langweilig? Von wegen. Deutschlands Schüler sollten in dem Fach mehr Unterrichtsstunden bekommen. Gerade in diesen Zeiten. SPIEGEL Online 22. 9. 2016 (http://www.spiegel.de/lebenundlernen/ schule/geschichte-sollte-in-der-schule-hauptfach-werden-a-1113218.html, aufgerufen am 26. 10. 2017). 3 Gabi Schlag/Benno Wenz: SWR2 Wissen Geschichtsunterricht in der Krise (Manuskript zur Sendung am 1. 04. 2017, 8.30 Uhr, https://www.swr.de/-/id=19306970/property=download/ nid=660374/17b4f2o/swr2-wissen-20170401_neu.pdf, aufgerufen am 26. 10. 2017). 4 Mehrere Artikel Public History Weekly (https://public-history-weekly.degruyter.com/32015-8/alle-jahre-wieder-lehrplanrevision-in-berlin-und-brandenburg/, aufgerufen am 25. 10. 2017).

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ohne eigene Kapitel zu einem fachspezifischen Lernbegriff auskommen,5 teils unter der Überschrift: „Historisches Lernen“ weitgehend fachunspezifische Lernbegriffe anführen.6 Obwohl GeschichtslehrerInnen und – noch deutlicher – ReferendarInnen jeden Tag gefordert sind zu benennen, was ihre SchülerInnen historisch lernen sollen, ist das Fehlen solcher Beiträge auch für die Rezensenten der Handbücher oftmals keine Erwähnung wert.7 Ein Blick auf Unterrichtsentwürfe, die in einschlägigen Onlineforen publiziert werden, trifft nicht selten auf wenig überzeugende Lernziele, ein Umstand, der wohl auch mit den entsprechenden Leerstellen in den Handbüchern und Einführungen zu tun haben dürfte. Auf merkwürdige Weise ist einer der wichtigsten Begriffe der Geschichtsdidaktik unterreflektiert. An zwei Beispielen möchte ich verschiedene Positionen kennzeichnen, die den Begriff historisches Lernen ganz unterschiedlich verwenden. 2016 hat der ehemalige Vorsitzende des Historikerverbandes Martin Schulze Wessel in der FAZ eine harsche Kritik an der Kompetenzorientierung publiziert8 und unter der Überschrift „Geschichte als Demokratieschule“ folgende These vertreten: „Wie kein anderes Fach hat Geschichte vielfältige Orientierungsfunktionen: Es lehrt Skepsis gegenüber den verlockend einfachen Totalentwürfen für die Gesellschaft, und es vermittelt Einsicht in die Ambivalenzen politischer Entscheidungen, deren lang-

5 So etwa: Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. Seelze 2008; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013; Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts 2012. Siehe dazu im Vergleich: Jörn Rüsen: Historisches Lernen. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber 1985, S. 224–229. 6 Siehe etwa: Ulrich Baumgärtner : Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule. Paderborn 2015, S. 47–55. 7 So etwa Manfred Seidenfuß in seiner Sammelrezension zu neueren Einführungen (Manfred Seidenfuß: Rezension v. „Ulrich Baumgärtner : Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule. Paderborn 2015; Nicola Brauch: Geschichtsdidaktik. Berlin 2015“. In: Sehepunkte 16 (2016), Nr. 11); Christian Kuchler in seiner Rezension zum Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts (Christian Kuchler : Rezension v. „Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2012“. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 198–200); oder Joachim Rohlfes‘ Rezension zu Hans-Jürgen Pandels Geschichtsdidaktik (Joachim Rohlfes: Rezension v. „Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013“. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 234–237). 8 Siehe auch die Antwort von Thomas Sandkühler : „Die komplexe Frage nach dem Verhältnis zwischen Inhalten und Kompetenzen des Geschichtsunterrichts kann man nicht dadurch beantworten, dass man auf Inhalte anstelle von Kompetenzen setzt. Wer sich für den Fortbestand des Geschichtsunterrichts einsetzt, muss die Frage beantworten, welche Orientierungsleistung er für Schülerinnen und Schüler erbringen soll – umso mehr in politisch unruhigen Zeiten.“ (https://archivalia.hypotheses.org/59201, aufgerufen am 10. 1. 2018).

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fristige Wirkung in der Gegenwart nicht abzusehen ist. […] Für die Demokratie ist es der beste Schutz gegen radikale Vereinfachungen des neuen Populismus.“9

Unumstritten sind solche Vorstellungen, dass Geschichtsunterricht prinzipiell demokratieförderlich ist, nicht. Dabei ist es gar nicht nötig, zu zeigen, wie positiv Adolf Hitler in „Mein Kampf“ sich zum Geschichtsunterricht äußert.10 Es genügt festzuhalten, dass historische Orientierungen normativ offen sind und sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden können. Vielmehr liegt den zitierten Ausführungen eine Vorstellung historischen Lernens zu Grunde, wonach genau die genannten Einsichten politischer Geschichte im Unterricht deutlich zu machen und von den Lernenden zu übernehmen seien. Historisches Lernen heißt in dieser Perspektive „telling the best story“.11 Wobei anzumerken ist, dass sich die historischen Orientierungsbedürfnisse schnell wandeln und die Lernenden in ihrer Lebenszeit mit ganz unterschiedlichen Orientierungsangeboten konfrontiert werden, zu denen sie sich verhalten müssen. Zudem unterläuft dieses Konzept das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsens, nach dem alles, was in der Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird, auch als Kontroverse zu unterrichten ist.12 Deshalb stehen in vielen geschichtsdidaktischen Modellen die Fähigkeiten historischen Denkens im Fokus. Dazu gehört auch das Modell von Sam Wineburg (USA). In seinem instruktiven Artikel „Why historical thinking is not about history“ nimmt er Bezug auf sein Curriculum „Reading like a Historian“ und schreibt: „We teach students how to evaluate sources by asking questions about the author and the context, and by raising questions about other supporting evidence.

9 Martin Schulze Wessel: Wie die Zeit aus der Geschichte verschwindet. In: FAZ v. 25. 09. 2016 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/geschichtsunterricht-wie-diezeit-aus-der-geschichte-verschwindet-14432809.html?printPagedArticle=true#pageIndex_ 2, aufgerufen am 28. 3. 2018). 10 Hitler hat dem Geschichtsunterricht eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Entwicklung seiner rassistischen Ideologie gegeben: „Wenige Lehrer begreifen, daß das Ziel gerade des geschichtlichen Unterrichtes nie und nimmer im Auswendiglernen und Herunterhaspeln geschichtlicher Daten und Ereignisse liegen kann; […]. Geschichte ,lernen‘ heißt die Kräfte suchen und finden, die als Ursache zu jenen Wirkungen führen, die wir dann als geschichtliche Ereignisse vor unseren Augen sehen.“ Sowie später : „Die Art des geschichtlichen Denkens, die mir so in der Schule beigebracht wurde, hat mich auch in der Folgezeit nicht mehr verlassen.“ Christian Hartmann u. a. (Hrsg.): Hitler : Mein Kampf. Eine kritische Edition, Bd. 1. München/Berlin 2016, S. 115 und S. 121. 11 Peter Seixas: Schweigen! Die Kinder! or Does Postmodern History Have a Place in the Schools? In: Peter Seixas u. a. (Hrsg.): Knowing, Teaching and Learning History. National and International Perspectives. New York 2000, S. 19–37. 12 Hans-Georg Wehling: Beutelsbacher Konsens. In: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977, S. 179f.

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But it’s time for me to come clean about the real intention of the Reading Like a Historian curriculum. Our materials have nothing to do with preparing students to be historians.“13

Etwas überspitzt könnte mal also sagen: Im Kern geht es darum, dass die Schüler*innen lernen, sich kritisch mit Materialien und Informationen auseinanderzusetzen. Im Zeitalter des Internet, insbesondere der Social Media sei dies eines der wichtigsten schulischen Lernziele überhaupt. Zu bedenken ist aber, dass Geschichte dann nur noch das Substrat ist, an dem dieses kritische Denken gelernt werden soll, und damit die Orientierungsfunktion historischen Denkens ausgeklammert wird. Das ist ein völlig anderes Konzept historischen Lernens als das von Schulze Wessel. Zunächst einmal ist also festzuhalten, dass es Unklarheit darüber zu geben scheint, was historisches Lernen sein soll. Deshalb werden im Folgenden bisherige Theorieansätze (Rüsen, Borries, Günther-Arndt) diskutiert und in einem zweiten Schritt ausgewählte Unterrichtskonzepte herangezogen, so dass unterschiedliche Dimensionen historischen Lernens deutlich werden. Schließlich ist sowohl auf das Problem der Lernprogression als auch auf weitere Fragen hinzuweisen.

1.

Was heißt historisches Lernen? Konzepte im Vergleich

Bemerkenswerterweise gibt es nur wenige Publikationen, die sich explizit mit einem fachspezifischen Lernbegriff auseinandersetzen. Zu den einflussreichsten gehört wohl die von Jörn Rüsen. In diesem Zusammenhang schreibt er : „Die oberste Qualifikation, die durch historisches Lernen erreicht werden soll, ist eben die Fähigkeit des Geschichtsbewusstseins, Sinn über Zeiterfahrung bilden zu können, um sich erfahrungsgestützt im Zeitverlauf der eigenen Lebenspraxis absichtsvoll orientieren zu können. Um eben dieser Fähigkeit willen, wird das Geschichtsbewußtsein in den mühsamen Prozessen menschlicher Individuierung und Sozialisation ausgebildet. Dieses oberste Lernziel, diese fundamentale Qualifikation, läßt sich in präziser Zuspitzung auf das, was es grundsätzlich heißt, historisch zu lernen, als ,narrative Kompetenz‘ bezeichnen.“14

Historisches Lernen heißt also historisch Erzählen lernen. Festzuhalten ist zunächst, dass die Idee zunehmend selbstständig und zunehmend reflektiert historisch erzählen (Re-Konstruktion) und mit historischen Erzählungen anderer 13 Sam Wineburg: Why Historical Thinking is Not about History. o. O. 2015, S. 16. (https:// stacks.stanford.edu/file/druid:yy383km0067/Wineburg%20Hist.%20Thinking%20is%20not %20about%20history.pdf, aufgerufen am 28. 3. 2018). 14 Jörn Rüsen (Hrsg.): Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. Köln 1994, S. 111.

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umgehen zu können (De-Konstruktion) eine sinnvolle und zustimmungsfähige Position ist, die in Kompetenzmodellen weiter operationalisiert wird. Aus den oben genannten Gründen ist eine solche Zielsetzung nicht aufzugeben. Dieses Konzept historischen Lernens leitet Rüsen aus seiner Theorie historischen Denkens ab und unterscheidet im Weiteren mit dem traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen historischen Lernen vier Lernformen, die wir zugleich als Sinnbildungsmuster kennen und die an anderer Stelle auch als Kompetenzniveaus definiert werden.15 Dieses vielfach positiv rezipierte Konzept16 historischen Lernens ist in seiner Grundstruktur schon im Handbuch der Geschichtsdidaktik von 1985 zu finden,17 und doch mag es mich nicht vollständig überzeugen. So überzeugend die Unterscheidung der vier Sinnbildungsmuster als Typologie historischer Orientierungen ist, so problematisch ist die Gleichsetzung mit den Lernarten, bei denen ein Sinnbildungsmuster von den Lehrenden als Lernziel festgelegt wird. Zu fragen ist, ob es nicht in einer pluralen Gesellschaft notwendig ist, verschiedene Sinnbildungen zu einer historischen Frage, die in der Gesellschaft diskutiert werden, zu vergleichen. Ist es nicht überzeugender, aus einer Metaperspektive diese unterschiedlichen Sinnbildungen zu erörtern? Denn wenn nur ein Sinnbildungsmuster im Unterricht thematisiert wird, dann wird die Reflexion über die Frage verhindert, welche Sinnbildung aus einem historischen Zusammenhang orientierungsleitend für Gegenwart ist. Zu bedenken ist doch, dass prinzipiell zu jeder historischen Fragestellung unterschiedliche Sinnbildungen möglich sind18 und die normative Triftigkeit nicht aufoktroyiert, sondern ebenso diskutiert werden muss, wenn eine Reflexion über das Zustandekommen historischer Orientierung anstelle der Übernahme historischer Orientierungen angestrebt wird. Zugleich zeigen sich empirisch Schwierigkeiten,

15 Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln 2013, S. 259–263. 16 Z.B: Wolfgang Hasberg: Analytische Wege zu besserem Geschichtsunterricht. Historisches Denken im Handlungszusammenhang Geschichtsunterricht. In: Johannes Meyer-Hamme/ Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012, S. 137–160; Vanessa Neumann u. a.: Wie entwickelt sich narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht? Eine qualitative Studie. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 149–164. 17 Jörn Rüsen: Historisches Lernen. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Düsseldorf 1985, S. 224–229. 18 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang etwa auf die berühmte Goldhagen-BrowningKontroverse, deren Protagonisten anhand der Rolle des „Polizeibattalion 101“ Grundfragen zum Holocaust diskutiert haben, und auf der Basis ein und derselben Quellen zu sehr unterschiedlichen Interpretationen kamen. Daniel J. Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. München 2000; Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Hamburg 6. Aufl. 2005.

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die sich für die Schülerinnen und Schüler ergeben, wenn die eine Sinnbildung gesetzt, aber nicht explizit reflektiert wird.19 Insgesamt fällt im Vergleich zu Schulze Wessel auf, dass Rüsen das Ziel historischen Lernens als Fähigkeit und nicht als Kenntnis konzipiert, eine Einsicht, hinter die ein Konzept historischen Lernens in sich radikal wandelnden Gesellschaften nicht zurückfallen darf, weil sich die historischen Orientierungen im Laufe der Zeit ändern und die heute Lernenden im Laufe ihres Lebens noch mit ganz anderen Orientierungsfragen und -angeboten konfrontiert werden, mit denen sie dann selbstständig umgehen müssen. Auch Wineburg konzipiert historisches Lernen als Fähigkeit, allerdings fällt auf, dass bei ihm insbesondere Fragen der Quellenkritik und nicht wie bei Rüsen das historische Denken insgesamt im Fokus stehen.20 Einen ganz anderen Zugang zur Konzeption historischen Lernens wählte Bodo von Borries (1985). Er hat auf der Basis von Unterrichtsprotokollen eine Typologie von vier Lernformen entwickelt. Historisches Lernen konzipiert er 1. als Reiz-Reaktionslernen, also ein Auswendiglernen von Daten und „Fakten“, 2. als Imitations- und Modellernen, also die Thematisierung von Vorbildern, die auf eine affirmative Übernahme von Werten zielt, 3. als Einsichts- und Entdeckungslernen in historische Zusammenhänge und/ oder die Logik historischen Denkens und 4. als Identitäts- und Balancelernen, also als Reflexion der subjektiven, auch emotionalen und unbewussten Anteile beim historischen Denken.21 Deskriptiv lassen sich diese Formen im konkreten Geschichtsunterricht finden, normativ lehnt von Borries die ersten beiden Lernbegriffe als ideologisch und im Widerspruch zum Beutelsbacher Konsens stehend ab. Er plädiert stattdessen für eine Kombination aus dem dritten und vierten Lernbegriff, also einer Verknüpfung von (kognitiven) Einsichten und subjektiv-relevanten Orientierungen. Als Heuristik für die differenzierte Beschreibung von Geschichtsunterricht und zur Reflexion der eigenen Lernbegriffe erscheint das Modell nach wie vor hilfreich. Dabei ist aber zweierlei zu berücksichtigen: Erstens bietet es nur eine 19 Barbara Christophe (i. Vorb.): Der kalte Krieg im Geschichtsunterricht. In: Monika Waldis/ B8atrice Ziegler : Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 17. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch17“. Bern. 20 Zum Verhältnis historischen Denkens und historischen Lernens siehe: Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzu¨ ge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983, S. 46. 21 Borries, Bodo von: Zur Mikroanalyse historischer Lernprozesse in und neben der Schule. Beobachtungen an exemplarischen Fällen. In: Geschichtsdidaktik 10 (1985), S. 301–313. Wiederabdruck in: Bodo von Borries: Lebendiges Geschichtslernen. Bausteine zu Theorie und Pragmatik, Empirie und Normfrage. Schwalbach/Ts. 2004, S. 103–122.

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grobe Orientierung, um unterschiedliche Konzepte historischen Lernens zu unterscheiden. Für eine konkrete Planung wäre es weiter auszuarbeiten. Zweitens ist auch hier zu bedenken, dass das Konzept aus den frühen 1980er Jahren stammt, also neuere theoretische Diskussionen oder empirische Erkenntnisse von seinem Autor nicht berücksichtigt werden konnten. Das Konzept historischen Lernens ist vor diesem Hintergrund neu zu diskutieren. Einen neueren Vorschlag dieser Art hat Hilke Günther-Arndt (2003/2013) vorgelegt. Sie hat zu bedenken gegeben, dass in den didaktischen Überlegungen häufig vom Geschichtsbewusstsein und vom historischen Erzählen die Rede ist, aber beides unverbunden zu historischem Wissen gedacht wird. Sie orientiert sich deshalb am Modell des Conceptual Change, wonach es beim historischen Lernen vor allem darum gehe, die Schülervorstellungen, die als Präkonzepte verstanden würden – sowohl grundlegend zum Geschichtsbegriff als auch zu unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen (etwa zur Arbeit im Mittelalter und in der Gegenwart) – durch wissenschaftliche Konzepte zu ersetzen.22 Günther-Arndt greift damit auf ein Konzept aus den Naturwissenschaftsdidaktiken zurück und überträgt es auf die Domäne des historischen Denkens. Zugleich macht Günther-Arndt deutlich, dass Lernkonzepte eine Vorstellung unterschiedlicher Niveaus brauchen, so dass Lernkonzepte zugleich normativ sind. Bei diesem Ansatz überzeugt, dass Günther-Arndt das Verfügen der Lernenden über fachspezifische Konzepte in den Blick nimmt, weil Lernende im Geschichtsunterricht eher solche Vorstellungen entwickeln als konkrete Kenntnisse abzuspeichern.23 Kritisch anzumerken ist, dass die Fähigkeiten historischen Denkens, wie sie bei Rüsen formuliert sind, hier außen vor bleiben.

22 Darüber hinaus verknüpft sie diesen Ansatz mit Überlegungen zum historischen Wissen (und weniger mit dem Begriff „Geschichtsbewusstsein“) und psychologischen Konzepten Motivation und Interesse. Damit unterscheidet sie sich in ihrer Herangehensweise deutlich von den oben skizzierten Ansätzen. Siehe: Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Dies./Meik Zülsdorf-Kersting: Geschichtsdidaktik. Berlin 2014, S. 24–49. 23 Johannes Meyer-Hamme (i. Vorb.): Von der Diskrepanz eines gefühlten Informiertseins und geringer historischer Kenntnisse. Anmerkungen zum Geschichtsbewusstsein zum Nationalsozialismus. In: Thomas Sandkühler (Koord.): Der Nationalsozialismus, Bd. 3. München.

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Theoriehintergrund

Zentralbegriffe Narrative Kompetenz, traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches historisches Lernen

Jörn Rüsen (1985, 1994/2008)

Theorie historischen Denkens (Historik)

Bodo von Borries (1985/2004)

Empirie (u. a. Unterrichtsprotokolle)

„Reiz-Reaktionslernen“, „Imitationslernen“, „Einsichts- und Entdeckungslernen“, „Identitäts- und Balancelernen“

Hilke GüntherArndt (2003, 2013)

Conceptual Change (Didaktik der Naturwissenschaften)

Schülervorstellungen

Abbildung 1: Konzepte historischen Lernens im Vergleich

Im Vergleich wird deutlich, dass die Konzepte historischen Lernens erstens aus unterschiedlichen Theorien hergeleitet werden und dementsprechend unterschiedliche Zentralbegriffe verwenden (siehe Abb. 1) und zweitens die Vorschläge von Rüsen und von Borries in ihrer Grundstruktur aus den frühen 1980er Jahren stammen, aktuellere Debatten also nicht berücksichtigen konnten, während der Vorschlag von Günther-Arndt einen besonderen Fokus auf die Wissenskonstruktion und damit zusammenhängend auf die Motivation und das Interesse legt. Wenn aber die These zutrifft, dass die Konzepte historischen Lernens weiterentwickelt werden müssen, dann sind dabei m. E. mindestens drei Großdebatten zu berücksichtigen: 1. Die Debatten um die Geschichts- und Erinnerungskulturen bzw. die Public History24 und damit die gesellschaftlichen Formen historischen Denkens im Kontext von Globalisierung, Migrationsprozessen und von weiteren Veränderungen, die posttraditionale25 bzw. postmigrantische Gesellschaften26 haben entstehen lassen und die Ausgangspunkt und Rahmung jeden historischen Lernens sind. 24 Siehe etwa: B8atrice Ziegler: Einleitung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 5–16. 25 Der Begriff der posttraditionalen Gesellschaft umschreibt eine gesellschaftliche Situation, in der eine Vielzahl an Traditionen nebeneinander gelebt wird, die den Individuen die Möglichkeit und Anforderung eröffnen, sich darin neu zu verorten. Zugleich erzeugen die gesellschaftlichen Kontingenzerfahrungen, über die traditionalen Orientierungen hinaus neue zu entwickeln, so dass Bildungsprozesse daraufhin zu konzipieren sind, zukünftige Orientierungsfragen eigenständig bearbeiten zu können (vgl.: Renate Girmes: Sich zeigen und die Welt zeigen. Bildung und Erziehung in posttraditionalen Gesellschaften. Opladen 1997). 26 Der Begriff der postmigrantischen Gesellschaft umschreibt eine Analysekategorie, die die Fixierung auf Menschen mit und ohne Migrationshintergrund dahingehend übersteigt, dass Veränderungsprozesse auf die gesamter Gesellschaft bezogen werden (vgl.: Naika Foroutan: Postmigrantische Gesellschaften In: Heinz Ulrich Brinkmann/Martina Sauer (Hrsg.): Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Entwicklung und Stand der Integration. Wiesbaden 2016, S. 227–255).

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2. Die Debatten um Kompetenzen historischen Denkens und damit die Modelle, mit denen die Fähigkeiten und Konzepte narrativer Kompetenz differenziert werden, sowie die Frage, inwiefern Niveaus unterschieden werden können. 3. Die Debatten um eine Subjektorientierung, also um die Anerkennung, dass Lernende vor dem Hintergrund ihrer biographischen Erfahrungen eigenständig historisch Sinn bilden und nicht dasselbe lernen.27 Zu allen drei Bereichen finden sich Unterrichtsvorschläge, die versuchen, diese Aspekte zu operationalisieren.

2.

Thesen zum historischen Lernen

Die oben skizzierte Vielfalt der Theoriezugriffe spiegelt sich mehr oder weniger explizit in publizierten Unterrichtsvorschlägen. Anhand von vier Thesen soll ein fachspezifischer Lernbegriff entfaltet werden: These 1: Jeder Geschichtsunterricht zielt darauf ab, eine Einführung in Geschichts- und Erinnerungskultur zu sein. Ein Vergleich von Unterrichtsmaterialien prominenter Onlineplattformen zeigt das überaus deutlich. So steht bei einem Unterrichtskonzept zur Geschichte der Migration, das auf der Plattform der Stanford History Education Group (SHEG) publiziert ist, folgende Frage im Zentrum: „Why did African Americans migrate to Newark?“28 Bei einem Unterrichtsmodell, das auf einer Plattform des GeorgEckert Instituts publiziert wurde, werden demgegenüber unterschiedliche Migrationsbiographien der deutschen Geschichte seit 1945 thematisiert, um zu verdeutlichen, dass Migration der historische Normalfall sei.29 Diese Thematisierungen sind Ausdruck unterschiedlicher Relevanzsetzungen in den jeweiligen Geschichtskulturen – und der Geschichtsunterricht dient dazu, in diese Erzählungen einzuführen. Sehr treffend hat Wolfgang Jacobmeyer in diesem Zusam27 Johannes Meyer-Hamme: Historische Identitäten und Geschichtsunterricht. Fallstudien zum Verhältnis von kultureller Zugehörigkeit, schulischen Anforderungen und individueller Verarbeitung (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 26).. Idstein 2009. Siehe dazu auch den Beitrag von Markus Bernhardt in diesem Band. 28 Stanford History Education Group (Hrsg.): Great Migration https://sheg.stanford.edu/histo ry-lessons/great-migration, aufgerufen am 20. 3. 2018). 29 Martin Lücke: Migration als historischer Normalfall. Migrationsbiographien in Deutschland. In: Georg-Eckert-Institut (Hrsg.): Zwischentöne. Materialien für Vielfalt im Klassenzimmer (http://www.zwischentoene.info/themen/unterrichtseinheit/materialien/ue/migrati on-als-historischer-normalfall.html, aufgerufen am 15. 1. 2018).

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menhang Geschichtsschulbücher als „nationale Autobiographien“ bezeichnet.30 Historisches Lernen hat also immer auch eine geschichtskulturelle Dimension. Vielfach wird das unter der Metapher „Teilhabe an Geschichtskultur“ verhandelt, kompetenztheoretisch gesprochen greift das aber zu kurz, weil damit eine eher passive und wenig reflexive Formulierung vorliegt. Die obige These erscheint also zunächst trivial, sie spiegelt sich aber auch in empirischen Untersuchungen wider. Erstens liegt die Vermutung nahe, dass nicht selten für die Lernenden im Geschichtsunterricht die von den LehrerInnen getroffenen Auswahlentscheidungen nicht deutlich werden und damit eine Reflexion der historischen Erzählungen erschwert wird.31 Zweitens zeigte sich in der repräsentativen Befragung zum Geschichtsbewusstsein Jugendlicher, dass mit zunehmendem Alter bestimmte konventionelle Deutungen übernommen werden, die sich im internationalen Vergleich deutlich unterscheiden können.32 These 2: Wenn jeder Geschichtsunterricht eine Einführung in Geschichts- und Erinnerungskultur ist, dann sollte es in einer pluralen Gesellschaft auch zu den Zielen historischen Lernens gehören, unterschiedliche Narrationen in der Geschichts- und Erinnerungskultur zu reflektieren. Es gibt viele Unterrichtskonzepte, die diese Ebene der Reflexion anstreben, wenn aktuelle historische Orientierungsfragen an konkreten Beispielen in den Fokus rücken. So gibt es Unterrichtsbeispiele, bei denen die Lernenden Mittelalterbilder in der Filmtrilogie „Der Herr der Ringe“ de-konstruieren33 oder geschichtskulturelle Debatten um Straßennamen oder Denkmäler thematisieren. Zu erwähnen sind ferner Unterrichtsentwürfe, die konventionelle Deutungen problematisieren, wenn sie etwa im Kontrast zu nationalhistorischen Verengungen globalhistorische Dimensionen reflektieren34 oder wenn sie rassistische 30 Wolfgang Jacobmeyer : Konditionierung von Geschichtsbewusstsein. Schulbücher als nationale Autobiographien. In: Gruppendynamik 23 (1992), S. 375–388. 31 Christophe (Anm. 19). 32 Siehe dazu die Einstellungen der Jugendlichen zu Mittelalterdeutungen: Bodo von Borries: Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Eine repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland, Weinheim 1995, S. 57–60 und Andreas Körber : Chronological Knowledge, Historical Associations and Historico-Political Concepts. In: Magne Angvik/Bodo von Borries (Hrsg.): Youth and history. A comparative European survey on historical consciousness and political attitudes among adolescents. Band A. Hamburg 1997, S. 106–152, hier S. 118. 33 Britta Wehen: Mittelerde – Peter Jacksons Mittelalter-Fantasie? Dekonstruktion von Mittelalter-Projektionen in Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs. In: Geschichte lernen 170 (2016), S. 38-45. 34 Marko Demantowsky : Die Komplexität von „1989“. Plädoyer für eine globale Perspektive. In: Geschichte lernen 22 (2009), H. 128, S. 39–45.

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Deutungsmuster in Geschichtscomics zum Thema machen.35 Wir finden demnach Unterrichtsvorschläge, die im Kern eine konventionelle Deutung problematisieren und damit zugleich auf eine Einführung in und Reflexion von Geschichts- und Erinnerungskulturen abzielen. Als Grundlage dienen hier die Theorien zur Geschichtskultur, die in der Geschichtsdidaktik entwickelt wurden.36 Wenn dabei solche Deutungen diskutiert werden, die in der Politik oder Wissenschaft kontrovers sind, dann stehen diese Konzepte explizit in der Tradition des Beutelsbacher Konsenses. Empirisch lässt sich zeigen, dass es solche reflexiven Unterrichtsvorschläge für unterschiedliche Altersstufen gibt37 und die Forderung nach Reflexivität keineswegs per se eine Überforderung darstellt. These 3: Wenn die Reflexion der historischen Narrationen in der Geschichtskultur zentral ist, dann steht der möglichst reflektierte und eigenständige Umgang damit im Zentrum (Kompetenz historischen Denkens/narrative Kompetenz). Vielfach ist die Reflexion von Geschichts- und Erinnerungskultur implizit bei solchen Unterrichtskonzepten mitgedacht, die es bezwecken, einen reflektierten Umgang mit Geschichte zu fördern, wie es oben in Rüsens Definition in Bezug auf die Fähigkeiten oder in Günther-Arndts Definition in Bezug auf die Konzepte angelegt ist. Die meisten Kompetenzmodelle historischen Denkens zielen auf eine Differenzierung dieser Dimension historischen Lernens.38 Bisweilen werden aber diese Dimensionen auch explizit miteinander verknüpft. Exemplarisch sei hier auf drei Zugriffe verwiesen: Zu nennen ist erstens ein Unterrichtskonzept, bei dem die Lernenden historische Wikipedia-Artikel reflektieren und weiter schreiben,39 zweitens ein Vorschlag, bei dem sich die Lernenden mit Gedenk35 Philipp Marti/Bernhard C. Schär : Koloniale Interpretationsmuster in Schweizer Comics. In: Ute Fenske u. a. (Hrsg.): Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa. Module für den Geschichtsunterricht. Frankfurt am Main 2015, S. 255–264. 36 Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? In: ders. (Hrsg.): Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins sich in der Zeit zurechtzufinden. Köln 1994, S. 211–234. Bernd Schönemann: Geschichtskultur als Forschungskonzept der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 78–86. 37 Johannes Meyer-Hamme/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012; Bodo von Borries: Zwischen Genuss und Ekel. Ästhetik und Emotionalität als konstitutive Momente historischen Lernens. Schwalbach/Ts, 2014, S. 347–360. 38 Zum Vergleich der Modelle siehe: Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Barricelli/Lücke (Anm. 5), S. 207–235. 39 Philippe Weber : Die Geschichte der Enzyklopädie weiterschreiben. Eine Unterrichtseinheit mit Kommentarfunktion (2016). (https://dwgd.hypotheses.org/526, aufgerufen am 25. 3. 2018).

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stätten als Ausdrucksformen der Erinnerungskultur auseinandersetzen sollen,40oder drittens ein Konzept, bei dem Geschichtscomics de-konstruiert und im Kontext der geschichtskulturellen Debatte interpretiert werden sollen. Anhand passender Debattenbeiträge lassen sich historische Orientierungsfragen, die in der Gesellschaft diskutiert werden, sichtbar und damit reflektierbar machen.41 Diese Unterrichtskonzepte und Lernaufgaben zielen entweder auf kategoriale Einsichten oder auf die Fähigkeiten historischen Erzählens, also im weitesten Sinn auf das, was Rüsen als oberste Qualifikation verstanden hat. Historisches Lernen in diesem Sinne ist vielfach in Kompetenzzuwachs historischen Denkens zu beschreiben. Empirisch zielen viele Untersuchungen auf solche Kompetenzen historischen Denkens, wenn etwa nach dem Umgang mit historischen Quelle oder Darstellungen, nach Geschichtsbegriffen42 oder nach dem Umgang mit Geschichtskultur43 gefragt wird. Historisches Lernen ist damit aber noch nicht hinreichend beschrieben, denn ähnlich wie es Bodo von Borries in seiner Differenzierung des historischen Lernbegriffs angemerkt hat, wird historisches Denken und Lernen erst dann lebenspraktisch wirksam, wenn neben den Einsichten und den zu lernenden Fähigkeiten auch die Subjektseite der Lernenden berücksichtigt wird. These 4: Wenn der reflektierte Umgang mit Geschichts- und Erinnerungskultur zum Ziel erhoben wird und zugleich historisches Denken auf eine subjektiv relevante historische Orientierung zielt, dann stellt sich die Frage der Subjektorientierung beim historischen Lernen. Empirisch wird deutlich, dass die Lernenden im Geschichtsunterricht sehr unterschiedlich Sinn bilden, und zwar in Abhängigkeit ihrer biographischen Er40 Andreas Körber : De-Constructing Memory Culture. In: Helle Bjerg u. a. (Hrsg.): Teaching Historical Memories in an Intercultural Perspective. Concepts and Methods. Experiences and Results from the TeacMem Project. Edited on behalf of Neuengamme Concentration Camp Memorial (Neuengammer Kolloquien, Bd. 4). Berlin 2013, S. 145–150. Claudia Lenz/ Harald Syse: Mini-Exhibitions. Reading and (Re-)Constructing Narratives in Museums and Memorials. In: Ebd., S. 165–174. 41 Johannes Meyer-Hamme: Geschichtskultur. Extremfall Holocaust Comics. In: Borries (Anm. 37), S. 92–127. 42 Z. B. Peter Lee/Rosalyn Ashby : Progression in historical understanding among students ages 7–14. In: Peter Stearns u. a. (Hrsg.): Knowing, teaching, and learning history. National and International Perspectives, S. 199–222; Johannes Meyer-Hamme (unter Mitarbeit von Bodo von Borries): Schülerkonzepte zu historischem Erkennen und historischem Lernen. Ergebnisse einer quantitativen und qualitativen Befragung von Schülern, Studierenden und Lehrenden im deutschsprachigen Bildungswesen (2002). In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 6 (2007), S. 84–107. 43 Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach. Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Berlin 2007.

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fahrungen und ihrer historischen Identitäten.44 Dementsprechend ist bei der Konstruktion von Unterrichtskonzepten zu bedenken, welche historischen Orientierungen für die Lernenden relevant sein könnten, und dass unterschiedliche Ergebnisse möglich und auszuhandeln sind. Auch dieser Punkt wird auf der Theorieebene diskutiert,45 allerdings gibt es dazu weniger Unterrichtsbeispiele, da diese ja auf die unterschiedlichen Lerngruppen zugeschnitten sein müssen. Ein herausragendes Beispiel ist hier sicher der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, bei dem sich die TeilnehmerInnen selbstständig ihre Fragestellungen suchen können und diese vielfach mit biographischen Erfahrungen und historischen Identitäten zu erklären sind.46 Darüber hinaus sind subjektorientierte Zugänge immer dann möglich, wenn geschichtskulturelle Debatten thematisiert werden, und den Lernenden eine Verortung angeboten wird, ohne sie einzufordern. Im Sinne des Beutelsbacher Konsenses sollten die Lernenden in die Lage versetzt werden, ihre eigene historische Orientierung zu entwickeln und zu reflektieren.47 Zugleich ist eine solche Verortung freiwillig; ebenso wie Kulturalisierungen sind auch Bekenntnisse zu historischen Identitäten nicht einzufordern. Historisches Lernen, so möchte ich vorschlagen, umfasst mindestens drei Dimensionen, die sich gegenseitig bedingen: 1. Historisches Lernen ist immer eine Einführung in Geschichts- und Erinnerungskultur. In einer demokratischen-pluralen Gesellschaft sollte es aber zugleich auch eine Reflexion derselben beinhalten und die gesellschaftlichen Diskurse, in denen die historischen Erzählungen verhandelt werden, sichtbar machen. 2. Historisches Lernen ist als Entwicklung von Kompetenzen historischen Denkens zu konzipieren, dies schließt sowohl Fähigkeiten historischen Erzählens und des Umgangs mit historischen Narrativen als auch kategoriale Einsichten in die Logik historischen Denkens mit ein. 3. Historisches Lernen ist schließlich als Erweiterung und Umbau historischer Sinnbildungen zu kennzeichnen, denen subjektiv eine Relevanz zugeschrieben wird.

44 Meyer-Hamme (Anm. 27). 45 Heinrich Ammerer/Thomas Hellmuth/Christoph Kühberger (Hrsg.): Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2015. 46 Christopher Wosnitza/Johannes Meyer-Hamme (i.Vorb.): Student Essays expressing forms of historical thinking. Annotations regarding a quantitative and dually qualitative analysis of 1100 papers for the „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“ (= Federal President’s history competition). In: Special Edition HEIRJ 16.1 (2018). 47 Wehling (Anm. 12), S. 179f.

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Aus der Einführung in und Reflexion von Geschichts- und Erinnerungskultur lassen sich historische Fragestellungen und Themensetzungen begründen, nämlich solche, die gesellschaftlich eine Rolle spielen, um eine kritische Beteiligung an gesellschaftlichen Debatten zu ermöglichen. Damit werden zugleich solche Konventionen historischen Denkens exemplarisch zum Thema gemacht, die kompetenztheoretisch reflektiert werden können. Auf der Ebene der lernenden Subjekte geht es dann darum, sich ein „historisches Universum“ (Gautschi) aufzubauen, sich in den gesellschaftlichen Debatten zu verorten und seinen Standpunkt begründen zu können.

3.

Anmerkungen zum Problem der Lernprogression

Wenn man von Lernen spricht, stellt sich die Frage der Lernprogression, also wie unterschiedliche Ausprägungen historischen Denkens voneinander unterschieden werden können. Auch das ist eine Leerstelle in der Debatte. So schreibt Andreas Körber zutreffend: „Dem Geschichtsunterricht liegt noch immer weitgehend ungeklärt die Vorstellung eines mehr additiven Erwerbs von Wissen und historischen Einsichten entlang der Chronologie der behandelten Gegenstände als eines kumulativen Aufbaus von Fähigkeiten (historischen Denkens JMH) zu Grunde. Dahinter liegt die Vorstellung, dass Späteres nicht ohne Kenntnisse des Früheren begriffen werden könne.“48 Dies spiegelt sich auch in den eingangs erwähnten öffentlichen Debatten zum Geschichtsunterricht wieder. Dabei herrscht in der Geschichtsdidaktik weitgehende Einigkeit bezüglich der Feststellung, dass die Frage der Niveaus nicht im historischen Thema zu suchen sei, denn die Geschichte der Attischen Demokratie ist nicht weniger komplex als die der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn diese im Schulcurriculum in unterschiedlichen Jahrgangsstufen vorkommen. Allerdings ist die Frage, wie solche Niveaus historischen Denkens zu unterscheiden sind, umstritten. Kursorisch sei hier auf einige wichtige Positionen hingewiesen.49 48 Andreas Körber : Lernprogression. In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. Schwalbach Ts. 2006, S. 119. 49 Hinzuweisen ist hier auch auf ältere entwicklungspsychologische Modelle, in denen unterschiedliche Altersstufen definiert und daraus Lernziele abgeleitet wurden. Ein kritischer Umgang mit Geschichte wurde in diesen Modellen erst für die älteren SchülerInnen vorgesehen: Waltraut Küppers: Zur Psychologie des Geschichtsunterrichts. Eine Untersuchung über Geschichtswissen und Geschichtsverständnis bei Schülern. Bern/Stuttgart 1966; Heinrich Roth: Kind und Geschichte. Psychologische Voraussetzungen des Geschichtsunterrichts in der Volksschule. München 1968; siehe dazu auch: Bodo von Borries: „Reifung“ oder „Sozialisation“ des Geschichtsbewußtseins? Zur Rekonstruktion einer vorschnell verschütteten Kontroverse. In: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S. 143–159.

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In seiner oben zitierten Typologie der historischen Lernbegriffe unterscheidet Bodo von Borries nicht explizit zwischen unterschiedlichen Progressionslogiken, allerdings wird deutlich, dass den vier Lernbegriffen verschiedene Progressionslogiken zu Grunde liegen. So basiert etwa das Reiz-Reaktionslernen auf einem anderen Konzept als das Identitäts- und Balancelernen. Allerdings werden diese Konzepte bei von Borries nicht explizit ausgewiesen.50 Jörn Rüsen interpretiert die vier Sinnbildungsmuster, also die traditionale, exemplarische, genetische und kritische Sinnbildung als Kompetenzniveaus, und manche Kollegen sind ihm dabei gefolgt.51 Das Kernargument scheint mir zu sein, dass das genetische Erzählen komplexer sei und auch erst später erworben werde als etwa das traditionale Erzählen. Beides ist zutreffend, und dennoch überzeugt mich diese Niveauunterscheidung nicht. Zum einen lässt sich empirisch zeigen, dass wir auch bei jungen SchülerInnen schon genetische Sinnbildungen finden. Auch wenn diese bisweilen nicht sehr präzise ausformuliert sind, ist doch die Grundidee – insbesondere in Form von Fortschrittsgeschichten – bereits angelegt.52 Bis zu diesem Zeitpunkt im Bildungsgang haben die Lernenden also schon das grundlegende Konzept erworben genetisch zu denken.53 Wenn aber schon (relativ) am Anfang des Geschichtsunterrichts die SchülerInnen in der Lage sind, genetisch zu erzählen, wie soll dann eine Lernprogression zu definieren sein? Zudem ist zu fragen, ob das genetische Erzählen bei allen historischen Fragestellungen die beste und orientierungsleitende Form der historischen Sinnbildung ist. Zu klären wäre etwa, ob es nicht auch historische Errungenschaften gibt, die zukünftig gelten sollen, also ob nicht von Fall zu Fall zu entscheiden ist, inwiefern traditionale, exemplarische oder genetische Sinnbildungen orientierungsleitend sind. Lernprogression kann also nicht an den Sinnbildungsmustern festgemacht werden. Wir benötigen vielmehr einen anderen Graduierungsparameter, der im Grad der kritischen Reflexion zu suchen ist. Hilke Günther-Arndt schließlich stellt einen Konzeptwechsel in den Mittel-

50 Borries (Anm, 21). 51 Siehe z. B.: Hasberg (Anm. 16), S. 137–160; Neumann (Anm. 16), S. 149–164. Kritisch dazu: Andreas Körber : Sinnbildungstypen als Graduierungen? Versuch einer Klärung am Beispiel der Historischen Fragekompetenz. In: Katja Lehmann u. a. (Hrsg.): Historisches Denken jetzt und in Zukunft. Wege zu einem theoretisch fundierten und evidenzbasierten Umgang mit Geschichte. Festschrift für Waltraud Schreiber zum 60. Geburtstag (Geschichtsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart. Bd. 10). Berlin u. a. 2016, S. 27–41. 52 Ein prominentes Beispiel ist etwa nachzulesen bei Achim Jenisch: Erhebung von Schülervorstellungen zu historischem Wandel und curriculare Konsequenzen. In: Saskia Handro/ Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung. Methoden – Analysen – Perspektiven. Münster 2004, S. 265–276. 53 Körber (Anm. 51), S. 27–41.

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punkt ihrer Progressionsüberlegungen.54 Allerdings ist die Vorstellung, dass alltägliche durch wissenschaftliche Konzepte einfach ausgetauscht werden können, insofern problematisch, als dass historische Konzepte auch in der Wissenschaft kontrovers diskutiert werden. Dies meint sowohl grundlegende Fragen zum Geschichtsbegriff als auch zu einzelnen Themen, wie der erwähnten Arbeit im Mittelalter. Deshalb kann nicht ein zu lernendes wissenschaftliche Konzept als alleinig richtig gesetzt werden, sondern es geht um den Umgang mit Konzepten, die kontrovers zueinander sind. Ein Conceptual Change ist deshalb nicht als Konzeptwechsel, sondern als Elaboration der Verfügung über Konzepte zu verstehen. Diese Interpretation des Conceptual Change verstanden als conceptual elaboration wird inzwischen auch in den Naturwissenschaften diskutiert.55 Damit rückt folgende Frage ins Zentrum: Mit welchen Kriterien können unterschiedliche Niveaus historischen Denkens beschrieben werden. Eine Möglichkeit besteht darin, den Grad der Verfügung über fachspezifische Konzepte und über Kategorien im Sinne des Kompetenzmodells historischen Denkens als Graduierungslogik zu definieren.56 Zu unterscheiden ist dann, inwiefern die Lernenden auf gesellschaftliche Konventionen zurückgreifen bzw. sie reflektieren können.57 Die Frage der Lernprogression kann hier keineswegs abschließend geklärt werden, aber eine Antwort ist unter Berücksichtigung der oben skizzierten Differenzierung mindestens in drei Dimensionen zu denken. Historisches Lernen umfasst demnach 1. den Aufbau eines „historischen Universums“ (Gautschi), also das Verfügen über geschichtskulturell anschlussfähige (nicht: identische!) Kenntnisse, um über Vergangenheit und Geschichte kommunikationsfähig zu werden, 2. die Elaboration von Konzepten und Fähigkeiten historischen Denkens, wobei Reflexivität als zunehmend bewusster Umgang mit gesellschaftlichen Konventionen interpretiert werden kann und 3. die Reflexion der eigenen Sinnbildung und der daraus folgenden Identitätskonstruktion im Kontext einer pluralen Geschichts- und Erinnerungskultur. Wenn diesen drei Aspekten beim historischen Lernen eine zentrale Rolle zugeschrieben wird, dann müsste eine Progressionslogik historischen Denkens be54 Günther-Arndt (Anm. 22). 55 Ulrich Gebhard/Dietmar Höttecke/Markus Rehm: Pädagogik der Naturwissenschaften. Ein Studienbuch. Berlin 2017. 56 Alexander Schöner : Kompetenzbereich historische Sachkompetenzen. In: Andreas Körber u. a. (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 265–314. 57 Andreas Körber: Graduierung: Die Unterscheidung von Niveaus der Kompetenzen historischen Denkens. Ebd., S. 415–472.

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rücksichtigen, dass es um die bei Individuen verfügbaren Konzepte und Fähigkeiten geht, die kompatibel zu gesellschaftlich anerkannten Konzepten und Fähigkeiten gedacht werden können, um über Vergangenheit und Geschichte kommunikationsfähig zu werden. Im Kompetenzmodell der FUER-Gruppe wird in diesem Sinne der Umgang mit Konventionen historischen Denkens als Graduierungsparameter vorgeschlagen.58 Dabei geht es nicht um bestimmte Konventionen, sondern um den Modus mit Konventionen umzugehen, denn in einer posttraditionalen, bzw. postmigrantischen Gesellschaft existieren unterschiedliche Konventionen nebeneinander. Solche Konventionen historischen Denkens können sowohl im Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung als auch auf die Frage nach der individuellen historischen Orientierung reflektiert werden.

4.

Historisches Lernen in posttraditionalen und postmigrantischen Gesellschaften

Historisches Lernen, so die grundlegende These, ist weder auf einen kritischen Umgang mit Materialien und Informationen zu reduzieren, noch auf die Übernahme historischer Orientierungen, sondern es ist mehrdimensional. Historisches Lernen steht somit im Spannungsfeld gesellschaftlicher Anforderungen, subjektiver Bedeutungszuschreibungen und Kompetenzen historischen Denkens. Die Geschichts- und Erinnerungskultur in einer posttraditionalen und postmigrantischen Gesellschaft ist durch heterogene Perspektiven und Orientierungen gekennzeichnet. Deshalb gehört die „gegenseitige Anerkennung historischer Orientierungen“59 zu den zentralen Zielen historischen Lernens, bei dem die Lernenden diese unterschiedlichen Orientierungen kennenlernen, reflektieren und sich ihrer eigenen Positionen dazu bewusst werden. Es geht nicht darum, dass sie dasselbe Geschichtsbewusstsein entwickeln, sondern dass sie miteinander kommunikationsfähig werden auch und gerade im internationalen Diskurs, in dem sehr verschiedene historische Orientierungen miteinander im Widerspruch stehen. Auf drei Ebenen lassen sich aus den Überlegungen Schlussfolgerung dieses Lernbegriffs ableiten:

58 Ebd. 59 Jörn Rüsen: Einleitung: Für eine interkulturelle Kommunikation in der Geschichte. Die Herausforderung des Ethnozentrismus in der Moderne und die Antwort der Kulturwissenschaften. In: Jörn Rüsen/Michael Gottlob/Achim Mittag (Hrsg.): Die Vielfalt der Kulturen. Frankfurt am Main 1998, S. 12–36.

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1. Theoretisch sind die Konzepte historischen Lernens weiterhin zu diskutieren, sowohl im Hinblick auf unterschiedliche Niveaus als auch auf Konzepte der Graduierung und der Lernprogression. 2. Empirische Studien sind im Kontext von Geschichts- und Erinnerungskultur, Kompetenzen historischen Denkens und Subjektperspektiven zu reflektieren.60 3. Pragmatisch lassen sich Lernziele für die drei unterschiedlichen Dimensionen benennen, so dass Schwerpunktsetzungen nötig sind, die aber auch zu einem abwechslungsreichen Geschichtsunterricht beitragen können. Die konkreten Lernziele können dann im Kontext umfassenderer Theoriebildungen begründet werden.

60 Siehe dazu: Johannes Meyer-Hamme: Perspektiven geschichtsdidaktisch empirischer Forschung. Oder : Ein Plädoyer für die Reflexion empirischer Forschung im Spannungsverhältnis von Geschichtskulturen, historischen Identitäten und Kompetenzen historischen Denkens. In: Lehmann/Werner/Zabold (Anm. 51), S. 269–279.

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Historisches Lernen in der Schule. Überlegungen zu einer Theorie des Geschichtsunterrichts

1.

Einleitung

Der vorliegende Beitrag möchte plausibel machen, was eine Theorie des Geschichtsunterrichts ist und wofür man sie braucht. Eine geschichtsdidaktische Lerntheorie wäre wichtig, um Phänomene im Bereich des historischen Lernens zu erklären. Der Begriff des „historischen Lernens“ nimmt zwar eine zentrale Stellung im begrifflichen Gefüge der Wissenschaftsdisziplin der Geschichtsdidaktik ein; er ist gemessen an seiner Relevanz theoretisch jedoch erstaunlich schwach profiliert.1 Bemerkenswert ist das deshalb, weil eine der wichtigsten Aufgabe einer Wissenschaftsdisziplin darin besteht, Begriffe zu bilden, um Phänomene zu erklären.2 Gleiches gilt für den Begriff „Geschichtsunterricht“, einem ähnlich prominenten Begriff der Geschichtsdidaktik. Es ist zu befürchten, dass die Theoriedefizite ähnlich schwerwiegend sind. Das zentrale Kriterium zur Beantwortung der Frage, was eine Theorie des Geschichtsunterrichts von anderen Aussagen über Geschichtsunterricht unterscheidet, ist ihre Erklärungskraft. Im Unterschied zu den zahlreichen deskriptiven oder normativen Aussagen über Geschichtsunterricht u. a. auf dem Feld der Geschichtsmethodik oder in Lehrplänen und Kerncurricula kann eine Theorie des Geschichtsunterrichts helfen, erklärungsbedürftige Phänomene im Bereich des Geschichtsunterrichts verständlich zu machen. Im Unterschied dazu besteht die wichtigste Funktion normativer Aussagen über Geschichtsunterricht darin festzulegen, was dieser sein soll. Eine Theorie des Geschichtsunterrichts sollte also in der Lage sein, auf dem Wege einer retrospektiv-analytischen Auseinandersetzung mit Geschichtsunterricht Erklärungen zu liefern. Eine solche Theorie des Geschichts1 Johannes Janßen/Holger Thünemann: Historisches Denken lernen. In: Sebastian Bracke u. a.: Theorie des Geschichtsunterrichts (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 9). Frankfurt a.M. 2018, S. 71–106. 2 Manfred Lüders: Der Unterrichtsbegriff in pädagogischen Nachschlagewerken. Ein empirischer Beitrag zur disziplinaren Entwicklung der Schulpädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 58 (2012) 1, S. 109–129; hier besonders S. 111–112.

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unterrichts haben wir in der Geschichtsdidaktik nicht, obwohl wir sie angesichts der zahlreichen erklärungsbedürftigen empirischen Befunde zum Geschichtsunterricht dringend bräuchten. Einige begriffliche Abgrenzungen zu Beginn können verdeutlichen, was eine Theorie des Geschichtsunterrichts nicht ist. Sie ist keine Theorie historischen Lernens, keine Theorie historischen Denkens und auch keine Kompetenztheorie. Historisch gelernt wird auf vielen geschichtskulturellen Feldern, und eine Theorie historischen Lernens muss Lernprozesse auf der Ebene des Geschichtsbewusstseins erklären. Eine Theorie historischen Denkens muss beschreiben, wie sich Teiloperationen historischen Denkens unterscheiden und warum diese zustande kommen. Eine Kompetenztheorie schließlich unterscheidet Bereiche und Niveaus historischer Kompetenzen und erklärt, wie und warum sich Fähigkeiten und Fertigkeiten verändern. Eine Theorie des Geschichtsunterrichts ist mit diesen drei Feldern eng verzahnt und bleibt doch etwas Eigenes. Von einer Theorie des Geschichtsunterrichts ist zu erwarten, dass sie die spezifische institutionelle und sozio-kommunikative Gestalt des Geschichtsunterrichts begrifflich durchdringt und damit erklärt, warum sich Geschichtsunterricht in einer spezifischen Weise ereignet. Geschichtsunterricht ist eben nicht historisches Denken unter der zu vernachlässigenden Rahmenbedingung des Zusammenkommens von Lehrer*in und Schülern*innen im Klassenraum. Geschichtsunterricht ist vielmehr zuallererst durch seine soziale Dimension gekennzeichnet. Theorien historischen Lernens und Denkens zielen auf Phänomene des Geschichtsbewusstseins, wohingegen eine Theorie des Geschichtsunterrichts auf kommunikative Interaktionen zielen müsste. Um im Folgenden möglichst konkret und anschaulich darlegen zu können, was eine Theorie des Geschichtsunterrichts ist und wofür man sie braucht, sind die folgenden Schritte erforderlich. Zuerst (Abschnitt 2) sollen auf der Basis vorliegender empirischer Befunde zum Geschichtsunterricht Erklärungsbedarfe sichtbar gemacht werden, auf die sich eine Theorie des Geschichtsunterrichts beziehen sollte. Zu diesem Zweck sollen wichtige Befunde der Geschichtsunterrichtsforschung rekapituliert werden, um daran deutlich zu machen, dass diese Befunde i. d. R. erklärungsbedürftig bleiben. Im nächsten Schritt (Abschnitt 3) erfolgt dann die Skizze einer Theorie des Geschichtsunterrichts;3 hier sollen die eingangs aufgeworfenen Erklärungsbedarfe wieder aufgenommen werden, um die Potentiale dieser Theorie des Geschichtsunterrichts sichtbar zu machen. Am Ende folgt ein kurzes Fazit (Abschnitt 4), in dem Chancen und 3 Diese Theorie ist das Produkt einer Zusammenarbeit der folgenden Forscher*innen: Sebastian Bracke, Colin Flaving, Johannes Jansen, Manuel Köster, Jennifer Lahmer-Gebauer, Simone Lankes, Christian Spieß, Holger Thünemann, Christoph Wilfert und Meik ZülsdorfKersting.

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Grenzen der eigenen Theoriebildung abgewogen werden sollen. Aufgrund der hier geforderten Kürze können keine Ausführungen zum wissenschaftstheoretischen Status einer Theorie des Geschichtsunterrichts und vor allem zu bisherigen Ansätzen geschichtsdidaktischer Theoriebildung erfolgen.4

2.

Erklärungsbedarfe

Die empirische geschichtsdidaktische Forschung ist breit aufgestellt. Wolfgang Hasberg hat schon vor zehn Jahren festgestellt, dass weniger ein quantitatives Defizit an empirischer Forschung zu beklagen sei, als vielmehr eine „Inkohärenz der Erkenntnisinteressen“, eine „Disparität der Forschungsmethoden“ sowie die „Diffusion der Befunde“5. Den beiden ersten Monita ist kaum beizupflichten, da in der Vielfalt von Erkenntnisinteressen und Forschungsmethoden wohl eher der Vorzug einer Wissenschaftsdisziplin zu sehen ist. Der Hinweis auf die „Diffusion der Befunde“ ist aber doch zutreffend und gewichtig. Er gilt für die empirischen Befunde zum Geschichtsbewusstsein, zum historischen Denken und Lernen sowie auch für den Geschichtsunterricht. Die empirische Geschichtsunterrichtsforschung ist mittlerweile umfänglich; sie hat interessante und wichtige Befunde zu Tage gefördert. Diese Befunde werden aber selten systematisch aufeinander bezogen und bleiben in der Regel unverbunden nebeneinander stehen. Vielleicht ist ein bestimmtes Rezeptionsverhalten mitverantwortlich; so gibt es z. B. kaum Forschungsüberblicke oder Debatten zu einzelnen Befunden. Vermutlich „diffundieren“ die zahlreichen empirischen Ergebnisse auch deshalb, weil es bisher keinen theoretisch konsistenten Begriff von Geschichtsunterricht gibt, auf den sie (zuerst einmal schlicht binär : verifizierend oder falsifizierend) bezogen werden könnten. Das schmälert die Dignität der einzelnen Erhebungen nicht. Die empirischen Studien sind zumeist methodisch ambitioniert und ertragreich in ihren Befunden. Die Ergebnisse bleiben allerdings nicht selten für sich. Weil sie nicht auf abstraktere Vorstellungen von zentralen Wirkungszusammenhängen im Geschichtsunterricht bezogen werden können, vermögen sie nur schwer ein abstrakteres Verständnis von Geschichtsunterricht jenseits der Einzelstudie zu befördern (oder in Frage zu stellen). Die hier vertretene These ist, dass die Ergebnisse diffundieren, weil sie in Ermangelung einer Theorie des Geschichtsunterrichts selbst erklärungsbedürftig bleiben. Diese Beobachtungen sollen im Folgenden plausibel gemacht werden, indem zuerst 4 Vgl. dazu ausführlich Bracke u. a. (Anm. 1), S. 17–23 und S. 40–56. 5 Wolfgang Hasberg: Im Schatten von Theorie und Pragmatik – Methodologische Aspekte empirischer Forschung in der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 6 (2007), S. 9 u. 16.

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zwei ältere und nachfolgend zwei jüngere Studien zum Geschichtsunterricht vorgestellt werden. Zuerst soll an Gaea Leinhardts umfangreiche Studie zu zwei Lehrern und einer Lehrerin und ihren Klassen erinnert werden, die hier unter dem Namen „From Mindlessness to Mindfulness“ besprochen wird.6 Leinhardts Diktum von der Unterrichtszeit als einer Time to be Mindful7 ist primär so zu verstehen, dass die Auseinandersetzung mit Vergangenheit immer auch eine metakognitive Ebene haben müsse, auf der reflektiert werde, wie eine Auseinandersetzung mit Vergangenheit überhaupt möglich sei und was Vergangenheit eigentlich sei. Leinhardt modelliert gelingenden Geschichtsunterricht in zweifacher Hinsicht als einen Dialog (historical dialogue):8 als Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der im sozialen System (social system) Klasse situiert sei.9 Damit wird Unterricht zwar in seiner sozialen Verfasstheit thematisiert, ohne dass seiner sozialen Eigengesetzmäßigkeit weitergehende Aufmerksamkeit beigemessen würde. Ein zentraler Befund Leinhardts et al. besteht darin, dass eine gezielte Unterweisung auf der prozeduralen Ebene (Wie denke ich historisch?) positive Effekte im Hinblick auf die Performanz des historischen Argumentierens (historical reasoning) habe (Schüler Paul als Beispiel für unterrichtlich bedingten Kompetenzzuwachs).10 Im Vorher/Nachher-Setting stellen Leinhardt et al. zweifelsfrei fest, dass es sich bei den erhobenen um unterrichtlich bedingte Lerneffekte handelte, da die Schüler*innen im Pretest die performierten Kompetenzen noch nicht besaßen. Leinhardt et al. konstatieren, dass Unterricht effektiv sei, wenn er Metakognition zum Gegenstand der Kommunikation im sozialen System Klasse gemacht habe. Das ist ohne Zweifel ein wichtiger Befund. Erklärungsbedürftig bleibt allerdings die Rolle der Metakognition für historisches Lernen. Warum war Unterricht im Sample Leinhardts et al. dann effektiv, wenn er metakognitiv ist? Diese Frage diskutieren Leinhardt et al. nicht, obwohl es unter dem Signum der mindfulness doch wichtig wäre zu wissen, warum eine bestimmte methodische Entscheidung (nämlich Metakognition zum Gegen-

6 Gaea Leinhardt: Lessons in Teaching and Learning in History from Paul’s Pen. In: Peter N. Stearns/Peter Seixas/Sam Wineburg (Eds.): Knowing, Teaching and Learning History. New York/London 2000, S. 223–245; dies.: Instructional Explanations in History. In: International Journal of Educational Research 27 (1997), S. 221–232; dies.: Learning to Reason History. Mindlessness to Mindfulness. In: Mario Carretero/James Voss (Eds.): Cognitive and Instructional Processes in History and the Social Sciences. Hillsdale N.J. 1994a, S. 131–158; dies.: History. A Time to be Mindful. In: Gaea Leinhardt/Isabel L. Beck/Catherine Stainton (Eds.): Teaching and Learning in History. Hillsdale, N.J. 1994b, S. 209–255. 7 Leinhardt 1994b (Anm. 6). 8 Ebd., S. 251. 9 Ebd. 10 Leinhardt 2000 (Anm. 6).

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stand des Unterrichts zu machen), wirksam ist. Um diese Frage zu klären, sind unterrichtstheoretische Annahmen erforderlich. Dazu weiter unten mehr. Die zweite konsultierte Studie stammt von Ola Halld8n.11 Er führte mehrere Erhebungen im schwedischen Geschichtsunterricht durch und zog daraus wichtige Schlussfolgerungen für den sog. conceptual change. Meist wird übersehen, dass Halld8n die spezifische Kommunikationssituation „Unterricht“ als Hintergrund seiner Ausführungen zum Lehren und Lernen berücksichtigte. Conceptual change ereigne sich im Klassenraum in einer prinzipiell hierarchischen Kommunikationssituation, und man müsse davon ausgehen, dass sich in diesem Austausch Missverständnisse ereignen würden.12 Unterrichtsbeobachtungen hätten ergeben, dass Lehrer*innen im Unterrichtsgespräch (classroom conversation) zusammen mit den Schülern*innen eine Hauptachse des Verstehens (shared line of reasoning) etablierten. Diese Hauptachse sei nicht identisch mit der Planung der Lehrkraft, sondern immer das Resultat spezifischer unterrichtlicher Kommunikation. Halld8n zeigt an Beispielen, wie die Lehrer*innen auf diese Hauptachse hinleiteten und wie die Schüler*innen ihnen folgten. Das Hauptziel der Schüler*innen in diesen Unterrichtsgesprächen bestehe darin zu ermitteln, wo der/die Lehrer*in sie hinführen wollte, nicht im Einbringen eigener Gedanken. Die Schüler*innen maßen den thematischen shared lines of reasoning zwar den Status objektiver Wahrheit bei, konnten sich allerdings schon in der Nachbefragung nicht mehr an diese erinnern.13 Halld8ns empirische Studien zeigten, dass die Schüler*innen in Nachbefragungen zum Unterricht mit keinem Wort auf die shared lines of reasoning eingingen. Sie waren in den Schülerantworten nicht mehr auffindbar. Die Befunde sind ausgesprochen interessant. Die spezifische Kommunikationssituation „Unterricht“ etablierte eine gemeinsame thematische Achse des Diskurses, die a) im Vorfeld nicht geplant war und b) keine nachweisbaren Lerneffekte bei den Schülern*innen zeitigte. Die Befunde sind allerdings gleichermaßen erklärungsbedürftig. Warum realisierten sich diese shared lines of reasoning in Abweichung von der Unterrichtsplanung? Und warum waren diese situativ entstandenen Diskursachsen auf der Ebene des individuellen Geschichtsbewusstseins so folgenlos? Halld8n erklärte die ausbleibenden Lerneffekte vor dem Hintergrund der conceptual change-Forschung mit der Nichtpassung von Präkonzepten der Schüler*innen (Geschichtsvorstellungen/Alltagstheorien) und wissenschaftsförmigen Konzepten im Unterricht. Geschichtsunterricht scheitere, wenn er versuche, wissenschaftsförmige Konzepte zu etablieren, ohne darauf zu achten, welche All11 Ola Halld8n: On the Paradox of Understanding History in an Educational Setting. In: Gaea Leinhardt/Isabel L.Beck/Catherine Stainton (Hg.): Teaching and Learning in History. Hillsdale, N.J. 1994b, S. 27–46. 12 Ebd., S. 27f. 13 Ebd., S. 31.

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tagskonzepte die Schüler*innen bereits verinnerlicht hätten. Die wissenschaftsförmigen Konzepte würden nicht gelernt und die Vorkonzepte verfestigt. Das ist mittlerweile eine empirisch gut belegte Einsicht. Halld8n bezog bei der Interpretation seiner Befunde die eingangs noch berücksichtigte spezifische Kommunikationssituation des Unterrichts im Weiteren nicht mehr mit ein. In einer Studie jüngeren Datums hat Liliana Maggioni auf der Basis von Unterrichtsbeobachtungen (ganze Unterrichtsreihen) sowie Lehrer*innen- und Schüler*innenbefragungen in drei Lerngruppen die Relevanz epistemologischer Überzeugungen in historischen Lernprozessen erforscht.14 Maggioni wollte herausfinden, wie sich epistemologische Überzeugungen und Fähigkeiten zum historischen Denken der Lehrer*innen und Schüler*innen im Unterricht gegenseitig beeinflussen. Eine Grafik zeigt, wie Maggioni dieses Interdependenzverhältnis modelliert hat. Im Hinblick auf eine Theorie des Geschichtsunterrichts ist interessant, wie Maggioni den gelben Doppelpfeil einer Grafik beschreibt: „The space enclosed within the double arrow symbolizes the processes taking place within the classroom that may concur to explain the relation between teacher epistemic stances and historical thinking and student epistemic stances and historical thinking and their changes during the course of a semester. […] I symbolize the process with a double arrow because I hypothesize that teachers’ pedagogical moves influence student ability to think historically and the development of domain-specific epistemic beliefs; I also hypothesize that feedback from students contribute to the evaluation and potential revision of teachers’ pedagogical decisions.“15 Maggionis Befunde sind ernüchternd und hochinteressant zugleich. Die Beziehung zwischen Epistemic Beliefs und Historical Thinking bei den Lehrern*innen sei unklar. Die Fähigkeit, historisch zu denken, korreliere nicht signifikant mit konsistenten geschichtstheoretischen Überzeugungen.16 Anders bei den Schüler*innen, bei denen die Beziehung zwischen Epistemic Beliefs und Historical Thinking klar als reziproke Beeinflussung beschrieben wird – das eine beeinflusse das andere.17 Während ein Zusammenhang zwischen Teacher Epistemic Beliefs und Teachers’ goals (epistemologische Überzeugungen schlagen sich in den Unterrichtszielen nieder) vorliege, ständen Historical Thinking und Teachers’ goals in keinem erkennbaren 14 Liliana Maggioni: Studying epistemic Cognition in the History Classroom: Cases of Teaching and Learning to think historically. Maryland 2010; Dies./Patricia Alexander/Bruce VanSledright: At Crossroads? The Development of epistemological Beliefs and historical Thinking. In: European Journal of School Psychology 2 (2004), S. 169–197; Dies./Bruce VanSledright/Patricia Alexander : Walking on the Borders. A Measure of Epistemic Cognition in History. In: The Journal of Experimental Education 77 (2009), S. 187–214. 15 Maggioni 2010 (Anm. 14), S. 22. 16 Ebd., S. 327. 17 Ebd., S. 328.

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Zusammenhang. So reflektierte beispielsweise die Lehrerin Ellen historisches Denken nicht auf der Ebene der Lernziele.18 Für keine der beobachteten Lehrkräfte sei Historical Thinking das final result des Unterrichts gewesen.19 Interessant ist auch, dass Maggioni zu dem Ergebnis kommt, dass Lehrer*innen, wenn sie nach Zwängen gefragt (constraints) werden, sofort institutionelle Zwänge angeben, nicht aber inhaltliche oder prozedurale.20 Insgesamt seien die Effekte der beobachteten Unterrichtsreihen gering gewesen. Schüler*innen würden unzureichend right facts lernen; so gut wie gar nicht lernten sie cognitive tools, die ihnen eine Teilnahme an historischen Diskursen ermöglichten.21 Maggionis Studie belegt die enorme Relevanz epistemologischer Überzeugungen für gelingenden Geschichtsunterricht. Die Befunde zeigen die Wichtigkeit einer metakognitiv-epistemologisch-prozeduralen Ebene des Geschichtsunterrichts. Sie kann neben der deklarativ-inhaltlichen ersten Ebene als zweite Ebene des Geschichtsunterrichts bezeichnet werden. Maggionis Studie bestätigt damit viele andere Studien zur Relevanz von Metakognition in historischen Lernprozessen.22 Erklärungsbedürftig ist aber auch bei Maggioni der hervorgehobene Status von Epistemologie und Metakognition. Warum kommt dieser sog. zweiten Ebene des Geschichtsunterrichts eine so große Bedeutung zu, wenn es um effektive und nachhaltige Lernprozesse der Schüler*innen geht? Diese Frage konnte Maggioni mit ihren theoretischen Prämissen nicht klären. Der Blick auf empirische Geschichtsunterrichtsstudien soll mit Avishag Reismans Studie „Reading like a Historian“ abgeschlossen werden.23 Es handelt sich um eine der wenigen Interventionsstudien, in der Reisman nach dem Einfluss fachspezifischer Lesekompetenz auf a) historisches Denken, b) den Transfer historischer Denkstrategien auf neue Problemstellungen, c) deklaratives Sachverhaltswissen und d) die allgemeine Lesekompetenz von 236 Schülern*innen aus fünf Klassen fragte. Im Zentrum der Studie stand eine sechsmonatige Intervention mit prononcierter Textquellenarbeit (document-based history curriculum), d. h. einer expliziten Instruktion in Quellenarbeit, einer 18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 329. Ebd., S. 330. Ebd., S. 330. Ebd., S. 332. Vgl. Leinhardt et al. 1994a und 1994b (Anm. 6). Avishag Reisman: Reading like a Historian: A Document-based History Curriculum Intervention in Urban High Schools 2011; Dies.: „Reading like a historian:“ A document-based history curriculum intervention in urban high schools. In: Cognition and Instruction 30 (2012), S. 86–112; Dies.: The „Document-Based Lesson“: Bringing Disciplinary Inquiry into High School History Classrooms with Adolescent Struggling Readers. In: Journal of Curriculum Studies 44 (2012), S. 233–264; Dies./Sam Wineburg: „Text Complexity“ in the History Classroom: Teaching to and Beyond the Common Core. In: Social Studies Review 51 (2012), S. 20–25.

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angeleiteten Praxis (guided practice) der Quellenarbeit sowie einer selbstständigen Auseinandersetzungen mit Textquellen. Reisman fand heraus, dass diese Intervention positive Effekte auf die Dimensionen sourcing, close reading, factual knowledge sowie die allgemeine Lesekompetenz hatte, wohingegen die Dimensionen der Kontextualisierung und corroboration unberührt blieben.24 Intensive Schulung und Erprobung von Textquellenarbeit wirkten sich mit anderen Worten positiv auf die Konstruktion historischer Sachverhalte, auf die allgemeine Lesekompetenz und auf das deklarative Sachverhaltswissen aus. Historische Sachurteilsbildungen und – überraschenderweise – auch die Performanzen im Bereich der Dekonstruktion von Sachverhaltsaussagen mit Hilfe von Quellen (i. e. corroboration) wurden durch die Intervention nicht verbessert. Noch interessanter als die Befunde zu den gerade angeführten Kompetenzdimensionen sind die Ergebnisse zu den Kommunikationsmustern in den videographierten Unterrichtsstunden. Unter der wissenschaftspropädeutischen Prämisse, dass eine erkenntnisfördernde Auseinandersetzung mit Quellen auf den Diskurs angewiesen sei, prüfte Reisman die Stunden auf das Vorkommen sog. whole-class-text-based-discussions. Diese Debatten sollten durch die folgenden vier Merkmale gekennzeichnet sein: Sie sollten um eine historische Frage kreisen, mind. zwei Quellen thematisieren und bei mind. vierminütiger Dauer drei verschiedene Schüler*innen-Beiträge umfassen.25 Unter insgesamt 100 aufgezeichneten Stunden von fünf Lehrern*innen fanden sich neun solcher classroom discussions bei drei Lehrern*innen. Reisman bilanzierte „Classroom discussion, in general, is rare.“26 Die interessanten Befunde der Studie „Reading like a Historian“ sind in zweierlei Hinsicht erklärungsbedürftig: Zum einen erwächst das Bedürfnis zu verstehen, warum die Intervention in dieser Weise wirkt (Warum befördern die explizite Instruktion und Erprobung von Quellenarbeit Sachverhaltskompetenz und deklaratives Sachverhaltswissen?); zum anderen müsste erklärt werden, warum textbezogene classroom discussions so selten vorkommen, obwohl die Kriterien relativ weich sind? Reisman selbst erklärt die Befunde nicht weiter ; vielmehr äußerte sie sich z. B. im Hinblick auf die classroom discussions zu korrelierenden Merkmalen. So träten classroom discussions zusammen mit den Merkmalen climate/safe classroom environment, pedagogical content knowledge und subject matter knowledge auf.27 Das ist interessant, stellt im engeren Sinne aber keine Erklärung dar. Warum waren classroom discussions dann zu beobachten, wenn die Lehrer*innen pädagogisch/

24 25 26 27

Reisman 2011 (Anm. 23), S. 8–36. Ebd., S. 7–69. Ebd., S. 109. Ebd., S. 110–114.

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fachdidaktisches und historisch-deklaratives Wissen hatten und die Atmosphäre in der Klasse eher wenig hierarchisch war? Die Konsultation dieser vier Studien sollte zeigen, dass die empirische Geschichtsunterrichtsforschung vielfältig ist und interessante Befunde zu Tage gefördert hat. Das empirische Wissen allein aus den vier hier vorgestellten Studien ist enorm. Zugleich sollte deutlich werden, dass die Studien aber wichtige Fragen unbeantwortet lassen. Diese Fragen beziehen sich größtenteils auf die Interpretation und Erklärung der Befunde. Möglicherweise liegt hier ein Grund für Hasbergs Feststellung zur Diffusion der Befunde empirischer geschichtsdidaktischer Forschung vor. Neben der Feststellung, dass sich Leinhardts, Halld8ns, Maggionis und Reismans Studien im engeren Sinne auf Geschichtsunterricht beziehen, ist es alles andere als einfach, die Befunde systematisch aufeinander zu beziehen. Nach meiner Auffassung hängt das mit dem Fehlen einer Theorie des Geschichtsunterrichts zusammen. Gäbe es eine abstraktere Vorstellung von den Wirkzusammenhängen des sozialen Systems Geschichtsunterricht, dann könnten die einzelnen Befunde darauf bezogen werden. Diese Bezugnahme würde zweierlei ermöglichen; zum einen könnte die Theorie dabei helfen, die empirischen Befunde besser oder überhaupt zu erklären, zum andern könnten die empirischen Befunde helfen, eine Theorie von Unterricht zu schärfen (d. h. partiell zu falsifizieren bzw. zu verifizieren). Die folgenden drei Abschnitte wenden sich dieser Herausforderung zu. Zuerst soll wissenschaftstheoretisch geklärt werden, was Theorien im Allgemeinen und eine Theorie des Geschichtsunterrichts im Besonderen sind (Abschnitt 3). Dann sollen die Ansätze geschichtsdidaktischer Theoriebildung zum Geschichtsunterricht betrachtet werden (Abschnitt 4); schließlich (Abschnitt 5) soll ein eigener Vorschlag zu einer Theorie des Geschichtsunterrichts unterbreitet werden.

3.

Geschichtsunterricht als soziales System

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine Theorie des Geschichtsunterrichts vorzustellen. Diese Theorie ist in enger Anlehnung an die erziehungswissenschaftliche, soziologische und geschichtsdidaktische Theoriebildung zum Unterricht entstanden.28 Diese Theorie hier in Gänze vorzustellen, ist nicht möglich. Es erfolgt eine Beschränkung auf die Hauptannahmen dieser Theorie. Die wichtigste Annahme besteht darin, dass eine Theorie des Geschichtsunterrichts nur dann erklärungsmächtig sein kann, wenn sie sowohl die geschichtsspezifische als auch die unterrichtsspezifische Dimension von Ge-

28 Bracke u. a. 2018 (Anm. 1).

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schichtsunterricht berücksichtigt.29 Wenn also das Geschichtsspezifische vorerst ganz grob gefasst werden darf, bedeutet das, dass Schüler*innen historisches Denken lernen und sich historisches Wissen aneignen sollen; und wenn unter dem Unterrichtsspezifischen ganz grob verstanden werden darf, dass Akteure in einem institutionell regulierten Raum zusammenkommen und zielgerichtet interagieren, dann müssen Theorieelemente zum historischen Denken/Lernen und Theorien zum Unterricht bzw. zur sozialen Interaktion in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden.

UMWELT

S

S

L

KOMMUNIKATION

ZIEL: HISTORISCHES DENKEN LERNEN AUF BASIS VON QUELLEN UND DARSTELLUNGEN

S

S

SYSTEM

S

S

S

Abbildung 1: Geschichtsunterricht als soziales System30

Diese Grafik visualisiert diesen Zusammenhang. Lehrer*innen und Schüler*innen sind hier in schematischer Vereinfachung als Akteure zu sehen; als Akteure stehen sie über das Medium der Kommunikation miteinander in Verbindung; „historisches Denken lernen“ soll das Ziel dieser Kommunikation sein; historisches Denken ist auf dieser Ebene des Modells nicht visualisiert. Der Grund dafür ist einfach: Historisches Denken lässt sich im Geschichtsunterricht nicht beobachten; beobachten lassen sich lediglich die zur Performanz gebrachten Denkakte. Die Performanzen sind dann aber eben keine Denkakte mehr, sondern kommunikative Akte. Um historisches Denken zu finden, müsste man mit einer Lupe die Operationen des Geschichtsbewusstseins sichtbar machen. 29 Wolfgang Hasberg: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Nutzen und Nachteil für den Geschichtsunterricht. Neuried 2001, Bd. 1, S. 169. 30 Bracke u. a. 2018 (Anm. 1), S. 63.

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Historisches Lernen in der Schule

S

S HSU

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HWU

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Abbildung 2: Lupe – Historisches Denken im Geschichtsunterricht31

Wir sehen, dass historisches Denken/Lernen gedankliche Operationen der einzelnen Akteure sind, die unsichtbar bleiben, solange sie nicht in kommunikative Akte transformiert werden. Es ist hervorzuheben, dass zwei Prozesse auseinandergehalten werden müssen: Denken und Kommunizieren. Es ist klar, dass beide Prozesse miteinander verwoben sind, sich wechselseitig beeinflussen und Geschichtsunterricht prägen. Eine Theorie des Geschichtsunterrichts muss diese beiden Operationen jedoch auseinanderhalten, weil sie jeweils unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten folgen. Es klingt trivial, ist aber folgenreich, wenn festgestellt wird: Denken funktioniert anders als Kommunikation. Die vorliegende Theorie des Geschichtsunterrichts möchte betonen, dass Geschichtsunterricht eine spezifische Form der Kommunikation ist, die auf der Ebene des individuellen Geschichtsbewusstseins Prozesse ermöglicht, die als historisches Denken bzw. Lernen identifiziert werden können. Die beiden für diesen Zusammenhang relevanten Operationen sind „Denken“ und „Kommunizieren“. Eine Theorie des Geschichtsunterrichts wird dann erklärungsmächtig, wenn sie die ausgesprochen komplexe gegenseitige Wechselwirkung dieser beiden relevanten Operationen erklären kann. Wie wirkt unterrichtliche Kommunikation auf historisches Denken, und wie wirken historische Denkprozesse auf Unterrichtskommunikation ? Vor dem Hintergrund dieser Vorannahmen sind noch einmal die Ansprüche an eine Theorie des Geschichtsunterrichts zu formulieren: Unterrichtliche Kommunikation soll theoretisch modelliert, historisches Denken/Lernen theoretisch gefasst, und 31 Ebd., S. 63.

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die wechselseitige Beeinflussung dieser beiden unterschiedlichen Operationen theoretisch bestimmt werden. Eine weitere zentrale Annahme der hier vorgestellten Theorie besteht in der Überzeugung, den Zusammenhang zwischen Kommunikation und historischem Denken systemtheoretisch besonders gut erschließen zu können. Aus der Perspektive der Systemtheorie handelt es sich beim Geschichtsunterricht auf der einen und beim Geschichtsbewusstsein auf der anderen Seite um zwei unterschiedliche Systeme. Diese beiden Systeme funktionieren nach vollständig verschiedenen Regeln und berühren sich doch in einigen Punkten. Oder : Beide Systeme sind operativ geschlossen; sie zeichnen sich jeweils durch bestimmte Operationen aus und können nur über diese für das System spezifischen Operationen fortbestehen (Autopoiesis). Gegenseitige Beeinflussungen sind möglich, setzen aber die Transformation eines bestimmten Impulses in das Medium32 der für das System typischen Operation voraus. Um es noch konkreter zu fassen: Geschichtsunterricht ist ein soziales System, das durch Kommunikation (im weitesten Sinne) entsteht und aufrechterhalten wird. Geschichtsbewusstsein ist ein psychisches System, das wiederum durch Kognition/Emotion entsteht und aufrechterhalten wird. Geschichtsunterricht als soziales System kann auf Geschichtsbewusstsein als psychisches System nur dann wirken, wenn Kommunikation in Kognition/Emotionen33 transformiert wird, und umgekehrt kann Geschichtsbewusstsein nur dann auf Geschichtsunterricht einwirken, wenn Kognition/Emotion in Kommunikation transformiert wird. Die vorliegende Theorie geht systemtheoretisch davon aus, dass diese Transformationen als strukturelle Kopplungen zu beschreiben sind und sich vornehmlich im Medium Sprache ereignen.34 Systemtheoretisch ergibt sich nun, um das Bisherige erneut zusammenzufassen, der durch diese beiden Grafiken visualisierte Zusammenhang. Die vorliegende Theorie des Geschichtsunterrichts geht von zwei unterschiedlichen Systemen aus, die in sich geschlossen sind und nach ganz bestimmten Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Diese beiden Systeme sind systemtheoretisch eng aufeinander zu beziehen. Dafür soll die in der Systemtheorie zentrale Unterscheidung von System und Umwelt verwendet werden.

32 Zur Rolle der Medien im Rahmen dieser Theorie vgl. Jennifer Lahmer : Medien im Geschichtsunterricht. In: Bracke u. a. (Anm. 1), S. 175–192. 33 Zur Rolle der Emotionen im Rahmen dieser Theorie vgl. Sebastian Bracke/Colin Flaving: Emotionen im Geschichtsunterricht. In: Ebd., S. 107–152. 34 Manuel Köster/Christian Spieß: Sprache. In: Ebd., S. 193–232.

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Historisches Lernen in der Schule

SYSTEM GESCHICHTBEWUSSTSEIN

UNTERRICHT GESCHICHTSKULTUR

UMWELT

Abbildung 3: Lupe – Historisches Denken im Geschichtsunterricht35

GB

GB

GB

SYSTEM GESCHICHTUNTERRICHT

GB

GB

GB

GB

UMWELT

GESCHICHTSKULTUR

Abbildung 4: Lupe – Historisches Denken im Geschichtsunterricht36

35 Bracke u. a. (Anm. 1), S. 37. 36 Ebd.

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Je nach Perspektive wird der Geschichtsunterricht zur Umweltbedingung des Geschichtsbewusstseins oder das Geschichtsbewusstsein der Schüler*innen und des/der Lehrers*in zur Umweltbedingung des Geschichtsunterrichts. Mit den oben angeführten Grafiken soll kurz erklärt werden, was unter „Umweltbedingung“ zu verstehen ist. In Abb. 3 ist das Geschichtsbewusstsein im Zentrum der Grafik verortet. Das Netz in der Mitte deutet an, dass Geschichtsbewusstsein durch kognitiv/emotionale Prozesse entsteht und nur durch diese veränderbar ist. Der Geschichtsunterricht ist hier Umwelt, was meint, dass die unterrichtliche Kommunikation zwar unmittelbar an die Grenze des Geschichtsbewusstseins herandringt, letztlich aber doch „nur“ ein Impuls sein kann, der durch das sensorische System in einen neuronalen Prozess transformiert werden muss. Erst wenn das geschehen ist, kann sich Geschichtsbewusstsein (hier : das Netz) verändern. In Abbildung 4 ist der Geschichtsunterricht nun im Zentrum zu sehen. Das Netz meint hier die operative Verkettung durch Kommunikation. Soziale Systeme entstehen durch Kommunikation und können nur durch Kommunikation verändert werden. Das Geschichtsbewusstsein der Schüler*innen ist hier Umwelt, was meint, dass das individuelle Geschichtsbewusstsein zwar unmittelbar an die Grenze des sozialen Systems Geschichtsunterricht heranreicht, dort letztlich nur dann wirksam sein kann, wenn seine Operationen in einen kommunikativen Akt transformiert worden ist. Erst wenn das geschehen ist, kann sich Geschichtsunterricht (hier : das gelbe Netz) verändern. Diese Theorie des Geschichtsunterrichts ist also vom sozialen System Geschichtsunterricht her gedacht; dabei ist zu fragen, wie unterrichtliche Kommunikation funktioniert und wie über strukturelle Kopplungen historisches Denken/Lernen erreicht werden kann. Es soll deshalb kurz demonstriert werden, wie in der vorliegenden Theorie Kommunikation im Geschichtsunterricht modelliert wurde. Phänotypisch kann festgestellt werden, dass sich im Unterricht ein bestimmtes kommunikatives Muster entwickelt hat, das zwar einige Varianz aufweist, das aber eben doch als regelhaft zu beschreiben ist. Dieses Muster ist kommunikationstheoretisch (Coulthard/Sinclair) und unterrichtstheoretisch (Lüders) differenziert beschrieben worden.37 Es lässt sich am besten als dreistellige kommunikative Äußerungsfolge „I-R-F“ fassen. Auf einen (in der Regel vom/von der Lehrer*in eingebrachten) Impuls folgt eine (in der Regel von den Schülern*innen zu leistende) Reaktion, die mit einem Feedback (in der Regel von Seiten des/der Lehrers*in) abgeschlossen wird. Dass es sich hierbei um ein geradezu universell gültiges Muster unterrichtlicher Kommunikation handelt, scheint empirisch evident. Hier kann das nicht weiter begründet werden. Vielmehr soll systemtheoretisch erklärt werden, warum sich dieses kommunikative 37 Christoph Wilfert/Simone Lankes: Kommunikation. In: Bracke u. a. (Anm. 1), S. 153–174.

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Muster als typisch für Unterricht entwickelt hat und welche Folgen dieses Muster für Unterricht und historisches Denken/Lernen hat. Gelingende Kommunikation in einer Klasse mit 20 bis 30 Akteuren ist keine Selbstverständlichkeit, sondern selbst ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Parson/Shils und später Luhmann haben die Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation in sozialen Systemen mit dem Problem der „doppelten Kontingenz“ (double contingency) begründet, dann aber unterschiedliche Problemlösungen vorgeschlagen.38 Mit Kontingenz ist gemeint, dass in der Reaktion auf einen kommunikativen Akt unüberschaubar viele Anschlussmöglichkeiten denkbar sind. Aus diesem Grund ist der weitere Verlauf einer Kommunikation ausgesprochen schwer absehbar. Mit doppelter Kontingenz ist gemeint, dass zwei (oder mehrere) Interaktionspartner innerhalb eines sozialen Systems ihre kommunikativen Aktionen jeweils von den kommunikativen Reaktionen der anderen abhängig machen würden; Kommunikation käme aber nicht zustande, wenn alle Interaktionspartner so dächten und abwarteten. Eine/einer müsse die Initiative ergreifen, andernfalls würde das soziale System gar nicht erst entstehen. Im Falle des Zusammenkommens einer Lerngruppe mit mehreren Schüler*innen kommt noch hinzu, dass Kommunikation durch gruppendynamische Erscheinungen beeinflusst wird. Dieses Phänomen wird disziplinübergreifend als „Emergenz“ bezeichnet. In Gruppen entstehen emergente Phänomene wie z. B. Stimmungen, kollaborativ erzeugte Wertungen, thematische Präferenzen, die eben nur dort entstehen und nicht solitär am Schreibtisch der/des Einzelnen. Kommunikation in sozialen Systemen wird durch die Phänomene der Kontingenz und Emergenz deutlich erschwert. Luhmann löst das Problem der doppelten Kontingenz damit, dass er die symmetrische Konstellation aus Alter und Ego, die beide schweigen und auf die Aktion des jeweils anderen warten, auf, indem er sie in eine asymmetrische Konstellation verzeitlicht. Mit Verzeitlichung ist gemeint, dass Alter sich vorsichtig und zurückhaltend hervorwagt, Ego darauf ebenfalls mit Zurückhaltung reagieren kann, Alter nun im Wissen um Egos erste Reaktion fortfahren kann. Im Unterrichtsgespräch stellen sich diese Verzeitlichungen oft als vorsichtiges „Abtasten“ dar. Ein*e Schüler*in äußert sich zuerst vorsichtig, um die Reaktionen des Lehrers/der Lehrerin und der anderen Schüler*innen abwarten zu können. In der Folge kann sich diese Vagheit dann kollaborativ klären. Die so entstehenden kommunikativen Verkettungen lassen sich als Versuche beschreiben, Kontingenz permanent einschränken zu wollen, um gegenseitiges Verstehen wahrscheinlicher zu machen und damit den Fortgang von Kommunikation zu gewährleisten. Dabei – und das lässt sich sowohl theoretisch auf mehreren Ebenen wie auch empirisch zeigen – birgt jeder Ver38 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1984, S. 148–190; bes. S. 148–153.

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Meik Zülsdorf-Kersting

such der Kontingenzeinschränkung neues Kontingenzpotential, das kommunikativ wiederum folgenreich ist. Unterricht ist vor diesem Hintergrund der spannungsreiche Versuch, Kontingenz permanent einschränken zu wollen, und damit aber doch immer wieder Kontingenz zu erzeugen. Kommunikation im Geschichtsunterricht ist so komplex und anfällig für gegenseitiges Missverstehen, dass die Verläufe von Unterrichtsgesprächen nicht planbar sind. Das ist wohlgemerkt der normale modus operandi von Geschichtsunterricht und nicht etwa eine fehlerhafte Abweichung. Aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit gegenseitigen Missverstehens in unterrichtlicher Kommunikation und weil Kommunikation Denken spiegeln muss, um strukturelle Kopplungen zu ermöglichen, kommt der epistemologisch-metakognitiven Ebene des Geschichtsunterrichts eine so hohe Bedeutung zu. Die Relevanz metakognitiver Aktivitäten ist mittlerweile auch für den Geschichtsunterricht gut belegt.39 Mit der folgenden Definition sollen die bisherigen Überlegungen auf den Punkt gebracht und die Verwendung des Begriffes „Geschichtsunterricht“ definitorisch reguliert werden: Geschichtsunterricht ist ein soziales System, welches in seiner Pädagogizität darauf ausgerichtet ist, dass Schüler*innen mittels Quellen und Darstellungen historisches Denken lernen. Geschichtsunterricht realisiert sich in Kommunikation, ist überwiegend sprachgebunden und erzeugt über strukturelle Kopplungen mit dem Geschichtsbewusstsein der Akteure kognitiv-emotionale Effekte. Geschichtsunterricht emergiert aus dem Spannungsverhältnis von Kontingenz und dem Versuch ihrer Bewältigung.40

Diese Definition stellt historisches Denken ins definitorische Zentrum. Indem die Anbahnung und Evaluation historischer Lernprozesse zur zentralen Tätigkeit erklärt wird, liegt eine operationale Definition von Geschichtsunterricht vor. Die theoretische Festlegung auf ein bestimmtes Modell historischen Denkens zieht unweigerlich normative Konsequenzen nach sich. Historisches Denken als Sinnbildung über Zeitdifferenzerfahrung zu modellieren, meint etwas anderes als den Erwerb und die Reproduktion deklarativen Sachverhaltswissens. Die vorliegende Theorie des Geschichtsunterrichts schließt an die Tradition Weymars, Jeismanns und Rüsens an und unterscheiden mit Sachverhaltskonstruktion, Sachurteilsbildung, Werturteilsbildung und historischen Fragen vier Teil39 Meik Zülsdorf-Kersting/Anna-Katharina Praetorius: Geschichtsunterricht zuverlässig beurteilen. Vorstellung eines Beobachtungsinstruments zur Bestimmung von metakognitivdiskursiver Unterrichtsqualität. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 250–265; Elmar Cohors-Fresenborg u. a.: Klassifikation von metakognitiven und diskursiven Aktivitäten im Mathematik- und Geschichtsunterricht. Mit einem gemeinsamen Kategoriensystem (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für Mathematikdidaktik, Bd. 63). Osnabrück 2014. 40 Bracke u. a. (Anm. 1), S. 59.

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operationen historischen Denkens, die wir uns in Anlehnung an Jeismann und die FUER-Gruppe synthetisch (bzw. rekonstruktiv) und analytisch (bzw. dekonstruktiv) vorstellen. Diese vier werden zu historischem Erzählen, wenn sie gemeinsam auf Sinnbildung über Zeiterfahrung ausgerichtet sind. Historisches Erzählen ist wiederum re- und dekonstruktiv vorstellbar. Diese Skizzen einer Theorie des Geschichtsunterrichts sollen nun abgeschlossen werden, indem die anfangs aufgeworfenen Klärungsbedarfe wieder aufgegriffen werden. In meinen Augen lässt sich Leinhardts et al. Befund von der Wichtigkeit metakognitiver Aktivitäten auf der Ebene des Unterrichts besser verstehen, wenn man die Schnittstellen zwischen dem sozialen System Geschichtsunterricht und dem psychischen System Geschichtsbewusstsein betrachtet, in dem letztlich historisches Lernen stattfindet. Offenkundig scheinen strukturelle Kopplungen besonders gut zu gelingen, wenn auf der kommunikativen Ebene des Geschichtsunterrichts der modus operandi des Geschichtsbewusstseins explizit verhandelt und thematisiert wird. Man kann auch Halld8ns Befunde zu den shared lines of reasoning und den geringen Lerneffekten besser verstehen, wenn man unterrichtstheoretisch von zwei Systemen – dem sozialen und dem psychischen – ausgeht und über strukturelle Kopplungen als einer Voraussetzung historischen Lernens nachdenkt. Die von der Unterrichtsplanung abweichenden shared lines of reasoning sind als kontingentes Phänomen gut zu erklären, ja, als der Normalfall unterrichtlicher Kommunikation anzusehen. Dass diese kollaborative Verfertigung historischer Erörterungen noch nicht mit den individuell zu erbringenden Lernprozessen gleichzusetzen sind, liegt unterrichts- und lerntheoretisch auf der Hand. Die Verläufe und Ergebnisse unterrichtlicher Kommunikation müssen erst in stimmige gedankliche Prozesse transformiert werden, damit sich Geschichtsbewusstsein verändern kann. Unterrichtliche Kommunikation muss also über strukturelle Kopplungen in sinnhafte Kognition übersetzt werden. Dass Halld8n hier mit Nichtpassung von Konzepten argumentiert, dass er davon ausgeht, dass Konzepte der Schüler*innen verändert werden müssten, nicht aber ersetzt werden könnten, ist plausibel; dieser Erklärungsansatz kann aber mit Verweis auf den systemtheoretischen Kommunikations- und Verstehensbegriff umfassender erklärt werden. Schließlich müssen verinnerlichte Geschichtsvorstellungen durch metakognitive Reflexionen verändert werden, die wiederum durch Kommunikation angestoßen werden sollen. Erklärbar ist mit der hier vorgestellten Theorie auch der von Maggioni herausgehobene Status von Epistemologie und Metakognition. Dieser sog. zweiten Ebene des Geschichtsunterrichts kommt offenbar eine so große Bedeutung zu, weil sie die für das Fach spezifische und zulässige Art und Weise zu denken auf die Ebene der unterrichtlichen Kommunikation hebt. Wenn im Geschichtsunterricht nicht nur über die Sache verhandelt wird, sondern auch über die Art und

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Meik Zülsdorf-Kersting

Weise, wie gedacht wird und gedacht werden soll, dann scheinen strukturelle Kopplungen mit dem Geschichtsbewusstsein der Schüler*innen besser zu gelingen. Auch die Studie Reismans ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Die „Reading like a Historian-Intervention“ wirkte vermutlich genau aus demselben Grund. Die sog. zweite Ebene fungierte in der unterrichtlichen Intervention als Stellschraube schlechthin. Dass damit unterrichtliche Kommunikation noch nicht zwangsläufig gelingt, zeigte Reismans Befund von den fast gänzlich ausbleibenden classroom discussions. Dieser Befund kann als Beleg dafür verstanden werden, dass gelingende sachbezogene und problemzentrierte Kommunikation im sozialen System Geschichtsunterricht derzeit nicht die Regel, sondern vielmehr die Ausnahme ist. Es wäre noch genauer zu erforschen, warum classroom discussions dann zu beobachten waren, wenn die Lehrer*innen pädagogisch/fachdidaktisches und historisch-deklaratives Wissen besaßen und die Atmosphäre in der Klasse eher wenig hierarchisch war. Die Hinweise auf das Klassenklima und die Hierarchien vor dem Hintergrund unserer kontingenzgewärtigen Geschichtsunterrichtstheorie können folgendermaßen verstanden werden. Die immer wieder durchscheinende Hierarchie zwischen den Akteuren des Geschichtsunterrichts in Form einer kommunikativen Dominanz des/der Lehrers*in ist ein Mittel der Kontingenzreduktion. I-R-F-Muster erleichtern Unterrichtsgespräche ungemein; und es lässt sich auch feststellen, dass sie zur Pädagogizität des Geschichtsunterrichts passen. Schließlich sollen Experten und Expertinnen einen kommunikativen Rahmen schaffen, in dem Novizen über strukturelle Kopplungen historisch denken lernen können. Es ist also leicht erklärbar, dass Unterrichtskommunikation hierarchisch ist und das der/die Experte/Expertin für die erste und letzte Position im I-R-F-Muster zuständig ist. Reismans Studie gibt nun Anlass darüber nachzudenken, ob classroom discussions oder mit Pandel oder Rüsen diskursive Sinnbildungen überhaupt zum evaluierten Modus unterrichtlicher Kommunikation passen. Wer möchte sich schon in einer sinnbildenden Debatte ernsthaft engagieren, wenn sie in der Regel vom/von der Lehrer*in initiiert wurde und von ihm/ihr am Ende auch beendet wird (inkl. der obligatorischen Notengebung)? Reisman zeigt nun, dass es diesen schmalen Grat unter bestimmten Bedingungen gibt. Damit enden die Ausführungen zu einer systemtheoretisch gefassten Theorie des Geschichtsunterrichts. Es folgen einige kurze abschließende Bemerkungen.

4.

Fazit und Ausblick

Bis hierhin sollte gezeigt werden, dass eine Theorie des Geschichtsunterrichts wichtig ist, um zu abstrakteren Einsichten in die Wirkungszusammenhänge von Geschichtsunterricht zu gelangen. Die Auseinandersetzung mit den vier ausge-

Historisches Lernen in der Schule

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wählten Studien unterstrich die wichtigen Befunde und machte zugleich auf die aufgezeigten offenen Fragen aufmerksam. Es sollte plausibel geworden sein, dass eine Theorie des Geschichtsunterrichts erklärungsmächtig sein muss und bei der Klärung dieser offenen Fragen helfen müsste. Mit der vorgestellten Geschichtsunterrichtstheorie sollte in enger Anlehnung an erziehungswissenschaftliche Unterrichtstheorien und auch an die geschichtsdidaktischen Ansätze einer Theoriebildung eine solche erklärungsmächtige Theorie vorgestellt werden. In der Zusammenschau der Studien ergaben sich zwei wichtige Befunde, die mit unserer Theorie des Geschichtsunterrichts erklärt werden konnten. Es handelt sich zum einen um die Relevanz des Faktors Metakognition für historisches Lernen im Geschichtsunterricht und zum andern um die Unwahrscheinlichkeit gelingender Debatten. Bisher wurde die hier vorgestellte Theorie lediglich für die Nachbetrachtung empirischer Befunde anderer Studien nutzbar gemacht. Prospektiv wäre nun auch die Entwicklung neuer Fragestellungen wünschenswert, um die Theorie mittels weiterer empirischer Studien verifizieren, ergänzen oder auch modifizieren zu können.

Ulrich Baumgärtner

Was sollen SchülerInnen wissen? Zu Inhalten und Themen im Geschichtsunterricht

Geschichte kann nicht nur klug für ein anderes Mal oder weise für immer,1 sondern auch reich machen. So war der erste Gewinner in der Show „Wer wird Millionär?“ Geschichtsprofessor und die entscheidende Millionenfrage hatte einen historischen Bezug: „Mit wem stand Edmund Hillary 1953 auf dem Gipfel des Mount Everest?“ – Tenzing Norgay war übrigens die Siegerantwort des Frühneuzeithistorikers Eckhard Freise.2 Doch dies war nicht die einzige historisch angehauchte Frage, die eine Million wert war bzw. gewesen wäre.3 Solche Quizformate haben ihren eigenen Reiz – gerade auch für Schülerinnen und Schüler. So finden sich im Internet viele einschlägige Seiten auch seriöser Anbieter, mit denen man sein Wissen testen kann.4 Und natürlich gibt es für den Geschichtsunterricht entsprechende Angebote.5 Dies ist nicht nur eine Spielerei, enthält doch der Einbürgerungstest eine Reihe von historischen Fragen.6 Für den anspruchsvolleren Zeitgenossen, der über solche Spielchen die Nase rümpft, versprechen Bücher, einen allgemeingültigen Kanon zu vermitteln, wie z. B. die Werke des auch als Romanautor hervorgetretenen Anglisten Dietrich Schwanitz oder des Münchner Althistorikers Martin Zimmermann.7 Bildungsbeflissene

1 Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. von Rudolf Marx. Stuttgart 1978, S. 10: „Damit erhält auch der Satz Historia vitae magistra einen höheren und zugleich bescheideneren Sinn. Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden.“ 2 Alle von Freise beantworteten Fragen: http://www.spiegel.de/quiztool/quiztool-44230.html (aufgerufen am 15. 2. 2018). 3 Alle „Millionen-Fragen“ z. B. unter : http://www.spiegel.de/kultur/tv/rtl-show-wer-wird-mil lionaer-alle-millionen-fragen-a-941724.html (aufgerufen am 15. 2. 2018). 4 Ein Beispiel: http://quiz.sueddeutsche.de/quiz/2081644451-fragen-zur-deutschen-geschichte (aufgerufen am 15. 2. 2018). 5 Quizfragen sind etwa Bestandteil der innovativen Lernplattform segu: https://segu-geschich te.de/methodenschwerpunkt-quiz/ (aufgerufen am 15. 2. 2018). 6 Der Fragenkatalog findet sich unter : http://www.bamf.de/DE/Willkommen/Einbuergerung/ WasEinbuergerungstest/waseinbuergerungstest-node.html (aufgerufen am 15. 2. 2018). 7 Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss. Augsburg 2003; Martin Zimmer-

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Ulrich Baumgärtner

Eltern können entsprechende Werke auch ihren Kindern schenken. Denn für die spätere Berufslaufbahn sei historisches Wissen schließlich von Bedeutung. So verweist eine Seite, die Vorbereitungen zu Eignungstests anbietet, mahnend auf die Bedeutung geschichtlicher Kenntnisse, die allerdings leicht nachträglich zu erwerben seien: „Wer allerdings in Lernfächern wie Geschichte […] schlecht abgeschnitten hat, der muss dies oft seiner Lern-Faulheit zuschreiben, denn die Lerninhalte in diesen Fächern sind weniger ,zu verstehen‘ als vielmehr ,zu lernen‘“.8 Spätestens hier sollten die Alarmglocken der Geschichtsdidaktik läuten. Die emphatische Beschwörung von Geschichte als „Denkfach“9 und die unablässige Forderung nach Kompetenzorientierung treffen auf eine gesellschaftlich weit verbreitete Vorstellung historischen Wissens, das in der möglichst universellen Verfügbarkeit über Daten und Ereignisse aus der Vergangenheit besteht. Doch wird eine solche faktizistische Vorstellung für die inhaltliche Ausgestaltung des historischen Lernens wohl kaum ausreichen. Deshalb bedarf es einer eingehenderen Auseinandersetzung mit dieser Frage. So soll im Folgenden (1.) nach einigen einleitenden Bemerkungen zur Notwendigkeit einer geschichtsdidaktischen Reflexion der Inhaltsfrage (2.) kurz die Frage erörtert werden, worin historisches Wissen besteht, bevor (3.) mögliche Kriterien zu bestimmen sind, die Relevanz für die Auswahl und Strukturierung von lernrelevanten Unterrichtsthemen haben, um dann (4.) anhand eines konkreten Beispiels die Probleme inhaltlicher Festlegungen für das historische Lernen zu diskutieren und schließlich (5.) Möglichkeiten zu erörtern, beim historischen Lernen inhaltliche Bezüge herzustellen.

1.

Warum sollte sich die Geschichtsdidaktik mit Inhalten auseinandersetzen?

Die Geschichtsdidaktik tut sich mit der inhaltlichen Strukturierung des historischen Lernens schwer – erst recht in Zeiten der Kompetenzorientierung. Dies beginnt bei der Begrifflichkeit: Themen und Inhalte, gelegentlich auch: Stoff, werden oft synonym verwendet, mitunter jedoch auch im Hinblick auf die

mann: Weltgeschichte in Geschichten. Streifzüge von den Anfängen bis zur Gegenwart. Würzburg 2007. 8 https://www.einstellungstest-fragen.de/einstellungstest-geschichte/ (aufgerufen am 15. 2. 2018). 9 So das Postulat in einer gemeinsamen Erklärung des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) und des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) vom 23.9. 2016: https://www.historikerverband.de/de/presse/pressemitteilungen/gemeinsame-er klaerung-des-vhd-und-des-vgd-zum-schulfach-geschichte.html (aufgerufen am 15.2. 2018).

Was sollen SchülerInnen wissen?

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Auswahl für einen historischen Lernprozess10 bzw. im Hinblick auf den Grad der Vorstrukturierung unterschieden. Während Inhalt in der Allgemeinen Didaktik pauschal die materiale Dimension des Lernprozesses bezeichnet, also vereinfacht gesagt das, was (historisch) gelernt wird,11 zeichnen sich die im Geschichtsunterricht – (oft in einer Stunde) – verhandelten Themen durch eine zugrunde liegende Fragestellung aus, mit der die zur Diskussion stehenden historischen Sachverhalte erschlossen werden.12 Die Bedeutung der einzelnen, nicht immer klar zu unterscheidenden Begriffe ergibt sich in den vorliegenden Ausführungen aus dem jeweiligen Kontext. In den 1970er Jahren gab es im Zeichen eines Legitimationsdefizits der universitären Geschichtswissenschaft sowie des Unterrichtsfaches Geschichte einerseits und im Zeichen einer bildungsreformerisch inspirierten Curriculumrevision andererseits eine intensive Auseinandersetzung über die Inhalte historischen Lernens in der Schule. So entstanden umfassende Konzepte für einen zeitgemäßen Unterricht – und die damals formulierten Vorschläge sind bis heute lesenswert. Bemerkenswert ist dabei, dass Fachdidaktiker und Fachwissenschaftler produktiv zusammenarbeiteten. Diese Publikationen scheuten sich nicht, konkrete Vorschläge zur inhaltlichen Ausgestaltung des historischen Lernens vorzulegen.13 Seitdem hat das Interesse an diesen Fragen, wenn ich recht sehe, deutlich nachgelassen. Zwar gibt es Einwürfe im Rahmen der Diskussion neuer Lehrplanentwürfe, wie etwa kürzlich in Berlin;14 es gibt immer wieder einmal bedenkenswerte Einwände gegen den chronologischen Aufbau des Geschichtsunterrichts, etwa von Gerhard Schneider und Bärbel Völkel,15 immerhin 10 So Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. Seelze-Velber 2001, S. 32: „Inhalte und Themen – das meint die Unterscheidung zwischen dem Stoff, den uns die Vergangenheit insgesamt bietet, und dem, was wir davon zum Gegenstand des Geschichtsunterrichts machen.“ 11 Paul Heimann/Gunter Otto/Wolfgang Schulz: Unterricht. Analyse und Planung, 10. Aufl. Hannover 1979 (zuerst 1965). 12 Ulrich Baumgärtner : Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule. Paderborn 2015, S. 95f. 13 Joachim Rohlfes/Karl-Ernst Jeismann (Hrsg.): Geschichtsunterricht. Inhalte und Ziele. Arbeitsergebnisse zweier Kommissionen. Stuttgart 1974; Joachim Rohlfes (Hrsg.): Geschichtsunterricht. Entwurf eines Curriculums für die Sekundarstufe I. Stuttgart 1978; für einen kooperativen Unterricht in Geschichte und Politik: Günter C. Behrmann/Karl-Ernst Jeismann/Hans Süsssmuth: Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn 1978, S. 223–247. 14 Zum Beispiel: Peter Stolz: Alle Jahre wieder. Lehrplanrevision in Berlin und Brandenburg. In: Public History Weekly 3 (2015) 8, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2015-3714 (aufgerufen am 15. 2. 2018). 15 Klaus Bergmann: Versuch über die Fragwürdigkeit des chronologischen Geschichtsunterrichts. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Wie weiter? Zur Zukunft des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2001, S. 33–55; Gerhard Schneider : Ein alternatives Curriculum für den Geschichtsunterricht in der Hauptschule. In: Geschichte in Wissenschaft

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auch „Überlegungen“ von Bodo von Borries, „zu einem doppelten – und fragmentarischen – chronologischen Durchgang im Geschichtsunterricht“;16 es gibt Hinweise auf „weiße Flecken der Kompetenzdebatte“, die laut Marko Demantowsky erfordern, „auch wieder materiale Bestimmungsgründe guten Geschichtsunterrichts zu diskutieren“17 bis hin zum Appell „Rettet die Fachlichkeit!“.18 Michele Barricelli schließlich behauptet: Eine „Geschichtsdidaktik, für die Inhalte und damit Verbindlichkeiten zweitrangig werden, ist schlecht beraten“.19 Vorschläge aus der Geschichtsdidaktik zur konkreten inhaltlichen Ausgestaltung des Geschichtsunterrichts sind seit den 1970er Jahren jedoch selten, eine intensivere Diskussion kaum wahrnehmbar. Das bedeutet nicht, dass es keine Überlegungen zu thematischen Strukturierungskonzepten gäbe. Diese reflektieren meist Kriterien und Verfahren der Inhaltsgewinnung und Themenfindung, legen jedoch oft keine detaillierten Lerninhalte, geschweige denn Lehrgänge fest, bleiben mithin bei der Zusammenstellung eines Katalogs möglicher Lehrplanthemen.20

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und Unterricht 51 (2000), S. 406–417; Gerhard Schneider : Neue Inhalte für ein altes Unterrichtsfach. Überlegungen zu einem alternativen Curriculum Geschichte in der Sekundarstufe I. In: Marko Demantowsky/Bernd Schönemann (Hrsg.): Neue geschichtsdiaktische Positionen (Dortmunder Arbeiten zur Schulgeschichte und zur historischen Didaktik, Bd. 32). Bochum 2002, S. 119–141; Bärbel Völkel: Immer mehr desselben? Einladung zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem chronologischen Geschichtsunterricht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62 (2011), S. 353–362. Bodo von Borries: Überlegungen zu einem doppelten – und fragmentarischen – Durchgang im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52 (2001), S. 76–90. Marko Demantowsky : Jenseits des Kompetenzkonsenses. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 15). Berlin 2016, S. 21–36, hier S. 34. Johannes Heinßen: Rettet die Fachlichkeit! Zu den Beiträgen in GWU 11/12/2014. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016), S. 207–214. Barricelli, Michele: Historisches Wissen? Ein unverbindliches Angebot. In: Public History Weekly 4 (2016) XX, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2016-6358 (aufgerufen am 15. 2. 2018). Michele Barricelli: Thematische Strukturierungskonzepte. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2007, S. 47–62. Gerhard Henke-Bockschatz/Ulrich Mayer/Vadim Oswalt: Historische Bildung als Dimension eines Kerncurriculums moderner Allgemeinbildung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56 (2005), S. 703–710, erörtern „Grundlegende Begriffsvorstellungen“, „Denkoperationen und Verfahren“ sowie „Grundlagenwissen“, nennen hier aber nur „Problemkomplexe“ (S. 708) und „erkenntnisleitende Fragen“ (S. 709), ohne detailliertere Vorschläge zu einzelnen Themen zu machen. Ulrich Mayer/Peter Gautschi/Markus Bernhardt: Themenbestimmung im Geschichtsunterricht der Sekundarstufen. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 378–404, setzen sich mit der „Logik der Themenbestimmung“ (S. 382) auseinander und stellen unter den Überschriften „Geschichtswissenschaftlichen Dimensionen“, „Schlüsselprobleme“ und „Basisnarrative“ (S. 389f.) mögliche Themenbereiche des historischen Lernens zusammen. Ein in sich geschlossener Lehrgang ergibt sich daraus nicht – und soll sich

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Dieses Unbehagen gegenüber inhaltlichen Festlegungen ist dabei nicht gering zu achten, gilt es doch, dekretierte Geschichtsbilder ebenso zu verhindern wie einen vermeintlich allgemeingültigen Wissenskanon. Das Beharren auf inhaltlicher Offenheit des historischen Lernens ist aber problematisch, denn diese Position beinhaltet die Gefahr der inhaltlichen Entkernung des Geschichtsunterrichts, die von Seiten der Fachwissenschaft mit Sorge betrachtet wird.21 Aus verschiedenen Gründen sind jedoch eine geschichtsdidaktische Reflexion dieser Fragen und eine Festlegung auf geeignete Themen für das historische Lernen in der Schule unverzichtbar. Wichtige geschichtspolitische Entscheidungen für das historische Lernen werden andernfalls ohne geschichtsdidaktische Expertise getroffen. Bürokratische Setzungen, deren Zustandekommen nicht immer transparent ist, bestimmen dann die gültigen und verbindlichen Lehrpläne. In ihnen sind zwar neuerdings oft Kompetenzmodelle breit entfaltet, denen dann aber ohne systematische Begründung relativ willkürlich Inhalte zugeordnet werden. Weiterhin bestimmen Inhalte den alltäglichen Geschichtsunterricht: In der Regel wird eine Stunde über den Untergang des Weströmischen Reiches oder die Westintegration der Bundesrepublik vorbereitet und gehalten – und nicht über die Ausbildung narrativer Kompetenz, auch wenn sie dabei gefördert werden sollte. Aber auch eine kompetenzfördernde Stunde bedarf einer wie auch immer gearteten inhaltlichen Fundierung. Dabei ist offen, ob es bestimmte Themen gibt, die für die Kompetenzförderung besonders förderlich sind, und welche Merkmale diese auszeichnen. Darüber hinaus beziehen sich die Manifestationen der Geschichtskultur und die Wandlungen des Geschichtsbewusstseins auf bestimmte historische Sachverhalte. Wer also am gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess teilhaben will, kommt nicht umhin, sich damit auseinandersetzen. Er kann dies nur, wenn er über entsprechende Kompetenzen verfügt; er kann dies aber nicht, wenn er von der Sache keine Ahnung hat. Die Tendenz, inhaltliche Festlegungen zu meiden, birgt für die Geschichtsdidaktik die Gefahr der Selbstmarginalisierung. Denn historisch grundierte Sinnbildung in narrativer Form findet auch in anderen Lernprozessen und in wohl auch nicht ergeben. Überaus anregend sind die grundsätzlichen Überlegungen von Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005. Die auf S. 118–124 zusammengestellten Vorschläge bilden jedoch kein in sich konsistentes Curriculum. 21 Der Historikerverband veröffentlichte 2010 eine besorgte Stellungnahme zu den Hessischen Bildungsstandards: https://www.historikerverband.de/fileadmin/_vhd/pdf/Stellungnahme _zu_Hess__Bildungsstandards.pdf (aufgerufen am 15. 2. 2018). Auch gab es auf dem 48. Historikertag im gleichen Jahr eine Podiumsdiskussion: Ralph Erbar : Schulfach Geschichte: Geschichtslehrpläne ohne Inhalte. In: Gabriele Metzler/Michael Wildt (Hrsg.): Über Grenzen. 48. Historikertag in Berlin 2010. Berichtsband. Göttingen 2012, S. 320–323.

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anderen Schulfächern statt, nicht aber die Auseinandersetzung mit gegenwartsrelevanten Ereignissen, Entwicklungen und Strukturen aus der Vergangenheit. So spielen die Inhalte als eine zentrale Dimension historischen Lernens – neben den Zielen, Methoden und Medien – im wissenschaftlichen Diskurs nur eine Nebenrolle. Denn ebenso wie die wissenschaftliche Referenzdisziplin dient das Schulfach Geschichte – emphatisch gesprochen – der Aufklärung historischer Sachverhalte. Die Diskussion der Frage, welche konkreten Themen in welcher Abfolge zum Gegenstand historischen Lernens zu machen sind, sollte daher auch ein Kernanliegen der Geschichtsdidaktik sein. Die Entscheidung über Lerninhalte widerstandslos dem freien Spiel der geschichtspolitischen Kräfte oder gar den Alltagslaunen der jeweiligen Lerngruppe zu überlassen, wäre eine Absage an die auf gesellschaftlichen Verständigungsprozessen beruhenden Aufklärungskraft der Geschichte. Schließlich ist die Betrachtung der inhaltlichen Dimension des historischen Lernens aber auch deshalb von Bedeutung, da Wissen über Geschichte – abgesehen von der ursprünglichen Neugier und der Lust der Horizonterweiterung – selbst ein großes Lernpotential aufweist. Dazu sind wenige Daten und Fakten notwendig. Denn die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution ermöglicht es jenseits einer detaillierten Ereignisgeschichte, Grundstrukturen der Moderne zu erschließen: von der Bedeutung von Menschenrechten bis hin zur Ausbildung des modernen Verfassungsstaats, von den Wandlungen des Revolutionsbegriffs bis hin zu Vorstellungen von der Machbarkeit von Geschichte. Schließlich wird wohl niemand – um ein weiteres Beispiel anzuführen – die Thematisierung des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht der Entscheidung fragwürdiger Politiker oder individuellem Dezisionismus überlassen wollen. Angesichts der Monstrosität der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen, angesichts der brennenden Fragen nach den Bedingungen der Errichtung und des Funktionierens von Diktaturen, angesichts der prägenden Wirkung des so genannten Dritten Reiches auf die bundesrepublikanische Demokratie und angesichts der Präsenz des Nationalsozialismus in der gegenwärtigen Geschichtskultur erscheint seine Behandlung im Geschichtsunterricht deutscher Schulen unverzichtbar. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind nur mittels entsprechender Qualifikation oder Kompetenzen zu erreichen, gehen aber über deren Beherrschung hinaus. Sie setzen Wissen voraus. Kurz: Kompetenzen ohne Inhalte sind leer.

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2.

Was heißt historisches Wissen?

Diese Frage wäre eine eigene Erörterung wert, da viele nicht immer zur Klärung beitragende Wortschöpfungen mit dem Begriff „Wissen“ begegnen und da dieser immer wieder gerne mit Adjektiven kombiniert wird wie „nutzlos“, „träge“ oder gar „tot“. Grundlage der vorliegenden Überlegungen ist ein weiter Wissens-Begriff, der verschiedene Aspekte berücksichtigt. An dieser Übersicht ist erkennbar, dass historisches Wissen deutlich mehr beinhaltet, als die gängige Vorstellung – „Daten und Fakten“ – nahelegt, und dass historisches Lernen in der Schule mehr umfasst als die Aneignung von deklarativem Wissen.22 Basiskonzepte Zeit – Erkenntnis – Gesellscha"

deklara"ves Wissen über Ereignisse Strukturen Prozesse

prozedurales Wissen über Verfahrensweisen Arbeitstechniken

metakogni"ves Wissen

konzep"onelles Wissen über Begriffe – Erklärungsmuster – (Alltags )Theorien

Geschichtskultur i. w. S. als „Wissensspeicher“ Familie, Gruppen, Medien, Wissenscha!...

Abb. 1: Historisches Wissen

Doch sind zentrale fachspezifische Denkoperationen wie Quellen interpretieren, Ursachen erörtern oder Urteile begründen an Kenntnisse über den zu verhandelnden Gegenstand gebunden, ohne sie schlicht nicht möglich. Daran wird deutlich, dass eine Diskussion der Inhalte des Geschichtsunterrichts stets in den Gesamtzusammenhang historischen Lernens etwa im Hinblick auf das Zusammenspiel von Zielen, Inhalten, Methoden und Medien eingebettet sein oder im Hinblick auf die Ausbildung von Kompetenzen reflektiert werden muss. Inhalte ohne geschichtsdidaktische Reflexion sind blind.23 Dies ist stets zu bedenken,

22 Dieser Übersicht liegt das heuristische Modell von Hilke Günther-Arndt zugrunde, ergänzt mit einigen Elementen von Christoph Kühberger. Vgl. mit entsprechenden Literaturhinweisen Baumgärtner (Anm. 12), S. 89–92. bes. S. 92, Abb. 20. 23 Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundungen zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012.

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wenn im Folgenden der Blick sich verstärkt auf das durch die geschichtswissenschaftliche Domäne bestimmte so genannte deklarative Wissen richtet.

3.

Welche Kriterien sind für die Auswahl und Strukturierung von Inhalten relevant?

Bei der Beantwortung dieser Frage gehe ich von vier Aspekten aus, die ich hier nur kurz skizzieren kann.24 Zum einen sind die Lernbedürfnisse und Erkenntnisinteressen der Kinder und Jugendlichen von Bedeutung. Diese lassen sich jedoch nur schwer allgemeinverbindlich bestimmen, sondern müssen in jeder Lerngruppe individuell erhoben und kommunikativ ausgehandelt werden. Sie sind zudem notwendig subjektiv begrenzt, können die Kinder und Jugendlichen doch mitunter gar nicht beurteilen, welche Sachverhalte für sie möglicherweise von Interesse sind, da sie sie noch gar nicht kennen. Einschlägige empirische Studien sind dabei hilfreich, haben jedoch ein Verfallsdatum und beziehen sich oft nicht explizit bzw. nur am Rande auf diese Einstellungen zu Geschichte.25 Zum zweiten sind die Kinder und Jugendlichen mit Grundfragen der Gegenwart konfrontiert, die für ihr Leben von Bedeutung sind und die über ihre persönlichen Interessen und Bedürfnisse hinausgehen. „Bildung ist Ausstattung zum Verhalten in der Welt“, postulierte zurzeit der Bildungsreform der 1970erJahre Saul B. Robinsohn und markierte damit eine deutliche Abkehr von materialen Bildungstheorien, ohne einseitig nur auf formale Bildung zu setzen.26 Dies können aktuelle Probleme sein, die historische Aufklärung verlangen. So wirft der Bürgerkrieg in Syrien die Frage nach der Geschichte des Staates auf: seine Entstehung nach dem Untergang des Osmanischen Reiches und die damit

24 Vgl. dazu Ulrich Mayer/Peter Gautschi/Markus Bernhardt: Themenbestimmung im Geschichtsunterricht der Sekundarstufen. In: Barricelli/ Lücke (Anm. 20) S. 378–404. In diesem Vorschlag sind die „geschichtswissenschaftlichen Dimensionen“ anders gefasst, umfassen etwa nicht die Struktur des Faches, während die „Schlüsselprobleme“ im Folgenden nur als Teil der Gegenwartsfragen begriffen werden, zu denen auch einige „Basisnarrative“ zu rechnen sind. 25 Überblick bei: Carlos Kölbl: Geschichtsbewusstsein – Empirie. In: Barricelli/Lücke (Anm. 20), S. 112–120, verweist auf S. 112 angesichts der Forschungslage auf die „Lückenhaftigkeit empirisch fundierten Wissens“. Informativ in diesem Zusammenhang: Markus Bernhardt: Einstellungen Jugendlicher gegenüber Geschichte. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 3 (2012) H. 1, S. 14–30. 26 Saul B. Robinsohn: Bildungsreform als Revision des Curriculum. In: Ders.: Erziehung als Wissenschaft, hrsg. v. Frank Braun/Detlef Glowka/Helga Thomas. Stuttgart 1973, S. 110–181, hier S. 132.

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zusammenhängenden historisch bedingten Besonderheiten gesellschaftlicher, politischer, kultureller und wirtschaftlicher Art. Darüber hinaus gibt es Gegenwartsfragen grundsätzlicher Art, die nicht mit dem aktuellen Konfliktherd verschwinden und mit denen sich Jugendliche früher oder später auseinandersetzen müssen. Wolfgang Klafki hat sie epochaltypische Schlüsselprobleme genannt.27 Die Sicherung des Friedens ist ein Beispiel. Auch hier kann historisches Lernen zur Aufklärung beitragen, indem es den Ausbruch von Kriegen sowie das Gelingen bzw. das Scheitern von Friedensbemühungen thematisiert. Ein anderes ist die Bewahrung der Umwelt. Dies kann sinnvoll nicht ohne Kenntnisse über die Industrialisierung diskutiert werden.28 Schließlich stößt man dabei auf Grundbedingungen menschlichen Lebens, auf existentielle Probleme und grundlegende Fragen, wie etwa die Sicherung des Lebensunterhalts, die Regelung des Zusammenlebens, die Durchsetzung von Herrschaft, die Verteilung von Ressourcen oder die Deutung der Welt. Zum dritten ist die Geschichtswissenschaft von Bedeutung. Auch wenn es weder darum gehen kann, im Sinne einer Abbilddidaktik das gesammelte historische Wissen in schülergerechter Form zu vermitteln, noch allein darum, wissenschaftspropädeutisch auf eine Geschichtsstudium vorzubereiten, bleibt die akademische Bezugsdisziplin des Schulfaches ein zentraler Orientierungspunkt für inhaltliche Entscheidungen. Sollen sich die Jugendlichen in einer wissenschaftlich geprägten Welt zurechtfinden, müssen sie sich mit den Grundlagen, Verfahrensweisen und Ergebnissen der Geschichtsforschung auf sachlich angemessene und altersgerechte Weise beschäftigen. Wichtig sind dabei zunächst Kenntnisse der Struktur des Faches: der Gegenstandsbereiche, Methoden sowie spezifischen Erkenntnismöglichkeiten. So kann deutlich werden, dass Quelleninterpretation für die Disziplin basal ist, dass Ereignis, Entwicklung und Struktur konstituierenden Merkmale historischer Sachverhalte sind und Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur vier zentrale Dimensionen historischen Lebens darstellen. Ein solches geschichtstheoretisches Wissen ist unverzichtbar, um sich dann selbst historische Sachverhalte erschließen zu können.29 Darüber hinaus stellt die Geschichtswissenschaft eine Fülle von validen Kenntnissen über Sachverhalte aus der Vergangenheit zur Verfügung, die methodisch erarbeitet und intersubjektiv kontrolliert sind. Das ist trotz aller Forschungs27 Wolfgang Klafki: Grundzüge eines neuen Allgemeinbildungskonzepts. Im Zentrum: Epochaltypische Schlüsselprobleme. In: Ders.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim/Basel 4. Aufl. 1994, S. 43–81. 28 Einen entsprechenden, allerdings recht umfangreichen Fragenkatalog für das historische Lernen präsentiert Pandel (Anm. 20), S. 119–124. 29 Interessante Hinweise finden sich dazu bei Hans-Jürgen Pandel: Geschichtstheorie. Eine Historik für Schülerinnen und Schüler – aber auch für ihre Lehrer. Schwalbach/Ts. 2017.

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kontroversen und trotz aller Wandlungen geschichtswissenschaftlicher Interpretationen belastbares Wissen, das Jugendlichen nicht in vorenthalten werden darf. Die entscheidende Rolle spielt aber – zum vierten – die Geschichtsdidaktik. Ihr obliegt es, aus der Analyse der genannten Faktoren mit Hilfe ihres eigenen Instrumentariums Inhalte mit Lernpotential zu konstruieren. Dabei greift sie etwa auf Kompetenzmodelle zurück und untersucht, ob bestimmte Inhalte besonders kompetenzfördernd sind bzw. ob bestimmte Kompetenzen bestimmte Inhaltsentscheidungen erfordern.30 Von besonderer Bedeutung sind weiterhin Strukturierungskonzepte, die aus der Arbeit der Historiker entliehen, jedoch zur Gestaltung von Lernprozessen geeignet sind. Querschnitt, Längsschnitt, Epochensequenz, Biografie sind einige Beispiele.31 Staatliche Geschichtspoli#k GESCHICHTSDIDAKTIK Kompetenzen Strukturierungskonzepte … GESCHICHTSWISSENSCHAFT Struktur des Faches Räume und Epochen Begriffe gesicherte Erkenntnisse …

INHALTE MIT LERNPOTENTIAL

GEGENWARTSFRAGEN historische Dimension aktueller Probleme epochaltypische Schlüsselprobleme …

LERNENDE Erkenntnisinteressen Lernbedürfnisse…

Geschichtskultur Geschichtsbewusstsein in der Gesellscha"

Abb. 2: Kriterien bei der Auswahl und Strukturierung von Inhalten

Die diskursive Abwägung und Abgleichung dieser nur kurz skizzierten Faktoren ermöglicht der Geschichtsdidaktik eine inhaltliche Strukturierung des historischen Lernens in der Schule. Das ist leichter gesagt als getan.

30 Einen guten Überblick bieten Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Barricelli/ Lücke (Anm. 20), S. 207–235. 31 Baumgärtner (Anm. 12), S. 92–96.

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4.

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Wie könnte ein idealtypischer Lehrgang aussehen und welche Probleme sind dabei zu bedenken?

Deshalb soll, um eine Diskussion anzuregen, ein konkreter Vorschlag präsentiert werden, wie die inhaltliche Ausgestaltung eines historischen Lernprozesses aussehen könnte. Er geht einerseits von der Gliederung in Großepochen aus, die trotz aller Vorbehalte – etwa dem darin enthaltenen eurozentrischen Blickwinkel – nach wie vor – bis hin zur Benennung geschichtswissenschaftlicher Lehrstühle und Abteilungen – einen zeitlichen Orientierungsrahmen bietet. Andererseits geht er von der Unterscheidung in verschiedene „Basisdimensionen“ – Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur – aus, wie sie Hans-Ulrich Wehler vorgeschlagen hat.32 Es handelt sich um kein fertiges Konzept, sondern um eine mögliche Antwort auf jene Fragen, denen sich eine geschichtsdidaktische Diskussion über Inhalte des historischen Lernens stellen muss. (a) Zunächst ist die grundsätzliche Frage zu klären: Wird durch die Erörterung wünschenswerter, ja verbindlicher Inhalte nicht wieder ein Kanon historischen Wissens errichtet, der den Ansprüchen eines aufgeklärten bzw. kompetenzorientierten historischen Lernens in der Schule diametral entgegensteht?33 Kanonisches Wissen war ursprünglich heiliges Wissen und daher per se dem Diskurs entzogen. Gleichwohl spielen für das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft bestimmte historische Sachverhalte eine bedeutsame, ja entscheidende Rolle, sei es eine mythisch aufgeladene heroische Gründungserzählung, sei es eine gemeinschaftsstiftende traumatische Erfahrung einer Katastrophe. Historisches Lernen, das der Aufklärung verpflichtet ist, dient nicht der unreflektierten Tradierung etablierter Deutungsmuster oder der rituellen Vergegenwärtigung identitätsstiftender Erfahrungen, sondern thematisiert sie selbst als nach den Regeln der geschichtswissenschaftlichen Kunst zu analysierende Lerngegenstände. Gleichwohl lassen sich, ausgehend von den oben skizzierten Kriterien für die Auswahl und Strukturierung von Inhalten, sinnvolle und ertragreiche Entscheidungen treffen und begründen, ohne ein verbindliches Geschichtsbild zu dekretieren. Insofern sind die Inhalte des Geschichtsunterrichts kein fester Kanon, jedoch das Ergebnis einer immer wieder neu auszuhandelnden Kano32 Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815. München 3. Aufl. 1996, S. 6–12. Als konkrete Anregung diente u. a. Joachim Rohlfes (Hrsg.): Geschichtsunterricht. Entwurf eines Curriculums für die Sekundarstufe I. Stuttgart 1978, S. 53, Anlage 2. Schließlich spielten auch Überlegungen der Anschlussfähigkeit an bestehende Lehrpläne mit, die trotz der Kompetenzorientierung weithin an einem chronologischen Durchgang und an einer nationalgeschichtlichen Ausrichtung festhalten. 33 Vgl. dazu ausführlich: Markus Bernhardt/Ulrich Mayer/Peter Gautschi: Historisches Wissen – Was ist das eigentlich? In: Kühberger (Anm. 23) , S. 103–117.

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Wahl(pflicht)thema

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Wahl(pflicht)thema

Imperium Romanum

British Empire E

Wahl(pflicht)thema

Abb. 3: Modell-Lehrgang für das historische Lernen in der Schule

nisierung,34 die bestimmte Themen als möglich, geeignet bzw. unverzichtbar bestimmt. (b) Welche Struktur ist für die inhaltlichen Vorgaben geeignet? Konkret gefragt: Soll ein enges, auf das unbedingt Notwenige reduziertes Kerncurriculum formuliert werden, ein umfassender Auswahlkatalog, der Themen auflistet und aus dem sich die jeweilige Lerngruppe bedient, ein weit gespannter Bezugsrahmen, der nur grobe zeitliche und inhaltliche Vorgaben macht, oder ein modellhafter Lehrgang, der einen in sich schlüssigen historischen Lernprozess über mehrere Lernjahre strukturiert? Und: Soll der Lehrgang grundsätzlich für alle historischen Lernprozesse in der Schule gelten oder muss er schulartspezifisch strukturiert werden? Weiterhin: Soll es ein Vorschlag für einen eigenständigen Geschichtsunterricht sein oder bewusst fächerverbindende Anknüpfungspunkte, etwa mit den Fächern der politischen Bildung, suchen und die Überschneidungen in den Mittelpunkt stellen? Schließlich: Ist historisches Lernen vornehmlich durch den methodischen Umgang und die Ausbildung bestimmter Qualifikationen gekennzeichnet, ist also ein Kompetenzcurriculum erwünscht 34 Pandel (Anm. 20), S. 73, spricht von „Kanonisierung“ als einem Verfahren, „das bestimmten und Gruppen erlaubt einen ,Kanon auf Zeit‘ zu bilden. Dabei handelt es sich nicht um einen überzeitlichen, sondern um einen Kanon, der nicht nur zur Zukunft, sondern auch zu[r] Vergangenheit offen ist“.

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oder vollzieht sich die Kompetenzentwicklung im Zuge der Auseinandersetzung mit historischen Sachverhalten, ist also ein Sachcurriculum notwendig?35 Der vorliegende modellhafte Lehrgang geht idealtypisch von einem vierjährigen Geschichtsunterricht an weiterführenden Schulen aus und präsentiert dafür einige fachlich konzipierte Themenvorschläge, die eine allgemeine Basis für ein eigenständiges Unterrichtsfach Geschichte darstellen könnten. Aufgrund der oben skizzierten Überlegungen zur Rolle der Inhalte im historischen Lernen steht der jeweilige historische Sachverhalt im Mittelpunkt, bei dessen Analyse und Beurteilung Kompetenzen geschult werden. Die Orientierung des Lehrgangs an einzelnen Themen wiederum ergibt sich aus den Verfahrensweisen der Geschichtswissenschaft, die, ausgehend von einer Fragestellung, einen historischen Sachverhalt erschließt und zu belastbaren Ergebnissen kommt. (c) Wie verbindlich kann ein solcher modellhafter Lehrgang sein und wie viel Freiräume muss er bieten? Dabei ist zu bedenken, dass Geschichte als Unterrichtsfach keine stringente Sachlogik aufweist, aus der sich grundlegende Wissensbestände oder ein systematisches Vorgehen ableiten ließen. Diese Schwierigkeiten können jedoch kein Grund dafür sein, auf die Erörterung geeigneter Inhalte zu verzichten. Eine monolithische Konzeption ist, wie bereits ausgeführt, auch nicht wünschenswert, da es in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht das Ziel sein kann, ein festes, kanonisiertes Geschichtsbild zu vermitteln. Die Jugendlichen müssen aber dazu befähigt werden, sich an dem gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess über relevante historische Sachverhalte zu beteiligen und sich mit historisch durchwachsenen Gegenwartfragen auseinanderzusetzen. Insofern lassen sich diskursiv begründete Themen verbindlich festlegen. Die Geschichte des Nationalsozialismus ist dafür ein Beispiel. Darüber hinaus erfordert das historische Lernen von der Sache her Freiräume, die die jeweilige Lerngruppe selbst gestalten können sollte. Dies kann ein aktuelles Thema sein, dessen Vorgeschichte erschlossen werden; dies kann ein regionales Beispiel aus dem Umfeld der Schülerinnen und Schüler sein; dies kann die vertiefte Auseinandersetzung mit einem bereits behandelten Sachverhalt sein. Da für ein solches wissenschaftsorientiertes bzw. projektorientiertes Arbeiten oft nur wenig Zeit bleibt, erscheint es sinnvoll, in jeder Jahrgangsstufe ein solches Wahlthema oder Wahlpflichtthema vorzusehen. (d) Eine weitere Frage berührt den Stellenwert bestimmter historischer Sachverhalte: Sollen Sie als einzelne Einheiten thematisiert werden oder sind sie integrale Bestandteile potentiell aller Themen? Ein Beispiel dafür ist die Ge35 Bodo v. Borries: Förderung von „Historischer Kompetenz“: Kategorienfähigkeit, MethodenSicherheit und Reflexions-Fähigkeit satt hergebrachter Stoffdominanz, verkürzender Quellenarbeit und vorgegebener Deutung. In: Ders. Historisch Denken Lernen – Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe. Opladen u. a. 2008, S. 217–240.

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schlechtergeschichte. Dabei ist einerseits denkbar, bestimmte Aspekte, wie z. B. die Frauenbewegung im 19. oder 20. Jahrhundert, als eigenes Thema vorzusehen. Andererseits erscheint diese Dimension als so zentral für die geschichtliche Entwicklung insgesamt, dass es selbstverständlich sein sollte, sie immer wieder zur Sprache zu bringen und nicht nur in einer einzelnen Sequenz. Ein anderes Beispiel ist die Jüdische Geschichte, die für sich behandelt werden kann oder als Teil allgemeiner historischer Zusammenhänge. (e) Dann stellt sich die geschichtspädagogische Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der Chronologie? Einerseits sind die Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler nach mehreren Jahren Geschichtsunterricht äußerst bescheiden, was ja auch nicht verwundert, wenn einzelne Themen nur einmal in wenigen Stunden angesprochen werden.36 Deswegen findet sich im vorliegenden Beispiel auch kein chronologischer Durchgang. Vielmehr wurden gemäß dem oben explizierten Kriterien Themen ausgewählt, die zunächst für sich ein hohes Lernpotential aufweisen sollten. Gleichwohl nähert sich der Lehrgang zusehends der Gegenwart an. Andererseits ist die Chronologie ein lebensweltlich vertrautes und unmittelbar einsichtiges Ordnungsschema, dessen lernförderliche Wirkung nicht von vornherein in Frage gestellt werden sollte. Es ist im Hinblick auf das historische Lernen allerdings eine eingehende Diskussion nötig über den Wert von Daten und Fakten, von Überblicken und Epocheneinteilungen, über den Nutzen absoluter und relativer Chronologie, über die orientierende Kraft grundlegender Entwicklungslinien und das historische Verständnis fördernder Deutungsperspektiven – all dies wird mit dem oft pauschal verwendeten Begriff „Chronologie“ assoziiert.37 Auch die verschiedenen Strukturierungstypen – vom Querschnitt bis zum Längsschnitt, von der Fallstudie bis zur Epochensequenz – erfordern eine zeitliche Kontextualisierung und eine Einordnung in ein immer dichter zu knüpfendes Netz historischen Wissens. 36 Entsprechende empirische Untersuchungen belegen dies und führen regelmäßig zu öffentlichem Entsetzen über die mangelnden historischen Kenntnisse von Jugendlichen. Frühe Ergebnisse bei Bodo v. Borries: Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Eine repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland. Weinheim/München 1995. Christoph Hamann: Die „staubige Straße der Chronologie“. Ein Plädoyer für eine stärkere Subjekt- und Kompetenzorientierung des historischen Lernens. In: Jens Hüttmann/Anna von Arnim-Rosenthal (Hrsg.): Diktatur und Demokratie im Unterricht: Der Fall DDR. Berlin 2017, S. 75–87. Ein Beispiel für die öffentliche Skandalisierung: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/schueler-wissen-wenig-ueber-ddr-und-natio nalsozialismus-a-841157.html (aufgerufen am 15. 2. 2018). 37 Bodo von Borries: Überlegungen zu einem doppelten – und fragmentarischen – Durchgang im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52 (2001), S. 76–90, fordert: „Eine genaue Analyse dessen, was unter ,chronologischem Durchgang‘ bzw. ,Chronologie‘ bereits alles verstanden wurde oder verstanden werden kann, ist überfällig“ (S. 76, Anm. 2).

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(f) Die Frage, ob sich der Geschichtsunterricht auf die Vorgeschichte der Gegenwart, mithin die letzten zwei Jahrhunderte beziehen sollte, ist nicht nur angesichts der Breite der wissenschaftlichen Bezugsdisziplin zu verneinen; für die Auswahl der Lerninhalte sollte vielmehr die Geschichte als Ganzes zur Verfügung stehen – alle Zeiten, alle Räume, alle Dimensionen.38 Auch wenn die Neueste Geschichte und die Zeitgeschichte sicher einen prominenten Platz einnehmen werden, begegnen den Schülerinnen und Schüler in ihrer modernen Lebenswelt viele vormoderne Spuren, Tradition und Prägungen und sie bewegen sich zusehends in internationalen Kommunikationswelten. Wichtig ist stets der Gegenwartsbezug, der sich allerdings auch als bewusste Abweichung von der bekannten Welt, ja als Exotik zeigen kann. Es geht also um die historische Aufklärung der eigenen Lebenswelt ebenso wie um das geschichtlich begründete Verständnis des Fremden. Allerdings erscheint es sinnvoll, vom Hier und Jetzt der Kinder und Jugendlichen, gleich welcher Herkunft sie sind, auszugehen. Wenn sie beispielsweise gelernt haben, ein christliches Kirchengebäude in ihrem Dorf oder in ihrem Stadtviertel historisch zu verstehen, kann dies in Bezug zu anderen Sakralbauten, Religionen und damit verbunden Lebensweisen gesetzt werden. (g) Bei der Strukturierung der einzelnen Themen stellt sich die Frage, ob sie unter einer bestimmten Perspektive zu erörtern sind oder ob sie nur ein lernrelevantes Inhaltsfeld beschreiben. Zugespitzt: Darf der historische Sachverhalt für sich oder sollte er im Hinblick auf eine bestimmte vorgegebene Fragestellung betrachtet werden? Sollen also im weiteren Sinne Inhalte oder im engeren Sinne Themen bestimmt werden? So kann die kulturelle Vielfalt im späten Imperium Romanum für sich untersucht werden, aus der die Schülerinnen und Schüler dann sie interessierende Fragen entwickeln, oder soll die spätantike Situation von vornherein als mögliche Kontrastfolie für den heutigen Umgang mit Diversität dienen. (h) Die Rahmenthemen „Was ist Geschichte?“ und „Wozu Geschichte?“ heben ausdrücklich darauf ab, die Struktur des Faches zu thematisieren, seine Erkenntnismöglichkeiten und seine Erkenntnisgrenzen, das methodische Vorgehen und die Belastbarkeit der Ergebnisse. Der Mangel an Geschichtstheorie, den Hans-Jürgen Pandel zu Recht beklagt,39 kann so zwar nicht behoben werden, wenn solche Fragen nicht integraler Bestandteil jedes Lernprozesses werden, aber sie sind es wert, eigens thematisiert zu werden. Insgesamt vereinigt der vorliegende Vorschlag Themen aus allen historischen 38 Vgl. die bereits zitierte Erklärung von VHD und VGD: https://www.historikerverband.de/de/ presse/pressemitteilungen/gemeinsame-erklaerung-des-vhd-und-des-vgd-zum-schulfachgeschichte.html (aufgerufen am 15. 2. 2018). 39 Pandel (Anm. 29).

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Großepochen und aus allen wichtigen Dimensionen geschichtlichen Lebens. Er geht davon aus, dass die einzelnen Inhalte geschichtswissenschaftlich fundiert, persönlich bedeutsam, gegenwartsrelevant und hinreichend geeignet sind, um den Ansprüchen eines zeitgemäßen historischen Lernens gerecht zu werden. Eine eingehendere Begründung der Auswahl und Strukturierung der einzelnen Inhalte muss hier unterbleiben. Dies fällt insofern weniger ins Gewicht, als die vorliegenden Ausführungen zunächst grundsätzlich auf das Problem aufmerksam machen und solche Diskussionen anstoßen wollen.

5.

Lässt sich die fehlende Sachlogik des Faches durch ein Wissensnetz abfedern?

Die Zusammenstellung verschiedener Themen für den Geschichtsunterricht wirft schließlich die Frage nach ihrem inneren Zusammenhang auf. So lässt sich einerseits dezidiert die Position vertreten, dass historisches Lernen – ähnlich wie die Geschichtswissenschaft – sich auf inhaltlich eng begrenzte, aber intensiv zu erörternde Fragestellungen beschränken soll. Andererseits ist aber auch zu überlegen, ob die Bezüge zwischen den einzelnen Themen nicht auch interessante Zusammenhänge und anregende Deutungsperspektiven eröffnen. Dabei kann es nicht um einen gleichsam kanonisierten historischen Überblick gehen, aber es lassen sich doch manche zentralen Ereignisse, prägende Strukturen und grundlegende Entwicklungen identifizieren, die der Orientierung der Jugendlichen in der Geschichte dienen und das historische Argumentieren erleichtern können. So lassen sich etwa in den verschiedenen Basisdimension über die Großepochen hinweg wichtige Herrschaftsformen historisch verorten, zentrale Wandlungen der Wirtschaftsweise identifizieren, sich verändernde gesellschaftliche Strukturen näher bestimmen und kulturelle Entwicklungen beschreiben. Eine solche Matrix könnte und sollte sich aus der näheren Beschäftigung mit einzelnen Themen ergeben und nicht autoritativ vorgegeben werden. So liefert die nähere Betrachtung der Entstehung der Agrargesellschaft und der Industrialisierung bereits wichtige Wissenselemente für die Dimension „Wirtschaft“, die dann immer weiter differenziert werden und die die Grundlage für entsprechende historisch fundierte übergreifende Fragestellungen wie z. B. „Was bedeutet Fortschritt?“ bieten können. Im Bereich „Politik“ lassen sich verschiedene Formen von Mitsprache an historischen Beispielen idealtypisch bestimmen und auf neue Zusammenhänge übertragen und differenzieren. Ist hier die Frage „Wer übt Herrschaft aus?“ leitend, kann es im Bereich „Gesellschaft“ diese sein: „Wie wird der gesellschaftliche Reichtum verteilt?“. Dabei kann die prägende Bedeutung der Ständegesellschaft für das europäische Mittelalter und

Abb. 4: Beispiel eines Wissensnetzes

Demokratien und Diktaturen

Monarchien Aristokratien

Fotografie/Film Digitalisierung

Buchdruck

Mündlichkeit und Schriftlichkeit

KULTUR

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die Frühe Neuzeit herausgearbeitet und mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden Klassengesellschaft kontrastiert werden. Im Bereich „Kultur“ bietet im Hinblick auf Fragen der Weltdeutung die Rolle der Religion einen Ansatzpunkt, etwa im Hinblick auf die Ausbreitung des Christentums einerseits und die verschiedenen Formen der Säkularisierung andererseits. Diese Beispiele zeigen, dass sich mit Hilfe weniger Begriffe und Zeitangaben entlang zentraler Fragestellungen ein einfaches Wissensnetz knüpfen lässt, das mit der Zeit immer dichter wird.

6.

Ausblick

Diese Überlegungen sind wie gesagt als Aufforderung zur Diskussion und vielleicht auch als Diskussionsgrundlage gedacht. Denn, um es noch einmal zu wiederholen: Eine geschichtsdidaktisch informierte Diskussion um Inhalte des historischen Lernens ist notwendig, ja überfällig. Diese darf jedoch nicht isoliert als Debatte über Sinn und Unsinn eines Kanons historischen Wissens geführt werden, sondern sie muss stets die Lernbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen, die vielfältigen Herausforderungen der Gegenwart, die Forschungsergebnisse der fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplin und die theoretischen Standards der Geschichtsdidaktik aufeinander beziehen. Mit einem wie auch immer konzipierten Vorschlag bestünde dann die Chance, den geschichtspolitischen Dezisionismus, durch den Lehrplanentscheidungen gekennzeichnet sind, zu beeinflussen und vielleicht sogar zu überwinden. Vor diesem Hintergrund gewinnen dann die Quizfragen von „Wer wird Millionär?“ eine andere Bedeutung. „Zu welchem Bundesland schlossen sich 1952 drei bis dahin selbstständige Länder zusammen?“ Auch mit dieser Frage hätte man bei Günter Jauch eine Million gewinnen können. Der damalige Kandidat, ein Chemielehrer übrigens, zog jedoch zurück.40 Die richtige Antwort kann allerdings, wenn Jugendliche sich in der Schule mit der Entwicklung ihres Bundeslands im Südwesten der Republik auseinandergesetzt haben, auch Ausdruck gelingenden historischen Lernens sein – und nicht nur totes Wissen. Auch wenn sie damit keine Million gewinnen, mithin nicht im Wortsinn reich werden, auch wenn sie damit nicht unbedingt klug für ein anderes Mal oder gar weise für immer werden, wäre das am Ende der Schulzeit erworbene historische Wissen für sie eine persönliche Orientierungshilfe und Bereicherung.

40 http://www.rp-online.de/panorama/fernsehen/chemielehrer-aus-nrw-gewinnt-500000-eu ro-aid-1.2031800 (aufgerufen am 15. 2. 2018).

Markus Bernhardt

Historia magistra vitae? Zum Gegenwarts- und Zukunftsbezug des Geschichtsunterrichts1

Problemskizze Im September 2017 fand der Kolumnist Georg Diez auf Spiegel Online für den seiner Ansicht nach zentralen Konflikt unserer Zeit folgende griffige Formel: „Das Alte kämpft gegen eine Zukunft, die längst begonnen hat“. Seine Gegenwartsanalyse fußte auf der Beobachtung, dass das „eingeübte System“ der „Politik der Interessengegensätze der sozialen Marktwirtschaft“ nicht mehr funktioniere. Und zwar, weil sich die Rahmenbedingungen für eine derartige Politik in tektonischem Ausmaß verändert hätten. Der Autor beklagt, dass die „digitalen Disruptionen, die Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Alltag neu justieren, die Exzesse des ungeregelten Kapitalismus, die zu immer mehr Ungleichheit führen, die inneren und äußeren Widersprüche dieser Weltordnung“ in den ritualisierten Verfahren der derzeitigen Politik gar nicht vorkämen. Er sieht eine „deprimierende Mutlosigkeit, sich grundlegenden Fragen zu stellen“. Stattdessen erkennt er eine „gesellschaftliche Verabredung, das Neue in der Welt zu ignorieren“. So erkläre sich der Schock, „den etwa die Geflüchteten bedeuteten, die im Sommer vor zwei Jahren scheinbar plötzlich und aus dem Nichts in dieses Land kamen. Sie waren die Boten des Neuen, sie erzählten von einer Zukunft, die nicht einfach ist, und der Widerstand gegen die Geflüchteten ist auch ein Widerstand gegen diese Zukunft“.2 Der Autor spricht dabei von Ereignissen, von denen er annimmt, dass sie kommen werden, vor denen die Gesellschaft aber seiner Ansicht nach die Augen verschließe und so tue, als könne sie so weitermachen wie bisher. Business as usual. Was hat diese Zukunft(-serzählung) mit dem Geschichtsunterricht und sei1 Ich danke Dr. Phillipe Weber, Universität Zürich, für sein sorgfältiges Lektorat dieses Beitrag und für seine hilfreichen Hinweise zur Gestaltung dieses Manuskripts. 2 Georg Diez: Zentraler Konflikt unserer Zeit. Das Alte kämpft gegen eine Zukunft, die längst begonnen hat. In: Spiegel Online (3. 9. 2017), Online im Internet: http://www.spiegel.de/kul tur/gesellschaft/der-kampf-des-alten-gegen-das-neue-kolumne-von-georg-diez-a-1165840. html (aufgerufen am 31. 3. 2018).

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nen Inhalten zu tun? Die Situation ist vielleicht dramatischer, als manche annehmen. Folgt man der Argumentation der Erziehungswissenschaftler Sabine Reh und Roland Reichenbach, könnte man vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation den Geschichtsunterricht abschaffen. Denn sie sehen die Herausforderung der Moderne vor allem in der „Einsicht in die Kontingenz von Ordnungen, d[em] Rechnen mit Kontingenz, de[m] Bruch mit der Vorstellung von kontinuierlichen Verläufen“. Damit verbunden sei, so Reichenbach, auch der endgültige „Bruch mit dem Topos von der Geschichte als Lehrmeisterin“.3 Und in der Tat: Der derzeit in Deutschland erteilte Geschichtsunterricht folgt weiterhin dem linearen Fortschrittsnarrativ, das in vielerlei Variationen von der Überlegenheit des Westens oder vom Triumph der Moderne über die Vormoderne erzählt. Für die Herausforderungen der Zukunft hat dieses Narrativ aber erheblich an Überzeugungskraft verloren.4 Was soll der Geschichtsunterricht zum Gegenwarts- und Zukunftsverständnis von Schülerinnen und Schülern beitragen, wenn dort regelmäßig ein kontinuierlicher Verlauf nach einem linearen kausalgenetischen Nacheinander konstruiert wird, wo doch die eigene Gegenwart der Lernenden von einem Nebeneinander an Geltungsansprüchen ganz unterschiedlicher Verlaufserzählungen geprägt ist. Was könnte eine Alternative sein? Was sollte stattdessen erzählt werden? Um eine solche Alternative zu skizzieren und um Reh und Reichenbach zu widersprechen, soll im Folgenden dafür plädiert werden, die Ziele und Inhalte des Geschichtsunterrichts konzeptionell wieder stärker an die Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart für die Zukunft zu koppeln. Denn ein Geschichtsunterricht, der die Zukunft nur als eine Art Weitererzählung des gegenwärtigen Gewordenseins konzipiert und für die Zukunft eine kontingenzdämmende Kontinuität verspricht, hat zur Orientierung nicht viel zu bieten, denn er kämpft „gegen eine Zukunft, die längst begonnen hat“. Die Erzählungen von Diez sowie von Reh und Reichenbach liefern diese Alternative jedoch nicht. Denn bei Lichte betrachtet liegen ihren Deutungen ebenfalls teleologischen Narrationen zugrunde, die im Mantel der Aufklärung auftreten und eine Zukunftsprognose privilegieren, von der sie glauben, sie weise im Gegensatz zu der von ihnen beanstandeten in die „richtige“ Zukunft. Im Gegensatz zu den gestrigen Traditionalisten wüssten sie schon, was genau zu tun sei, um die Katastrophe noch abzuwenden. Derartige Narrationen fördern aber nicht die „Einsicht in die Kontingenz von Ordnungen“, machen Kontingenz 3 Sabine Reh/ Roland Reichenbach: Zukünfte – Fortschritt oder Innovation? Eine Einleitung zum Thementeil. In: Zeitschrift für Pädagogik 60 (2014) H. 1, S. 1–8, hier S. 3f. 4 Ähnlich analysiert Christoph Hamann: Die „staubige Straße der Chronologie“. Ein Plädoyer für eine stärkere Subjekt- und Kompetenzorientierung des historischen Lernens. In: Jens Hüttmann u. a. (Hrsg.): Diktatur und Demokratie im Unterricht: Der Fall DDR. Berlin 2017, S. 75–87.

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nicht sichtbar, sondern hegen sie umgehend wieder ein – indem sie wiederum die Historia als magistra vitae bemühen. Diese Narrationen, so die vertretene These, halten jedoch keine angemessenen Antworten auf die Herausforderungen der vielstimmigen Gegenwart bereit. Deshalb schlage ich vor, die Kontingenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft selbst stärker in den Vordergrund des Lernprozesses zu stellen. Um ein „Rechnen mit Kontingenz“ als Lerngegenstand zu adressieren, darf nicht nur die eine eigetretene Entwicklung, sondern müssen die Möglichkeitshorizonte herausgearbeitet werden, die als alternative Zukünfte in der vergangenen Gegenwart lagen.5 Auf diese Weise kann man zeigen, dass Gegenwarten immer verschiedene mögliche Wege in die Zukunft und nicht nur den einen des Geschichtsbuchs bereithalten. Dazu soll erstens das Prinzip des Gegenwarts- und Zukunftsbezugs neu justiert und zweitens die Forderung erhoben werden, den Begriff der Kontingenz als geschichtsdidaktische Kategorie einzuführen.

1.

Das Prinzip des Gegenwarts- und Zukunftsbezugs

Über den Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht wurde intensiv um 1970 gestritten, als es in der Auseinandersetzung um die Einführung der Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre um den Bildungswert des Faches Geschichte ging. Während Klaus Bergmann und andere den Gegenwartsbezug zum didaktischen Prinzip erheben wollten, um zum Zweck der Orientierung einen „konkreten Bezug… zwischen Schülerinteresse und Wissenschaftswissen“ herzustellen,6 sahen andere in dieser Zwecksetzung eine Verkürzung der Geschichte auf eine „Vorgeschichte der Gegenwart“. Thomas Nipperdey kritisierte 1972: „Die Vergangenheit wird unter diesem Aspekt als Vorgeschichte angesehen. Die Vergangenheit aber ist mehr als Vorgeschichte, sie ist nicht eine ,Pappelallee‘, die auf uns zuläuft, sie ist mit der Fülle des Untergegangenen und Abgebrochenen etwas Eigenes, das macht ihren Charakter aus und erregt das unbefangene Interesse dessen, der sich ihr zuwendet.“7 Insgesamt war diese Auseinandersetzung kein elegantes intellektuelles Florett-Gefecht, sondern man griff bei der Wahl der Waffen eher in die Kiste mit den großen Kalibern. Was war der Grund für diese Heftigkeit? Geschichtstheoretisch war die Frage nach der Gegenwarts- und Zukunftsbe5 Markus Bernhardt u. a. (Hrsg.): Möglichkeitshorizonte. Zur Pluralität von Zukunftserwartungen und Handlungsoptionen in der Geschichte. Frankfurt/New York 2018. 6 Klaus Bergmann: Gegenwarts- und Zukunftsbezug, in: Ders. u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Düsseldorf 3. Aufl. 1985, S. 233. 7 Thomas Nipperdey : Über Relevanz. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 23 (1972) H. 10, S. 577–596, hier S. 593.

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zogenheit von Geschichte längst entschieden. Den Kontrahenten war bewusst, dass Geschichte als Konstruktion, damals Rekonstruktion, selbstverständlich erst durch eine Frage aus der Gegenwart entsteht und dass dieser Gegenwartsbezug eine unhintergehbare Voraussetzung historischer Forschung ist. Darin lag also nicht der Grund für die großen Leidenschaften. Ursache waren vielmehr Befürchtungen, der jeweils andere könne ein gesellschaftliches Deutungsmonopol über den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlangen. Während Thomas Nipperdey und andere Bergmann vorwarfen, historische Phänomene nur dann für relevant zu halten, wenn sie zu seinem normativen Gesellschaftsbild einer erwünschten Zukunft passten, beschuldigten die Geschichtsdidaktiker die Historiker, den – geschichtstheoretisch notwendigen – Gegenwarts- und Zukunftsbezug ihrer Forschung bewusst im Dunkeln zu lassen. Sie würden damit gleichsam unreflektiert die Geschichte der alten, weißen Männer weiterschreiben. Weil sie ihre eigenen gegenwarts- und zukunftsbezogenen Absichten nicht reflektierten, führe der bürgerlich-kapitalistische Weltgeist ihre Feder, ohne dass sie dies überhaupt wahrnähmen. Diese Auseinandersetzung ist nicht entschieden worden, sondern sie lebt in der Diskussion zwischen Inhalts- oder Kompetenzbezug bis heute weiter.8 Innerhalb der Geschichtsdidaktik kam es in der Folge zur Ausbildung von verschiedenen „Schulen“, die sich auch in ihrer jeweiligen Auffassung vom Gegenwartsbezug9 unterschieden und in eher traditionelle oder eher progressive Richtungen tendierten.10 Zwischen diesen Richtungen wurden jedoch keine grundsätzlichen Kontroversen ausgetragen, sondern theoretisch ist die Diskussion auf dem Stand der 1970er Jahre geblieben.11 Um nun zu einer aktuellen Neujustierung des Gegenwarts- und Zukunftsbezugs zu kommen, sollte man daher nicht wieder die Unterschiede in der Argumentation der Kontrahenten betrachten, sondern die Übereinstimmung. Denn erst in dieser damaligen Übereinstimmung wird der Unterschied zu heute zu finden sein. Beide Seiten warfen sich vor, die jeweils andere habe das falsche Zukunftskonzept. Worin sie 8 Ulrich Mayer : Keine Angst vor Kompetenzen: Kompetenzorientierung – eine typologische, historische und systematische Einordnung. In: Geschichte für heute 7 (2014) H. 3, S. 6–19. 9 Vgl. den Sammelband von Rolf Schörken/Klaus Bergmann (Hrsg.): Der Gegenwartsbezug der Geschichte. Stuttgart 1981. 10 Bodo v. Borries: Historisch Denken Lernen. Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe. Opladen u. a. 2008, S. 20–26, sieht die Geschichtsdidaktik erst am Beginn der Einlösung ihrer „Postulate“ aus den frühen 70er Jahren. Vgl. auch die „Geschichtsdidaktischen Positionen“ in Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. Göttingen 1986, S. 177–191. 11 Ausdruck verliehen wurde diesem diskursiven Stillstand 2012 durch den eher synoptischen Beitrag von Thomas Martin Buck: Lebenswelt- und Gegenwartsbezug. In: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, Schwalbach/ Ts. 2012, S. 289–301.

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sich aber entsprachen, war die Konzeption ihres jeweiligen Zukunftsraumes. Es ging ihnen um das gleiche Haus, die Frage war nur, wer in der Bel-Etage wohnte. Denn beide entwarfen die Zukunft als den einen kollektiven Erwartungsraum für die ganze Menschheit, der ebenso singulär gedacht wurde wie die Vergangenheit. Das machte es einfach, einen kontinuierlichen Zusammenhang zwischen den drei Zeitebenen herzustellen. Bergmann sah die Zukunft der Menschheit in einer zunehmend individuell emanzipierten, von Herrschaft und Unterdrückung befreiten Gesellschaft, weil er diese Entwicklungsrichtung in der Vergangenheit zu erkennen glaubte. Nipperdey erkannte auf der anderen Seite in der „Kommunität der Forscher“ und deren „Basisethik“ einen normativen Fluchtpunkt für die Zukunft. Da heißt, er sah im Wissenschaftsbezug der menschlichen Gesellschaften und der damit zusammenhängenden „Gelehrtenrepublik“ die Formation, die der Menschheit forschend die Zukunft eröffnen könne.12 Aber auch sein Zukunftsraum war als verbindliches Modell für alle konzipiert. Er wähnte in der wissenschaftlichen Entwicklung diesen Zusammenhang der Zeitebenen. Das einigende Band bestand mithin darin, dass beide Seiten eine Fortschrittsgeschichte für alle erzählten, mit deren prognostiziertem Ziel sie eine „erwartbare Zukunft“ formatierten.13 Gleichwohl wird man sagen müssen, dass Bergmanns „große“ Emanzipationsgeschichte viel offensichtlicher eine „moderne“ Fortschrittsgeschichte war als die, die Nipperdey erzählte. Man könnte auch formulieren, dass Nipperdey die Moderne gedanklich schon zum Teil verlassen hatte. Der entscheidende Unterschied zur aktuellen, wenn man so will, postmodernen Situation besteht darin, dass sich die Wissenschaften von diesem einen Zukunftsraum verabschiedet haben – und auch die Vorstellung des Fortschritts als gleichsam unsichtbarem Mechanismus, der hinter der Geschichte wirkt, ist intellektuell dahin. „Um eine Gesellschaft auf Zukunftsreferenz hin auszurichten“, meint der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke im Hinblick auf Geschichtsauffassungen der Moderne, „ist es notwendig, einen Begriff der Zukunft im Singular, verstanden als einheitlicher Zeitraum [kursiv im Original], zum Allgemeingut werden zu lassen.“ Wenn alle Menschen in derselben Welt lebten, blickten sie auch auf einen einheitlichen Zeitraum vor und zurück. Diese 12 Thomas Nipperdey : Kann Geschichte objektiv sein? (1979). In: Ders.: Kann Geschichte objektiv sein? Historische Essays, hrsg. v. Paul Nolte. München 2013, S. 62–83, hier S. 71f. 13 Jörn Rüsen: Postmoderne Geschichtstheorie. In: Konrad Hugo Jarausch/Jörn Rüsen/Hans Schleier (Hrsg.): Geschichtswissenschaft vor 2000. Perspektiven der Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Georg G. Iggers zum 65. Geburtstag (Beiträge zur Geschichtskultur 5). Hagen 1991, S. 27–48, hier S. 32. Rüsen beschreibt diese Orientierungsleistung als die kognitive Tätigkeit, die „zeitliche Veränderungen des Menschen und seiner Welt durch die historische Erinnerung so zu deuten, daß die Gegenwart verständlich und die Zukunft erwartbar wird“.

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„Horizontverschmelzung“ sei der „globalen Moderne“ aber bis heute nicht gelungen.14 Welche Vergangenheit auf welche Zukunft zu beziehen ist, wird heute stattdessen in vielstimmigen Ansichten vorgetragen. Statt einer Zukunft existieren viele Zukünfte, gute und schlechte. Der eine Erwartungshorizont ist durch verschiedene Erzählungen in zahlreiche Möglichkeitshorizonte aufgefächert worden.15 Daran ändert auch der sehnliche Wunsch der rechtspopulistischen Parteien und ihrer Wähler nichts, die diesen einen Zukunftsraum für die jeweils eigene Nation reformulieren zu wollen. Die zeittheoretische Auffassung von dem einen Zukunftsraum ist zudem mit einem Entwicklungsdenken verknüpft, das im 19. Jahrhundert vorherrschend geworden ist. Koschorke bezeichnet es als „kulturelles Modell“ eines „adaptierten Darwinismus“, das sich als „eine Art Generalschlüssel“ nutzen lasse, „um vermeintliche Andersartigkeit in Rückständigkeit zu übersetzen. Die moderne Erzählung der Menschheitsgeschichte, die nunmehr als mächtiger, die Phantasien beherrschender Kollektivsingular gefasst wird, ordnet alle Phänomene nach einem vorher / nachher-Mechanismus, das heißt in Gestalt einer offenen oder versteckten Sequenz. Die Modernisierungstheorien des 20. Jahrhunderts bewahren Spuren dieser letztlich kolonialistischen Geschichtsdramaturgie in sich auf, soweit sie auf ein einheitliches und normatives Entwicklungsziel hin ausgelegt bleiben.“16 Diese zeit- und entwicklungstheoretische Kritik an der Moderne ist im Geschichtsunterricht bislang nicht angekommen. Dort sind weiterhin die Modernisierungstheorien des 20. Jahrhunderts die leitenden Erzählmuster. Diese Erzählmuster werden aber zunehmend von der Wirklichkeit überholt, so dass die Deutungsangebote des Geschichtsunterrichts von einer ansteigenden Hilflosigkeit gekennzeichnet sind.17 Das zeigt sich beispielsweise daran, dass die so genannte Vormoderne fast ausschließlich im Modus der Rückständigkeit und nicht ihrer Andersartigkeit gedeutet werden kann – sehr zum Missfallen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der älteren Epochen.18 Die Welt von 14 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt/M. 2012, S. 204f. 15 Grundlegend dazu: Reinhart Koselleck: ,Erfahrungsraum‘ und ,Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien (1976). In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1989, S. 349–375. 16 Koschorke (Anm. 14), S. 210. 17 Hans-Jürgen Pandel: Richtlinien – weiter wie bisher? Über die Dauerhaftigkeit geschichtsdidaktischer Mythen, in: Ders./Gerhard Schneider (Hrsg.): Wie weiter? Zur Zukunft des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2001, S. 165–184, hier S. 176f. Der Autor sieht das Problem auch, formuliert aber keinen Lösungsvorschlag, sondern eine Frage: „Können wir heute noch Geschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit oder Fortschritt zur befreiten Gesellschaft denken?“ 18 Markus Bernhardt: Die Lehnspyramide – ein Wiedergänger des Geschichtsunterrichts. In:

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heute ist aber konfrontiert mit Alteritätserfahrungen, die gerade nicht durch die scheinbaren Kausalitäten des Fortschritts verstanden werden können, sondern als gleichberechtigtes Nebeneinander begriffen werden müssen. Immer stärker wird erkennbar, dass es nicht nur eine Entwicklung, sondern eine Vielzahl von Entwicklungen gab und gibt, die nicht zwangsläufig mit dem europäischen Fortschrittsnarrativ erfasst werden können. Die Zukunft wird uns deshalb immer weniger verfügbar. „In Zeiten der Globalisierung“, so Lucian Hölscher, „tritt die Frage auf, ob die Menschheit überhaupt noch in ein und derselben Zeit lebt, ob nicht selbst in einem einzigen Land verschiedene Teile der Gesellschaft in verschiedenen Zeiten und damit in verschiedenen Welten leben. Die Globalisierung parzelliert Gesellschaften: Die einen telefonieren jeden Tag mit Hongkong, die anderen kommen nie über ihr Wohnviertel hinaus.“19 Die Auswirkungen dieses Wandels sind längst bis in die Alltagswelt vorgedrungen. Zum Beispiel Arbeitswelt. Während man vor 50 Jahren noch davon ausgehen konnte, mit einem Schulabschluss und einer Ausbildung einen Beruf zu ergreifen, den man wohnortnah 40, ja 45 Jahre lang bis zur Rente ausüben werde, haben sich die Zumutungen oder die Erwartungen, je nach Perspektive, an die jungen Menschen im Hinblick auf Flexibilität, Mobilität und das so genannte „lebenslange Lernen“ heute exzessiv gesteigert. Nach Schule, Ausbildung und Studium warten kaum noch vorgezeichnete Lebensläufe. Das stellt gewaltige Anforderungen an die heutigen Schülerinnen und Schüler, ganz zu schweigen von denen, die diesem Tempo nicht folgen können oder wollen. Die Welt von heute ist mit vielerlei Problemen, Herausforderungen und mit Chancen konfrontiert, für die man nicht auf Erfahrungen, auf gewohnte Vorsorgemaßnahmen oder auf eingeübte Handlungsroutinen zurückgreifen kann. Was man in der Schule, Ausbildung, Universität gelernt hat, kann morgen schon unbrauchbar sein. Das macht die Zukunft so ungewiss. Sie ist hochgradig kontingent geworden. Hier drängt sich die Frage auf, was ein Geschichtsunterricht, der seinen Bildungsauftrag ernstnimmt, zur Orientierung von Schülerinnen und Schülern beitragen kann.20

Public History Weekly 2 (2014) 23, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2164 (aufgerufen am 31. 3. 2018). 19 Interview mit Lucian Hölscher in der FAZ v. 21. 10. 2015: Im Gespräch: Lucian Hölscher. Jede Generation braucht ihre eigene Zukunft. Online unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ forschung-und-lehre/die-welt-von-morgen/bochumer-historiker-lucian-hoelscher-im-in terview-13866053.html (aufgerufen am 31. 3. 2018). 20 So fragte im Jahr 2001 Bodo v. Borries: Geschichtsdidaktik am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine Bestandsaufnahme zum Spannungsfeld zwischen Geschichtsunterricht und Geschichtspolitik. In: Pandel/Schneider (Anm. 17), S. 7–32, hier S. 26f. Der Autor befasst sich aber mit einer thematischen und nicht mit einer kategorialen „Modernisierung zu Gunsten aktueller Orientierungsbedürfnisse“.

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2.

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Kontingenz als geschichtsdidaktische Kategorie

Die Frage nach der Kontingenz ist eigentlich ganz simpel, sie wird aber an historische Verläufe oft gar nicht gestellt. Sie lautet schlicht: Könnte es nicht auch anders gewesen sein? Kontingenz ist das Gegenüber von Notwendigkeit und wird zumeist mit Zufall gleichgesetzt. Kontingent ist, was weder notwendig noch unmöglich ist. „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.“ Diese Wilhelm Busch zugeschriebene Redensart beschreibt den Begriff treffend. In der historischen Retrospektive werden demgegenüber Handlungsabläufe jedoch häufig in der Weise gedeutet, als ob sie sich notwendigerweise so und nicht anders haben ereignen können. Dabei wird unterschlagen, dass ein hochriskantes Verhalten auch einen anderen Ausgang hätte nehmen können. Wenn eine Aktion gelingt, wird die Ursache gern dem strategischen Geschick des Handelnden zugeschrieben, wenn sie schiefgeht, waren es die Umstände. Mit anderen Worten: Die Kontingenz wird aus der Geschichte verbannt. Aber : Ein Sieg der preußischen Truppen 1866 war zum Beispiel keineswegs ausgemacht. Hagen Schulze urteilt: „Ein paar für Preußen verlorene Schlachten, ein anderer Ausgang des Verfassungskonflikts, ein anderes Ergebnis des Krimkriegs, wodurch andere internationale Rahmenbedingungen für die Gestaltung Mitteleuropas gesetzt worden wären: Bismarcks Schöpfung wäre nicht entstanden.“21 Vieles hätte eben auch anders sein können, als es ist. Denn es gab auch in der Vergangenheit eine kontingente Zukunft. Es existierte nicht nur die eine Möglichkeit, die dann in den Geschichtsbüchern als die realisierte auftaucht. Das wird jedoch im Geschichtsunterricht kaum thematisiert. Dabei wäre aber das Aufgreifen von Kontingenz, also die sprachliche Formulierung dessen, was auch hätte anders sein können, geradezu erhellend und erkenntnisfördernd – wie man an dem Einwand von Hagen Schulze erkennen kann. Denn erst vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass es auch hätte anders kommen können, wird die Geschichte der Einigungskriege überhaupt interessant und spannend. Unter dieser Perspektive kann über Kausalität neu nachgedacht werden. Ein solches Denken würde die Prinzipien des historischen Lernens wie Multiperspektivität, Kontroversität und Pluralität, Gegenwarts- und Zukunftsbezug sowie Handlungs- und Problemorientierung überhaupt erst mit Leben füllen. Im Geschichtsunterricht befindet man sich demgegenüber jedoch im „Reich der Notwendigkeit“ und sucht mit den Lernenden nach unausweichlichen und logischen Regeln, die in ihrer „Vernünftigkeit dem Kontingenten gegenüber einen festen Halt“ bieten. „Die Notwendigkeit gewährleistet auch, was Kontingenz bedroht: nämlich die Vorstellung eines zusammenhängenden ,Ganzen, welches sich über mögliche Einschnitte und Grenzen hinweg, die man an ihm 21 Hagen Schulze: Gibt es überhaupt eine Deutsche Geschichte? Berlin 1989, S. 50.

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anbringen kann, als Eines erhält‘.“22 Über der Herstellung einer solchen Kohärenz wölbt sich das geschichtsdidaktische Prinzip der Narrativität.23 Aber man kann es damit leicht übertreiben. Geschichte erscheint unter Bedingungen einer kontingenztilgenden Narrativität als eine zwangsläufige kausalgenetische Kette von einem Nacheinander auseinander hervorgehender Ereignisse und droht auf diese Weise zu einer kanonischen Meistererzählung zu werden.24 Das mag den Wunsch vieler Schülerinnen und Schüler nach eindeutigen Antworten und wohl auch Sicherheit im Lernstoff befriedigen. Es sollte jedoch gefragt werden, welche Kosten mit derlei Konstruktionen verbunden sind. Es bleibt nämlich offen, ob derartige Kontinuitäts-Konstruktionen die historische Reflexion vielleicht sogar behindern.25 Ich glaube, dass das an vielen Stellen der Fall ist, weil besonders die im Geschichtsunterricht präsentierten Darstellungstexte Geschichte als „Kontingenzbewältigung“ konzipieren,26 Kontingenz also zum Verschwinden bringen und damit die Nutzung des Begriffs als Lerngegenstand verhindern. Durch diese Einseitigkeit droht Geschichte auf ein Kausalitätsprodukt reduziert zu werden, in dem immer eins aus dem anderen hervorgeht und nahelegt, dass dies auch in Zukunft so weitergehen wird. Angesichts der vielstimmigen aktuellen Zukunftsprognosen der Gegenwart, angesichts der multiplen Zukunftsräume, der zahlreichen Zukunftspfade oder anders ausgedrückt der allgemeinen Wahrnehmung einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ verlieren Geschichten, die eine holistische Zukunft für alle aus der Vergangenheit „sinnbildend“ ableiten, ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit. Mein Vorschlag ist daher, Kontingenz in historischen Situationen wieder sichtbar zu machen, zu zeigen, dass Menschen in der Vergangenheit sich in ebensolchen Lagen der Zukunftsungewissheit befunden haben, die von ihnen auf irgendeine Weise bewältigt werden mussten. Es kann außerordentlich aufschlussreich sein, zu untersuchen, warum sich bestimmte „Alternativen zum realen Geschichtsverlauf“ nicht durchgesetzt haben, „warum vormalige Hoffnungen und Ängste später aus dem Erwartungshorizont fielen“.27 Die Berück22 Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt/M. 5. Aufl. 2006, S. 420. 23 Michele Barricelli: Narrativität, in: Ders./Lücke (Anm. 11), S. 255–280. 24 Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002. 25 Wolfgang Knöbel: Das Problem der Kontingenz in den Sozialwissenschaften und die Versuche seiner Bannung. In: Frank Becker u. a. (Hrsg.): Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte. Frankfurt/M. 2016, S. 119–137, hier S. 124. 26 Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u. a. 2013, S. 29–34. 27 Lucian Hölscher : Heute war damals keine Zukunft – Dimensionen einer Historischen Zukunftsforschung im 20. Jahrhundert. In: Frank Becker/Benjamin Scheller/Ute Schneider (Hrsg.): Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte. Frankfurt a. M./ New York 2016, S. 79–94, hier S. 91.

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sichtigung der vergangenen Zukunft unter dem Blickwinkel der Kontingenz kann für den Lernprozess einen großen Gewinn erzeugen. Ein Beispiel: Dieter Langewiesche hat in etlichen Publikationen herausgearbeitet, dass das Deutsche Kaiserreich von 1871 keineswegs die Erfüllung des Zukunftstraumes derjenigen Deutschen war, die dann innerhalb dieses Reiches versammelt wurden. Erst unter einer borussischen Perspektive auf die deutsche Geschichte wurde die 1871 gefundene Lösung rückwirkend als Abschluss einer im Hochmittelalter begonnenen nationalen Einheitsgeschichte gedeutet. Demgegenüber nennt Langewiesche die Gründung des Reiches einen Geschichtsbruch, um deutlich zu machen, dass hier nur eine der kontingenten Möglichkeiten Wirklichkeit wurde.28 Viele der deutschen Einzelstaaten waren dezidierte Preußengegner, in Bayern, Württemberg und Baden war die Nationsbildung 1870 schon weit fortgeschritten. Wäre es anders gekommen, würden wir möglicherweise heute von diesen drei Ländern wie von Österreich sprechen.29 Allein dieser Gedanke kann schon dazu beitragen, naturalistischen Nationsvorstellungen nicht allzu viel Überzeugungskraft zuzubilligen. Auf der anderen Seite kann man an der borussischen Geschichte auch sehen, wie und warum solche Erzählungen funktionieren und Zustimmung erzeugen. Ich würde also den Begriff der Kontingenz in die historische Betrachtung des Geschichtsunterrichts einführen, weil ich glaube, dass er Folgendes leistet: Die Befassung mit der Kontingenz vergangener Ereignisse führt zu einem Gegenwartsbezug, der auch für die Zukunft mit Kontingenz rechnet und nicht in dem Glauben verharrt, die Geschichte zeige notwendigerweise, wie eins aus dem anderen hervorgehe. Das kann dazu beitragen, im Hinblick auf die Zukunft mit verschiedenen Optionen zu rechnen und damit handlungsfähig zu bleiben.

Konsequenzen Damit bin ich wieder bei dem Einwand von Sabine Reh und Roland Reichenbach angelangt, die angesichts der Herausforderungen der Moderne der Geschichte ihren Status als Lehrmeisterin abschlagen.30 Ich glaube demgegenüber, dass wir

28 Dieter Langewiesche: Der historische Ort des Deutschen Kaiserreichs. In: Markus Bernhardt (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich. Geschichte – Erinnerung – Unterricht. Schwalbach/ Ts. 2017, S. 44–62. 29 Christoph Nonn: Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert. München 2015, S. 207. 30 Man muss allerdings die Argumentation von Reh/Reichenbach selbst wieder als moderne, teleologische Geschichte interpretieren. Mit ihrer appellativen Volte zur Rettung der Welt nutzen sie die Geschichte als Lehrmeisterin, indem sie behaupten, die Geschichte lehre, dass

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sehr wohl aus der Geschichte lernen können, wir sollten nur unsere Fragen anders stellen. Statt uns darauf zu konzentrieren, stetig kausal-genetische Kontinuitäten herauszuarbeiten, sollten wir öfters innehalten und fragen, ob es nicht auch anders hätte sein können. Dahinter steckt die Idee zu erkennen, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eben doch, und zwar systematisch und nicht nur kausal-genetisch miteinander zusammenhängen. Schülerinnen und Schülern bleibt die dargestellte Geschichte oft fremd, weil sie darin keinen Bezug zu ihrer Gedankenwelt erkennen. Es genügt eben nicht, die antiken Athener als Vorkämpfer der Demokratie vorzustellen und dann zu hoffen, man hätte damit einen tollen Gegenwartsbezug geschaffen, weil die Demokratie immer „besser“ geworden ist und wir heute vom gleichen Begriff sprechen. Dabei besteht offenbar die Erwartung, Schülerinnen und Schüler würden diesen von vielen Erwachsenen hergestellten Sinnbezug zwischen den Leistungen der Athener und der heutigen Gesellschaft anerkennen und sie sich deshalb merken. Das finde ich wirklichkeitsfern. Demgegenüber fragen Lernende zum Beispiel oft danach, warum die Germanen die Errungenschaften des römischen Reiches, Wasserleitungen, Straßen, Städte, Häuser mit Fußbodenheizung und ähnliches verfallen ließen. Damit kommt das in den Schulen vermittelte Fortschrittsnarrativ offenbar nicht klar, weil ein derartiges Verhalten vordergründig „rückschrittlich“ erscheint. Dabei könnte man genau an solchen Stellen die übliche Erzählweise des Geschichtsunterrichts in Frage stellen. Das wäre ein guter Anfang, um sich mit Kontingenz in der Geschichte zu beschäftigen. Oder man denke an das Jahr 1989. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich im Sommer dieses Jahres der festen Überzeugung war, mein Leben in der Bundesrepublik, in der ich geboren war und wie ich sie kannte, auch beenden würde. Bestärkt wurde ich dabei unter anderem von einem Aufsatz von HansUlrich Wehler : „Die Deutsche Frage 1648–1986 in der europäischen Politik“, in dem der Autor die Möglichkeit eines vereinten Deutschlands verneint und dasselbe im Sommer 1989 in einem ähnlich betitelten Vortrag bestätigte.31 Das wirkt im Nachhinein befremdlich, aber es beruhigt auch: selbst historische Überväter können die Zukunft nicht voraussehen. Nicht zuletzt gehören in diesen Kontext auch die Fragen der kontrafaktischen

die Geschichte nichts mehr lehre. Zur aktuellen Tendenz, die Zukunft schwarz zu malen: Eva Horn: Zukunft als Katastrophe. Frankfurt/M. 2014. 31 Hans-Ulrich Wehler : Die Deutsche Frage in der europäischen Politik 1648–1986. In: Ders.: Aus der Geschichte lernen? Essays. München 1988, S. 34–43. Diese Fehlprognose von Wehler erwähnt Joachim Radkau: Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute. München 2017, S. 12. In dem Band findet sich eine Fülle von weiteren Beispielen.

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Geschichte.32 Schülerinnen und Schüler sind geradezu elektrisiert, wenn Fragen gestellt werden wie „Was wäre gewesen, wenn Georg Elsers Anschlag auf Adolf Hitler gelungen wäre?“ Oder : „Was wäre, wenn Pontius Pilatus Jesus von Nazareth nicht verurteilt hätte?“ Obschon Antworten auf solche Fragen spekulativ sind und als nicht wissenschaftlich gelten, enthalten sie doch ein erhebliches analytisches Potenzial, das beispielsweise beim Spiel im Geschichtsunterricht genutzt wird.33 „Die Schwierigkeiten in der Konstruktion hypothetischen Geschehens machen uns aufmerksam auf Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion realen Geschehens“, urteilt Alexander Demandt. „Die Argumente für Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit des Unwirklichen können wir nur der Wirklichkeit entnehmen.“ Die positive Seite dieses kontrafaktischen Nachdenkens sei, „daß der Historiker damit auf die tatsächliche Geschichte zurückverwiesen wird“.34 Last but not least bietet die Befassung mit Kontingenz auch die Gelegenheit, den zur kausalen Linearität tendierenden Erzählbegriff der Geschichtsdidaktik von seiner Fixierung auf „Kontingenzbewältigung“ zu lösen und anzuerkennen, dass Geschichten auch Kontingenz hervorbringen können. „Denn… das Erzählen [kann] ebensogut in den Dienst des Abbaus von Sinnbezügen gestellt werden, etwa durch die Demontage von hegemonialen Sinnzwängen. Als eine in hohem Maß formlose Tätigkeit kann es entsprechend gerade die Qualität der Formlosigkeit – sei es durch Deformation, sei es durch Auflösung [alle kursiven Begriffe im Original] verfestigter Sinnformen – im Prozess der kulturellen Semiosis ausspielen. In einer Vielzahl von Erzählungen wird Kontingenz keineswegs gebannt, sondern geradezu heraufbeschworen.“35 Die Beschäftigung mit vergangener Zukunft kann demnach dazu beitragen, dass man nicht so überrascht ist, wenn es anders kommt, als man geglaubt hat.

32 z. B. Isabel Kranz (Hrsg.): Was wäre wenn? Alternative Gegenwarten und Zukunftsprojektionen um 1914. Paderborn 2017. 33 Markus Bernhardt: Das Spiel im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 3., vollst. überarb. Neuaufl. 2018. 34 Alexander Demandt: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: was wäre geschehen, wenn …? Göttingen 1986, S. 119f. 35 Koschorke (Anm. 14), S. 11.

Jutta Mägdefrau / Andreas Michler

Wo ist das Kind in der Geschichtsunterrichtsforschung? Interdisziplinäre Angebots-Nutzungsforschung am Beispiel des Projekts „Adaptive Lernaufgaben in Geschichte – ALGe“

1.

Einleitung

In verlässlicher Regelmäßigkeit wird in der geschichtsdidaktischen Community darüber diskutiert, wo die Fachdisziplin innerhalb des Wissenschaftsspektrums zu verorten sei. So widmete sich die Konferenz für Geschichtsdidaktik im Jahre 2015 auf ihrer Aachener Jahrestagung mit dem Tagungsthema „Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen“ explizit der „Frage nach Verhältnisbestimmungen, Selbstverständnissen und interdisziplinären Diskursen“1 der Fachdidaktik Geschichte. Wenn dabei mitunter auch über die „Babylonische Gefangenschaft“ der Geschichtsdidaktik einerseits in der Geschichtswissenschaft2, andererseits in der Schulpädagogik3 geklagt wird, bezeugen diese unterschiedlich artikulierten Abhängigkeitsverhältnisse, dass diese relativ junge akademische Disziplin noch immer um ein eigenständiges Profil und ihren Platz im Wissenschaftssystem ringt. Unstrittig ist wohl, dass die Geschichtsdidaktik aufgrund ihrer Forschungsfragen und -methoden interdisziplinär ausgerichtet sein sollte. Traditionell wird eine starke Verbindung zur Geschichtswissenschaft gesehen, die aus inhaltlichen, aber auch standespolitischen Gründen nachvollziehbar ist.4 Den1 Charlotte Bühl-Gramer: Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen. Einführung in das Tagungsthema. In: Michael Sauer/Charlotte Bühl-Gramer/Anke John/Astrid Schwabe/Alfons Kenkmann/Christian Kuchler (Hrsg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen. Göttingen 2016, S. 27–41, hier S. 27. 2 So bei Bodo von Borries: Empirische – und andere? – Forschungsmethoden der Fachdidaktiken in den ,Humanities‘ – am Beispiel der Domäne Geschichte. In: Marko Demantowsky/ Volker Steenblock (Hrsg.): Selbstdeutung und Fremdkonzept. Die Didaktiken der kulturwissenschaftlichen Fächer im Gespräch. Bochum/Freiburg 2011, S. 98–137, hier S. 102. 3 So bei Hans-Jürgen Pandel: Replik: Geschichtstheoretische Kenntnisse: überflüssig? In: Public History Weekly 3(2015)24. (DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2015–4422, aufgerufen am 02. 03. 2018). 4 Vgl. dazu Thomas Sandkühler : Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft. In: Sauer

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noch ist es im Kontext der schulischen und außerschulischen Vermittlung von Geschichte undenkbar, nicht auch den Schulterschluss mit den Bildungswissenschaften zu suchen, insbesondere mit der empirisch orientierten erziehungswissenschaftlich-psychologischen Lehr-Lernforschung. Und tatsächlich ist seit einigen Jahren eine „empirische Wende“5 der Geschichtsdidaktik zu beobachten: die Erforschung des Geschichtsunterrichts mithilfe quantitativer und qualitativer Methoden nimmt aktuell Fahrt auf und lässt damit die empirische Bildungsforschung zu einer wichtigen Bezugsdisziplin6 werden und die Geschichtsdidaktik ihre Rolle als Brückendisziplin7 selbstbewusst einnehmen. Im hier vorliegenden Beitrag wird die Zusammenarbeit der Disziplinen am Beispiel des Passauer ALGe-Projekts8 vorgestellt. Ziel ist, aufzuzeigen, wie sich geschichtswissenschaftliche, fachdidaktische und erziehungswissenschaftlichpsychologische Forschungsmethoden und Objekttheorien bei der Erforschung von Geschichtsunterricht verschränken und was die Disziplinen dabei gewinnen können. Die von Forschenden zu leistende Integration dreier Fachperspektiven beim Lehren und Lernen von Geschichte wird deutlich, wenn eines der zentralen Modelle schulischen Lehrens und Lernens, nämlich das Angebots-Nutzungs-

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u. a. (Anm. 1), S. 415–433. Vgl. auch Marko Demantowsky : Die Didaktik der Geschichte als „Fachdidaktik“ – Abgrenzungen, Vereinnahmungen, Selbstverständnis. In: Demantowsky/ Steenblock (Anm. 2), S. 39–52. Christian Kuchler : Quo vadis, Geschichtsdidaktik? Didaktik der Geschichte, ihre Bezugsdisziplinen und Bezugsfelder. Einführung. In: Sauer u. a. (Anm. 1), S. 357–361, hier S. 359. Vgl. dazu auch Wolfgang Hasberg: Unde venis? – Betrachtungen zur Zukunft der Geschichtsdidaktik. In: Tobias Arand/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Neue Wege – neue Themen – neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2014, S. 15–62. Vgl. Borries (Anm. 2); vgl. auch Bodo von Borries: „Empirische Bildungsforschung“ – die hauptsächliche (?) Bezugsdisziplin (?) der Geschichtsdidaktik? In: Sauer u. a. (Anm. 1), S. 381–397. Vgl. auch Monika Waldis/B8atrice Ziegler : Geschichtsdidaktik. In: Georg Weißeno/Reinhold Nickolaus/Monika Oberle/Susan Seeber (Hrsg.): Gesellschaftswissenschaftliche Fachdidaktiken. Theorien, empirische Fundierungen und Perspektiven. Wiesbaden 2018, S. 39–59 sowie B8atrice Ziegler/Monika Waldis/Nicola Brauch: Desiderate geschichtsdidaktischer Empirie. In: Weißeno u. a. (Anm. 6), S. 93–101. Vgl. auch den Überblick von Michele Barricelli/Michael Sauer : Empirische Lehr-Lern-Forschung im Fach Geschichte. In: Georg Weißeno/Carla Schelle (Hrsg.): Empirische Forschungen in gesellschaftswissenschaftlichen Fachdidaktiken. Ergebnisse und Perspektiven. Wiesbaden 2015, S. 185–200. Vgl. ebenso Manuel Köster/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Researching History Education. International Perspectives and Disciplinary Traditions. Schwalbach/Ts. 2014; Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung. Schwalbach/Ts. 2016. Zur Brückenfunktion der Geschichtsdidaktik und den damit verbundenen Problemstellungen vgl. schon Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. Göttingen 1986, S. 17–22; vgl. dazu auch Martin Rothgangel: „In between“? Aktuelle Herausforderungen der Fachdidaktik. In: Erziehungswissenschaft 24 (2013) 46, S. 65–72. Das Akronym „ALGe“ steht für „Adaptive Lernaufgaben in Geschichte“.

Wo ist das Kind in der Geschichtsunterrichtsforschung?

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Modell9 zur Erklärung schulischer Lernerfolge, als theoretische Folie benutzt und die Beiträge der drei Disziplinen darin verortet werden. Nebenbei bemerkt ist diese kognitive De-Fragmentierungsleistung, also das Zusammendenken geschichtswissenschaftlicher, fachdidaktischer und pädagogischer Wissensbestände auch tägliche Leistung von Lehrkräften.

2.

Interdisziplinäre Geschichtsunterrichtsforschung unter Angebots-Nutzungs-Perspektive

Viele fachdidaktische Einführungen konzentrieren sich auf Prinzipien des Lehrens. Die Seite des Lernens wird dabei oft wenig beachtet, weil den Ausführungen mehr oder weniger bewusst die Annahme zu Grunde liegt, Lehren führe zu Lernen. Ein Blick in einschlägige geschichtsdidaktische Handbücher bestätigt, dass eine präzise Unterscheidung von Lehr- und Lernprozessen nur rudimentär vorgenommen wird. Da findet man zwar ein Kapitel „zur Psychologie des Lehrens und Lernens“10 oder es werden „Lehr- und Lernmethoden“11 vorgestellt, auch „erkenntnistheoretische Grundlagen historischen Lehrens und Lernens“12 werden erläutert, aber es finden sich keine Überlegungen, in welchem Verhältnis historisches Lehren und Lernen zueinander stehen. Zwar findet sich im Handbuch „Geschichtsmethodik“ im Kapitel „Lehr-Lernformen“ einleitend unter Einbezug pädagogischer Fachliteratur der Hinweis der Autorin, dass LehrLernformen aus „,beobachtbaren Lehrer- und Schülertätigkeiten‘ [bestehen], die zu einer komplexeren Form zusammengefügt werden“.13 Aber auch hier wird im Grunde nicht eindeutig zwischen lehrtheoretischen und lerntheoretischen Überlegungen unterschieden. Ausführungen, die auf Basis des Angebots-Nutzungs-Modells auch Lernprozesse thematisieren, finden sich bei Gautschi und Kollegen.14 Gautschis Rahmenmodell für Geschichtsunterricht konzeptualisiert Unterricht als eine Kausalkette aus Voraussetzungen, aus dem Lehr-/Lernprozess und 9 Vgl. Andreas Helmke: Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. 7. Aufl., Seelze-Velber 2017, S. 69–102. 10 Rohlfes (Anm. 7), S. 135–159. 11 Michael Sauer. Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 12. Aufl., Seelze 2015, S. 92–178. 12 Axel Becker/Christian Heuer : Erkenntnistheoretische Grundlagen historischen Lehrens und Lernens. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 77–88. 13 Hilke Günther-Arndt: Lehr-Lernformen. In: Hilke Günther-Arndt/Saskia Handro (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. 5. Aufl., Berlin 2015, S. 145. 14 Vgl. Peter Gautschi/Markus Bernhardt/Ulrich Mayer: Guter Geschichtsunterricht – Prinzipien. In: Barricelli/Lücke (Anm. 12), S. 326–348.

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aus seinen Folgen. Im Gegensatz dazu stehen bei Helmke Kontextfaktoren, Angebot und Nutzung in einem komplexen Wechselwirkungsverhältnis. Gautschi und Kollegen trennen zwar kategorial zwischen Prozessstruktur und Nutzung, eine dritte Kategorie stellen aber bei ihnen die Inhalte („Lerngegenstand“) dar,15 während bei Helmke die Inhalte und alle didaktischen Auswahlentscheidungen Teil des Angebots sind. Eine Diskussion der geschichtsdidaktischen Versuche, eine eigene Variante des Angebots-Nutzungs-Modells zu entwickeln, steht u. E. noch aus. In der erziehungswissenschaftlichen Unterrichtsforschung besteht inzwischen Konsens darüber, dass der einfache Wirkmechanismus „Lehren führt zu Lernen“ relativiert werden müsse. Nicht erst seit Holzkamps vergnüglich zu lesendem Aufsatz „Lehren als Lernbehinderung“16 hat sich – durch empirische Forschung inspiriert – eine Definition von Unterricht herauskristallisiert, die die Komplexität des Zusammenspiels von Lehren und Lernen andeutet: „Unterricht wird heute definiert als das Gestalten von Lernumgebungen mit dem Ziel, optimale Gelegenheiten für die effektive Ausführung von Lernaktivitäten der Schüler bereitzustellen.“17 In der empirischen Lehr-Lernforschung werden – hier einer Darstellung bei Seidel18 folgend – vornehmlich zwei zentrale Ansätze zur Erklärung schulischer Lernprozesse und Lernerträge diskutiert: das sogenannte Strukturparadigma sowie das Prozessparadigma. Strukturansätze basieren zumeist auf Theorien des Lehrens, Prozessansätze auf Theorien des Lernens. Erstere untersuchen Wirkungen einzelner unterrichtlicher Merkmale von Lernumgebungen auf Leistungsergebnisse, während Prozessansätze auf die während des Lernens ablaufenden kognitiven, metakognitiven oder affektiven Prozesse gerichtet sind. Sie untersuchen die Abhängigkeit der für Lernen maßgeblichen Prozesse von bestimmten Unterrichtsmerkmalen. Gegen die Strukturansätze wird kritisch eingewendet, dass sie Wechselwirkungen der einzelnen Merkmalsgruppen zu wenig berücksichtigten.19 Ein viel beachtetes Beispiel solcher Forschungen sind die Metaanalysen von Hattie.20 15 Vgl. dazu ebd., S. 327. 16 Klaus Holzkamp: Lehren als Lernbehinderung. In: Forum Kritische Psychologie 27 (1991), S. 5–22. 17 Tina Seidel: Angebots-Nutzungs-Modelle in der Unterrichtspsychologie. In: Zeitschrift für Pädagogik. Nr. 60 (2014a), S. 850–866, hier S. 857. Vgl. auch Tina Seidel/Kristina Reiss: Lerngelegenheiten im Unterricht. In: Tina Seidel/Andreas Krapp (Hrsg.): Pädagogische Psychologie. Weinheim/Basel 2014b, S. 253–276. 18 Vgl. Seidel 2014a (Anm. 17). 19 Vgl. Robert E. Floden: Research on effects of teaching: A continuing model for research on teaching. In: Virginia Richardson (Hrsg.): Handbook of research on teaching. Washington, D.C. 2001, S. 3–16. Vgl. auch Jaap Scheerens: The use of theory in school effectiveness research revisited. In: School Effectiveness and School Improvement, 24 (2013) 1, S. 1–38. 20 Vgl. John Hattie: Visible Learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. London/New York 2008.

Wo ist das Kind in der Geschichtsunterrichtsforschung?

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Seidel hält es daher für erforderlich, „komplexere Unterrichtskomponenten zu modellieren, ihre gegenseitigen Abhängigkeiten zu berücksichtigen und differenziell Wirkungen auf unterschiedliche Aspekte des Schülerlernens im Prozess und im Ergebnis von Unterricht zu betrachten“.21 Sie sieht diese Paradigmen verbindenden Modellierungen in aktuellen Angebots-Nutzungsmodellen schulischen Lernens realisiert. Diesen Modellen zufolge gestalten Lehrpersonen eine Angebotsstruktur, die Lernende individuell und in Abhängigkeit von ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie einer Reihe weiterer Einflussfaktoren nutzen können. Dem vorliegenden Beitrag liegt das ursprünglich von Fend22 entwickelte und später von Helmke und Weinert23 weiterentwickelte Modell der Angebots-Nutzung zugrunde. Seidels Vorschlag, Prozess- und Strukturansätze in einem gemeinsamen Modell abzubilden, wird in theoretischer Hinsicht durchaus überzeugend beurteilt, birgt u. E. aber die Gefahr, die Einflüsse der Kontextfaktoren des Unterrichts auf die Nutzung der Lernangebote zu unterschätzen, weshalb für die hier erforderliche Verortung der drei Fachdisziplinen auf das ältere, nämlich das Helmke-Modell, zurückgegriffen wird. Das Angebots-Nutzungs-Modell schulischer Lernerträge (vgl. Abb. 1) ist ein Rahmenmodell, hinter dem sich eine Vielzahl einzelner Objekttheorien verbergen und das – basierend auf empirischen Befunden – Bedingungsfaktoren schulischen Lernens darstellt. Neben Kontextfaktoren wie strukturellen, kulturellen, regionalen und sozialen Rahmenbedingungen, unter denen sich Unterricht vollzieht, umfasst das Modell Lehrkraft-, Unterrichts- sowie Schülermerkmale. Von besonderer Bedeutung für die folgenden Ausführungen sind die modellierten Interaktionsprozesse von Lernangebot und Angebotsnutzung vermittelt über die Wahrnehmung. Das von der Lehrkraft gestaltete Lernangebot (im Modell links) wird von Lernenden unter Einfluss einer Vielzahl von Lerner- und Kontextmerkmalen in einer spezifischen Weise wahrgenommen. Diese Wahrnehmungen beeinflussen ihre Entscheidungen hinsichtlich (möglicherweise auch konkurrierender) Handlungsoptionen beim Nutzen des Angebots. Dass es für die Wahrnehmung der historischen Dimension des Lernangebotes einer spezifischen Kompetenz bei den Lernenden bedürfe, haben vor allem Gautschi und Bernhardt theoretisch und empirisch begründet.24 Trotz dieses erkennbar zunehmenden Interesses an 21 Seidel 2014a (Anm. 17), S. 854. 22 Vgl. Helmut Fend: Theorie der Schule. München 1980. 23 Vgl. Andreas Helmke/Franz E. Weinert: Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen. In: Franz E. Weinert (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 3: Psychologie des Unterrichts und der Schule. Göttingen 1997, S. 71–176. 24 Vgl. Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009, S. 48–66 und Markus Bernhardt: Die visuelle Wahrnehmung des

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Abbildung 1: Angebots-Nutzungs-Modell der Wirkungsweise des Unterrichts nach Helmke (Anm. 9), S. 71.

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den individuellen Lernvoraussetzungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler25 ist zu konstatieren, dass sich die Geschichtsdidaktik in ihrer Unterrichtsforschung unter dem Einfluss der Geschichtswissenschaft als zentraler Bezugsdisziplin lange Zeit schwerpunktmäßig der Seite des Lehrens, nämlich der Gestaltung und didaktischen Reflexion der Inhaltsseite des Unterrichts zugewandt hat. Im Rahmen der ALGe-Studie repräsentieren die Lernaufgaben die Angebotsseite des unterrichtlichen Geschehens, da mit Helmke die Angebotsseite des Unterrichts alle didaktischen Entscheidungen und so auch die Inhaltsseite mit umfasst. Die Aufgaben, in einer Lerntheke den Schülerinnen und Schülern präsentiert, transportieren die Inhalte, das zu Lehrende. Unter welchen Bedingungen aber kann das zu Lehrende bei Schülerinnen und Schülern Lernprozesse auslösen? Das findet man im Angebots-Nutzungs-Modell auf der rechten Seite. Die Lernenden nutzen – unter bestimmten Bedingungen – das Angebot zum Lernen. Dies hängt von ihren Wahrnehmungen, von motivationalen Orientierungen, von Klassen-, Familien- und Schulkontexten ab. Im ALGe-Projekt werden Schülerwahrnehmungen der Lernaufgaben aufgabenspezifisch – also unter Bezug auf jeweils eine konkrete Aufgabe – erhoben. Dies zielt darauf ab, zum einen Erkenntnisse über die Qualität des Angebotes aus der Sicht der Lernenden (Nutzer) zu gewinnen und zum anderen die Wahl der nun folgenden Lernaktivitäten (Lernstrategienutzung) durch die Lernenden bei den einzelnen Aufgaben besser aufklären zu können. Auch inwieweit der Kontextfaktor „Klasse“ Einfluss auf den Lernprozess und das Ergebnis haben kann, wird bei der Auswertung der erhobenen Daten eine Rolle spielen. Es wird deutlich, dass bei den Lernervariablen (Wahrnehmung der Aufgaben, Lernstrategienutzung, motivationale Orientierungen etc.) erziehungswissenschaftlich-psychologische Konstrukte in den Blick genommen werden. Bei der Frage nach der Nutzung verschränken sich demnach fachdidaktische und pädagogische Perspektiven in besonderer Weise. Rezipiert man in geschichtsdidaktischer Perspektive vorliegende Forschungsergebnisse zum Geschichtsunterricht so lässt sich eine deutliche Schwerpunktsetzung der geschichtsdidaktischen Forschung auf die Lernaufgaben selbst erkennen. Hier finden sich dann etwa Studien zu Qualitätskriterien,26 Historischen. Zur theoretischen und empirischen Begründung einer Wahrnehmungskompetenz. In: Michele Barricelli/Axel Becker/Christian Heuer (Hrsg.): Jede Gegenwart hat ihre Gründe. Geschichtsbewusstsein, historische Lebenswelt und Zukunftserwartung im frühen 21. Jahrhundert. Schwalbach/Ts. 2011, S. 153–163. 25 Vgl. dazu insbesondere den Sammelband Heinrich Ammerer/Thomas Hellmuth/Christoph Kühberger (Hrsg.): Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2015. 26 Vgl. etwa Birgit Wenzel: Aufgaben im Geschichtsunterricht. In: Günther-Arndt (Anm. 13), S. 75–83; Gautschi (Anm. 24); Christian Heuer : Gütekriterien für kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fach Geschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62 (2011), 7/8, S. 443–458; Ders.: Zur Aufgabenkultur im Geschichtsunterricht. In: Stefan Keller/Uwe

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Überlegungen zu Aufgabentypen und -formaten27 und Analysen von Inhalten und Anforderungsniveaus.28 Die Rolle der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte wird in der deutschsprachigen geschichtsdidaktischen Aufgabenforschung bislang deutlich seltener in den Blick genommen.29 Insbesondere die Interaktion zwischen Aufgabe und Person muss bis dato noch weitgehend als ein Desiderat bezeichnet werden. Dem Umgang von Lernenden mit Lernaufgaben im Fach Geschichte und der damit verbundenen Frage, welche Folgen dieser Umgang für ihren Lernprozess hat, widmet sich das Passauer Kooperationsprojekt ALGe. Die Studie untersucht den Zusammenhang von Lernaufgaben, Aufgabenwahrnehmung und Lernermerkmalen zur Erklärung des von Schülern und Schülerinnen aufgabenbezogen berichteten LernBender (Hrsg.): Aufgabenkulturen. Fachliche Lernprozesse herausfordern, begleiten, reflektieren. Seelze 2012, S. 100–112; Holger Thünemann: Historische Lernaufgaben. Theoretische Überlegungen, empirische Befunde und forschungspragmatische Perspektiven. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 141–155; Manuel Köster/Markus Bernhardt/ Holger Thünemann: Aufgaben im Geschichtsunterricht. Typen, Gütekriterien und Konstruktionsprinzipen. In: Geschichte lernen 29 (2016) H. 174, S. 2–11. 27 Vgl. etwa Michele Barricelli: Historisches Wissen ist narratives Wissen. In: Michele Barricelli/Christoph Hamann/Ren8 Mounajed/Peter Stolz: (Hrsg.): Historisches Wissen ist narratives Wissen. Aufgabenformate für den Geschichtsunterricht in den Sekundarstufen I und II. Potsdam/Berlin 2008, S. 7–12; Christian Heuer : Für eine neue Aufgabenkultur – Alternative für historisches Lehren und Lernen an Hauptschulen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 79–97; Ders.: Geschichtsunterricht anders machen – Zur Aufgabenkultur als Möglichkeitsraum. In: Patrick Blumschein (Hrsg.): Lernaufgaben – Didaktische Forschungsperspektiven. Bad Heilbrunn 2014, S. 231–241; Birgit Wenzel: Aufgaben(kultur) und neue Prüfungsformen. In: Barricelli/Lücke (Anm. 12), Bd. 2, S. 23–36. 28 Vgl. etwa Nicola Brauch in Cooperation with Hannah Westphal and Jaron Sternheim: Fostering Competencies of Historical Reasoning Based on Cognitive Activating Tasks in Schoolbooks? Considerations towards a Conceptual Change from Text to Task Books in History Learning Environments. In: Eva Matthes/Sylvia Schütze (Hrsg.): Aufgaben im Schulbuch. Bad Heilbrunn 2011, S. 237–249; Thünemann, Historische Lernaufgaben (Anm. 26); Monika Waldis: Fachdidaktische Analyse von Aufgaben in Geschichte. In: Marc Kleinknecht/Thorsten Bohl/Uwe Maier/Kerstin Metz (Hrsg.): Lern- und Leistungsaufgaben im Unterricht. Fächerübergreifende Kriterien zur Auswahl und Analyse. Bad Heilbrunn 2013, S. 145–161. 29 Zur Rolle der Lernenden vgl. etwa Monika Waldis/Alex Buff: Die Sicht der Schülerinnen und Schüler – Unterrichtswahrnehmung und Interessen. In: Peter Gautschi u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 177–210; Gautschi (Anm. 24). Zur Rolle der Lehrkräfte vgl. etwa Jutta Mägdefrau/Andreas Michler : Individualisierende Lernaufgaben im Geschichtsunterricht. Eine empirische Untersuchung zur Rolle von Schulbuchaufgaben und Eigenkonstruktionen der Lehrkräfte. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 208–232; Dies.: Arbeitsaufträge im Geschichtsunterricht – Diskrepanz zwischen Lehrerintention und didaktischem Potenzial? In: Bernd Ralle u. a. (Hrsg.): Lernaufgaben entwickeln, bearbeiten und überprüfen. Ergebnisse und Perspektiven der fachdidaktischen Forschung (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 6). Münster/New York 2014, S. 105–119; Mario Resch: Aufgaben formulieren können. Entwicklung und Validierung eines Vignettentests zur Erfassung professioneller Kompetenz für historisches Lernen. Schwalbach/Ts. 2018.

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strategieverhaltens und ihrem Lernerfolg bei Aufgaben zum historischen Urteilen.

3.

Theoretischer Hintergrund

Die Studie fußt neben dem Angebots-Nutzungsmodell theoretisch auf einem Modell zur Erklärung der Nutzung kognitiver Lernstrategien (Memorierstrategien, Organisationsstrategien und tiefenverarbeitende Elaborationsstrategien) von Wild,30 das postuliert, dass Lernende in der Aufgabenwahrnehmungsphase zunächst ein mentales Aufgabenmodell entwickeln. Anschließend wird ein Handlungsmodell vor dem Hintergrund von z. B. Fähigkeitsselbsteinschätzungen, zeitlichen Ressourcen, Interessen, Bedeutsamkeitseinschätzungen oder wahrgenommener Erfolgserwartung unter motivationalen Gesichtspunkten abgewogen. Diese Prozesse entscheiden den Modellannahmen zufolge darüber, welche der kognitiven Lernstrategien zur Lösung der Aufgabe als erforderlich wahrgenommen werden. Da es in der ALGe-Studie um die Wahrnehmung historischer Lernaufgaben geht, beruhen die zugrundeliegenden Aufgabenkonstruktionen (insgesamt 34 unterschiedliche Lernaufgaben) theoretisch auf Befunden der Geschichtsdidaktik zu guten Lernaufgaben. Hier liegen eine Reihe hauptsächlich normativer Überlegungen zu Gütekriterien für Geschichtsaufgaben vor,31 die sich zumeist an allgemeindidaktischen Anforderungsheuristiken orientieren und offenbar auf den Geschichtsunterricht übertragbar sind. Gautschi befindet beispielsweise in seiner Dissertation, dass die von Blömeke et al.32 vorgelegten neun Anforderungen an Lernaufgaben tauglich seien, „um Lernaufgaben für Geschichtsunterricht zu analysieren und zu beurteilen.“33 Allerdings gibt es auch Stimmen, die die fehlende Domänenspezifik bei den Aufgabenformulierungen monieren und fachspezifische Gütekriterien wie beispielsweise das Anregen zum „historischen Erzählen“34 in den Kriterienkatalog integrieren oder als Qualitätskriterien historischer Lernaufgaben „historische Leitfragen“, „historische Werturteilsbildung“ und „historische Reflexion“35 vorschlagen. Bei der Konstruktion der ALGe-Lernaufgaben wurden solche ge30 Vgl. Klaus-Peter Wild: Lernstrategien im Studium. Strukturen und Bedingungen. Münster 2000. 31 Vgl. dazu Anm. 26. 32 Vgl. Sigrid Blömeke u. a.: Analyse der Qualität von Aufgaben aus didaktischer und fachlicher Sicht. Ein allgemeines Modell und seine exemplarische Umsetzung im Unterrichtsfach Mathematik. In: Unterrichtswissenschaft 43 (2006) H. 4, S. 330–357. 33 Gautschi (Anm. 24), S. 254. 34 Vgl. Heuer (Anm. 26), S. 450f. 35 Vgl. Thünemann (Anm. 26), S. 144–147.

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nuin geschichtsdidaktischen Gütekriterien berücksichtigt, wie etwa Prinzipien historischen Lernens (z. B. Multiperspektivität, Gegenwarts- und Lebensweltbezüge) oder die Förderung von Kompetenzen (z. B. Frage- oder Urteilskompetenz, narrative Kompetenz, aber auch „geschichtskulturelle Kompetenz“36). Interessentheoretisch beruht die ALGe-Studie auf der Münchner Theorie des Interesses.37 Hier wird individuelles Interesse als Personmerkmal vom situationalen Interesse unterschieden, das bei der Wahrnehmung einer Lernsituation spontan auftritt, etwa beim ersten Lesen einer Aufgabe im Geschichtsunterricht. Wenn Lernende mit einer konkreten Geschichtsaufgabe konfrontiert sind, kann der Interessentheorie zufolge entweder das individuelle Interesse an Geschichte aktualisiert, oder aber der psychische Zustand der Interessiertheit durch die Situation, also z. B. durch Merkmale einer Aufgabe hervorgerufen werden. Daher erscheint die Betrachtung von Lernaufgaben im Geschichtsunterricht besonders auch unter motivationalen Gesichtspunkten bedeutsam. Das situationale Interesse wird theoretisch in zwei Komponenten geteilt, nämlich die Aufgabeninteressantheit als intrinsische Komponente im Sinne von Freude, die die Beschäftigung verspricht bzw. durch das Material ausgelöst wird, und die subjektive Bedeutsamkeit einer Aufgabe, mit der sich bestimmte Wertüberzeugungen verbinden, im Sinne einer Relevanz für das eigene Leben. Hier finden sich Entsprechungen in den Forderungen der Geschichtsdidaktik zur kompetenzorientierten Aufgabengestaltung: Lernaufgaben sollen demnach einen Lebensweltbezug aufweisen, indem sie gegenwartsrelevante Fragestellungen aufgreifen.

4.

Fragestellungen der Studie

Im Rahmen der ALGe-Studie werden eine Vielzahl von Fragen bezüglich des Zusammenhangs von Merkmalen von Geschichtsaufgaben, deren Wahrnehmung durch Lernende sowie dem Einsatz der zur Lösung der Aufgabe genutzten Lernstrategien in den Blick genommen. Es soll geklärt werden, ob sich die Kausalkette von Aufgabenmerkmalen über die Wahrnehmungen als interessant und/oder bedeutsam und den Lernstrategieeinsatz bis zur Leistung nachweisen lässt. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn Aufgaben bestimmte Merkmale haben, werden sie dann von Jugendlichen eher als interessant und bedeutsam wahrgenommen? Wenn das zutrifft, setzen die Lernenden dann auch eher tiefenorientierte Lernstrategien ein und wenn sie es tun: bewirkt das dann auch bessere 36 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005, S. 40–43. 37 Vgl. Andreas Krapp: An educational-psychological conceptualisation of interest. In: International Journal of Educational and Vocational Guidance 7 (2007) 1, S. 5–21.

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Leistungen? Natürlich versucht die Studie auch zu klären, ob dies für alle Jugendlichen zutrifft und wenn nicht, für welche Gruppen oder Aufgaben sich solche Zusammenhänge identifizieren lassen? Es ergeben sich aus diesen Fragestellungen zwei unterschiedliche Blickwinkel: zum einen betrachten wir die Schülerebene, zum anderen die Aufgabenebene. Da die Schülerdaten in Klassen erhoben wurden, liegt auf Schülerebene eine geclusterte Datenstruktur vor. Die Schüler und Schülerinnen sind nämlich Mitglieder einer sich gegenseitig beeinflussenden Klassengemeinschaft, was eine weitere Ebene (Klassenebene) in die Analysen bringt. In einer unserer Teilstudien konnten wir bereits Klasseneffekte im Interessengeschehen der Individuen nachweisen, das heißt, die Frage, wie das Geschichtsinteresse einer Klasse im Mittel ausgeprägt ist, hat auch Auswirkungen auf das situationale Interessengeschehen des Einzelnen.38 Aus der genesteten Datenstruktur ergibt sich in der Auswertung der Daten eine crossKlassifikationsanalyse, die die Merkmale der 34 Aufgaben und die Merkmale von 801 befragten Jugendlichen zugleich analysiert, wenn das berichtete situationale Interesse als abhängige Variable erklärt werden soll.

5.

Instrumente

Zur Untersuchung der Rolle von Aufgabenmerkmalen auf die Wahrnehmung durch die Schülerinnen und Schüler wurden qualitative Inhaltsanalysen der Aufgaben vorgenommen, um ihnen Merkmale zuzuschreiben, die anschließend in die quantitativen Analysen einbezogen wurden. Es entstanden sechs Variablen, die sich auf den Grad der Strukturiertheit, die Oberflächenmerkmale, die Aufgabenschwierigkeit, den Grad des Lebensweltbezugs, die kognitive Anforderungen sowie auf die Aufgabenumfangsmaße bezogen. Im Rahmen der Untersuchung wurde auf Basis der revidierten Fassung des Lernstrategien-im-Studium-Inventars (LIST-R)39 eine aufgabenbezogene Variante des Fragebogens mit dem Titel „Aufgabenbezogenes Lernstrategie-Inventar“ (ALSI) entwickelt. Dabei wurden alle Items aufgabenbezogen umformuliert. Ein Beispiel für ein Organisationsstrategie-Item in der LIST-R-Formulierung lautet: „Ich mache mir eine Gliederung mit den wichtigsten Punkten“. Die Formulierung im aufgabenbezogenen Bogen heißt: „Ich habe mir eine Gliede38 Vgl. Katharina Jonas u. a.: Effekte des Fachinteresses an Geschichte auf die Wahrnehmung von Geschichtsaufgaben. In: Monika Waldis/Beatrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 15. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 15“. Bern 2017, S. 191–204. 39 Vgl. Klaus-Peter Wild: LIST-R. Inventar zur Erfassung von Lernstrategien (revidiert). Kurzbeschreibung der Entwicklungsarbeiten und der revidierten Endfassung. Universität Regensburg. Institut für Pädagogik. Regensburg 2013.

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rung mit den wichtigsten Punkten gemacht“. Es wurde versucht, den semantischen Raum des Items möglichst zu erhalten, nur sollten sich die getroffenen Aussagen nun auf eine soeben fertig bearbeitete Aufgabe beziehen können.40 Der Fragenbogen zum situationalen Interesse wurde für das Fach Geschichte adaptiert und aufgabenspezifisch formuliert. Die ursprünglichen Items stammen von Harackiewicz und Kollegen.41 Der Bogen besteht aus 5 Items für die Aufgabeninteressantheit, wobei die Skalenreliabilität für alle 34 Aufgaben zwischen a = .82 und a = .92 liegt. Zusätzlich beinhaltet er 4 Items für die subjektive Bedeutsamkeit (Skalenreliabilität zwischen a = .75 und a = .91). Die Einstufung wurde auf einer 5-stufigen Likertskala vorgenommen mit den Ausprägungen 1 = „stimmt nicht“ bis 5 = „stimmt sehr“. Der Fachinteressefragebogen wurde einige Wochen vor der ersten Erhebung des situationalen Interesses eingesetzt. Hier wurde der für Geschichte umformulierte Interessebogen der PISA-2006-Studie übernommen. Er besteht aus 6 Items (4-stufige Likertskala mit 1 = „stimmt nicht“ bis 4 = „stimmt sehr“) und weist eine interne Konsistenz von a = .79 auf (Beispielitem: „Mich interessiert das, was ich in Geschichte lerne“). Über Lernstrategieeinsatz, Fachinteresse und situationales Interesse hinaus, wurden in der ALGe-Studie als unabhängige Variablen noch Leistungsdaten über Schulnoten, das fachbezogene Selbstkonzept in Geschichte und das Geschlecht erhoben. Zur Messung der Schülerleistungen im Bereich des schriftlichen historischen Urteilens wurde die SOLOTaxonomie von Biggs und Collis eingesetzt, die in einem fünfstufigen Ratingverfahren die Qualität des Aufbaus von Argumenten erfasst.42

6.

Durchführung der Studie, Stichprobe

Die Studie wurde im Schuljahr 2013/14 bei einer Stichprobe von N = 801 Schülerinnen und Schülern (38,2 % männlich) der neunten Klasse an 30 bayerischen Realschulen durchgeführt. Zwei Wochen vor den Unterrichtseinheiten 40 Vgl. ausführlicher zum ALSI-Bogen: Jutta Mägdefrau u. a.: Lernstrategieeinsatz von Schülern im Geschichtsunterricht – Aufgabenbezogene Erfassung der Nutzung kognitiver Lernstrategien im Schüler-Experten-Vergleich. In: Empirische Pädagogik, 31 (2017) 1, S. 64–87. 41 Vgl. Judith M. Harackiewicz u. a.: The Role of Achievement Goals in the Development of Interest: Reciprocal Relations Between Achievement Goals, Interest, and Performance. In: Journal of Educational Psychology 100 (2008) 1, S. 105–122. 42 Vgl. John B. Biggs/Kevin F. Collis, K.: Evaluating the Quality of Learning. The SOLO Taxonomy. Structure of the Observed Learning Outcome, New York u. a. 1982; zum Einsatz der Taxonomie vgl. am Beispiel einer konkreten Aufgabe: Andreas Michler/Jutta Mägdefrau: „Ihr seid einfach nur feige gewesen!“ Arbeitsauftrag zur Förderung von Urteilskompetenz. In: Geschichte lernen 174 (2016), S. 30–36.

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wurden Fachinteresse, Selbstkonzept und die Personenmerkmale Geschlecht, Alter, Noten erfragt. In Form einer Lerntheke wurden den Jugendlichen dann 34 Lernaufgaben vorgelegt, die in drei Unterrichteinheiten über das Schuljahr verteilt waren. Im Sinne eines aufgabenzentrierten Geschichtsunterrichts43 wurde durch die Einteilung des Angebots in Pflicht-, Wahlpflicht- und Wahlaufgaben eine Individualisierung des Lernens angestrebt. Die drei Aufgabenblöcke bezogen sich auf drei verschiedene Lehrplanthemen: 1. Imperialismus, 2. Belastungen und Bedrohungen der Weimarer Republik und 3. Widerstand im Nationalsozialismus. Die Schülerinnen und Schüler verschafften sich zunächst durch grobes Überfliegen der Aufgabenstellung und des Materials (Arrangement aus Quellen und Darstellungen) einen Überblick über die Lernaufgabe. Anschließend beantworteten sie einen Fragebogen zu ihrem durch diese Aufgabe ausgelösten situationalen Interesse in den Dimensionen „Aufgabeninteressantheit“ und „subjektive Bedeutsamkeit“. Nach der Bearbeitung füllten sie den aufgabenbezogenen Lernstrategiebogen aus und berichteten darin, wie sie bei der Bearbeitung der Aufgabe vorgegangen sind. Von den 34 Lernaufgaben waren 6 Aufgaben sogenannte Essayaufgaben, in denen die Jugendlichen aufgefordert wurden eine schriftliche historische Argumentation (ohne Notendruck) zu verfassen. Diese sechs Aufgaben wurden später eingesammelt und mittels SOLO-Taxonomie hinsichtlich ihrer Qualität eingestuft.

7.

Überblickartige Darstellung von Befunden der ALGe-Studie

An dieser Stelle werden nicht alle vorliegenden oder bereits publizierten Befunde diskutiert oder wiederholt, sondern es soll versucht werden, einen Überblick über einige zentrale Ergebnisse zu geben. Dieser Beitrag zielt in erster Linie darauf, deutlich zu machen, in welcher Weise sich geschichtsdidaktische und erziehungswissenschaftliche Perspektiven ergänzen und was beide benachbarten Disziplinen dabei jeweils gewinnen können. Die ausgewählten Befunde sollen daher zeigen, auf welche Weise sich die geschichtlichen Inhalte, die geschichtsdidaktischen Fragestellungen und die empirisch-erziehungswissenschaftlichen Perspektiven auf das lernende Kind zur empirischen Erfassung des Lernprozesses ergänzen. Im Fortgang der Datenauswertungen wurden zunächst die Zusammenhänge einzelner interessierender Variablen berichtet, die Analysen des Gesamtmodells – insbesondere zur Aufklärung der Leistung – stehen derzeit noch aus. Abbil-

43 Vgl. dazu Günther-Arndt (Anm. 13), S. 91.

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dung 2 zeigt – wiederum eingebettet in das Angebots-Nutzungsmodell – die untersuchten Variablen. Das Fachinteresse erwies sich mit einer Varianzaufklärung von 17.4 % als mächtiger Prädiktor für situationales Interesse. Die Varianzaufklärung ist noch etwas höher, wenn man das Fachinteresse der Klasse als Kontextfaktor mitberücksichtigt, dann steigt sie auf 18 %. Es spielt demnach eine Rolle, ob ein Jugendlicher in einer im Mittel höher oder eher niedrig an Geschichte interessierten Klasse ist, wie er die Lernaufgaben hinsichtlich des spontanen Aufgabeninteresses und der subjektiven Bedeutsamkeit wahrnimmt. Die verschiedenen Aufgabenmerkmale wurden zunächst einzeln in die Analysen aufgenommen und erwiesen sich insbesondere mit Blick auf die Aufgabeninteressantheit als prädiktiv : (a) Je stärker vorstrukturiert eine Aufgabe war, und (b) wenn sie relevante Bildillustrationen enthielt sowie (c) niedrige Schwierigkeit erwarten ließ und (d) möglichst keine Langantworten erforderte, als umso interessanter wurde die entsprechende Aufgabe wahrgenommen. Wurden aber alle diese Prädiktoren gemeinsam ins Modell aufgenommen, verschwanden die Effekte und Aufgabeninteressantheit konnte nicht mehr erklärt werden. Bei der subjektiven Bedeutsamkeit hingegen blieb ein positiver Effekt des Lebensweltbezugs auf die subjektive Bedeutsamkeit44 sowie ein schwer zu erklärender positiver Effekt des Leseaufwands (Anzahl der in der Aufgabe und den Materialien enthaltenen Wörter) auf Bedeutsamkeitswahrnehmungen. Aufgabeninteressantheit, dieser situational entstehende emotionale Zustand mit Freude- oder Spaßerleben (emotionale Valenz im Interesseerleben), kann mit den bei uns untersuchten Aufgabenmerkmalen also nicht erklärt werden. In die Aufgaben eingearbeitete Lebensweltbezüge hingegen beeinflussen die subjektiv wahrgenommene Bedeutsamkeit der Aufgabe und haben daher Potenzial für Lernaktivitäten prädiktiv zu sein. Geht man demnach einen Schritt weiter und untersucht den Zusammenhang zwischen den beiden Dimensionen des situationalen Interesses und des Lernstrategieeinsatzes, so zeigt sich erwartungskonform, dass der Einsatz tiefenverarbeitungsorientierter Lernstrategien (Elaborationen) durch Bedeutsamkeit prädiziert wird. Nehmen also Jugendliche eine Lernaufgabe als subjektiv bedeutsam wahr, ist der selbst berichtete Elaborationsstrategieeinsatz höher. Die Effekte sind allerdings nicht sehr hoch (b = .13), weitere, nicht untersuchte Variablen dürften hier eine Rolle spielen. Die ALGe-Gruppe hat in langwierigen Inhaltsanalysen die Qualität der Es44 Die Rolle von Fachinteresse und Lebensweltbezug von Aufgaben für das situationale Interesse untersucht Katharina Jonas differenziert für alle Lernaufgaben in ihrer Dissertation: vgl. Katharina Jonas: Interesse und Lebensweltbezug beim historischen Lernen. Dissertation. Universität Passau. (i. Vorber.).

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Abbildung 2: Das ALGe Variablenmodell

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sayaufgaben taxonomisch eingeschätzt. Die SOLO-Taxonomie stellt eine in fünf hierarchisch geordnete Niveaustufen angelegte systematische Übersicht zur Beschreibung der steigenden Komplexität der Lösungen von Lernenden zu einer Argumentationsaufgabe dar. Besonders geeignet ist sie zur Erfassung der Komplexität, mit der ein Lernender eine bestimmte „Idee“, ein Konzept erfassen kann. Da diese Art der Anforderung für die Ziele des Geschichtsunterrichts besonders typisch ist – schließlich möchten Lehrende historische Urteilsfähigkeit erreichen, die entsprechende Argumentationskompetenz erfordert – erschien uns diese Taxonomie zielführend für die Datenanalysen. Die Niveaustufen beginnen bei der pre-structural-Stufe, bei der noch keinerlei Argumentationsstrukturen zu erkennen sind, eine Auseinandersetzung mit dem Thema im Grunde nicht zu identifizieren ist, über uni-structural, bei der ein Aspekt richtig dargelegt wird, zu multistructural. Die dritte Stufe entspricht einer Argumentationsqualität, bei der mehrere Aspekte des Themas richtig dargelegt, aber unverbunden nebeneinanderstehen und ohne gegenseitige Abwägung (z. B. damals – heute) nebeneinanderstehen. Auf der vierten Stufe (relational) beginnen bereits argumentative Denkoperationen des Abwägens, die auf der extended abstract-Stufe auch noch in Analogiebildungen transferiert werden können auf ähnlich gelagerte Probleme oder ethische Grundsätze.45 Die Ergebnisse für alle sechs Essayaufgaben zeigt Abbildung 3.

45 Zu den Ergebnissen von Essayaufgaben vgl. Jutta Mägdefrau/Andreas Michler : Politische Verantwortungserziehung im Geschichtsunterricht? Lösungsqualität von Schülerantworten bei einer Lernaufgabe zur historischen Verantwortung. In: Andreas Spengler (Hrsg.): Freiheit und Verantwortung – Diskussionen, Positionen, Perspektiven (Festschrift zur Verabschiedung von Guido Pollak). Würzburg 2018 (i. Vorber.); Andreas Michler/Jutta Mägdefrau/ Katharina Jonas/Matthias Böhm/Isolde Baumgartner/Kathrin Kargl: Die Einschätzung der Qualität historischer Urteile von Schülerinnen und Schülern. Ergebnisse einer empirischen Studie zur Analyse von Schülertexten mittels SOLO-Taxonomie. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), S. 62–83.

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Abbildung 3: Ergebnisse der Einstufung der Qualität schriftlicher Argumentationen zu sechs Lernaufgaben

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Es zeigt sich, dass 95 % der Jugendlichen mit ihren Antworten lediglich zwischen der Stufe 1 und 3 liegen. Mit entwicklungspsychologischen Befunden begründen Biggs und Collis, dass keine „relational“-Antworten vor dem Alter von 13 Jahren und keine „extended abstract“-Antworten vor dem Alter von 16 Jahren zu erwarten sind, und letztere auch dann nur von wenigen besonders interessierten Jugendlichen. Bei Achtklässlern sprechen Biggs und Collis davon, dass eine Antwort auf multistructural-Niveau in etwa das sei, was man im Schnitt erwarten könne.46 Wir haben es in unserer Studie mit Neuntklässlern zu tun, so dass die Befunde wohl nicht ganz zufriedenstellen können, sollte man doch hier schon eine höhere Zahl von Antworten auf relational-Niveau erwarten dürfen. Stellt man die von Gautschi festgestellte positive Einstellung von Schülerinnen und Schülern zur Gruppenarbeit47 in Rechnung, so wären die Leistungen vermutlich besser ausgefallen, wenn die Schülerinnen und Schüler in Gruppen hätten arbeiten können. Insofern können die niedrigen Stufen der Schülerurteile möglicherweise auch ein Methodenartefakt sein, das zustande kommt durch die gewählte Form der Lerntheke, die in Einzelarbeit zu bearbeiten war. Tatsächlich zeigte sich, dass es auch Klassen gibt, die mit ihren Leistungen deutlich über dem Durchschnitt liegen. Hier spielen also auch noch Klassenkompositions- und vermutlich Lehrereffekte eine Rolle.

8.

Diskussion

Mit den aus der Pädagogischen Psychologie stammenden Angebots-NutzungsModellen, die die Komplexität unterrichtlichen Lehrens und Lernens abbilden, liegen Rahmenmodelle vor, die von der geschichtsdidaktischen Unterrichtsforschung genutzt werden können, um Studien über die Wirksamkeit des Geschichtsunterrichts lerntheoretisch zu verorten. Um Lernaufgaben als einen „Schlüsselfaktor für guten Geschichtsunterricht“48 zu identifizieren, bedarf es neben den geschichtsdidaktischen Forschungen, die ihren Fokus auf das entsprechende Professionswissen von Lehrenden bei der Erstellung von Aufgaben oder auf die Qualität der vorliegenden Aufgaben und Aufgabensets richten, auch aufgabenspezifischer Befragungen der Schülerinnen und Schüler. Sucht man nach einer Erklärung für die auffällig starke Konzentration geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung auf die Angebotsseite und insbesondere auf die Lerninhalte, so mag ein Grund für diese Fokussierung darin liegen, dass 46 Vgl. Biggs/Collis (Anm. 42), S. 57. 47 Vgl. Gautschi (Anm. 24), S. 252. 48 Ebd., S. 246.

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sich viele Geschichtsdidaktikerinnen und -didaktiker nicht nur organisatorisch an den Universitäten, sondern sich vor allem sozialisatorisch den Geschichtswissenschaften zugehörig fühlen und daher die Sache, der Lerngegenstand, im Mittelpunkt ihrer Forschungsinteressen liegen. Diese Zuspitzung verkennt nicht, dass durchaus auch eine geschichtsdidaktische Position zum Geschichtsunterricht vorliegt, die explizit die Schülerorientierung als Hauptbezugsmerkmal in den Vordergrund rückt.49 Bei Vertreterinnen und Vertretern der Pädagogik lässt sich hingegen sozialisatorisch bedingt eine Perspektive vom Kinde aus feststellen; zugleich braucht die erziehungswissenschaftlichpsychologische Lehr-Lernforschung immer den Lerngegenstand, ist also ihrerseits auf Zusammenarbeit mit der Fachdidaktik angewiesen. Der interdisziplinäre Ansatz des ALGe-Projektes verbindet beide Perspektiven, die „Beschaffenheit der Sache und die Bedürfnisse der Lernenden“50 : Neben den geschichtsdidaktischen Fragestellungen zu Lernaufgaben, etwa im Hinblick auf ihren möglichen Bildungsgehalt, ihre fachliche Kompetenzausrichtung oder ihre Einbindung von Prinzipien historischen Lernens, steht nun die pädagogische Expertise. Sie nimmt das lernende Kind in den Blick, das seine Auffassungsgabe, seine Motivierbarkeit, seine Interessen und Vorlieben oder seine Vorerfahrungen in dem Moment einbringt, in dem es eine Aufgabe zum Lernen vorgelegt bekommt. Bei einem selbst nur groben Blick auf das AngebotsNutzungs-Modell wird deutlich, was passiert, wenn auch das lernende Individuum in den Fokus des Forschungsinteresses gerückt wird: Dann ist die „Sache“ plötzlich nur noch ein Aspekt unter vielen, die für eine bestimmte Gruppe Kinder in Lernaufgaben präsentiert wird, die ihnen zugänglich, interessant und bedeutsam erscheinen sollten, wenn Lernhandlungen wahrscheinlicher werden sollen. Die interdisziplinäre ALGe-Studie möchte prüfen, ob das aus der Pädagogischen Psychologie stammende Angebots-NutzungsModell auch zur Erklärung fachlicher Lernprozesse im Fach Geschichte zutreffend ist, ob es also beanspruchen kann, schulische Lernerträge auch für Geschichte als Ergebnis des Zusammenspiels eines didaktisch sinnvoll gestalteten Angebots und seiner Nutzung durch Lernende zu erklären. Erste Befunde weisen darauf hin, dass die Untersuchung von Interaktionen zwischen Person- und Aufgabenmerkmalen ein vielversprechender Ansatz für interdisziplinäre geschichtsdidaktische Forschung ist. Ordnet man zudem die durch das Projekt initiierten weiterführenden Fragestellungen zu Lernaufgaben 49 Eine kurze Charakteristik der schülerorientierten Geschichtsdidaktik findet sich bei Rohlfes (Anm. 7), S. 181–184 und Wolfgang Hasberg: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Nutzen und Nachteil für den Unterricht. Bd. 1, Neuried 2001, S. 105–110. Vgl. auch Markus Bernhardt: Subjektorientierung „reloaded“. Die Wurzeln subjektorientierter Geschichtsdidaktik in den 1960er Jahren. In: Ammerer u. a. (Anm. 26), S. 131–147. 50 Rohlfes (Anm. 7), S. 18.

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im Geschichtsunterricht dem Angebots-Nutzungs-Modell zu, wird die Notwendigkeit zu dieser interdisziplinären Forschungskooperation von Geschichtsdidaktik und empirischer Erziehungswissenschaft noch einmal deutlich: Abschließend seien einige Ausführungen als Ausblick ergänzt: Um differenzielle Effekte der Aufgabenwahrnehmung und Nutzung bei den Lernenden zu erklären, könnten in Zukunft experimentelle Studien durchgeführt werden, bei denen Aufgabenmerkmale variiert werden. Damit könnte zum Beispiel der Frage nachgegangen werden, inwieweit Merkmale wie etwa Multiperspektivität oder Individualisierung die subjektive Wahrnehmung der Aufgabe als bedeutsam erhöhen und damit den Einsatz von Elaborationsstrategien wahrscheinlicher machen können. Auch die Wirksamkeit des Kontextfaktors „Klasse“ muss im Hinblick auf Aufgabenwahrnehmung und -nutzung sowie auf den Lernertrag noch stärker in den Blick genommen werden. Ebenso sollte der Frage nachgegangen werden, inwieweit zurückliegende Erfahrungen der Lernenden mit Geschichtsunterricht ihre Wahrnehmung der Aufgaben mitbestimmen. Bei der Bewertung der Schreibaufgaben, die historische Urteilsfähigkeit verlangen, wäre es sicher ertragreich, die Entwicklung der dazu notwendigen Kompetenz längsschnittlich zu untersuchen, um etwa Veränderungen in der SOLO-Stufe zu dokumentieren. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Geschichtsdidaktik und Empirischer Erziehungswissenschaft mit Verschränkung der theoretischen Zugänge kann aufgrund unserer Erfahrungen als ein lohnender Weg zur weiteren Theoriebildung in beiden Disziplinen bewertet werden: Solche Kooperationen (auch die mehrerer unterschiedlicher Fachdidaktiken) ermöglichten einerseits, die Fachspezifik von Lernprozessen in Zukunft genauer zu untersuchen und andererseits die Allgemeingültigkeit zentraler Modelle der Unterrichtstheorie zu überprüfen. Das Angebots-Nutzungs-Modell stellt das komplexe Gefüge der im Unterricht wirkenden Faktoren dar, aus dem die Notwendigkeit interdisziplinärer Geschichtsaufgabenforschung abgeleitet werden kann. Als „Angebot“ der Lehrkraft werden im Modell das Arrangement von Inhalten, Methoden und Medien, die Qualität der unterrichtlichen Prozesse sowie des Lehr-Lernmaterials verstanden. Insofern sind „Schülerfehler […] nicht nur Hinweise auf fehlgeschlagene Lernprozesse, sondern können auch als Angebot an die Lehrpersonen verstanden werden, Inhalte und Methoden ihrer Lehre zu überdenken und zu verbessern.“51 Durch die Formulierung und die Erforschung von Geschichtsaufgaben und ihrer Wirkungen auf der Nutzerseite richtet die Geschichtsdidaktik ihre Perspektive auf das Lehren und das Lernen zugleich und löst damit 51 Helmke (Anm. 9), S. 74.

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den Anspruch ein, das fachliche Lernen nicht nur inhaltlich zu fokussieren, sondern auch das Kind mit seinen Lernprozessen bis hin zu den Lernergebnissen in den Blick zu nehmen.

Saskia Handro

Kommentar: „Was?“ Geschichtsdidaktik zwischen Perzeption und Performanz

Die geschichtsdidaktische Reflexion zum „Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert“ mit einer Sektion zu starten, die sich der „Was-Frage“ widmet, ist naheliegend und problematisch zugleich. Dies zeigte die Podiumsdiskussion zum Auftakt der Tagung, und dies reflektierten mehrere Referenten der Sektion am Beginn ihrer Beiträge. Die „Was-Frage“ weckt im öffentlichen Diskurs die Erwartung, dass klare Antworten auf drängende inhaltliche Fragen gegeben werden, und es gehört ebenso zur Perzeption, dass die Geschichtsdidaktik hier in der Pflicht sei.1 Zudem entspricht es der Aufmerksamkeitsökonomie der Öffentlichkeit, den Geschichtsunterricht als Institution immer dann zu adressieren, wenn es das „Was“ historischen Lernens zu diskutieren gilt. Wie Thomas Sandkühler bereits im Vorfeld der KGD-Tagung in einer Analyse jüngster Debatten entfaltete,2 folgt die mediale Aufmerksamkeit dann vor allem dem Modus der Skandalisierung, z. B. wenn wie in Sachsen-Anhalt, Berlin-Brandenburg oder jüngst auch Niedersachsen mit Curriculums Revisionen die Frage des „Was?“ in den Horizont der öffentlichen Wahrnehmung rückt. Mal steht ein vermeintlich tradierter Kanon historischen Wissens zur Disposition, der chronologische Durchgang wird vom historischen Längsschnitt bedroht oder die Inhalte hinter den Kompetenzen sind in ihren Konturen zu unscharf. Doch nicht nur die zu implementierenden Curricula bewegen die Gemüter. Erschüttert bis ernüchtert zeigt sich die Öffentlichkeit nach jeder empirischen Erhebung zum ,Geschichtswis1 Vgl. dazu beispielsweise zum Verhältnis von Kompetenzen und Inhalten als pragmatische Frage der Lernleistungsüberprüfung angesichts des Zentralabiturs von Kerstin LochonWagner : Quo vadis? Tendenzen in der Geschichtsdidaktik und im Geschichtsunterricht in Nordrhein-Westfalen – Eine Problemskizze. In: SEMINAR – Lehrerbildung und Schule 24 (2018) 1, S. 100–109, hier S. 101. 2 Vgl. Thomas Sandkühler : Geschichtsunterricht im Widerstreit: Ein Blick in Presse und Onlinemedien. Abzurufen unter : http ://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/ content/13731 (aufgerufen am 31. 5. 2018), der zugleich die entsprechenden Verweise auf jüngste Debattenbeiträge bietet.

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Saskia Handro

sen‘ oder zum ,historischen Bewusstsein‘ Jugendlicher. Die Tatsache, dass implementiertes und erreichtes Curriculum auseinanderklaffen, wird dann als ,Versagen des Geschichtsunterrichts‘ interpretiert. Angesichts der ,Überzeugung‘, dass im Geschichtsunterricht doch „Was“ gelernt werden muss, verhallen komplexe geschichtsdidaktische Interpretationen empirischer Befunde.3 Dennoch gilt der Geschichtsunterricht als Institution der Werte- und Normenerziehung und wird daher auch (zu Recht) inhaltlich in die Pflicht genommen, gesellschaftliche Schlüsselprobleme wie z. B. den wachsenden Antisemitismus oder Politikverdrossenheit und Demokratiedefizite durch ,Lernen aus der Geschichte‘ zu beheben.4 Für die skizzierte Problematik der „Was-Frage“ im öffentlichen Diskurs nannte Markus Bernhardt in seiner Einleitung zur Sektion drei Gründe: die Stilisierung der Stoffauswahl zu einer Zauberformel historischen Lernens, die Überfrachtung der Wissensfrage mit geschichtspolitischen Erwartungen und die Trivialisierung und mangelnde Differenzierung des Wissensbegriffes. Die Spannung zwischen öffentlicher Perzeption und geschichtsdidaktischer Performanz ist keineswegs neu. Hans-Jürgen Pandel charakterisierte sie 2001 als wissenschaftliches Dilemma, aber auch als geschichtspolitisch notwendiges Ritual, dessen Inszenierung Rollen und Rollenkonflikte der Akteure aus Geschichtswissenschaft, Geschichtslehrerverband, Politik und Geschichtsdidaktik voraussetzt, gerade weil sie diskursimmanent funktional sind.5 Während VertreterInnen der Geschichtsdidaktik in Curriculumdiskursen als geschichtspolitische Akteure und wissenschaftliche Berater beim ,unabschließbaren Geschäft der Lehrplanarbeit‘ in einer Doppelrolle gefragt sind und zudem die Frage des „Was“ mit Blick auf konkrete landesspezifische politische Rahmenbedingungen und unter Berücksichtigung der curricularen Reduktionsund Progressionslogik funktional-pragmatisch zu beantworten ist, spiegeln die Beiträge der Sektion „Was? Historisches Lernen in der Schule – Theorien und Themen“ den ,Eigensinn‘ der Geschichtsdidaktik als Wissenschaftsdisziplin. 3 Vgl. dazu im exemplarischen Sinne wiederholt Bodo von Borries: Zwischen ,Katastrophenmeldungen‘ und ,Alltagsernüchterungen‘. Empirische Studien und pragmatische Überlegungen zur Verarbeitung der DDR-(BRD-)Geschichte. In: Saskia Handro/Thomas Schaarschmidt (Hrsg.): Aufarbeitung der Aufarbeitung. Die DDR im geschichtskulturellen Diskurs. Schwalbach/Ts. 2011, S. 121–139; und auch aus amerikanischer Perspektive dazu u. a. Sam Wineburg: Sinn machen: Wie Erinnerung zwischen den Generationen gebildet wird. In: Harald Welzer (Hrsg.): Das soziale Geda¨ chtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradition. Hamburg 2001, S. 179–204. 4 Vgl. am Beispiel der niedersächsischen Debatte um das Kerncurriculum 2017 Georg WagnerKyora: Geschichtsdidaktik unter Politisierungsdruck: Potenziale des Historischen Lernens und der Geschichtspolitik im niedersächsischen Kerncurriculum 2017. In: SEMINAR – Lehrerbildung und Schule 24 (2018) 1, S. 110–128. 5 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Richtlinien – weiter wie bisher? Über die Dauerhaftigkeit geschichtsdidaktischer Mythen. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Wie weiter? Zur Zukunft des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2001, S. 165–184.

Kommentar: „Was?“ Geschichtsdidaktik zwischen Perzeption und Performanz

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Damit komme ich nun von den Perzeptionen der Öffentlichkeit zur Performance der ReferentInnen. Die Frage nach dem „Was?“ wurde von ihnen als offene Frage aufgegriffen und ganz unterschiedlich perspektiviert.6 Gleichwohl lassen sich zwei Zugänge in der Sektion unterscheiden. Markus Bernhardt, Ulrich Baumgärtner und Johannes Meyer-Hamme diskutierten geschichtsunterrichtlich relevante Auswahl- und Inhaltsfragen7 und entfalten so Reflexionshorizonte, die für curriculare Debatten relevant sind. Eine zweite Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich mit dem Prozess historischen Lernens – Meik Zülsdorf-Kersting theoretisch modellierend, Jutta Mägdefrau und Andreas Michler empirisch. Zunächst zu den Beiträgen, die unterschiedliche Modi geschichtsdidaktischer Inhaltsauswahl repräsentierten. Markus Bernhardt stellte in seinem Sektionsbeitrag das klassische geschichtsdidaktische Auswahlprinzip des Gegenwarts- und Zukunftsbezugs zur Disposition und damit die Orientierungsfunktion historischen Lernens ins Zentrum. Im Geschichtsunterricht der Postmoderne habe Geschichte als ,Kollektivsingular‘ ebenso ausgedient wie die ,Fortschrittserzählung der Aufklärung‘ und mit ihr verbundene Kontinuitätsvorstellungen – so seine These. Dennoch gehöre es zu den Modi der Inhaltsauswahl, Vergangenheit als Gegenwartsvorgeschichte bzw. Gegenwart als Weiterentwicklung der Vergangenheit zu inszenieren. In Auseinandersetzung mit der Gegenwartsorientierung der 1970er Jahre erörterte er, dass Vergangenheit und damit auch zu gewinnende Zukunftsräume in der Postmoderne nicht länger als verbindliche kollektive Orientierungs-, Erwartungs- und Handlungsräume modelliert werden können. Angesichts unsicherer Zukünfte und krisenbedingter Unsicherheiten werde historische Orientierung im Geschichtsunterricht nur gewonnen, wenn man Vergangenheit(en) auch als offene Möglichkeitsräume in den Horizont historischen Lernens holt. Ausgehend von diesem Argument plädierte Bernhardt für einen Gegenwartsbezug, der mit Kontingenz rechnet und so Kontingenz als Kontinuität historischer Erfahrung zum Lerngegenstand macht. Diese Position wurde im Plenum kritisch diskutiert. Im Narrativitätsparadigma sei es gerade Aufgabe historischer Sinnbildung Kontingenz zu bewältigen. Kommentierend ist jedoch einzuwenden, dass zwischen Kontingenz als historischem Lerngegenstand und ,Krise und Kontingenz‘ als deutungsbedürftiger 6 Vgl. dazu z. B. die Beiträge in Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundungen zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012. 7 Bezeichnenderweise verweist im Wörterbuch Geschichtsdidaktik ein Pfeil im Inhaltsverzeichnis vom Lemma „Inhalte“ zum Lemma „Auswahl“, vgl. hier die Typologie von Auswahlkonzeptionen von Bernd Schönemann: Auswahl. In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2006, S. 24f.

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Veränderungserfahrung im Sinne Rüsen zu unterscheiden ist.8 Wenn man zudem den appelativ-normativen Impetus curricularer Zukunftsorientierung inhaltlich-reflexiv wenden möchte, dann sollte sich eine curriculare Neuprofilierung nicht auf die Historisierung von Kontingenz als Gegenwartserfahrung beschränken. Das Verhältnis von Kontinuität und Kontingenz könnte ebenso durch Rekonstruktion vergangener Zukunftsvorstellungen erschlossen werden. Im Anschluss an Koselleck argumentierte z. B. Lucian Hölscher, dass vergangene Zukunftsvorstellungen „in ihrer Vielfalt […] nicht nur die Offenheit der Zukunft [bezeugen], […] sondern sie befriedigen zugleich auch einen notwendigen Orientierungsbedarf in einer Welt, in der vieles möglich ist, aber nur manches realisiert wird.“9 Im Anschluss an Bernhardts Beitrag scheint es in jedem Fall zielführend, didaktische Strategien der Zukunfts- und auch Handlungsorientierung inhaltlich weiter zu konkretisieren. Die historische Orientierungsfunktion des Geschichtsunterrichts in postmodernen und postmigrantischen Gesellschaften stellt auch Johannes MeyerHamme in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Ihm geht es jedoch weniger darum, das „Was“ als Wissensfrage aufzugreifen, sondern Ziele historischen Lernens lebensweltlich-funktional zu begründen. Die Geschichts- und Erinnerungskultur der Gegenwart sei durch heterogene Perspektiven und Orientierungen geprägt. Die „Was“-Frage wäre folglich nicht allein als Inhaltsfrage zu beantworten, sondern sie müsse als Aufforderung zur Neuprofilierung des geschichtsdidaktischen Lernbegriffs interpretiert werden. Bislang – so die zentrale These dieses Beitrages – sei der Lernbegriff in der geschichtsdidaktischen Diskussion unterreflektiert. In Auseinandersetzung mit geschichtstheoretischen (Jörn Rüsen), entwicklungspsychologischen (Bodo von Borries) und lernpsychologischen (Hilke Günther-Arndt) Ansätzen plädiert Meyer-Hamme dafür, historisches Lernen als Sinnbildungsangebot im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Anforderungen, subjektiven Bedeutungszuschreibungen und Kompetenzen historischen Denkens zu modellieren und als Prozess zur Entwicklung individuellen und reflexiven Geschichtsbewusstseins zu begleiten. In diesem Sinne verfolgt historisches Lernen drei Ziele, aus denen sich historische Fragestellungen und -inhalte entwickeln ließen: die Einführung in Diskurse der Geschichts- und Erinnerungskultur, die Entwicklung von Kompetenzen historischen Denkens und die Erweiterung bzw. der Umbau historischer Sinnbildungen. Meyer-Hamme konzediert zugleich, dass Fragen der Lernprogression weiter ungeklärt bleiben. Und man könnte noch weiter fragen: Wie verhalten sich 8 Vgl. dazu Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2013, S. 48–51. 9 Vgl. Lucian Hölscher : Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte. Göttingen 2003, S. 52; s.a. Ders.: Die Entdeckung der Zukunft. Göttingen 1999.

Kommentar: „Was?“ Geschichtsdidaktik zwischen Perzeption und Performanz

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kulturelle Vielfalt und Inhaltsauswahl in einer postmigrantischen Gesellschaft? Und welche Konsequenzen hat dieser Lernbegriff für die Lernleistungsdiagnostik?10 Gerade letztere Frage wird in der Unterrichtspraxis als drängendes Problem bzw. als ungeklärte Frage der Kompetenzorientierung diskutiert. Vergleicht man das kompetenzorientierte Modell von Meyer-Hamme mit den Vorschlägen Hans-Jürgen Pandels11 zur Inhaltsauswahl, dann ist in jedem Fall die Subjektorientierung als Neuperspektivierung herauszustellen und in ihren inhaltlichen Konsequenzen weiter zu diskutieren. Ulrich Baumgärtner kritisiert in seinem Beitrag dezidiert den Rückzug der Geschichtsdidaktik aus der Inhaltsdebatte und gehört damit zu den Vertretern der Disziplin,12 die vor einer Selbstmarginalisierung im Gefolge der Kompetenzdebatte warnen und darauf verweisen, dass Inhaltsfragen geschichtspolitisch instrumentalisiert oder beliebig werden könnten, wenn man Geschichte allein als ,Denkfach‘ verteidigt. Seine Rückbesinnung auf die pragmatische Dimension der Wissensfrage reagiert nicht zuletzt auf die Kluft zwischen „Theorie (Universität) und Praxis (Schule)“13 und auf offene Fragen der Integration von Kompetenzen und Inhalten.14 Baumgärtner ventiliert jedoch nicht offene Fragen der Kompetenzdebatte, sondern er nutzt die geschichtsdidaktische Profilierung des lernpsychologischen Wissensbegriffes, um Kriterien zur Auswahl und Strukturierung von Inhalten zu entwickeln und damit auch (exemplarische) Lernpotentiale inhaltsbezogen zu begründen. Vier Faktoren zur Bestimmung von Lernpotentialen sieht Baumgärtner als zentral an: Gegenwartsfragen, geschichtsdidaktische Konzepte, geschichtswissenschaftliche Basiskonzepte, -kategorien und -verfahren sowie die Erkenntnisinteressen und Lernbedürfnisse der SchülerInnen. Am Beispiel eines „Modelllehrganges“ diskutiert er dann 10 Vgl. zu dieser Problematik Lochon-Wagner (Anm. 1), und aus geschichtsdidaktischer Perspektive Bodo von Borries: Ergebnisse messen. Lerndiagnose im Fach Geschichte. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 334–360, bzw. Andreas Körber/Johannes Meyer-Hamme: Historical Thinking, Competencies, and their Measurement: Challenges and Approaches. In: Kadriye Ercikan/Peter Seixas (Hrsg.): New Directions in Assessing Historical Thinking. New York 2015, S. 89–101. 11 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. 2. Aufl., Schwalbach/Ts. 2007, S. 74–78. 12 Vgl. dazu auch: Marko Demantowsky : Jenseits des Kompetenzkonsenses. In: Saskia Handro/ Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte. Berlin 2016, S. 21–36; Vgl. Thomas Hellmuth: Thinking about Competency-oriented Learning. New Realism or ,Old‘ Pragmatics? In: Public History Weekly 2 (2014) 30, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2477 (aufgerufen am 31. 5. 2018). 13 Vgl. Lochon-Wagner (Anm. 1), S. 101. 14 Bodo von Borries: Das Fach Geschichte im Spannungsfeld von Stoffkanon und Kompetenzentwicklung (2003): In: Ders.: Lebendiges Geschichtslernen. Bausteine zu Theorie und Pragmatik, Empirie und Normfrage. Schwalbach/Ts. 2004, S. 138–168.

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Grundprobleme curricularer Inhaltsauswahl, die man als Bausteine einer geschichtsdidaktischen Curriculumtheorie verstehen kann. Im Vergleich zu Meyer-Hamme beschreibt Baumgärtner historisches Lernen als gegenstandsbezogene Wissensvernetzung. Während das heuristische Potential einer kategoriengeleiteten Inhaltsauswahl unstrittig sein dürfte, provoziert der „Modelllehrgang“ (Nach)Fragen. Genau auf dieser Ebene manifestiert sich dann der Unterschied zwischen theoretischer Modellierung und pragmatischen Herausforderungen des diskursiven Aushandelns von Inhaltsfragen. Bei der zweiten Gruppe von ReferentInnen, stand nicht die Frage, ,Was‘ gelernt werden soll, sondern ,Was‘ gelernt wird im Vordergrund. In der geschichtsdidaktischen Forschung gibt es unterschiedliche Theorien, die Divergenz zwischen implementiertem und erreichtem Curriculum zu beschreiben – z. B. lernerorientiert aus kognitions- oder entwicklungspsychologischer Perspektive oder mit Blick auf strukturelle Rahmungen des Geschichtsunterrichts.15 Der sozialen und kommunikativen Dimension des Geschichtsunterrichts – so die Ausgangsthese von Meik Zülsdorf-Kersting – wurde jedoch bislang keine Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem fehle eine geschichtsdidaktische Lerntheorie – allerdings nicht um normative Aussagen über historisches Lernen zu treffen, sondern um Prozesse historischen Lehrens und Lernens retrospektivanalytisch zu erklären. Die interpretative Integration der mittlerweile vielschichtigen aber diffundierenden Befunde geschichtsdidaktischer Lehr- und Lernforschung erfordere eine geschichtsdidaktische Lern-/Unterrichtstheorie, die die „Pädagogizität“ des Geschichtsunterrichts ins Zentrum stellt und den komplexen Konstitutionsbedingungen von Unterricht gerecht wird. Im Zentrum des Beitrags stellt der Referent daher die Profilierung einer Theorie des Geschichtsunterrichts, die in der Disziplin bislang wenig berücksichtigte, pädagogische Modelle der Lehrer- und Schülerinteraktion aufgreift und in Anlehnung an Meseth u. a.16 kommunikations- und systemtheoretische Prämissen der allgemeinen Unterrichtstheorie geschichtsdidaktisch wendet.17 In Reinterpre15 Vgl. u. a. Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Dies.: Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 23–47; Bodo von Borries: Warum ist Geschichtslernen so schwierig? Neue Problemfelder der Geschichtsdidaktik. In: Heidi Behrens/Andreas Wagner (Hrsg.): Deutsche Teilung, Repression und Alltagsleben. Erinnerungsorte der DDR-Geschichte. Leipzig 2004, S. 69–96. 16 Vgl. Matthias Proske: Unterricht als kommunikative Ordnung. Eine kontingenzgewärtige Beschreibung. In: Anne Niessen/Jens Knigge (Hrsg.): Theoretische Rahmung und Theoriebildung in der musikpädagogischen Forschung. Münster/New York 2015, S. 15–31. 17 Wolfgang Meseth u. a.: Kontrolliertes Laissez-faire. Auf dem Weg zu einer kontingenzgewa¨ rtigen Unterrichtstheorie. In: Zeitschrift fu¨r Pa¨ dagogik, 58 (2012) 2, S. 223–241; Dies.: Was leistet eine kommunikationstheoretische Modellierung des Gegenstandes „Unterricht“? In: Dies. (Hrsg.): Unterrichtstheorien in Forschung und Lehre. Bad Heilbrunn 2011, S. 223–241.

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tation empirischer Befunde modelliert Zülsdorf-Kersting historisches Denken/ Lernen systemtheoretisch als kommunikativen Prozess struktureller Kopplung und Kontingenzeinschränkung. Dieser systemtheoretische Ansatz erweist sich als produktiv, um historisches Lernen als Interaktion und als institutionalisierten Prozess in seiner Eigenart zu erklären. Offen bleibt, wie sich der Begriff der Kontingenz zur Reflexivität und Diskursivität als normativen Anspruch an historische Sinnbildung verhält. Insofern wäre es spannend gewesen im Rahmen der Sektion die Positionen Meyer-Hammes und Zülsdorf-Kerstings vergleichend zu diskutieren. Noch unscharf scheint zudem die Unterscheidung zwischen Lern- und Unterrichtstheorie. Der letzte Beitrag der Sektion vergegenwärtigt die Komplexität des Zusammenhanges von Lehren und Lernen empirisch, und zwar in einem von der geschichtsdidaktischen Forschung bislang vor allem theoretisch modellierten Bereich – den Bereich der Aufgabenkonstruktion und -nutzung. Pädagogischpsychologischen Modellierungen und Fragestellungen der pädagogischen Angebots-Nutzungsforschung folgend, untersuchen Jutta Mägdefrau und Andreas Michler in ihrer ALGe-Studie den Zusammenhang von Aufgabenmerkmalen, -wahrnehmung und -nutzung durch Lernende. Entlang der hier im Band dokumentierten Befunde ließe sich die Schere zwischen dem, „Was gelernt werden soll“, und dem, „Was und wie gelernt wird“, problematisieren. So kommen Mägdefrau und Michler zu dem Befund, dass Lernende stark vorstrukturierte Aufgaben mit bildlicher Unterstützung und niedrigen Schwierigkeitsgrad präferieren, dass die Verarbeitungstiefe und der Einsatz von Lernstrategien durch lebensweltliche Relevanz gefördert werden kann, aber dass die historische Urteilsfähigkeit und damit die in Schreibaufgaben gezeigte Leistung der Lernenden kaum höhere Niveaustufen erreicht. In jedem Fall eröffnete der letzte Beitrag zahlreiche Perspektiven für weiterführende Interventionsstudien, um den multifaktoriellen Zusammenhanges von Aufgabenmerkmalen weiter auszudifferenzieren sowie fachspezifische Faktoren der Aufgabennutzung aber auch -konstruktion zu profilieren. Zugleich sensibilisiert der Beitrag dafür, dass Fragen des Einsatzes von Lernstrategien in der geschichtsdidaktischen Diskussion unterbelichtet sind. Die kommentierende Zusammenfassung vergegenwärtigt, dass die Beiträge ganz unterschiedliche Richtungen eingeschlagen haben, um die Leitfrage zu beantworten. In der Tagungsdiskussion fiel es dementsprechend schwer, Schnittmengen als Diskurschance zu nutzen, d. h. Plenum und ReferentInnen ins Gespräch zu bringen. Gleichwohl repräsentieren die nunmehr edierten Beiträge Strategien geschichtsdidaktischen Nachdenkens über das „Was“ des Geschichtsunterrichts und in ihrer Zusammenschau manifestieren sie das Spannungsverhältnis von geschichtsdidaktischer Theoriebildung und empirischen Befunden. Jedoch wird dies nicht als Defizit kritisiert, sondern als komplexes

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und multifaktorielles Phänomen historischen Lernens theoretisch modelliert und empirisch untersucht. Die curricular drängende Inhaltsfrage wurde in der Sektion als kategoriales Problem der Inhaltsauswahl diskutiert. Wenn die Geschichtsdidaktik ihre gesellschaftliche Funktion als kritische Reflexionsinstanz ernst nimmt und in pragmatischer Hinsicht ihre Aufgabe in der kategoriengeleiteten und fachlich begründeten Legitimation von Lerninhalten und -zielen sieht, dann ist der hier initiierte Diskurs um Kategorien, Theorien, Prinzipien und empirische Befunde Dauergeschäft. Abschließend müssen aber ebenso offene und vor allem in pragmatischer Hinsicht drängende Fragen benannt werden, auf die die Geschichtsdidaktik bislang keine Antwort hat: Wie können Lernprogression und Inhaltsauswahl curricular integriert werden? Wie ist das „Was“ im Sinne einer Lernleistungsdiagnostik zu modellieren? Und nicht zuletzt gilt es „weiße Flecken“ der geschichtsdidaktischen Lehrplanforschung zu kartieren:18 Potentiale national und international vergleichender Lehrplananalysen gilt es wiederzuentdecken, denn hier böte sich die Chance, neben analytisch-kritischen Perspektiven auf Modi der Inhaltsauswahl oder typologisierenden Einsichten in die Struktur kompetenzorientierter Curricula, Modelle zur curricularen Strukturierung von Lernprogression zu gewinnen oder Modi der Integration von Inhalten und Kompetenzen potentialorientiert zu betrachten. Zudem fehlt es nach wie vor an Forschungen zur Genese und Implementierung von Curricula. Die eingangs markierte Schere zwischen öffentlichen Perzeptionen und disziplinärem ,Eigensinn‘ wird sich weder im Feld der theoretischen Grundlagenoder der Lehrplanforschung noch im Feld der Lernforschung gänzlich schließen lassen. Aber ,Widersprüche‘ könnten theorie- und empiriebasiert erklärt und begründet werden. Das ist dann eine Frage der geschichtsdidaktischen Performanz im öffentlichen Diskurs um das „Was“ des Geschichtsunterrichts.

18 Vgl. dazu zuletzt Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung. Methoden – Analysen – Perspektiven. Münster 2004.

Sektion 2: Für Wen? Verschiedenheit, Inklusion und Exklusion

Thomas Sandkühler

Für wen? Verschiedenheit, Inklusion und Exklusion. Einführung in die Sektion

Diese Sektion war die einzige der KGD-Zweijahrestagung, deren Fragestellung nicht nur aus einem Wort bestand, sondern mit dem Akkusativobjekt einen breiten Adressatenkreis des Geschichtsunterrichts adressierte. Selbstverständlich zielt die Frage „Für wen?“ in erster Linie auf Schülerinnen und Schüler, doch sind auch diejenigen mit gemeint, die vom Geschichtsunterricht indirekt angesprochen werden, beispielsweise die Bildungspolitik, Lehrer- und Elternverbände. „Verschiedenheit“ als deutsche Übersetzung des amerikanischen Terminus „Diversity“ wurde bei der Planung der Sektion der Alternative „Vielfalt“ vorgezogen. Gemeint ist jedoch dasjenige Verständnis von „Diversität“, das in menschenrechtlichen Kodifizierungen der Gegenwart enthalten und offizielle Leitlinie auch der deutschen Gleichstellungspolitik ist. Inklusion und Exklusion sind demgegenüber weder disziplinär noch ihrer Bedeutung nach so eindeutig zuzuordnen. Denn die Begriffe Inklusion, Exklusion und Diversität wurden aus der Soziologie und Pädagogik in die Geschichtsdidaktik übernommen. Es reicht daher nicht hin, in dieser Einführung lediglich den (noch recht überschaubaren) geschichtsdidaktischen Forschungsstand zu referieren. Vielmehr müssen die Begriffsgeschichte und die Nachbardisziplinen mit einbezogen werden.

Von der gesellschaftlichen Moderne zur Diversität: Soziologie und Pädagogik Moderne Gesellschaften können nicht mehr als bloßes Gegenüber staatlicher Herrschaft gefasst werden, wie das noch im 18. und 19. Jahrhundert der Fall war. Vielmehr tritt der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern in einer zunehmend komplexen Vermittlerrolle gegenüber, indem er gesellschaftliche Aufgaben übernimmt. Man kann hierbei an den Bereich der „Daseinsvorsorge“ denken, im

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weitesten Sinne also an die Sozialversicherungssysteme auf staatlicher, regionaler und lokaler Ebene, aber auch an das Bildungswesen, das heute klassische Aufgaben der familiären Erziehung mit übernimmt.1 Die unübersichtlicher werdenden Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft haben die Wissenschaft von der Gesellschaft entstehen lassen. Den Franzosen Emile Durkheim trieb die Frage um, wie es zu erklären sei, dass „das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt“, und suchte nach Antworten auf diese „Antinomie“ in der industriellen Arbeitsteilung.2 Von Durkheim laufen die Traditionslinien zu zeitgenössischen französischen Soziologen wie Pierre Bourdieu und Michel Foucault, der besonderes Augenmerk auf die paradoxen Mechanismen von Ein- und Ausschlüssen in gesellschaftlichen Zwangssystemen wie dem Gefängnis und der Psychiatrie legte.3 Für die deutsche Diskussion war jedoch die Systemtheorie einflussreicher. Der einflussreichste Soziologe der Vereinigten Staaten von Amerika, Talcott Parsons, entwickelte seit den späteren 1950er Jahren eine Theorie sozialer Systeme, die sich ihm zufolge im Prozess der gesellschaftlichen Evolution immer weiter ausdifferenzierten und Individuen in zunehmendem Maße inkludierten.4 Parsons illustrierte diese Theorie am Kampf der Afroamerikaner um Bürgerrechte in den 1960er Jahren. Die Logik der gesellschaftlichen Systemdifferenzierung verlangte gewissermaßen nach der Inklusion der zuvor ausgegrenzten schwarzen Minderheit. Gleichwohl bedurfte es ihres aktiven Zutuns, um künftig an gesellschaftlichen Entscheidungen zu partizipieren und einen weiteren Evolutionsschub der Gesellschaft herbeizuführen.5 Insoweit gab es Berührungspunkte mit der Theorie der „Citizenship“ Thomas H. Marshalls. Dieser britische Soziologe betrachtete die Teilhabe an unterschiedlichen Teilsystemen der Gesellschaft als Merkmal moderner Staatsbürgerschaft, die nach seiner Auffassung nicht mehr auf den Rechtsstatus des In-

1 Dieter Grimm: Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1987, S. 53–163; Ulrich Becker u. a. (Hrsg.): Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart (Politik und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 87). Bonn 2010; Peter Lundgreen: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick. Teil 1: 1770–1918. Göttingen 1980. 2 Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung (1893), zit. n. Hans-Peter Müller : Emile Durkheim. In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Klassiker der Soziologie, Bd. 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias. München 1999, S. 150–170, hier S. 157. 3 Cornelia Bohn/Alois Hahn: Pierre Bourdieu. In: Kaesler (Anm. 2), Bd. 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, S. 252–271; Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung. Hamburg 5. Aufl. 2013. 4 Richard Münch: Talcott Parsons. In: Kaesler, Bd. 2 (Anm. 3), S. 24–51, hier S. 33–45. 5 Talcott Parsons: Full Citizenship for the Negro American? A Sociological Problem. In: Ders./ Kenneth B. Clark (Hrsg.): The Negro American. Boston 1966, S. 709–754.

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dividuums beschränkt werden konnte.6 Die neuere historische Forschung hat mit diesem „Citizenship“-Konzept auf den engen Zusammenhang zwischen Staatsangehörigkeit und sozialen Teilhaberechten, Zugehörigkeit und Fremdheit, hingewiesen.7 Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann weitete die Systemtheorie Parsons bedeutend aus.8 Luhmann zufolge treten soziale Systeme und Subsysteme mit Personen und Personengruppen in kommunikativen Austausch. Für diese ist es unerlässlich, an verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen zu partizipieren, weil sie nur auf diese Weise ihre Bedürfnisse befriedigen können. Jugendliche beispielsweise sind als Kinder Teil des Familiensystems, als Schülerinnen und Schüler Teil des Erziehungssystems, als Ferienjobber Teil des abhängigen Arbeitsmarktes, als Inhaber von Kaufkraft Teil des Subsystems Konsum. Der Soziologe Rudolf Stichweh hat diese Zusammenhänge am Beispiel des Bildungswesens verdeutlicht.9 Es verlangt die Aufmerksamkeit des Schülers, der sich vielleicht gar nicht inkludieren lassen möchte, weil er subjektiv Wichtigeres zu denken oder zu tun hat. Er wird durch disziplinierenden Maßnahmen der Lehrkraft dann aber doch inkludiert. Derselbe Schüler mag vielleicht eine schlechte Note erhalten und dadurch exkludiert werden, bis hin zur Nichtversetzung als Ausschluss aus der bisherigen Klassengemeinschaft. Obgleich solche Exklusionen, etwa bei der Übergabe des Nichtversetzungsvermerks im Schulzeugnis, einen starken Ereignischarakter haben können, vollzieht sich Exklusion im Allgemeinen geräuschloser als Inklusion und ist daher auch schwerer zu identifizieren.10 Typisch für das Bildungswesen wie überhaupt für soziale Systeme ist die Verfestigung von Inklusionsvorgängen in Rollen. Der Lehrer oder die Lehrerin müssen Leistungen einfordern und bewerten. Zur Rolle der Eltern gehört es in 6 Thomas H. Marshall: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates (1950). Frankfurt a. M. 1992. 7 Anthony Giddens: Class Division, Class Conflict and Citizenship Rights. In: Ders.: Profiles and Critiques in Social Theory. London 1982, S. 164–180; David Montgomery : Citizen Worker. The Experience of Workers in the United States with Democracy and the Free Market during the Nineteenth Century. Cambridge 1993; Hans-Peter Müller/Jürgen Mackert (Hrsg.): Moderne (Staats)Bürgerschaft. Nationale Staatsbürgerschaft und die Debatten der Citizenship Studies. Wiesbaden 2007. 8 Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 6. Opladen 1995, S. 237–264; Rudolf Stichweh: Niklas Luhmann. In: Kaesler, Bd. 2 (Anm. 3), S. 206–229, hier S. 208f.; Ders.: Zur Theorie politischer Inklusion. In: Berliner Journal für Soziologie 4 (1998), S. 539–547. 9 Ders.: Inklusion und Exklusion in der Weltgesellschaft – am Beispiel der Schule und des Erziehungssystems. In: Universität Bonn, Forum Internationale Wissenschaft, https://www. fiw.uni-bonn.de/demokratieforschung/personen/stichweh/pdfs/97_stw_inklusion-und-ex klusion-in-der-weltgesellschaft-schule-und-erziehungssystem.pdf (aufgerufen am 12. 4. 2018). 10 Ebd., S. 3.

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zunehmendem Maße, selbst Lehrerfunktionen zu übernehmen und entweder in ihrer Freizeit oder durch die Bezahlung von Nachhilfe das zu kompensieren, was das eigene Kind in der Schule versäumt hat. Die Schule gehört dem Subsystem des Erziehungswesens an, das Schule und Familie gleichermaßen umfasst. Ein Kind ohne Eltern und Familie wird mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Schule besuchen. Da ein Schulabschluss für eine erfolgreiche Berufsausübung unabdingbar ist, zieht fehlende Teilhabe am Subsystem Familie die Exklusion aus dem Subsystem Schule nach sich und diese wiederum die Exklusion aus dem Subsystem Arbeitsmarkt.11 Die paradoxe Wirkung von Inklusionsvorgängen beruht darauf, dass Menschen in keines der gesellschaftlichen Subsysteme voll integriert werden können, denn wäre das der Fall, könnten sie an den anderen Teilsystemen nicht mehr partizipieren. Die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft ermöglicht zwar die Lösung immer komplexerer Aufgaben, kann aber auch zur Ausgrenzung von Subsystemen an den Rand der Gesellschaft führen, wie die Entstehung und professionelle Ausdifferenzierung eines speziellen Schulwesens und Arbeitsmarktes für behinderte Menschen zeigt. Inklusion kann gesamtgesellschaftlich durchaus exkludierend wirken. Inklusion und Exklusion sind zwei Seiten derselben Medaille; eines geht ohne das andere nicht. Die Inklusion von Behinderten in speziellen Förderschulen soll durch ihre Inklusion in das allgemeine Schulwesen überwunden werden, um separierenden Praktiken entgegenzuwirken. Angestrebt wird Integration in die Gesamtgruppe, nicht nur Inklusion. Das bedeutet aber auch, dass die Vor- und Nachteile einer höheren Heterogenität und Diversität im Klassenzimmer von allen an dieser Schulklasse Beteiligten hingenommen werden müssen. Stichweh macht darauf aufmerksam, dass die integrierende Inklusion aller Lernenden in den Klassenverband ein „Nebeneinander von miteinander koordinierten, aber parallel zueinander ablaufenden Fördersituationen“ nach sich ziehe, das hohen Personaleinsatz erfordere – Lehrerinnen und Lehrer kennen dies als „Doppelsteckung“. Fehlt dieses Personal, was in der Praxis häufig der Fall sein dürfte, können Schülerinnen und Schüler mit erhöhtem Förderbedarf viel weniger berücksichtigt werden als in der bisherigen Förderschulsituation. Es kann also geschehen, dass „die integrierte Klasse, die die inkludierende Exklusion der Sonderschule ersetzt, zu einem Ort der exkludierenden Inklusion“ wird, mit weitreichenden und nur schwer korrigierbaren gesamtgesellschaftlichen Folgen.12 Ein anderer, wertgebundener Begriffsgebrauch von Inklusion findet sich dort, wo sie politisch gefordert wird, um gesellschaftliche Benachteiligung abzubauen. 11 Ebd., S. 6. 12 Ebd., S. 9.

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Politische Forderungen nach Gleichberechtigung haben die Theoriebildung der Soziologie allerdings von Anfang an begleitet. Durkheims Antwort auf die Antinomien der modernen Gesellschaft war die Solidarität als Inbegriff von Inklusion. Marshalls „Citizenship“, gedacht als umfassende Teilhabe, war das Widerlager zur die Demokratie potentiell aushöhlenden sozialen Ungleichheit. Parsons knüpfte hier an, indem er das volle Bürgerrecht für alle Schwarzen in den USA forderte und untersuchte, welche Hindernisse ihrer umfassenden Teilhabe am sozialen Leben („Mitgliedschaft“) im Wege standen. Der Begriff „Diversity“ (Diversität) entstammt dem Kontext der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Es geht im Kern um Abwehrrechte des Individuums gegen den Staat: Niemand darf wegen seiner – hier der sprachlichen Einfachheit halber als generisches Maskulinum verwendet – Herkunft oder Hautfarbe, Alters oder Geschlechts, der sexuellen Orientierung, wegen seiner Behinderung, seiner Religion oder seiner politischen Weltanschauung diskriminiert werden. Solche menschenrechtlich begründeten Diskriminierungsverbote, die sich u. a. im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz von 2006 niedergeschlagen haben, gehen mit einer Bejahung von gesellschaftlicher Vielfalt einher.13 Die Systemtheorie ist dem Wertfreiheitspostulat verpflichtet. Sie fragt nicht danach, ob die Funktionsweise etwa des Bildungssystems gut oder schlecht ist. Daher unterscheidet sich ihre Sicht stark von der emphatisch-politischen Forderung nach diversitätsfördernder „Vollinklusion“, die gesellschaftliche Systeme gemäß ihrer Funktionslogik versprechen müssen, aber im Interesse des Gesamtsystems nicht realisieren können. Die Forderung nach integrierender Inklusion beruft sich auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen von 2006, die 2008 in Kraft trat. Das Übereinkommen stellt auf Chancengleichheit und volle gesellschaftliche Partizipation ab. Es gewährleistet „ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen“ um „Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen.“14 Der Begriff der Behinderung wird als historisch wandelbar ausgewiesen und als „Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ definiert. Ferner macht die Konvention auf „die mehrfachen oder verschärften Formen der Diskriminierung aufgrund 13 Peter Massing (Hrsg.): Gender und Diversity – Eine Einführung. Schwalbach/Ts. 2010; Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) v. 14. 8. 2006, https://www.gesetze-im-internet. de/agg/index.html (aufgerufen am 12. 4. 2018). 14 Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. In: Bundesgesetzblatt 2008 II (31. 12. 2008), Art. 24 Abs. 1 und Abs. 1 lit. c. http://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar61106 -dbgbl.pdf (aufgerufen am 12. 4. 2018).

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der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen, indigenen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt, des Alters oder des sonstigen Status“ aufmerksam, denen Behinderte ausgesetzt sein können.15 Die Vereinten Nationen wollen Behinderung also nicht auf körperliche oder geistige/seelische Beeinträchtigungen reduziert wissen. Sie widersetzen sich der Verdinglichung des Behindertenstatus, indem sie Diversität als Normalzustand einer Gesellschaft und Behinderung als eine Spielart von Diversität erkennbar machen. Der systemtheoretische Vorbehalt, dass die integrierende Inklusion aller Formen von Diversität die Funktionsfähigkeit von hochdifferenzierten Gesellschaften bedrohen kann, dringt gegen die menschenrechtliche Grundierung dieses Programms nicht durch. Die philosophische oder geschichtstheoretische Grundlage von politisch relevanten Diversitätsforderungen ist die postmoderne „Dekonstruktion“ aller vermeintlichen Gewissheiten. Nach dieser Sichtweise gibt es keine Geschlechter mehr, die durch die menschliche Biologie festgelegt sind, sondern ein soziales Konstrukt „Gender“, das historisch und gegenwärtig unterschiedlich gefüllt werden konnte.16 „Geschichte“ steht unter dem Vorbehalt, nationale „Meistererzählungen“ hervorgebracht zu haben, die im Interesse kultureller Vielfalt und internationalistischer Orientierungen durch plurale Erzählungen und Geschichten ersetzt werden sollen.17 Denn von der Dekonstruktion der Sozialbeziehungen ist eine Determinante des menschlichen Zusammenlebens ausgenommen, diese sogar in ihrer Bedeutung nachhaltig verstärkt worden: die Identität des Individuums und derjenigen Gruppen, die die Anerkennung ihrer Verschiedenheit einfordern.18 Inklusive Pädagogik zielt auf die Anerkennung von Diversität auf allen Ebenen von Bildung und Erziehung. Demzufolge kann ein funktional differenziertes Bildungssystem als Verstoß gegen Chancengleichheit verstanden und die Einführung einer Einheitsschule für alle Kinder und Jugendlichen gefordert werden.19 Die Gesamtgruppe der Schülerinnen und Schüler wird auch in weniger weitgehenden Positionen als Ensemble unterschiedlicher Diversitäten wahrge-

15 Ebd., Präambel, lit. e, p. 16 Jacques Derrida: Grammatologie (1967). Frankfurt a. M. 1983; Judith Butler : Das Unbehagen der Geschlechter (1990). Frankfurt a. M. 2003. 17 Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow: „Meistererzählung“ – Zur Karriere eines Begriffs. In: Dies. (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002, S. 9–31. 18 Armin Nassehi: Identität als europäische Inszenierung. In: Anne Honer u. a. (Hrsg.): Fragile Sozialität. Inszenierungen, Sinnwelten, Existenzbastler. Wiesbaden 2010, S. 261–276. 19 Brigitte Schumann: Streitschrift Inklusion. Was Sonderpädagogik und Bildungspolitik verschweigen. Schwalbach/Ts. 2018.

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nommen, denen die Schule durch ein Höchstmaß an innerer Differenzierung und Förderung gerecht werden muss.20 Inklusionspädagogik und Systemtheorie trennen unvereinbare Begriffsdefinitionen und Deutungsunterschiede. Pädagogisch wird die Anerkennung der „Verschiedenheit im Gemeinsamen“ als Inklusion bezeichnet, die ihrerseits Voraussetzung für „Mitbestimmung und Mitgestaltung für alle Menschen ohne Ausnahme“ sein soll. Die Systemtheorie beschreibt und analysiert, wie „die Gesellschaft“ mit den Menschen inkludierend und exkludierend in Interaktion tritt. Die Inklusionspädagogik fordert, alle Menschen in die Gesellschaft zu inkludieren, weil Exklusion als Verstoß gegen universelle Grundrechte zu bewerten sei.

Geschichtsdidaktischer Diskussionsstand Die Geschichtsdidaktik hat Impulse aus der Inklusionspädagogik aufgenommen. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die Heidelberger Geschichtsdidaktikerin Bettina Alavi, die seit ihren frühen Studien über historisches Lernen in der Einwanderergesellschaft kontinuierlich gesellschaftliche Verschiedenheit reflektiert und Unterrichtskonzepte entwickelt hat, die diese Verschiedenheit als Chance zur Geltung bringen sollen.21 Der Berliner Geschichtsdidaktiker Martin Lücke hat vorgeschlagen, Diversität im vorgenannten Sinn und „Intersektionalität“ als Konzepte der Geschichtsdidaktik zu profilieren, wobei er in beiden Fällen auf Vorbilder aus den Vereinigten Staaten rekurriert.22 „Race“, Klasse und Geschlecht erscheinen bei Lücke als Determinanten von „Identitätskonzepten“, denen der oder die Einzelne notwendigerweise folgen muss. „Intersectionality Studies“, in den USA als feministisch inspirierte Ausein20 Georg Feuser : Zum Verhältnis von Sonder- und Integrationspädagogik – eine Paradigmendiskussion? Zur Inflation eines Begriffes, der bislang ein Wort geblieben ist. In: Friedrich Albrecht u. a. (Hrsg): Perspektiven der Sonderpädagogik. Disziplin und professionsbezogene Standortbestimmung (Festschrift für Helga Deppe-Wolfinger zum 60. Geburtstag). Berlin 2000, S. 20–44. 21 Bettina Alavi: Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft. Eine fachdidaktische Studie zur Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen. Frankfurt a. M. 1998; Dies./Karin Terfloth: Historisches Lernen im inklusiven Unterricht. In: Theo Klauß/Karin Terfloth (Hrsg.): Besser gemeinsam lernen! Inklusive Schulentwicklung. Heidelberg 2013, S. 185–207; Dies./Martin Lücke (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2016. 22 Martin Lücke: Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik. In: Ders./Michele Barricelli (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 136–146.

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andersetzung mit Mehrfachdiskriminierungen entstanden23, sollen im Geschichtsunterricht genutzt werden, um das Zusammenwirken von Rasse, Klasse und Geschlecht („Race“, „Class“ und „Gender“) bei der Herstellung gesellschaftlicher Ungleichheit in vergangenen Gesellschaften zu untersuchen und die so entstandene Ungleichheit als veränderlich auszuweisen. Das Ziel besteht darin, „viele kleine Geschichten“ zu erzählen, „an denen sich soziale Kategorien und Herrschaftsebenen kreuzen und in denen solche Kreuzungen narrativ verknüpft werden.“24 Seit der Zäsur der Behindertenrechtskonvention wird die Frage nach der Inklusion von Behinderten in die Geschichtsdidaktik diskutiert. Die Historiker Sebastian Barsch und Christoph Kühberger sind auf diesem Gebiet mit wichtigen Veröffentlichungen hervorgetreten.25 Vorläufig muss jedoch offenbleiben, worin das geschichtsdidaktische Proprium des inklusiven Geschichtslernens und der von Martin Lücke in den Vordergrund gestellten „eigensinnigen Aneignung“ von Geschichte durch Behinderte liegt, weil hierzu nur wenige empirische Forschungsergebnisse vorliegen. Der Geschichtsdidaktiker Wolfgang Hasberg hat davor gewarnt, „Diversität zu verherrlichen anstatt Gemeinsamkeiten zu pflegen“ und den Geschichtsunterricht Gleichstellungsforderungen zu unterwerfen. Auf diese Weise, so Hasberg, werde der unterrichtliche Diskurs über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unzulässig eingeschränkt.26 Am gegenüberliegenden Ende der Skala liegen die Schriften der Geschichtsdidaktikerin Bärbel Völkel, die den herkömmlichen Geschichtsunterricht als Ausdruck kolonialer/rassistischer Denkmuster betrachtet und aus ihrer Sicht eurozentrische Zeitbegriffe geschichtsdidaktischer Geschichtsbewusstseins-Konzepte durch einen diversitätssensiblen Umgang mit dem „Leib“ des Kindes ersetzen möchte.27 23 Die Behindertenrechtskonvention von 2006 weist, wie gesehen, auf die verschiedenen Arten und Weisen ausdrücklich hin, in denen Behinderte Opfer von Ausgrenzung sein können. 24 Lücke (Anm. 22), S. 145. 25 Sebastian Barsch: Narrative der Vielfalt: Sonderpädagogische Potenziale für das historische Lernen. In: Ders./Wolfgang Hasberg (Hrsg.): Inklusiv – Exklusiv. Historisches Lernen für alle. Schwalbach/Ts. 2014, S. 40–59; Ders.: Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen denken historisch – Einblicke in die empirische Forschung. In: Alavi/ Lücke (Anm. 21), S. 71–84; Christoph Kühberger/Robert Schneider (Hrsg.): Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts. Bad Heilbrunn 2016. 26 Wolfgang Hasberg: Historisches Lernen für alle. In: Barsch/Hasberg (Anm. 25), S. 11–39, hier S. 13; Ders.: Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Leitrezension zu Bettina Alavi/Martin Lücke (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2016. In: Geschichte für heute (10) 2017, S. 90–94, hier S. 92. 27 Bärbel Völkel: Inklusive Geschichtsdidaktik. Vom inneren Zeitbewusstsein zur dialogischen Geschichte. Schwalbach/Ts. 2017.

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Hasbergs Kritik verdeutlicht das argumentative Dilemma, in dem eine vorrangig auf Diversität abstellende Geschichtsdidaktik befangen ist. Denn die Wertschätzung partikularer Sinnbildungsmuster kann gar nicht anders als mit allgemeinem Geltungsanspruch vorgetragen werden, sofern sie auf gesellschaftliche Veränderung zielt. Dieser allgemeine Geltungsanspruch wird jedoch denjenigen, die sich gegen Diversität als geschichtsunterrichtliches Leitbild wenden, implizit oder ausdrücklich abgesprochen. Im weiteren Sinne stellt sich die politische Frage, auf welche Gemeinsamkeiten jenseits des „Verfassungspatriotismus“ eine moderne Gesellschaft wie die Bundesrepublik angewiesen ist, um noch Gesellschaft sein zu können.28

Zu den Beiträgen dieser Sektion Die Sektion verlief anders als geplant. Sie musste abgebrochen werden, weil die Referentinnen Saraya Gomis, Antidiskriminierungsbeauftragte der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, und Hajdi Barz, Pädagogikstudentin an der Universität Potsdam und feministisch-antirassistische Aktivistin, unter Protest den Raum verließen. Ihnen schlossen sich weitere Tagungsteilnehmer an. Auslöser dieses Vorgangs war vordergründig ein Konflikt um die Redezeit. Gomis und Barz widersetzten sich der Bitte des Sektionsleiters, die Diskussion nunmehr zu beenden, mit dem Argument, als Opfer von Ausgrenzung und Diskriminierung hätten sie ein Anrecht auf größere Redezeit als alle übrigen Referenten. Der Sektionsleiter habe, so deuteten sie an, ein Problem mit ihrer Hautfarbe. Er wies diese Unterstellung zurück und bestand auf der Einhaltung seiner Zeitvorgabe. Daraufhin wurde die Sektion de facto gesprengt. Hier manifestierten sich identitäre Positionen in einer Art Happening.29 Gomis und Barz haben ihr Manuskript nicht zum Druck eingereicht. 28 Durkheim hat hierzu sehr entschiedene Auffassungen vertreten. Die Existenz einer öffentlichen Moral setzte für ihn voraus, dass die Gesellschaft eine „moralische Person“ sei, „die sich von den individuellen Personen, die sie umfasst und aus deren Synthese sie hervorgeht, qualitativ unterscheidet. […] Wir postulieren eine von den Individuen spezifisch sich unterscheidende Gesellschaft, weil andernfalls die Moral keinen Gegenstand, die Pflicht keinen Fixpunkt hätte.“ Emile Durkheim: Soziologie und Philosophie (1924). Frankfurt a. M. 1976, S. 104. 29 Christoph Hamann (vgl. seinen Kommentar zu dieser Sektion) kritisiert eine überzogene „Selbstermächtigung“ von Gomis und Barz. Im Tagungsbericht von Frank Britsche, Lars Deile und Regina Göschl wird der Sachverhalt hingegen mit der Formulierung, dass „Kontroversen innerhalb der Sektion über die Reproduktionsmechanismen von Machtstrukturen zum Abbruch des Panels führten“, verdeckt. Tagungsbericht: Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung, 28. 09. 2017–30. 09. 2017 Berlin. In: H-Soz-Kult, 05. 06. 2018, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte7681 (aufgerufen am 5. 6. 2018).

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Thomas Sandkühler

Bettina Alavi und Sebastian Barsch tragen Überlegungen aus dem Umkreis eines in Vorbereitung befindlichen „Handbuchs Diversität im Geschichtsunterricht“ vor. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist ein wahrgenommener Konflikt zwischen dem „inklusiven“ Diskurskontext der Geschichtsdidaktik und öffentlichen Befürchtungen, dass „Vielfalt Elite verhindert, da sich die Lehrkräfte an den leistungsschwächeren SchülerInnen orientieren würden.“ Im weiteren Sinne geht es in ihrem Beitrag um das Verhältnis von Inklusion und Kompetenz bzw. Standard, mithin zwischen der Anforderung, der Verschiedenheit von Schülerinnen und Schülern im vollen Umfang gerecht zu werden, und der ebenfalls bestehenden Anforderung an den Geschichtsunterricht, die Vergleichbarkeit der Leistungen zumindest erheblicher Teile der Lerngruppe zu gewährleisten. Unterrichtspragmatisch erarbeiten Alavi und Barsch Möglichkeiten einer differenzierten Sprachförderung. Das nachdenkliche Fazit des Aufsatzes mündet in die Überlegung, „das Verhältnis von politischer und historischer Bildung im Kontext von Demokratieerziehung neu zu überdenken.“ Marcus Otto interpretiert Ergebnisse einer Studie über „Migration und Integration“, die das Braunschweiger Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung im Auftrag der Bundesbeauftragten für Migration, Integration und Flüchtlinge durchgeführt hat. Er untersucht, wie Differenzkategorien bis hin zu rassistischen Stereotypen in denjenigen Teilen aktueller Schulbücher repräsentiert werden, die Migration und Fremdheit zum Gegenstand haben. Otto geht von der soziologischen Systemtheorie im Anschluss an Parsons und Luhmann aus. Der Schule komme eine gesellschaftliche Schlüsselbedeutung bei der „(Re-)Produktion von Inklusion oder Exklusion auch und gerade durch jeweils distinktive Formen der Adressierung der Lernenden“ zu. Otto unterzieht ausgewählte Schulbuchtexte einer ideologiekritischen Analyse. Im Ergebnis macht er einen „Imperativ der Integration“ und ein sinnweltliches „Repräsentationsregime“ aus, das Zuwanderer entweder emphatisch-therapeutisch wahrnehme oder zu einem Objekt integrierender Sozialtechnologie verdingliche. Thomas Sandkühler und Guido Lenkeit plädieren für die Ausweitung, zumindest aber den Erhalt des Geschichtsunterrichts als Fachunterricht vor allem in den nichtgymnasialen Schulen der Sekundarstufe I. Der Ausgangspunkt der Autoren war die kritische Auseinandersetzung mit Fragen der Statistik über den Geschichtsunterricht, die in der Sektion zur Diskussion gestellt werden sollte, aber nicht diskutiert werden konnte. Im vorliegenden Aufsatz wird eine Statistik des Geschichtslehrerverbands einer kritischen Sichtung unterzogen und durch eine eigenständige Erhebung zu den amtlichen Stundentafeln ergänzt. Ferner werten die Autoren demoskopische Befunde aus. Ähnlich wie Marcus Otto argumentieren Sandkühler und Lenkeit systemtheoretisch. Sie gehen von der Hypothese aus, dass nur der Einzelfachunterricht Kompetenzen vermitteln könne, die für eine aktive Teilhabe an der

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Gesellschaft erforderlich seien. Die Autoren weisen auf enge disziplingeschichtliche Zusammenhänge zwischen Geschichtsdidaktik und Demokratiebildung hin und schlagen vor, die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte der Demokratie zum Gegenstand eines Geschichtsunterrichts zu machen, der sich in die Nachfolge einer emanzipatorischen Geschichtsdidaktik stellt.

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Vielfalt vs. Elite? Geschichtsunterricht zwischen Subjektorientierung und Standardisierung

1.

Einleitung

Berücksichtigt man den aktuellen Diskurs um schulische Vielfalt, ist es unerlässlich, Inklusion in einem weiten Sinne zu verstehen. Historisches Lernen findet in Gesellschaften der Vielfalt statt; eine rein „sonderpädagogische“ Inklusion, welche vor allem auf sonderpädagogische Förderschwerpunkte fokussiert, greift zu kurz.1 Für den schulischen Geschichtsunterricht bedeutet dies, dass das lernende Subjekt mit seinen Bedürfnissen und individuellen Besonderheiten ernst genommen wird und im Mittelpunkt steht. Die individuellen Besonderheiten müssen durch die problemorientierte Analyse verschiedener Differenzkategorien für das historische Lernen fokussiert werden, nämlich der Differenzkategorien Klasse (class), Ethnie (race), Migration, Nation, Hautfarbe/ Whiteness, Geschlecht, Sexualität, Alter, Religion und Behinderung (Dis/Ability).2 Inklusives historisches Lernen geht demnach von einer Vielfalt an Differenzkategorien aus, die alleine und in ihrem intersektionalen Zusammenwirken analysiert werden.3 1 Der Beitrag umreißt zentrale Fragen aus Bettina Alavi/Sebastian Barsch/Christoph Kühberger/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Zugänge zu einer inklusiven Geschichtsdidaktik. Frankfurt/M. (i. Dr.). 2 Hinter diesen Differenzkategorien stehen teilweise ganze Theoriegebäude. Dis/Ability mit Schrägstrich geschrieben bezeichnet den untrennbaren Zusammenhang von beiden Teilen und verweist auf den theoretischen Ansatz der Dis/Ability History, die erforscht, wie und warum dis/ability historisch, sozial, kulturell überhaupt hergestellt wird. Sie versteht sich nicht als historische Behindertenwissenschaft, die untersucht, wie Behinderte in der Vergangenheit gelebt haben, vgl. Anne Waldschmidt/Elisabeth Bösl: Nacheinander/Miteinander. Disability Studies und Dis/ability History. In: Cordula Nolte u. a. (Hrsg.): Dis/Ability History der Vormoderne. Ein Handbuch. Affalterbach 2017, S. 40–49. An dieser Stelle können die verschiedenen Differenzkategorien nicht weiter erläutert werden. Sie werden aber in ihrer Bezeichnung aufgelistet, in der sie in ihrem theoretischen Umfeld verwendet werden. 3 Martin Lücke: Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Band 1. Schwalbach/Ts., 2012, S. 136–146.

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In der sozialen und kulturellen Praxis werden aus reinen Differenzkategorien, die Unterschiede benennen, häufig Diversitätskategorien, die die Unterschiede werten. Der Begriff Diversitätskategorie hebt graduelle Unterschiede und deren unterschiedliche Wertigkeit durch sie beeinflussende Machtverhältnisse hervor. Geschichtsunterricht muss notwendigerweise die Unterschiedlichkeit der Lernenden berücksichtigen, die sich in der Regel hinsichtlich eines ganzen Sets an Merkmalen unterscheiden. Ein Flüchtlingskind aus Syrien etwa ist durch einen spezifischen kulturellen Hintergrund, seine Migrationserfahrung, seine Sprache, meist auch seiner Religion geprägt. Aber auch das Kind, welches keine Fluchterfahrung hat, ist durch spezifische Erfahrungen geprägt. Inklusion in einem breiten Sinne verstanden bedeutet die Hinwendung zum jeweiligen lernenden Subjekt, egal ob dieses bspw. als ,behindert‘ klassifiziert wurde oder nicht, Migration erlebt hat oder nicht. Inklusion stellt gerade auch die herkömmlichen Konstruktionen von Anderssein in Frage. Auf dieser Basis erhöht sich die Anzahl jener Facetten in der Wahrnehmung von Lernenden, welche für das Verstehen eines historisch denkenden Subjekts und seiner unterschiedlichen Interaktionen als relevant eingestuft werden. Vielfalt wird im universitären „inklusiven“ Diskurskontext mit Subjektorientierung und Differenzkategorien verbunden, in der öffentlichen Diskussion verweisen Artikel und Leserbriefe auf eine Wahrnehmung und Einschätzung ganz anderer Art: Hier findet sich die Angst, dass Vielfalt Elite verhindert, da sich die Lehrkräfte an den leistungsschwächeren SchülerInnen orientieren würden. Gefordert werden in solchen Artikeln Standards, die sich als Leistungsstandards nach oben orientieren und als Ziellinie die Studierfähigkeit setzen. Standardisierung soll also eindeutig identifizierbare und zuweisbare Leistungsniveaus kenntlich machen, mit deren Hilfe sehr gute von guten und weniger guten SchülerInnen unterschieden werden können. Kurz: Im öffentlichen Diskurs um Inklusion äußert sich die Sorge, dass eine wie auch immer definierte „Elite“ nicht ausreichend berücksichtigt wird. Insofern Inklusion auf jedes lernende Subjekt zielt, werden allerdings auch hochbegabte SchülerInnen und deren spezifischen Bedarfe mitberücksichtigt – somit zielen die Bedenken eigentlich ins Leere. Allerdings schwingen in der Elitendiskussion durchaus auch Themen mit, die man konträr zur Inklusionsdebatte diskutieren könnte: Wissenschaftsorientierung versus „eigensinnige Aneignung“4, Kognition versus

4 Oliver Musenberg: Perspektiven ,eigensinniger Aneignung‘ von Geschichte. Impulse für die Theoriebildung inklusiver Geschichtsdidaktik. In: Bettina Alavi/Martin Lücke (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2016, S. 19–33.

Geschichtsunterricht zwischen Subjektorientierung und Standardisierung

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basal-perzeptive, konkret-gegenständliche und anschauliche Aneignungsweisen5, Maximalstandards versus Null-Niveau. In der Geschichtsdidaktik werden Themen der Standardisierung in erster Linie über die den Standards zugrunde liegenden Kompetenzmodelle diskutiert.6 Nach PISA wurde die Kompetenzdebatte besonders im Hinblick auf die Entwicklung unterschiedlicher Kompetenzmodelle historischen Lernens und historischen Denkens lebhaft und intensiv geführt. Inzwischen ist die geschichtsdidaktische Kompetenzdiskussion ruhiger geworden, aber noch nicht ganz erlahmt. In einem 2016 von Handro/Schönemann herausgegebenen Sammelband weisen mehrere Autoren „Weiße Flecken der Kompetenzdebatte“ nach.7 Holger Thünemann schlägt dort vor, die Diskussion komplementär und nicht kontrastiv zu führen.8 Dies würde bedeuten, zusammenzudenken, inwieweit der Diskurs um Vielfalt und Subjektorientierung die Kompetenzdebatte anregt, verändert, zu neuen Überlegungen und Ansätzen bringt. Andererseits kann die Kompetenzdiskussion um Standardisierung und Kompetenzmessung auch die Inklusionsdebatte beleben und Grenzen der Subjektorientierung aufzeigen. Den Versuch einer solchen komplementären Herangehensweise werden wir im Folgenden unternehmen, indem wir fragen, inwiefern vier Themenbereiche innerhalb der Inklusionsdebatte Impulse zu wichtigen Fragen der Kompetenzdebatte geben können – und umkehrt. Dabei werden wir nicht den Diskurs um Kompetenzmodelle direkt aufgreifen, sondern der Frage nachgehen, wie sich das Verhältnis von kompetenzorientiertem historischen Lernen zu Fragen der Inklusion gestaltet. Die exemplarischen – allerdings im geschichtsdidaktischen Diskurs derzeit dominanten – Bereiche sind Geschichtskultur, das Verhältnis zwischen Wissen und Kompetenzen, die Graduierung von Kompetenzen und letztlich das Verhältnis von Sprache und historischem Lernen.

5 Bettina Alavi/Karin Terfloth: Historisches Lernen im inklusiven Unterricht. In: Theo Klauß/ Karin Terfloth (Hrsg.): Besser gemeinsam lernen! Inklusive Schulentwicklung. Heidelberg 2013, S. 185–207. 6 Bernd Schönemann: Nach PISA – kompetenzorientierte und standardbasierte Geschichtslehrpläne. In: Hilke Günther-Arndt/Meik Zülsdorf-Kersting: Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 6. Aufl. Berlin 2014, S. 63–66. 7 Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte. Münster 2016. 8 Holger Thünemann: Probleme und Perspektiven der Kompetenzdebatte. In: Handro/Schönemann (Anm. 7), S. 37–51.

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2.

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Geschichtskultur für eine inklusive Gesellschaft?

Die mit der Inklusion verbundenen Maßnahmen haben auch eine normative Komponente. Inklusion im einem weiten Sinne verstanden wirkt auf gesellschaftlicher Ebene, die mit ihr verbundenen Ansätze entspringen der Erkenntnis, dass Gesellschaften oft, wenn nicht sogar immer, durch Ausgrenzung von Gruppen gekennzeichnet sind, deren kulturelle, ökonomische, körperliche, sexuelle, intellektuelle oder andere Merkmale von denjenigen der Mehrheit abweichen. Diskurse über Inklusion und die aus ihnen entspringen Maßnahmen haben somit auch das Ziel, Diskriminierungen und Chancenungerechtigkeiten aufzuheben. Der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Inklusion kann sich auch die Geschichtsdidaktik nicht entziehen, insofern neben pragmatischen Ansätzen, die sich auf historisch lernende Individuen beziehen, mit der Geschichtskultur auch die Gesellschaft und deren historisches Orientierungsbedürfnis fokussiert wird. Martin Lücke kennzeichnet die Herausforderungen für die Geschichtsdidaktik derart, dass der Geschichtsunterricht als Komponente der Geschichtskultur in einer Gesellschaft stattfinde, „die durch Heterogenität und soziale Ungleichheiten geprägt“ ist. Dabei sieht er in der Gesellschaft nicht nur „eine bloße Kulisse für Geschichtsunterricht, vor deren Hintergrund auf beliebige Weise historisch gelernt werden kann. […] Gesellschaft ist […] der konkrete soziale Raum, in dem individuelle historische Identitäten entstehen und Geschichtsbewusstsein entwickelt wird.“9 Der mit der Inklusion verbundene normative Ansatz kann jedoch auch kritisch hinterfragt werden. So formuliert Wolfgang Hasberg, dass die „Debatte um Inklusion, die längst weltanschauliche Züge angenommen hat […], Gefahr läuft, Diversität zu verherrlichen anstatt Gemeinsamkeiten zu pflegen.“10 Ähnlich kritisch äußerte sich Hasberg bezüglich einer „inklusiven Geschichtskultur“. So fragt er, ob sich die Geschichtsdidaktik überhaupt mit einer inklusiven Geschichtskultur befassen soll, sei diese doch „stets ein Aushandlungsprozess, in dem Geschichtsdeutungen im Diskurs miteinander konkurrieren“. Der Geschichtsdidaktik käme dabei lediglich die Aufgabe zu, diesen Prozess analytisch zu begleiten, jedoch ohne auf diesen Diskurs normativ einzuwirken.11 Ist diese Kritik gerechtfertigt? Insofern man die Geschichtsdidaktik auch als 9 Lücke (Anm. 2), S. 136. 10 Wolfgang Hasberg: Historisches Lernen für alle. In: Sebastian Barsch/Wolfgang Hasberg (Hrsg.): Inklusiv – exklusiv. Historisches Lernen für alle. Schwalbach/Ts. 2014, S. 11–39, hier S. 13. 11 Ders.: Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Leitrezension zu Bettina Alavi/Martin Lücke (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2016. In: geschichte für heute (10) 2017, S. 90–94, hier S. 92.

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Reflexionsinstanz für die Bedeutung des Geschichtsbewusstseins auf das Selbstverständnis der Gegenwart verstehen kann, wäre es eher problematisch, den gesellschaftlichen Diskurs nur zu begleiten,12 denn durch die wissenschaftliche Hinwendung zu eben dieser Gesellschaft mit eben diesem Diskurs findet automatisch auch eine Art performativer Akt statt, der normativ wirkt. Bernd Schönemann charakterisiert die Geschichtskultur als ein soziales System, in dem Kommunikation stattfindet. Elemente dieses Systems sind auch Bildungsinstitutionen wie Universitäten und Schulen.13 Insofern ist auch die Geschichtskultur Gegenstand des Geschichtsunterrichts geworden, welcher, wenn er als wissenschaftliche Disziplin verstanden wird, auch den wissenschaftlichen Diskurs einbeziehen und auf diesen einwirken muss. Es geht bei der historischen Bildung auch um die „Teilhabe am geschichtskulturellen Diskurs der Gegenwart“.14 Somit kann nicht ausbleiben, im Rahmen dieses Diskurses auch über Inhalte zu sprechen, die im Zuge eines gesellschaftlich wachsenden Interesses an Inklusion in die Geschichtsdidaktik einfließen. Fraglich ist allerdings, welche Ansprüche hieraus für die Inhalte historischen Lernens in einer diversen Gesellschaft entspringen. Geschichtskulturell betrachtet ist die Frage, ob es nicht doch, wie Jörn Rüsen schreibt, „irgendwie Einheitliches oder Übergreifendes [geben müsse, die Verf.], das als Leitkultur im Umgang mit dieser Vielfalt ins Spiel gebracht werden könnte.“15 Rüsen hinterfragt, ob Geschichtskultur nur durch Vielfalt und Divergenz gekennzeichnet werden kann, und postuliert, dass es sehr wohl gemeinschaftsbildende Traditionen wie die Ablehnung des Nationalsozialismus oder die Auseinandersetzung mit der Gestalt Luthers gibt. Letztlich, so Rüsen, brauche die kulturelle Vielfalt ein gemeinsames, geschichtskulturelles Dach, welches auch aus den Elementen „und Faktoren der deutschen Kultur“ wie der „Anerkennung kultureller Vielfalt auf der Basis einer Anthropologie der menschlichen Würde“ etwa im Sinne des Humanismus klassisch-moderner Ausbildung wie bei Herder und Humboldt bestehen würde.16 Aber reicht diese Besinnung auf eine geschichtskulturelle Tradition? Wenn die „Geschichtskultur der Erinnerungsgemeinschaft […] ursächlich für das iden12 Schönemann (Anm. 6), S. 13. 13 Ebd., S. 18. 14 Hans-Jürgen Pandel: Postmoderne Beliebigkeit? Über den sorglosen Umgang mit Inhalten und Methoden. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (50) 1999, S. 282–291, hier S. 290. 15 Jörn Rüsen: Deutsche Kultur – gähnende Leere oder wirksame Orientierung. Online unter : lisa.gerda-henkel-stiftung.de/deutsche_kultur_gaehnende_leere_oder_wirksame_orientierung?nav_id=7256 (aufgerufen am 22. 9. 2017). In dem Beitrag befasst sich Rüsen mit einer Aussage der Integrationsbeauftragten des Bundes, Aydan Özoguz, nach der es eine spezifisch deutsche Kultur jenseits der Sprache nicht gäbe. 16 Ebd.

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titätskonkrete individuelle Geschichtsbewusstsein“ ist,17 muss zunächst einmal darüber nachgedacht werden, was die Erinnerungsgemeinschaft ist. Gibt es diese überhaupt? Ist sie homogen? Sicher nicht. Jeder Mensch ist in der Gesellschaft mehrfach verortet, es gibt nicht die eine Geschichtskultur, sondern eine Vielzahl an parallel und sich überschneidenden Geschichtskulturen.18 Im Zuge einer inklusiv gedachten Geschichtskultur bleibt es nicht aus, dass Aspekte von Diversität auch Inhalte historischen Lernens werden. Dazu zählen etwa die Queer History oder die Dis/ability History. Diese müssen selbst dann Eingang in das historische Lernen finden, wenn eine inklusive Geschichtskultur per se abgelehnt bzw. in Frage gestellt wird. Warum? Zum einen, weil diese Inhalte auch in der Geschichtswissenschaft verhandelt werden. Zum anderen, weil historisches Lernen eben in der Gesellschaft stattfindet. Soll der geschichtskulturelle Diskurs in seinen vielen Facetten ernstgenommen werden, kann es demnach nicht darum gehen, nur die Geschichten der Mehrheit zu erzählen. Letztlich muss es auch darum gehen, die hinter dem geschichtskulturellen Diskurs stehenden Machtstrukturen zu analysieren, die derzeit noch oft von „wirksamen Tabuisierungen gegenüber dem Anderen“19 gekennzeichnet sind und die eine intersektionale Perspektive auf Differenzkategorien verhindern. Eine inklusive Gesellschaft verfügt auch über inklusives Wissen, wenn sie die Vielfalt der Perspektiven tatsächlich zulässt. Dies entspricht derzeit aber noch nicht der Realität. Der Geschichtsunterricht in einer inklusiven Geschichtskultur muss sich daher auch aktiv auf der Ebene der Inhalte marginalisierten Gruppen und ihren eigenen und den Erzählungen über sie zuwenden, wenn er wissenschaftsorientiert bleiben möchte, schon allein, um wie gerade beschrieben anschlussfähig zur Geschichtswissenschaft zu bleiben, die mit neueren Ansätzen wie Verflechtungsgeschichte genau die Vielfalt der Perspektiven adressiert. Aber : „Solange die Einsichten zu verschiedenen Differenzkategorien noch derart unausgewogen in historischen Narrationen des historischen Lernens auftreten, wird es notwendig sein, bei der Planung von Unterricht und mit den Lernenden verstärkt über Machtstrukturen im historischen Wissen und seinen Medien nachzudenken.“20 Aber auch dann, wenn nicht der geschichtswissenschaftliche, soziologische oder politische Diskurs als Referenzpunkt einer inklusiven Geschichtskultur betrachtet wird, ist Differenz in den geschichtskulturellen Produkten der Vergangenheit und Gegenwart allgegenwärtig. Als Beispiel soll auf die Kategorie „Behinderung“ verwiesen werden: „Disability is everywhere in history, once you 17 Bärbel Völkel: Inklusive Geschichtsdidaktik. Vom inneren Zeitbewusstsein zur dialogischen Geschichte. Schwalbach/Ts. 2017, S. 34. 18 Dazu Andreas Körber : Inklusive Geschichtskultur – Bestimmungsfaktoren und Ansprüche. In: Alavi u. a. (Anm. 1). 19 Christoph Kühberger : Historisches Wissen als inklusives Wissen. In: Alavi u. a. (Anm. 1). 20 Ebd.

Geschichtsunterricht zwischen Subjektorientierung und Standardisierung

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begin looking for it, but conspicuously absent in the histories we write.“21 So findet man die Thematisierung von Behinderung etwa auf zahlreichen Portraits der Vergangenheit wie das eines körperbehinderten Mannes aus dem 16. Jahrhundert.22 Dass solcherlei Kunstwerke überhaupt stärker rezipiert, ja überhaupt als reflexionswürdig wahrgenommen werden, lässt sich auch durch die steigende gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Behinderung begründen. Für andere Differenzkategorien wie Sexualität, Herkunft, Alter lassen sich ebenfalls zahlreiche Beispiele finden. Differenz ist also immer schon geschichtskulturell verhandelt worden.

3.

Verhältnis Wissen und Kompetenzen

Im öffentlichen Diskurs finden sich häufiger Artikel, die die mangelnden Kenntnisse von Fakten- und Ereigniswissen bei SchülerInnen beklagen und eine offenkundig stofforientierte und positivistische Vorstellung vom Geschichtsunterricht haben.23 Diese Position verstärkt haben auch die öffentlichkeitswirksamen empirischen Untersuchungen – z. B. die sog. Schroeder-Studie24 – die Wissensdefizite bei SchülerInnen beklagen und dabei in erster Linie deklaratives Wissen meinen.25 Das narrativistisch-konstruktivistische Geschichtsverständnis und die auf dieser Basis entwickelten Kompetenzmodelle, allen voran das sich darauf explizit beziehende Modell FUER, ist anscheinend schwer zu kommu21 Douglas Baynton: Disability and the justification of inequality in American history. In: Paul K. Longmore/Laurie Umansky (Hrsg.): The new disability history : American perspectives. New York/London 2001, S. 33–56, hier S. 52; zur Kategorie Behinderung in der Geschichtsdidaktik Sebastian Barsch: „Die Anderen da draußen“ – Behinderung als Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 10 (2011), S. 105–116. 22 Dazu Volker Schönwiese: The Portrait of a Sixteenth-Century Disabled Man. In: Public Disability History 1 (2016) 8, online unter : http://www.public-disabilityhistory.org/2016/04/ the-portrait-of-sixteenth-century.html (aufgerufen am 22. 9. 2017). 23 Thünemann (Anm. 7), S. 37–39, geht auf mehrere Artikel in sog. Qualitätszeitschriften ein, die einen solchen Tenor haben. 24 Klaus Schroeder u. a.: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen. Frankfurt/M. u. a. 2012. 25 Dass deklaratives Wissen, das nicht angewendet wird, also nicht in Prozesse historischen Denkens eingebunden wird, schnell zu „trägem Wissen“ wird, das schnell vergessen wird, hat schon Bodo von Borries in seinen empirischen Studien festgestellt, vgl. Bodo v. Borries (unter Mitarbeit von Andreas Körber/Oliver Baeck/Angela Kindervater): Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht (= Schule und Gesellschaft, Bd. 21). Opladen 1999. Insofern greifen die genannten empirischen Studien zu kurz, wenn sie nur eine stärkere Stofforientierung reklamieren. An der Schroeder-Studie wird zusätzlich die verordnete Werthaltung kritisiert, vgl. Markus Bernhardt: Der „Späte Sieg der Diktaturen“ – Resultat ergebnisoffenen Unterrichts? In: Public History Weekly 2 (2014) 9, DOI: dx.doi.org/ 10.1515/phw-2014-1578 (aufgerufen am 4. 6. 2018).

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nizieren. Gleichwohl wurde in der Fachdidaktik eine Leerstelle identifiziert, die es im Diskurs zu schließen gilt, nämlich das unzureichend geklärte Verhältnis zwischen Wissen und Kompetenzen. Handro und Schönemann fragen:26 An welchen Inhalten sollen Kompetenzen angelegt, erprobt und geübt werden? Was ist die Ursache für die künstliche Trennung von Wissen und Kompetenzen und wie kann diese überwunden werden? Auf die Gefahren dieser Trennung hat Thomas Hellmuth eindringlich hingewiesen, denn bei der hegemonialen Position konstruktivistischer Lerntheorien drohe die Gefahr der Beliebigkeit und der Orientierungslosigkeit.27 Wie wird die Frage des Verhältnisses von Wissen und Kompetenzen im geschichtsdidaktischen Inklusionsdiskurs diskutiert? Bei aller Subjektorientierung überlegen Inklusionspädagogen wie Musenberg, wie die „eigensinnige Aneignung“ von Geschichte auf einen gemeinsamen inhaltlichen Bezugspunkt hin orientiert bleiben kann und ein Austausch über „die Sache“ möglich wird. Dies ist insofern eine große Herausforderung als die einzelnen Perspektiven der SchülerInnen mitunter auf sehr unterschiedlichen Abstraktionsniveaus liegen, aber innerhalb der Lerngruppe im Austausch wechselseitige Relevanz bekommen sollen.28 Die aus der Sonderpädagogik stammenden Prinzipien des „Lernens am gemeinsamen Gegenstand“ (Feuser) oder der Elementarisierung (Heinen) werden auch unter inklusiven Vorzeichen bevorzugt als gemeinsame Klammer bei unterschiedlichen Aneignungsweisen, Zugängen und Abstraktionsniveaus genutzt. Die Inhalte sind also auch ein Thema in Inklusionszusammenhängen, wobei die Verbindung mit den Kompetenzen zunächst undeutlich bleibt. Kühberger spricht von „inhaltlichen Fallbeispielen“, was (überspitzt gesagt) bedeuten würde, dass die austauschbaren Beispiele als Trainingsfeld für die historische Kompetenzentwicklung herhalten müssen. Er plädiert dafür, den bisher üblichen Kanon des Geschichtsunterrichts zugunsten der „Grammatik des Fachs“ zurückzunehmen, um den individuellen Orientierungsbedürfnissen der Lernenden flexibler gerecht werden zu können. Fachliche Logiken und notwendige elementare fachspezifische Einsichten finden mehr Beachtung und werden nicht durch den „Stoff“ verstellt. Letzteres kann für Lehrkräfte eine gute Orientierung bieten, wenn sie die individuellen Zugänge und Kompetenzniveaus für einen gemeinsamen Unterricht konturieren und dabei von den Kompetenzen und den Besonderheiten des Faches Geschichte aus denken und nicht von einem historischen Inhalt.29 Ob das allerdings für die

26 Handro/Schönemann (Anm. 6), S. 3. 27 Thomas Hellmuth: Über Kompetenzen – oder doch eher : Wie wär’s mit Bildung? In: Public History Weekly 3 (2015) 27, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2015-4536. 28 Musenberg (Anm. 4), S. 19–33. 29 Christoph Kühberger : Wo beginnt historisches Lernen? Die Herausforderungen der Inklusion für den Geschichtsunterricht. In: Ders./Robert Schneider (Hrsg.): Inklusion im Ge-

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Konstruktion eines Curriculums trägt, ist fraglich. Denn gerade bei den Curricula spielt das Aushandeln und der öffentliche Streit um die Inhalte eine wichtige Rolle. In Zeiten der Inklusion bringen auch vermehrt diskriminierte Minderheiten ihre Stimme ein und wissenschaftliche Richtungen wie die Post-ColonialStudies fragen, welche gesellschaftlichen Gruppen im Geschichtsunterricht thematisiert werden („sprechen“ dürfen). Queer History, Dis/ability History, Migrationsgeschichte, Minderheitengeschichte und Gendergeschichte sind nur einige neue Bereiche der Geschichtswissenschaft, die Aufnahme in die den Geschichtsunterricht verlangen.30 Der Berliner Rahmenlehrplan Geschichte etwa hat die Modifikation der Inhalte insofern geregelt, als zum einen die historischen Themen mit wenigen abstrahierenden Setzungen von historischen Sachverhalten, Strukturen, Prozessen und Konzepten umrissen wurden und somit den Lehrkräften einen breiten Spielraum für Fokussierungen z. B. auf Minderheiten aufgrund der Klassenzusammensetzung lassen. Zum anderen sind drei querliegende „Scheinwerfer“ eingebaut, die den Lehrkräften helfen sollen, die Themen für ein inklusives Setting zuzuspitzen. Es sind dies die drei „Scheinwerfer“: – Wahrnehmung historischer Diversität, was auch die Herstellung eines persönlichen Bezugs zu den Lernenden bedeutet (um die Nachhaltigkeit des Lernens zu erhöhen) – Ungleichheit, was die Wahrnehmung erlebter oder verweigerter gesellschaftlicher und politischer Teilhabe und die Wahrnehmung von Diskriminierung und ihrer Mechanismen bedeutet – In- und Exklusion als „heuristische Sehhilfe“, was z. B. die Frage nach der jeweils ausgeblendeten Perspektive beinhaltet.31 Diese Konstruktion verhindert das additive Anhängen (und erfahrungsgemäß schnelle Abhängen) von „Sondergeschichten“ durch eine Perspektivierung aller Themen auf inklusionsrelevante Aspekte. Auch in der Kompetenzdebatte wird über den Wissensbegriff und verschiedene Wissensformen nachgedacht. Schon Jeismann unterschied zwischen Faktenwissen, Strukturwissen und Begriffswissen. Im inklusiven Diskurs ist eine wichtige Frage, wie man die Nachhaltigkeit von Wissen stärkt, was nach MeyerHamme wesentlich von der Identitätsrelevanz abhängt, die das Individuum dem Inhalt gibt. Zum anderen geht es darum, über eine „Grammatik des historischen Wissens“ nachzudenken, bei der es um konzeptionelles Wissen, ScaffoldingStrukturen (Second-order concepts) und unterschiedliche Wege der Kompleschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts. Bad Heilbrunn 2016, S. 65–83. 30 Ders.: Historisches Wissen als inklusives Wissen. In: Alavi u. a. (Anm. 1). 31 Christoph Hamann/Birgit Wenzel: Zentrale Steuerung – dezentrale Freiräume. Entwicklung inklusiver Curricula für den Geschichtsunterricht. In: Alavi u. a. (Anm. 1).

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xitätssteigerung geht. Letzteres steht noch am Anfang, würde aber eine engere Verzahnung von Wissensformen und Kompetenzen bedeuten. Geschärft werden müsste dann auch der der Wissensbegriff selbst – aus inhaltlichen Gründen und weil wir dadurch wahrscheinlich das am Anfang beschriebene Kommunikationsdefizit in die Öffentlichkeit hinein verringert werden kann.

4.

Graduierung

Für die Graduierung historischer Kompetenzen liegt bisher noch kein überzeugender Vorschlag vor. Einzig das FUER-Modell unterscheidet zwischen elaboriertem, intermediärem und basalem Niveau, wobei die Graduierungslogik in der Art und Weise der Verfügung über gesellschaftliche Konventionen besteht.32 Thünemann kritisiert diese Graduierungslogik als nicht stichhaltig in einer Migrationsgesellschaft, denn es bleibt unklar, was „Konvention“ in einer heterogenen Gesellschaft eigentlich bedeute.33 Bemerkenswert an diesem Argument ist, dass es auf der Basis einer Differenzkategorie, nämlich Ethnie gebildet wurde: In einer heterogen zusammengesetzten Gesellschaft muss eine „Konvention“ mit verschiedenen Gruppen ausgehandelt werden. Die ausgehandelte Konvention muss in die Gesellschaft kommuniziert und aktuell gehalten werden. Die Wirkmächtigkeit von Konventionen scheint zeitlich und räumlich begrenzt – was sicherlich immer schon so war, nun aber eine viel größere Dynamik bekommt. Abstrahiert bedeutet dies, – und das wäre ein Gesichtspunkt aus der Inklusionsdebatte – dass die Graduierungslogik historischer Kompetenzen die verschiedenen Differenzkategorien berücksichtigen und ihnen nicht zuwiderlaufen darf. So wäre der Grad der Beherrschung eines homogenen Master-Narrativs im Sinne einer teleologischen Erfolgsgeschichte des Nationalstaats als Graduierungslogik wohl gegenläufig zu allen Differenzkategorien. Waltraud Schreiber weist in neuesten Beiträgen selbst darauf hin, dass eine Konvention dynamisch sich verändernd gesehen werden muss und die Füllung einer Konvention inhalts- und adressatenbezogen erfolgen kann. Für inklusive Klassen mit hoher Diversität schlägt sie vor, „Konvention“ von der Gruppe her zu denken.34 Dies ermögliche eine reduzierende Elementarisierung ,nach unten‘. Allerdings blieben empirische, normative und narrative Triftigkeitskriterien als Qualitätskriterien für Narrationen zentral – sie stellen eine Konvention dar, die 32 Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007. 33 Thünemann (Anm. 7), S. 40. 34 Waltraud Schreiber : Narrativität und Konstruktcharakter. In: Alavi u. a. (Anm. 1).

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Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs ermögliche. Bei Nichtbeachtung entstünde eine Gruppe von Menschen, die zwar historisch denken kann, aber nicht in der Lage wäre, sich durch die Anwendung von Triftigkeitskriterien am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen, und deshalb von dieser Art der Teilhabe ausgeschlossen sei. Diese Gruppe von Menschen für die Graduierung von Kompetenzen zu erfassen, quasi prae-konventionelle oder unkonventionelle Formen historischen Denkens zu identifizieren, ist eine anstehende Aufgabe der inklusiven Geschichtsdidaktik. Dazu gehört auch, SchülerInnen zu berücksichtigen, deren Lese- und Schreibfähigkeit auf Dauer nicht oder noch nicht stabil ausgebildet ist. Dies bedeutet auch, Kompetenzen historischen Lernens, die sich unabhängig von der Lese- und Schreibfähigkeit entwickeln, zu formulieren und zu berücksichtigen.35 Judith Riegert schlägt vor, die Fähigkeit zum Gebrauch kultureller Zeichen zusammendenken mit den graduierten Kompetenzen historischen Lernens im FUER-Modell. Von einem breiten Spektrum unterschiedlich ausgeprägter Kompetenzen des Zeichengebrauchs aus soll eine Graduierungslogik entfaltet werden, die zugleich die fachliche Zielperspektive der Anbahnung eines Vergangenheitsbezugs aufrechterhält. So könnte etwa überlegt werden, wie auch jenseits von Sprach- und Symbolgebrauch historische Fragekompetenz gefördert werden kann.36 Die Frage nach der Fähigkeit zum Gebrauch kultureller Zeichen führt direkt zur Frage, wann historisches Lernen beginnt und was alles zu ihm zählt. Diese Frage hat die Inklusionsdebatte neu fokussiert. Kühberger fragt danach, mit welchen Teilaspekten das fachspezifische (historische) Denken beginnt und welche Teilaspekte ein solches Denken positiv verstärken und/oder zwingend vorbereiten.37 Er lenkt damit den Blick verstärkt auf die Prozesslogik, d. h. den feinstufig ausformulierten Weg von einem Niveau zum anderen. Dazu sollen im Geschichtsunterricht Performanzen als Spuren des historischen Lernens nachgewiesen werden, um kleinschrittige Entwicklungspotenziale zwischen basalem und intermediären Niveau festmachen zu können. Bezugnehmend auf ein Beispiel eines stimmungsvollen Besuchs in einer Kirche kann er zeigen, wie SchülerInnen jenseits der Schreib- und Lesefähigkeit mit ästhetischen Zugängen auf der Basis sensorischer Begegnungen Alteritätserfahrung mit der Vergangenheit ermöglicht wurde. Dies war für sie subjektiv bedeutsam, weil sie die Erfahrungen an ihre eigene Lebenswelt rückgebunden haben.38 Der Erwerb des historischen

35 Lars Deile: Auf dem Weg zu einer Ästhetik des historischen Lernens. In: Martin Buchsteiner/ Martin Nitsche (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Wiesbaden 2016, S. 103–120. 36 Judith Riegert: Zur Differenzierung der Lerngegenstände im inklusiven Geschichtsunterricht. In: Alavi/ u. a. (Anm. 1). 37 Kühberger (Anm. 29). 38 Ebd. S. 72–73.

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Denkens scheint unabhängig von der „großen“ Geschichte eine lebensweltliche Alltagsbedeutung zu haben, an die verstärkt angeknüpft werden kann. Ein Desiderat stellt immer noch die empirische Fundierung der Kompetenzgraduierung dar. Aufgrund der fehlenden Empirie enthält der inklusive Berliner Rahmenlehrplan, der seit Beginn des Schuljahres 2017/18 gilt, eine Graduierung, die auf Erfahrungswissen beruht. Hamann und Wenzel verweisen auf Merkmale der Graduierung, die den Lehrplan als inklusiven ausweisen:39 Die Ausdifferenzierung von acht Niveaus von Leistungsanforderungen macht das Nachvollziehen kleiner Kompetenzentwicklungschritte möglich, was dreierlei Vorteile bietet: Die SchülerInnen werden stärker motiviert, da der Zwischenraum zwischen den einzelnen Kompetenzen überschaubarer und realistischer erreichbar wird. Die Eltern bekommen ein transparenteres Bild von der Kompetenzentwicklung ihres Kindes und die Lehrperson hat eine klarere Orientierung auf die nächste Stufe der Kompetenzentwicklung bei den verschiedenen SchülerInnen einer Klasse. Die Ausdifferenzierung ist auch dazu geeignet, als Instrument der lernbegleitenden Diagnostik genutzt zu werden, entweder um individuelle Förderpläne zu entwickeln oder um binnendifferenzierte Lernangebote zu gestalten.40

5.

Sprache und historisches Denken

Saskia Handro merkt an, dass „die integrale Betrachtung von fachlichem und sprachlichem Lehren und Lernen für geschichtsdidaktisches Denken zentral ist“, die jeweiligen fachspezifischen Ausführungen von „Diagnose und Förderung sprachlicher Kompetenzen im Fachunterricht“ jedoch oft vage bleiben.41 Obwohl also Sprache insbesondere mit der Etablierung des narrativen Paradigmas historischen Lernens zentral für die Geschichtsdidaktik wurde, sind Forschungen zum Sprachhandeln – sei es die tatsächliche Verbalisierungen der verschiedenen beteiligten Personen im Unterricht, das Schreiben, oder aber auch das Lesen42 – noch rar. Im Kontext von Inklusion wird Sprache – vor allem auf der Seite der 39 Christoph Hamann/Birgit Wenzel: Inklusion, historisches Lernen und Curriculum. In: Alavi/Lücke (Anm. 4), S. 103–117; Dies. (Anm. 31). 40 Der geplante Verzicht der Bindung der Standards an die Jahrgangsstufen, damit SchülerInnen nicht aus der Lerngruppe ausgeschlossen werden, wenn sie die Regelstandards nicht erreichen, war politisch nicht durchsetzbar. 41 Saskia Handro: „Sprachsensibler Geschichtsunterricht“. Systematisierende Überlegungen zu einer überfälligen Debatte. In Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven. Frankfurt/M. 2016, S. 265–296, hier S. 265f. 42 Zum Leseverstehen u. a. Manuel Köster : Mehr als Informationstransfer. Textverstehen, Identität und Historische Kompetenzen. In: Handro/Schönemann (Anm. 7), S. 169–186.

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Pragmatik historischen Lernens – noch stärker zu verhandeln sein.43 Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund eines weiten Verständnisses von Inklusion. Saskia Handro umreißt die Herausforderungen so: „Die wachsende Zahl von Schülerinnen und Schülern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, und Lernende aus bildungsfernen Milieus treffen damit auf Sprachbarrieren und können die sprachlichen Lernchancen im Unterricht nicht hinreichend nutzen.“44

Dabei sind einerseits Aspekte wie das Sprachverstehen relevant, also das Vermögen, Lautäußerungen Sinn und Bedeutung zuzusprechen. Diese können jedoch äußerst subjektiver Natur sein. Die den Lautäußerungen zugeschriebenen Bedeutungen können zwischen Individuen stark voneinander abweichen. Die Herausforderung für sprachsensiblen Geschichtsunterricht in inklusiven Settings besteht hiermit also auf doppelter Ebene: – Auf der Ebene der sprachlichen Kompetenz der Schülerinnen und Schüler, sowohl aktiv (Schreiben, Sprechen, Erzählen) als auch passiv (Verstehen). – In Hinblick auf die Fähigkeit der Lehrkraft, sprachsensibel zu agieren. Wir möchten die sprachbezogenen Herausforderungen anhand zweier Diskussionsstränge aufgreifen, die sowohl die Theorie als auch die Pragmatik historischen Lernens betreffen. Zum einen soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit für die Durchführung erfolgreichen Geschichtsunterrichts sprachliche Anpassungen durch Reduktion der sprachlichen Komplexität erreicht werden können und sollen. Zum anderen soll diskutiert werden, inwieweit das Erreichen fach- und bildungssprachlicher Kompetenzen als Standard auch für den Geschichtsunterricht in inklusiven Schulen gelten muss. Die beiden Pole werden in der Geschichtsdidaktik auch schon seit längerem verhandelt. Johannes MeyerHamme etwa schließt nicht grundsätzlich aus, dass Schulbuchtexte für den Unterricht vereinfacht werden sollten, wenn damit das Lernen von SchülerInnen unterstützt wird.45 Sven Oleschko vertritt eine gegenteilige Position, da durch die „Reduzierung des Anspruchsniveaus […] kein historisch besseres Lernen er43 Ausführlicher zu Sprache und Inklusion, teils sehr ähnlich den Ausführungen im vorliegenden Abschnitt, Sebastian Barsch: Sprache und inklusiver Geschichtsunterricht – Einblicke in Theorie und erste Ansätze. In: Christiane Bertram/Andrea Kolpatzik: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Beiträge zur geschichtsdidaktischen Theorie, Empirie und Unterrichtspraxis. Frankfurt/M. (i. Dr.). 44 Saskia Handro: Sprachlos Im Geschichtsunterricht? In: Public History Weekly, 2 (1) 2014, dx.doi.org/10.1515/phw-2013-957. 45 Johannes Meyer-Hamme: „Man muss so viel lesen. […] Nimmt so viel Zeit in Anspruch und ist nicht so wichtig.“ Ergebnisse einer qualitativen und quantitativen Befragung zum Schulbuchverständnis (2002). In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. Mu¨ nster 2006, S. 89–103, hier S. 102–103.

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reicht werden“ könne und so „die inhaltliche Auseinandersetzung, und somit das historische Denken, begrenzt(er)“ bliebe.46 Neuere Ansätze sprachsensiblen Fachunterrichts betonen die Bedeutung „der Beherrschung der (konzeptionellen) Schriftlichkeit für eine erfolgreiche Teilnahme am Unterricht.“47 Ein Ziel des sprachsensiblen Fachunterrichts ist demnach, die SchülerInnen im Wechsel zwischen verschiedenen Sprachregistern wie die Bildungssprache, Schulsprache, schulbezogene Sprache und Fachsprache zu befähigen,48 und dabei gleichzeitig zu berücksichtigen, dass das primäre Register der Lernenden im Unterricht die Alltagssprache ist, je nachdem aber auch die Gebärdensprache bzw. andere alternative Sprachen. Dies ist eine sehr komplexe Situation, und aus verschiedenen Studien ist bekannt, dass selbst für SchülerInnen der gymnasialen Oberstufe die Handhabung der Fachsprache herausfordernd ist.49 Was ist der pragmatische Zweck von Sprache im Prozess des historischen Lernens? Im geschichtsdidaktischen Diskurs herrscht weitgehend Konsens darüber, dass das Ziel historischen Lernens der Erwerb von Kompetenzen zur Orientierung für die eigene Lebenspraxis ist.50 Ob dafür eine Fachsprache notwendig ist, kann hinterfragt werden. Lars Deile machte jüngst darauf aufmerksam, dass historische Sinnbildung nicht zwangsweise intersubjektiv verstehbar sein müsse: „Historische Sinnbildung ist auch dann möglich, wenn sie dem beobachtenden Zugriff durch andere entzogen ist.“51 Gleichwohl ist Schule ein System, das nur über intersubjektive Verständigkeit wirksam werden kann. Subjektive Sinnbildung muss darin unterstützt werden, ob aber die narrative Kompetenz als sprachliche Äußerung – wie auch immer diese modelliert und graduiert wird –, eine Zielperspektive sein muss, kann diskutiert werden.

46 Sven Oleschko: Herausforderungen einer domänespezifischen Sprachdiagnostik Im Kontext Historischen Lernens. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 87–103, hier S. 92. 47 Inger Petersen: Schreibfähigkeit und Mehrsprachigkeit. Berlin 2014, S. 34. 48 Zur Abgrenzung vgl. ebd., S. 28. 49 Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. Berlin 2011. 50 Holger Thünemann: Probleme und Perspektiven der geschichtsdidaktischen Kompetenzdebatte. In: Handro/Schönemann (Anm. 7), S. 38–51, hier S. 38. 51 Lars Deile: Auf dem Weg zu einer Ästhetik historischen Lernens. In: Martin Buchsteiner/ Martin Nitsche (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Historische, theoretische, empirische und pragmatische Erkundungen. Wiesbaden 2016, S. 103–120, hier S. 109.

Geschichtsunterricht zwischen Subjektorientierung und Standardisierung

5.1

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Leichte Sprache

Ist die Zielperspektive historischen Lernens also die subjektive Sinnbildung, könnten Reduktionen wie Leichte Sprache ein geeignetes Mittel sein, diese zu unterstützen. Das Konzept der Leichten Sprache basiert auf der Annahme, dass eine Verringerung der sprachlichen Komplexität geschriebener Sprache deren Verständlichkeit erhöht. Ob diese Annahme bestätigt werden kann, ist allerdings bislang nicht hinreichend Gegenstand empirischer Untersuchungen gewesen. Leichte Sprache, ursprünglich für Menschen mit geistiger Behinderung konzipiert, wird vermehrt auch „für mehrsprachig lebende Menschen, Menschen mit geringen Bildungsmöglichkeiten, Ältere und Menschen mit Migrationshintergrund“ eingesetzt.52 Bettina Alavi hat die Anwendung Leichter Sprache mehrfach in Praxissituationen erprobt. Eine Erkenntnis war, dass die ihr innewohnende Regelhaftigkeit der Reduktion für das Fach Geschichte insofern problematisch werden könne, dass es oft „zum Zwecke der Konkretisierung des Geschehens zu einer deutlichen und eigentlich didaktisch überwundenen Personifizierung“ komme, da im „Gewand der Leichten Sprache […] die Versuchung groß ist, komplexere Gruppenkonstellationen durch eine sichtbare und benennbare Person zusammenzufassen und dadurch zu vereinfachen“.53 Auch bestehe die Gefahr, dass aus „der spezifischen Geschichte eher eine allgemeine“ würde, wenn etwa die „Theraer“ als „Griechen“ bezeichnet würden.54 Trotz der angesprochenen Probleme kann vorsichtig festgehalten werden, dass auf Basis der Erprobungen von Alavi historisches Erzählen von Schülerinnen und Schülern im inklusiven Unterricht auf verschiedenen Niveaustufen möglich sein und das Konzept der Leichten Sprache hier zumindest unterstützend wirken kann.

5.2

Scaffolding

Wäre die Zielperspektive eine narrative Kompetenz, die durch ein hohes bildungs- und fachsprachliches Niveau gekennzeichnet ist, kann ein Ansatz wie das Scaffolding vielversprechend sein. Das Scaffolding ist in inklusiven Settings insofern besonders interessant, als es als prozessorientierte Sprachunterstützung gleichsam massiv auf sprachliche Hilfen in Form von sprachlichen Mitteln, Denkanstößen, Nachfragen und Umformulierungen setzt, allerdings mit dem 52 Bettina Alavi: Leichte Sprache und historisches Lernen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 169–190, hier S. 173. 53 Ebd., S. 175. 54 Ebd., S. 187.

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Ziel, diese nach und nach abzubauen. Dies kann bei einigen SchülerInnen gelingen, bei anderen nicht, wodurch die individuellen Lernwege offen werden. Scaffolding stammt ursprünglich aus Forschungen zum Erstspracherwerb (L1) bei Kindern. Die Methode versucht durch sprachliche Unterstützungen für Kinder durch Erwachsene den Erwerb sprachlicher Kompetenzen durch eine vorübergehende Hilfestellung zu erleichtern. Die Hilfestellungen werden allmählich abgebaut, so dass die Lernenden letztlich die sprachlichen Handlungen selbstständig ausführen.55 Wie dies für das Fach Geschichte aussehen könnte, kann am Beispiel eines Essayplans für das Verfassen einer historischen Argumentation verdeutlicht werden, die Marcel Mierwald und Nicola Brauch 2015 vorgelegt haben,56 der aus der Perspektive des Scaffolding noch durch weitere sprachliche Unterstützungsmaßnahmen ergänzt werden könnte, etwa Vorschläge für Satzanfänge und Formulierungshilfen etc. Die Planung von Unterricht würde zudem eine prozessbegleitende sprachliche Lernstandsdiagnose notwendig machen, Sprechaktivitäten phasierend planen und einen reichlichen sprachlichen Input ermöglichen. Zudem wird davon ausgegangen, dass metasprachliche und metakognitive Phasen das Lernen unterstützen.57 Das Sprechen über Sprache – auch Fachsprache – bekäme so einen größeren Raum. Warum heißt „Quelle“ „Quelle“? Was ist Zeit? Metasprachliche Phasen sind dabei nicht nur für den Anfangsunterricht vorgesehen, sondern immer dann, wenn SchülerInnen mit neuen Themen und Inhalten konfrontiert werden. Sprache ist im Kontext inklusiven historischen Lernens von entscheidender Bedeutung. Gleichwohl fehlt es einerseits an Forschungen zu Sprachhandeln und Sprachverstehen im Geschichtsunterricht, andererseits ist fachlich noch nicht hinreichend geklärt, wie sich historische Sinnbildung subjektiv äußert und – wenn narrative Kompetenz die Zielmarke historischen Lernens ist – wie diese genau definiert ist und wie sie überprüft werden kann.

55 Ausführlich dazu Gabriele Kniffka: Scaffolding. Möglichkeiten, im Fachunterricht sprachliche Kompetenzen zu vermitteln. In: Magdalena Michalak/Michaela Kuchenreuther (Hrsg.): Grundlagen der Sprachdidaktik Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler 2012, S. 208– 225. 56 Marcel Mierwald/Nicola Brauch: Historisches Argumentieren als Ausdruck historischen Denkens. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 104–120, hier S. 116, online unter https://doi.org/10.13109/zfgd.2015.14e.1.104 (aufgerufen am 1. 6. 2018). 57 Kniffka (Anm.55); auch Linda Riebling: Sprachbildung im naturwissenschaftlichen Unterricht. Eine Studie im Kontext migrationsbedingter sprachlicher Heterogenität. Mu¨ nster 2013.

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6.

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Ausblick

Diversität macht inhaltliche Vielfalt notwendig, gleichzeitig müssen Auswahlkriterien für Inhalte Allgemeingültigkeit beanspruchen – dieses Grundproblem ist in den vorangegangenen Ausführungen deutlich geworden. Es zeigt sich in der Frage der Standardsetzung, aber darüber hinaus ist es auch eine grundsätzlich wissenschaftstheoretische Frage: Wer mit (politischen, kulturellen, pädagogischen) Argumenten Vielfalt verlangt, tut dies mit demselben allgemeinen Geltungsanspruch, den er oder sie als diversitätsunsensibel abgelehnt hätte. Im Folgenden soll dieser performative Selbstwiderspruch argumentativ aus der Perspektive der inklusiven Geschichtsdidaktik resümierend durchdacht werden. Grundsätzlich gibt es für die Modifikation der Inhalte des historischen Lernens zwei Herangehensweisen, nämlich zum einen die Möglichkeit bestehende Inhalte im Hinblick auf Diversität zu durchdenken und neu zu konturieren. Dies ist der Weg, der im Berliner Rahmenplan mit den drei „Scheinwerfern“ Wahrnehmung historischer Diversität, Wahrnehmung von Ungleichheit, In-und Exklusion als heuristische Sehhilfe beschritten wurde. Diese Herangehensweise setzt auf neues Durchdenken bisher konsensualer Inhalte und damit auf einen pragmatischen Weg kleinerer, schnell durchführbarer und damit wirksamer Modifikationen. Zum anderen ist es unübersehbar, dass sich in der geschichtswissenschaftlichen Forschung und auf der Basis gesellschaftlicher Bewegungen und Veränderungen neue Ansätze und Zugangsweisen, neue „Geschichten“ entwickelt haben, die – auch als neue „Stimmen“ darauf drängen, in schulischen Zusammenhängen thematisiert zu werden. Sie können dem Geschichtsunterricht neue Impulse, Fragestellungen und Themenbereiche erschließen. Der Prozess der schulischen Adaption kann aber nicht in einem wahllosen additiven „Einverleiben“ z. B. von unterschiedlichen Minderheitengeschichten bestehen. Bei ihnen ist zu vielmehr zu fragen, inwiefern diese ein allgemeines Problem der diversen Gesellschaft historisch bearbeiten, das im Geschichtsunterricht an diesem Thema beispielhaft analysiert und diskutiert werden kann. Ein Beispiel: In der Deaf History wurde aufgearbeitet, dass die heute als Blindenabzeichen bekannten drei schwarzen Punkte auf gelben Grund in den 1920er Jahren von einem Gehörlosen als Schutzabzeichen für das Bewegen im stark angewachsenen Straßenverkehr erfunden wurde. Von Beginn an schwankte die Deaf Community zwischen der Annahme der eigenen Kennzeichnung, um Rücksichtnahme im Straßenverkehr zu bekommen und der Angst davor, ihre unsichtbare Behinderung für alle sichtbar zu machen. Diese Angst vor Diskriminierung steigerte sich im Nationalsozialismus als die Kennzeichnung Pflicht wurde und die Betroffenen versuchten, diese z. B. durch das Hochkrempeln der Ärmel zu umgehen. Sie

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führte aber nicht dazu, sich mit anderen „gekennzeichneten“ und von Diskriminierung betroffenen Gruppen zu solidarisieren.58 Dieses Problem der Ambivalenz zwischen Kennzeichnung als Hilfe und Angst vor Diskriminierung durch die Kennzeichnung kann am Beispiel des heutigen Blindenabzeichens (Warum war und ist die Kennzeichnung für die Gruppe der Blinden weniger problematisch?) die Aufnahme dieser Minderheitengeschichte inhaltlich rechtfertigen; kompetenzbezogen gesehen kann z. B. die Perspektivität (Mehrheit – Minderheit, Minderheit – Minderheit in unterschiedlichen Zeiten) gefördert werden. Die zweite Herangehensweise erfordert, dass neue Ansätze und Forschungsergebnisse aufgegriffen und in gezeigter Weise für den Geschichtsunterricht aufbereitet werden. Letztlich wird auch die Debatte um historisches Wissen im Zuge schulischer Vielfalt weitergeführt werden müssen. Dabei sollten nicht nur ältere Diskursstränge wie das Verhältnis von Fakten- und Handlungswissen sowie Kompetenzen neu aufgerollt werden. Vielmehr eröffnen auch Forschungen aus anderen Disziplinen neue Sichtweisen darauf, was überhaupt unter „Wissen“ verstanden werden kann, wie dieses erworben wird und welche Anteile dabei die fachdidaktische Forschung hat. Die von Kühberger angesprochenen Fallbeispiele für das historische Lernen basieren etwa auf der kognitionspsychologisch fundierten Theorie, dass Wissen vor allem dann erfolgreich aufgebaut werden kann, wenn es konzeptbasiert ist. Derartiges Wissen stellt „Konzepte, Theorien und Modelle zur Verfügung, die in variablen Situationen einsetzbar sind“.59 Wissen ist demnach dadurch gekennzeichnet, „dass es genützt und verknüpft werden muss, indem vor dem Hintergrund der jeweiligen Gegenwart bzw. der erwarteten Zukunft selbstständig Positionen und abwägende Argumente entwickelt und gerechtfertigt werden müssen, um den fachspezifischen Lernprozess als Verstehen in Verbindung mit dem Vorwissen voranzubringen.“60 Auch hier wird deutlich, dass Wissen flexibel definiert werden muss und die jeweiligen Gegenwarten zu berücksichtigen hat, die in einer vielfältigen Gesellschaft nicht per se durch etwas Verbindendes gekennzeichnet sind. Geschichte als etwas „Verbindendes“ wird allerdings von einigen Seiten eingefordert, so dass letztlich auch nicht ausbleiben darf, dass die Geschichtsdidaktik als anwendungsorientierte Wissenschaft sich mehr als bislang politisch positioniert. Die Forderungen nach einem identitätsstiftenden Kanon histori58 Lothar Scharf: „Schutzabzeichen für Schwerhörige“, „Taubstummen-Armbinde“ oder „Blindenabzeichen“? Die Geschichte der gelben Armbinde mit den drei schwarzen Punkten. Selbstverlag 2013. 59 Christoph Kühberger : Konzeptionelles Wissen als besondere Grundlage des historischen Wissens. In: Ders. (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundungen zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012, S. 33–74, hier S. 39. 60 Ebd., S. 59.

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schen „Faktenwissens“ und eines auf die Förderung nationaler Identität ausgerichteten Geschichtsunterrichts werden zunehmend im öffentlichen und politischen Diskurs sichtbar. Vor allem mit dem Erstarken rechtsideologischer Parteien ist eine deutliche Politisierung von Geschichte verbunden. So ist auf einer Internetseite der AfD unter der Überschrift „Geschichtsunterricht sollte zu Demokraten und Patrioten erziehen“ zu lesen, dass das „Lernziel ,Identitätsstiftung‘ […] Voraussetzung für Integration“ sei.61 Zu derartigen Entwicklungen muss die Geschichtsdidaktik als Wissenschaft eine deutliche Position beziehen, denn die Forderung, historisches Lernen zu solchen Zwecken zu instrumentalisieren, um einen Gegenpol zu gesellschaftlicher Vielfalt zu bilden, erhöht das Risiko, dass das Schulfach Geschichte wieder zu einem Gesinnungsfach wird. Letztlich gilt es, die gesellschaftspolitische Relevanz historischen Lernens hervorzuheben und neu zu schärfen. Möglicherweise bedeutet dies für einen inklusiven Geschichtsunterricht auch, das Verhältnis von politischer und historischer Bildung im Kontext von Demokratieerziehung neu zu überdenken.

61 https://afdkompakt.de/2016/11/08/geschichtsunterricht-sollte-zu-demokraten-und-patrio ten-erziehen/ (aufgerufen am 7. 6. 2018).

Marcus Otto

Inklusion/Exklusion und die Anrufung von Subjekten in der Migrationsgesellschaft: Die Adressierung der Lernenden in aktuellen Geschichtsschulbüchern

1.

Einleitung: Inklusion/Exklusion und schulische (Sinn-)Bildung im Zeichen der Migrationsgesellschaft

In Deutschland ist das gesellschaftliche Selbstverständnis, (auch) eine Migrationsgesellschaft mit einer ausgeprägten Geschichte der Ein- und Auswanderung zu sein, mittlerweile buchstäblich in den Schulbüchern angekommen. Dementsprechend gewinnen Themen wie Migration und Integration auch und gerade in aktuellen Geschichtsschulbüchern an Bedeutung. Dies eröffnet eine Perspektive darauf, wie die Geschichte von Ein- und Auswanderung in der Schule vermittelt wird und inwiefern dies mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen korrespondiert. Darüber hinaus stellt sich für den Geschichtsunterricht insbesondere die Frage, wie dabei die Lernenden, z. B. in konkreten Aufgabenstellungen in Geschichtsschulbüchern, adressiert werden. Der vorliegende Beitrag widmet sich daran unmittelbar anschließend der Fragestellung, wie die vorherrschenden Repräsentationen von Migration in Geschichtsschulbüchern sowie die Gestaltung der entsprechenden Aufgabenstellungen im semantischen Register von Migration und Integration gleichsam performativ zu schulischer und gesellschaftlicher Inklusion oder Exklusion beitragen (können).1 1 Begriff und Konzept der Repräsentation sind vieldeutig. In einem allgemeinen Sinn bezeichnet der Begriff die Art und Weise, wie dem erkennenden Subjekt die äußere Wirklichkeit zugänglich ist – nicht als bloßes Abbild, sondern als symbolische Vorstellung, die eng mit der Sprache verbunden ist. Ein Wort, ein Begriff, eine soziologische Theorie ,steht für‘ die äußere Wirklichkeit und ,schafft‘ sie dadurch zugleich (vgl. Hans Jörg Sandkühler : Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenskulturen und des Wissens. Frankfurt/M. 2009). Im vorliegenden Beispiel ist der Begriff „Migration“ eine solche Repräsentation gesellschaftlicher Prozesse, die er als Teil einer spezifischen Wissenskultur – hier des Geschichtsunterrichts – ,herstellt‘. Des Weiteren ist im vorliegenden Aufsatz von „Repräsentationsregimen“ im Sinne des britischen Soziologen Stuart Hall die Rede. Hall bezeichnet damit das Insgesamt von Bildern (ästhetische und metaphorische), durch das ,Differenz‘, namentlich ethnische Differenz, in einem gegebenen Moment kulturell hergestellt

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Die sozialtheoretisch prominente Unterscheidung zwischen Inklusion und Exklusion bildet den zentralen Ausgangspunkt der Untersuchung. Der Begriff der Inklusion ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften zuerst vom USamerikanischen Soziologen Talcott Parsons geprägt worden. Mit dem Begriff der Inklusion bezeichnete Parsons die gesellschaftliche Einbeziehung von Individuen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen vor allem im Modus von citizenship, d. h. im Anschluss an T. H. Marshall als im 19. und 20. Jahrhundert entstandenes Ensemble ziviler, politischer und sozialer Rechte, die gesellschaftliche Ungleichheit zwar nicht aufheben, aber einen gemeinsamen Referenzrahmen multipler gesellschaftlicher Zugehörigkeiten (Klassen, Ethnien, Religionsgemeinschaften etc.) bilden.2 In diesem Konzept existierte (noch) kein Gegen- oder Kontrastbegriff zu Inklusion. Historisch und praktisch-politisch bezog sich Parsons’ Konzept der Inklusion nicht zuletzt auf Probleme des Bildungssystems mit dem Fokus auf gesellschaftliche Minderheiten oder diskriminierte Gruppen in den USA Mitte des 20. Jahrhunderts. Der französische Politiker und Sozialwissenschaftler Ren8 Lenoir publizierte 1974 unter dem Titel „Les exclus. Un franÅais sur dix“ eine politische und sozialwissenschaftliche Diagnose, in der er Exklusion als weitreichenden Ausschluss von Individuen und großen Teilen der Bevölkerung aus der Gesellschaft beschrieb.3 Hieran schloss sich seitdem eine vielfältige geistes- und sozialwissenschaftliche Thematisierung von Exklusionsphänomenen in der modernen Gesellschaft an. In der Zeitgeschichtsforschung wurden Inklusion und Exklusion beispielsweise unter dem Leitbegriff der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ verhandelt, die sich wesentlich durch den Ausschluss angeblich Gemeinschaftsfremder konstituierte.4 Damit avancierte Exklusion allmählich zu einer neuen Kategorie der Analyse sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Diskriminierungen. Der Soziologe Niklas Luhmann definierte im Rahmen seiner an Parsons anwird. Ein wichtiges Anliegen Halls besteht darin, im Umgang mit ethnischen Kategorien wie auch im politischen Emanzipationsprozess jede Essentialisierung zu vermeiden und stattdessen darauf hinzuwirken, dass vermeintlich naturgegebene Kategorien wie „Rasse“ und eben auch „Migration“ als Repräsentationen erkannt und für historischen Wandel offengehalten werden (vgl. Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg 1994). Daher ist Halls Theorie der Repräsentation mit postkolonialer Sprachkritik eng verbunden. 2 Vgl. u. a. Talcott Parsons: American Society. A Theory of the Societal Community, hrsg. v. Guiseppe Sciortino. Boulder 2007, und Thomas H. Marshall: Citizenship and Social Class. And other Essays. Cambridge 1950. 3 Ren8 Lenoir : Les exlus. Un franÅais sur dix. Paris 1974. Rudolf Stichweh: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005, S. 47f., und Marcus Otto: Der Wille zum Subjekt. Zur Genealogie politischer Inklusion in Frankreich (16.–20. Jahrhundert). Bielefeld 2014, S. 339f. 4 Vgl. hier nur Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Die NS-Volksgemeinschaft. Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen? (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 13). Göttingen 2017.

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schließenden soziologischen Systemtheorie Inklusion als Verwendung der Eigenkomplexität psychischer Systeme in sozialen Systemen oder auch als Adressierung und Berücksichtigung von Personen als Individuen in sozialen Systemen, und zwar immer im Modus der Kommunikation.5 In kritischer Auseinandersetzung mit Parsons konzipierte Luhmann Inklusion allerdings differenztheoretisch in Form der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion. Damit verbindet sich eine erhöhte Aufmerksamkeit für die grundlegende Kontingenz von Inklusion sowie für jeweils spezifische Modi von Inklusion/Exklusion in Interaktionen, Organisationen und in den gesellschaftlichen Funktionssystemen. Während demnach auf der Seite der Inklusion in den jeweils korrespondierenden sozialen Systemen Personen als Individuen adressiert und berücksichtigt werden, geht Exklusion typischerweise mit der Reduktion von Individuen auf ,ihre‘ Körper einher. Dabei lassen sich insbesondere für Exklusion kumulative Effekte beobachten, d. h. dass Exklusionen aus unterschiedlichen sozialen Systemen sich wechselseitig verstärken (können).6 Im Unterschied zum holistischen und mittlerweile kulturalistisch aufgeladenen Konzept der Integration gilt es anhand des Begriffspaars Inklusion/Exklusion immer konkret zu spezifizieren, wer in welcher Hinsicht und unter welchen Bedingungen wie inkludiert oder exkludiert wird. Während Inklusion also die Einbeziehung und Adressierung von Personen als Individuen durch jeweils spezifische Inklusionsrollen bezeichnet7, verweist der komplementäre Gegenbegriff der Exklusion darauf, dass Inklusion im oben genannten Sinne stets gesellschaftlich kontingent ist, d. h. jeweils davon abhängt, ob und inwiefern sie kommunikativ bzw. diskursiv vollzogen wird oder eben auch nicht. Denn Exklusion bezeichnet jeweils den Fall, wenn Personen oder auch soziale Gruppen nicht in bestimmte soziale Prozesse wie Interaktionen, Organisationen oder gesellschaftliche Institutionen einbezogen oder als Individuen adressiert werden bzw. wenn ihnen entsprechend keine spezifische Inklusionsrolle zur Verfügung steht oder wenn ihnen in einer Kommunikation ausdrücklich und endgültig diese Rolle entzogen wird, die sie benötigen, um überhaupt inkludiert werden zu können. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Organisation von Inklusion und Exklusion, ihre Produktion und Reproduktion, kommt der staatlich institutionalisierten schulischen Bildung als integraler Di-

5 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1985, S. 299. 6 Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt/M. 1997, S. 631, und Stichweh (Anm. 2), S. 193f. 7 Vgl. u. a. Stichweh (Anm. 2), S. 13–17, und Ders.: Zur Theorie politischer Inklusion. In: Berliner Journal für Soziologie 4 (1998), S. 540f.

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mension wohlfahrtsstaatlicher Inklusionsmoderation8 sowohl strukturell als auch semantisch eine besondere Bedeutung zu.9 Bildung war im 19. Jahrhundert tendenziell als klassenübergreifend konzipiert (wenngleich sozial teils hochexklusiv); die Schule sollte das Individuum zur Entfaltung bringen. Dass in der schulischen Bildung ein beträchtliches Emanzipationspotenzial steckt, ist überhaupt nicht zu bestreiten. Andererseits übernimmt die Schule in modernen Gesellschaften auch soziale Auswahlfunktionen, in Deutschland traditionell durch die Verkoppelung von Bildungszertifikaten und Berufslaufbahnen.10 Dieser Aspekt steht für mich hier im Vordergrund. Denn schulische Bildung trägt nicht nur durch die Verleihung stratifizierter Bildungsabschlüsse zur Verteilung unterschiedlicher gesellschaftlicher Inklusionsrollen und damit zur Reproduktion und Legitimation gesellschaftlicher Ordnung und sozialer Ungleichheit bei, sondern durch die Vermittlung schulischen Wissens auch zur korrespondierenden Repräsentation und gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Schulische Bildung verbindet zwei grundlegende Funktionen miteinander, und zwar die Vermittlung staatlich sanktionierten und jeweils als gesellschaftlich relevant definierten Wissens einerseits sowie die selektive Verleihung und Legitimation stratifizierter Bildungsabschlüsse und Qualifikationen andererseits.11 Im Prozess der schulischen Bildung erfolgt die (Re-)Produktion von Inklusion oder Exklusion auch und gerade durch jeweils distinktive Formen der Adressierung der Lernenden. Mithin vollziehen sich Inklusion und Exklusion als spezifische Operationen der Adressierung in der schulischen Bildung jeweils im Rahmen übergreifender gesellschaftlicher Strukturen und Semantiken. Der marxistische Philosoph Louis Althusser hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „Anrufung“ (französisch interpellation) geprägt. Ideologien beruhen ihm zufolge auf ihrer Anerkennung durch die Subjekte, die sich in der „Anrufung“ als solche identifizieren. Der Begriff geht also über eine bloße Adressierung der Empfänger einer Nachricht hinaus. Vielmehr fordert eine Ideologie als spezifische Repräsentation den Einzelnen dazu auf, sich gemäß den durch sie vorgegebenen Rollenerwartungen und -normierungen selbst wahrzunehmen und sein Handeln darauf auszurichten. Man braucht nur an die

8 Vgl. zur wohlfahrtsstaatlichen Inklusionsmoderation Stichweh (Anm. 5), S. 544–547. 9 Vgl. hierzu in einer historischen Perspektive auf Frankreich Otto (Anm. 2), S. 192–217. 10 Vgl. schon Peter Lundgreen: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, Teil I: 1770–1918. Göttingen 1980, S. 53–86, und die in Anm. 11 zitierte Literatur. 11 Vgl. u. a. Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt/M. 2002, S. 63–74, und Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron: Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart 1971.

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fundamentale Bedeutung von Geschlechterzuschreibungen wie „Er“ oder „Sie“ zu denken, um diesem Gedanken folgen zu können.12 Schulbücher der dominant hermeneutisch vorgehenden (so genannten sinnbildenden) Fächer wie Geschichte, Geographie, Politik/Sozialkunde oder auch Religion/Ethik können in diesem Zusammenhang als Medien schulischer Bildung gelten, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern darüber hinaus eben auch zur gesellschaftlichen Sinnbildung und einer entsprechenden Bildung von (zukünftigen) Subjekten beitragen (sollen). Und gerade Geschichtsschulbücher gelten nicht nur als Medien der Sinnbildung und gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, sondern darüber hinaus häufig gar als „nationale Autobiographien“ (Jacobmeyer).13 Diese prominent gewordene Charakterisierung verweist insbesondere auf die immer noch weithin vorherrschende nationalstaatliche diskursive Rahmung von Geschichtsschulbüchern. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern der mittlerweile omnipräsente diskursive Topos der Migrationsgesellschaft zu einem (neuen) konstitutiven Bestandteil gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen avanciert ist und welche sukzessive Relevanz und Resonanz dies gerade auch in der schulischen Bildung, in den Geschichtsschulbüchern und im Geschichtsunterricht erlangt. Im Hinblick auf Inklusion und Exklusion im Kontext der Migrationsgesellschaft wirft dies insbesondere zwei eng miteinander verknüpfte Fragen auf. Semantisch handelt es sich dabei erstens um die Frage, wie die dergestalt nationalstaatlich begriffene Gesellschaft gefasst wird und wer dabei jeweils als zugehörig oder nicht zugehörig gilt. Und im Rahmen der schulischen Unterrichtsinteraktion geht es dann ganz konkret zweitens um die Frage, wie ausgehend von den Darstellungen und Aufgabenstellungen der Geschichtsschulbücher jeweils durch spezifische Modi der Adressierung die Inklusion oder Exklusion von Individuen oder sozialen Gruppen operativ vollzogen wird. Mithin handelt es sich um die grundlegende Fragestellung, wie sich die vom gesellschaftlichen Diskurs um Migration und Integration ausgehende Anrufung von Subjekten in einer korrespondierenden Adressierung der Lernenden in der schulischen Bildung, in den Geschichtsschulbüchern (als Medium gesellschaftlicher Sinnbildung) und im Geschichtsunterricht (als einem spezifischen schulischen Interaktionsraum) niederschlägt. Der vor allem massenmedial geprägte gesellschaftliche Diskurs um Migration und Integration, wie er sich auch in Geschichtsschulbüchern manifestiert, entfaltet sich, abstrakt formuliert in einer diskursiven Matrix zwischen Problematisierung, Normalisierung und der 12 Louis Althusser : Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg 1977, S. 133, sowie Judith Butler : Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M. 2001, S. 108f., und Isolde Charim: Der Althusser-Effekt. Entwurf zu einer Ideologietheorie. Wien 2003. 13 Vgl. Wolfgang Jacobmeyer, Das Schulgeschichtsbuch – Gedächtnis der Gesellschaft oder Autobiographie der Nation? In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 26 (1998), S. 26–35.

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ideologischen Anrufung von gesellschaftlich verantwortlichen Subjekten, und zwar insbesondere bezogen auf Inklusion und Exklusion. Migration und ihre gesellschaftlich omnipräsente Diskursivierung, die vor allem im Rahmen eines politisierten und kulturalisierten Diskurses der Integration erfolgt, exponieren schließlich die Kontingenz von Inklusion und Exklusion in besonders ausgeprägter Weise.14 Und im Kontext der schulischen Bildung, die dabei als institutionalisierter Gradmesser von „Integration“ gilt und aus einer diskurstheoretischen Perspektive als zentrale Instanz der diskursiven Anrufung (zukünftiger) Subjekt betrachtet werden kann, verdichtet sich dieser Diskurs wiederum geradezu paradigmatisch. Gerade im Hinblick auf die gesellschaftlich virulente Frage von Inklusion und Exklusion eignen sich Geschichtsschulbücher als Untersuchungsgegenstand: Sie zeigen, wie diskursiv verfügbare und eventuell gesellschaftlich vorherrschende Repräsentationen verschiedener historischer und gegenwärtiger Formen von Migration und Integration mit der korrespondierenden Performativität15 einer inkludierenden oder exkludierenden Adressierung der Lernenden verknüpfen. Geschichtsschulbücher haben also auch eine ideologiebildende Funktion, die es kritisch zu analysieren gilt. Die im Folgenden präsentierten Ergebnisse basieren auf der Schulbuchstudie „Migration und Integration“, die das Georg-Eckert-Institut 2014 gemeinsam mit der Universität Hildesheim im Auftrag der Bundesbeauftragten für Migration, Integration und Flüchtlinge durchgeführt hat und die 2015 in Berlin veröffentlicht worden ist.16 Die forschungsleitende Fragestellung der Untersuchung richtete sich darauf, inwiefern Migration als eine gesellschaftliche Normalität oder angesichts der einschlägigen massenmedial omnipräsenten Krisenszenarien eher als problematische Abweichung von gesellschaftlichen Normen vermittelt wird. Darüber hinaus fragte die Analyse im Hinblick auf das Konzept der Integration danach, ob und wie Integration in den Schulbüchern im Zusammenhang mit Migration behandelt wird. Dabei stellte sich insbesondere die Frage, ob Integration in den Schulbüchern wie im vorherrschenden öffentlichen Diskurs eher in einem relativ abstrakten und daher zumeist unspezifischen Sinn behandelt wird, oder ob in den Darstellungen differenziert wird, wer jeweils in welcher Hinsicht in welche bestimmten gesellschaftlichen Bereiche oder konkreten Strukturen integriert ist und wer nicht. Den Untersuchungsgegenstand bildete ein Sample aus 65 zum Untersu14 Vgl. hierzu, auch bezogen auf die Genealogie politischer Inklusion in Frankreich, Otto (Anm. 2), S. 321–329. 15 Vgl. auch Felicitas Macgilchrist/Marcus Otto: Schulbücher für den Geschichtsunterricht. Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte. 16 Inga Niehaus u. a.: Schulbuchstudie Migration und Integration, hrsg. v. d. Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration. Berlin 2015.

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chungszeitraum (2014) aktuell zugelassenen Schulbüchern der Fächer Geschichte, Geographie und Politik/Sozialkunde. Darunter waren 24 Geschichtsschulbücher, die das Untersuchungskorpus für den vorliegenden Beitrag bilden, hier aber natürlich nur auszugsweise und exemplarisch zitiert werden können. In der Studie wurde untersucht, wie Migration und Integration in Bezug auf gesellschaftliche Vielfalt in deutschen Schulbüchern dargestellt werden und inwiefern Schulbücher zu einer zunehmenden Akzeptanz von Diversität als gesellschaftlicher Normalität beitragen. Die Untersuchung zeigte insgesamt, dass in den analysierten Schulbüchern die Problematisierung und damit einhergehende Legitimations- und Erklärungsbedürftigkeit von Migration gegenüber einer etwaigen Normalisierung von Migration und Diversität überwiegt.

2.

Zur Repräsentation von Migration und Integration in Geschichtsschulbüchern

Im Folgenden werden zunächst einige übergreifende Befunde hinsichtlich der Repräsentation von Migration und Integration in aktuellen deutschen Geschichtsschulbüchern zusammengefasst. Wenn Migration explizit definiert wird, richtet sich die Definition vor allem auf die „Wanderung großer Bevölkerungsgruppen“.17 Migration wird insgesamt zumeist begriffen als Wanderung von Individuen, Gruppen oder weiter gefassten Kollektiven. In diesen Definitionen, die bereits den durchaus potenziell bedrohlichen Eindruck erwecken, als würden nicht etwa nur Individuen oder Familien migrieren, sondern größere homogene Kollektive oder Massen als solche, wird letztlich systematisch ausgeblendet, dass es sich bei den viel beschworenen „Migrationsströmen“ um eine hoch aggregierte Größe handelt. Ein wiederholtes einführendes oder auch übergreifend rahmendes Narrativ der Repräsentation von Migration lautet, dass Deutschland und Europa insgesamt sich seit dem 19. Jahrhundert von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland gewandelt haben. Aus dieser historischen Perspektive werden häufig verschiedene und sich wandelnde spezifische Formen von Migration beschrieben. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Varianten der Thematisierung von Migration in historischer Perspektive unterscheiden: In einer Reihe relativ neuer Geschichtsschulbücher erfolgt die Thematisierung von Migration anhand eines problemorientierten historischen Längsschnitts etwa unter dem Titel „Migration in der Geschichte“, der z. B. von den französischen „Hugenotten“ in 17 Thomas Berger von der Heide u. a.: Entdecken und Verstehen 9/10. Von der Oktoberrevolution bis zur Gegenwart. Ausgabe Brandenburg Gymnasium, Oberschule. 1. Aufl. Berlin (Cornelsen) 2009, S. 119.

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Preußen im 17. Jahrhundert bis zur „Armutsmigration nach Europa“ in der Gegenwart reicht.18 Daneben finden sich in vielen Geschichtsschulbüchern jeweils vereinzelte Thematisierungen von Migration und Integration im Kontext spezifischer Ereignisse wie z. B. am Fall der „Zusammenbruchsgesellschaft“ in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.19 In Geschichtsschulbüchern herrschen neben der allgemeinen Erzählung von Migration als epochenübergreifendem historischen Prozess vor allem folgende Narrative vor : Flucht, Vertreibung, Aufnahme und letztlich erfolgreiche Integration der „Flüchtlinge“ und „Vertriebenen“ in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, der Wandel Deutschlands und Europas vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland seit dem 19. und im Verlauf des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart sowie die Globalisierung als prägendes Rahmen-, Hintergrund- und übergreifendes Krisennarrativ zunehmender Migration seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erzählungen und Narrative von Migrations- und Wanderungsbewegungen sowie Flüchtlingsströmen werden in unterschiedlichen historischen Kontexten teilweise relativ separat und isoliert entfaltet, teilweise jedoch auch explizit auf Kontinuitäten in der Geschichte ausgerichtet, obwohl dies dem Längsschnittprinzip widerspricht, das Gemeinsamkeiten und Unterschiede gesellschaftlicher Problemlösungen im historischen Vergleich herausarbeiten soll. Im Hinblick auf Chancen von Migration und Integration werden vor allem ökonomisches Wachstum und Modernisierung, erfolgreiche Integration und gesellschaftliche Bereicherung in den Vordergrund gestellt, wie die folgenden Beispiele veranschaulichen. Innerhalb des Themenkomplexes zu Flucht und Vertreibung in der „Zusammenbruchsgesellschaft“20 in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verkörpern die Flüchtlinge und Vertriebenen sowohl die existentielle gesellschaftliche Krisen- und Ausnahmesituation einer orientierungslosen Gesellschaft als auch – im Zuge ihrer zunächst durchaus als konfliktträchtig geschilderten, letztlich aber erfolgreichen Integration – die gelungene Bewältigung der Krise und des Ausnahmezustands nach dem verlorenen Krieg. In diesem Sinne sind sie nicht nur konstitutive Herausforderung der deutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern geradezu Kennzeichen des erfolgreichen Wiederaufbaus Deutschlands in der frühen Bundesrepublik. Konträr dazu stellt sich die Anwerbung und Migration der „Gastarbeiter“ in der frühen Bundesrepublik dar : Zunächst aus ökonomischen Motiven 18 Zur Abgrenzung von Längsschnitt, Querschnitt etc. vgl. Michele Barricelli: Thematische Strukturierungskonzepte. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2007, S. 46–62. 19 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Niehaus u. a. (Anm. 13). 20 U. a. Ulrich Baumgärtner u. a.: Horizonte 9. Ausgabe Bayern Gymnasium. Braunschweig (Westermann) 2007, S. 130.

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angeworben und in den Schulbüchern wiederholt durch das folkloristische Motiv des mit einem Moped beschenkten und begrüßten „Millionsten Gastarbeiters“ visualisiert und inszeniert21, erscheint ihre Integration letztlich als problematisch und defizitär. Andererseits werden an der Figur des „Gastarbeiters“ und anhand des Phänomens der Arbeitsmigration zugleich gesellschaftlicher Wandel, der ökonomische Wiederaufbau, der „Ausbau des Sozialstaats“ und darüber hinaus die Herausforderung eines sich wandelnden Selbstverständnisses Deutschlands als „Einwanderungsland“ oder als mögliche „multikulturelle Gesellschaft“ (mit einem Fragezeichen versehen) verhandelt.22 Allerdings dominiert insgesamt eine problematisierende Darstellung von Migration z. B. als konfliktträchtig oder krisenhaft. Damit korrespondiert eine Bezeichnungspraxis, die anhand von Begriffen wie z. B. „Ausländer“, „Fremde“ „Migranten“ und „Menschen mit Migrationshintergrund“, „Flüchtlinge“, „Illegale“, „Notleidende“ etc. diejenigen Formen und Aspekte von Migration akzentuiert, die diese in Szenarien der Abweichung von einer Norm oder gar eines Ausnahmezustandes beschreiben. So erscheint Migration häufig als vor allem durch gesellschaftliche Krisen bedingte Ein- und Auswanderung, die mit fundamentalen biographischen Brüchen einhergeht, wie besonders emblematisch an der Figur des „entwurzelten Menschen“ wiederholt visualisiert wird.23 Und der charakteristische Fokus der Darstellungen richtet auf Formen grenzüberschreitender Migration zwischen Nationalstaaten, die dann inhärent als problematisch erscheint. Die räumliche Darstellung von Migration in Geschichte und Gegenwart erfolgt in Geschichtsschulbüchern häufig in naturalisierenden, quasi geopolitischen Mustern, die quantitative „Bevölkerungsströme“ vor allem nach, von und in Europa kartographisch, statistisch etc. veranschaulichen. Der Fokus liegt dabei auf grenzüberschreitende Ost/West- und Süd/Nord-Migration. Im Zusammenhang mit den quantifizierenden Darstellungen von Migration und innerhalb der ausgesprochenen Krisenszenarien erscheint Migration daher häufig in besonders räumlich ausgeprägten, zumindest impliziten Bedrohungsszenarien. Dem entspricht ebenfalls die, insbesondere bezogen auf sogenannte „Flüchtlingsströme“, häufig anzutreffende Dramatisierung von Migra21 Vgl. hierzu auch Veit Dudczuneit: Der ,Vorzeigegastarbeiter‘. Die Begrüßung des millionsten Gastarbeiters als Medienereignis. In: Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. II: 1949 bis heute. Göttingen/Bonn 2008, S. 306–313. 22 Vgl. Joachim Cornelissen: Mosaik – der Geschichte auf der Spur 3. Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart. Ausgabe Nordrhein-Westfalen Gymnasium. München (Oldenbourg) 2009, S. 138. 23 Vgl. u. a. Walter Funken u. a.: Geschichte plus 9/10, Neubearbeitung, Ausgabe Berlin Gymnasium, Oberschule. 1. Aufl. Berlin (Volk-und-Wissen-Verlag) 2009, S. 326, und Thomas Berger von der Heide/Hans-Gert Oomen: Entdecken und Verstehen: Geschichte 9/10. Vom Kalten Krieg bis zur Gegenwart. Ausgabe Sachsen Mittelschule. 1. Aufl. Berlin (Cornelsen) 2012, S. 176.

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tion als massenhafte und vor allem, aber nicht nur räumliche Überschreitung von Grenzen. Darüber hinaus wird in zahlreichen Darstellungen sowohl von historischen Beispielen als auch von gegenwärtiger Migration anhand der Beschreibung eines virulenten Spannungsverhältnisses zwischen der Gesellschaft und den jeweils identifizierten Migrant/innen immer wieder prominent und in – methodisch an sich gebotenem – problematisierenden Gestus die Frage aufgeworfen, ob und inwiefern Migrant/innen sich in der neuen Gesellschaft zurechtfinden, sich dort einfügen und wie sie wiederum dabei aufgenommen werden, ob sie willkommen sind oder eher Ablehnung erfahren etc. Integration erscheint im Zusammenhang mit Migration zumeist als diskursiver Imperativ, der aber selten konkretisiert und differenziert wird. Wenn eine Differenzierung oder nähere Bestimmung dieses Imperativs der Integration vorgenommen wird, dann liegt der Fokus vor allem auf den Aspekten Bildung, Arbeitswelt und Wohnsituation der immigrierten Gruppen. Migration und Integration werden als konfliktträchtige Phänomene gerahmt, die inhärent mit gesellschaftlich kontroversen Positionen gegenüber Migration einhergehen. Es werden darüber hinaus zwar dergestalt verschiedene Akteursperspektiven auf Migration und Integration beschrieben, als vor allem anhand ausgewählter stellvertretender oder gar prominenter Beispiele verschiedene Erfahrungen artikuliert werden. Jedoch konvergieren diese zumeist auf eine weitgehend gesellschaftlich normierte und damit implizit als „konsensual“ vermittelte Subjektposition der Integration.

3.

Die performative Adressierung der Lernenden in Aufgabenstellungen und die Anrufung von Subjekten in der diskursiven Matrix von Migration und Integration

Besonders aufschlussreich im Hinblick auf die Fragestellung nach Inklusion oder Exklusion und der diskursiven Anrufung von Subjekten sind die zum Thema Migration und Integration formulierten Aufgabenstellungen und Arbeitsaufträge. Denn diese gehen jeweils mit spezifischen Formen der performativen Adressierung der Lernenden einher, wie im Folgenden erläutert wird. Die Aufgabenstellungen und Arbeitsaufträge in Schulbüchern der sinnbildenden Fächer wie Geschichte, Geographie, Politik/Sozialkunde oder auch Religion/ Ethik gehen zumeist mit solchen Adressierungen einher, welche die Lernenden explizit oder zumindest implizit dazu auffordern, sich als gesellschaftlich verantwortliche individuelle Subjekte zu identifizieren, zu positionieren, kurz: sich ideologisch „anrufen“ zu lassen. In den Aufgabenstellungen der Geschichtsschulbücher dominiert zunächst

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einmal die allgemeine Rekonstruktion von Faktenwissen vor allem zu kausalen Zusammenhängen, Gründen, Ursachen, Bedingungen und Folgen von Migration. Dies impliziert die Reproduktion eines zunächst vor allem quantitativen Faktenwissens, dem häufig durch die Verwendung von Dokumenten und Quellen eine zusätzliche Plausibilität verliehen wird. Daran schließen unmittelbar Aufgaben zu den Gründen, Ursachen und Folgen von Migration an. Auf dieser Ebene handelt es sich nahezu ausschließlich um eine Betrachtung, die nach übergreifenden und insbesondere überindividuellen objektiven Faktoren der Migration fragt. So herrschen Aufgaben vor, die dazu aufrufen, die Ursachen, Faktoren und Folgen von Migration zu rekonstruieren. „Nenne Ursachen für die Flucht aus den deutschen Ostgebieten“.24 Eine solche Perspektive wird darüber hinaus zuweilen in einem praxisnahen und lebensweltlichen Bezug formuliert und veranschaulicht. „Erläutere […] Gründe für die Auswanderung und formuliere […] eine Vermutung über das Reisegepäck.“25 Dabei finden sich auch immer wieder solche Adressierungen, die explizit darauf abzielen, sich in die Perspektiven der verschiedenen Akteure im Zusammenhang mit Migration hineinzuversetzen, um deren jeweilige Beweggründe bzw. Positionen nachzuvollziehen, wie z. B.: „Versetze dich in die Lage eines Heimatvertriebenen aus dem Osten und des Bürgers einer Stadt in Deutschland, der den Neuankömmling bei sich aufnehmen muss. Zeigt in einem Gespräch die Sorgen und Ängste der beiden Personen auf.“26 Wie dieses Beispiel zeigt, erfolgt gerade eine solche empathische Thematisierung von Migration häufig unter der suggestiven Prämisse, dass Migration nicht nur für den einzelnen Migranten mit Ängsten und Sorgen verbunden ist, sondern mit potentiell bedrohlichen Szenarien einhergeht, die dementsprechend ein subjektiv erfahrbares Konfliktpotential bergen. An eine solche Perspektive knüpfen zuweilen auch Arbeitsaufträge an, die anhand des semantischen Registers subjektiver „Schicksale“ den Blick auf die jeweils eigene Familiengeschichte lenken: „Sucht in eurer eigenen Familiengeschichte oder bei Freunden und Bekannten (mit deren Einverständnis) nach ähnlichen Schicksalen. Geht dabei nach der Methode ,Zeitzeugenbefragung‘ vor.“27 Eine gleichermaßen empathische Adressierung, die gleichsam en passant mit einer Krisen- bzw. Defizitperspektive auf Migration einhergeht, findet sich auch in gegenwartsbezogenen und lebensweltlich innerhalb der schulischen Interaktion eingebetteten Aufgabenstellungen: „Befragt Mitschülerinnen und Mit-

24 Sven Christoffer u. a.: Zeitreise 3. Ausgabe A. Neue Ausgaben für Realschulen und Differenzierende Schulen in Nordrhein-Westfalen. 1. Aufl. Stuttgart (Klett) 2012, S. 141. 25 Funken (Anm. 19), S. 327. 26 Cornelissen (Anm. 18), S. 93. 27 Berger von der Heide/Oomen (Anm. 19), S. 171.

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schüler mit Migrationshintergrund, was sie bei uns vermissen.“28 Denn, wie im oben angeführten Beispiel zu historischen Situationen und Konstellationen der Migration, wird hier nunmehr ganz konkret auf die gegenwärtige Situation in der schulischen Unterrichtsinteraktion in einem ausgesprochen asymmetrischen Rahmen subjektive Empathie mit einem diskursiv konstituierten Anderen aufgerufen. Die gute pädagogische Absicht, Einfühlung in den Anderen herbeizuführen, bestärkt die Wahrnehmung seiner Andersartigkeit. Solche Aufgabenstellungen, die darauf abzielen, sich in die Situation von Migranten hineinzuversetzen und Empathie mit diesen hervorzurufen, konstituieren, wenngleich in eher paternalistischer Weise, ein Repräsentationsregime im Sinne Halls, das bestimmte Individuen und Gruppen zum Objekt des Diskurses macht. Weitere exemplarische Arbeitsaufträge schließen unmittelbar hieran an, indem sie zur Kategorisierung von Migration über den schulischen Kontext hinaus auffordern: „Stellt weitere bekannte Menschen mit Migrationshintergrund vor.“29 Und: „Recherchiert bei Vereinen eurer Stadt und versucht herauszufinden, wie viele Sportler mit Migrationshintergrund dort trainieren.“30 Die Frage, was aufgrund welcher diskursiver Kategorisierungen gesellschaftlich überhaupt als Migration gilt, wird vereinzelt auch in einem gleichsam reflexiven Gestus in konkreten Aufgabenstellungen aufgeworfen: „Entscheidet mithilfe der Definitionen, ob es sich in den folgenden Fällen um Migration handelt: – Ein Ingenieur aus Russland findet eine Anstellung an der TU Chemnitz. Er zieht mit seiner Frau nach Chemnitz. – Eine deutsche Frau heiratet einen Mann aus Tunesien und tritt zum Islam über. Die Familie wohnt weiter in der Heimatstadt der Frau, in Dresden. – Eine türkische Familie wohnt schon seit 10 Jahren in Leipzig. Die in Leipzig geborenen Kinder werden in der Schule als Ausländer angesehen.“31

Allerdings suggerieren die Aufgabenstellungen insgesamt im Rahmen der Repräsentationen von Migration und Integration einen übergreifenden diskursiven Antagonismus zwischen individuellen oder kollektiven Subjekten einerseits und einer „Aufnahmegesellschaft“ andererseits. Diese zunächst eher implizite Prämisse der Arbeitsaufträge manifestiert sich dann häufig auch explizit und in unterschiedlicher Intensität in dezidiert kontroversen Adressierungen, die durch eine entsprechende Rahmung und in konfliktorientierten Arbeitsaufträgen wie z. B. in Form von Gruppendiskussionen dazu aufrufen, Migration und 28 Hans-Otto Regenhardt/Claudia Tatsch: Forum Geschichte. Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart. Gymnasium. Berlin (Cornelsen) 2003, S. 177. 29 Berger von der Heide/Oomen (Anm. 17), S. 161. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 159.

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Integration als dezidierte Streitfragen zu diskutieren. Dabei handelt es sich wiederholt um Aufgabenstellungen, die ganz explizit zu kontroversen und konfliktträchtigen Diskussionen zum Thema Migration aufrufen, wobei häufig solche plakativen Fragestellungen an die Lernenden adressiert werden, die aus massenmedial inszenierten Formaten wie „Talkshows“ dafür bekannt sind, pauschale und stereotype Argumente über bestimmte Gruppen von Menschen zu reproduzieren. Diese Arbeitsaufträge evozieren zumeist ein Repräsentationsregime, dessen implizite ausschließliche Referenz die „einheimische“ („Aufnahme-“)Gesellschaft bildet und das andere Akteursperspektiven diskursiv exkludiert: „Bildet Gruppen und bereitet eine Pro- und Kontra-Diskussion vor. Wählt zunächst eine der folgenden Fragen aus oder formuliert eine eigene Pro- und Contra-Frage. – Soll der Zuzug von Ausländern begrenzt werden? – Leben zu viele Ausländer bei uns? – Sollen Armutsmigranten abgewiesen werden? – Sollen mehr hochqualifizierte Ausländer angeworben werden?“32

Hierbei handelt es sich wiederholt um ein asymmetrisches Repräsentationsregime, dessen implizite ausschließliche Referenz die „einheimische“ („Aufnahme-“)Gesellschaft bildet und das bestimmte Akteursperspektiven diskursiv wirkmächtig exkludiert, indem es deren potentielle Träger performativ zu Objekten des Diskurses macht. Besonders deutlich wird dieses Repräsentationsregime schließlich in den zahlreichen und wiederkehrenden Aufgabenstellungen und Adressierungen, die Migrant/innen buchstäblich diskriminieren, unmittelbar objektivieren und damit als bloßen Gegenstand repräsentieren, wie im folgenden Beispiel: „Welche Erfahrungen hast Du mit Aussiedlern gemacht? Wie kann ihre Integration verbessert werden?“33 In einem solchen Zusammenhang stehen auch Aufgabenstellungen und Adressierungen, die gesellschaftliche Inklusions- und Exklusionsverhältnisse unreflektiert vermitteln und reproduzieren, wie exemplarisch im folgenden Arbeitsauftrag: „Recherchieren Sie nach gesetzlichen Bestimmungen zum Asylrecht. Diskutieren Sie in der Klasse, ob die gegenwärtige Rechtslage angemessen oder zu restriktiv ist.“34 Denn auch wenn hier dazu aufgerufen wird, die Gesetzeslage und damit eventuell auch die staatliche Asylpolitik kritisch zu hinterfragen, reproduzieren solche Aufgaben unmittelbar im Klassenzimmer Verhältnisse von Inklusion und Exklusion, indem sie effektiv 32 Ebd., S. 174. 33 Florian Osburg: Expedition Geschichte 5. Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. Geschichte Mittelschule Sachsen. 1. Aufl., Druck A. Braunschweig (Diesterweg) 2007, S. 224. 34 Ludwig Bernlochner u. a.: Geschichte und Geschehen 5. Bayern Gymnasium. 1. Aufl. Stuttgart (Klett) 2008, S. 95.

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zwischen den urteilsfähigen zugehörigen Subjekten einerseits und den (potentiell) Betroffenen einer exkludierenden Asylpolitik unterscheiden. Mithin zeigen solche Adressierungen in den Aufgabenstellungen weiterhin, inwiefern bezogen auf Migration und Integration gerade hier weitgehend eine Perspektive vorherrscht, die diskursiv wirkmächtig eine eindeutige Unterscheidung zwischen einem kollektiven Eigenen und verschiedenen anderen Gruppen macht, die „eigentlich“ (noch) nicht dazugehören und bestenfalls erst noch integriert werden müssen. In diesem Zusammenhang sind auch immer wieder sind solche Adressierungen zu finden, die explizit auf die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Anderen rekurrieren und zugleich diese Unterscheidung reifizieren: „Gibt es in eurer Klasse Schüler, die oder deren Eltern aus dem Ausland stammen? Ladet einen Zeitzeugen in die Schule ein.“35 Solche Adressierungen gehen vereinzelt ebenfalls mit einer objektivierenden Problematisierung bestimmter Gruppen einher : „Diskutiert, inwieweit die Integration ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland gelungen ist.“36 Insgesamt lassen sich zwei vorherrschende Logiken der Adressierung der Lernenden und einer korrespondierenden Anrufung von Subjekten identifizieren, die sowohl gesellschaftlich (semantisch) als auch in der schulischen Interaktion (operativ-strukturell) zur Unterscheidung von (Nicht-)Zugehörigkeiten und zur (Re-)Produktion von Inklusion/Exklusion beitragen: Erstens handelt es sich um die Anrufung von Empathie mit Einzelschicksalen und bestimmten Gruppen von Minderheiten in Geschichte und Gegenwart. Hiermit geht der Fokus auf einen Opferstatus und eine eher reaktive agency bis hin zu einer ausgesprochenen Therapeutisierung und Pathologisierung – wie im bereits erwähnten Beispiel der Darstellung des „entwurzelten Menschen“37 – von Migrations-Subjekten einher. Zweitens werden Migrantinnen und Migranten häufig explizit zum Objekt gemacht, und die anderen Lernenden werden wiederum zum (inhärent diskriminierenden) Sprechen über diese aufgefordert.

35 Vgl. Joachim Cornelissen: Mosaik: Der Geschichte auf der Spur 9. Ausgabe Gymnasium Bayern. 1. Aufl. München (Oldenbourg) 2007, S. 131. 36 Ders.: Mosaik – der Geschichte auf der Spur 3. Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart. Ausgabe Nordrhein-Westfalen Gymnasium. 1. Aufl. München (Oldenbourg) 2009, S. 139. 37 Vgl. Funken (Anm. 19) und Berger von der Heide/Oomen (Anm. 19).

Inklusion/Exklusion und die Anrufung von Subjekten

4.

223

Fazit und Ausblick: Paradoxien und Probleme der schulischen Vermittlung von Migration und Integration

Die schulische Vermittlung von Migration ist gegenwärtig durch semantische Paradoxien und normativ begründete Problemlagen gekennzeichnet, die sich in den Darstellungen und Aufgabenstellungen der Geschichtsschulbücher niederschlagen. Ein übergreifendes Spannungsverhältnis manifestiert sich exemplarisch darin, dass Aussagen wie „Migration gab es immer“ zugleich wiederholt mit einem Fokus auf außerordentliche und außeralltägliche Formen von Migration und Mobilität einhergehen. Dies verweist überhaupt darauf, dass Migration zumindest implizit eher als Abweichung von einer (imaginierten) diskursiven Norm und eher noch selten im semantischen Register von Mobilität oder auch Flexibilität als einer empirischen Normalität und diskursiven Norm gleichermaßen (in) der modernen Gesellschaft vermittelt wird. Auch und gerade im Hinblick auf den diskursiv schillernden Begriff der Integration tritt eine ausgesprochene Paradoxie zutage, wenn eine imperativische Aussage wie „Integration fängt bei mir an“ zugleich mit einer ausgesprochen exkludierenden Adressierung von Lernenden einhergeht, wie in einigen der oben zitierten Beispiele. Migration und Integration werden in den untersuchten Schulbüchern vorwiegend als konfliktträchtige, krisenhafte Phänomene dargestellt, die mit gesellschaftlich kontroversen Positionen gegenüber Migration einhergehen. Entsprechend dominiert eine Perspektive auf Integration, die diese im Rahmen eines nach Homogenität strebenden Gesellschaftsverständnisses begreift und einfordert. Integration wird nicht im Hinblick auf verschiedene mögliche Formen, gesellschaftliche Bereiche oder Strukturen konkretisiert, spezifiziert und differenziert, ihr Erfolg gilt aber in den Schulbüchern als gleichsam kategorischer gesellschaftlicher Imperativ. In diesem Zusammenhang erscheinen Migration und Diversität letztlich vor allem als Probleme und Herausforderungen für eine semantisch weitgehend bekräftigte diskursive Norm gesellschaftlicher Homogenität. In Form eines plakativen und abstrakten Imperativs der Integration werden in den Darstellungen jeweils bestimmte Gruppen von Migrantinnen und Migranten exponiert und damit wiederholt zum Objekt eines geradezu obsessiven und phantasmatischen Diskurses der Integration gemacht. Im Hinblick auf den diskursiven Zusammenhang zwischen der Repräsentation von Migration einerseits und der Frage von Inklusion oder Exklusion andererseits lässt sich schließlich resümieren, dass Migration fast ausschließlich im Zusammenhang mit Exklusion bzw. prekärer Inklusion thematisiert wird, während Formen ausgesprochener Inklusions-Migration im Sinne individueller Mobilität weitgehend ausgeblendet bleiben bzw. eine Ausnahme in den Dar-

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stellungen bilden. Die entsprechenden Repräsentationen sind insgesamt sehr weitgehend durch eine charakteristische Engführung der Perspektive auf migrationsbezogene Rollen und das Ausblenden gesellschaftlicher Rollendiversität geprägt. Die Berücksichtigung dieser Rollendiversität würde eben auch die Thematisierung der spezifischen Hinsichten, in denen Individuen oder auch soziale Gruppen jeweils inkludiert sind oder exkludiert werden, implizieren. So tauchen z. B. der IT-Experte aus Indien, die Managerin aus den USA und die Studentin aus Südkorea, die gemeinsam auszeichnet, dass ihre Migration in eine definierte und weithin anerkannte gesellschaftliche Inklusionsrolle mündet, praktisch kaum als Migrant bzw. Migrantin in den Schulbüchern auf. Stattdessen fokussieren die Darstellungen sehr weitgehend und nahezu ausschließlich auf die Migration in Formen prekärer Inklusion oder ausgesprochener Exklusion. Die Bezeichnung und Thematisierung bestimmter Formen von Migration ist mithin immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse und sozialer Ungleichheit. Dies manifestiert sich auch und gerade in den performativen Adressierungen in Schulbüchern und in der korrespondierenden Anrufung von Subjekten im übergreifenden Rahmen der diskursiv verfügbaren und vorherrschenden Semantiken im und aus dem Register der Migrationsgesellschaft.

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Exklusion durch historische Bildung? Fachlichkeit und gesellschaftliche Teilhabe in der Bundesrepublik Deutschland

1.

Einleitung

Inklusion und Exklusion sind soziologische Begriffe, die Ursachen und Formen von Ein- und Ausschlüssen einzelner Gruppen in die oder aus der (Mehrheits)Gesellschaft bezeichnen.1 Der Begriff „Diversität“ bringt demgegenüber die Verschiedenheit individueller und kollektiver Zugehörigkeiten in einer gegebenen Gesellschaft in den Blick. Er ist nach seiner Herkunft und politischen Bedeutung stärker normativ als das Begriffspaar Inklusion und Exklusion2, weil nicht nur die Kenntnisnahme von Verschiedenheit, sondern auch deren Anerkennung gefordert wird. Dies geschieht teils in expliziter Abgrenzung von rassistischen/kolonialen Denkmustern, die sich gemäß einer verbreiteten Wahrnehmung hinter der Berufung „des Westens“ auf universelle Kategorien von Geschichte und Gesellschaft verbergen.3 Die Berufung auf Diversität kann daher auch eine Fundamentalkritik an der Demokratie heutigen Zuschnitts anzeigen.4 1 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt/M. 1997, S. 618–633; Rudolf Stichweh: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2. Aufl. 2016. 2 Michael Schönhuth: Diversity. In: Sven Hartwig/Fernand Kreff (Hrsg.): Lexikon der Globalisierung. Bielefeld 2011, S. 52–56, Mar&a do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan (Hrsg.): Soziale (Un)Gerechtigkeit. Kritische Perspektiven auf Diversity, Intersektionalität und Antidiskriminierung. Berlin/Münster 2011; Martin Lücke: Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik. In: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 136–146. Vgl. auch die Einführung von Thomas Sandkühler zu dieser Sektion. 3 Stuart Hall: Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften. Bd. 2. Hamburg 1994, S. 66–88, vgl. auch Marcus Otto: Inklusion/Exklusion und die Anrufung von Subjekten in der Migrationsgesellschaft: Die Adressierung der Lernenden in aktuellen Geschichtsschulbüchern, in diesem Band. 4 Seyla Benhabib: Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt/M. 1999, S. 54–77; Nancy Fraser : Multikulturalismus, Antiessentialismus und radikale Demokratie. Eine Genealogie der gegenwärtigen Ausweglosigkeit in der feministischen Theorie. In: Dies.: Die halbierte Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 2001, S. 251–273.

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Hier schließen unsere Überlegungen an, die allerdings um eine eher unbeachtete Facette von Inklusion und Exklusion kreisen, weniger um Diversität.5 Fragt man nämlich – gemäß der Überschrift dieser Sektion –, für wen der Geschichtsunterricht bestimmt ist, lässt sich kaum übersehen, dass der Fachunterricht zwar im Gymnasium überwiegt, in den übrigen Schulformen aber durch Kombinationsfächer (meist zusammen mit Geographie und Sozialkunde bzw. Politischer Bildung) ersetzt wird, in denen Geschichte eine oft nicht einmal mehr quantitativ bestimmbare Rolle spielt.6 Entgegen einer verbreiteten Wahrnehmung, dass der Geschichtsunterricht als solcher bedroht sei – dazu gleich mehr –, liegt die Problematik solcher bildungspolitischen Weichenstellungen darin, dass die Fachlichkeit des Geschichtsunterrichts an Bedeutung verliert. Beträchtliche Teile der Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland, seien sie hier geboren oder erst kürzlich zugewandert, haben verringerte Chancen, historisch zu lernen und diejenigen Kompetenzen zu erwerben, die nun einmal nur der Fachunterricht vermitteln kann. Fehlen diese Kompetenzen, etwa für den kritischen Umgang mit der Geschichtskultur, wird gesellschaftliche Teilhabe erschwert.7 Insofern besteht zwischen Geschichtsunterricht und Demokratie ein lebenspraktischer Zusammenhang: Alle Schülerinnen und Schüler sollten Geschichtsunterricht erhalten. Um diese Forderung zu begründen, soll zunächst einmal bestimmt werden, was unter der Fachlichkeit des Geschichtsunterrichts zu verstehen ist und in welchem Zusammenhang sie mit gesellschaftlicher Teilhabe steht. Anschließend soll der diesbezügliche Forschungsbedarf aufgezeigt werden, indem wir einige Statistiken und demoskopische Befunde zum Geschichtsunterricht auswerten. Wir argumentieren theoretisch und empirisch, verstehen diesen Beitrag aber eher als Anregung zur Diskussion der Zusammenhänge zwischen Geschichtsunterricht und Partizipation denn als fertige

5 Dieser Aufsatz ging aus einem Referat hervor, das nicht gehalten wurde, vgl. dazu die Einleitung von Thomas Sandkühler zu dieser Sektion. Der Beitrag beruht teilweise auf einem Aufsatz von Guido Lenkeit: Weniger Geschichtsunterricht? Bemerkungen zur Statistik. In: Lernen aus der Geschichte (2017), H. 7: Themenheft „Geschichtsunterricht. Ein Schulfach in der Krise?“, http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/13733 (aufgerufen am 2. 4. 2018). 6 Vgl. Tabelle 2 in diesem Aufsatz. 7 Andreas Körber/Johannes Meyer-Hamme: Interkulturelle historische Kompetenz? Zum Verhältnis von Interkulturalität und Kompetenzorientierung beim Geschichtslernen. In: JansPatrick Bauer u. a. (Hrsg.): Geschichtslernen – Innovationen und Reflexionen. Geschichtsdidaktik im Spannungsfeld von theoretischen Zuspitzungen, empirischen Erkundungen, normativen Überlegungen und pragmatischen Wendungen. Festschrift für Bodo von Borries zum 65. Geburtstag (Reihe Geschichte, Bd. 54). Kenzingen 2008, S. 307–334; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013, S. 419–430.

Exklusion durch historische Bildung?

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Antwort auf diese komplexe Problemstellung, die in der Geschichtsdidaktik bisher nur in Ansätzen diskutiert und erforscht wurde.8

2.

Fachlichkeit und Demokratie

Schulfächer sind gesellschaftliche Konstruktionen. Welche Lerngegenstände wie aufgefächert wurden, ist bildungsgeschichtlich ein Ergebnis von politischen Vorgaben, edukativen Zielsetzungen und Gewohnheiten, an deren Institutionalisierung typischerweise Interessenverbände mitwirken, oft im Zusammenspiel mit politischen Parteien.9 Die universitäre Wissenschaft spielt, bildungsgeschichtlich betrachtet, eine geringere Rolle bei der Definition von Schulfächern: „Keineswegs […] ist […] für das Schulfach oder den Kanon der Schule die Wissenschaft, insgesamt oder mit einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen das einzige oder historisch und systematisch ausschlaggebende Referenz- oder wesentliche Konstitutionsfeld.“10

Bezieht man diese Einflussfaktoren auf das Schulfach Geschichte, so verdankt es sich dem Einfluss von Bildungseliten wie den Geschichtsprofessoren, von Lehrerverbänden und politischen Interessen der Staatsführung, die in Deutschland lange Zeit nicht unter demokratischen Vorzeichen standen, sondern obrigkeitsstaatlichem Denken Vorschub leisteten.11 Vor diesem Hintergrund nimmt nicht wunder, dass die Überwindung einer fachlich konservativen Monofachkultur – die freilich wegen der engen Verbindung zwischen Geschichte und Staatsbürgererziehung bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Fiktion war12 – auf der politischen Tagesordnung 8 Vgl. Geschichtsdidaktik. Probleme – Projekte –Perspektiven 12 (1987), H. 4 (Themenheft „Partizipation“); Oliver Plessow: Integrierte Lehrkräfte? Das Fach ,Geschichte mit Gemeinschaftskunde‘ an baden-württembergischen Berufsgymnasien in organisationsanalytischer Perspektive. In: Michael Sauer u. a. (Hrsg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 12). Göttingen 2016, S. 151–171. 9 Gerhard Schneider: Geschichtsunterricht als Institution. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 495–509; Heinz-Elmar Tenorth. Unterrichtsfächer. Möglichkeiten, Rahmen und Grenze. In: Ivor F. Goodson/Stefan Hopmann/Kurt Riquarts (Hrsg.): Das Schulfach als Handlungsrahmen. Vergleichende Untersuchung zur Geschichte und Funktion von Schulfächern. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 191–207. 10 Ebd., S. 199. 11 Gerhard Schneider: Der Geschichtsunterricht in der Ära Wilhelms II., vornehmlich in Preußen. In: Klaus Bergmann/Gerhard Schneider (Hrsg.): Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Düsseldorf 1982, S. 132–189. 12 Ebd.

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vieler derjenigen jüngeren Wissenschaftler stand, die in den 1970er Jahren Willy Brandts bekanntes Diktum „Mehr Demokratie wagen“ in die schulische Tat umsetzen wollten. Es bestand ein enger Zusammenhang zwischen historischem und politischem Lernen, genauer : zwischen der ,Vergangenheitsbewältigung‘ der Bundesrepublik und der Abgrenzung zur kommunistischen Diktatur in der DDR einerseits, dem Einüben demokratischer politischer Kultur andererseits.13 Brandts Forderung war ein Abschluss: Endlich, nach langen Jahrzehnten der Demokratieferne und Demokratiefeindlichkeit, waren die Deutschen in dieser Regierungsform angekommen und hatten sich mit ihr versöhnt.14 Liest man die geschichtsdidaktischen Schriften der 1970er Jahre als zeitgeschichtliches Zeugnis, wird deutlich, welche befreiende, nachgerade euphorisierende Wirkung davon ausging, dass sich das demokratische Bekenntnis nicht mehr länger gegen Anfechtungen aus den Lagern beider politischer Extreme verteidigen musste, sondern gelebt werden konnte.15 Ein wesentliches Merkmal von Fachlichkeit ist die Existenz einer Fachdidaktik. Die intensive Debatte um die disziplinäre Zugehörigkeit der Geschichtsdidaktik braucht hier nicht wieder aufgerollt zu werden.16 Aus theoretischen und methodischen Gründen ist u. E. die Geschichtswissenschaft das wichtigste und unentbehrliche Bezugsfach der Geschichtsdidaktik.17 Die Streitfrage, ob Schulfächer eher fachliche Prinzipien oder fachübergreifende Kompetenzen vermitteln sollen, ist im Fall der Geschichtsdidaktik zugunsten der Fachperspektive entschieden worden, ohne dass die Mehrheit der geschichtsdidaktisch Forschenden und Lehrenden in einem engen szientifischen Verständnis oder einer wiederbelebten „Umsetzungsdidaktik“ befangen wäre.18 Der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth hat darauf hingewiesen, dass „die Transzendierung der Fachperspektiven zu den tragenden Prinzipien schulischen Lernens“ gehöre.19 Bisweilen wird diese Transzendierung aber auch von den universitären Fächern selbst geleistet. Kennzeichnend für die heutige

13 Paul Nolte: Von der repräsentativen zu multiplen Demokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2011), H. 1–2, S. 5–12, hier S. 6; Ders.: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. München 2012, S. 324–340. 14 Ebd., S. 348–355. 15 Rolf Schörken: Demokratie lernen. Beiträge zur Politik- und Geschichtsdidaktik, hrsg. v. Thomas Sandkühler (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 38). Köln/Weimar/Wien 2017. 16 Vgl. Sauer u. a. (Anm. 8). 17 Thomas Sandkühler : Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft. In: Ebd., S. 415–433. 18 So aber der implizite Vorwurf von Reinhold Hedtke: Atomisierung der Stundentafeln? Zur Zerlegung von Schulfächern in ihre Disziplinen. In: Ders./Carolin Uppenbrock: Atomisierung der Stundentafeln? Schulfächer und ihre Bezugsdisziplinen in der Sekundarstufe I (iböb, working paper No. 3). Bielefeld 2011, S. 11–54, hier S. 15, 33, https://pub.uni-bielefeld. de/publication/2464451 (aufgerufen am 6. 8. 2017). 19 Tenorth (Anm. 9), S. 202.

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Geschichtswissenschaft ist ihre erstaunliche Wandlungsfähigkeit.20 Von dieser, übrigens in der Grundstruktur des Faches ,eingebauten‘, Erneuerungskraft des „ewig jugendlichen“ Fachs (im Sinne des Soziologen Max Weber) können innovative Impulse für die Geschichtsdidaktik ausgehen. Bevor man sich Theorien und Konzepte aus der Erziehungs- und Politikwissenschaft zu eigen macht, sollte man daher zunächst prüfen, ob die Geschichtswissenschaft nicht bessere und plausiblere Angebote bereithält. Zweifellos stellen Geschichts- und Politikunterricht vergleichbare Fragen.21 Die in der Politikdidaktik viel beachtete Kontroverse um das Verhältnis von Wissen und lebenspraktisch wirksamen „Basiskonzepten“ der Schülerinnen und Schüler beispielsweise könnte auch in der Geschichtsdidaktik geführt werden, hat dort aber kaum Beachtung gefunden.22 Auch ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Fachdidaktiken des kulturwissenschaftlichen Feldes mehr verbindet als trennt.23 Aus solchen Beobachtungen lassen sich aber keine unmittelbaren Schlussfolgerungen für die Fächerstruktur ziehen. Dem Geschichtsdidaktiker Rolf Schörken etwa lag die Demokratiebildung sehr am Herzen. Trotzdem oder gerade darum war er ein Gegner des neuen Fachs „Gesellschaftslehre“. Schörken opponierte mit pragmatischen Argumenten gegen ein bloßes Nebeneinander von Politik- und Geschichtsunterricht oder die Tendenz, unter wohlklingenden Titeln der Fachintegration die Unterordnung eines Faches unter das andere zu vollziehen.24 Wichtiger waren Schörkens grundsätzliche Argumente: Die durchaus erwünschte Kooperation von Geschichts- und Politikunterricht musste ihm zufolge auf der wechselseitigen Anerkennung der fachlichen Eigenständigkeit 20 Sandkühler (Anm. 17), S. 416. 21 Die wichtigsten Beiträge zur Debatte um das Verhältnis von Politik- und Geschichtsunterricht finden sich bei Reinhold Hedtke/Dietmar von Reeken (Hrsg.): Historische und politische Bildung. Ein sowi-online-Reader, https://www.sowi-online.de/reader/historische_poli tische_bildung.html (aufgerufen am 12. 2. 2015). 22 Georg Weißeno u. a.: Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1016). Bonn 2010 (online unter http://www.pe docs.de/frontdoor.php?source_opus=12009, aufgerufen am 14. 9. 2017); Autorengruppe Fachdidaktik (Hrsg.): Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift. Schwalbach/ Ts. 2011. Zu „Basiskonzepten“ klassisch Hilke Günther-Arndt: Conceptual Change-Forschung: Eine Aufgabe für die Geschichtsdidaktik? In: Dies./Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 14). Münster u. a. 2006, S. 251–277. 23 Marko Demantowsky/Volker Steenblock (Hrsg.): Selbstdeutung und Fremdkonzept. Die Didaktiken der kulturwissenschaftlichen Fächer im Gespräch (Bochumer Beiträge zur Bildungswissenschaftlichen und Fachdidaktischen Theorie und Forschung, Bd. 1). Bochum/ Freiburg 2011. 24 Thomas Sandkühler : Historisches Lernen für eine demokratische Geschichtskultur (Einleitung). In: Schörken (Anm. 15), S. 11–54, hier S. 33–42, 49–52.

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beruhen. Aufgabe des Geschichtsunterrichts war es demnach, die in einer Bedingungsanalyse festgestellten gesellschaftlichen Ausgangslagen mit der politischen Forderung nach Emanzipation so zu verbinden, dass spezifisch historische Lernziele daraus abgeleitet werden konnten. Aus diesem Grund lobte Schörken die Geschichtsdidaktik Annette Kuhns: „Die ,historisch-politischen Lernziele‘ sind der Nervenpunkt im Lernzielsystem Annette Kuhns, nicht nur wegen ihrer Funktion der Verklammerung von ,oben‘ und ,unten‘, sondern ebenso wegen ihrer spezifischen Aufgabe, historische Einsichten auf dem Wege der Verallgemeinerung in politische Einsichten zu transponieren. […] Bei aller Übereinstimmung transponiert Annette Kuhn aber nicht einfach den Geschichtsunterricht in einen Politikunterricht, vielmehr bleibt er Geschichtsunterricht gerade auch dort, wo er Lernziele der politischen Bildung anstrebt. […] Die Differenz zwischen Geschichtsunterricht und Politikunterricht verringert sich, ohne sich zu verwischen, ohne dass der eine den anderen schlucken kann oder möchte, ohne dass unzulängliche Methoden25 herangezogen werden.“26

Die Adressierung von Schülerinnen und Schülern als Subjekte gesellschaftlicher Emanzipation war politisch motiviert, war aber in dem Maße überzeugend und tragfähig, wie sich an der historischen Erfahrung früherer Generationen vergleichend abarbeitete. Mit anderen Worten: Die Kooperation zwischen den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern funktionierte dort am besten, wo jedes dieser Fächer seine eigene Denklogik, seine eigenen fachlichen Methoden ungehindert zur Geltung bringen konnte. Sicherlich kann man Kuhns Didaktik nicht ohne weiteres auf die heutige Situation übertragen, schon wegen ihres hohen kognitiven Anspruchs, der heute mehr denn je eine Zugangsschranke für politische Teilhabe darstellen dürfte. Uns ging es an dieser Stelle nur darum, darauf hinzuweisen, dass die politische Forderung nach mehr Demokratie und Emanzipation keineswegs zwangsläufig zur Aufgabe des fachunterrichtlichen Prinzips führen muss, sondern dieses sogar stärken kann. Eine solche Stärkung wurde, bei aller berechtigten Kritik am Formalismus und Quantifizierungswahn der Kompetenz-Begrifflichkeit, auch von der seit PISA geführten Diskussion um Kompetenzen historischen Lernens herbeigeführt.27 Gegen die Betonung der fachübergreifenden Problemstellungen und 25 Schörkens Fußnote: „Wie z. B. die des bloßen Vergleichs historischer Erscheinungen mit Gegenwartsphänomenen, von manchen Didaktikern anspruchsvoll ,Methode der Konfrontation‘ genannt.“ 26 Rolf Schörken: Der lange Weg zum Geschichtscurriculum. Curriculumverfahren unter der Lupe [1977]. In: Schörken (Anm. 15), S. 257–300, zit. S. 264, 269f. 27 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005; Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 15). Berlin 2016.

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Prinzipien steht die u. E. schwer zu widerlegende These, dass die fachbezogenen Kompetenzen der Geschichtsdidaktik aus ihrer Domänenspezifik hervorgehen. Um es mit Hans-Jürgen Pandel zu sagen: „Noch nie ist die allgemeine Didaktik erhellend mit der Fackel der Vernunft den Fachdidaktiken vorangeschritten.“28 Die Renaissance des Fachprinzips nach PISA hat zum Teil erhebliche Kritik auf sich gezogen. So schreibt der Soziologe Reinhold Hedtke: „Im Zuge der auf Bildungsstandards und Kompetenzorientierung zielenden Reformprozesse der vergangenen zehn Jahre scheint eine neue Schulfächerphilosophie aufzukommen, die die Struktur der etablierten Stundentafeln tief greifend verändern könnte. Bereits die so genannte Klieme-Expertise betont die Fachlichkeit der Bildungsstandards und verlangt entsprechend domänenspezifische Kompetenzmodelle […]. In ihrer Begründung verfährt sie dabei aber gleich zweifach reduktionistisch: Sie fokussiert einerseits auf kognitive Kompetenzen und identifiziert andererseits den kognitionspsychologischen Begriff Domäne kurzschlüssig mit Schulfach.“29

Fachdidaktiker leisteten der „Fiktion“ eines „disziplinscharfen“ Schulfachs Vorschub, indem sie die Begriffe wissenschaftliche Disziplin, Wissensdomäne und Schulfach synonym verwendeten.30 Hedtke selbst möchte „fächerübergreifende Strukturen“ stärken. Demzufolge sei eine Domäne eine Fächergruppe, „die sich aus einander affinen Fächern zusammensetzt“, wie etwa die Domäne Gesellschaftswissenschaften. Man müsse ferner zwischen fachbezogenen, domänenspezifischen, fachübergreifenden und überfachlichen Standards und Kompetenzen unterscheiden, um „die Engführung auf isolierte Einzelfächer“ zu überwinden.31 Der Verfasser stützt seine Argumentation auf die These, die Stundentafeln der Bundesrepublik beständen durchweg aus Integrationsfächern.32 Diese lässt sich jedoch empirisch widerlegen, etwa durch Statistiken und Tabellen, die seine Koautorin angefertigt hat.33 Das Fach Geschichte besteht im Einzelfall sogar neben dem Fach Gesellschaftslehre fort und erhält einen höheren Anteil an der Stundentafel.34 In den Gymnasien überwiegt schulorganisatorisch der Fachunterricht, unabhängig von der Gesamtstundenzahl, die Verbandsvertretern natürlich immer zu niedrig ist. Erklärungsbedürftig ist folglich vor allem, warum 28 29 30 31 32 33

Pandel (Anm. 7), S. 20. Hedtke (Anm. 18), S. 15. Ebd., S. 15f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 4, 16. Carolin Uppenbrock: Fakten statt Fiktionen. Zur Situation der sozialwissenschaftlichen Fächer in der gymnasialen Sekundarstufe I. In: Hedtke/Uppenbrock (Anm. 18), S. 55–100, hier S. 73, Tabelle 25, vgl. auch die in diesem Aufsatz enthaltene Tabelle 2 zum Status quo des Geschichtsunterrichts in den Bundesländern. 34 Uppenbrock (Anm. 33), S. 61, Abb. 12.

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der Fachunterricht in den Realschulen, Gesamtschulen, Sekundarschulen etc. so deutlich zurückgeht.

3.

Geschichtsunterricht und Teilhabe

Man kann diesen Sachverhalt in der Begrifflichkeit von Inklusion und Exklusion beschreiben: Exklusion durch fehlenden Geschichtsunterricht, Exklusion durch das gymnasiale Schulfach, das sich vom nichtsgymnasialen Zweig abgrenzt; Inklusion in einen Fachzusammenhang, der als mehr oder weniger additive Gesellschaftswissenschaft offenkundig keine Domäne konstituiert, Inklusion in eine herkunftssprachlich heterogenere Schülerklientel, die in ihrer Diversität respektiert und aktiv adressiert werden soll, um gesamtgesellschaftliche Inklusion zu gewährleisten. In der einschlägigen Forschung wird auf das verbriefte Menschenrecht auf Bildung verwiesen, und daraus werden konkrete Forderungen für die Inklusion körperlich oder kognitiv eingeschränkter Kinder und Jugendlicher in den schulischen Unterricht abgeleitet.35 Definiert man Bildung als Wissen im Zusammenhang und historische Bildung als Wissen im zeitlichen Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit, könnte man auf die Idee kommen, das Menschenrecht wäre verwirklicht, wenn flächendeckender Geschichtsunterricht erteilt wird. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass sich aus universellen Normen keine Schlussfolgerungen für die Organisation schulischer Bildung ziehen lassen. Es gibt, mit anderen Worten, ein Menschenrecht auf Bildung, aber kein Menschenrecht auf einzelfachlichen Unterricht, allerdings auch nicht auf fachübergreifenden Unterricht. Weiter kommt man mit der Frage nach der Bildungsgerechtigkeit, indem der Zusammenhang von schulfachlicher Organisation und gesellschaftlicher Teilhabe in den Blick genommen wird. Die Fachdidaktiken haben sich aus diesem inzwischen lebhaften Diskurs leider weitgehend herausgehalten und ihn der Pädagogik oder Soziologie überlassen.36 In einer Studie der Konrad-AdenauerStiftung wurde im Jahr 2016 darauf hingewiesen, dass die Bildungsgerechtigkeit

35 Vgl. Artikel 24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, http ://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf (aufgerufen am 12. 4. 2018). 36 Peter J. Brenner : Bildungsgerechtigkeit. Stuttgart 2010; Krassimir Stojanov Bildungsgerechtigkeit: Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs. Wiesbaden 2011; Thomas Eckert/Burkhard Gniewosz (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit. Wiesbaden 2017.

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in der Bundesrepublik seit PISA zugenommen habe, messbar etwa am wachsenden Anteil von Akademikern aus nichtakademischen Elternhäusern.37 Es gibt indes keinen Konsens darüber, was unter Bildungsgerechtigkeit zu verstehen ist. Im Rückgriff auf die PISA-Vergleichsstudie wird damit häufig „Chancengleichheit“ assoziiert. Diese materialisiert sich dem Common Sense zufolge darin, dass einerseits alle Kinder und Jugendliche Schulunterricht erhalten und andererseits ihre soziale Herkunft und der Bildungsgrad des Elternhauses sie nicht daran hindern, ihre individuelle Begabung zu entfalten.38 Aus den Erfolgsmessungen von PISA lassen sich daher keine Schlussfolgerungen auf das Fehlen oder die Herbeiführung von Chancengleichheit ziehen, obwohl die OECD selbst dies getan hat.39 Zudem ist das gerade angesprochene „Standardverständnis von Bildungsgerechtigkeit“ nicht hinreichend begründet, wie der Erziehungswissenschaftler Johannes Giesinger herausgearbeitet hat. Es besagt, „dass Ungleichheiten im Bildungserfolg, welche durch soziale Einflüsse entstehen, illegitim sind, während natürliche Ungleichheiten kein moralisches Problem darstellen. Das Ideal wird verfehlt, wenn Personen mit ähnlichen Potenzialen auf Grund unterschiedlicher familiärer Bedingungen völlig ungleiche Bildungsresultate erbringen. Dann nämlich kann angenommen werden, dass diejenigen, die schlechter abschneiden, eine illegitime Behinderung durch nachteilige familiäre Verhältnisse erfahren haben. Daraus resultierende Ungleichheiten sollen gemäß dem Standardverständnis neutralisiert werden.“40

Giesinger lenkt dagegen die Aufmerksamkeit darauf, dass „Ungleichheit der Chancen entsteht, wenn bestimmte Hindernisse dazu führen, dass die relevanten Personen ungleichen Zugang zum jeweiligen Gut haben“.41 Da es sich bei diesem Gut um den Zugang zu solchen Bildungsangeboten handelt, die es ermöglichen, dass Kinder und Jugendliche „in relevanten Bereichen bestimmte Kompetenzniveaus“ erreichen, geht es also um Verteilungsgerechtigkeit innerhalb von Wissensdomänen („relevante Bereiche“). Giesinger fährt fort: „Ob solche Chancen ergriffen werden, hängt zum einen von der Entscheidung oder dem Willen der Betroffenen ab, zum anderen aber von ihrer Fähigkeit, objektive

37 Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Eine Analyse der Entwicklung seit dem Jahr 2000. Bonn 2016, http://www.kas.de/wf/de/33.45395/ (aufgerufen am 4. 6. 2017). 38 Johannes Giesinger : Was heißt Bildungsgerechtigkeit? In: Zeitschrift für Pädagogik 53 (2007), S. 362–381, hier S. 364–366, online unter http://www.pedocs.de/volltexte/2011/4402/ pdf/ZfPaed_2007_3_Giesinger_Was_heisst_Bildungsgerechtigkeit_D_A.pdf (aufgerufen am 12. 4. 2018). 39 Ebd., S. 362. 40 Ebd., S. 373. 41 Ebd., S. 366.

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Bildungsgebote in subjektive Bildung zu transformieren. Um subjektive Bildung zu erlangen, müssen Kinder willens und fähig sein, sich Bildung anzueignen.“42 In Abgrenzung vom Standardverständnis von Chancengleichheit weist Giesinger auf den Zusammenhang von Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe hin: „Gerechtigkeit in Bezug auf Bildung ist hergestellt, wenn jedes Kind ein Bildungsniveau erreicht, das ihm ein gutes Leben in einer modernen Gesellschaft ermöglicht.“ Der vieldeutige Begriff des „guten Lebens“ umfasst selbstverständlich nicht nur die materielle Versorgung, sondern auch die Teilhabe an relevanten Entscheidungsprozessen.43 Kurzum: Bildungsgerechtigkeit ist als abstraktes Prinzip zwar nicht geeignet, den Fortbestand eines Fachunterrichts, hier des Geschichtsunterrichts, zu rechtfertigen. Umgekehrt lässt sich aber sagen, dass der Geschichtsunterricht jedenfalls dann einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leistet, wenn er Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt, Vorstellungen eines „guten Lebens“ zu entwickeln und vergleichend zu untersuchen, wie es um solche Ideale und deren Verwirklichung in der Vergangenheit bestellt war.44 Das kann der Politikunterricht nicht leisten. Und auch der schulpraktische Usus, die Zeitgeschichte nach 1945 weitgehend in den Zuständigkeitsbereich des Politikunterrichts zu überweisen, würde diese Aufgabenstellung verfehlen.45

4.

Geschichtsunterricht und Demokratiebildung

Zu den drängenden Gegenwartsproblemen, denen sich die Geschichtsdidaktik u. E. stellen muss, gehört die Krise der Demokratie, und das nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in der gesamten westlichen Welt. Zu diesem komplexen Problem haben sich Politologen geäußert, aber eben auch Historiker. Sie verdeutlichen beispielsweise, wie hilfreich es ist, die gegenwärtig hochschäumende Debatte um Demokratie und „Postdemokratie“ an die historische Erfahrung der späten 1920er Jahre zurückzubinden. Wer um die fatalen Auswirkungen pauschaler Demokratiekritik in der damaligen Krisensituation weiß, wird sich in der gegenwärtigen Krise möglicherweise vorsichtiger äußern.46 Didaktiker verschiedener Disziplinen haben neuerdings die Frage nach der „Befähigung zu gesellschaftlicher Teilhabe“ aufgeworfen, die mit der im vor42 Ebd., S. 367. 43 Ebd., S. 376. Zur philosophischen Tradition vgl. Dagmar Fenner : Das gute Leben. Berlin 2007. 44 Das ist im Kern natürlich Klaus Bergmanns Begriff des Sinnzusammenhangs. Klaus Bergmann: Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2002. 45 Pandel (Anm. 7), S. 33f. 46 Nolte 2012 (Anm. 13), S. 258–271, 471f.

Exklusion durch historische Bildung?

235

angehenden Abschnitt behandelten Frage nach der Bildungsgerechtigkeit offenkundig zusammenhängt.47 Reinhold Hedtke weist zunächst darauf hin, dass die Fachdidaktiken der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer seit den 1990er Jahren unter einem beträchtlichen Erwartungsdruck stehen, die Partizipation von Jugendlichen zu steigern.48 Er beklagt indes die Ökonomisierung dieses Diskurses, der längst zur political correctness gehöre: „Wahlbeteiligung, Kohärenz und Wirtschaftswachstum erweisen sich […] als die Kernziele gegenwärtiger europäischer Partizipationspolitiken.“49 Gegen diese wahrgenommene Engführung setzt Hedtke einen „starken Begriff von politischer Partizipation“, der direkte Bürgerbeteiligung und Formen einer „deliberativen“ Demokratie einschließen soll. Der globale Kapitalismus verhindere jedoch politische Partizipation. Von hier aus ist es nicht weit zur Diagnose der „Postdemokratie“ im Sinne des britischen Politologen Colin Crouch.50 Man könne, so Hedtke, sehen, „dass schulisch präparatorisch-antizipatorische Bildung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit von Partizipation nur marginale Wirkungen hat.“51 Hedtkes Aufgabenbeschreibung für die Fachdidaktik der Zukunft ist ein resignierter Appell an die „eigene sozialwissenschaftliche Selbstaufklärung“. Als praktisch-politische Schlussfolgerung wird die Förderung politischer Partizipation von Schülerinnen und Schülern auf der alltäglichen Ebene der Schule angestrebt.52 Hedtke hält die Geschichte nicht für eine relevante Subdomäne der Gesellschaftswissenschaften.53 Wie der Zeithistoriker Paul Nolte angemerkt hat, bleibt in solchen ahistorischen Argumentationen die „Handlungsmacht der Bürgerinnen und Bürger, ihre kritische und konstruktive demokratische Energie[,] 47 Jürgen Menthe u. a. (Hrsg.): Befähigung zu gesellschaftlicher Teilhabe. Beiträge der fachdidaktischen Forschung (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 10). Münster/New York 2016. Mathematikdidaktiker und Didaktiker der Naturwissenschaften, die schon seit längerem darauf drängen, die Einzelfachdidaktiken durch eine „Allgemeine Fachdidaktik“ zu ergänzen oder zu ersetzen, dominieren in dem einschlägigen Sammelband. Geschichte ist nur durch die knappe Präsentation einer Studie zum historischen Denken im Grundschulalter vertreten: Andrea Becher/Eva Gläser : HisDeKo – eine Studie zum historischen Denken im Grundschulalter. Ebd., S. 313–316. 48 Reinhold Hedtke: Bildung zur Partizipation. Fachdidaktik als Auftragnehmerin der Politik? In: Menthe u. a. (Anm. 47), S. 9–23, hier S. 9. Diese Periodisierung leuchtet unmittelbar ein, weil die Katerstimmung über Möglichkeiten und Grenzen parlamentarischer Demokratie schon zu diesem frühen Zeitpunkt, gewissermaßen nach dem historischen Sieg des Westens, einsetzte. Nolte 2012 (Anm. 13), S. 383–389. 49 Ebd., S. 10. 50 Ebd., S. 15–19; Colin Crouch: Post-democracy. Cambridge 2004; Ingolfur Blühdorn: Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Frankfurt/M. 2013. 51 Hedtke (Anm. 48), S. 20. 52 Ebd. 53 Der Verfasser schlägt die Kritik des Historikers Jürgen Kocka am neoliberalen Kapitalismus der Gegenwart kurzerhand der Soziologie zu: Ebd., S. 17f.

236

Thomas Sandkühler / Guido Lenkeit

schon in der Theorie auf der Strecke“, wenn „anonyme Kräfte wie der globale, neoliberale Kapitalismus die Demokratie zur Postdemokratie aushöhlen“.54 Nolte beklagt einen bedenklichen Verlust der Solidarität ausgerechnet mit denjenigen Schichten, die historisch das Projekt der Demokratie zwischen 1870 und 1933 getragen haben.55 Er kritisiert den „Demokratie-Defätismus“ der Linken, obwohl doch politische Bewegungen auf dieser Seite des Meinungsspektrums maßgeblich dazu beigetragen haben, die Möglichkeiten demokratischer Partizipation zu erweitern. Andererseits macht er auf die Widersprüche des basisdemokratischen Engagements aufmerksam: auf die Gefahr eines neuen Partikularismus, der sich, vermeintlich unwiderlegbar, auf das Gemeinwohl beruft, und eines partikularen Veto-Prinzips, das die für eine funktionierende Demokratie unentbehrliche Mehrheitsregel außer Kraft zu setzen droht.56 Die Wandlung der Demokratie von der Anerkennung der parlamentarischen Repräsentation und ihrer zunehmenden Anfechtung durch basisdemokratischbürgerbewegte Politik über den Höhepunkt demokratischer Erfolgsgeschichte im Zusammenbruch der SED-Diktatur bis in unsere Tage einer zunehmend polyzentrischen, „multiplen“ Demokratie ist ein spannendes und lehrreiches Stück deutscher Zeitgeschichte.57 Es hat auch Auswirkungen auf die Gegenwart, wie das zunehmende publizistische Interesse an Rechts- und Verfassungsfragen verdeutlicht.58 Inzwischen ist sogar von einer „Didaktik der Demokratie“ die Rede, die „Diversität und Inklusion“ zu ihren Themenfeldern zählen soll.59 An kompetenzfördernden Inhalten wird es einem Geschichtsunterricht, der sich auf seine demokratiegeschichtlichen Wurzeln besinnt, also nicht fehlen. Es fragt sich allerdings, ob noch genügend Geschichtsunterricht erteilt wird, um zur Demokratiebildung beizutragen.

54 Nolte 2011 (Anm. 13), S. 7. 55 „Jetzt verstärken sich Misstrauen und Rückzug der unteren Schichten, die Mühe haben, ihren Platz in der multiplen Demokratie zu finden.“ Ebd., S. 12. 56 Ebd., S. 11. 57 Nolte 2011, 2013 (Anm. 13). 58 Seit 2005 gibt es beispielsweise in der Wochenzeitung DIE ZEITeine Rubrik „Alles was Recht ist.“ Der 2009 von Maximilian Steinbeis gegründete „Verfassungsblog“ hat sich am OnlineMarkt fest etabliert: https://verfassungsblog.de/editorial/ (aufgerufen am 12. 4. 2018). 59 Vgl. die Homepage des von Michele Barricelli gegründeten Instituts für Didaktik der Demokratie an der Universität Hannover, http://www.demokratiedidaktik.de/idd/das-institut (aufgerufen am 12. 4. 2018). Schörken (Anm. 15) deckt weite Bereiche der dort genannten Arbeitsbereiche ab, Bürgerbewusstsein und Partizipation, Rechtsextremismus und Demokratie, Nationalsozialismus und Diktaturerfahrung, Europäisierung und Globalisierung. Bei Schörken fehlt indes Diversität und Inklusion.

Exklusion durch historische Bildung?

5.

237

„Niedergang“ des Geschichtsunterrichts? Statistische Befunde

Glaubt man Teilen der Tagespresse, ist der Geschichtsunterricht in der Bundesrepublik vom „Niedergang“ bedroht.60 Solche Abgesänge zielen in der Regel nicht auf harte Daten, sondern auf verbreitete Vorbehalte gegen die Kompetenzorientierung des Geschichtsunterrichts, die angeblich der Vermittlung von Fakten, Jahreszahlen und Chronologie entgegenstehen.61 Allerdings wusste schon der maßgebliche Theoretiker des Historismus, Johann Gustav Droysen, dass sich die Geschichtswissenschaft ebenso wenig in der Sammlung und Reproduktion von „Tatsachen“ erschöpfte wie etwa die Biologie in der Erstellung von Tierpräparaten.62 Ein Geschichtsunterricht, der seine wissenschaftspropädeutische Aufgabe ernst nimmt, muss Schülerinnen und Schüler also in die Lage versetzen, die vergangene Wirklichkeit im Lichte ihrer eigenen Fragen und Interessen zu interpretieren.63 Das schließt den Erwerb historischen Wissens nicht aus, sondern setzt ihn voraus. Wer allerdings glaubt, die Wahrnehmung eines

60 Thomas Vitzhum: Der fatale Niedergang des Schulfachs Geschichte, in: Die Welt, 14. 12. 2015. Zur Medienberichterstattung über den Geschichtsunterricht vgl. Thomas Sandkühler : Geschichtsunterricht im Widerstreit: Ein Blick in Presse und Onlinemedien. In: Lernen aus der Geschichte (2017), H. 7: Themenheft „Geschichtsunterricht. Ein Schulfach in der Krise?“, http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/13731 (aufgerufen am 2. 4. 2018). 61 Christoph Pallaske: „Der fatale Niedergang des Schulfachs Geschichte“? – ein Ärgernis. In: Historisch denken, Geschichte machen, 17. 12 2015, https://historischdenken.hypotheses. org/3086 (aufgerufen am 14. 1. 2016). 62 „Gewiss man nennt den unabsehbaren Verlauf von Thatsachen, in dem wir das Leben der Menschen, der Völker, der Menschheit sich bewegen sehen, Geschichte, wie man ja eine Gesammtheit von Erscheinungen anderer Art unter dem Namen Natur zusammenfasst. Aber hat denn irgend jemand gemeint, dass eine Sammlung von getrockneten Pflanzen Botanik, von ausgestopften oder nicht ausgestopften Thierbälgen Zoologie sei? Hat irgend jemand die Meinung gehabt, Thatsachen sammeln und, zusammenhängend oder nicht, aufhäufen zu können? Thatsachen als da sind Schlachten, Revolutionen, Handelskrisen, Städtegründungen u. s. w.? hat wirklich bisher ,die Zunft der Historiker‘ nicht gemerkt, dass sich die Thatsachen von dem, wie wir sie wissen, unterscheiden?“ Johann G. Droysen: Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft (1863). In: Ders.: Grundriss der Historik. Leipzig 1868, S. 41–62, zit. S. 48, online unter http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/ droysen_historik_1868?p=57 (aufgerufen am 12. 2. 2018). 63 Selbstverständlich ist dieses Wissen nicht „objektiv“ vorhanden wie etwa ein greifbarer Gegenstand oder die Gesetze der Mechanik. Gleichwohl muss nach unserem Verständnis an der Faktizität vergangener Wirklichkeit eisern festgehalten werden, die mit der historischen Methode überprüft werden kann. „Tatsachen“ sind zwar nicht unabhängig von „Theorien“ zu haben, aber deshalb noch lange nicht „konstruiert“, vgl. Angelika Epple: Nach dem postcolonial turn. Paul Boghossian und die „Angst vor der Wahrheit“. In: Thomas Sandkühler/Horst Walter Blanke (Hrsg.): Historisierung der Historik. Jörn Rüsen zum 80. Geburtstag (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 39). Köln u. a. 2018, S. 53–67.

238

Thomas Sandkühler / Guido Lenkeit

Verfalls mit dem Fehlen ungerahmter Kenntnisse (Daten, Fakten etc.) begründen zu können, hat etwas Grundsätzliches nicht verstanden.64 Die Geschichtstheorie weist die verfallsgeschichtliche Interpretation zurück. Wird sie vielleicht von statistischen Befunden getragen? Der Geschichtslehrerverband hat kürzlich versucht, den Geschichtsunterricht in der Bundesrepublik zahlenmäßig zu erfassen.65 Auf diese Statistik stützt der Verband seine Forderung, dass pro Jahrgang mindestens 2 Wochenstunden Geschichte unterrichtet werden und mindestens 3 Wochenstunden pro Schuljahr in der gymnasialen Oberstufe.66 Man weiß jedoch nicht, auf welcher Datenbasis die Aufstellung beruht. Der Verband hat anscheinend die alltägliche Praxis in seinen Mitgliederverbänden erfragt, aber nicht die Stundentafeln der Bundesländer ausgewertet. Diese sind aber die einzige belastbare Quelle für den Anteil eines Schulfachs am Unterrichtsgeschehen einer Jahrgangsstufe. Hinzu kommt, dass ein erheblicher Teil deutscher Abiturienten nicht den klassischen Weg über das gymnasiale Abitur beschreitet, sondern diesen Abschluss in anderen Segmenten des Bildungswesens erwirbt.67 Dieser Hinweis zeigt, dass die quantitative Erfassung des erteilten Geschichtsunterrichts in der Breite aller schulpolitischen Vorgaben und Schulformen eine Sisyphusaufgabe wäre, von einer historischen Statistik einmal ganz zu schweigen. Man sollte daher der Statistik des Geschichtslehrerverbands nicht ungeprüft folgen. Ihr zufolge stellte sich die Situation 2016 so dar :68 Tabelle 1: Zahl der Pflicht- und maximal wählbaren Wochenstunden im Fach Geschichte an Gymnasien (bis zum Abitur) und Schulen des Mittleren Schulabschlusses (Klassen 5–10) nach Bundesländern: Erhebung des Geschichtslehrerverbands (2016) Bundesland Sachsen-Anhalt (G8) Saarland (G8)

a) Gymnasium Pflichtstunden 20 8–1869

b) MSA-Schulen Maximum 20 18

Mecklenburg-Vorpommern (G8) Thüringen (G8)

17 14–16

17 16–18

9 12

Sachsen (G8)

15

21

11

64 Vgl. Anm. 60–61. 65 Peter Johannes Droste/Ulrich Bongertmann: Ein aktueller Überblick über den Geschichtsunterricht im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland (15. 7. 2017). In: https:// blog.historikerverband.de/2017/07/15/ein-aktueller-ueberblick-ueber-den-geschichtsunter richt-im-foederalen-system-der-bundesrepublik-deutschland/ (aufgerufen am 5. 8. 2017). 66 Ebd. 67 Wie Anm. 37. 68 Zusammengestellt nach Droste/Bongertmann (Anm. 65), Tabellen 1–3. Die Anmerkungen 69–74 sind aus diesen Tabellen übernommen. 69 Spannweite wegen Abwählbarkeit.

239

Exklusion durch historische Bildung?

(Fortsetzung) a) Gymnasium

b) MSA-Schulen

Bundesland Hamburg (G8)

Pflichtstunden ?70

Maximum 18

Baden-Württemberg (G8/G9) Niedersachsen (G9)71

14 14

18 21

Niedersachsen (G8)72 Schleswig-Holstein (G8)

073 14

19 19

Hessen (G8/G9) Bayern (G8)

13–14 13

17 16

Berlin (G8) Rheinland-Pfalz (G9)

1474 11

18 15

Brandenburg (G8) Nordrhein-Westfalen (G8)

10 9

15 19

6

Durchschnitt

12

18

9

8

7–8 10

Auffällig ist im Ländervergleich des gymnasialen Zweigs der große Abstand bei den Pflichtstunden zwischen Spitzenreitern wie Sachsen-Anhalt (20) und Schlusslichtern wie Nordrhein-Westfalen (9). Auf das Schuljahr umgerechnet, erhalten Gymnasiasten in Sachsen-Anhalt 2,5, in Nordrhein-Westfalen rund 1,1 Unterrichtsstunden Geschichte pro Woche. Darüber hinaus gibt es eine beträchtliche Spreizung in der durchschnittlich sechs Unterrichtsstunden betragenden Differenz zwischen Pflicht- und Wahlbereich. Die grau unterlegten Zellen markieren Kombinationsfächer in Schulen der Sekundarstufe I. Auf die neun Bundesländer, in denen dies der Fall ist, bezieht sich die Klage des Geschichtslehrerverbands, es gebe inzwischen Schulabsolventen, „die während ihrer gesamten Schulzeit keine Möglichkeit hatten, am Fachunterricht Geschichte teilzunehmen.“75 Doch stimmt das? Durchweg handelt es sich bei den Gesellschaftswissenschaften nicht um ein Integrationsfach wie die seinerzeit heftig umstrittenen Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre, sondern um ein vorrangig fiskalisch motiviertes Kombinationsund Sammelfach, in dem die Anteile von Geschichte, Politik und Erdkunde unterschiedlich gewichtet werden können, aber als eigenständige Schulfächer erhalten bleiben. In der Praxis geben die Länder Kontingentstundentafeln vor. In diesen ist in 70 71 72 73 74 75

ohne feste Zuweisung. Ab Abitur 2021. bis zum Abitur 2019. Keine G8-Durchgänge mehr. Abzüglich x für Politische Bildung. Droste/Bongertmann (Anm. 65), 2. Absatz.

240

Thomas Sandkühler / Guido Lenkeit

Jahreswochenstunden festgelegt, welchen Anteil Einzelfächer oder Aufgabenfelder an der Gesamtstundenzahl einer Jahrgangsstufe haben sollen. Die Kultusministerkonferenz hat sich auf Bandbreiten verständigt, etwa für das Kontingent des gesellschaftswissenschaftlichen Bereichs (Geschichte, Sozialkunde/ Politik, Geographie), gibt jedoch keine Mindeststundenzahl für die Einzelfächer in der Sekundarstufe I vor. Erst in der Oberstufe kommen Beleg- und Einbringungsverpflichtungen zum Tragen.76 Das eröffnet Spielräume für die Umsetzung der Stundentafel und lenkt mögliche Konflikte über negative Einflüsse der Kombinationsfächer auf den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler auf die einzelnen Schulen ab.77 Die Kontingentstundentafel ist, mit anderen Worten, das schwarze Loch der Bildungsstatistik in der Sekundarstufe I. Wie viel Geschichtsunterricht im Rahmen der Gesellschaftslehre in den Ländern oder gar in den einzelnen Schulen erteilt wird, ist unbekannt. Es bedürfte aufwändiger Recherchen in den Stundentafeln der einzelnen Schulen, um hier zu belastbaren Aussagen zu gelangen. Der fiskalische Vorteil der Gesellschaftswissenschaften liegt in der Durchbrechung des Fachlehrerprinzips. Insbesondere in denjenigen Fällen, in denen ein und derselbe Lehrer, ein und dieselbe Lehrerin, für die „Gesellschaftswissenschaften“ in der jeweiligen Lerngruppe allein zuständig ist, hängt es vom Zufall seiner oder ihrer fachlichen Expertise ab, in welchem Umfang Geschichte tatsächlich unterrichtet wird. Es ist durchaus möglich und im Sinne der Kostendämpfung im Bildungswesen vermutlich auch erwünscht, dass ein ausgebildeter Sozialkundelehrer Geschichte unterrichtet, ohne jemals Geschichte studiert zu haben, wie umgekehrt Geschichtslehrer über Sozialkunde und Politik handeln, ohne Politik studiert zu haben. Statistisch tritt ein solches Unterrichten jedoch nicht als fachfremdes Unterrichten in Erscheinung, weil in der Stundentafel des betreffenden Bundeslandes nur Gesellschaftswissenschaften, Gesellschaftslehre etc. vorgegeben sind. Wir haben die Stundentafeln der Bundesländer für das Fach Geschichte und den gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenbereich im Zeitraum zwischen der letzten Jahrhundertwende und dem Jahr 2017 ausgewertet. Diese Periodisierung hatte zum Grund, dass in der bildungspolitischen Diskussion die These vertreten 76 KMK-Vereinbarung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I, https:// www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/1993/1993_12_03-VBSek-I.pdf, KMK-Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe und der Abiturprüfung, Ziffer 7.1, 8.1.2, 9.3.3, https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_be schluesse/1972/1972_07_07-VB-gymnasiale-Oerstufe-Abiturpruefung.pdf (beides aufgerufen am 12. 4. 2018). 77 Oftmals erteilen Geschichtslehrer Sozialkunde- und Politikunterricht oder umgekehrt. Diese Praxis fachfremden Unterrichts innerhalb des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfelds ist u. E. noch nicht untersucht worden, obwohl sie sicher Auswirkungen auf die Unterrichtsqualität hat.

Exklusion durch historische Bildung?

241

wurde, Geschichte habe unter der Aufwertung der Kernfächer (Deutsch, Mathematik, Erste Fremdsprache) infolge des PISA-Schocks sowie unter der Umstellung auf das achtjährige Gymnasium (G 8) gelitten.78 Diese Auffassung lässt sich nicht bestätigen. Stundentafeln sind ohnehin ziemlich änderungsresistent. Ein PISA-bedingter Rückgang von Geschichte lässt sich jedenfalls in den amtlichen Vorgaben nicht feststellen.79 Die nachfolgende Statistik beruht auf einem Vergleich der Stundentafeln für den Geschichtsunterricht auf der Sekundarstufe I in den Jahren 2010 und 2017, um auf Konstanz hinzuweisen, vor allem aber um die in der vorangehenden Tabelle ausgewiesenen Zahlen zu überprüfen und zu kontextualisieren. Die Statistik zeigt zweierlei: Von einem drohenden Untergang des Geschichtsunterrichts kann im Gymnasium keine Rede sein. Außerhalb des Gymnasiums ist es um den Geschichtsunterricht schlechter bestellt. Wenn beispielsweise 15 Jahreswochenstunden für fünf Schuljahre der Sekundarstufe I als Gesamtsumme für die Gesellschaftswissenschaften festgelegt werden, kommen pro Schuljahr 3 Stunden und pro Fach 1 Stunde Unterricht heraus.80 In anderen Bundesländern erhalten die Gesellschaftswissenschaften zum Teil einen doppelten Umfang, sodass sich rechnerisch die Möglichkeit ergibt, Geschichte zweistündig zu unterrichten.81 Es ist nicht damit zu rechnen, dass überhaupt kein Geschichtsunterricht stattfindet. Die Darstellung des Geschichtslehrerverbands, Kinder und Jugendliche könnten in einem beträchtlichen Teil der deutschen Bundesländer gänzlich ohne Geschichtsunterricht durch ihre Schullaufbahn gehen, ist insofern überzogen.82 Dafür spricht schon die banale Tatsache, dass das Fach in der Kontin-

78 Laut Mitteilung des Vorsitzenden des nordrhein-westfälischen Geschichtslehrerverbands, Peter J. Droste, hatte Nordrhein-Westfalen „einen Realverlust von ursprünglich 10 (80er Jahre vor PISA) auf 8 und mit der Einführung von G8 auf 6 Stunden“. Email von Herrn Droste an Thomas Sandkühler, 28. 6. 2017. Die Statistik des eigenen Verbands weist aber 9 Stunden aus. – Über die Schwächung des Geschichtsunterrichts in der gymnasialen Oberstufe Nordrhein-Westfalens durch die Eröffnung von Wahlmöglichkeiten innerhalb des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfelds hat es schon Anfang der 2000er Jahre eine lebhafte Debatte gegeben. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler beklagte damals, es wachse eine Jugend heran, die in ihrer ganzen Schullaufbahn noch nichts Substanzielles über den Nationalsozialismus gelernt habe (Hans-Ulrich Wehler : Jugend ohne Geschichte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3. 3. 2003). Die nordrhein-westfälischen Abiturleistungen im Fach Geschichte waren einige Jahre später wenig ermutigend: Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. Münster 2010. 79 Guido Lenkeit: Geschichte als Schulfach: Sein Anteil an den Stundentafeln der deutschen Bundesländer seit „PISA“. Eine statistische Untersuchung. Masterarbeit (M. Ed.) HumboldtUniversität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften. Ms. Berlin 2017, S. 55f. 80 Vgl. Tabelle 2, Hessen (G 8). 81 Ebd., Schleswig-Holstein.

Sachsen

Hessen G 9

Hessen G 8

Gymnasium Integrierte Gesamtschule

Niedersachsen

Mittelschule

Hauptschule Gymnasium/Oberschule

Realschule Mittelstufenschule

Gymnasium Integrierte Gesamtschule

Integrierte Gesamtschule Hauptschule

Realschule, Hauptschule Gymnasium

Gymnasium alle übrigen Schulformen

Realschule Mittelschule (ehemals Hauptschule)

Gymnasium, alle übrigen Schulformen Gymnasium

Schulform

Baden-Württemberg

Nordrhein-Westfalen Bayern

Land

5–10

5–10

5–9

5–10

5–10

5–9 5–10

Klassen

Geschichte

Geschichte

Geschichte Gesellschaftslehre

Gesellschaftslehre Geschichte

Geschichtlich-soziale Weltkunde Geschichte

Geschichte Gesellschaftslehre

Geschichte Geschichte

Geschichte

11

7

10

10

11

7 11

8 6

8 17

15 5

18a) 7

9 19

10 8

10 2

Stunden gesamt 2010 2017 Gesellschaftslehre 6 6 Geschichte, in Klasse 10 zuzüglich Sozialkunde 9 9

Fachbezeichnung

Tabelle 2: Zahl der Jahreswochenstunden im Fach Geschichte, Sekundarstufe I, 2010 und 2017. Bundesländer in der Reihenfolge ihrer Bevölkerungsgröße. Kontingentstundentafeln ohne Vorgabe für den Umfang des Faches Geschichte sind grau unterlegt

242 Thomas Sandkühler / Guido Lenkeit

Gymnasium Regelschule

Gymnasium Stadtteilschule

Thüringen

Hamburg

5–10 5–10

5–10

Gymnasium und Integrierte Gesamtschule 5–10 Sekundarschule

Sachsen-Anhalt

5–9 5–10

Regionalschule G 8 Regionalschule G 9 7–10

5–9 5–10

Gemeinschaftsschule G 8 Gemeinschaftsschule G 9

Gymnasium Gesamtschule und Oberschule

5–9

7–10

5–10

Klassen

Gymnasium

Integrierte Sekundarschule

Gymnasium

Gymnasium, alle übrigen Schulformen Realschule plus

Gymnasium

Schulform

Brandenburg

Schleswig-Holstein

Berlin

Rheinland-Pfalz

Land

(Fortsetzung)

Gesellschaftswissenschaften

Geschichte

Geschichte Gesellschaftswissenschaften

Geographie/Geschichte/Politische Bildung

Geschichte/Sozialkunde Geschichte/Politische Bildung Geschichte/Politische Bildung + Geographie Gesellschaftswissenschaften

Gesellschaftslehre

Geschichte

Fachbezeichnung

19

8

12

13

27

8

19 16

8 6

12 17

13 12

21 25

26 27

27

8

8

19 18–19

2010 2017 8 –

Stunden gesamt

Exklusion durch historische Bildung?

243

5–10

5–9 5–10

Gymnasium Gymnasium

Oberschule

Gesamtschule Gemeinschaftsschule

5–10

Regionale Schule, Integrierte Gesamtschule Gymnasium

Klassen

Gymnasium

Schulform

Geographie/Geschichte/Politik

Geschichte Gesellschaft – Politik

Gesellschaftswissenschaften

Geschichte

Gesellschaftswissenschaften

Fachbezeichnung

6

10

17

– 15

17 2

10

16

2010 2017 18 18

Stunden gesamt

Nachweise zu Tabelle 2: - Alle Zahlenangaben für 2010 nach Uppenbrock (Anm. 33), S. 73, Tabelle 25, https://pub.uni-bielefeld.de/publication/2464451 (aufgerufen 12. 3. 2018). - Bezugsquellen für die Stundentafel der Länder werden im Interesse der Übersichtlichkeit nur mit den jeweils gebräuchlichen Abkürzungen (vgl. Lenkeit [Anm. 79], S. 11–50), aber ohne die zugehörigen URL angegeben. Nordrhein-Westfalen: APO-S I; Bayern: VSO, MSO, RSO, GSO; BadenWürttemberg: WRSVO, RealSchulStTafelV BW, Gym5bis11StTafelV BW; Niedersachsen: Die Arbeit in der Hauptschule, Die Arbeit in der Realschule, Die Arbeit in den Schuljahrgängen 5–10 des Gymnasiums; Hessen: StdTafV-SekIV, Sachsen: VwV Stundentafeln; Rheinland-Pfalz: Stundentafeln für die Klassenstufen 5 bis 9/10 der Hauptschule, der Regionalen Schule, der Realschule, der Integrierten Gesamtschule und des Gymnasiums, Stundentafel für die Realschule plus; Berlin: Sek I–VO, Schleswig-Holstein: Kontingentstundentafeln für die Grundschule, für die Regionalschule, für die Gemeinschaftsschule und für das Gymnasium – Sekundarstufe I; Brandenburg: Sek I–V; Sachsen-Anhalt: Die Arbeit und Unterrichtsorganisation in der Sekundarschule, Unterrichtsorganisation an den Gymnasien und Schulen des Zweiten Bildungsweges; Thüringen: ThürSchO, Hamburg: STVO-Sek I, APO-GrundStGy ; Mecklenburg-Vorpommern: StdTafVO M–V, KontStTVO M–V; Saarland: ERS-VO, GemSVO, GymStdTVO; Bremen: SekISchVO, SekIGymVO a) Davon 3 Stunden Geschichte in den Klassen 5–6. Ab Klasse 7 keine Festlegung.

Bremen

Saarland

Mecklenburg-Vorpommern

Land

(Fortsetzung)

244 Thomas Sandkühler / Guido Lenkeit

Exklusion durch historische Bildung?

245

gentstundentafel genannt wird und bei deren Umsetzung in den einzelnen Schulen berücksichtigt werden muss. In Teilen bestätigt sich allerdings der schon länger geäußerte Verdacht, dass Geschichte im gesellschaftswissenschaftlichen Verbund zu einem Einstundenfach marginalisiert wird, das nach aller Erfahrung bestenfalls dazu geeignet ist, Schülerinnen und Schülern ihr Interesse an der Geschichte auszutreiben.83 Das ist inakzeptabel. Da die wenigsten Kinder aus bildungsfernen Schichten und ein geringerer Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund das Gymnasium besuchen, vermindern sich die Chancen dieser Gruppen, historisch denken zu lernen. Die Statistik bestätigt also die Eingangsthese. Die gesellschaftliche Relevanz des Befunds wird durch demoskopische Erhebungen unterstrichen, die auf den Geschichtsunterricht ein eher ambivalentes Licht werfen.

6.

Jugendliche und ihr „Geschichtsbild“

In einer neueren Studie des Sinus-Sozialforschungsinstituts wurde 2015 auch das „Geschichtsbild“ von 72 interviewten Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren erhoben.84 Die Ergebnisse dieser qualitativen Forschung sind mit Tendenzen (Mehrheit, Minderheit etc.) angegeben. In unserem Zusammenhang ist das Lebensweltmodell des Forschungsinstituts von Interesse, das der vielfältigen Auffächerung von Lebensstilen in der bundesdeutschen Gesellschaft und deren sozialen Hintergründen Rechnung trägt. Das Modell wurde 2012 entwickelt und konnte in der Studie von 2015 bestätigt werden. Normative Grundorientierungen von „traditionell“ bis „postmodern“ kommen gemäß dieser Modellierung in Werten von „Sicherheit und Ordnung“, „Haben und Zeigen“, „Sein und Verändern“, „Machen und Erleben“, „Grenzen überwinden und Sampling“ zum Ausdruck. In Kombination mit dem Bildungsgrad des Elternhauses (von „niedrig“ bis „hoch“) ergeben sich sieben Lebenswelten, denen nach einer repräsentativen Sinus-Erhebung des Jahres 2013 Jugendliche und junge Erwachsene in folgender Verteilung angehörten:

82 Vgl. Anm. 75. 83 Hans-Jürgen Pandel: Richtlinien – weiter wie bisher? Über die Dauerhaftigkeit geschichtsdidaktischer Mythen. In: Wie weiter? Zur Zukunft des Geschichtsunterrichts. Schwalbach 2001, S. 165–184, hier S. 169. 84 Marc Calmbach u. a.: Wie ticken Jugendliche 2016? Heidelberg 2016. Vgl. auch die Einführung von Anke John zur Sektion 3 in diesem Band.

246

Thomas Sandkühler / Guido Lenkeit

Tabelle 3: Lebensweltliche Struktur junger Alterskohorten 2013 und der Stichprobe von 2015 im Vergleich laut Sinus-Studien, Angaben in Prozent von N = 2.00185 Lebenswelt/Lebensjahre

14–19

20–24

25–29

Summe

Konservativ-Bürgerliche Adaptiv-Pragmatische

15 24

14 22

15 18

44 64

Stichprobe (N = 72) 15 21

Prekäre Materialistische Hedonisten Experimentalistische Hedonisten Sozialökologische

5 15

5 13

5 11

15 39

5 13

12

12

21

45

15

8

8

11

27

9

Expeditive

21

26

19

66

22

Expeditive, die „erfolgs- und lifestyleorientierten Networker auf der Suche nach neuen Grenzen und unkonventionellen Erfahrungen“86, stellen die größte Gruppe in der Gesamtkohorte und der Stichprobe, dicht gefolgt von AdaptivPragmatischen, dem „leistungs- und familienorientierte[n] moderne[n] Mainstream mit hoher Anpassungsbereitschaft.“87 Prekäre, also die „um Orientierung und Teilhabe bemühten Jugendlichen mit schwierigen Startvoraussetzungen und Durchbeißermentalität“88, stellen eine stabile Minderheit von 5 Prozent. Diese Gruppe dürfte teilidentisch mit denjenigen Schichten sein, die nur schwer ihren Platz in der „multiplen“ Demokratie finden.89 Was nun das Schulfach Geschichte anbelangt, verbinden die interviewten Jugendlichen mit ihm über alle Lebenswelten hinweg vorrangig das 20. Jahrhundert, vor allem den Nationalsozialismus und die beiden Weltkriege. Die DDR wie überhaupt die Zeit nach 1945 gehört eher selten zu den spontanen Einfällen. Diese Assoziationen dürften die Schwerpunkte des Geschichtsunterrichts abbilden. Sie tauchen übrigens in der Interessenlage von Jugendlichen fast deckungsgleich wieder auf. Entgegen einer häufigen Ansicht kann von einer „Übersättigung“ durch den Nationalsozialismus keine Rede sein. Dieses Thema finden die Probanden vielmehr mehrheitlich interessant und wichtig, auch hier ohne Differenz zwischen den Lebenswelten.90 Je geringer allerdings der Bildungsgrad („Prekäre“ und „Materialistische Hedonisten“), desto weniger historisches Wissen ist vorhanden, desto mehr 85 86 87 88 89 90

Calmbach u. a. (Anm. 85), S. 34. Ebd., S. 150. Ebd., S. 59. Ebd., S. 75. Wie Anm. 55. Calmbach u. a. (Anm. 85), S. 379–383.

Exklusion durch historische Bildung?

247

wird der Wunsch nach Unterhaltung durch Geschichte und nach Personalisierung („ganz berühmte Menschen“) geäußert.91 Jugendliche aus bildungsnahen Schichten („Sozialökologische“ und „Expeditive“) halten ihr historisches Wissen für gut und wichtig. Alle anderen Probanden neigen dazu, Geschichte als tote Vergangenheit wahrzunehmen. Etwas, das so wenig bedeutet, muss man nicht kennen, so der Tenor, weil man es „jetzt eh nicht mehr ändern kann.“ Demzufolge findet die Mehrheit der Jugendlichen es auch nicht schlimm, wenig über Geschichte zu wissen.92 Nur „postmodern“ ausgerichtete Probanden interessieren sich für die außerdeutsche Geschichte, hier vor allem für geschichtliche Zäsuren, Revolutionen – und wieder die handelnden Personen hinter den dramatischen Geschehnissen (Fidel Castro, Ludwig XVI., Napoleon, Alexander der Große). Durchweg hat Geschichte für die befragten Jugendlichen mit der Gegenwart wenig oder gar nichts zu tun. Diesen Zusammenhang halten sie für einen Gegenstand des Sozialkunde- oder Politikunterrichts.93 Obwohl die Jugendlichen nach eigener Einschätzung nur durchschnittlich oder unterdurchschnittlich über Geschichte Bescheid wissen, bejahen sie lebhaft die Ansicht, dass man aus Geschichte lernen könne. Bei näherem Hinsehen handelt es sich indes oftmals um Sätze, von denen die Jugendlichen vermutlich annehmen, sie seien sozial erwünscht. Auch beschränkt sich diese Aussage thematisch auf den Nationalsozialismus. Jugendliche betrachten ihn als das Exempel für Negatives in der Geschichte: Diese Geschichte dürfe sich nicht wiederholen und habe sich glücklicherweise bis heute nicht wiederholt, denn die Bundesrepublik sei eine Demokratie.94 Dem Schulfach Geschichte wird kein gutes Zeugnis ausgestellt. Mit dem Geschichtsunterricht assoziieren Jugendliche – wieder mit Ausnahme von „Sozialökologischen“ und „Expeditiven“ – häufig Langeweile, fehlende Lebensweltbezüge, sogar das Auswendiglernen von Jahreszahlen. Sie möchten sich aber in frühere Menschen hineinversetzen dürfen und bevorzugen emphatische Zugänge zur Geschichte, wie sie beispielsweise der obligatorische Besuch von Gedenkstätten für die Opfer der Nationalsozialismus ermöglicht.95 Solche Gedenkstättenbesuche werden überwiegend positiv bewertet, wirken aber umso besser, je gebildeter die Elternhäuser der Jugendlichen sind. „Materialistische Hedonisten“ und „Prekäre“ wissen mit Gedenkstätten wenig anzu-

91 92 93 94 95

Ebd., S. 383. Ebd., S. 384–386. Ebd., S. 387. Ebd., S. 471. Ebd., S. 385, 393f.

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Thomas Sandkühler / Guido Lenkeit

fangen, weil ihnen die Präsentationsformen dieser Einrichtungen nichts sagen und sie oft gar nicht wissen, was eine Gedenkstätte überhaupt ist.96 Geschichte ist für Jugendliche Schulwissen, das man alltäglich nicht braucht. Auch in den Familien wird über Geschichte selten gesprochen. Eine wichtige Ausnahme stellen Jugendliche aus Migrantenfamilien und der Lebenswelt der „Adaptiv-Pragmatischen“ dar, denn dort wird Geschichte erzählt. Interessanterweise haben Jugendliche aus sozial schwachen Familien („Prekäre“) als einzige der untersuchten Teilgruppen die Vorstellung, Geschichte müsse erzählt werden, um Traditionen von einer Generation zur nächsten weiterzugeben. Mit „narrativer Kompetenz“ oder dem Konstruktionscharakter von Geschichte dürfte das Gros der Jugendlichen nichts anfangen können.97 Die Sinus-Studie bestätigt die empirische Beobachtung, dass Jugendliche Zeitzeugen, vor allem Zeitzeugen der DDR-Geschichte, großen Respekt entgegenbringen und deren Aussagen für „authentisch“ halten.98 Es gibt einen offenkundigen Widerspruch zwischen diesem Befund und dem weitgehenden Fehlen der DDR in den Geschichtsassoziationen der Jugendlichen. Die SinusAutoren erklären ihn plausibel damit, dass Jugendliche die DDR nicht zur Geschichte zählten. Denn diese ist in ihren Augen, wie bereits erläutert, „vergangen“, „nicht mehr zu ändern“ und damit irrelevant. Die DDR hingegen wird zur Politik gerechnet, weil sie auch heutigen Menschen etwas zu sagen habe und durch Mitlebende vermittelt werde. „Fakten“ zählen für die Probanden nicht, wenn sie nicht selbst erlebt wurden. Hier findet also eine Abkehr vom dominanten positivistischen Verständnis „der Geschichte“ statt.99 Insgesamt gibt das Ergebnis der Sinus-Studie zu denken. Natürlich muss man sich methodenkritisch vor Augen halten, dass die Aussagekraft von Umfragen begrenzt ist. Dies vorausgeschickt, scheinen geschichtsdidaktische Essentials wie der Gegenwartsbezug der Historie in den Köpfen der allermeisten Jugendlichen (oder im Geschichtsunterricht?) nicht angekommen zu sein. Zudem belegt die Sinus-Studie einen erheblichen Einfluss von Herkunft und Sozialstatus auf das historische Lernen. Sozial Schwache können mit Geschichte wenig anfangen, haben aber noch am ehesten ein in Ansätzen narratives Geschichtsverständnis. Bildungsnahe Schichten finden Geschichte wichtig, haben aber ein eher traditionalistisch-positivistisches Verständnis vom Lerngegenstand, das durch moralische (oft wohl auch sozial erwünschte) Aussagen über den Nationalsozialismus flankiert wird. 96 Ebd., S. 400. 97 Ebd., S. 395. 98 Ebd., S. 397f. Vgl. Christiane Bertram: Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance oder Risiko für historisches Lernen? Eine randomisierte Interventionsstudie (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 6). Schwalbach/Ts. 2016. 99 Wie Anm. 93.

Exklusion durch historische Bildung?

249

Diese Jugendlichen werden erst dann lebhaft, wenn Geschichte den heute Lebenden etwas sagt, vorzugsweise mit der Stimme des Zeitzeugen. Aber dies rechnen die Jugendlichen dem Politikunterricht zu. Denn der Geschichtsunterricht ist unbeliebt, offenkundig nicht ohne Zutun der Schule. Für „guten“ Geschichtsunterricht bleibt jedenfalls noch viel Luft nach oben, wenn man der Sinus-Studie glauben darf. Ein beträchtliches Problem besteht in der Ausdehnung des Politikunterrichts auf originäre Gegenstände des Geschichtsunterrichts, besonders in der Zeitgeschichte.

7.

Der Geschichtsunterricht im Spiegel aktueller Demoskopie

Im Vorfeld der KGD-Zweijahrestagung 2017 hat die Körber-Stiftung eine repräsentative Umfrage über das Bild Jugendlicher und Erwachsener von Geschichte und Geschichtsunterricht in Auftrag gegeben, die vom Sozialforschungsinstitut forsa durchgeführt wurde.100 Sozialstatistische Merkmale wurden nicht in die Auswertung einbezogen, sodass ein Vergleich auf der Ebene der Lebenswelten nicht möglich ist. Insgesamt wurden acht Items abgefragt: das Interesse der Schüler an Geschichte und dessen Beurteilung durch Erwachsene, die Erfahrung der SchülerInnen mit dem Geschichtsunterricht, die Wichtigkeit des Geschichtsunterrichts und verschiedener seiner Inhalte, die tatsächlich vermittelten Inhalte, die didaktisch-methodische Gestaltung des Geschichtsunterrichts und die „Bekanntheit von Auschwitz-Birkenau“, also eine Wissensfrage im Unterschied zu den übrigen, auf Bewertungen zielenden Items. Wie kaum anders zu erwarten, konzentrierte sich das lebhafte Medienecho fast ausschließlich auf das Ergebnis der Frage 8, demzufolge nur 59 Prozent der Schülerinnen und Schüler wissen, „was Auschwitz Birkenau war“, nämlich ein Konzentrations- und Vernichtungslager.101 Die mediale Aufmerksamkeitsökonomie verlangt geradezu, dass fehlende Kenntnisse über ein für das Selbstverständnis und die Geschichtskultur der Bundesrepublik so wichtigen Gegenstand hervorgehoben, nicht selten sogar skandalisiert werden.102 Über die Güte der Fragestellung kann man geteilter Meinung sein. Mit einer Frage allein nach Auschwitz, das im Geschichtsunterricht üblicherweise als 100 forsa Politik- und Sozialforschung GmbH: Geschichtsunterricht. Ms. Berlin September 2017. Telefonisch wurden 1.009 Bundesbürger ab 14 Jahren befragt, darunter 502 Schülerinnen und Schüler. Ebd., S. 3. 101 Ebd. S. 15. 102 Holger Thünemann: Auschwitz unbekannt? Überlegungen und Thesen zum Umgang mit NS-Vergangenheit und Holocaust in Gedenkstätten. In: Geschichte für heute (2018) H. 2, S. 26–34, hier S. 26f.

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symbolische Repräsentation des „Holocaust“, aber nicht als reales Lager thematisiert wird103, hätte man vermutlich bessere Ergebnisse erzielt. Auch geht der geringe Bekanntheitsgrad zu erheblichen Teilen auf die Altersgruppe der 14- bis 16-Jährigen zurück (von ihnen verfügen nur 47 Prozent über die erfragten Kenntnisse), von denen wir nicht wissen, ob sie sich im Geschichtsunterricht bereits mit dem Thema der nationalsozialistischen Judenverfolgung beschäftigt haben.104 Dies alles vorweggeschickt, ist immerhin bemerkenswert, dass Erwachsene in drei identischen Befragungen der Jahre 2005 und 2012 relativ stabil zu rund 90 Prozent wussten und wissen, was Auschwitz-Birkenau war. Dass dies bei Jugendlichen nicht mehr der Fall ist, wird indirekt durch die Befunde einer von der Freien Universität Berlin durchgeführten Erhebung bestätigt, wonach der Nationalsozialismus und der Holocaust auch in den Universitäten – und mithin in der Lehrerausbildung – eine deutlich geringere Rolle als noch vor einigen Jahren spielt. Offenkundig geht die wissenschaftliche Relevanz dieser Themen mit wachsendem Zeitabstand zurück.105 Zudem hat die bereits erwähnte Analyse von Abituraufsätzen aus Nordrhein-Westfalen schon vor einigen Jahren gezeigt, dass es mit den Kenntnissen der Schülerinnen und Schüler über die Realgeschichte des Nationalsozialismus nicht gut bestellt ist.106 Es bedürfte näherer Untersuchungen, um zu ergründen, ob die für 2017 ermittelten Zahlenwerte durch weniger Geschichtsunterricht zum Thema Nationalsozialismus oder durch die Art und Weise erklärt werden können, wie dieser Unterricht durchgeführt wird. Die Ergebnisse sind im Übrigen deutlich positiver als in der qualitativen Erhebung des Sinus-Instituts. Dies könnte damit zusammenhängen, dass rund die Hälfte der Befragten Erwachsene waren, die mit größerem Abstand und vielleicht etwas milder auf ihren Geschichtsunterricht zurückblicken. Über die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler hat ein sehr großes (24 Prozent) oder eher großes (32 Prozent) Interesse an Geschichte, in der Gruppe der bis 16-Jährigen übrigens deutlicher als bei den 17-jährigen und älteren Probanden. Jedoch glauben nicht nur rund drei Viertel der Bundesbür-

103 Thomas Sandkühler : Nach Stockholm: Holocaust-Geschichte und historische Erinnerung im neueren Schulgeschichtsbuch für die Sekundarstufen I und II. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 50–76. Online unter https://doi.org/10.13109/zfgd.2012.11.1. 50 (aufgerufen am 2. 6. 2018). 104 forsa (Anm. 101), S. 15. 105 Verena Nägel/Lena Kahle: Die universitäre Lehre über den Holocaust in Deutschland. Berlin (Freie Universität) 2015. Das Projekt wurde im Auftrag der Conference on Jewish Material Claims Against Germany unter der Leitung von Johannes Tuchel (Gedenkstätte Deutscher Widerstand) durchgeführt. 106 Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting (Anm. 78), S. 126.

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ger, sondern auch ein fast genauso großer Anteil der Schülerinnen und Schüler, das Interesse Jugendlicher an Geschichte sei nicht so groß oder eher gering.107 Das Geschichtsinteresse ist in der demoskopischen Wirklichkeit hoch, und der Geschichtsunterricht wird fast flächendeckend ebenfalls für wichtig oder sehr wichtig gehalten. 95 Prozent der Erwachsenen sind dieser Meinung und immerhin 89 Prozent der Schülerinnen und Schüler, mit steigender Tendenz bei denjenigen, die sich für Geschichte besonders interessieren.108 Die Sinus-Studie hatte ein hohes Interesse der Probanden an denjenigen Gegenständen des Geschichtsunterrichts ermittelt, die mit der eigenen Lebenswelt im Zusammenhang stehen, vorrangig an Themen, die Schülerinnen und Schüler der politikwissenschaftlichen Domäne zuordneten.109 Dieser Befund wird durch das Ergebnis der Forsa-Umfrage in etwa bestätigt: Nicht weniger als 92 Prozent der Gesamtbevölkerung sind der Auffassung, es sei wichtig oder sehr wichtig, dass der Geschichtsunterricht die Fähigkeit vermittelt, „aus der Geschichte Lehren für aktuelle gesellschaftliche Themen ziehen zu können“. Bei den Schülern sind es 88 Prozent.110 Dieser Befund zeigt nicht zwangsläufig Positives an. Denn gesamtgesellschaftlich wird der Geschichte in zunehmendem Maße die vormoderne Rolle einer Lehrmeisterin für das Leben zugewiesen. Für solche exemplarischen Schlussfolgerungen aus Vergangenheitserfahrungen spielt es keine Rolle, wann sie gemacht wurden und welche qualitativen Unterschiede zwischen der Gegenwart und der jeweiligen Vergangenheit bestehen. „Historia Vitae magistra“ ist das Merkmal einer präsentistischen Geschichtskultur, die nach Beglaubigung durch die Vergangenheit verlangt.111 Aber auch Kritikfähigkeit, das Verständnis für die Geschichte anderer Kulturkreise und das Kennenlernen der Rahmenbedingungen von früheren Gesellschaften werden mit hohen Werten als wichtig angesehen. Letztlich halten 89 Prozent der Bundesbürger und 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler den Erwerb von „Wissen zu historischen Ereignissen“ für wichtig oder sehr wichtig. Solchen Präferenzen wird der Geschichtsunterricht nach Auffassung der befragten Schülerinnen und Schüler nur zum Teil gerecht. 80 Prozent dieser Probanden und ein noch größerer Teil der Geschichtsinteressierten unter ihnen sind der Meinung, dass die Wissensvermittlung über historische Ereignisse im erlebten Unterricht die wichtigste Rolle spiele, mit vergleichsweise deutlichem Abstand gefolgt von der Nutzanwendung von Geschichte als Lehrmeisterin für 107 108 109 110 111

forsa (Anm. 101), S. 4f. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7–9. Ebd., S. 10f. Vgl. Markus Bernhardt: „Historia magistra vitae?“ Zum Gegegenwarts- und Zukunftsbezug des Geschichtsunterrichts, im vorliegenden Band.

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aktuelle gesellschaftliche Themen, der Kritikfähigkeit, dem Verständnis für andere Kulturkreise und der Gesellschaftsgeschichte. Dieses Antwortverhalten entspricht ungefähr den Ergebnissen der Sinus-Studie.112 Das Fazit der forsa-Umfrage ist eindeutig: Der Geschichtsunterricht ist besser als sein Ruf. Welche Zusammenhänge zwischen dem Ergebnis der demoskopischen Befragung und der sozialen Herkunft der Probanden bestehen, wie stark außerschulisch-geschichtskulturelle Konventionen auf die Wahrnehmung von Geschichte und Geschichtsunterricht einwirken, welche Bedeutungszuschreibungen gar nicht auf den Geschichtsunterricht, sondern auf das Fach Politik zielen, von dessen positiver Bewertung Geschichte profitiert – alles das kann durch eine repräsentative Telefonumfrage nicht ermittelt werden.

8.

Zusammenfassung

Im vorliegenden Aufsatz plädieren wir dafür, dass alle Schülerinnen und Schüler Geschichtsunterricht erhalten sollten, statt dieses Fach dem Gymnasium vorzubehalten. Die Kombination von Geschichte mit anderen Fächern des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenbereichs kann als Verstoß gegen die berechtigte Forderung nach Bildungsgerechtigkeit verstanden werden. Denn sie hindert erhebliche Teile der Jugendlichen daran, das historische Denken einzuüben und Kompetenzen zu erwerben, die für die Teilhabe an unserer Gesellschaft unentbehrlich sind. Entgegen einem verbreiteten Urteil, das Festhalten am Einzelfachunterricht sei bildungsgeschichtlich überholt, haben wir auf den engen Zusammenhang zwischen Geschichtsunterricht und Demokratiebildung hingewiesen. Dieser Zusammenhang hat seit den 1970er Jahren wesentlich dazu beigetragen, dieses Schulfach zu modernisieren und seine Gleichberechtigung mit dem Politikunterricht zu gewährleisten. Sichtbarer Ausdruck dieses Zugewinns an Fachlichkeit war die Definition von historischen Lernzielen, die der politischen Emanzipation von Jugendlichen aus gesellschaftlichen Zwängen dienen sollten. Die Rückbesinnung auf fachliche Kompetenzen im Gefolge von PISA hat zu einer gewissen Renaissance des damaligen Diskussionsstands geführt. Gegenwärtig lässt sich eher von einem Rückgang der Fachlichkeit sprechen, einerseits wegen der Ablösung des Fachs Geschichte durch Kombinationsfächer wie Gesellschaftslehre, andererseits wegen des Vordringens politikwissenschaftlicher und allgemeindidaktischer Kategorien in den Geschichtsunterricht, ferner wegen der schleichenden Entprofessionalisierung des Geschichtslehrerberufs, zuletzt auch wegen der zunehmenden Bedeutung exemplarischer Deu112 forsa (Anm. 101), S. 9f.

Exklusion durch historische Bildung?

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tungsmuster für Geschichte und Gesellschaft, die historischen Wandel systematisch stillstellen. Durch die Wiedergewinnung fachunterrichtlicher Qualität könnte der Geschichtsunterricht zur Demokratiebildung beitragen. Diese ist gegenwärtig noch ganz auf die Gegenwartsgesellschaft bezogen, sollte aber historisiert werden. In Absetzung von einer verbreiteten Tendenz, die Forderung nach Bildungsgerechtigkeit menschenrechtlich zu universalisieren, verstehen wir unter Bildungsgerechtigkeit die Schaffung von Voraussetzungen für ein „gutes Leben“ und dessen geschichtsbewusste Reflexion. Dies kann als fachliche Spielart einer „multiplen Demokratie“ verstanden werden und soll gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Das starke politische Interesse von Schülerinnen und Schülern zeigt, das sie an der Gestaltung dieser Gesellschaft teilhaben wollen. Gelingt es, diese Impulse aus dem Politikunterricht zurückzuleiten in den Geschichtsunterricht, können Fachlichkeit und Partizipation gleichermaßen davon profitieren. Statistiken und demoskopische Untersuchungen können die empirische Forschung anregen. Die multiple Demokratie der Gegenwart findet ihre Entsprechung in den multiplen Lebenswelten und Milieus, die ihr historisch vorausgegangen sind. Soweit wir sehen, hat die Geschichtsdidaktik solche Forschungen bislang nicht vorgenommen. Insgesamt scheint es uns dringlich, die gegenwärtig sich abzeichnende Exklusion Benachteiligter aus der historischen Bildung zu überdenken und ihre Folgen zu untersuchen. Demokratietheoretisch ist dieser Ausschluss hochproblematisch. Versteht man den Geschichtsunterricht als Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit, stellen sich weitere Fragen, die hier nur angedeutet werden können: In welchem Verhältnis stehen inkludierende und exkludierende Wirkungen des Geschichtsunterrichts zur emphatischen Forderung nach der Inklusion Benachteiligter in einem allgemeinen Sinn? Entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Inklusion und Diversität, wenn man über den Zusammenhang von Fachunterricht und Demokratie nachdenkt, ein Spannungsverhältnis möglicherweise, das analog zum Spannungsverhältnis zwischen „deliberativer“ Demokratie und demokratischem Mehrheitsprinzip zu fassen wäre? Was ist mit Blick auf den Bildungsauftrag des Geschichtsunterrichts partikular, was universal? Wie eingangs gesagt: Wir haben mehr Fragen als Antworten, meinen aber, es würde die Diskussion um den Geschichtsunterricht voranbringen, wenn man seine soziologische Grundierung und seinen möglichen Beitrag zur gesellschaftlichen Partizipation in den Blick nähme.

Christoph Hamann

Kommentar: „Für wen?“ Subjektorientierung und Inklusion

Mit Bettina Alavi (Heidelberg) und Sebastian Barsch (Kiel) trug zum Thema „Vielfalt vs. Elite? Geschichtsunterricht zwischen Subjektorientierung und Standardisierung“ ein interdisziplinäres Tandem vor. Denn neben Verortung der beiden Vortragenden in der Didaktik der Geschichte verfügen beide auch über ein ausgewiesenes sonderpädagogisches Profil. Dieses ist in der Geschichtswissenschaft bislang eher selten anzutreffen. Die Vortragenden gingen – eine Anregung Holger Thünemanns1 aufgreifend – in ihren Ausführungen den Fragen nach, inwieweit der Diskurs um Vielfalt und Subjektorientierung die Kompetenzdebatte anregt, verändert, zu neuen Überlegungen und Ansätzen bringt. Oder andererseits: Wie belebt dieser Diskurs die Debatte um die Inklusion und zeigt die Grenzen der Subjektorientierung auf ? Diskutiert wurde dies anhand der Themenbereiche Geschichtskultur, Wissen und Kompetenzen, Graduierung von Kompetenzen sowie der Sprachbildung. Ihre Ausführungen basierten auf Beiträgen verschiedener Autor*innen, die für das geplante Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht geschrieben worden sind.2 In Anlehnung an das Handbuch gingen Alavi/Barsch von einem weiten Inklusionsbegriff aus, der unterschiedliche Diversitätskategorien wie z. B. race, class, gender, Behinderung u. a. „inkludiert“. Dieser weite Begriff von Inklusion im Sinne von Diversität war auch dem Panel und ist auch dem Handbuch insgesamt zugrunde gelegt. Geschichtskultur : In einer diversen Gesellschaft artikulieren sich die Diversitäten auch geschichtskulturell. Um Lernende in ihrer Diversität zu erreichen, müsse, so Alavi/Barsch, beim historischen Lernen deswegen von multiplen Geschichtskulturen ausgegangen werden, denn Erinnerung gibt es nur im Plural. 1 Holger Thünemann: Probleme und Perspektiven der Kompetenzdebatte. In: Saskia Handro/ Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte. Münster 2016, S. 37–51. 2 Bettina Alavi/Sebastian Barsch/Christoph Kühberger/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht – Zugänge zu einer inklusiven Geschichtsdidaktik. Frankfurt/Main (in Vorbereitung).

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Christoph Hamann

Die Auseinandersetzung mit der Geschichtskultur sei ihres Lebenswelt- und Gegenwartsbezuges wegen für die Lernenden ausgesprochen relevant. Wie den Referenten stellt sich auch dem Kommentator die Frage, ob nicht gerade bei den geschichtskulturellen Repräsentationen, die in der Öffentlichkeit dominieren (z. B. Dokumentar- und Historienfilme im Kino bzw. Fernsehen) nicht eher nationalhistorisch gerahmte Narrative vorherrschend sind, welche Themen und Perspektiven jenseits dieser Rahmung in der Regel ihrerseits marginalisieren. Gerade diese visualisierten Narrative repräsentieren und perpetuieren – der ökonomischen Verwertungslogik folgend (Marktanteile und Quoten) – vor allem mehrheitsfähige Deutungen. Sie agieren als wirkmächtige und identitätsstiftende und -stabilisierende Symbole und exkludieren Perspektiven von Minderheiten.3 Welchen konzeptionellen Platz also können oder sollten die Geschichtskulturen der vielfältigen Erinnerungsgemeinschaften im Geschichtsunterricht einnehmen? Wie können diese inklusiv geteilt, kommuniziert und diskutiert werden?4 Darüber hinaus erscheint dem Kommentator in Hinsicht auf die Curriculum-Entwicklung auch folgende Frage relevant: Ist das genetischchronologische Strukturierungsprinzip des Geschichtsunterrichts mit seiner im Kern nationalhistorischen Zentrierung für die Thematisierung von vielfältigen Geschichtskulturen funktional oder eher dysfunktional? Wissen/Kompetenzen: Die Frage nach dem Verhältnis von (deklarativem) Wissen und Kompetenzen ist dann keine Frage mehr, wenn von Prozessstandards ausgegangen wird. Denn diese fokussieren und profilieren das historische Denken in seiner disziplinären Grammatik. Dieses wiederum lässt sich an jedwedem historischen Inhalt entwickeln. Denn die Beziehung von deklarativem Wissen und Kompetenzen ist insignifikant. Inhalte müssen aus anderen Bezugsgrößen als den Kompetenzen abgeleitet werden. Insofern scheint mir die von Alavi/Barsch aufgeworfene Frage, an welchen Sachthemen sich welche Kompetenzen gut entwickeln lassen können, nicht wirklich zielführend. Zu prüfen ist aber, ob es sich bei kategorialem Wissen („Sachkompetenz“ im Sinne des FUER-Konzeptes) anders verhält und dessen Verhältnis zur Inklusion profiliert werden muss.5 Die Inhaltsauswahl wie die Thematisierungen wiederum sollten, so die Vortragenden zu Recht, neu reflektiert werden, will das historische Lernen einerseits die Diversität der Lernenden im Auge haben wie andererseits 3 Vgl. dazu auch: Bärbel Völkel: Inklusive Geschichtsdidaktik. Vom inneren Zeitbewusstsein zur dialogischen Geschichte. Schwalbach/Ts. 2017, S. 32ff. 4 Vgl. dazu auch: Martin Lücke: Auf der Suche nach einer inklusiven Erinnerungskultur. In: Bettina Alavi/Martin Lücke (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2016, S. 58–67. 5 So ist es z. B. sicherlich angemessener, das Konzept Revolution an Frankreich 1789 zu erarbeiten als am Beispiel der spanischen Revolution von 1868/74 – auch wenn diese zeitgenössisch „La Gloriosa“ genannt worden war.

Kommentar: „Für wen?“ Subjektorientierung und Inklusion

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die Diversifizierung der Geschichtswissenschaft (Queer History, Migrationsgeschichte, Minderheitengeschichten …) berücksichtigen. Bettina Alavi und Sebastian Barsch bezogen sich bei dieser Frage exemplarisch auf die CurriculumEntwicklung in Berlin-Brandenburg (2013/15).6 Hier werden In- und Exklusion bzw. die Frage der Möglichkeit/Verhinderung von gesellschaftlich-politischer Teilhabe heuristisch als curricularer Filter bei konventionellen Stoffen verbindlich gesetzt. Dadurch sind Unterrichtende aufgefordert, bei konventionellen Inhalten des Geschichtsunterrichts bislang zumindest marginalisierte, wenn nicht gar verdeckte oder negierte Perspektiven auf Exklusion aufzuzeigen.7 Unterrichtspragmatisch kann mit der Frage nach der(n) jeweils exkludierten Perspektive(n) die inhaltliche Konvention neu ausgeleuchtet und mit der Frage verbunden werden, welche impliziten Konzepte von Macht und Ideologie darin zum Ausdruck kommen und welche Auswirkungen diese auf die Konstruktion(en) von Geschichte(n) haben. Dieses Verfahren kann auch in der de-konstruierenden Auseinandersetzung mit den hegemonialen Narrativen der Geschichtskultur angewendet werden. Oder aber : Eine Diversitätskategorie (race, class, gender …) rückt curricular in den Mittelpunkt, um so In- und Exklusion, deren ideologischen Vorannahmen und Instrumente wie auch die damit verbundenen Herrschaftspraxen am historischen Beispiel deutlich werden zu lassen. In der Frage nach der Möglichkeit eines zieldifferenten Unterrichts auf der Ebene des Kompetenzerwerbs bzw. inklusiver Graduierungen der Kompetenzen haben die Vortragenden, mit impliziten Bezug auf die Anhörungsfassung des Berlin-Brandenburgischen Curriculums (2014), auf die Möglichkeit einer Standardprogression ohne eine verbindliche Jahrgangsbindung verwiesen.8 Die Frage nach geeigneten Kriterien für

6 Zusammenfassend dazu: Christoph Hamann: Gegenwartsbezug und Nachhaltigkeit historischen Lernens. Curriculum-Entwicklung in Berlin und Brandenburg. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), H. 11/12, S. 625–641. 7 „Das historische Lernen thematisiert die historisch erfahrenen Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben wie auch die Ausgrenzung daraus. Die gleichberechtigte Teilhabe an diesem Leben, unabhängig von ethnischer und kultureller Herkunft, sozialem und wirtschaftlichem Status, Geschlecht und sexueller Orientierung, Alter und Behinderung sowie Religion und Weltanschauung, bildet sowohl die Basis für die Unterrichtspraxis als auch eine zentrale Thematisierung im Sinne des inklusiven Lernens.“ Vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hrsg.): Rahmenlehrplan Jahrgangsstufen 1–10, Teil C Geschichte. Berlin/Potsdam 2015, S. 22. 8 Christoph Hamann/Birgit Wenzel: Inklusion, historisches Lernen und Curriculum. In: Alavi/ Lücke (Anm. 4), S. 103–117; Christoph Hamann/Birgit Wenzel: Zentrale Steuerung – dezentrale Freiräume. Entwicklung inklusiver Curricula für den Geschichtsunterricht. In: Alavi u. a. (Anm. 2).

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eine Graduierung historischer Kompetenzen ist, wie von verschiedener Seite aufgeworfen worden war, nach wie vor nicht beantwortet.9 Schließlich die Sprachbildung: Alavi/Barsch thematisierten hier mögliche sprachliche Vorentlastungen von Quellen und Darstellungen (Leichte Sprache, Scaffolding etc.) und problematisierten Standards, die auf Fach- wie Bildungssprache zielen. Die These, eine historische Sinnbildung könne bei Lernenden nur auf der Basis fachsprachlicher Fähigkeiten gefördert werden, müsse hinterfragt werden. Gerade die Entwicklung narrativer Kompetenz erscheint hier einerseits für die Mehrzahl der Lernenden anschlussfähig zu sein. Denn ein Erzählen im Sinne des historischen Narrativierens kann auch auf gänzlich basaler Ebene erfolgen. Andererseits ist Erzählen als sprachliche Handlung nicht umsetzbar für Schülerinnen und Schüler aller sonderpädagogischen Förderschwerpunkte (so z. B. Förderschwerpunkte geistige Entwicklung oder z. T. Autismus).10 Ein inklusiver Geschichtsunterricht müsse, so die Vortragenden abschließend, ausgesprochen sprachsensibel vorgehen und schulbezogene bzw. schulinterne (fach-)sprachliche Register mit hoher Passung an die Möglichkeiten der Lernenden entwickeln. Marcus Otto (Georg-Eckert-Institut Braunschweig) stellte in seinem Vortrag „Inklusion und Exklusion in der Migrationsgesellschaft. Die Adressierung der Lernenden in Schulgeschichtsbüchern“ die Ergebnisse der von der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration beauftragten und herausgegebenen Schulbuchstudie Migration und Integration vor.11 Otto ging der Frage nach, wie das Konzept eines diversitätssensiblen Geschichtsunterrichts in dem Leitmedium des Geschichtsunterrichts umgesetzt wird: dem Schulbuch. Seine Fragestellung lautete: Wie wird Migration und Integration in Bezug auf gesellschaftliche Vielfalt in deutschen Schulbüchern dargestellt und inwiefern tragen Schulbücher zu einer zunehmenden Akzeptanz von Diversität bei? Die Fragestellung verweist neben dem deskriptiv-analytischen auch auf einen normativen Anspruch der Untersuchung und den politischen Kontext ihrer Entstehung: Erkenntnisleitend war – auch – das Ziel der Generierung von Empfehlungen zur Hebung der Akzeptanz von Vielfalt. Untersuchungsgegenstand waren 65 zugelassene Schulbücher gesellschaftswissenschaftlicher Fächer aus fünf Bundesländern (Bayern, Nordrhein-Westfa9 Andreas Körber : Graduierung von Kompetenzen. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 236– 254. Thünemann (Anm. 1), S. 40. Hamann (Anm. 6), S. 635f. 10 Bärbel Völkel: Kategorien oder Inhalte? Erste Annäherungen an eine inklusive Geschichtsdidaktik. In: Alavi/Lücke (Anm. 4), S. 41. 11 Marcus Otto: Schulbuchstudie Migration und Integration. Hrsg. v. d. Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration (zusammen mit Viola Georgi, Rosa Hoppe und Inga Niehaus). Berlin 2015.

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len, Sachsen, Berlin, Brandenburg) für die Sekundarstufe I (Gymnasium und Realschule bzw. vergleichbare Schulformen). Vorherrschend ist der Studie zufolge in den 24 Lehrwerken für den Geschichtsunterricht das Narrativ von der Entwicklung Deutschlands vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland seit dem 19. und im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Es überwiege die Problematisierung von Migration als konflikt- und krisenträchtiger Vorgang mit fundamentalen biografischen Brüchen gegenüber einer Darstellung von mobilitätsbedingter Diversität als Normalfall der historischen Moderne. Der Kommentator fragt sich, ob man von diesem Befund auf monoperspektivische, migrationsaverse oder gar xenophobe Haltungen der Schulbuchautoren schließen kann. Oder artikuliert sich darin subkutan ein Konzept von Geschichtsunterricht, welches vor allem die Urteilsbildung fordern bzw. fördern will und deswegen insbesondere auf problemorientierte Ansätze setzt? Verdecken problemorientierte Konzeptionen deswegen unintendiert weitgehend konfliktfrei verlaufende historische Entwicklungen? Die Fokussierung auf die außerordentliche und außeralltägliche Form der Migration blende, so der Referent, die alltägliche Form räumlicher Mobilität in modernen Gesellschaften aus. Migrant*innen würden demzufolge vor allem als Bedrängte und Hilfsbedürftige („Der entwurzelte Mensch“) dargestellt. Die räumliche Mobilität von Expert*innen aus gesellschaftlich anerkannten und wirtschaftlich relevanten Berufszweigen würde, so der Referent zu Recht, dagegen nicht unter dem Begriff Migration gefasst. So erhält z. B. der US-amerikanische IT-Experte in Deutschland ebenso nicht das markierende Attribut „mit Migrationshintergrund“ wie auch der Präsident der USA Donald Trump, dessen Großvater aus der Pfalz stammt. „Insofern“, so die Studie, „ist die entsprechende Bezeichnungspraxis immer auch Ausdruck sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Machtverhältnisse.“12 Vorherrschend sei in den Geschichtsbüchern zudem die Fokussierung auf die grenzüberschreitende Migration zwischen Nationalstaaten sowie die auf die Wanderung großer Bevölkerungsgruppen nach Europa und innerhalb Europas bzw. von Europa aus. Diese Darstellungen offenbaren der Studie zufolge unausgesprochen und kontrafaktisch Homogenitätsvorstellungen (die nationalstaatlich gefasste homogene Gesellschaft vs. die Anderen als undifferenziertes allein quantifiziertes Kollektiv) und würden zudem die Binnenmigration ausblenden (z. B. Schwabengänger, Urbanisierung im 19. Jahrhundert). Die Arbeitsaufträge für die Lernenden würden einerseits überindividuelle objektive Faktoren von Migration thematisieren (Ursachen, Faktoren, Folgen), andererseits mit dem Ziel der Förderung von Empathie zum Perspektivwechsel auffordern („Versetze dich in die Lage eines…“) und damit aber implizit das dichotome Muster wir/die Anderen re12 Otto (Anm. 11), S. 67.

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produzieren. Migrant*innen würden auf den Opferstatus mit allein „reaktiver agency“ reduziert und bei Aufgabenstellungen nicht-migrantische Perspektiven bevorzugt. Der Sprachgebrauch bei der Benennung von wandernden Menschen sei in den Schulbüchern – wie auch im gesellschaftlichen Diskurs – von Unsicherheit geprägt. Begriffe, die im Kern Unterschiedliches benennen, würden zum Teil synonym genutzt. Als Schlussfolgerung aus den Befunden zufolge wird den Schulbuchverlagen empfohlen, nicht nur diversitätssensible Lehrwerke auf dem Markt zu bringen, sondern auch deutlich zu machen, dass in der Moderne Wanderung die historische Normalität war bzw. ist und Vielfalt als gesellschaftliche Ressource stärker betont werden müsse. Auf diese Leerstelle aufmerksam zu machen ist ein Verdienst der Untersuchung. Unbestreitbar scheint dem Kommentator aber auch, dass die historische wie gegenwärtige Erfahrung von (Zwangs-)Migration vor allem eine faktische Konflikterfahrung mit multiplen Krisenphänomenen (wie eben z. B. einer „Entwurzelung“) ist.13 So resümierte zum Beispiel nach sechs Jahrzehnten im australischen Exil eine jüdische Exilantin aus Berlin im Gespräch mit dem Kommentator: „Ich habe ein Heim gefunden, aber keine Heimat. Wenn man die Kinderlieder nicht kennt, weiß man, dass man ein Fremder ist.“14 Saraya Gomis (Antidiskriminierungsbeauftragte der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Studienrätin) und Hajdi Barz (Bildungsreferentin der Initiative Rromnja/Archiv RomaniPhen) trugen zum Thema „SchülerInnen mit Diskriminierungserfahrungen als Subjekte historischen Lernens“ vor. Die Referentinnen plädierten für einen Geschichtsunterricht, der diversitätssensibel und transkulturell reflektierend ist. Sie forderten die Didaktik der Geschichte als Fachdisziplin auf, einen Beitrag für ein rassismuskritisches und „empowerndes Lernen“ zu leisten.15 Leitende Prüffragen für eine Analyse des Unterrichts sollten sein: „Wer wird durch wen gebildet? Wer lernt was von wem? Wer ist der Verfasser des Materials? Wer darf mitbestimmen? Auf welchen Ebenen? Wie wird über wen gesprochen? Wer wird wie repräsentiert? Wer fehlt? Welche Ziele hat wer für wen? Wo ist oder bewegt sich wer und mit welchem Ziel?“16 Die Referentinnen bezogen sich auf Praxen der Ausgrenzung von z. B. Schwarzen Stimmen, people of color oder Roma und der Marginalisierung von deren Themen und Perspektiven. Die Schule sei in Bezug auf Rassismus und Populismus ein Spiegel der Gesellschaft und der Handlungsbe13 Zum Beispiel Daniel Defoe: Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge, München 2017 (Englische Originalausgabe: A Brief History of the Poor Palatine Refugees, EA 1709). 14 Christoph Hamann: Die Mühsams. Geschichte einer Familie (Jüdische Memoiren Nr. 11. Stiftung neue Synagoge – Centrum Judaicum). Teetz 2005, S. 209. 15 Vgl. dazu Christina Brüning/Lars Deile/Martin Lücke (Hrsg.): Historisches Lernen als Rassismuskritik. Schwalbach/Ts. 2016. 16 Vgl. dazu Senatsverwaltung (Anm. 7), die diesen Ansatz curricular schon ausformuliert.

Kommentar: „Für wen?“ Subjektorientierung und Inklusion

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darf evident.17 Im Geschichtsunterricht werde die „Geschichte von Weißen für Weiße erzählt.“18 Diese prägnante Formulierung wurde von den Referentinnen so nicht genutzt, sie würden dieser ihrem Vortrag zufolge aber vermutlich zustimmen. Die Aussprache im Plenum am Ende des Panels wurde von einem Konflikt dominiert, der seine Dynamik vor allem aus Interferenzen zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs einerseits und der politischen Praxis andererseits entwickelte. Im Raum stand die mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Kritik, ein Panel zum Thema In- und Exklusion agiere durch unausgewogene Redeanteile der Referent*innen selbst diskriminierend. Mit Blick auf die Tagesordnung und Zeitplanung hatte die Leitung des Panels die Diskussion zum Vortrag der Referentinnen beenden wollen. Denn dem letzten Tagesordnungspunkt19 sollte ebenfalls sein Anspruch auf Aufmerksamkeit eingeräumt werden. Dazu kam es nicht mehr. Im Sinne einer empowernden Selbstermächtigung entzogen sich die Referentinnen der weiteren Kommunikation und verließen das Panel.20 Und mit ihnen ein nicht geringer Teil der Zuhörerschaft. Dem legitimen fachlichen wie auch politischen Anliegen der Referentinnen zum Trotz: Der Konflikt hinterließ beim Kommentator ein zwiespältiges Gefühl – Anlass und Reaktion standen für ihn in keinem angemessenen Verhältnis. Gleichwohl: Diversitätssensibles Agieren kann nicht nur nie verkehrt sein – wenn die Disziplin die eigenen Ansprüche auf Pluralität ernst nimmt, dann muss sie diese in Praxis wie Theorie möglichst breit fundieren. Wer von Inklusion und Diversität redet, darf aus diesem Grund über Perso17 Vgl. Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Drucksache 18/11970 des Deutschen Bundestages vom 07. 04. 2017), S. 225; Antisemitismus als Problem der anderen/ Externalisierung. 18 Christian Czyborra/Mohamed Refai/Nalan Yag˘ci: Geschichtsunterricht als weißer Raum? Überlegungen zu Critical Whiteness in der Geschichtsdidaktik. In: Brüning/Deile/Lücke (Anm. 15), S. 71–90, hier S. 87 (Hervorhebung im Original). 19 Dem Tagungsprogramm zufolge eine „Plenumsdiskussion über eine historische Statistik. Lässt sich Bildungsgerechtigkeit quantifizieren?“ Siehe dazu: Guido Lenkeit: Weniger Geschichtsunterricht? Bemerkungen zur Statistik. Vgl. http://lernen-aus-der-geschichte.de/Ler nen-und-Lehren/content/13733 (aufgerufen am 07. 02. 2018). Dieser Aufsatz ist in dem Themenheft „Geschichtsunterricht. Ein Schulfach in der Krise?“ des Online-Magazins Lernen aus der Geschichte am 11. September 2017 erschienen. Diese Ausgabe ist im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik (KGD) von der Agentur für Bildung (Berlin) realisiert worden. – Vgl. jetzt aber den Beitrag von Thomas Sandkühler/Guido Lenkeit: Exklusion durch historische Bildung? Fachlichkeit und gesellschaftliche Teilhabe in der Bundesrepublik Deutschland, in diesem Band. 20 Natasha Nassir-Shahnian: Dekolonisierung und Empowerment (MID-Dossier). [Berlin] Mai 2013, S. 16–25. – Die vor, während und nach der Konferenz für Geschichtsdidaktik mehrfach vom Kommentator ausgesprochene Bitte an die Referentinnen, ihren Vortragstext und/oder eine (lesbare) Präsentation als Grundlage für den Tagungsbericht zur Verfügung zu stellen, blieb ohne Erfolg.

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nalentwicklung nicht schweigen. Ein inklusives historisches Lernen braucht neben theoretisch begründeten Konzepten der Diversität auch ein Diversity Management auf der Ebene der Akteure, um die Qualitätsentwicklung historischen Lernens im Sinne zentraler Prinzipien der eigenen Disziplin zu befördern. Die Schülerschaft ist, von der Kategorie Alter abgesehen, so divers wie die Gesellschaft. Es kann deshalb – durchaus auch selbstkritisch – gefragt werden: Spiegelt sich die gesellschaftliche Diversität auch in den Kollegien der Schulen, den Schulbuchredaktionen, bei den Entwickler*innen von Aufgaben bei zentralen Prüfungen oder Rahmenlehrplänen, in den Landesinstituten und den historischen Fachbereichen an den Universitäten wider?

Sektion 3: Wie? Der Blick auf die Unterrichtsgestaltung

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Wie? Der Blick auf die Unterrichtsgestaltung. Einführung in die Sektion

Aktuelle Befragungen liegen in ihren Befunden zur Wahrnehmung des Schulfaches Geschichte so weit auseinander, dass allgemeine Aussagen darüber, wie Geschichtsunterricht derzeit stattfindet, kaum zu treffen sind. So erscheint nach einer im Vorfeld dieser Berliner KGD-Zweijahrestagung durch die Körber-Stiftung beauftragten Forsa-Umfrage unter Bundesbürger/innen ab 14 Jahren der Geschichtsunterricht in deutschen Klassenzimmern „besser als sein Ruf“1 zu sein. Immerhin drei Viertel (75 %) der telefonisch befragten Jugendlichen waren der Ansicht, „dass die Inhalte in ihrem letzten Geschichtsunterricht anschaulich und nachvollziehbar dargestellt wurden“. Zwei Drittel (66 %) gaben an, „dass ihre Geschichtslehrerin bzw. ihr Geschichtslehrer Interesse für die behandelten Themen wecken konnte“, und immer noch mehr als die Hälfte (59 %) sagte, dass es in ihrem Geschichtsunterricht interaktive Lernmethoden, wie zum Beispiel Projektarbeit, gegeben habe.2 Dagegen verstärkte die 2016 erstellte SINUS-Jugendstudie3 den Eindruck, Jugendliche hielten das Schulfach Geschichte zwar durchaus für bedeutsam, interessierten sich aber nicht dafür, weil die Qualität des Unterrichts zu wünschen übrig lasse. In den dokumentierten Interviews blieben „Berichte von Jugendlichen, die Begeisterung am Schulfach Geschichte erkennen lassen“4 ver1 Georgios Chatzoudis: „Der Geschichtsunterricht ist besser als sein Ruf“. Interview mit Sven Tetzlaff über den Geschichtsunterricht an Schulen in Deutschland. https://lisa.gerda-henkelstiftung.de/der_geschichtsunterricht_ist_besser_als_sein_ruf ?nav_id=7290& language=de (aufgerufen am 27. 2. 2018). 2 forsa Politik und Sozialforschung GmbH: Geschichtsunterricht (5. 9. 2017), S. 14. https:// www.koerber-stiftung.de/fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/redaktion/handlungsfeld _internationale-verstaendigung/pdf/2017/Ergebnisse_forsa-Umfrage_Geschichtsunterricht_ Koerber-Stiftung.pdf (aufgerufen am 27. 2. 2018). 3 Zur SINUS-Jugendstudie siehe auch in diesem Tagungsband den Beitrag von Thomas Sandkühler/Guido Lenkeit: Exklusion durch historische Bildung? Fachlichkeit und gesellschaftliche Teilhabe in der Bundesrepublik Deutschland, Abschnitte 6–7. 4 Marc Calmbach u. a. (Hrsg.): Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, S. 392. Open Access: https://www.wie-ticken-ju gendliche.de/home.html (aufgerufen am 27. 2. 2018).

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gleichsweise selten. Die 16-jährigen Jugendlichen, die persönlich und intensiv auch zur Unterrichtsgestaltung befragt wurden, kritisierten, dass im Unterrichtsfach Geschichte „zu viel auswendig gelernt werden muss und kein persönlicher Bezug hergestellt werden kann“5. Ob es sich bei den widersprüchlichen Befunden nun um Effekte der empirischen Sozialforschung handelt, die am methodischen Ideal der Verbindung quantitativer und qualitativer Forschung rühren, oder ob sich die Wahrnehmung von Geschichtsunterricht schneller ändert als wir es bisher angenommen haben, sind Fragen, die hier nicht weiter vertieft werden können. Stattdessen sollen einleitend drei ausgewählte Aspekte der geschichtsdidaktischen Forschung zur Unterrichtsgestaltung vorgestellt werden. Erstens werden die Probleme des Transfers geschichtsdidaktischer Prinzipien und Theorien in die Praxis erläutert. Zweitens geht es um eine Differenzierung von facheigenen und importierten Unterrichtsverfahren und drittens um die Rollenverteilung zwischen Lehrkräften und Lernenden, die sich dieser Verfahren bedienen bzw. ihnen folgen (müssen). Ein Ausblick auf die Beiträge dieser Sektion schließt diese Einführung ab.

Theorie und Praxis: Wie unterrichtswirksam sind geschichtsdidaktische Methoden und welche Transferwiderstände gibt es? Es existiert inzwischen eine ganze Reihe von Handbüchern zu fachdidaktischem Planungs-, Methoden- und Reflexionswissen, die das Unterrichtshandeln anleiten und die Unterrichtskommunikation befruchten wollen.6 Viele der dort beschriebenen innovativen Elemente sind in den Schulalltag aber offensichtlich nur mühsam oder gar nicht durchgedrungen oder sie werden so adaptiert, dass es traditionellen Lehrmodellen zu Gute kommt.7 Folgt man geschichtsdidakti-

5 Ebd., S. 391. 6 Neben der Taschenbuch-Reihe Methoden historischen Lernens des Wochenschauverlages vor allem die in mehrfachen Auflagen erschienenen Handbücher von Hilke Günther-Arndt/Saskia Handro (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. 6. überarb. Neuaufl. Berlin 2015; Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden des Geschichtsunterrichts (Forum historisches Lernen). 2. Aufl. Schwalbach/ Ts. 2013; Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. 2 Bde. (Forum historisches Lernen). 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2017. 7 Die internationale Forschung kommt hier zu ähnlichen Ergebnissen. So benennt Ken Osborn „the unsatisfactory state of history teaching in Canada stretching back almost a hundred years“. Zit. nach Penney Clark: History Education Research in Canada. A Late Bloomer. In: Manuel Köster/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Eds.): Researching History

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schen Studien, die „Inkongruenzen und schwierige Passungsverhältnisse von didaktischen Idealvorstellungen und alltäglicher Unterrichtswirklichkeit“8 empirisch ausgelotet haben, dann sind mit dem Gegenwartsbezug, dem problemorientierten Geschichtsunterricht9 und der Interpretation historischer Quellen10 keine Randphänomene, sondern zentrale Prinzipien, Verfahren und Methoden historischen Lehrens und Lernens betroffen. Quellenkritik beispielsweise gilt zwar als das Nadelöhr des historischen Erkenntnisprozesses11 und damit hierzulande auch als Fundament historischen Lernens. Gemäß dem biblischen Gleichnis für eine relativ sicher anzunehmende Unmöglichkeit passt jedoch auch der empirische Befund ins Bild, dass die mit der Quellenarbeit verbundenen fachlichen Ansprüche im Geschichtsunterricht gar nicht bzw. eher selten realisiert werden. Die in der Forschung mehrfach konstatierten Phänomene der unreflektierten Perspektivenübernahme und eines ritualisierten Abarbeitens methodischer Konventionen werden dabei insbesondere mit dem fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch als dominierender Kommunikationsform des Faches Geschichte in Verbindung gebracht. In einer von Christian Spieß durchgeführten empirischen Stichprobe ließen sich Schüleräußerungen zum Aussagewert historischer Quellen im Unterrichtsgespräch „fast ausschließlich als Elaboration oder Differenzierung von Propositionen der Lehrkraft rekonstruieren“12. Abgesehen von der Kommunikation wird die Einübung eines reflektierten Quellenumgangs auch dadurch erschwert, dass Relevanz und Aussagekraft, die den Text- und Bildquellen im interpretie-

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Education. International Perspectives and Disciplinary Traditions (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 4). Schwalbach/Ts. 2014, S. 81–103, zit. S. 90. Manuel Köster : Methoden empirischer Sozialforschung aus geschichtsdidaktischer Perspektive. Einleitung und Systematisierung. In: Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 5). Schwalbach/Ts. 2016, S. 9–88, zit. S. 47. Gerhard Henke-Bockschatz/Christian Mehr : Professionalisierung des Lehrerhandelns am Beispiel des problemorientierten Geschichtsunterrichts. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 5). Göttingen 2013, S. 97–115. Auf die vom verbreiteten Dreischritt-Modell der Bildquelleninterpretation abweichenden Bildverstehensprozesse der Lernenden verweist die Studie von Kristina Lange: Historisches Bildverstehen oder Wie lernen Schüler mit Bildquellen? Ein Beitrag zur geschichtsdidaktischen Lehr-Lern-Forschung (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 7). Münster 2011. Im Anschluss an Jörn Rüsen, Quellenkritik sei das „Nadelöhr zur historischen Objektivität“. Ders.: Grundzüge einer Historik. Bd. 2: Rekonstruktion der Vergangenheit. Die Prinzipien der historischen Forschung. Göttingen 1986, S. 107. Christian Spieß: Quellenarbeit im Geschichtsunterricht. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzerwerb im Umgang mit Quellen (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 8). Göttingen 2014, S. 214.

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renden Verfahren erst zugeschrieben werden müssen, in Schulgeschichtsbüchern und Arbeitsblättern in der Regel schon vorgegeben sind. Angesichts dieser Diskrepanzen zwischen geschichtsdidaktischen Prinzipien, Unterrichtsangeboten und Unterrichtsalltag ist erneut eine Diskussion darüber in Gang gekommen, wie den Rahmenbedingungen von Unterricht in geschichtsdidaktischen Lehr- und Lernmodellen besser Rechnung getragen werden kann. In umgekehrter Richtung hat die Geschichtsdidaktik Impulse gesetzt, die eingefahrene Lehr- und Lernarrangements verändern und korrigieren sollen, bei denen eine Schulung historischen Denkens insgesamt fraglich geworden ist. So kennt diese mit (forschend-)entdeckenden Verfahren oder dem Konzept historischer Orte auch Alternativen zum fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch und zur Arbeit mit dem Schulbuch, die offensichtlich dichter an der historischen Erkenntnislogik und an der geschichtswissenschaftlichen Praxis angesiedelt sind.

Theorieimporte und Methodenpluralismus: Worüber wird hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung eigentlich gesprochen? Theoretisch ist unstrittig, dass Methodenvielfalt ein Faktor für wirksamen Geschichtsunterricht ist. Mit Blick auf die Unterrichtsrealität wird einerseits beklagt, dass sie dort nicht anzutreffen sei, sondern mit verschleierten lehrerzentrierten Verfahren wie dem fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch tendenziell ein Methodenmonismus herrsche, an dem regelmäßig die Umsetzung didaktischer Prinzipien wie Problemorientierung und quellenbasiertes Lernen scheitern müssten. Andererseits stehen überambitionierte, dysfunktionale „Methodenspektakel“ in der Kritik, die eine Folge von Theorieimporten aus anderen Disziplinen sind. Tendenziell fällt auf, dass die vielen Interaktionsformen, Lehr- und Lernkonzepte sowie Lernumgebungen, die ihre Impulse von der Allgemeinen Didaktik und aus den Erziehungswissenschaften empfangen, eine Unübersichtlichkeit der Lehr- und Lernformen und eine Konfusion in der fachlichen Expertise bewirkt haben. Ist von „Methoden“ und „Methodenplanung“ die Rede, sind derzeit sehr unterschiedliche Sachverhalte gemeint: Da ist zum einen der Begriff Unterrichtsmethode zu nennen und zum anderen sind die fachlichen Forschungsmethoden berührt, die auf der historischen Erkenntnistheorie gründen.13 Expert/innen für Geschichtsunterricht sprechen hier nicht 13 Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider: Einführung. In: Dies. (Anm. 6), S. 10f. Innerhalb der Geschichtsdidaktik wurde und wird dementsprechend immer wieder das Fehlen bzw. Zurückgehen hinter einen fachspezifischen Methodenbegriff kritisiert. Dazu unter anderen in einem Beitrag zur wissenschaftlichen Entwicklung der Geschichtsdidaktik

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immer eine Sprache, wenn sie sich über die Unterrichtsgestaltung äußern. So stellen Christian Kuchler und Andreas Sommer in einem jüngst publizierten Interviewband heraus, dass universitäre Geschichtsdidaktiker/innen und Seminarleiter/innen vor allem auf die Bedeutung fachspezifischer Methoden verweisen. Während sich die Expert/innen aus der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung also daran ausrichten würden, das Denken vom Fach aus stark zu machen,14 orientierten sich Lehrkräfte dagegen eher allgemeindidaktisch und schulpädagogisch, wenn sie über Unterrichtsgestaltung reden. Sie stellen die Bedeutung eines guten Klassenklimas in den Mittelpunkt oder fordern ein verstärktes Lernen mit allen Sinnen.15 Vor allem in der Unterrichtspragmatik findet sich ein buntes Potpourri methodischer Akte, das mehr einem Erleichterungscredo als fachlichen Ansprüchen gerecht wird. So werden beispielsweise für die Bewertung kontroverser Historikerurteile in erster Linie Lernwege und Methoden des kooperativen Lernens und der Schüleraktivierung in Anschlag gebracht (Think-Pair-ShareMethode, Placemat Activity etc.), die den voraussetzungsreichen Anspruch geschichtswissenschaftliche Urteile zu analysieren im Wortsinne (Platzdeckchenmethode) verkleinern. Es wird so übergangen, dass diese Expertenurteile ja auf einem sehr umfassenden Quellenstudium, ausbalancierten Argumenten und zeitgefärbten, wie im Fall etwa der sogenannten Kriegsschuldfrage auch öffentlichen Meinungsbildungsprozessen gründen. Überhaupt fehlt es an fachlichen Kriterien ihrer Überprüfung und Einordnung.16 Die Integration geschichtswissenschaftlicher Positionen in den Unterricht bewirkt daher oft einen gegenteiligen Effekt: Obwohl Lehrkräfte durch eine didaktisch-methodische

Joachim Rohlfes: Quo vadis, Geschichtsdidaktik? In: Olaf Hartung/Katja Köhr : Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl, Bielefeld 2008, S. 9–25, hier S. 19. Zu den Grundsätzen und Regeln methodischen Handelns Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis (Forum historisches Lernen). Schwalbach/ Ts. 2013, S. 247–251, und einer dezidierten Kritik an fachwidrigen Methoden und Verfahren, ebd., S. 447–450. 14 Wie Katharina Litten angemerkt hat, wird das Problem der fachspezifischen Methodenwahl jedoch oft dadurch heruntergespielt, dass die Anzahl der möglichen Lernwege im Geschichtsunterricht begrenzt sei. Katharina Litten: Wie planen Geschichtslehrkräfte ihren Unterricht? Eine empirische Untersuchung der Unterrichtsvorbereitung von Geschichtslehrpersonen an Gymnasien und Hauptschulen. (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 14). Göttingen 2017, S. 61. 15 Christian Kuchler/Andreas Sommer : Professionseinschätzungen zu wirksamem Geschichtsunterricht. Fazit aus den vorliegenden Expertisen. In: Dies. (Hrsg.): Wirksamer Geschichtsunterricht (Unterrichtsqualität: Perspektiven von Expertinnen und Experten, Bd. 6). Baltmannsweiler 2018, S. 226–234, hier S. 231. 16 Zu Zielen, Strategien und Erträgen des Einsatzes geschichtswissenschaftlicher Texte siehe den Beitrag von Rachel Foster : Using academic history in the classroom. In: Ian Davis (Hrsg.): Debates in History teaching. New York 2011, S. 199–211, hier S. 204.

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Bearbeitung einfacheres Verstehen intendieren, erschweren sie es unnötigerweise.17 Die durch den Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung Thomas Krüger auf dieser Tagung zum „Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert“ gestellte virulente Frage, wie niedrigschwellig man mit Geschichte überhaupt umgehen darf, lässt sich unter dem Primat der Didaktik eben nicht zuerst von der Methodenseite kommend beantworten, sondern tangiert mit der Entscheidung für die Inhalte, zu bearbeitende Fragen und Aufgaben auch das Was18. Wenn dagegen über allgemeindidaktische Unterrichtsmethoden und -verfahren den Inhalten Einfachheit, Eindeutigkeit und leichte Nachvollziehbarkeit unterstellt wird, dann kreuzt sich dieser Weg nicht unbedingt mit der Förderung eines reflektierten und reflexiven Geschichtsbewusstseins, um derentwillen das Fach Geschichte hierzulande erteilt wird: eine Beschäftigung mit Vergangenheit und ihren Interpretationen, die die Fähigkeit kultiviert, Simplifizierungen zu widerstehen, das vorschnelle Urteil zu vermeiden und die Selbstverständlichkeit der Gegenwart zu hinterfragen.19 In ihrer Keynote „Why History Education?“ hat die Historikerin Dorothee Wierling auf dieser Tagung die Frage nach dem Warum historischen Lernens eng mit dem Wie verknüpft.20 Da demzufolge nicht alles geht bzw. angemessen erscheint, ist es wünschenswert, dass sich Geschichtsdidaktiker/innen mit Geschichtslehrer/innen gemeinsam um eine Präzisierung und Bewertung fachfremder und fachzentraler Arbeits- und Denkweisen bemühen und eine fachdidaktische Auseinandersetzung mit einem Methodenpluralismus kultivieren, die abwägt, welche Importe aus anderen Disziplinen für den Geschichtsunterricht innovativ und lernförderlich sind.

17 Exemplarisch dafür Tino Zenker : Wer war schuld? Positionierung zur Schuldfrage des Ersten Weltkrieges mithilfe der Placemat-Methode. In: Geschichte lernen 178 (2017), S. 12–17. 18 Siehe dazu in diesem Band die Beiträge der Sektion 1: Was? Historisches Lernen in der Schule – Theorien und Themen. 19 „Such a study of history might cultivate the ability to resist simplifications, to temper the rush to judgement, to approach society with a set of questions about why we should believe what we claim to believe.“ Sam Wineburg/Avishag Reisman: Research on Historical Understanding. A Brief Glimpse from American Shores. In: Köster/Thünemann/ZülsdorfKersting (Anm. 7), S. 301–318, hier S. 314. 20 Dorothee Wierling: Why History Education? Keynote, in diesem Tagungsband.

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Instruktion und Konstruktion: Welchen Einfluss haben Lehrkräfte und Schüler/innen auf den Unterricht? Grundlegende Einigkeit besteht in Bezug auf ein konstruktivistisches Lernverständnis. In bewusster Distanz zur Idee der Vermittlung wird davon ausgegangen, dass sich Schüler/innen historisches Wissen selbst erarbeiten bzw. konstruieren und Lehrkräfte dies nur durch geeignete Lernarrangements unterstützen, nicht aber forcieren können.21 Mit dem Paradigmenwechsel zum konstruktivistischen Lehr- und Lernverständnis ist auch in Anspruch genommen worden, dass vom Lehren Abschied genommen werden kann und so den Schüler/innen das Lernen allein überlassen wird. Für den Fall fehlender Anleitung suchen sich diese allerdings anderswo Rat. Ein Beispiel dafür sind die vielfach abgerufenen Erklärvideos des Kanals „Wissen2go“ auf Youtube, mit denen sich der Journalist Mirko Drotschmann als „besserer Lehrer“ präsentiert. Dass hier die Geschichte der Weimarer Republik in einer Viertelstunde erklärt wird, finden inzwischen mehr als eine Million, überwiegend jugendliche User hilfreich.22 Unstrittig ist, dass Lehrkräfte bisher im Unterricht zu viel selbst gemacht und Schüler/innen zu wenig überlassen haben. Aber es gilt auch, dass schulisches Lernen ohne Lehren nicht möglich ist. Unterricht als institutionalisierte Form historischen Lernens ist nun einmal eine Veranstaltung, die durch Intentionalität und Planbarkeit gekennzeichnet ist. Die geschichtsdidaktische Lehr-Lernforschung bestätigt dabei die alltägliche Erfahrung, dass Schüler/innen sehr ökonomisch arbeiten. In der Regel machen sie genau das, was von ihnen explizit gefordert wird und was minimal zur Lösung ausreicht. So schlagen sie unverstandene historische Begriffe nicht nach, wenn ihnen kein Glossar angeboten wird und wenn sie vermuten, dass das Überlesen nicht der Lösung der Lernaufgabe entgegensteht. Dies bedeutet, dass die Denkoperationen, die im Unterricht durchgeführt werden sollen, vorab genau überlegt werden müssen. Dabei gelten sinnvolle, herausfordernde Aufgabenstellungen und systematische, fachlich verankerte Strategien ihrer Bearbeitung als entscheidende Faktoren gelingenden Geschichtsunterrichts. Wessen Aufmerksamkeit auf die Spezifik einer Quellenart und auf die narrative Struktur von Geschichte gelenkt wird, dem fällt nachweislich eine Aufgabe leichter bzw. es wird ihm die Bearbeitung überhaupt erst ermöglicht. Auch für die Unterbreitung differenzierter Lernangebote, die besser den Stärken und Schwächen des Einzelnen gerecht werden, erscheinen diese Befunde zur Verzahnung von historischem Wissen und an21 Litten (Anm. 14), S. 61. 22 Anke John: Wissen2go – Frontalunterricht auf YouTube. In: Public History Weekly 5 (2017) 25, DOI:dx.doi.org/10.1515/phw-2017-9584 (aufgerufen am 27. 02. 2018).

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wendbaren fachspezifischen Methodenkenntnissen also besonders aufschlussreich zu sein.23 Internationale Studien zu instruierenden Methoden im Sinne von Cognitive apprenticeship bekräftigen, dass Schüler/innen historische Lernprozesse leichter fallen und diese weniger risikobehaftet sind, wenn sie angeleitet geschehen.24 Dabei hat ein fachlich profiliertes Scaffolding als ein Verfahren unterstützter Eigentätigkeit unter Geschichtsdidaktiker/innen besondere Aufmerksamkeit erhalten.25 Mit dem Angebot einer Art Denkgerüst wird eine Balance zwischen Lehren und Lernen angestrebt, durch die erkennbar wird, wie historisches Wissen entsteht und wie sich Regeln und Routinen historischen Lernens mit Neugier und kreativem Nachdenken über Geschichte verbinden lassen. Fachvertreter/innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz plädieren dabei besonders nachdrücklich für eine Offenlegung des konkreten Stundenaufbaus, aber auch der längerfristigen Unterrichtsvorhaben anhand eines eingängigen Dreischrittes, durch den transparent wird, warum, was, wie im Unterricht thematisiert wird26 und, um das Interesse dieser Tagung an den Medien nicht zu unterschlagen, womit gelernt wird. Auf dieser Metaebene sollen die Schüler/ innen in den Unterrichtsverlauf eingebunden werden, so dass sie regelmäßig die von den Lehrkräften initiierten fachlichen Denkprozesse im Ganzen und in den einzelnen Erkenntnisschritten nachvollziehen, reflektieren und schließlich modellhaft auf ihre eigenen Fragen und Interessen an Geschichte transferieren und anwenden können. 23 Bettina Alavi: Lernen Schüler/innen im Digitalen anders? In: Marko Demantowsky/Christoph Pallaske (Hrsg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. Berlin/München/Boston 2014, S. 3–16, hier S. 12f. Zur Konzipierung von Aufgaben im Geschichtsunterricht Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009, S. 246–254, und zuletzt mit einem Überblick zu den bisherigen Forschungsanstrengungen Martin Nitsche/Kristine Gollin/Monika Waldis: Zur Konstruktion von offenen Testaufgaben für die Erfassung narrativer Kompetenz – Kriterienentwicklung und Studienvergleiche. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 235–249. 24 So etwa Susan De La Paz/Mark K. Felton: Reading and writing from multiple source documents in history : Effects of strategy instruction with low to average high school writers. In: Journal of Contemporary Educational Psychology 35 (2010), pp. 174–192. 25 Zur unterrichtlichen Bearbeitung der Ursachen des Kriegsendes 1918 beispielsweise bei Carla von Boxtel, die damit ihre Konzeptualisierung eines Historical Reasoning konkretisiert. Dies. (Ed.): Insights from Dutch Research on History Education. Historical Reasoning and a Chronological Frame of Reference. In: Köster/Thünemann/Zülsdorf-Kersting (Anm. 7), S. 236–262, insbes. S. 246–249. 26 Kuchler/Sommer (Anm. 15), S. 230. – Zu optimistisch fallen jüngst vorgelegte empirische Befunde „metakognitiv-diskursiver Qualität von Geschichtsstunden“ aus, da diese kaum auf die Triftigkeit der verhandelten fachlichen Inhalte eingehen: Meik Zülsdorf-Kersting/AnnaKatharina Praetorius: Geschichtsunterricht zuverlässig beurteilen. Vorstellung eines Beobachtungsinstruments zur Bestimmung von metakognitiv-diskursiver Unterrichtsqualität. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 250–265.

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Zu den Beiträgen dieser Sektion Da im Geschichtsunterricht immer auch schreibend und lesend gelernt wird und nachdem die erste PISA-Studie die Leseförderung aufgewertet hat, widmete sich die Geschichtsdidaktik in den letzten Jahren vermehrt dem integrativen Fachund Schreiblernen. So verstandene, am historischen Verstehen ausgerichtete Lesestrategien werden im ersten Beitrag von Saskia Handro empirisch begründet und systematisiert vorgestellt. Aus dem methodischen Blickwinkel eines binnendifferenzierten und sprachsensiblen Unterrichts plädiert sie dafür, diese fachgebundenen Lesestrategien als epistemische Instrumente der Planung und Steuerung historischer Lehr- und Lernprozessen anzuwenden. Empirisch wird vorgeführt, dass sich so die besonderen begrifflichen, narrativen und perspektivischen Schwierigkeiten, die das Textverstehen im Geschichtsunterricht bereitet, nicht nur leichter aushalten, sondern auch bewältigen lassen. Multiperspektivität gehört als Schulweisheit zu den angesehensten und schon länger etablierten geschichtsdidaktischen Prinzipien, die Schüler/innen im Unterricht praktisch erleben. Wenig gefragt wurde bislang nach den Zielen dieser konfrontativen, argumentativen Montage und Form westlichen Denkens, die über den Geschichtsunterricht hinausreichen, und ob die Verpflichtung zur Standpunktsensibilität und Reflexivität Effekte mit sich bringt, die seitens der Lernenden nicht erwünscht sein könnten. Im Rückgriff auf die Geschichte erkenntnistheoretischer Annahmen seit der Antike zeigt Stefan Benz, dass Perspektivität selbst ein kulturelles Konstrukt ist und damit sowohl auf der Ebene des konkreten Mediums als auch der Metaebene des Narrativen anzusiedeln ist. Er plädiert für ein vertieftes Verständnis multiperspektivischen Lernens, bei dem standpunktgebundene Deutungen nicht nur aus sozialen Positionen heraus, sondern auch aus bestimmten, ferner zugeschriebenen Denkformen und Einstufungen von Wissen erklärt werden.27 Die Befassung mit epistemischen (theologischen, marxistischen, konstruktivistischen etc.) Fundamenten divergierender Perspektiven ziele demnach nicht nur auf besonders anspruchsvolle Denkleistungen, sondern setze auch die Bereitschaft voraus, die eigenen Denklogiken und kulturellen Bindungen einer Perspektivierung auszusetzen. In der Antizipation und Beurteilung, wie Unterricht (idealerweise) verlaufen soll, hat die Geschichtsdidaktik Abstand genommen von allgemeindidaktischen Modellen. Die beiden Beiträge von Philippe Weber und Jan Hodel lassen sich daher der Entwicklung fachspezifischer Verlaufskonzepte für den Geschichtsunterricht zuordnen. 27 Im Anschluss an Klaus Bergmann werden bislang vor allem soziale Kategorien hervorgehoben, wie Race, Class, Gender bei Martin Lücke: Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität. In: Ders./Barricelli (Anm. 6), S. 281–288, hier S. 284.

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Philippe Weber erörtert am thematischen Beispiel des „American Dream“, dass in jeder Geschichtsstunde neue „Stories“ produziert werden. Dabei seien in der Unterrichtskommunikation auch die Rollen zwischen Lehrenden und Lernenden als Erzähler immer wieder neu zu bestimmen und Übergänge von Nach-, Um- und Neuerzählungen zu finden. Das daraus abgeleitete offene Konzept eines dialogischen Erzählmodells verspricht den Unterrichtsverlauf – mehr als die verbreitete Praxis des „Stoffaufbaus“ – schülerorientierter zu rhythmisieren und zu komponieren. Der Beitrag von Jan Hodel fokussiert daran anschließend auf die Beurteilung von Unterricht und versucht die bisherigen, aufgrund einer hohen Anzahl von Kriterien eher unübersichtlichen Modelle in der Geschichtsdidaktik zu überwinden. Hodels Modell ist von den Wahrheitskriterien historischen Denkens abgeleitet, wie sie Jörn Ru¨ sen definiert hat: die narrative, die empirische und die normative Triftigkeit. Daraus ergeben sich drei Bezugspunkte, anhand derer sich Geschichtsunterricht als Ort geschichtlicher Erkenntnisprozesse einteilen, beobachten, beurteilen und damit auch planen lässt: die Kategorie „Erzählung“, die sich auf die Struktur des im Unterricht erkenntlichen historischen Erkenntnisprozesses bezieht, die Kategorie „Medien“ als empirisch zu validierende Grundlage an Quellen und Darstellungen und die Kategorie „Sinnbildung“, mit der gefragt werden kann, ob Sinnbildungen akzentuiert und expliziert werden und ob Raum fu¨ r unterschiedliche Sinnbildungen besteht.

Saskia Handro

Geschichte lesen, aber wie? Plädoyer für eine geschichtsdidaktische Profilierung von Lesestrategien

Warum sollte sich eine Debatte um zukunftsfähige Methoden des Geschichtsunterrichts im 21. Jahrhundert ausgerechnet dem Lesen widmen? Eine erste Antwort haben bereits Bodo von Borries u. a. gegeben: „Auch wenn man dem Fach Geschichte ins Stammbuch schreiben muss, dass es – wegen massiver Wandlungen der kulturellen Kommunikationsformen – auf keinen Fall ein reines ,Buchfach‘ bleiben kann, ist die Schlüsselbedeutung der Lesekompetenz für historisches Lernen unverkennbar“.1 Sicher : Geschichte war und bleibt ein ,Lesefach‘, denn Geschichte ist Text. Doch steht im Geschichtsunterricht nicht die Entwicklung von Lesekompetenz im Mittelpunkt. Hier gilt es, fachspezifische Lesestrategien zu vermitteln – wie die Quelleninterpretation bzw. Strategien kritischer Darstellungsanalyse. Diese Argumentation ist nicht neu: Sie entspricht der ,nach PISA‘ etablierten Unterscheidung zwischen Lesekompetenz und domänenspezifischen Kompetenzen. Die Modellierung von Lesekompetenz ruht auf kognitionspsychologischen Befunden und die Vermittlung von allgemeinen Lesestrategien bzw. die Leseförderung werden als Aufgaben des Deutschunterrichts gesehen.2 Unstrittig ist dagegen, dass mangelndes Textverstehen eine der größten Herausforderungen des Geschichtsunterrichts ist, und dass das Fach angesichts medialer, migrations- und inklusionsbedingter Veränderungen der Schülerschaft vor neuen Herausforderungen steht. 1 Bodo von Borries u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung im Deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005 (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Bd. 9), S. 16. 2 Vgl. u. a. Maik Philipp: Lesekompetenz – zur inhaltlichen und historisch veränderlichen Modellierung eines Hochwertbegriffes. In: Ulrich Riegel u. a. (Hrsg.): Kompetenzmodellierung und Kompetenzmessung in den Fachdidaktiken. Münster/New York 2015, (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 7), S. 29–42, hier besonders S. 31; s. a. Andrea Bertschi-Kaufmann (Hrsg.): Lesekompetenz, Leseleistung, Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. Seelze 2011; Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Förderung von Lesekompetenz – Expertise. Berlin/Bonn 2007.

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Saskia Handro

Der Beitrag reagiert damit auf ein Schlüssel- und Methodenproblem des Geschichtsunterrichts. Im Folgenden sollen die Notwendigkeit einer integralen Förderung literaler und fachlicher Kompetenzen begründet und Perspektiven einer geschichtsdidaktischen Profilierung von Lesestrategien vor allem in Bezug auf kontinuierliche Autoren- und historische Darstellungstexte entwickelt werden. Abschließend gilt es, kurz Konsequenzen für den Bereich der GeschichtslehrerInnenprofessionalisierung aufzuzeigen. Die hier vorzustellenden theoretischen Prämissen wurden im Rahmen eines vom BMBF geförderten Münsteraner Modellprojektes zur „Professionalisierung der Leseförderung im Geschichtsunterricht“ (ProLeGu) entwickelt.3

1.

Geschichte(n) lesen. Die Operationalisierung narrativer Kompetenz als geschichtsmethodisches Dauerproblem

Die Frage nach dem Verhältnis von Lesen und historischem Lernen muss zunächst als ungelöstes Operationalisierungsproblem eines kompetenz- und narrativitätsorientierten Geschichtsunterrichts ernstgenommen werden. HeinzElmar Tenorth avisierte bereits 2004, dass sich nach PISA die Trennung von literaler Grundbildung und domänenspezifischen Kompetenzen als Herausforderung erweisen würde. Denn der Schritt vom gegenstandsorientierten Inhaltslernen hin zum lernerorientierten Kompetenzerwerb setze voraus, dass man die epistemische Funktion des Schreibens und Lesens didaktisch nutzt, d. h. „den Lernprozess so zu gestalten, dass die Lernenden fähig werden, sich in der 3. Welt der Ideen, Theorien und historischen Erzählungen zu bewegen, also die Strukturen des Wissens und der Wissensproduktion selbst zu verstehen“. Jedoch dürfe man die Lernmöglichkeiten der Subjekte nicht überschätzen. Vielmehr müsse man „didaktische Wege zur Einlösung seiner Ambitionen zeigen“.4 Der ,Ruf‘ nach einer Methodik des Lesens im Geschichtsunterricht ist keineswegs neu.5 Bereits 1982 diskutierten Siegfried Quandt und Hans Süssmuth die Frage der Operationalisierung narrativer Kompetenz als „Darstellungs- und

3 Das Teilprojekt profitierte von der interdisziplinären Zusammenarbeit im Rahmen des vom BMBF finanzierten Teilprojektes „Praxisprojekte in Kooperationsschulen“ (PIK) der Qualitätsoffensive Lehrerbildung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 4 Heinz-Elmar Tenorth: Bildungsstandards und Kerncurriculum – Systematischer Kontext, bildungstheoretische Probleme. In: Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004) 5, S. 650–661, hier S. 659. 5 Vgl. in historischer Perspektive dazu Saskia Handro: Die Verfertigung der Geschichte beim Lesen. In: Judith Martin/Christoph Hamann (Hrsg.): Geschichte – Friedensgeschichte – Lebensgeschichte. Herbolzsheim 2007, S. 137–148, besonders S. 139–144.

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Vermittlungsfrage“6. Bekanntlich rückten dann die geschichtstheoretische und geschichtsmethodische Profilierung der Quellenarbeit als Fundament historischen Lernens in den Vordergrund. Gegen den Mainstream der Wissenschaftsund Quellenorientierung wandte Hilke Günther-Arndt ein, dass Rezeption und Konstruktion historischer Narrationen im Geschichtsunterricht nicht zu trennen sind. Daher sollte man der fachspezifischen Strukturierung von Rezeptionsprozessen mehr Aufmerksamkeit schenken. Lernende müssten die „Ordnung der Dinge nachvollziehen“, historische Aussagen gliedern, wichten und narrativ vermittelte Wissensbestände in ihre kognitive Struktur integrieren. Hintergrundnarrationen und damit verbundenes Kontextwissen seien die Voraussetzung für Rekonstruktionsleistungen bei der Quelleninterpretation.7 Die Integration und der Aufbau von Kontextwissen bei der Textrezeption erfordere daher eine fach- und lernpsychologisch angemessene „Methode historischen Lernens“.8 20 Jahre später konstatierte Günther-Arndt erneut: „Das Schreiben von oder das Lehren und Lernen mit Schulbuchtexten wird in der Geschichtsdidaktik kaum thematisiert.“9 Gerade weil der Geschichtsunterricht ein herausforderndes Lesefach sei, ist Lesekompetenz „Voraussetzung und Teil historischer Kompetenz“.10 Daher sollte die Geschichtsdidaktik ,nach PISA‘ das Anregungspotential der Lesekompetenzforschung nutzen und Lesen als Basiskompetenz historischen Lernens stärker in den Blick nehmen. Wie von Tenorth avisiert, rückt derzeit das ungeklärte Verhältnis literaler und historischer Kompetenzen erneut auf die Agenda – als theoretische Herausforderung der Modellierung historischer Lesekompetenz11, als unterrichtspragmatisches (Dauer)Problem12 und als empirisches Dilemma der deutschen und internationalen Kompetenzforschung.13 6 Siegfried Quandt/Hans Süssmuth: Zur Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Historisches Erzählen. Göttingen 1982, S. 5–9, S. 6. 7 Hilke Günther-Arndt: Der grüne Wollfaden oder Was heißt ,Geschichte erzählen‘ heute? Zu alten und neuen Problemen der Geschichtsdarstellung in Wissenschaft und Unterricht. In: GWU 36(1985)10, S. 684–704, S. 695. 8 Ebd., S. 696. 9 Hilke Günther-Arndt: Basiskompetenz Lesen – Lernen aus Fachtexten am Beispiel des Geschichtsunterrichts. In: Barbara Moschner/Hanna Kiper/Ulrich Kattmann (Hrsg.): PISA 2000 als Herausforderung. Perspektiven für Lehren und Lernen. Baltmannsweiler 2003, S. 139–156, hier S. 146. 10 Ebd., S. 143; Vgl. auch dies.: Literacy, Bildung und der Geschichtsunterricht nach PISA. In: GWU 56 (2005), S. 668–683. 11 Vgl. Matthias Hirsch: Geschichte (er-)lesen. Überlegungen zu domänenspezifischen Lesemodi und -prozessen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2015, S. 136–153. 12 Vgl. die berechtigte Kritik der Fachleiterin Kerstin Lochon-Wagner : Quo vadis? Tendenzen in der Geschichtsdidaktik und im Geschichtsunterricht in Nordrhein-Westfalen – Eine Problemskizze. In: Seminar – Lehrerbildung und Schule 24 (2018) 1, S. 100–109, hier S. 107. 13 Vgl. dazu u. a. Kadriye Ercikan/Peter Seixas: Introduction: The New Shape of History Assessments. In: Ercikan Kadriye/Peter Seixas (ed.): New directions in assessing historical

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2.

Saskia Handro

Leseförderung im Geschichtsunterricht? Umgang mit Heterogenität als bildungspolitische Herausforderung

Strategiebasiertes Textverstehen gehört jedoch nicht allein als Operationalisierungsproblem der Kompetenzorientierung auf die geschichtsdidaktische Agenda. Eine fachintegrierte Leseförderung gewinnt als methodischer Baustein subjektorientierten und differenzierenden Geschichtsunterrichts an Bedeutung.14 So muss der Geschichtsunterricht auf die migrationsbedingten Herausforderungen der Mehrsprachigkeit reagieren. Vor allem VertreterInnen der interkulturellen Pädagogik15 haben wiederholt angemahnt, dass im Fachunterricht literale Kompetenzen von Lernenden mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) weder berücksichtigt noch gefördert, sondern implizit vorausgesetzt werden. Diese strukturelle Benachteiligung müsste als politische Frage der Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit in einer Migrationsgesellschaft ernst genommen werden. Die Fächer seien gefordert, bildungssprachliche Kompetenzen fachintegral zu vermitteln und dürften diese Aufgabe nicht an den Deutschunterricht delegieren.16 Zudem wächst angesichts der Inklusion von Lernenden mit Förderschwerpunkt geistige und sprachliche Entwicklung das Bewusstsein dafür, dass ein quellen- und narrativitätsorientierter Geschichtsunterricht vielfältige sprachliche Hürden birgt. Wie Bettina Alavi diskutierte, muss für Lernende mit Förderbedarf ein Kompromiss zwischen Textvereinfachung und historischem Kompetenzerwerb gefunden werden, um die Teilhabe am ,Lesefach‘ Geschichte überhaupt zu ermöglichen.17 Darüber hinaus sehen auch GeschichtslehrerInnen Lesekompetenz als basale Voraussetzung für einen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht.18 Sie

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17 18

thinking. New York/London 2015, S. 1–13, hier S. 6; Abby Reisman: The difficulty of assessing disciplinary historical reading. In: Ebd., S. 29–39. Vgl. dazu vor allem Christoph Ku¨ hberger/Elfriede Windischbauer : Literacy als Auftrag? Zur Förderung bei Leseschwa¨ che im Geschichtsunterricht. In: Geschichte lernen 2009/131, S. 22–29, hier S. 22–24. Vgl. Gesa Siebert-Ott: Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg. In: Georg Auernheimer (Hrsg.): Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder. 5. Aufl. Wiesbaden 2013, S. 145–160. Vgl. ausführlicher dazu Saskia Handro: „Sprachsensibler Geschichtsunterricht“. Systematisierende Überlegungen zu einer überfälligen Debatte. In: Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven (Geschichtsdidaktik diskursiv –Public History und historisches Denken, Bd. 1). Frankfurt/ M. 2016, S. 265–296, hier S. 275–277. Vgl. dazu Bettina Alavi: Leichte Sprache und historisches Lernen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 169–190. Vgl. dazu die empirischen Befunde einer österreichischen Lehrerbefragung zur Kompe-

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fühlen sich jedoch nur unzureichend auf die Herausforderungen der Mehrsprachigkeit vorbereitet.19 Zudem erweist sich die Trennung von literalem und fachlichem Lernen als Professionalisierungshemmnis. Begleitforschungen zu Leseförderprogrammen belegen, dass (Sach)FachlehrerInnen einer allgemeinen Leseförderung skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Einer der Gründe liegt in der fehlenden „Passung von Zielen und Methoden einzelner Schulfächer und ihren dort im Unterrichtsalltag üblichen Fördermaßnahmen und der allgemeinen Lesedidaktik“.20 Und nicht zuletzt entwickelt sich die ausstehende Integration von literaler und historischer Kompetenzentwicklung zu einem Dilemma der Schulbuchkonstruktion und möglicherweise auch der Schulbuchnutzung. Im Spannungsfeld zwischen sprachlichen und fachlichen Kompetenzen lässt sich derzeit eine Ausdifferenzierung der Geschichtslehrwerke beobachten. Und es stellt sich die Frage, ob GeschichtslehrerInnen angesichts sprachlicher Problemlagen methoden- und kompetenzorientierte Lehrwerke einsetzen oder vermehrt auf sprachsensible Schulgeschichtsbücher21 oder auf Lehrwerke in ,Einfacher Sprache‘22 zurückgreifen, weil ihnen die Expertise für eine fachintegrierte Leseförderung fehlt. Angesichts dieser Entwicklungen sieht sich die Geschichtsdidaktik gefordert, literale Basiskompetenzen wie Lesen und Schreiben als fachliche Lernvoraussetzungen zu berücksichtigen und eine differenzierende Leseförderung von sprachschwachen LernerInnen als Qualitätsmerkmal heterogenitätssensiblen Geschichtsunterrichts zu profilieren.23

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tenzorientierung von Roland Bernhard/Christoph Kühberger : Domänen(un)spezifisch – Empirische Befunde zum Kompetenzverständnis von Geschichtslehrpersonen. Erscheint in: Monika Waldis/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 17 (eingereichtes Manuskript lag der Autorin zur Einsicht vor). Vgl. Michael Becker-Mrotzek u. a.: Sprachförderung in deutschen Schulen – die Sicht der Lehrerinnen und Lehrer. Ergebnisse einer Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern. Köln 2012. Elmar Souvignier/Maik Philipp: Implementation – Begrifflichkeiten, Befunde und Herausforderungen. In: Dies. (Hrsg.): Implementation von Lesefördermaßnahmen. Perspektiven auf Gelingensbedingungen und Hindernisse. Münster 2016, S. 9–22, hier S. 134. Vgl. Christiane Dzubiel: Zeitreise 1. Arbeitsheft Sprachförderung Kl. 5/6. Stuttgart 2017. Vgl. Christine Fink u. a.: Klick! Geschichte, Erdkunde, Politik. Arbeitsheft Kl. 5–9. Stuttgart 2017. Vgl. dazu Saskia Handro: Sprache und Diversität im Geschichtsunterricht. In: Bettina Alavi u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Erscheint Schwalbach/Ts. 2018.

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3.

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Lesen als historischer Sinnbildungs- und Lernprozess. Systematisierung empirischer Befunde

Für eine geschichtsdidaktische Profilierung von Lesestrategien ist, neben einer Sensibilisierung für die Kluft zwischen Leseanforderungen und Leseleistungen,24 die Systematisierung von Textverstehensfaktoren grundlegend, um Möglichkeiten, Ziele und Grenzen fachintegrierter Leseförderung zu diskutieren. Die Leseforschung unterscheidet vier Faktoren, die das individuelle Textverstehen beeinflussen – die Beschaffenheit des Textes, die Merkmale des Lesers, die Leseanforderungen sowie die Aktivitäten des Lesers.25 (Vgl. Abb. 1)

Abbildung 1: Determinanten der Lesekompetenz (Aus: Bundesministerium 2007, wie Anm. 2, S. 12)

Die geschichtsdidaktische Textverstehensforschung hat sich bislang vor allem auf textseitige und leserseitige Faktoren konzentriert. Neben historischen Begriffen und der Quellensprache26 stellen die Informationsdichte, das Abstrak24 Vgl. dazu vor allem Bodo von Borries/Andreas Körber/Johannes Meyer-Hamme: Reflexiver Umgang mit Geschichts-Schulbüchern? Befunde einer Befragung von Lehrern, Schülern und Studierenden 2002. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2 (2013), S. 114–136. 25 Vgl. dazu u. a. Ursula Christmann/Norbert Groeben: Psychologie des Lesens. In: Bodo Franzmann u. a. (Hrsg.): Handbuch Lesen. Baltmannsweiler 2001, S. 145–223, sowie Bundesministerium 2007 wie Anm. 2, S. 12–41. 26 Vgl. Martina Langer-Plän: Problem Quellenarbeit. Werkstattbericht aus einem empirischen Projekt. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 319–336; Dies./Helmut

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tionsniveau, die mangelnde narrative Kohärenz von Autorentexten sowie die intertextuelle Struktur der Lehrbücher fachspezifische textseitige Herausforderungen dar.27 Zudem werden Lernende mit wechselnden narrativen Strukturen (chronologisch, typologisierend, strukturgeschichtlich) konfrontiert. Das heißt, für SchülerInnen sind nicht nur die Inhalte oder der themenbezogene Wortschatz neu, sondern auch die fachspezifischen ,Textgrammatiken‘. Komplex sind die leserseitigen Faktoren, die historisches Textverstehen beeinflussen. Neben der Lesefähigkeit und Leseflüssigkeit oder sprachlichen Kompetenzen spielen die Lesemotivation, das thematische Interesse, aber auch fachbezogene epistemische Konzepte (z. B. Unterscheidung zwischen Quelle und Darstellung)28, konzeptionelles Vorwissen sowie deklarative und prozedurale Wissensbestände eine Rolle. Dass sich historisches Textverstehen nicht allein als kognitiver Prozess beschreiben lässt, hat u. a. Manuel Köster herausgestellt.29 Subjektgebundene Identitätsbedürfnisse, vorgängige Werturteile oder Imaginationen beeinflussen die Bildung mentaler Modelle. Korrespondierend mit Befunden der Leseforschung darf man Textverstehen daher nicht als einen ,Top-Down‘ Prozess verstehen und davon ausgehen, dass Lernende nach dem Arbeitsauftrag „Lest den Text und fasst den Inhalt zusammen!“ zu einer angemessenen Repräsentation der ,wichtigen‘ Textaussagen gelangen. Textverstehen muss nach Walter Kintsch30 als komplexe und prozesshafte Text-Leser-Interaktion wahrgenommen werden. Zudem hängt die mentale Modellbildung von den Lesezielen bzw. -anforderungen (z. B. informierendes Lesen zur Informationsentnahme, reflexives Lesen) ab. Daher sollte man sich vergegenwärtigen, dass Quellen- und Darstellungskritik oder der Vergleich von historischen Narrationen bzw. das Erschließen unterschiedlicher Quellenperspektiven hierarchiehohe reflexive Verste-

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Beilner: Zum Problem historischer Begriffsbildung. In: Hilke Gu¨ nther-Arndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006, S. 215–249. Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Was macht ein Schulbuch zu einem Geschichtsbuch? Ein Versuch über Kohärenz und Intertextualität. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. Berlin 2006, S. 15–38; Christian Mehr/Kerstin Werner : Geschichtstexte verstehen. Sinnerschließendes Lesen als historisches Lernen. Geschichte lernen (2012) 148, S. 2–11. Vgl. Matthias Martens: Implizites Wissen und Kompetentes Handeln: Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzen historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte. Göttingen 2010. Vgl. u. a. Manuel Köster : Mehr als Informationstransfer. Textverstehen, Identität und historische Kompetenzen. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte. Berlin 2016, S. 169–186. Walter Kintsch: The role of knowledge in discourse comprehension. A construction-integration-model. In: Psychological Review 95 (1988), S. 163–182.

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hensleistungen und komplexe Problemlösungskompetenzen erfordern,31 und dass reflexive Leseanforderungen im Geschichtsunterricht die Regel sind. Dem vierten Faktor, den Lesestrategien, hat die geschichtsdidaktische Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Lediglich Gerhard HenkeBockschatz problematisierte im Ergebnis einer explorativen Studie, dass allgemeine Lesestrategien wie das ,Unterstreichen von Schlüsselwörtern‘ oder ,Fragen an den Text stellen‘ nur bedingt fachspezifisches Textverstehen fördern, da bereits die Auswahl, Wichtung und Bewertung von Textaussagen fachspezifisches Vorwissen voraussetzt.32 Dass der Einsatz von Lesestrategien ohne fachdidaktische Vorstrukturierung nicht zur Ausdifferenzierung oder Veränderung bereits nach der Erstlektüre aufgebauter mentaler Modelle führt, und dass aus der Schülervorstellungsforschung bekannte alltagsweltliche Schemata (z. B. Personalisierung, Geschichte sind Daten und Fakten) die mentale Modellbildung beeinflussen, bestätigte eine begleitende Textverstehensstudie im Rahmen des „ProLeGu-Projektes“ in der Jahrgangsstufe 6. Das Plädoyer für eine fachintegrierte Leseförderung folgt daher der Prämisse, dass Lernende im Geschichtsunterricht zunächst Lesenovizen sind, die – im Sinne einer Lernprogression – durch strategiebasiertes Textverstehen in komplexe narrative Sinnbildungs- und Denkstrukturen eingeführt werden. Denn erst im Lese- und damit auch im Lernprozess wird eine „semantische Textbedeutungsstruktur aufgebaut“, die vom vorgegebenen Text und der „Kognitionsstruktur des/der Rezipienten/tin“33 abhängt und damit immer auch domänenspezifisch erfolgt. Aus der Diskussion um historisches Begriffsverstehen ist dies bekannt und wurde als Problem historischer Begriffsbildung schon vielfach diskutiert.34 Weniger bewusst sind dagegen die fachspezifischen Semantiken auf der Satz- und Textebene, mit denen historischer Sinn und fachspezifische Konzepte repräsentiert werden – wie narrative Grundmuster historischen Erzählens (z. B. chronologisch, strukturgeschichtlich, exemplarisch oder kritisch), syntaktische Relationen, die z. B. Temporalität oder Kausalität zum Ausdruck bringen, aber auch die fachliche Bedeutung des Passiv- und Konjunktivgebrauchs oder sprachliche Strukturen der Werturteilsbildung. ,Experten‘ nutzen diese sprachlichen Marker automatisch beim Textverstehen. SchülerInnen als ,Lesenovizen‘ im Fach müssen diese sprachlichen Muster explizit vermittelt und 31 Vgl. zu Leseanforderungen aus kognitionspsychologischer Perspektive Bundesministerium 2007 (Anm. 2), S. 21–23. 32 Vgl. Gerhard Henke-Bockschatz: Viel benutzt, aber auch verstanden? Arbeit mit dem Schulgeschichtsbuch. In: Geschichte lernen 20 (2007) 116, S. 40–45. 33 Christmann/Groeben wie Anm. 25, S. 162. Vgl. auch zur semantisch bedingten Domänenspezifik des Lesen Cornelia Rosebrock/Daniel Nix: Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. Baltmannsweiler 2013, S. 75–88. 34 Vgl. Langer-Plän/Beilner (Anm. 26).

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die Anwendung fachlicher Kategorien und Prinzipien sollte strategiebasiert eingeübt werden, damit Lernende diese fachlichen Kompetenzen für eine angemessene mentale Modellbildung nutzen können. Im Sinne einer Problemsensibilisierung dürfte deutlich geworden sein, dass eine allgemeine Lesekompetenz keine hinreichende Voraussetzung für historisches Textverstehen ist. Vielmehr setzt historische Lesekompetenz neben methodischen Kompetenzen, Wissen über Modi historischer Begriffsbildung sowie über grammatikalische, syntaktische und semantische Strukturen historischen Erzählens voraus, und es verlangt die Anwendung historischer Kategorien (Zeit, Wandel, Kausalität) oder Prinzipien historischen Denkens (Selektivität, Perspektivität). Im Geschichtsunterricht lernen SchülerInnen also nicht Lesen, sondern im Paradigma des narrativitäts- und kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts gewinnt fachintegriertes und strategiebasiertes Lesen als rezeptiver historischer Denk- und Lernprozess an Bedeutung.

4.

„Historical Literacy“ als geschichtsdidaktisches Modell? Anregungen der angloamerikanischen Literacy-Debatte

Die vorangegangenen Argumente für eine fachintegrierte Leseförderung sollen nun in einen größeren Diskurskontext gestellt werden – in den Kontext der mittlerweile mehrere Dekaden währenden angloamerikanischen ,Literacy-Debatte‘. Auch hier wurden Fragen einer Integration von ,Literacy‘ und ,Content‘ breit diskutiert35 und mit nationalen Leseförderprogrammen36 flankiert. Die angloamerikanische Debatte um „Historical Literacy“ folgte zunächst nicht geschichtstheoretischen Prämissen, sondern sie war lernpsychologisch ausgerichtet. Damit ist zugleich der Unterschied zum deutschsprachigen Diskurs markiert: Das Konzept der „Historical Literacy“ integriert literalen und domänenspezifischen Kompetenzerwerb. Für die geschichtsdidaktische Profilierung strategiebasierten Textverstehens sind vier Prämissen der angloamerikanischen Debatte um ,Disciplinary Literacy‘ grundlegend. 1) Fachspezifische Textverstehensprozesse können nicht allein auf der Basis allgemeiner Lesestrategien gefördert werden, da sich Textverstehensprozesse und Lesestrategien der Wissenschaftsdomänen in Bezug auf Prozesse der 35 Vgl. zu den Ergebnissen der Leseforschung Elizabeth Birr Moje: Developing socially just subject-matter instruction: A review of the literature on disciplinary literacy teaching. In: Review of Research in Education 31 (2007), S. 1–44. 36 Vgl. u. a. Rafael Heller/Cynthia Greenleaf: Literacy instruction in the content Areas: Getting to the core of middle and high School improvement. Washington 2007.

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Bedeutungskonstruktion, der Prozeduren, Strategien und Diskursregeln unterscheiden.37 Aufbauend auf dieser Argumentation entwickelten Timothy Shanahan und Cynthia Shanahan ein Progressionsmodell, in dem sie zwischen einer Basic Literacy, einer fächerübergreifenden und für den Wissenserwerb grundlegenden Intermediate Literacy und einer domänenspezifischen Disciplinary Literacy unterscheiden.38 ,Disciplinary Literacy‘ als Ziel weiterführender Bildungsprozesse folge der Epistemologie der Fächer und bildet daher den Kern fachlichen Lernens.39 2) Strategiebasiertes historisches Textverstehen, d. h. ,historical literacy‘ ist ein domänenspezifischer epistemischer Erkenntnis- und Lernprozess. Dies belegen nicht nur die Experten-Novizen-Studien von Sam Wineburg.40 Charles Perfetti et al.41 oder Bruce VanSledright42 profilierten in ihren Interventionsstudien mit SchülerInnen historische Lesestrategien als fachspezifische Denkinstrumente und Problemlösungsstrategien, z. B. im Umgang mit Kontroversität, historischer Urteilsbildung oder bei der Lektüre multipler Texte. 3) Wissensdomänen und damit auch Unterrichtsfächer unterscheiden sich im Gebrauch und in der Funktion sprachlicher Mittel, Textsorten und Diskursfunktionen. Vertreterinnen der funktionalen Linguistik wie Caroline Coffin43 oder Mary Schleppergrell44 unterstreichen im Ergebnis von linguistischen Textanalysen, dass historische Semantiken der Zeit oder Ursache-Folge-Beziehung aber auch sprachliche Muster der Werturteilsbildung für Lernende 37 Cynthia L. Greenleaf u. a.: Apprenticing adolescent readers to academic literacy. In: Haward Educational Review 71(2001)1, S. 79–129, S. 88. 38 Vgl. Timothy Shanahan/Cynthia Shanahan: Teaching disciplinary literacy to adolescents: Rethinking content area literacy. Harvard Education Review 78 (2008), S. 40–59, hier besonders Modell S. 44. 39 Vgl. Dies.: What is Disciplinary Literacy and Why Does It Matter? Top Lang Disorders 32 (2012)1, S. 7–18. 40 Vgl. Sam Wineburg: Historical problem solving: A study of cognitive processes used in the evaluation of documentary and pictorial evidence. In: Journal of Educational Psychology 83 (1991)1, S. 73–87; Ders.: Reading Abraham Lincoln: An expert-expert study in the interpretation of historical texts. In: Cognitive Science 22 (1998), S. 319–346; Ders.: On the reading of historical texts: Notes on the breach between school and academy. In: Ders.: Historical thinking and other unnatural Acts. Charting the future of teaching the past. Philadelphia 2001, S. 63–112. 41 Vgl. Charles Perfetti/M. Anne Britt/Mara C. Georgi: Text-based learning and reasoning: Studies in history. Mahwah, NJ 1995. 42 Vgl. Bruce VanSledright: In search of America’s past: Learning to read history in elementary school. New York 2002. 43 Vgl. Caroline Coffin: Historical discourse. The language of time, cause and evaluation. New York 2006. 44 Vgl. Mary J. Schleppegrell, M. (2004): The language of schooling. A functional linguistic perspective. Mahwah 2004, hier besonders S. 1–42.

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in ihrer fachspezifischen Bedeutung strategisch erschlossen und expliziert werden müssten, sonst bliebe die Sprache der Fächer ein ,geheimes Curriculum‘. 4) Die Vermittlung von Lesestrategien ist Teil historischen Kompetenzerwerbs und verlangt von GeschichtslehrerInnen fachspezifisches Professionswissen zur Leseförderung. Im Sinne einer „literacy apprenticeship“45 müssten Lehrkräfte Lesestrategien im Fach explizit vermitteln, anwenden und in ihrer fachlichen Funktion reflektieren. Nur auf diesem Wege gelingt es, Textverstehen in den Fächern zu ,demystifizieren‘. Der fachintegrierte Einsatz sowie die Vermittlung von fachlich profilierten Lesestrategien gehört folglich zu einer Methodik des Geschichtsunterrichts.46 In Bezug auf die Methoden der Quelleninterpretation oder die Arbeit mit multiplen Quellen- und Darstellungstexten (Intertextualität) stellen die dem Modell der ,historical literacy‘ folgenden historischen Lesestrategien keine Neuentdeckung dar. Dennoch können zwei Unterschiede zum deutschsprachigen Diskurs herausgestellt werden: Zum einen ist das Konzept der ,Historical Literacy‘ empirisch und nicht allein geschichtstheoretisch fundiert. Zum anderen beschränkt sich ,Historical Literacy‘ nicht auf methodische Verfahren der Quellen- und Darstellungskritik, sondern es integriert lese- und kognitionspsychologische Ansätze. Gerade die Aktivierung von Vorwissen, die Strukturierung und Wichtung von historischen Informationen und Urteilen sowie die Elaboration von fachlichen Kategorien und Konzepten erhält somit besonderes Gewicht und zudem werden linguistische Ansätze fachlich integrierter Sprachförderung genutzt.

5.

Lesestrategien als Lehr- und Lernwerkzeuge. Geschichtsdidaktische Profilierung

Im Blick auf die angloamerikanische Debatte gewinnen Lesestrategien als domänenspezifische Lernstrategien an Profil. Dies ist auch anschlussfähig an deutschsprachige lesedidaktische Modellierungen u. a. von Marion Bönninghausen und Katja Winter, die Lesestrategien als methodische Instrumente des Lehrers bzw. „,mentale Werkzeuge‘ des Lerners“ definieren, „die für die Planung, 45 Greanleef u. a. (Anm. 36), S. 89; s. a. Einleitung bei Peter Smagorinsky (ed.): Teaching Dilemmas & Solutions in Content-Area Literacy. Corwin 2014, besonders S. XIV. 46 Vgl. dazu vor allem Chauncey Monte-Sano/Denis Miles: Toward Disciplinary Reading and Writing in History. In: Smagorinsky, ebd. Peter (Ed.): Teaching Dilemmas & Solutions in Content-Area Literacy, S. 29–56.

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Steuerung und Verläufe von Textverständnis eingesetzt werden […] und die Aufgabe haben, Informationen eines Textes zugänglich zu machen“.47 Der Lernpsychologe Maik Philipp stellt die kognitiv-epistemische Funktion noch deutlicher heraus, da Lesestrategien genutzt werden, um gezielt neues Wissen auszuwählen, zu organisieren, zu integrieren und zu sichern.48 Für eine Leseförderung im Geschichtsunterricht scheint es angesichts der Vielzahl von Lesestrategien naheliegend, eine Top Ten der Lesestrategien zu benennen – wie beispielsweise Josef Leisen in seiner Methodik des ,Sprachsensiblen Fachunterrichts‘.49 Im Folgenden geht es jedoch darum, den Zusammenhang zwischen strategiebasiertem Textverstehen und historischem Lernen zu begründen. Daher stehen hier nicht konkretisierend-methodische, sondern systematisierend-didaktische Überlegungen im Vordergrund. Diese bilden den Reflexionsrahmen für eine geschichtsdidaktische Begründung und Adaption von Lesestrategien. Zunächst gilt es, Lesestrategien entlang ihrer jeweils kontext- und prozessabhängigen kognitiv-epistemischen Funktion zu klassifizieren. Hier unterscheidet die lernpsychologische Forschung im Wesentlichen fünf Strategietypen, die auch geschichtsunterrichtlich relevant sind.50 (Vgl. dazu Abb. 2) – Stützstrategien, wie die Berücksichtigung des Zeitmanagements, den Aufbau von Lesemotivation bzw. der Einsatz von Visualisierungshilfen (z. B. Bildquellen, Rekonstruktionszeichnungen, Schaubilder); – Organisationsstrategien, die dabei helfen, historische Informationen zu erschließen (z. B. Zeitleiste, Textmarkierungen, Randnotizen) bzw. die Struktur der historischen Narration zu rekonstruieren (z. B. Teilüberschriften, Randglossen, schriftliche Zusammenfassungen von Textabschnitten); – Elaborationsstrategien, die dazu dienen, Textaussagen zu wichten, zu beurteilen und zu neuen Wissensstrukturen zu integrieren (z. B. Strukturlegetechnik, Concept Map, Definition von Begriffen, tabellarische Systematisierung, Erweiterung mit Beispielen); – Wiederholungsstrategien beziehen sich auf ein zweites Lesen und werden zumeist in Kombination mit Organisations- und Elaborationsstrategien angewandt. – Metakognitive Strategien, die der Planung, Kontrolle und Überwachung bzw. ggf. der Modifikation des Strategieeinsatzes dienen (z. B. Formulieren von 47 Marion Bönninghausen/Katja Winter : Lesend lernen! Texte besser verstehen. Ein Trainingsprogramm. Bottrop 2012, S. 14. 48 Maik Philipp: Lesestrategien. Bedeutung, Formen und Vermittlung. Basel 2015, S. 42. 49 Die folgende Klassifikation orientiert sich an Philipp, ebd., S. 42–46; Rosebrock/Nix (Anm. 33), S. 64–68; Bundesministerium 2007 (Anm. 2), S. 29–31. 50 Vgl. Josef Leisen: Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. 1. Bd. Stuttgart 2013, S. 142.

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Leseabsicht und Leseerwartungen/Hypothesen; Nachschlagen von unbekannten Wörtern und Begriffen; Formulieren von Fragen an den Text). Diese ,allgemeinen‘ Lesestrategien müssen als epistemisch-methodische Instrumente zur Planung und Steuerung des historischen Lehr- und Lernprozesses geschichtsdidaktisch strukturiert bzw. profiliert werden (Vgl. Abb. 2), um Lernende beim Aufbau einer fachspezifischen Lesekompetenz zu unterstützen. In diesem Sinne gehören folgende Bausteine zur geschichtsdidaktischen Profilierung von Lesestrategien: – Im Geschichtsunterricht steuern historische Fragen die Selektion, Wichtung und Verknüpfung von Textinformationen im Leseprozess und unterstützen die mentale Modell-/Urteilsbildung. – Historische Kategorien (Zeit und Wandel, Kausalität, Raum, Akteure) und historische Begriffe (z. B. Revolution) fungieren als fachspezifische Werkzeuge lokaler Kohärenzbildung und elaborierender Wissensreorganisation beim Textverstehen im Geschichtsunterricht. Sie müssen durch Strategieeinsatz aufgebaut und angewendet werden. – Historische Sinnbildungsmodi werden durch sprachliche Mittel der fachspezifischen kausalen, modalen und temporalen Erkenntnisstrukturierung und sprachliche Konstruktionsprinzipien empirischer und narrativer Triftigkeit oder Werturteilsbildung repräsentiert. Diese müssen im Sinne fachspezifischer Semantisierung von GeschichtslehrerInnen explizit vermittelt werden. – Textsorten im Geschichtsunterricht weisen nicht nur genre- und gattungsspezifische Merkmale auf, sondern sie unterscheiden sich auch in Bezug auf ihre kommunikativ-didaktische, epistemische oder geschichtskulturelle Funktion, die es bei der strategiebasierten Strukturierung des Leseprozesses und der Sequenzierung des Materials zu berücksichtigen gilt. – Prinzipien historischen Denkens (u. a. Perspektivität, Selektivität, Konstruktivität) bilden das Fundament für fachspezifische Verfahren des Bewertens und Reflektierens von Quellen- und Darstellungstexten und sollten daher strategie- und textbasiert erschlossen werden. Lesestrategien werden zumeist sequentiell, d. h. in Kombination vor, während und nach dem Lesen eingesetzt. Insofern verstehen sich Strategiekenntnisse als geschichtsmethodisches Repertoire, das LehrerInnen in Abhängigkeit von der historischen Frage bzw. dem fachlichen Lernziel, der narrativen Struktur des Textes und der Sequenzierung des Materials sowie unter Berücksichtigung des Vorwissens und nicht zuletzt mit Blick auf die zur Verfügung stehende Lern- und Lesezeit einsetzen können. Das „Modell zum Einsatz von Lesestrategien im Geschichtsunterricht“ (Abb. 2) veranschaulicht daher, welche Lesestrategien in einzelnen Phasen des Leseprozesses eingesetzt werden können, und welche

Verstehensprobleme erkennen: – Glossar/ Wörterbuch einsetzen – Fragen notieren – andere Informationsquellen nutzen

Sinnzusammenhänge herstellen: – Teilüberschriften – Randnotizen Kategoriengeleitete Urteilsbildung: – Concept Map (z. B. wirtschaftl., soziale Ursachen) – Zeitstrahl (Dauer und Wandel) – Strukturlegetechnik – Scaffolding zur Analyse von z. B. Werturteilen Historische Urteile prüfen: – Interpretations- und Urteilsgespräch – offene/weiterführende Fragen formulieren – Vergleich mit Quellen/ Darstellungen

Während des Lesens II (Leseergebnisse systematisieren) Textverständnis prüfen: – Lückentext vorgeben – Urteilsfragen schriftlich beantworten

Abbildung 2: Modell zum Einsatz von Lesestrategien im Geschichtsunterricht

Heuristik Sachanalyse Urteilsbildung (Erkenntnisinitiation) (Informationssicherung) (Erkenntnisstrukturierung)

Vorwissen/-urteile aktivieren: – Mind-Map – Fragen- bzw. Ideencluster – Hypothesen formulieren – Planungsgespräch zum Strategieeinsatz Leseziele bestimmen: – historische Frage formulieren – informierendes Lesen o. Darstellungskritik – Lesestrategien modellieren

Vor dem Lesen Während des Lesens I (Vorwissen (Leseprozess aktivieren) steuern) Imagination/Leseer- Textaussagen wichten: wartungen aufbauen: – Textaussagen markieren – Bild – Karte – Analysefragen beantworten – Lebensweltbezug – Stichpunkte notieren

Darstellung und Diskurs (Erkenntnisreflexion)

Historische Deutungen reflektieren: – Narration expandieren (z. B. Quellenbezug, Gegenwartsbezüge) – Narration kritisieren (z. B. Leserbrief) – Pro-Contra-Diskussion

Darstellungskritik: – Evaluierende Fragen – Vergleich mit Quellen (Triftigkeit)/Darstellungen (Kontroversität) – Scaffolding zur Perspektivitätsanalyse oder Triftigkeit

Nach dem Lesen I (Leseergebnisse sichern und reflektieren) Leseergebnisse darstellen: – Textzusammenfassung formulieren – Lernplakat – Kurzvortrag

Historische Lesekompetenz (Metakognition)

Fachspezifik reflektieren: – Warum ist diese Lesestrategie im GU wichtig? – Metagespräch

Lesestrategien beurteilen: – Welche Strategien habe ich genutzt? – Wie haben sie mich unterstützt? – Bei welchen Texten oder Aufgaben kann ich sie erneut anwenden?

Nach dem Lesen II (Leseprozess und Strategieeinsatz reflektieren) Lernprozess beurteilen: – Kann ich die historische Frage beantworten? – Was habe ich neu gelernt/ kann ich nicht erklären?

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epistemisch-methodischen Funktionen die strategiebasierte Steuerung des Leseprozesses im Anschluss an den historischen Lehr- und Lernprozess hat. Zugleich sensibilisiert die Übersicht dafür, dass der Einsatz von Lesestrategien eben kein fachfremdes Addendum ist, sondern Lesestrategien sind dann Lernwerkzeuge im Fach, wenn sie methodisch reflektiert und lernzielorientiert zum Einsatz kommen.

6.

Prinzipien der Leseförderung im Geschichtsunterricht

Abschließend sollen übergeordnete Prinzipien geschichtsunterrichtlicher Leseförderung benannt und in Bezug auf ihre geschichtsmethodische Anschlussfähigkeit vorgestellt werden. Wenn man empirischen Befunden der Leseforschung folgt und angloamerikanische Konzepte der strategiebasierten Leseförderung der letzten Dekaden systematisiert,51 dann profitiert eine geschichtsunterrichtliche Leseförderung, wenn sie sechs didaktische Prinzipien berücksichtigt: 1) Das Prinzip der Leseprozesssteuerung geht davon aus, dass Lernende durch einen prozessbegleitenden Strategieeinsatz ausgehend von ihren Vorwissensstrukturen beim Aufbau fachlicher Konzepte vor, während und nach dem Lesen unterstützt werden (vgl. dazu bereits Abb. 2).52 2) Das Prinzip des Fragegeleiteten Lesens dient der Entwicklung historischer Fragekompetenz und kann auf unterschiedlichen Ebenen des Textverstehens eingesetzt werden. Zum einen steuern Analysefragen zum Text die Fokussierung auf relevante Begriffe, Ereignisse, Zusammenhänge oder historische Urteile. Fragen zur Urteilsbildung (z. B. nach Ursachen und Folgen) fördern die semantische Kohärenzbildung. Evaluierende Fragen der Quellen- und Darstellungskritik zielen im Sinne eines Scaffolding auf den Erwerb von Methodenkompetenz.53 3) Das Prinzip der Sprachlichen Sensibilisierung zielt auf den integralen Aufbau sprachlicher und fachlicher Kompetenzen. Diesem Prinzip folgt eine Vielzahl von Lesemethoden wie z. B. die Strukturlegetechnik oder ein Scaffolding zum Markieren historischer Zeitbegriffe und damit verbundener grammatikali51 Vgl. im Sinne einer Übersicht zu Lesestrategien im Geschichtsunterricht Janet Allen: Reading History. A practical guide to improving literacy. New York 2002; Maria C. Grant/Douglas Fisher : Reading and writing in science. Tools to develop disciplinary literacy. Thousand Oaks 2010. 52 Vgl. zu fächerübergreifenden Konzepten u. a. Anthony V. Manzo/Ula Manzo: Content area literacy. Interactive teaching for active learning. New Jersey 1997, S. 56–136. 53 Vgl. u. a. Jeffrey D. Wilhelm: Engaging Readers & Writers with inquiry. Promoting deep Understandings and the Content Areas with guiding questions. New York 2007.

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scher und syntaktischer Strukturen.54 Die Erschließung genre- und textsortenspezifischer sprachlicher Mittel hat Coffin mit ihrem ,Teaching-Learning Cycle‘55 fachspezifisch gewendet. Wie Gibbons entfaltet, spielen der fachintegrale Aufbau und die fachspezifische Unterstützung durch Wortgerüste (z. B. Lückentexte, Wortleisten) gerade bei der Förderung sprachschwacher LernerInnen eine große Rolle.56 4) Das Prinzip der Schreiborientierung basiert auf Befunden der Schreibforschung, nach denen Schreiben beim Lesen nicht nur im Sinne der Informationsspeicherung (z. B. Notizen zum Text), sondern als Denk- und Lerninstrument zur Elaboration und Integration von Wissensbeständen genutzt werden sollte (z. B. Textzusammenfassung, Fragen zum Text formulieren, Narration expandieren).57 Sicher wird das Schreiben häufig als zu zeitintensiv wahrgenommen, als Denk- und Lerninstrument zur Unterstützung des Textverstehens ist es jedoch auf allen Ebenen didaktisch sinnvoll. 5) Das Prinzip des diskursiv-kooperativen Lesens ist im Geschichtsunterricht grundlegend. Während das Schreiben den hermeneutischen Prozess individueller Sinnbildung beim Textverstehen und damit die narrative Kohärenzbildung des Lesers/der Leserin fördert, entspricht die Anschlusskommunikation58 dem konstruktivistisch-diskursiven Verständnis historischen Lernens. Daher erweisen sich neben unterschiedlichen Sozialformen Partnerund Gruppenarbeit, die von Wenzel modellierten Gesprächstypen (u. a. Brainstorming, Planungs-, Interpretations-, Urteilsgespräch, Diskussion oder Meta-Gespräch)59 als methodische Bausteine einer kommunikativ ausgerichteten Lesedidaktik im Geschichtsunterricht. 6) Das Prinzip der Metakognition (vgl. Abb. 2) zielt auf den expliziten Strategieerwerb und reflexiven Strategiegebrauch ab.60 GeschichtslehrerInnen sollten sukzessive die fachliche Funktion des Strategieeinsatzes explizieren 54 Vgl. u. a. Zhihui Fang/Mary Schleppegrell: Reading in secondary content areas. A languagebased Pedagogy. Michigan 2008, S. 39–63; Richard T. Vacca/Jo Anne L. Vacca: Content area Reading. Literacy and Learning across the curriculum. Boston u. a. 2008, S. 143–183. 55 Vgl. wie Anm. 42, S. 172f. 56 Vgl. Pauline Gibbons: Scaffolding language. Scaffolding learning. Teaching English Language in the Mainstream Classroom. Portsmouth 2015. 57 Vgl. Chauncey Monte-Sano/Susan De La Paz/Mark Felton: Reading, thinking, and writing about history : teaching argument writing to diverse learners in the Common Core classroom, Grades 6–12. New York 2014. 58 Vgl. u. a. Bundesministerium (Anm. 2), S. 41f. 59 Vgl. Birgit Wenzel: Über Geschichte kommunizieren. In: Hilke Günther-Arndt/Saskia Handro (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. 5., überarb. Neuaufl. Berlin 2015, S. 191–202. 60 Vgl. u. a. Marcus Hasselhorn: Metakognition und Lernen. In: Günther Nold (Hrsg.): Lernbedingungen und Lernstrategien. Welche Rolle spielen kognitive Verstehensstrukturen? Tübingen 1992, S. 35–63.

Geschichte lesen, aber wie? Plädoyer

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bzw. mit der Methode des „Reciprocal Teaching“ den Einsatz von Lesestrategien vorführen bzw. Lernende zur Reflexion ihres Leseprozesses und Strategieeinsatzes nach dem Lesen anhalten, damit die SchülerInnen Lesestrategien zunehmend eigenständig als Problemlösungsstrategien im Geschichtsunterricht nutzen. 7) Das Prinzip der Differenzierung fokussiert den/die Lernende/n als LeserIn und ist für einen heterogenitätssensiblen und differenzierenden Geschichtsunterricht grundlegend. Gleichwohl zeigt sich differenzierende Leseförderung als eine besondere Herausforderung. Sie setzt neben diagnostischen Kompetenzen die reflektierte Planung von Leseaufgaben und differenzierende strategiebasierte Strukturierung von Textverstehensprozessen voraus, um auch sprachschwache LernerInnen durch die Gestaltung adaptiver Leseaufgaben zu fördern. Die Beschaffenheit des Textes, die Leseanforderungen sowie der Strategieeinsatz zur Steuerung individueller Leseprozesse können daher aus geschichtsdidaktischer Perspektive als Planungsfelder zur differenzierenden Förderung historischer Lesekompetenz modelliert werden, die es gleichrangig zu berücksichtigen gilt. Die ,Differenzierungsmatrix zur individuellen Leseförderung‘ im Geschichtsunterricht (Vgl. Abb. 3), die im Rahmen des Teilprojektes „ProLeGu“ eingesetzt wird, versteht sich daher als geschichtsdidaktisches Planungs- und Reflexionsinstrument zur differenzierenden historischen Leseförderung. Sie berücksichtigt die Determinanten des Textverstehens (Vgl. Abb. 1) und offeriert unterschiedliche methodische Möglichkeiten, Lernende beim Textverstehen zu fördern aber auch zu fordern.

7.

Strategiebasiertes Lesen und Leseförderung im Geschichtsunterricht. Ein Fazit

Das Plädoyer für eine geschichtsdidaktische Profilierung allgemeiner Lesestrategien und Leseförderkonzepte folgte der Prämisse, dass der lernerorientierte Einsatz und die lernzielorientierte Vermittlung von Lesestrategien historische Denk- und Lernprozesse unterstützen können, gerade weil die Modellierung der Strategien nicht allein geschichtstheoretischen, sondern kognitionspsychologischen Prämissen folgt bzw. auf empirisch fundierte Strategieansätze zurückgreift. Die im Rahmen des Münsteraner Projektes „ProLeGu“ entwickelten theoretischen Grundlagen verstehen sich als geschichtsdidaktischer Reflexionsrahmen für die kontext- und an den Bedarfen der Lernenden orientierte Profilierung des Strategieeinsatzes im Geschichtsunterricht. Die notwendige fachlich und

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Saskia Handro

Reflexion des Leseprozesses

Lesetempo, Lesezeit

Sozialformen und Anschlusskommunika#on (Partner-, Gruppenarbeit)

Visualisierungshilfen (Bildquellen, Schaubilder, Grafiken, historische Karten)

Sprachliche Unterstützung (Glossar, Wörterbuch)

Scaffolding (historische oder methodische Fragen zum Text, Wortgeländer zur Seman#sierung etc.)

Cogni#ve Appre#ceship (Modellieren von historischen Lesestrategien, z. B. Quelleninterpreta#on)

Metakognition

Lesestrategien

Strategieeinsatz (z. B. Mind Map, Unterstreichen, Teilüberschri"en)

Sequenzierung des Materials (Einzeltext/Textvergleich; Kontextwissen)

(Faktoren/Auswahl)

Leseanforderungen

Operatoren und Denkopera#onen (z. B. Nennen, Erklären, Beurteilen // Mul#perspek#vität, Kontroversität)

Heterogenitätsface!en

Vereinfachung (Länge, Abstrak#on, Struktur, Hervorhebungen)

Differenzierungsmöglichkeiten

Textstruktur

Inhalte und thema#sches Interesse/Iden#tätsbezug

Lesermerkmale

Mo#va#on Vorwissen Lerntempo/ Konzentra#on Kultur Geschlecht Schülervorstellungen Deutsch als Zweitsprache (Spracherwerb) Mehrsprachigkeit (Sprachressourcen) Sprachlicher Förderbedarf Geis#ger Förderbedarf

Abbildung 3: Differenzierungsmatrix zur Leseförderung im Geschichtsunterricht

sprachlich integrale Planung von aufgabenbasierten Lesestrategien ist herausfordernd. Dies hat der Münsteraner Projektkontext gezeigt. Daher erweist sich eine kompetenz- und vor allem subjektorientierte Leseförderung als ein geschichtsdidaktisch neu zu profilierendes und unterrichtspragmatisch komplexes Diagnose-, Planungs- und Handlungsfeld. Folgt man den Befunden der Implementierungsforschung, dann erfordert eine fachintegrierte Leseförderung Zeit und sie setzt voraus, dass Inhalte und Methoden der Förderung den epistemischen Prämissen des Faches folgen sowie

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curricular und an didaktische Verfahren und Unterrichtsmethoden des Faches anschlussfähig sind. Begleituntersuchungen des „ProLeGu“-Projektes61 geben erste Hinweise darauf, dass eine fachintegrierte Leseförderung nicht als Addendum des Geschichtsunterrichts wahrgenommen wird, wenn Geschichtsstudierende im Kontext eigener Praxiserfahrungen den fachspezifischen Nutzen erkennen, über professionelle Kompetenzen in diesem Bereich verfügen und Praxiserfahrungen auch theoriebasiert in universitären Lehrveranstaltungen reflektieren. Daher wären auch Akteure der GeschichtslehrerInnenaus- und -fortbildung gefordert, Lesestrategien und Leseförderkonzepte fachdidaktisch zu wenden und als integralen Bestandteil geschichtsdidaktischer Professionalisierung zu begreifen – wenn man ,Leseförderung‘ nicht als lese- oder sprachdidaktische Domäne betrachtet, sondern als Kerngeschäft des kompetenz- und heterogenitätssensiblen Geschichtsunterrichts ,nach PISA‘ anerkennt.

61 Neben der Evaluation des Lehrkonzeptes „ProLeGu“ untersucht Vanessa Kilimann im Rahmen eines geschichtsdidaktischen Dissertationsprojektes die Effekte einer Theorie- und Praxisverzahnung für die Professionalisierung von Geschichtsstudierenden im Bereich fachintegrierter Leseförderung.

Stefan Benz

Multiperspektivität. Vom Prinzip des Geschichtsunterrichts zum Schlüsselkonzept der interkulturellen Kompetenz

Pluralismus, Vielgestaltigkeit, Buntheit oder weniger euphorisch Diversität oder Heterogenität1 gehören zu den Lieblingsvokabeln entweder der Selbsteinschätzung oder der Selbstbeschreibung vornehmlich westlicher Kulturen. Dabei bleibt meist unbeachtet, dass diese vermeintliche Buntheit offenbar kein Wert an sich ist, sondern ihrerseits auf einem kulturellen Grund ruht.2 Der Gegensatz ist daher nicht nur dialektisches Prinzip, sondern auch alltäglich nächst verwandt: Die Einheits- beziehungsweise Vereinheitlichungsrhetorik ist als tendenzieller Gegendiskurs deutlich vernehmbar, subkutan zwar in Hinblick auf die Gesellschaft insgesamt, aber umso klarer hörbar, wenn es um konkretes politisches Handeln abseits von Feiertagsrhetorik geht. Die Erziehungswissenschaften selbst veranschaulichen dieses Paradox, argumentieren sie doch zwischen Standardisierung einerseits, der Anerkennung und Gestaltung von Diversität andererseits. Handelt es sich um eine subtile Dialektik oder eine Konkurrenz? Oder findet doch eine klare Hierarchisierung statt, die Pluralität im Sinne der Postmoderne als Telos der Geschichte sieht, Einheitlichkeit hingegen nur als nachgeordnetes Werkzeug, die plurale Entfaltung erst ermöglichen soll?3

1 Die Bund-Länder-Vereinbarung über ein gemeinsames Programm „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ gemäß Artikel 91b des Grundgesetzes. In: BAnz AT 31. 05. 2015 B7, § 1 (1) d) definiert als (einziges) inhaltliches Programmziel die „Fortentwicklung der Lehrerbildung in Bezug auf die Anforderungen der Heterogenität und Diversität“. Vorliegender Beitrag wurde gefördert: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Qualitätsoffensive Lehrerbildung: Kulturelle und fachliche Diversität an der Universität Bayreuth. 2 Zur Problematik des Christentums im Pluralismus Christoph Schwöbel: Christlicher Glaube im Pluralismus: Studien zu einer Theologie der Kultur. Tübingen 2003, bes. S. 188–193. 3 Zum Gegensatz aus geschichtsdidaktischer Sicht Vadim Oswalt: Historisches Lernen zwischen Heterogenität und Standardisierung. In: Carl-Peter Buschkühle/Ludwig Dunker/Vadim Oswald (Hrsg.): Bildung zwischen Standardisierung und Heterogenität. Wiesbaden 2009, S. 167–192, hier S. 177–179.

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1.

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Multiperspektivität als Unterrichtsprinzip im Geschichtsunterricht

Die Geschichte und der Geschichtsunterricht sind in diesen wenigen, sehr thesenhaften Sätzen gleich mehrfach aufgerufen: Unterricht ist Teil der Bildungslandschaft, die den Zielen Vielfalt und Einheitlichkeit gleichermaßen verpflichtet ist, und Geschichte inkludiert jenen Teil der Bildung, der die Genese der Antipoden in einem legitimierenden oder relativierenden Narrativ erklären könnte. Außerdem ist der Gegensatz Basis des historischen Erzählens, das, epistemisch mit der Vielstimmigkeit der Überlieferungen konfrontiert, diese in die Einheit der Narration aufhebt. Eine Antwort bildet das längst europäisch4 arrivierte Unterrichtsprinzip Multiperspektivität, das von Klaus Bergmann, im Dialog mit anderen Fachvertretern wie Bodo von Borries, in seiner Monographie von 2000 etabliert und wie folgt definiert wurde. „Multiperspektivität heißt, sowohl auf der Ebene der Erfahrung und der Wahrnehmung durch die Zeitgenossen wie auch auf der Ebene der Deutung durch Nachgeborene als auch auf der Ebene der durch Erinnerung angeleiteten Orientierung in der Gegenwart und Zukunft viele unterschiedliche Sichtweisen zu beobachten, zu beachten und zu reflektieren.“5

Damit wird auf drei Ebenen der geschichtlichen Weltwahrnehmung und -verarbeitung Vielfalt aufgenommen und strukturell als Perspektivierung verstanden, sodass Vielfalt konkret den Unterricht zu organisieren vermag. Demnach kann Multiperspektivität im Geschichtsunterricht auf drei Ebenen stattfinden:6 Multiperspektivität im engeren Sinne, Kontroversität und Pluralität: Die drei Ebenen spiegeln in gewisser Weise die drei Denkoperationen wider, die Karl Ernst Jeismann in die Diskussion des Geschichtsbewusstseins einführte und die

4 Als Publikation des Europarats erschien Robert Stradling: Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts im Unterricht. Straßburg 2003, hier S. 151–172; Council of Europe (Hrsg.): The Reform of History Teaching in Schools in European Countries in Democratic Transition. Straßburg 1995, S. 16, 30f. 5 Klaus Bergmann: Multiperspektivität. Geschichte selber denken. Schwalbach /Ts. 2000, S. 12 (kursiv im Original). Vgl. auch Oliver Näpel: Geschichtsbewusstsein, Multiperspektivität und Geschichtsdidaktik. Wir und die ,Anderen‘ in Richtlinien und Schulbuch. In: Sabine Mecking/ Stefan Schröder (Hrsg.): Kontrapunkt. Vergangenheitsdiskurse und Gegenwartsverständnis. Festschrift für Wolfgang Jacobmeyer. Essen 2005, S. 183–200; Charlotte Bühl-Gramer : Differenzierung im Geschichtsunterricht. In: Maria Eisenmann/Thomas Grimm (Hrsg.): Heterogene Klassen – Differenzierung in Schule und Unterricht. Baltmannsweiler 2012, S. 192–201, hier S. 196. 6 Bergmann (Anm. 5), S. 29f.

Multiperspektivität. Vom Prinzip des Geschichtsunterrichts

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ein Jahrzehnt (1990–2000) recht einflussreich waren: Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil.7 Erste Ebene: Zeitgenossen verschiedener Schichten verarbeiten ihre Wirklichkeit, die uns heute nur noch in dieser Verarbeitung als Quelle vorliegt. Im Vergleich mehrerer Quellen gestaltet sich diese ehemalige Wirklichkeit als Historie. Damit ist philosophisch gesehen innerhalb des Denksystems Geschichte grundsätzlich eine Entscheidung für den gemäßigten Perspektivismus getroffen: Viele Perspektiven, aber eine Wirklichkeit, die in diesem retrospektiven Fall der Geschichte eine zugleich vergangene ist.8 Schwierig ist das erkenntnislogische Resultat dieser Multiperspektivitätsebene von Zeitzeugen (so deren epistemische Nomenklatur), schlicht gesagt der Narration, für die Vergangenheit als Geschichte zu bestimmen. Das zeigt schon der Vergleich mit einem Fußballspiel: Spieler und Zuschauer sehen das Geschehen um den Ball anders. Fasst man beide Sichtweisen zusammen, kommt der Ball nicht näher, noch wird das Geschehen objektiver, zumal sich die Frage nach dem dritten Beobachter, hier „man“, stellt. Doch ein Unterrichtsarrangement9 kann und will das daraus (auch) folgende geschichtstheoretische Problem nicht lösen, das das Verhältnis zwischen der (unvollständig) multiperspektivisch instruierten Narration und dem Erzählten umschreibt. Ankersmit hat dieses Verhältnis als „Aboutness“ bezeichnet,10 um seinen besonderen, eben nicht abbildenden Charakter herauszuarbeiten. Im Unterricht reicht es wohl, solche Metaphern zu eliminieren, wie beispielsweise, man könne sich der Vergangenheit annähern oder diese abbilden.11 Es zeigt sich aber bereits die Eingangsproblematik: Werden die Perspektiven vereinheitlicht? Wenn ja, was ist das wert, wenn, wie Ankersmit unterstreicht, das narrative Resultat eben nicht ins Resort der Epistemologie fällt? Für den Geschichtsunterricht kommt es hier weniger auf das Objekt, die Vergangenheit, an, sondern auf das Subjekt, das diese in einem Prozess kon-

7 Meines Erachtens findet sich die anschaulichste Darstellung bei Waltraud Schreiber : Das Geschichtsbewusstsein von Grundschülern fördern I: Die Konzeptionen Karl-Ernst Jeismanns, Jörn Rüsens und Hans-Jürgen Pandels für Grundschüler nutzbar machen. In: Dies. (Hrsg.): Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik, Bd. 1). Neuried 22004, S. 17–46, hier S. 26–28. 8 Gerald Bühring: Perspektive. Unsere Weltsicht in Psychologie, Philosophie und Kunst. Darmstadt 2014, bes. S. 72. 9 Z. B. Wolfgang Buchberger : Perspektivität – ein epistemologisches Basiskonzept im Geschichtsunterricht. In: Historische Sozialkunde (2016), H. 1, S. 19–28, und Simon Mörwald: Multiperspektivität und Kontroversität im Geschichts- und Politikunterricht. In: Ebd., S. 29–36. 10 Frank R. Ankersmit: Historical Representation. Stanford 2001, S. 11–13. 11 Vgl. Kalle Pihlainen: There’s just no talking with the past. In: Rethinking History 18 (2014), S. 575–582.

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struiert12 und sich seiner perspektivischen Bindung bewusst werden soll, womit die Multiperspektivität am Ende im Betrachter selbst verankert ist: Zur Unterrichts-Vorbereitung als multiperspektivisches Arrangement tritt der Unterrichtsprozess als Lernprozess: Bewusstwerdung als Selbstreflexivität wurde bekanntlich zu einem Schlüsselbegriff, als es um das Umschreiben dessen ging, was historisches Denken effektiv meint.13 Diese Erwartung, der Lerner werde sich mit seiner eigenen Perspektivität auseinandersetzen, gilt natürlich auch für die Ebenen Kontroversität und Pluralität. Dass dabei Theorie – die intellektuelle Einsicht bei Heranwachsenden – und Praxis – die Fähigkeit, entsprechend historisch zu denken – zu Ungunsten letzterer auseinanderklaffen, hat Bodo von Borries schon vor vielen Jahren empirisch gut belegt für den Geschichtsunterricht festgestellt.14 Ebenso mag es rein inhaltliche Wege geben, Standpunktsensibilität und Selbstreflexivität zu entwickeln.15 Hier kommt die Geltungsfrage ins Spiel: Selbstreflexivität gilt offenbar als gesetzt. Die Interaktion vom multiperspektivisch arrangierten Unterrichtsobjekt und dem Lerner im Sinne einer Erkenntnis über Analogie16 gilt auch für die zweite Ebene, die Kontroversität, auf der verschiedene Deutungen der Vergangenheit miteinander verglichen werden. Im deutschsprachigen Bereich war es lange Zeit üblich, dass protestantische und katholische Geschichtsdeutungen miteinander 12 Hrsg. v. Jochen Huhn: Theoretische Grundlagen. In: Vergangenes sehen. Perspektivität im Prozeß historischen Lernens. Theorie und Unterrichtspraxis von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II (Arbeitshilfen für die politische Bildung). Bonn 1995, S. 15–42, hier S. 36f. und seitdem von vielen, jüngst z. B. Bodo von Borries: „Subjektorientiertes“ Geschichtslernen ist nur als „identitätsreflektierendes“ wünschenswert. In: Heinrich Ammerer/Thomas Hellmuth/Christoph Kühberger (Hrsg.): Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2015, S. 93–129. 13 Im weit verbreiteten Kompetenzmodell der Gruppe FUER Geschichtsbewusstsein als Orientierungskompetenz bezeichnet. Schon historisch: http://www1.ku-eichstaett.de/GGF/Di daktik/Projekt/FUER.html (10. 03. 2018). Georg Auernheimer: Einführung in die interkulturelle Pädagogik. 7. überarb. Auflage. Darmstadt 2012, S. 31, 49, 53f., 60f., 69. 14 Bodo von Borries: Historische (Re-)Konstruktion, moralisches Urteil und bemerkter Wandel. In: Zur Genese historischer Denkformen. Pfaffenweiler 1994 (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 4), S. 173–195. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Lydia Kater-Wettstädt: Unterricht im Lernbereich Globale Entwicklung. Münster/New York 2015 (Erziehungswissenschaft und Weltgesellschaft 8), S. 191f. 15 Paul Mecheril/Martina Tißberger: Ethnizität und Rassekonstruktion. In: Katrin Hauenschild/Steffi Robak/Isabel Sievers (Hg.): Diversity Education. Frankfurt am Main 2013, S. 60–71, hier S. 69. 16 Der Schluss, dass die anhand der Vergangenheit vorgefundenen intellektuellen Restriktionen analog für den Beobachter selbst gelten (statt des wohl häufigeren Schlusses, heute sei man eben klüger als damals). Douglas Hofstadter/Emanuel Sander : Die Analogie. Das Herz des Denkens. Stuttgart 2014. Problematisierend Juliane Brauer: Empathie und historische Alteritätserfahrung. In: Juliane Brauer/Martin Lücke (Hrsg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven. Göttingen 2013 (Eckert. Die Schriftenreihe 133), S. 75–92.

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konkurrierten, was sich in unterschiedlichen Schulbüchern ausdrückte.17 Und sicher haben viele Geschichtslehrkräfte im Unterricht die unterschiedlichen Narrationen vergleichen lassen. Heute Kontroversität in ein Schulbuch zu packen, reduziert sich trotz des anerkannten Unterrichtsprinzips gegenwärtig auf gelegentliche Textausschnitte von einander widersprechenden Historikerinnen und Historikern im sogenannten Arbeitsteil. Der Darstellungstext scheint sich trotz der Einsicht in die grundsätzliche Unhintergehbarkeit von Perspektivität dem zu verweigern, stattdessen werden Perspektiven narrativ verschmolzen.18 Was dabei inhaltlich passiert, ist – wie gerade ausgeführt – schwer zu bestimmen. Doch dass der Text für Leserinnen und Leser damit an Anschaulichkeit nicht gewinnt, liegt auf der Hand.19 Die dritte Ebene, Pluralität, nimmt den aktuell sich an der Geschichte Orientierenden deutlicher in den Blick. Je nach seinen Fragen an die Vergangenheit wird er oder sie für die Gegenwart oder Zukunft zu unterschiedlichen Ansichten kommen. Diese konkurrieren wiederum miteinander, müssen sich gegenseitig ertragen. Die Erziehung zur Toleranz als Ziel scheint hieran zwanglos anzuschließen.20 Ebene II und III gehen offenbar immer dann nahtlos ineinander, wenn Erklärungen aus Ebene II lebendig sind, also sinnhafte Orientierungen umfassen, so wie die deutsche Öffentlichkeit einst um die Thesen Fritz Fischers zum Ersten Weltkrieg debattierte, um sich als Bundesrepublik zu orientieren (um ein bekanntes Schulbuch-Beispiel herauszugreifen). Aus der potentiellen Varianz auf Ebene III folgt dann, dass die multiperspektivischen Varianten auf den beiden unteren Ebenen nicht zwingend an verschiedene Personen gebunden sein müssen, sondern ebenso in einer Person vorkommen können, die in unterschiedlichen Kontexten agiert. Das ist selbstverständlich ein Alltagsphänomen, dessen sich jedoch Heranwachsende erst bewusst werden müssen: Menschen können nicht nur die eigene Perspektive als solche reflektieren, sondern die Perspektive anderer imaginieren, um dann auf diese zu reagieren – eine Einsicht, die historisch und soziologisch noch wichtig werden wird.21 17 Eines der letzten Beispiele: Emil Spieß: Welt und Heimat im Lauf der Zeiten geschildert. 2 Teile (Bde.), Einsiedeln 1939–1940. 18 Barbara Christophe/Kerstin Schwedes (Hrsg.): Schulbuch und Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliche Analysen und geschichtsdidaktische Überlegungen. Göttingen 2015 (Eckert. Expertise Bd. 6). 19 Beispiel: Europäisches Geschichtsbuch. Stuttgart u. a. 1992, S. 294f. [Napoleon III. und die nationalen Bewegungen in Italien und Deutschland]: „Die seit 1866 wachsende Macht Preußens beunruhigte ihn, und 1870 ließ er sich von Bismarck zur Kriegserklärung an Preußen verleiten. Die bis dahin zögernden süddeutschen Staaten stellten sich hinter Berlin.“ 20 Maria Eisenmann/Thomas Grimm (Hrsg.): Heterogene Klassen – Differenzierung in Schule und Unterricht. In: Eisenmann u. a.: Heterogene Klassen (Anm. 5), S. 1–36, hier S. 30. 21 Vgl. zu diesem Komplex Karl-Ernst Jeismann: „Geschichtsbewusstsein“ als zentrale Kate-

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Auf allen drei Ebenen besteht natürlich ein Qualitätsproblem, denn die Zeitzeugenaussagen, die Historikerurteile und die orientierenden Narrationen sind untereinander natürlich keineswegs gleichwertig oder, wie Jörn Rüsen formulierte,22 gleich triftig. Dies sei nur angemerkt, um dem Unterrichtsprinzip den Vorwurf des Relativismus zu ersparen. Unterrichtlich ist die Bewertung natürlich eine Herausforderung, die hohe Ansprüche an die Lehrperson stellt und verlangt, sich vor Bewertungen nicht zu drücken. Multiperspektivität umschreibt als Unterrichtsprinzip also mehr als bloßes Arrangement von Medien. Dementsprechend hoch sind die Ansprüche und Erwartungen, wie Jeismann schon 1988 formulierte: „Geschichtsbewußtsein ermöglicht nicht nur, es verlangt die Fähigkeit zum kontroversen Diskurs, der auf die Einsicht in die Partialität und Irrtumsanfälligkeit der eigenen Deutungen und Wertungen beruht. Für diesen Diskurs werden andererseits normativ die methodische Begründbarkeit und intersubjektive Nachprüfbarkeit der Aussagen über Vergangenheit konstitutiv gesetzt und damit Beliebigkeit und Willkür ausgeschlossen. Geschichtsbewußtsein dieser Art macht die Kommunikation verschiedener Personen oder Gruppen, Völker oder Religionen möglich, ja erforderlich und erweist sich in diesen Spannungen und Kontroversen als ein ,tendenziell‘ weltbürgerliches Bewußtsein.“23

2.

Aber was ist überhaupt Perspektive? Vom geometrischen zum philosophischen Diskurs

Perspektive, um zur Genese dieses Begriffs zu kommen, ist seit der Antike bis weit in die Frühe Neuzeit ein Begriff der Optik und damit gleichbedeutend ein Teil der Lehre vom richtigen Sehen eines Objekts, das ins Auge fällt und daher geometrisch behandelt werden muss.24 Vor allem die Verbindung mit der Geometrie impliziert immerhin, dass es stets zwei Darstellungen einer betrachteten, zum Beispiel architektonischen Fläche gibt: Eine Darstellung, wie das Objekt gesehen wird oder, planerisch gesprochen, wie es gesehen werden soll, und eine gorie der Didaktik des Geschichtsunterrichts (1990). In: Ders.: Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur Historischen Bildungsforschung, hrsg. v. Wolfgang Jacobmeyer/Bernd Schönemann. Paderborn u. a. 2000, S. 46–72, hier S. 52, 61f., 65. 22 Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983, S. 82–84. 23 Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: Gerhard Schneider (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988 (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1), S. 1–24, hier S. 21f. 24 Nach G. König/W. Kambartel: Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Bd. 7. Darmstadt 1989, Sp. 363–378.

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Darstellung, die das Objekt zeigt, wie es ist. Griechische Tempelarchitekturen sind Musterbeispiele für die Berücksichtigung dieses Unterschieds.25 Über die Malkunst erhielt der Begriff zudem die räumliche Tiefe, die stärker noch den individuellen Betrachter (statt des idealen Betrachters einer Konstruktion) berücksichtigte. Gottfried Wilhelm Leibniz überführte den Begriff in die Philosophie, um zu erklären, dass ein Gegenstand unterschiedlich dargestellt werden kann und dabei natürlich derselbe bleibt, worauf es in Leibniz’ Monadenlehre ankommt. Kant wechselte dann die Perspektive der philosophischen Betrachtung, indem er vom nur perspektivisch zu erkennenden Ganzen zum perspektivierenden Einzelnen wechselte, als er forderte, sich vor dem Urteilen an die Stelle jedes anderen zu versetzen, um sich von den subjektiven Privatbedingungen seines Urteils zu befreien.26 In der Politikdidaktik ist diese Überlegung jüngst wieder stärker beachtet worden.27 Wiewohl es bei Kant um ästhetische Urteile geht, so impliziert dies doch Reflexivität. Deutlich spricht Kant auch in diesem Kontext von der Aufklärung als Prozess, sich von Vorurteilen und Aberglauben zu lösen, was offensichtlich Kritik von Traditionen, kirchlichen zumal, einschließt – kein unwichtiger Aspekt. Die philosophische Geschichte des Begriffs Perspektive geht natürlich weiter, aber spätestens bei Kant ist der Punkt erreicht, der Multiperspektivität als Unterrichtsprinzip erzieherisch begründet, unabhängig von seiner epistemischen Relevanz für das historische Denken und die wissenschaftliche Disziplin Geschichte.28 Über die Nichtobjektivierbarkeit des Vergangenen an sich (und damit eben keine Annäherung) wäre damit prinzipiell nichts gewonnen. Der Schluss darauf, dass alle Geschichte nur Konstrukt gewesen ist und vor allem auch bleiben wird (also auch die eigene), ist analogisch.29

25 Giuseppe Di Giovanni: Akragas. Archäologischer Rundgang, Palermo o. J. [1992], S. 32. 26 Kant: Kritik der Urteilskraft I/1 § 40. Friedrich Kaulbach: Philosophie des Perspektivismus. 1. Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche. Tübingen 1990. Zu Kant S. 11–136. 27 Ingo Juchler : Rationalität, Vernunft und erweiterte Denkungsart. Zur normativen Bestimmung politischer Urteilskraft für die politische Bildung. In: Zeitschrift für Politik 52 (2005), 97–121. 28 Zu deren Aufhellung auf den Wahrheitsbegriff und das Begriffspaar objektiv/subjektiv abgehoben werden müsste, vgl. S. N. Knebel: Subjekt/Objekt; subjektiv/objektiv [bis exkl. Kant]. In: Ritter/Gründer (Anm. 24), Bd. 10 (1998), Sp. 401–407, hier bes. Sp. 402. 29 Hofstadter/Sander (Anm. 16).

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3.

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Wie kam es zur Metaphorisierung von der Geometrie zur Philosophie?

Es lässt sich synonym fragen: Wurden durch die Metapher tatsächliche Denkweisen beschrieben, das heißt, hatte die Erkenntnis Konsequenzen für das Denken der Menschen? Die folgenden Ausführungen zur Genese der Sache Perspektive können und wollen dies nur mit Schlaglichtern anhand der üblichen Epochenmarkierungen versuchen. Sie sind damit dem europäischen Standardnarrativ verhaftet und nur für dieses gültig.30 Schon vor knapp zwei Jahrzehnten haben Bodo von Borries und Bettina Alavi31 darauf hingewiesen, dass dem häufigen Kulturkontakt mit der langsamen Erschließung des amerikanischen Kontinents ein intensives Interesse an der fremden Kultur und – so ist hinzuzufügen – fremden Natur folgte. Die spanische Historiographiegeschichte arbeitet für das 16. Jahrhundert nun heraus, wie dies zum kritischen Prüfen, Vergleichen und eben auch Nebeneinanderstehen unvereinbarer, aber epistemisch gleichwertiger Perspektiven führte, wenn spanische Historiker sich mit der Geschichte der neuen Welt befassten, für die zudem die Autorität antiker Historiker und Geographen versagte.32 Sogar realgeschichtlich gilt diese Fähigkeit als wirkungsmächtig: Die Eroberer schienen fähig gewesen zu sein, sich in die Perspektive der Indigenen hineinzuversetzen, um sich selbst durch deren Augen zu sehen und das eigene Handeln gegen die eigene Rationalität auf das Gegenüber abzustimmen.33 Diesen Wandel im reflektierteren Umgang mit Perspektiven, durchaus auch geographisch-geometrisch, der vielleicht eine Wende des Denkens über die Fremd- zur Selbsterkundung mitherbeiführte,34 verdeutlichen populäre volkssprachliche 30 Eine Gegenperspektive bei Bernard Lewis: Die Welt der Ungläubigen. Wie der Islam Europa entdeckte, dt. Übersetzung von Bernd Rullkötter. Frankfurt am Main u. a. 1983. 31 Bettina Alavi/Bodo von Borries: Geschichte. In: Hans H. Reich/Alfred Holzbrecher/HansJoachim Roth (Hrsg.): Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch, Opladen 2000, S. 55–91, S. 76. Jüngst Cristina Allemann-Ghionda: Bildung für alle. Diversität und Inklusion. Paderborn u. a. 2013, S. 20–22. 32 Sarah H. Beckjord: Territories of history. Humanism, rhetoric, and the historical imagination in the early chronicles of Spanish America. Pennsylvania 2007, bes. 62f., 74, 137–145, 156; zusammenfassend Kira von Ostenfeld-Suske: A new history for a ,new world‘. In: The Oxford History of historical writing. Bd. 3: 1400–1800, hrsg. v. Jos8 Rabusa u. a. Oxford 2012, S. 556–574, hier S. 562f. 33 Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt am Main 1985, S. 122, 133, 135, 149f., 292f. u. a. nach Hinweis von Lothar Bredella: Die Bedeutung von Innen- und Außenperspektive für die Didaktik des Fremdverstehens. Revisited. In: Lothar Bredella/Herbert Christ (Hrsg.): Fremdverstehen und interkulturelle Kompetenz (Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik [o. Nr.]). Tübingen 2007, S. 11–30, hier S. 24. 34 Justin Stagl: Thesen zur europäischen Selbst- und Fremderkundung in der Frühen Neuzeit. In: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hrsg.): Information in der Frü-

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Werke der Zeit. Ein erster Reflex auf Columbus findet sich in Sebastian Brants Narrenschiff (erstmals 1494):35 von erfarung aller land Man hat seitdem von Portugal Und von Hispanien überall Goldinseln gefunden und nackte Leut, Von denen gewußt man keinen Deut. […] Plinius, der weise Meister, spricht, Es zeuge von Verständnis nicht, Wolle man die Größe der Welt verstehn Und darüber hinaus vorzeitig gehen Und rechnen weit bis hinters Meer. Denn Menschengeist irrt darin sehr, Daß er solches berechnet alle Zeit Und kann sich selb uß rächnen nitt.

Offensichtlich wendet sich Brant noch gegen menschliche Neugier und Habsucht: Das Reisen selbst entspringt der Hybris, die der Selbsterkenntnis entflieht, die also bereits als Ziel gesetzt ist, aber durch Introspektion und nicht durch Kulturvergleich erreicht wird. Die Welt erscheint unermesslich, was er durch die Berufung auf eine klassische Autorität (Plinius d. Ä.) unterstreicht. Gut zwei Generationen später ist in einem zeitgeschichtlichen Werk von solchen moralischen und wissenschaftlichen Bedenken nichts mehr zu merken: Der Verfasser, ein Kölner Kartäusermönch, freut sich über die Entdeckung neuer Welten, wo die Menschen „so mit ihren füssen wider uns hergehen“36 das Christentum begierig aufgenommen hätten. Man sieht, wie die Kugelgestalt der Erde und ihre perspektivischen Folgen bereits verinnerlicht sind. Reisen erfordern Akkommodationsleistungen des in der Fremde Fremden, die im mittlerweile konfeshen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien (Pluralisierung und Autorität, Bd. 16). Berlin 2008, S. 65–79; Mar&lia dos Santos Lopes: Neue Welten in der europäischen Wissenskultur um 1670. In: Joseph S. Freedman (Hrsg.): Die Zeit um 1670. Eine Wende in der europäischen Geschichte und Kultur? (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 142). Wiesbaden 2016, S. 163–179. 35 Sebastian Brant: Narrenschiff, Dt. von Hermann A. Junghans, hrsg. von Hans-Joachim Mähl. Stuttgart 1978. S. 239. Kursiv : eingefügter Originaltext. Zur Zeitenwende multiperspektivisch: Thomas Eser/Stephanie Armer (Hrsg.): Luther, Kolumbus und die Folgen. Welt im Wandel 1500–1600. Nürnberg 2017. 36 Lorenz Surius (Verfasser)/Heinrich Fabritius (Übersetzer): Kurze Chronik oder Beschreibung der vornembsten Händel. Köln 1586, S. 3. NB: Bei Surius gilt die Einheit (Kirche) als Wert. Pluralität wird als Zerfall gesehen, den er für Luthertum, Orthodoxie und Islam (Persien) gleichermaßen diagnostiziert.

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sionell und damit kulturell gespaltenen Europa ebenfalls anwendbar sind: In einem protestantischen Reiseführer wird geraten, sich in Italien religiös zu verstellen, um gewünschte Informationen von den Indigenen zu erhalten.37 Das ist keine von Toleranz oder vielmehr religiöser Skepsis gekennzeichnete Weltanschauung, sondern der pragmatische Versuch eines Modus vivendi auf Zeit, wie er in Europa unter den Gelehrten, und möglicherweise erst recht lokal vor Ort, wo Konfessionen aneinander grenzten, üblich wurde.38 Die Perspektive des anderen fand im neuen Medium des Drucks nach ihrer verstärkten Bewusstwerdung schon früh ein eigenes Ausdrucksmittel: Noch im Inkunabelzeitalter des gerade erfundenen Buchdrucks kam es zur Erfindung der Gänsefüßchen, um das Wissen anderer vom eigenen abzugrenzen.39 Das Wissen aus anderen Welten wie Ägypten und China wirkte stark auf die historische Chronologie und damit indirekt auf die heiligen Schriften des Christentums, die, als historische Quelle bereits in sich widersprüchlich, teils auch multiperspektivisch, weiter unter Druck gerieten, nachdem sie Erasmus von Rotterdam in seiner griechischen Ausgabe des Neuen Testaments erstmals philologisch behandelt hatte.40 Im 17. Jahrhundert führte dies zur Erkenntnis der historischen und philologischen Erklärbarkeit des Bibeltexts, wie dies besonders der katholische Theologe Richard Simon vorführte, und parallel zur Dekonstruktion hergebrachter Historiographie als bloß perspektivischer Narration, was üblicherweise mit dem Namen Pierre Bayles verbunden ist.41 Spätestens im frühen 18. Jahrhundert gehörten dann nicht nur der Exotismus im Fremden, sondern das Spiel mit fremden Perspektiven im Kontrast zur eigenen verinnerlichten Sicht zum Repertoire der literarischen Aufklärung. Genannt seien nur Montesquieus Lettres persanes (1721).42 Das ist zugleich die Zeit, in der Leibniz erstmals den Begriff Perspektive in die Philosophie einführte. Dass ihm, dem kurfürstlich-königlichen Hofrat, in Hannover de facto das christliche Begräbnis verweigert wurde, zeigt die tatsächliche oder zumindest empfundene Wirkung von Perspektivierung: Der Dekonstruktion von Geschichten als bloß perspektivisch folgt die Dekonstruktion der Tradition, insbesondere der religiösen. 37 Paola Molino: Istruzioni per un viaggio in Italia. Hodoeporicum Hugonis Blotii earum rerum, quas in Italia vidit et observavit. In: Biblos 55 (2006), S. 125–136, S. 129f. 38 Anthony Grafton: Worlds made by words. Cambridge, Ma. 2008, bes. S. 24–27. 39 Giordano Castellani: Francesco Filelfo’s Orationes et Opuscula (1483/84). The first example of quotation marks in print? In: Gutenberg-Jahrbuch 83 (2008), S. 52–80. 40 Anthony Grafton: Isaac Vossius, chronologer. In: Eric Jorink/Dirk van Miert (Hrsg.): Isaac Vossius (1618–1689) between science and scholarship (Brill’s studies in intellectual history 214). Leiden/Boston 2012, S. 43–84, bes. S. 58, 75f., 83. 41 Herbert Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Bio-bibliographisches Repertorium. Berlin/New York 2004, S. 75–78, 609f. 42 Zachary Sayre Schiffman: The Birth of the Past. Baltimore 2011, S. 248–254.

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4.

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Die Folgen oder Multiperspektivität als Schlüsselkonzept des Geschichtsunterrichts?

Eine Karikatur aus der DDR-Satire-Zeitschrift Eulenspiegel mit Blick auf die Wahlen zum deutschen Bundestag und zur Volkskammer der DDR (Titel von 19/ Nr. 38, 1963, Zeichner ist Heinz Behling) erlaubt und veranschaulicht in sich Multiperspektivität, denn hier ist Perspektive tatsächlich zunächst Bildperspektive: Der Betrachter steht diesseits des Zauns (also in der DDR) und wird von einer Person jenseits angesprochen. Der heutige Betrachter muss die richtige Diesseitsperspektive erkennen, die für ihn in der Regel nicht nur historisch die Perspektive des anderen ist: Es ist die mit der DDR verbundene, der Zaun repräsentiert die innerdeutsche Grenze. Zu Parlamenten gewählt wird auf beiden Seiten. Jenseits – in der Bundesrepublik Deutschland – gibt es Auswahl, aber keine Verschiedenheit, diesseits keines von beiden. Die Pointe entfaltet sich nur für den, der den Geschichtsverlauf erkennt, der der Karikatur unterlegt ist, um sich auf die Auffassung des Karikaturisten einzulassen: Auswahl erscheint unnötig, denn warum sollte man etwas anderes wählen als die Repräsentanten des historischen Fortschritts? Die Wahlen im Westen dagegen erweisen sich als gefährlicher Verstoß gegen den Geschichtsverlauf und als Betrug durch Täuschung: Sie verschleiern die Herrschaft von Reaktion und Unterdrückung. Innerhalb des Histomat ist diese Position kohärent, sachlich dekonstruierbar ist sie nur, wenn man eine epistemologische Metaperspektive einnehmen kann und darf, wenn man außerhalb des Wahrheitssystems steht (die bloße Gegen-Position des Westens ist hierfür nicht ausreichend). Damit wird zunächst deutlich, dass Perspektiven zu verstehen und zu erklären nicht heißt, sie zu billigen.43 Aber es gerät eben – als Kompetenz – Perspektivenbewusstsein selbst in den Blick.44 Manche vor allem beobachtende Wissenschaften kennen hierzu das Begriffspaar emisch/etisch.45 Emisch nennt man eine Perspektive innerhalb eines Systems, etisch eine, die von außen erfolgt. Diesen Wechsel, bezeichnet als Reziprozität, zu imaginieren (gerade, weil er sozial nicht funktionieren kann: man wird niemals vom Fremden zum Indigenen), gehört

43 Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte, übers. v. Jürgen Behrens. Frankfurt am Main 1980, S. 407–425. 44 Michael Sauer : Einführung in die Geschichtsdidaktik. Seelze 2001 (1. Aufl.), S. 17, hat deswegen Perspektivenbewusstsein als Dimension des Geschichtsbewusstseins ins Spiel gebracht. 45 Gabriele Cappai: The Distinction Insider/Outsider in the analysis of culture and religion. An interdisciplinary approach. In: Afe Adogame/Cordula Weissköppel (Hrsg.): Religion in the context of African migration (Bayreuth African Studies, Series 75). Bayreuth 2005, S. 133–154. Dem Kollegen Cappai danke ich für wertvolle Anregungen zur Erarbeitung der folgenden Abschnitte.

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bereits zu den schwierigeren Denkoperationen.46 Für das Verständnis der Karikatur Behlings ist er grundlegend, zur Dekonstruktion führt er jedoch nicht. Dazu wäre es nötig, jenen als epistemologisch bezeichneten Schritt auf die Metaebene anzugehen. Niklas Luhmann hat sich eingehend mit solchen Fragen der Perspektivierung auseinandergesetzt.47 Ein Individuum oder eine Gesellschaft, so Luhmann, kann direkt beobachten, und unmittelbar darauf basierend Beziehungen zu einem beobachteten Gegenstand kommunizieren, sodass ein Weltbild erster Ordnung entsteht. Es handelt sich hierbei um eine einwertige Realität, die letztlich auf soziale Diskriminierung hinausläuft, da auf letzte Kriterien des Richtigen zurückgegriffen wird. Es wird ausgeschlossen, dass der Gegenstand auch von einer anderen Seite beobachtet werden könnte. Um dies zu vermeiden wird eine zweite Ebene der Beobachtung erforderlich: Man kann unter Umständen, z. B. als Historikerin oder Historiker, den Beobachter beobachten, was Luhmann Beobachtung zweiter Ordnung nennt. Ein solcher Beobachter zweiter Ordnung sieht die „Nische“, in welcher der Beobachter erster Ordnung sitzt, und sieht damit, dass dieser Beobachter erster Ordnung nicht sehen kann, was er n%cht sehen kann.48 Damit bildet sich ein Weltbild zweiter Ordnung durch das Reflexivwerden des Beobachtens. Denn auch der Beobachter zweiter Ordnung, etwa wir bezüglich der Karikatur von Behling, kann seinen Horizont nicht durchbrechen, seinen Wahrnehmungshorizont nicht transzendieren. Aber : „9r [Hervorhebung S. B.] kann wenigstens sehen, daß er nicht sehen kann, was er nicht sehen kann.“49 Er ist sich des blinden Flecks jeder Beobachtung bewusst. Eine dritte Ebene als Metaebene der Reflexion ist dann der Wissenschaft vorbehalten. Hier ist nun der historisch-genetische Exkurs in die Argumentation zu integrieren. Denn auch Luhmann lässt diesen Prozess durch die Ethnographie neuer Völker, durch Geschichte und Geographie mit dem 16. Jahrhundert beginnen und erklärt damit den Bedeutungsverlust der Religion im Rahmen der Aufklärung, als Religion ihre die ganze Gesellschaft umfassenden Funktionen verliert und zu einer Funktion für sich wird (die auch etischer Betrachtung

46 Ali Wacker (Hrsg.): Die Entwicklung des Gesellschaftsverständnisses bei Kindern. Frankfurt a. M./New York 1976. Hier: Jean Piaget/Anne-Marie Weil: Die Entwicklung der kindlichen Heimatvorstellungen und der Urteile über andere Länder, S. 127–148. Dazu Rainer Krieger : Mehr Möglichkeiten als Grenzen. Anmerkungen eines Psychologen. In: Klaus Bergmann/ Rita Rohrbach (Hrsg.): Kinder entdecken Geschichte. Königstein/Ts. 2001, S. 32–50. 47 Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bde. 3–4. Frankfurt am Main 1989–1995, bes. Bd. 3, S. 328–334, dann 4, S. 95f. 48 Mit den Akzenten soll die erforderliche Betonung angezeigt werden. 49 Luhmann (Anm. 47), Bd. 3, S. 334.

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zugänglich ist). Religion gerät in eine Nische und überlebt dort.50 Stattdessen entwickelt sich die pluralistisch orientierte moderne Gesellschaft mit dem Anspruch, Weltbilder zu durchbrechen. Für Luhmann folgt daher : „Die Gesellschaft muss nur die Möglichkeit bereitstellen, auf zwei Ebenen nebeneinander zu kommunizieren, nämlich im Modus erster und im Modus zweiter Ordnung“,51 wobei gerade Redeweisen der Ironie oder des Zitats ins Spiel kommen. Wenn also der Geschichtsunterricht Beobachter beobachtet und Beobachtungen vergleicht, so erfüllt er programmatisch jenen hohen Anspruch gesellschaftlicher Kohärenz und kultureller Pluralität, der immer wieder mit der Demokratie als System verbunden wird.52 Bei dieser eminenten Bedeutung für Gesellschaft und Kultur versteht es sich von selbst, dass Multiperspektivität für alle Formen interkulturellen Verstehens verschiedenster Fachdidaktiken und erziehungswissenschaftlicher Strömungen für sich in Anspruch genommen wird.53

5.

Die kulturellen Konsequenzen von (Multi-)perspektivität

Wo Wein ist, da ist – in wissenschaftlichen Abhandlungen – das Wasser meist nicht weit. Die Spannung aus Pluralität und Diversität einerseits und dem Drang zur Vereinheitlichung wurde schon einführend angesprochen, nun drängt sie zur pragmatischen Umsetzung, quasi als Multiperspektivität für alle. Die Einwendungen der Entwicklungspsychologie gegen das Spiel mit Rollenvielfalt und Perspektivenwechsel sind nicht grundsätzlicher Natur, sondern betreffen deren Limitierung in Folge von Reife und Erziehung.54 Verbunden mit den Namen Piaget und Selman sind sie so alt, dass sie in der aktuellen Debatte kaum mehr vorkommen, offensichtlich also als weitgehend bekannt vorausgesetzt werden dürfen. Innerhalb der Unterrichtsgestaltung gehören sie zum Planungsrepertoire der Lehrperson und sind handhabbar, zumal sich ein Schlüsselkonzept als Prinzip versteht, das nicht dem Einzelunterricht, sondern dem Unterricht als Ganzem unterliegt. 50 Ebd., Bd. 3, S. 259, 261–263, 334 u. a. Vgl. Max Weber : Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 9. Aufl. 1988 (1. Aufl. 1920), Vorbemerkung, S. 1–16, hier S. 1–4. 51 Ebd. Bd. 4, S. 42. 52 Vgl. Anm. 4! Zum Beispiel: Michael Hampe: Warum lügen und betrügen Wissenschaftler. In: Forschung & Lehre 6/16, 490f. (zuerst Die Zeit 4. Mai 2016), S. 490. Nach Mitteilung an den Verfasser bezieht sich Hampe dabei v. a. auf John Dewey, A Common Faith, entwickelt dessen Gedanken aber weiter. 53 Vgl. generell Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt am Main 2002, bes. S. 60, 95f., 180–184, 201–204. 54 Piaget/Weil (Anm. 46); Robert L. Selman: Die Entwicklung des sozialen Verstehens. Entwicklungspsychologische und klinische Untersuchungen (Beiträge zur Soziogenese der Handlungsfähigkeit). Frankfurt am Main 1984. Vgl. Brauer (Anm. 16).

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Auch die Geschichtsdidaktik weiß um die Grenzen. Es sei nur auf Jörn Rüsen verwiesen,55 weil er schon 1994 darauf hinwies (was Jeismann 1988 in der Fortsetzung des oben Zitierten überspielte56), dass es problematisch ist, die Narrationen des Lernenden selbst reflektierend zu thematisieren, weil dies dessen positivistische und ich-zentrierte Objektivitätskonstruktion verunsichern würde. Diese Verunsicherung geschähe zu einem Zeitpunkt, wo die Werkzeuge zum Umgang damit noch nicht ausgebildet sind: Dass Erzählen diskursiv gestaltet ist, steht ja erfahrungsgemäß eher am Ende der Reflexionsarbeit des Geschichtsunterrichts und nicht am Anfang. Die Irritation könnte zu Identitätsschwächung, ja aggressiver Abwehr führen. Jörn Rüsen nennt dazu eine Einschränkung. Es gilt dies nur für die Eigengeschichten der Schüler, die meist nicht stark ausgeprägt sein dürften und zudem so individuell sind, dass sie kaum jemals im Unterricht verhandelt werden, solange die Schüler nicht ernsthaft in Rollen schlüpfen und diese dann nicht mehr als Rolle aufzufassen vermögen. Die Alterität der Geschichte erweist sich hier als klarer Vorzug. Denn die damit gegebene Grunddistanz der Lernenden zum Gegenstand erlaubt ihnen eine theoretische Erkenntnis, hier der Perspektivität, die sie in Bezug auf ihre eigene Person möglicherweise erst später wirksam werden lassen können. Perspektivität als Schlüsselkonzept des Unterrichts von Geschichte rückt mit der Multiperspektivität als methodischer Umsetzung im Unterrichtsgeschehen ins Zentrum eines Koordinatensystems, dem freilich asymmetrisch eine historische Dimension hinzugefügt werden muss. Oben wurde ausgeführt, wie Perspektivität für westliche Gesellschaften sowohl plausibel, damit erstrebenswert, und historisch zugleich als Erfahrung trainierbar wurde, und Luhmann hat Perspektivität als Beobachtung zweiter Ordnung sehr direkt mit Aufklärung, moderner Gesellschaft und dem Bedeutungsverlust von Religion verbunden. Das heißt, dass Perspektivität zwar eine Universalie menschlichen Erkenntnisvermögens sein mag, dass sie als Einsicht aber historisch gebunden, kontingent ist.57 Erst historisch wird sie zum Wert, 55 Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Köln/Weimar/Wien 1994 (22008, S. 59), S. 61f. 56 Jeismann (Anm. 23): „[…] ohne daß die konkreten Bindungen und Funktionen historischer Vergewisserung ihre Bedeutung und Wirkung verlieren – sie erscheinen vielmehr als notwendige, allerdings bewußt gemachte Voraussetzungen für die Reflexivität des Geschichtsbewußtseins. Mit solcher Bewußtseinstätigkeit können dann auch, fundierend oder inspirierend, die Empathie, die ,Einfühlung‘, das ,Verstehen‘ nicht mehr nur zufällig einhergehen. Mit diesem [!] normativen Implikationen erweist sich ein so beschriebenes Geschichtsbewußtsein als ein Element der Aufklärung, sowohl historisch wie auch systematisch.“ 57 Dominic Busch: Was, wenn es die Anderen gar nicht interessiert? Überlegungen zu einer Suche nach nicht-westlichen Konzepten von Interkulturalität und kultureller Diversität. In: Alois Moosmüller/Jan Möller-Kiero (Hrsg.): Interkulturalität und kulturelle Diversität (Münchener Beiträge zur Interkulturellen Kommunikation 26). Münster/New York 2014, S. 61–82, fragt ähnlich, inwieweit interkulturelle Kompetenz überhaupt interkulturell darstellbar ist (S. 64).

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Abbildung 1: Dimensionen der Perspektivität (Stefan Benz)

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erwirbt Geltung. Und außerdem hat sie kulturelle Wirkungen, denn Perspektivität inkludiert die Relativierung aller bekannten Denksysteme, indem sie diese zu disziplinären Wissensordnungen reduziert, die nur für bestimmte Bereiche zuständig sind, eben soweit, wie deren disziplinäre Vernunft, deren Nische reicht. Die im Moment vor allem transatlantisch heftige Debatte über die radikale Seite der Aufklärung, insbesondere die Frage nach deren Religionsfeindlichkeit, verdankt ihre Energie sicher den im Übrigen unausgesprochenen Konsequenzen für die Gegenwart.58 Ist Aufklärung, die in der Debatte über manche Religionen öfter eingefordert wird, überhaupt interkulturell zumutbar? Hierher gehört auch die Diskussion um die „katholische Aufklärung“,59 die als Fallbeispiel für das Verhältnis sogenannter westlicher Werte und Religion gelten kann. Perspektivität als Schlüsselkonzept kollidiert folglich mit kulturellen Bindungen, beziehungsweise reziprok als Prozess des Lernens und der Bildung formuliert: Wo starke kulturelle Bindungen an Traditionen vorliegen, muss damit gerechnet werden, dass die Zumutung Perspektive während des LehrLern-Prozesses zurückgewiesen wird. Da diese offensichtlich die Vernunft auf ihrer Seite hat, kann die Ablehnung nur irrational erfolgen. Hier mag der Ansatzpunkt der Aggressivität liegen, die Rüsen ins Spiel brachte und vor der er, bei enger beschriebenen Voraussetzungen, warnte. Die historische und geschichtsdidaktische Untersuchung der Perspektivität zeigt also, dass bei Begriffen der Geschichtstheorie kulturelle Implikationen mitbedacht werden müssen, die nicht auf Sprachliches60 oder Inhaltliches reduziert werden dürfen. Der pädagogische Takt der Lehrperson vermeidet also nicht nur die immer noch vorkommende Oktroygeschichte, deren Akzeptanz den Akzeptierenden erst diesseits der Grenze zum Fremden verortet, was das vorherrschende Kritikmodell am Geschichtsunterricht darstellt.61 Er achtet nun verstärkt darauf, Multiperspektivität als Erkenntnisziel stets parallel zur Bewertung der Triftigkeiten der jeweils behandelten oder produzierten Narrationen zu entwickeln, damit nicht der Eindruck entsteht, Relativismus zu bedienen, der entsteht, wenn Ereignisse und Erklärungen beliebig miteinander verbunden werden. So müssen Schülerinnen und Schüler eine klare und begründete 58 Jonathan Israel/Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung, Berlin 2014. 59 Vgl. die kommende Monographie von Thomas Wallnig bzw. Ulrich L. Lehner : Die Katholische Aufklärung. Weltgeschichte einer Reformbewegung. Paderborn 2017 (engl. Original 2016). 60 Petra Stanat: Kultureller Hintergrund und Schulleistungen – ein nicht zu bestimmender Zusammenhang? In: Wolfgang Melzer/Rudolf Tippelt (Hrsg.): Kulturen der Bildung. Opladen/Farmington Hills 2009, S. 53–70. 61 Bärbel Völkel: Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Überlegungen zu einem uneindeutigen Begriff. In: Ammerer u. a. (Anm. 12), S. 73–91.

Multiperspektivität. Vom Prinzip des Geschichtsunterrichts

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Rückmeldung erhalten. Mir ist bei Unterrichtsbeobachtungen in diesem Zusammenhang aufgefallen, dass Studierende praktisch nie negativ rückmelden, obwohl es natürlich gelegentlich angebracht wäre. Man kann gewiss viel erzählen, aber eben nicht alles. Noch gravierender ist indes die Einsicht, dass Perspektivität, einmal eingesehen und verinnerlicht, kulturelle Systeme relativiert beziehungsweise, sofern diese einen Anspruch auf Bereiche erheben, die in einer Kultur anders geregelt sind, dekonstruiert, wie das Verhältnis von Aufklärung und Religion zeigt. Kampfplatz dabei ist u. a. die schon mehrfach erwähnte Tradition, die gewissermaßen ein konkurrierendes Konzept darstellt.62 Gerade geschichtstheoretisch und geschichtsdidaktisch ist sie tendenziell negativ konnotiert, was in fortschrittsaffinen Gesellschaften zwar nicht überrascht, angesichts der allgemein für sich reklamierten Reflexivität aber auffällt. So ordnete eine empirische Untersuchung des Geschichtsbewusstseins europäischer Jugendlicher aus den 1990er Jahren Jugendliche, die sich für Geschichte interessierten, traditional erzählten und sich dabei als religiös bezeichneten, umstandslos einem autoritären Traditionalismus zu. Denn sie übernahmen einfach ungeprüft das Produkt einer überkommenen Perspektive. Diese Gruppe Jugendlicher war eine der wenigen überhaupt isolierbaren, so dass der Interpret der Daten nicht umhinkam, Religion als Schlüsselgröße des Geschichtsbewusstseins zu bezeichnen,63 wohlgemerkt des realen, nicht des normativ der historischen Aufklärung oder theoretisch-epistemischer Einsicht folgenden. Damit, und dies ist aus geschichtsdidaktischer Sicht das zentrale Ergebnis, liefert die Befassung mit Perspektivität eine Definition von Interkulturalität als interkulturelle Kompetenz:64 Es handelt sich um die Bereitschaft, die eigene Kultur, die eigenen Bedeutungen,65 der Perspektivierung auszusetzen. Und dies selbst dann, wenn Perspektive genetisch nicht als Wert entwickelt worden war. Es handelt sich folglich um eine Meta-Diversität, die tatsächlich Multiperspektivität in die Betrachtungsweise jedes Einzelnen integriert. Im konkreten Geschichtsunterricht muss zwischen gegebenenfalls multikulturellen Ansprüchen einerseits, der Diversität, und dem Anspruch der Metabene andererseits, die die geschichtstheoretische und vor allem allgemein kognitive Denkfähigkeit des Perspektivismus umfasst, mithin der Standardisierung, vermittelt werden. Das qua Aufklärung und Emanzipation jedes Einzelnen grundgelegte Schlüssel62 Vgl. Aleida Assmann: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 15). Köln/Weimar/Wien 1999. 63 Bodo von Borries: Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht (Reihe Schule und Gesellschaft, Bd. 21). Opladen 1999, S. 290, 336. 64 Allemann-Ghionda (Anm. 31), S. 63, 227. 65 Zum Kulturbegriff Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a. M. 2001 u. ö.

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konzept erweist sich als anspruchsvolle gesellschaftliche Aufgabe des Geschichtsunterrichts.

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Dialogisches Erzählen im Geschichtsunterricht. Die Rollenverteilung zwischen Lernenden und Lehrenden

Was tun Schülerinnen und Schüler, wenn sie historisch lernen? Und was tun dabei Lehrerinnen und Lehrer?1 Vieles, selbstverständlich. Dementsprechend hängt es vom Fokus ab, welche Tätigkeiten die Geschichtsdidaktik ins Blickfeld nimmt. Das dominante Modell denkt sich die Geschichte als vorgegebenes Objekt, dem die Lernenden zunächst in Form einer Leitfrage begegnen („Einstieg“) und das sie anschließend „erarbeiten“ sowie „sichern“, wobei im Rahmen der Sicherung bestenfalls auch der Erkenntnisweg reflektiert wird. Die Lehrperson arrangiert die Erkenntnisschritte zum historischen Objekt, indem sie passendes Material bereitstellt, den Lernprozess rhythmisiert, Fragen einführt, Aufgaben stellt und die Ergebnisse kontrolliert. Je nach Lehr-Lernkonzept steuert die Lehrperson die Aktivitäten in unterschiedlichem Ausmaß.2 Die theoretische Prämisse des hier vorgeschlagenen Lehr-Lern-Modells bildet Jörn Rüsens Konzept der „Triftigkeit“.3 Historische Aussagen sind mit Rüsen dann „wahr“, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sie intersubjektiv als empirisch, narrativ und normativ „triftig“ beurteilen. Normativ gewendet geht es im Geschichtsunterricht darum, dass das zu vermittelnde und erkennende historische Objekt möglichst „triftig“ zur Repräsentation kommt. Je höher die Triftigkeit, umso gelungener ist der Lernprozess. Rüsens „Triftigkeit“ ist ein interessanter Ausgangspunkt, um über Alternativen nachzudenken, wie das Tun der Lernenden und Lehrenden beschrieben 1 Ich danke Jan Hodel, Jonas Briner, Anke John und Michele Baricelli für die Kritik an diesem Text; mein Dank geht zudem an die Lehramts-Studierenden der Universität Zürich, mit denen ich in den letzten Jahren das hier präsentierte dialogische Erzählmodell entwickelt habe. 2 Als entsprechende Rhythmisierung bei Dietmar von Reeken: Verlaufsformen. In: Hilke Günter-Arndt (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2007, S. 260–272; vgl. zu den darauf basierenden Lehr-Lern-Konzepten Hilke Günther-Arndt: Lehr-Lernkonzepte. In: Ebd., S. 87–147. 3 Prägnant formuliert in Jörn Rüsen: Objektivität. In: Klaus Bergmann/Klaus Fröhlich/Annette Kuhn (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 160–163; vgl. auch die neue Version in Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln/ Weimar/Wien 2013, S. 57–63.

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und normiert werden kann. Die geschichtswissenschaftliche Praxis, so könnte man Rüsens Konzept wissenschaftstheoretisch umformulieren, stellt Triftigkeit konstant neu her, handelt sie aus und setzt sie subjektiv unterschiedlich um. Triftigkeit ist keine essentialistische Eigenschaft historischer Objekte mit „Vergangenheitspartikeln“4, sondern eine historisch variable Zuschreibung von Forscherinnen und Forschern und ihrer „scientific community“. Tun nicht genau dies auch Schülerinnen und Schüler innerhalb ihrer „school community“, der Schulklasse? Das triftige historische Objekt ist dann das Produkt, das die Lernenden zusammen mit der Lehrperson individuell und kollektiv herstellen, aushandeln, konstruieren. Selbstverständlich bewegt sich die gemeinsame Wissensproduktion innerhalb eines von der Lehrperson vorgegebenen narrativen Rahmens und insofern lässt sich mit dem oben beschriebenen dominanten Modell durchaus beobachten und planen, wie Lernende geschichtswissenschaftlich vorgegebene Objekte erkennen. Der Fokus auf die Produktion historischer Objekte macht hingegen deutlich, wie Lehrende und Lehrende innerhalb dieses narrativen Rahmens eigene historische Erkenntnisse herstellen. Ein solcher Zugang macht die Geschichtswissenschaft für die historische Bildung nicht irrelevant. Das Gegenteil ist der Fall: Ziel des Lernprozesses muss es sein, dass der Unterricht Triftigkeit so produziert, dass diese sich an den Verfahren der Geschichtswissenschaft orientiert. Mit dieser Normierung lernen Schülerinnen und Schüler nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden, sondern sie agieren selbst analog zur wissenschaftlichen Praxis: Sie forschen, handeln ihre Ergebnisse innerhalb der „school community“ aus und produzieren so neues Wissen. Ein Modell, das historisches Lernen als individuelles und kollektives Forschen und Aushandeln betrachtet, ist selbstverständlich nicht neu in der Geschichtsdidaktik. Es bewegt sich auf den Bahnen, die seit den 1970er-Jahren mit Stichworten wie „Projektorientierung“, „Wissenschaftsorientierung“ und „Kompetenzorientierung“ vorgespurt wurden.5 Der konsequente Blick auf die Praxis der individuellen und kollektiven Wissensproduktion ermöglicht es allerdings, jene Prozesse und Verfahren im Unterricht zu isolieren, in denen neues Wissen entsteht. Es stellt sich dann nicht mehr die Frage, wie Schülerinnen und Schüler wissenschaftlich vorgegebenes Wissen lernen. Vielmehr steht die Gestaltung eines Geschichtsunterrichts im Zentrum, in dem die Schülerinnen und Schüler

4 Waltraud Schreiber : Kompetenzbereich historische Methodenkompetenz. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 194–235, hier S. 195. 5 Vgl. als Überblick Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013, S. 332.

Dialogisches Erzählen im Geschichtsunterricht

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möglichst viel neues, an der Geschichtswissenschaft orientiertes Wissen produzieren.6 Um die Rollen und Verfahren eines solchen Geschichtsunterrichts geht es im vorliegenden Beitrag. Mit wissenschaftstheoretischen Reflexionen werden zunächst zwei Kategorien geschärft, die für die Produktion neuen historischen Wissens grundlegend sind: Dialog und Erzählung. Auf dieser Basis wird ein normatives Modell abgeleitet, das als dialogisches Erzählmodell bezeichnet werden soll. Darin wird aufgezeigt, wie Lehrpersonen sich selbst und ihren Schülerinnen und Schülern Rollen zuweisen können, mit denen die Lernenden individuell und kollektiv neues, an der Geschichtswissenschaft orientiertes Wissen produzieren können. Zum Abschluss wird eine Unterrichtseinheit vorgestellt, in der dieses Modell umgesetzt wird.

1.

Ressourcen für die Produktion neuen Wissens: Erzählung und Dialog

Die ökonomische Metapher der Produktion, der in der Wissenschaftstheorie und der Wissenschaftsgeschichte eine paradigmatische Funktion zukommt, rückt das Neue als Qualitätskriterium von Wissen in den Vordergrund. Der Wille zu neuem Wissen ist geradezu der Antriebsfaktor der Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, die sich in ihrer Selbstbeschreibung als Epoche eben nicht zufällig mit dem Attribut des Neuen geschmückt hat.7 Es geht seither den Wissenschaften nicht bloß um die Erkenntnis der Wahrheit, sondern stets um neue Wahrheiten. Dieses Neue misst sich stets am Alten, also an den Wahrheiten, von denen die Wissenschaft bereits weiß (oder zuweilen nichts mehr wissen will). Wenn die Produktion neuen Wissens auch im Unterricht angestrebt werden soll, dann kann ein Blick auf die geschichtswissenschaftliche Praxis hilfreich sein. Mit welchen Verfahren stellt die Geschichtswissenschaft neues Wissen her? Seit den Arbeiten Arthur Dantos sieht die Geschichtsdidaktik in der Erzählung die spezifische Form historischen Wissens.8 Danto untersuchte den Anspruch der Geschichtswissenschaft auf Wahrheit und sah in der narrativen Gestalt das Medium, das Fakten und Erklärungen und damit Wissenschaftlichkeit 6 Ein konsequent praxeologischer Zugang zu historischem Wissen findet sich auch bei Markus Bernhardt/Ulrich Mayer/Peter Gautschi: Historisches Wissen – was ist das eigentlich? In: Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012, S. 103–117. 7 Vgl. Lorraine Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen. Frankfurt a. M. 2001. 8 Arthur Danto: Narration and Knowledge. New York 2007 (1985). Für den deutschsprachigen Raum grundlegend Michele Barricelli: Narrativität. In: Ders./Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 255–280.

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und Wahrheit hervorbringt. Wie Geschichtswissenschaft neue Wahrheiten produziert, liegt naturgemäß weniger im Interesse der analytischen Philosophie, und es ist denn auch kein Zufall, dass das Neue in den an Danto geschulten Arbeiten Rüsens und den Kompetenzmodellen der Gegenwart kaum eine Rolle spielt. Dennoch gäbe es in Dantos Hauptwerk interessante Ansatzpunkte. Darin entsteht das historische Ereignis und seine Bedeutung immer erst im Rahmen einer Narration und damit ex post durch den Erzählakt.9 Historische Fakten und Erklärungen verändern sich demgemäß mit jedem Erzählakt. Darin liegt das produktive Potential des historischen Erzählens. Die deutschsprachige Geschichtsdidaktik trägt in ihrer hermeneutischen Tradition diesem Umstand mit der optischen Metapher der Perspektivität Rechnung.10 Aus einer poststrukturalistischen Sicht lässt sich diese Produktivität allerdings noch besser erfassen. Abseits der Geschichtsdidaktik hat sich nämlich in den letzten drei Jahrzehnten ein kulturwissenschaftliches Forschungsgebiet entwickelt, in dem mit poststrukturalistischen Methoden das Verhältnis von Wissen und Erzählung ausgelotet wird. Im angelsächsischen Bereich wurden ausgehend vom New Historicism des Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt die literarischen Formen der Erzählung als Ressource verstanden, mit denen „Kulturen“ sich selbst und ihr „Wissen“ verändern können.11 Im deutschsprachigen Gebiet ragen insbesondere die Arbeiten des Konstanzer Literaturwissenschaftlers Albrecht Koschorke heraus.12 Koschorke sieht in der Erzählung ein „kulturelles Fluidum“13, das zur Adaption, zur Veränderung, zu „schöpferischer Anverwandlung“14, zur Produktion von Neuem einlädt. Für Koschorke kann die Erzählung an jeder ihrer Stellen anders erzählt werden, weil die diachrone Offenheit ihr grundlegendes Merkmal ist. Jede Geschichte könne immer anders erzählt werden, sonst müsse sie nicht erzählt werden. Die Erzählung sei von einer doppelten

9 Vgl. Danto (Anm. 8), bes. S. 285–297. Dies ist wiederum der Ausgangspunkt der poststrukturalistischen Arbeiten de Certeaus, siehe Michel de Certeau: Das Schreiben der Geschichte. Frankfurt a. M. 1991. 10 Vgl. Martin Lücke: Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität. In: Baricelli/Lücke (Anm.8), S. 281–288. 11 Stephen Greenblatt: Toward a Poetics of Culture. In: H. Aram Veeser (Hrsg.): The New Historicism. New York/London 1989, S. 1–14; im deutschsprachigen Raum etablierte Joseph Vogl in diesem Zusammenhang das Konzept einer „Poetologie des Wissens“, vgl. Joseph Vogl: Mimesis und Verdacht. Skizze zu einer Poetologie des Wissens nach Foucault. In: FranÅois Ewald/Bernhard Waldenfels (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt a. M. 1991, S. 193–204; siehe auch Arne Höcker/Jeannie Moser/Philippe Weber (Hrsg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld 2006. 12 Grundlegend: Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 2012. 13 Ebd., S. 22. 14 Ebd., S. 101.

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Diachronie geprägt: Sie erzähle vom Wandel, und deshalb sei sie konstantem Wandel unterworfen.15 Der Geschichtswissenschaft und überhaupt der Geschichtsschreibung, so ließe sich aus den bisherigen Überlegungen folgern, liegt eine Erzählpraxis zugrunde, die qua ihrer narrativen Verfasstheit konstant Neues hervorbringt und deshalb auch ein schwer formalisierbares Wissen schafft. Was lässt sich daraus für die Beschreibung und Gestaltung von Geschichtsunterricht lernen, in dem Schülerinnen und Schüler neues Wissen produzieren? In deskriptiver Hinsicht wird deutlich, dass im Geschichtsunterricht konstant neue Erzählungen entstehen. Jeder Erzählakt schafft Neues, und die literarischen Formen sind die Mittel, die dies ermöglichen. In normativer Hinsicht gilt es, dieses „schöpferische Potential“ der Erzählung zu nutzen.16 Der Fokus liegt auf den Voraussetzungen, Praktiken und Kompetenzen, dank denen Schülerinnen und Schüler neue und zugleich an der Wissenschaft orientierte Geschichten erzählen können. Nebst der Erzählung lohnt es sich, über eine zweite Ressource bei der Produktion neuen Wissens nachzudenken. Seit den Arbeiten Ludwik Flecks zu „Denkstil“ und „Denkkollektiv“ verstehen die Wissenschaftstheorie und die Wissenschaftsgeschichte die Produktion von Wissen als soziale und kommunikative Praxis.17 Besonders die an Fleck anschließenden Arbeiten Thomas Kuhns haben den Begriff der „scientific community“ bekannt gemacht. Dieser Ansatz lässt sich nicht nur auf die Geschichtswissenschaft anwenden, sondern auch auf Schule und Unterricht übertragen. Die Klasse und ihre Lehrperson bilden sozusagen eine „school community“, die im mündlichen und schriftlichen Dialog individuelles und kollektives neues Wissen produzieren. Das Neue entsteht im gemeinsamen Austausch, in Prozessen des Aus- und Verhandelns innerhalb der „school community“. In deskriptiver Hinsicht lässt sich konstatieren, dass im Unterricht immer irgendwie ein Dialog stattfindet und dass auf diese Weise die „school community“ ohnehin immer neues Wissen herstellt. Wie lässt sich in normativer Hinsicht dieses „schöpferische Potential“ nutzen? Interessant ist insbesondere das allgemeindidaktische Unterrichtsmodell des „dialogischen Lernens“ von Urs Ruf und Peter Gallin, das den Dialog zwischen den Lernenden untereinander sowie mit der Lehrperson ins Zentrum setzt.18 In 15 Ebd., S. 101f. 16 Vgl. bereits Grant Bage: Narrative Matters, Teaching and Learning History Through Story. London 1999. 17 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M. 1980; zur Rezeption Flecks und zu den Ansätzen der Wissensgeschichte vgl. Philipp Sarasin: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 159–172. 18 Urs Ruf/Peter Gallin: Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. 2 Bde. 5. Aufl. SeelzeVelber 2014.

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diesem Modell folgt auf einen fachlichen Impuls der Lehrperson („Kernidee“) eine offene Aufgabe („Auftrag“), die die Lernenden zur individuellen Auseinandersetzung mit den fachlichen Objekten („Lernjournal“) anleitet; auf die so entstandenen Produkte antworten die Mitschülerinnen und Mitschüler sowie die Lehrperson mit positiv verstärkenden Feedbacks („Rückmeldung“). So entsteht im Dialog neues individuelles und kollektives Wissen, das konstant weiterentwickelt wird. Denn auf die Rückmeldungen folgen neue fachliche Impulse, womit ein erneuter Durchgang des dialogischen Kreislaufs eingeleitet wird.19

2.

Die Produktion von Geschichten: Lehr- und Lernprozesse

Die bisherigen Überlegungen arbeiteten heraus, dass der Geschichtsunterricht aufgrund der dialogischen Form und der narrativen Verfasstheit des historischen Wissens ein besonderes Potential für die Produktion neuen Wissens hat. In irgendeiner Weise wird dieses Potential in jedem Geschichtsunterricht genutzt. Dies zu beobachten, setzt allerdings passende Kategorien voraus. Es geht nicht darum, wann und wie ein vorgegebenes triftiges Objekt eingeführt, erarbeitet und erkannt wird, sondern wie die Erzählakte und Dialoge den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, neues historisches Wissen zu generieren. Normativ gewendet interessieren jene Erzählakte und Dialoge, dank denen die Schülerinnen und Schüler möglichst viel neues triftiges historisches Wissen produzieren. Ein solcher Zugang kann sich eklektizistisch bei vielfältigen Erkenntnissen der Geschichtsdidaktik bedienen. Ich möchte die folgenden Lehrund Lernprozesse als zentrale Momente für die Produktion neuer, an der Geschichtswissenschaft orientierter Erzählungen herausarbeiten: – Fragen: Lehren und Lernen mit Leitfragen Der Unterricht sollte sich um eine explizit formulierte Leitfrage drehen.20 So wird die Intensität des Dialogs verstärkt, weil alle Lehr- und Lernprozesse sich an derselben Frage abarbeiten. Diese Frage muss offen sein, sie muss unterschiedliche Antworten ermöglichen, um die Schülerinnen und Schüler dazu anzuhalten, eigene Erzählungen zu generieren. Die Fragen können sich an Problemen der Geschichtswissenschaft, der Geschichtskultur oder der Ge-

19 Vgl. als Vorschlag für die Umsetzung im Geschichtsunterricht Christoph Kühberger/Philippe Weber: Dialogisches historisches Lernen – ein produktiver Zugang der Inneren Differenzierung. In: Geschichte lernen 30 (2017), H. 178, S. 32–39. 20 Vgl. Michele Baricelli: Problemorientierung. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2011, S. 78–90.

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genwart der Schülerinnen und Schüler orientieren. Sie sind historisch ausgerichtet und fordern eine eigenständige Erzählung ein. – Geschichtsbewusstsein befragen: subjektive Geschichten artikulieren Schülerinnen und Schüler verfügen als geschichtskulturell geprägte Subjekte immer bereits über ein Geschichtsbewusstsein.21 Die entsprechenden Vorstellungen bilden den Ausgangspunkt für einen Geschichtsunterricht, in dem es um die Produktion neuer Geschichten geht. Die Fragen, Interessen und Phantasien der Lernenden sind der Rohstoff, aus dem Neues werden kann. Dem Konzept der subjektorientierten Geschichtsdidaktik folgend sollen die subjektiven Geschichten, die die Schülerinnen in den Unterricht mitbringen, weiterentwickelt, verglichen, in Frage gestellt und verändert werden.22 Dies gelingt umso produktiver, wenn Schülerinnen und Schüler nicht nur von Anfang an die Leitfrage kennen (oder sie sogar mitentwickeln), sondern auch – meist in Auseinandersetzung mit Impulsmaterial – erste Antworten dazu formulieren können. Dabei bildet die Pluralität der subjektiven Geschichten aufgrund der heterogenen Zusammensetzung von Schlussklassen eine wichtige Voraussetzung für die weitere Arbeit am Geschichtsbewusstsein der Lernenden.23 – Intervenieren: Erzählungen präsentieren Die Präsentation von Erzählungen ist dann produktiv, wenn sie die subjektiven Geschichten der Lernenden weiterführt, ergänzt, illustriert, kritisiert, irritiert.24 Die Geschichten, die die Lehrperson auswählt, einführt, kommentiert und erzählt, müssen produktive Interventionen in das Geschichtsbewusstsein der Lernenden sein. Dabei ist die Lehrperson letztlich stets die Erzählerin, zumal sie als Rahmenerzählerin jede Geschichte einführen muss. Dies gilt auch, wenn „bloß“ Quellen präsentiert werden, zumal Dinge und Texte erst dank narrativer Inszenierung zu Quellen werden.25 21 Vgl. zur Kategorie des Geschichtsbewusstseins Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983. 22 Heinrich Ammerer/Thomas Hellmuth/Christoph Kühberger (Hrsg.): Subjektorientierte Geschichtsdidaktik. Schwalbach 2015. 23 Vgl. Christian Heuer : „Gemeinsam erzählen“ – Offener Unterricht, Aufgabenkultur und historisches Lernen. In: Michele Barricelli/Axel Becker/Christian Heuer (Hrsg.): Jede Gegenwart hat ihre Gründe. Geschichtsbewusstsein, historische Lebenswelt und Zukunftserwartung im frühen 21. Jahrhundert. Schwalbach 2011, S. 46–60. 24 Dazu weiterhin grundlegend: Rolf Schörken: Das Aufbrechen narrativer Harmonie. Für eine Erneuerung des Erzählens mit Augenmaß (1997). In: Ders.: Demokratie lernen. Beiträge zur Politik- und Geschichtsdidaktik, hrsg. v. Thomas Sandkühler (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 38). Köln/Weimar/Wien 2017, S. 382–394. 25 Vgl. Alexandra Binnenkade: Was ist eine Quelle? Ein geschichtsdidaktisches Plädoyer. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 5 (2014), S. 128–140; siehe auch Achim Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie. Frankfurt a. M. 2016, S. 56–78.

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Bei der Auswahl der Geschichten spielt es keine Rolle, ob die präsentierte Geschichte wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Für die Förderung der geschichtskulturellen Kompetenz soll sich die Lehrperson vielmehr bei der ganzen Bandbreite geschichtskultureller Erzählungen bedienen. Entscheidend ist einzig, dass die präsentierte Erzählung eine möglichst produktive Intervention ist, indem sie die Lernenden bei der Herstellung eigenständiger, an der Geschichtswissenschaft orientierter Geschichten weiterbringt. Gerade die kritische Auseinandersetzung mit problematischen Erzählungen der Geschichtskultur kann dazu wichtige Impulse geben. Selbstverständlich ist es aber in vielen Fällen auch produktiv, dass die Lehrperson triftige Geschichten präsentiert. Ein Geschichtsunterricht, der sich von der Vermittlung vorgegebener Geschichten verabschiedet und auf die Produktion eigenständiger Geschichten durch die Lernenden setzt, ist keineswegs das Ende der Lehrperson als Geschichtenerzähler. Im Gegenteil: Die Funktion der produktiven Intervention erhöht die Anforderungen an die Kunst des Erzählens. – Erzählungen produzieren: Erzählungen bearbeiten und erarbeiten lassen Neue Geschichten entstehen, indem Altes neu erzählt wird. Wie macht man das und insbesondere wie macht man das auf triftige Weise? Die Kompetenzmodelle, die in den letzten 15 Jahren entwickelt wurden, zeigen die dazu notwendigen Operationen auf.26 Jede neue Erzählung setzt eine mediale Kritik voraus. Ob Quellenkritik oder Dekonstruktion von Darstellungen: Lernende müssen stets die Medien, die Zugriff auf die Vergangenheit ermöglichen, erschließen und bearbeiten.27 Es geht um die Analyse von Form, Inhalt, Entstehung und Kontext von Quellen und Darstellungen, es geht um die Rekonstruktion von Autorschaft und Intentionen, um Materialität und Zeichen, um Rezeption und Wirkung. Schülerinnen und Schüler müssen lernen, relevante Fragen zu stellen, zu lesen, zu beobachten, wiederzugeben, zu recherchieren, zu verknüpfen, zu überprüfen – Operationen, die meist nicht auf erzählerischen Verfahren beruhen.28 Sie dienen dazu, bereits erzählte Geschichten zu bearbeiten, ihren Erkenntniswert zu bestimmen, um so neue 26 Vgl. zusammenfassend Michele Baricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Baricelli/Lücke (Anm.8), S. 207–235; vgl. auch das Modell bei Peter Seixas/Tom Morton: The Big Six Historical Thinking Concepts. Toronto 2012; zur Umsetzung im Unterricht vgl. Peter Gautschi/Markus Bernhardt/Ulrich Mayer: Guter Geschichtsunterricht – Prinzipien. In: Barricelli/Lücke (Anm. 8), S. 326–348. 27 Zum hier verwendeten Medienbegriff vgl. Landwehr (Anm. 25), S. 79–88. 28 Die Unterscheidung zwischen dem Produktionsprozess und dem Produkt der Erzählung ermöglicht, den Lernprozess so zu steuern, dass auch die notwendigen nicht-narrativen Verfahren Beachtung erhalten; vgl. zur berechtigten Kritik an einer zu einseitigen Orientierung am Konzept der Erzählung Markus Bernhardt/Franziska Conrad: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Sprachliche Bildung als Aufgabe des Fachs Geschichte. In: Geschichte lernen 31 (2018), H. 182, S. 2–9.

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Geschichten zu erarbeiten. Im Anschluss müssen die Erkenntnisse der medialen Kritik narrativiert, also zu einer Geschichte verwoben werden, in der das Vorangegangene das Folgende erklärt. Erst dann handelt es sich um historisches Wissen. Wenn Geschichtsunterricht die Produktion neuer und zugleich triftiger Geschichten ermöglichen soll, dann müssen die Prozesse der medialen Kritik und der Narrativierung angeleitet und eingefordert werden. Darin liegt die Funktion von Aufgaben, die diesen Prozess initiieren, anleiten und Zeit für die Bearbeitung reservieren.29 Die Aufgaben fordern die Schülerinnen und Schüler auf, Geschichte selber zu erzählen. Weil der Stoff, aus dem diese Geschichten sind, stets aus bereits erzählten Geschichten stammt, müssen Aufgaben einerseits zur Nacherzählung anleiten. Mit dem Ziel des Neuen vor Augen müssen sie andererseits eine Neukonfiguration, eine Umerzählung, einfordern.30 Triftige neue Geschichten entstehen also nicht durch einen diffusen kreativen Imperativ, sondern mittels Verfahren der medialen Kritik, des Nach- und des Umerzählens. – Raum geben: Erzählungen präsentieren lassen Unterricht muss den Lernenden Gelegenheit geben, die produzierten Erzählungen zu präsentieren.31 Denn Geschichten haben einen Anfang, ein Ende und eine Zeit dazwischen, und dafür braucht es Zeit. Wenn die Produktion der Geschichten im Zentrum des Unterrichts ist, so muss diese Zeit reserviert werden. Die Schülerinnen und Schüler dürfen und sollen ihre Geschichten präsentieren, und dies wiederum ist die Voraussetzung, um diese auszuwerten und zu sichern. – Auswerten: Erzählungen verhandeln Bei der Auswertung soll es um mehr gehen als um Kontrolle und Korrektur, als um das Abgleichen mit einer vorgegebenen Lösung. Maßgebend ist vielmehr, ob die Geschichten neu sind und sich an wissenschaftlicher Triftigkeit orientieren. Eine gute Auswertung benennt dieses Potential und schöpft es weiter aus, indem die Geschichten der Lernenden weitergesponnen werden.32 Dies ist 29 Grundlegend für die folgenden Ausführungen ist Holger Thünemann: Historische Lernaufgaben: Theoretische Überlegungen, empirische Befunde und forschungspragmatische Perspektiven. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 141–155. 30 Vgl. zu den Kategorien des Nach- und des Umerzählens Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010, S. 151–158; bereits die Nacherzählung produziert immer Neues und ist insofern immer auch eine Umerzählung, vgl. dazu Jan Hodel: Narrative Bricolage. Jugendlicher Umgang mit digitalen Netzmedien zur Bewältigung des „narrativen Paradox“ von Neu-Nacherzählungen. In: Marko Demantowsky/ Christoph Pallaske (Hrsg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. Berlin 2014, S. 17–33. 31 Vgl. Prinzip 14 bei Gautschi/Bernhardt/Mayer (Anm. 26), S. 343. 32 Vgl. die entsprechenden Praxisvorschläge für Bewertungen bei Peter Adamski: Historisches Lernen diagnostizieren. Lernvoraussetzungen – Lernprozesse – Lernleistungen. Schwalbach/

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ein Aushandlungs- und Verständigungsprozess: Die Lehrperson und die Lernenden tauschen sich über die produzierten Geschichten aus, entwickeln sie weiter, reflektieren sie methodisch und handeln so eine gemeinsame Geschichte und individuelle Geschichten aus – ein „gemeinsames Erzählen“, wie Christian Heuer es nennt.33

3.

Rollen, Phasen, Abläufe: Das dialogische Erzählmodell

Fügt man die erläuterten Lehr- und Lernprozesse als Abfolge zusammen, entsteht ein normatives Modell des Unterrichtsgeschehens, das als dialogisches Erzählmodell bezeichnet werden soll.34 Dieses Modell kann auch als Handlungsanweisung für die Lehrperson gelesen werden, den Unterricht in entsprechende Phasen zu unterteilen und sich und den Lernenden die jeweiligen Rollen zuzuweisen (Abbildung 1). Zu Beginn einer (Doppel-) Lektion wirft die Lehrperson eine (allenfalls mit den Lernenden) entwickelte Leitfrage auf, um die sich die ganze Unterrichtseinheit dreht. Bei diesem Einstieg formulieren die Lernenden erste Antworten. Im Anschluss kann geplant werden, wie diese subjektiven Geschichten überprüft und weiterentwickelt werden können und somit die Leitfrage beantwortet werden kann (Heuristik).35 In der zweiten Phase interveniert die Lehrperson in die subjektiven Geschichten mit der Präsentation einer passenden Erzählung, die von den Lernenden in einer dritten Phase mit Aufgaben bearbeitet wird, um darauf aufbauend eine neue Erzählung zu erarbeiten. Die so in der Klasse entstandenen Geschichten werden in der vierten Phase präsentiert und in der fünften Phase im Rahmen der Auswertung weiterentwickelt. Damit kommt die Produktion der Geschichten, die beim Einstieg mit ersten subjektiven Geschichten der Lernenden begann, zu einem vorläufigen Abschluss: Im Dialog sind neue individuelle und kollektive Geschichten mit höherer wissenschaftlicher Triftigkeit entstanden. Jetzt gilt es, den narrativen Produktionsprozess anzuhalten, die Geschichten „einzufrieren“, sie zu sichern. Der Vergleich mit den

Ts. 2014; Christoph Kühberger : Leistungsfeststellung im Geschichtsunterricht. Diagnose – Bewertung – Beurteilung. Schwalbach/Ts. 2014. 33 Heuer (Anm. 23). 34 Am besten kompatibel ist dieses Modell mit demjenigen Martin Nitsches, das sich ebenfalls deutlich von einer „Vermittlungs-Didaktik“ distanziert, vgl. Martin Nitsche: Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht fördern – Eine Fallanalyse mit Alternativvorschlag. In: Didactica Historica 1 (2015), S. 117–123. 35 Bspw. im Rahmen eines Planungsgesprächs, vgl. Birgit Wenzel: Historisches Wissen kommunizieren. In: Günther-Arndt (Anm. 2), S. 191–204.

Dialogisches Erzählen im Geschichtsunterricht

Abbildung 1: Dialogisches Erzählmodell als Handlungsanweisung für die Lehrperson

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im Einstieg formulierten subjektiven Geschichten bietet die Gelegenheit, den Lernprozess „sichtbar“ (Hattie) zu machen.36 Das dialogische Erzählmodell leitet nicht nur die Gestaltung einer (Doppel-) Lektion, sondern auch größerer Unterrichtseinheiten an. Analog zum Modell des dialogischen Lernens bei Ruf und Gallin wird Unterricht als Kreislauf gedacht. Eine neue Leitfrage, neue Geschichten und neue Aufgaben schließen an die zuvor geleistete Erzählarbeit an. Nachdem die neuen Geschichten mit der Sicherung „eingefroren“ worden sind, werden sie mit einer neuen Leitfrage „aufgetaut“, um sie mit einem erneuten Durchgang weiterzuentwickeln. So wird innerhalb einer größeren, mehrwöchigen Unterrichtseinheit der dialogische Kreislauf mehrfach durchlaufen. Die Leitfrage, die der ganzen Unterrichtseinheit zugrunde liegt, wird jeweils in den verschiedenen Durchgängen mit unterschiedlichen Fragen operationalisiert. Die Pfeile bei den Phasen 2, 3 und 4 (Abbildung 1) zeigen Variablen an: Innerhalb eines Durchgangs müssen unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden, und im Verlauf einer größeren Unterrichtseinheit sollten alle Variablen abgedeckt werden. Der Jeismannschen Trias (Sachanalyse / Sachurteil / Werturteil) folgend sollen beschreibende, erklärende und wertende Geschichten erzählt werden und umgekehrt sollen die Schülerinnen und Schüler mit ihren Geschichten sowohl Vergangenheit erschließen und deuten als auch zur Neubestimmung ihrer Gegenwart nutzen.37 Die Aufgaben zum Nach- und Umerzählen dienen mit den Verfahren der Reproduktion und des Transfers dazu, dass die Schülerinnen und Schüler sich die präsentierten Geschichten aneignen und sie mit Bezug auf die Leitfrage weiterentwickeln können. Dies ist die Voraussetzung, um am Ende der Unterrichtseinheit die Schülerinnen und Schüler aufzufordern, aus den präsentierten und den gesicherten Geschichten eine eigenständige Erzählung herzustellen. Mit einer solchen Neuerzählung antworten die Lernenden auf die Leitfrage mit Sachanalysen, Sachurteilen und Werturteilen, mit denen sie die bereits präsentierten sowie gesicherten Geschichten in einem hohen Ausmaß eigenständig weiterentwickeln. Die Aufgabe mit dem Ziel der Neuerzählung erhöht verglichen mit den Aufgaben, die auf eine Umerzählung abzielen, den erwarteten Transformationsgrad und damit das Ausmaß des Neuen, wobei die Unterscheidung selbstverständlich nicht auf ein absolutes Maß rekurrieren kann, sondern als heuristisches Instrument zur Unterscheidung verschiedener Aufgabentypen dient.38 Diese Unterscheidung ist 36 John Hattie: Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler 2013. 37 Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9–33; vgl. zur praktischen Bedeutung dieser Unterscheidung auch Bernhardt/Conrad (Anm. 28). 38 Die Unterscheidung zwischen Aufgaben zum Nach-, Um- und Neuerzählen korreliert mit der

Dialogisches Erzählen im Geschichtsunterricht

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relevant, weil die ganze Unterrichtseinheit auf die Neuerzählung ausgerichtet ist: Alle präsentierten Geschichten, alle Aufgaben und alle gesicherten Geschichten dienen als Vorbereitung auf die abschließende, mit einer Note bewertbaren Aufgabe, die auf eine Neuerzählung abzielt. Das dialogische Erzählmodell leitet Lehrende und Lernende zum individuellen und kollektiven Erzählen im Dialog an. Weil das Erzählen eine schwer zu formalisierende Praxis ist, muss diese Anleitung konsequenterweise eine flexible, offene bleiben. Erzählen und erzählen lassen von Geschichten ist eine Kunst und kann demnach auf unterschiedlichste Weisen gut umgesetzt werden.39 Das dialogische Erzählmodell sollte nicht als doktrinäre Anleitung, sondern als Planungshilfe und als Reflexionsfolie für die Verbesserung bestehenden Unterrichts gelesen werden. Weil Unterricht ohnehin immer als dialogische, produktive Veranstaltung gesehen werden kann, lassen sich mit Hilfe des Modells „Stellschrauben“ isolieren, mit denen geplanter oder bereits durchgeführter Unterricht verbessert werden kann: Wird mit einer offenen Leitfrage gearbeitet? Können die Schülerinnen und Schüler ihre subjektiven Geschichten artikulieren? Sind die Erzählungen, die die Lehrperson präsentiert, produktive Interventionen in das Geschichtsbewusstsein der Lernenden? Können die Schülerinnen und Schüler die eingespielten Geschichten produktiv bearbeiten und eigene Geschichten produzieren? Können sie ihre Geschichten präsentieren? Wird mit den Geschichten der Schülerinnen und Schüler weitergearbeitet? Verständigt man sich auf kollektive und individuelle Geschichten, die gesichert werden? Sind die verschiedenen Phasen gut voneinander abgegrenzt und zugleich gut aufeinander bezogen? Wird die narrative Arbeit an der Leitfrage im Verlauf mehrerer Durchgänge des Kreislaufs stringent durchgeführt und auf eine Neuerzählung ausgerichtet?

4.

Unterrichtsbeispiel: Wie kommt ein Mensch auf seine Träume?

Wie kommt ein Mensch auf seine Träume? Diese Frage stand im Zentrum einer Unterrichtseinheit, die der Verfasser im Sommer 2017 während 20 Lektionen mit einer 9. Klasse eines Schweizer Gymnasiums gestaltet hat und die als Beispiel für ein am dialogischen Erzählmodell orientierten Geschichtsunterricht im FolOffenheit der Aufgaben, vgl. zu einer entsprechenden Typologisierung Christian Heuer : Zur Aufgabenkultur im Geschichtsunterricht. In: Ute Bender/Stefan Keller (Hrsg.): Aufgabenkulturen: Fachliche Lernprozesse herausfordern, begleiten, reflektieren. Seelze 2012, S. 100– 112. 39 Vgl. Sam Wineburg/Suzanne Wilson: Models of Wisdom in the Teaching of History. In: History Teacher. Journal of The Society of History Education 24 (1992), S. 395–412.

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genden präsentiert wird. Das vom Lehrplan vorgegebene Thema handelte von der Entstehung und Entwicklung der USA im 18. und 19. Jahrhundert. Mit der Frage nach der Herkunft ihrer eigenen Lebensträume konfrontiert, verwiesen die Jugendlichen auf die Natur des Menschen oder auf ihre Individualität. Sie selbst würden beispielsweise von Glück, beruflichem Erfolg, einem Haus und einem Partner, einer Partnerin träumen. Dies habe, so reklamierten die einen für sich, mit Biologie, mit Instinkten zu tun, während andere den Traum als den ureigensten, komplett individuellen und freiheitlichen Ort wähnten. Diese subjektiven Geschichten bildeten den Auftakt für eine Unterrichtseinheit, in der mit einem historischen Zugang die anthropologischen Konstanten und Phantasmen individueller Freiheit in Frage gestellt wurden und die kulturell-historische Verfasstheit sowie Spielräume individueller Träume erkennbar werden sollten. Woran ließe sich dies besser studieren als an der Entstehung und Entwicklung der USA im 18. und 19. Jahrhundert? Denn das Recht des einzelnen Menschen zur „pursuit of happiness“ und damit die individuelle Gestaltbarkeit und potentielle Realisierung von Lebensträumen wird in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 erfunden – samt der ahistorischen Legitimation als Naturrecht. Die Phantasien, Strategien sowie die Ein- und Ausschlüsse, die im Verlauf der Geschichte der USA mit diesem Recht verbunden wurden, sind als „American Dream“ bekannt. Bewusst wurde in der Unterrichtseinheit ein weites Verständnis des American Dream gesetzt, das nicht bloß den klassischen Traum „vom Tellerwäscher zum Millionär“, sondern die unterschiedlichsten Formen von Lebensträumen in der amerikanischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts umfasste. Der „Traum“ sollte als jene Metapher verstanden und kritisiert werden, mit der in den Quellen der amerikanischen Geschichte Zukunftserwartungen, Visionen und Utopien als innerste Antriebsquelle menschlichen Handelns erfasst wird. Im Zentrum der Unterrichtseinheit standen dementsprechend Geschichten über das Leben und die Träume verschiedener amerikanischer Menschen im 18. und 19. Jahrhundert. Die Schülerinnen und Schüler sollten sich damit auseinandersetzen, wie die diskursiven Muster des American Dream die Träume der Menschen formten und wie zugleich diese Menschen mit ihren Träumen den American Dream umformten und verfestigten. Das Ziel der Unterrichtseinheit war die Produktion einer biographischen Neuerzählung: Die Schülerinnen und Schüler sollten die Geschichte einer frei auswählbaren amerikanischen Person des 18. oder des 19. Jahrhunderts erzählen, dabei den Lebenstraum dieser Person herausarbeiten und zeigen, wie dieser Traum entstanden ist. Im Verlauf der Unterrichtseinheit wurden unterschiedlichste Geschichten präsentiert: Die Lernenden lasen einen Lehrmitteltext, sie schauten die DreamRede Martin Luthers Kings sowie eine Rede Donald Trumps vor dem amerikanischen Kongress an. Ferner hörten sie sich Referate der Lehrperson über

Dialogisches Erzählen im Geschichtsunterricht

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Thomas Jefferson, Mary Walker, Harriet Beecher Stowe und John Henry Heinz an, studierten Quellen (Unabhängigkeitserklärung, Texte von Jefferson und Walker sowie Auszüge aus „Onkel Toms Hütte“) und schauten sich das historische Marketing des Ketchup-Herstellers sowie Ausschnitte aus einer Dokufiction über John Heinz und aus dem Film „The Patriot“ an. Schließlich studierten sie biographische Darstellungen zu frei auswählbaren amerikanischen Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts auf Wikipedia.org. Abgesehen von den Texten auf Wikipedia.org bearbeiteten die Lernenden diese Geschichten, indem sie sie einer medialen Kritik unterzogen, sie nach- und umerzählten. Didaktisch aufbereitet wurden die Geschichten und die Aufgaben bewusst nicht im Rahmen eines klassischen Projektunterrichts, bei dem die Lernenden sämtliche Materialien von Anfang an erhalten und sich dann an einem Aufgabenprompt abarbeiten. Vielmehr sollte den im dialogischen Erzählmodell angelegten Prozessen gefolgt werden: Die Leitfrage wurden stets neu operationalisiert, die Lernenden artikulierten subjektive Geschichten, worauf die Lehrperson mit einer passenden Geschichte intervenierte, die mit einer Aufgabe bearbeitet und nach- oder / und umerzählt wird. Die Geschichten der Lernenden wurden präsentiert und gemeinsam verhandelt, um so neue individuelle und kollektive Geschichten zu sichern, die mit einer neuen Operationalisierung der Leitfrage und damit einem neuen Durchgang des Erzählkreislaufs fortgeführt wurden. Ausgerichtet waren all diese Durchgänge auf eine Neuerzählung, mit der die Lernenden mit den präsentierten sowie den gesicherten Geschichten eine eigenständige, neue Geschichte erzählen sollten. Einige exemplarische Einblicke in die Unterrichtseinheit können die Techniken und Verfahren einer solchen Unterrichtseinheit verdeutlichen. Nach einer ersten Diskussion über die Leitfrage der ganzen Unterrichtseinheit – „Wie kommt ein Mensch auf seine Träume?“ – führten die Reden Kings und Trumps in die historische Arbeit ein. Die beiden Geschichten über King und Trump wurden mit Aufgaben zur medialen Kritik bearbeitet, um eine Erzählung über die diskursiven Muster und zugleich zwei Versionen des American Dream zu entwickeln. Auf dieser Grundlage wurde die Leitfrage neu operationalisiert: Woher stammt der American Dream? Die Schülerinnen und Schüler erhielten den Lehrmitteltext, um ihn auf einer Zeitleiste nachzuerzählen und ihn zugleich umzuerzählen, indem sie die Prägung des American Dream durch die jeweiligen Ereignisse herausarbeiteten. Eine Schülerin konnte ihre Zeitleiste der Klasse präsentieren, danach wurden die Resultate verglichen, bewertet und weiterentwickelt. Dabei wurde gefragt, wie triftig die Zuordnungen einzelner Ereignisse zu bestimmten Elementen des American Dream sind und welche historische Phase besonders prägend ist. Als besonders produktiv erwiesen sich die Techniken der Gesprächsführung, wie sie im Konzept des Accountable Talk vorge-

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Abbildung 2: Aufgabe, die zur Neuerzählung anleitete (Ausschnitt aus den Unterlagen für die Schülerinnen und Schüler)

schlagen werden.40 Das gemeinsame Aushandeln, Verhandeln und Weiterdenken auf der empirischen und argumentativen Ebene stand hier im Vordergrund. Anschließend konnten die so erarbeiteten individuellen und kollektiven Geschichten schriftlich mit Korrekturen und Ergänzungen der Graphiken gesichert werden. Schließlich führte die Diskussion zu einer neuen Operationalisierung der Leitfrage: Welche Rolle spielte die Unabhängigkeitserklärung für die Entstehung des American Dream? 40 Vgl. Sarah Michaels/Catherine O’Connor/Lauren B. Resnick: Deliberative Discourse Idealized and Realized: Accountable Talk in the Classroom and in Civic Live. In: Studies in Philosopy and Education 27 (2008), S. 283–297; in der Geschichtsdidaktik ist hingegen die Gesprächsführung weiterhin stark unterbelichtet, vgl. einzig Wenzel (Anm. 35); ferner interessante Hinweise bei Christian Mehr : Fragen an die Geschichte – Fragen im Geschichtsunterricht. In: Jan Hodel/Monika Waldis/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerktstatt Geschichtsdidaktik 12. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 12“. Bern 2013, S. 155–166.

Dialogisches Erzählen im Geschichtsunterricht

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Diesen Verfahren folgend wurde in den weiteren Durchgängen die Frage nach der Herkunft von Träumen immer wieder neu operationalisiert und damit die zuvor gesicherten Geschichten weiterentwickelt, kritisiert, differenziert: Was war der Traum des Thomas Jefferson? War der American Dream ein Machttrick? Wie verändert man / frau den American Dream? Woher stammen die Träume der Sklavenhalter / der Sklavengegner? Woher stammt der Traum „Vom Tellerwäscher zum Millionär“? Stets ging es um die Auseinandersetzung mit Geschichten über Träume, in denen die Historizität mit Verweisen auf die Natur oder die Individualität gelöscht und damit die Träume naturalisiert oder heroisiert wurden. Die Schülerinnen und Schüler hingegen sollten in ihren eigenen Erzählungen herausarbeiten, wie historische Entwicklungen Träume hervorbringen und ermöglichen. Dabei wurde Wert darauf gelegt, dass bei der Auswertung die zu sichernden Resultate aus den Arbeiten der Lernenden heraus entwickelt wurden. So konnte beispielsweise mit der Sammlung von Zitaten der Lernenden eine kollektive Geschichte gesichert werden (Abbildung 3). Zudem wurden die Schülerinnen und Schüler angehalten, Erkenntnisse auch individuell zu sichern, indem sie kollektive Geschichten mit individuellen Notizen anreicherten. Die so gesicherten Geschichten sollten nicht nur das deklarative Wissen, sondern auch das konzeptionelle und prozedurale Wissen für die Neuerzählung bereitstellen. Deshalb wurde beispielsweise die Lektion über die Feministin Mary Walker mit einer Liste über Strategien gesichert, mit denen Individuen den American Dream verändern konnten – eine Liste, die sich zugleich für die Produktion der Neuerzählung als sehr hilfreich erwies. Die Arbeit an der Neuerzählung wurde mit dem Verfassen von Dispositionen und mit inhaltlichem und methodischem Austausch begonnen. Für die Recherche und Schreibarbeit mussten die Lernenden analog zu einer Prüfung Zeit außerhalb des Unterrichts aufwenden. Die Arbeiten erhielten eine Bewertung durch die Lehrperson, in der die Kriterien bewusst auf das „Neue“ ausgerichtet sind: Die Lernenden sollen selber „passende Fakten“ auswählen und „interessante Zusammenhänge“ entdecken (vgl. Kriterien auf Abbildung 2). Die Schülerinnen und Schüler konnten sich ihre vielfältigen Geschichten gegenseitig präsentieren, und gemeinsam wurde über besonders gelungene Texte diskutiert. Dabei kamen methodische und metakognitive Fragen („Wie entwickelt man eine zusammenhängende Erklärung?“) und Basiskonzepte („Ist die Geschichte Amerikas im 19. Jahrhundert ein Fortschritt?“) zur Sprache.41 Abgeschlossen wurde die Unterrichtseinheit mit einer Diskussion, in der die Leitfrage nochmals diskutiert wurde und damit die Gegenwartsdimension in den Vordergrund rückte: Wie kommt ein Mensch auf seine Träume? Die Antworten 41 Vgl. Christoph Kühberger : Konzeptionelles Wissen als besondere Grundlage für das historische Lernen. In: Ders. (Anm. 6), S. 33–74.

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Abbildung 3: Ausschnitt aus der Zitatsammlung zur Frage ”Woher stammen die Träume der Sklavenhalter / der Sklavengegner?”

der Schülerinnen und Schüler waren so vielfältig wie die Geschichten, die sie in ihren schriftlichen Arbeiten erzählt haben. Konsens war, dass Träume das Produkt historischer Entwicklungen sind, in denen sich gesellschaftliche Prozesse und individuelle Biographien auf komplexe Art und Weise verbinden. Als die Lehrperson die Lernenden mit ihren Positionen zu Beginn der Unterrichtseinheit konfrontierte, wurde der Lernprozess der Unterrichtseinheit und damit auch das dialogisch hergestellte „Neue“ sichtbar : Die Jugendlichen erkannten nun ihre eigenen Erklärungen über die Natur und die Individualität von „Träumen“ als Produkte der Geschichte. Ein Dialog verändert immer alle Beteiligten, und dementsprechend machte auch die Lehrperson einen Lernprozess durch. Sie lernte nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in methodischer Hinsicht. Ganz besonders die entstandenen Neuerzählungen waren für die kritische Reflexion der Unterrichtsgestaltung relevant. Einige Schülerinnen und Schüler konnten nur bedingt die recherchierten biographischen Fakten mit der Entwicklung Amerikas im 18. und 19. Jahrhundert verbinden und gerieten stattdessen in einigen Passagen in den Modus der direkten Wiedergabe der Darstellungen auf Wikipedia.org. Offenbar

Dialogisches Erzählen im Geschichtsunterricht

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waren sie überfordert, wenn sie Fakten, die im Unterricht nicht bearbeitet wurden, alleine und ad hoc innerhalb einer eigenständigen Erzählung verarbeiten mussten. Dem dialogischen Erzählmodell folgend muss eben der Stoff, aus dem neue Geschichten gemacht werden sollen, zunächst einer medialen Kritik unterzogen, nach-/umerzählt und gemeinsam weiterentwickelt werden. Es ist wie bei den Träumen: Auch das Neue entsteht nicht im leeren Raum natürlicher Begabungen und einsamer Genialität, sondern innerhalb eines dialogischen, narrativen Raums.

Jan Hodel

Sinnbildung, Erzählung, Medien. Triftigkeiten als Grundlage für die Beurteilung von Geschichtsunterricht

1.

Ausgangslage und Problemstellung

1.1.

Ausbildungssituation für Lehrkräfte der Gymnasialstufe im nachobligatorischen Bereich in der Schweiz

Die Ausbildungsgänge von Lehrkräften sind in der Schweiz abhängig von der Zielstufe. Lehrpersonen für die Primarstufe (1. bis 6. Schuljahr) benötigen für die Zulassung zum Studium, das mit einem Bachelor abgeschlossen wird, eine gymnasiale Maturität (Abitur) oder einen auf Pädagogik ausgerichteten Abschluss an einer Fachmittelschule (Fachmaturität). Wer das Lehramt für die Sekundarstufe I (7. bis 9. Schuljahr) studieren und mit einem Master abschließen möchte, benötigt zur Zulassung ebenfalls eine gymnasiale Maturität (=Abitur).1 Beide Ausbildungsgänge werden vollumfänglich an den Pädagogischen Hochschulen angeboten, die seit dem Jahr 2000 im gesamten Land die Lehrerseminare abgelöst haben. Entsprechend hat sich die Schweizer Lehrerbildung in den letzten 20 Jahren stark verändert und sich von einem Berufsbildungsgang zu einem Hochschulstudium entwickelt. Anders organisiert ist die Ausbildung der Gymnasiallehrkräfte, also jener Lehrpersonen, die an den nachobligatorischen allgemeinbildenden Mittelschulen (Gymnasien, 10. bis 13. Schuljahr) unterrichten. Diese Lehrpersonen absolvieren ein Hochschulstudium in den Fächern, die sie später unterrichten wollen, und schließen dieses mit einem Fachmaster ab. Anschließend durch1 Es gibt allerdings auch Studiengangsvarianten, bei denen die Fachausbildung bis zum Abschluss der Bachelorphase an der Universität absolviert wird und anschließenden die pädagogische und fachdidaktische Ausbildung samt Praxisausbildung an der Pädagogischen Hochschule erfolgt. Da an den Sekundarschulen Lehrpersonen drei bis vier Fächer unterrichten, wird diese Ausbildungsvariante vor allem für Nebenfächer nicht sehr oft gewählt. Mehr Informationen über Studiengänge und Ausbildungsmöglichkeiten für Lehrpersonen in der Schweiz auf der Website der Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), http://www.edk.ch/dyn/16600.php (aufgerufen am 1. 5. 2018).

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laufen sie einen kurzen Studiengang in Fachdidaktik, Pädagogik und Berufspraxis im Umfang von 60 Kreditpunkten, was ungefähr einem Jahr Vollzeitstudium entspricht. Es handelt sich also um eine Art Nachdiplomstudiengang, an dessen Ende die Studierenden ein Lehrdiplom für Maturitätsschulen erhalten. Diese Ausbildung für Lehrkräfte der Sekundarstufe II wird je nach Kanton entweder an den Universitäten – und dort in dedizierten Abteilungen der Erziehungswissenschaften – oder an den Pädagogischen Hochschulen als gesonderter Studiengang angeboten. Die Studienordnungen lassen zumeist zu, dass die Studierenden schon während des Master-Studiums sich in diese Lehrerbildungs-Studiengänge einschreiben können. Für die fachdidaktische Ausbildung hat dies zwei wesentliche Konsequenzen: Einerseits ist das Interesse der Studierenden an einer zusätzlichen Ausbildung gering, besonders für die theoretischen Anteile. Die Studierenden erwarten stattdessen von der Lehrerbildung konkretes, direkt anwendbares Handwerkswissen (undifferenziert: „Methoden“), da sie davon ausgehen, die akademische Ausbildung bereits erfolgreich abgeschlossen zu haben. Das äußert sich oft im Selbstverständnis, primär Fachwissenschaftlerinnen oder Fachwissenschaftler zu sein, die nun in den Schuldienst eintreten. Zusätzlich zu dieser mentalen Disposition der Studierenden, die vermutlich in unterschiedlicher Ausprägung auch in anderen Studiengängen der Schweiz und auch anderer Länder anzutreffen ist, gesellt sich der erschwerende Umstand, die fachdidaktische Ausbildung in wenigen Veranstaltungen durchführen zu müssen. Zur Verfügung stehen in der Regel vier Veranstaltungen zu je zwei Semesterwochenstunden für die gesamte fachdidaktische Ausbildung. Darum muss entweder die Übersicht über die Breite fachdidaktischer Konzepte und Theorien oder deren vertiefte Behandlung vernachlässigt werden. Überdies absolvieren die Studierenden im Rahmen des Studiengangs zwei bis drei Unterrichtspraktika in ihren Fächern, die – abhängig von der konkreten Situation mit betreuender Lehrperson und der Schule, an der die Praktika stattfinden – jeweils sechs bis zehn Lektionen umfassen. Die Studierenden absolvieren dabei diese Praktika in Klassen von Praxislehrpersonen, die die Studierenden betreuen und beurteilen. Diese Praxislehrpersonen werden zwar von der Hochschule entschädigt, sind aber nicht Angestellte der Hochschulen und somit nicht direkt in die Ausbildungsgänge eingebunden. Da (gerade im Fach Geschichte) Praktikumsplätze rar sind und bei den Praxislehrpersonen eine hohe Fluktuation herrscht, ist eine konzeptionelle Einheitlichkeit bei der Durchführung der Praktika kaum realisierbar. Die Realität der Unterrichtspraktika kann daher als eine Umgebung beschrieben werden, die nur wenig Verbindungen zur Ausbildung an der Hochschule aufweist. Zu diesen Verbindungen gehören die Unterrichtsbesuche durch Vertreterinnen und Vertreter der Erziehungswissenschaften und der Fachdidaktiken. Diese Besuche sind Teil der

Sinnbildung, Erzählung, Medien

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Praktikumsbetreuung und umfassen auch eine Rückmeldung auf die besuchte Unterrichtsprobe. Diese Rückmeldung findet meist direkt im Anschluss an die besuchte Lektion in einem retrospektiven Auswertungsgespräch statt, an dem die oder der Studierende, die betreuende Praxislehrperson und (im Falle eines fachdidaktischen Besuchs), die Fachdidaktikerin oder der Fachdidaktiker teilnehmen.2 Diese Rückmeldungsgespräche dauern zwischen 30 bis 60 Minuten und sind wenig formalisiert. Es gibt keine verpflichtenden Vorgaben von der Seite der Hochschule. So folgen die Gespräche oft Abläufen, die sich über die Jahre aus gemeinsamer Praxis zwischen Hochschuldozierenden und Praxislehrpersonen entwickelt haben. Diese Abläufe sind auch stark von persönlichen Einstellungen geprägt und unterscheiden sich daher in der konkreten Ausprägung abhängig von den beteiligten Personen. Als grobes Grundmuster hat sich ein Gesprächsverlauf etabliert, bei dem zunächst der oder die Studierende Eindrücke über die eben durchgeführte Lektion äußert und anschließend die Beobachterinnen und Beobachter ihre Anmerkungen vorbringen. Das Gespräch ist in der Regel entlang des Unterrichtsverlaufs strukturiert, und wendet sich in mehr oder minder chronologischer Anordnung (Einstieg, Erarbeitung, Ergebnissicherung) sowohl performativen („Beim Notieren von Schülerantworten an der Wandtafel sollten Sie nicht zur Wandtafel sprechen!“), allgemeindidaktischen („Ihre Aufgabenstellung war unklar eingeführt und überdies unvollständig!“) als auch fachlichen („Den Satz ,Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‘ hat Gorbatschow so gar nicht gesagt!“) Aspekten zu. In den letzten Jahren hat der Verfasser die Beobachtung gemacht, dass diese Form der Begleitung des praktischen Teils des Ausbildungsgangs bei den Beteiligten hohe Akzeptanz genießt bzw. von ihnen nicht in Frage gestellt wird. Als Stärke benannt werden kann die hohe Bedeutung, die der wissenschaftlichen Genauigkeit des Unterrichts beigemessen wird. Das gründet im Selbstverständnis gymnasialer Fachlehrpersonen, die sich gleichsam als Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler im Schuldienst verstehen. Doch lassen sich auch zwei problematische Erkenntnisse gewinnen. Einerseits ist zu bemerken, dass die schiere Menge an (oft nur wenig strukturierten und gewichteten) Hinweisen und Anmerkungen die Aufnahmekapazitäten der Studieren2 Informationen zur Studiengangsorganisation, insbesondere zur begleitenden Praxis-Ausbildung, finden sich auf der Website der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, https://www.fhnw.ch/de/studium/paedagogik/diplom-sekundarstufe-2 (aufgerufen am 1. 5. 2018). Zur Praxisausbildung ist etwa anzumerken, dass sie von einer eigenen, erziehungswissenschaftlich ausgerichteten Abteilung der Hochschule konzipiert, organisiert und verantwortet wird. Die Fachdidaktik wird hier lediglich für die Praxisbegleitungen und die Beurteilung der abschließenden „Videoportfolios“ (bestehend aus Dokumentationen zu Vorbereitung, Durchführung und Reflexion von Unterricht) hinzugezogen.

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den übersteigt. Am Anfang notieren sie noch interessiert die Anmerkungen, Hinweise und Tipps und sind bemüht, ihre Entscheidung im Unterrichtshandeln zu erklären. Mit der Zeit werden sie zunehmend wortkarg, bis sie nach 20 bis 30 Minuten den Kugelschreiber neben den Block gelegt haben und in ein wortloses Nicken verfallen sind. Abgesehen von ihrer Menge an wenig systematisierten Informationen sind diese ad hoc-Unterrichtsanalysen oft stark defizitorientiert. Die Studierenden nehmen die Hinweise daher nur sehr selektiv in ihr Handeln auf. Andererseits sind spezifisch geschichtsdidaktische Aspekte kaum je Gegenstand dieser Rückmeldungsgespräche. Dies liegt in der Regel daran, dass die Praxislehrpersonen, die selber die gleiche Ausbildung für Gymnasial-Lehrkräfte durchlaufen haben, in der fachdidaktische Aspekte nur wenig Beachtung fanden, kaum über ausreichendes Wissen zu entsprechenden geschichtsdidaktischen Konzepten verfügen. Interessanterweise kommen die wissenschaftlich orientierten Rückmeldungen oft zu ähnlichen Ergebnissen wie geschichtsdidaktische Analysen, jedoch ohne Rückgriff auf geschichtsdidaktische Theorien, Konzepte oder auch nur Begrifflichkeiten.

1.2

Mannigfaltigkeit geschichtsdidaktischer Anforderungen an Geschichtslehrkräfte

Dass in den Auswertungsgesprächen zu besuchten Unterrichtsproben kaum geschichtsdidaktische Konzepte besprochen werden, kontrastiert auffällig mit der Mannigfaltigkeit an geschichtsdidaktischen Konzepten und Theorien, die im Unterricht berücksichtigt werden könnten – oder sollten. Die Schwierigkeit besteht darin, für diese Fülle an Konzepten eine sinnvolle Anwendung im Unterricht zu entwickeln bzw. Studierende möglichst konkret bei ihrer Anwendung anzuleiten. Das Transferproblem betrifft also erstens die Studierenden und zweitens die Praxislehrpersonen, die als Gymnasiallehrpersonen oft selber nur eine grundlegende geschichtsdidaktische Aus- und Fortbildung erhalten und daher in der Praxis oft eigene Leitlinien entwickeln, die sich überwiegend an allgemeindidaktischen und fachwissenschaftlichen Prinzipien orientieren. Drittens ist die Geschichtsdidaktik mit der Herausforderung konfrontiert, in den wenigen zur Verfügung stehenden Lehrveranstaltungen die Konzepte theoretisch zu begründen und dann auch exemplarisch in konkreten Lehr- und Lernsituationen zu veranschaulichen, in der Hoffnung, dass die Studierenden diese Vorgaben in ihren spezifischen Unterrichtssituationen anzupassen wissen. Trotz der engen Verzahnung von Lehrveranstaltungen und Praktika, die von der Absicht geleitet ist, dass die in der Lehre behandelten geschichtsdidaktischen Konzepte pragmatisch umgesetzt werden können, fallen Unterrichtsbesuche oft

Sinnbildung, Erzählung, Medien

337

ernüchternd aus. Nicht wenige Studierende versuchen gegenstandsorientiert und wissenschaftsnah dozierend den Schülerinnen und Schülern geschichtliches „Basiswissen“ zu vermitteln, „Zusammenhänge aufzuzeigen“ und zum „kritischen Denken“ anzuregen. Falls Schülerinnen und Schüler Gelegenheit zu eigenständigem Arbeiten erhalten, werden sie in der Bearbeitung von Quellen und Darstellungen oft alleine gelassen. Aber selbst für den eher selteneren Fall, dass der Unterricht ansprechend und schülerorientiert gestaltet ist, berücksichtigen die Studierenden dabei kaum geschichtsdidaktische Konzepte und Prinzipien. Das hat verschiedene Ursachen: Einerseits haben die Studierenden Mühe, die Menge an geschichtsdidaktischen Lehr-Lernmodellen und Prinzipien tiefergehend zu verstehen, zu ordnen und zu gewichten. Andererseits fällt es den Studierenden schwer, geschichtsdidaktische Prinzipien und Methoden zu operationalisieren und in unterrichtliches Handeln zu übersetzen. Dies liegt auch daran, dass viele methodische Handlungsanweisungen den Studierenden nicht in spezifisch geschichtsdidaktischer Form begegnen: sei es in der zu beschreibenden Abfolge von Unterrichtsphasen (Einstieg, Erarbeitung, Ergebnissicherung), schülerorientierten Unterrichtsmethoden (Werkstätten, Gruppenarbeit, Gruppenpuzzle usw.) oder weiteren Elementen der Unterrichtsgestaltung (Klassenführung bei Aufgabenstellungen, Klassengesprächen usw.). Auch wenn diese Erfahrungen nicht neu sind und seit längerem durch die Geschichtsdidaktik aufgegriffen wurden,3 bleiben meines Erachtens die geschichtsdidaktischen Expertinnen und Experten bei der Betreuung der Praxisphasen wesentlich mit der Herausforderung konfrontiert, ein möglichst anwendbares Set an geschichtsdidaktischen Kriterien zu entwickeln, um Unterricht aus dezidiert geschichtsdidaktischer Perspektive analysieren, beurteilen und bereits in der Vorbereitung anleiten zu können.

2.

Ansatz und Umsetzung

2.1

„Triftigkeit“ – Rüsens Wahrheitskriterien historischen Denkens

Als theoretische Grundlage für ein solches Beurteilungsraster scheinen die von Rüsen formulierten Wahrheitskriterien historischen Denkens passend. Rüsen hat diese in verschiedenen Publikationen entfaltet, und diese dabei auch als Objektivitätskriterien4 für die Gültigkeit von Aussagen über die Vergangenheit 3 Michael Sauer: Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht heute. Eine Bestandsaufnahme und ein Plädoyer für mehr Pragmatik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55 (2004), H. 4, S. 212–232. 4 Jörn Rüsen: Zum Problem der historischen Objektivität. In: Geschichte in Wissenschaft und

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beschrieben. Nach Rüsen sind Triftigkeiten „Wahrheitskriterien in der lebensweltlichen historischen Bewusstseinsbildung“.5 Historische Darstellungen begründen ihren Anspruch auf Gültigkeit mit Argumenten. Rüsen bezeichnet diese argumentativ belegten Gültigkeitsansprüche als Triftigkeit. Er unterscheidet dabei auf der Grundlage der jeweiligen Bezugsrahmen drei Ausprägungen: die empirische, die normative und die narrative Triftigkeit. Die empirische Triftigkeit bezieht sich auf die Überprüfbarkeit der dargestellten Tatsachen, die in der Frage münden, ob die historischen Sachverhalte ausreichend belegt sind: „Empirisch triftig sind Geschichten, wenn die in ihnen behaupteten Tatsachen durch Erfahrungen gesichert sind.“6 Die normative Triftigkeit zielt auf die Bedeutsamkeit von historischen Darstellungen für die „zeitliche Orientierung der gegenwärtigen Lebenspraxis“7: Geschichtsdarstellungen sind demnach dann normativ triftig, wenn „die in ihnen behaupteten Bedeutungen durch geltende Normen gesichert sind“8. Narrativ triftig sind Darstellungen schließlich für den Fall, dass die Lesenden davon überzeugt werden, dass die Tatsachen (empirische Triftigkeit) und Bedeutungen (normative Triftigkeit) in der „Einheit eines zeitlich erstreckten Sinnzusammenhangs vermittelt werden“9. Vereinfacht gesagt: Historische Darstellungen sind mit Rüsen narrativ triftig, wenn sie in der konkreten erzählerischen Anordnung von Tatsachen und Deutungen für die Lesenden (oder Hörenden) einen erkennbaren und bedeutsamen Sinn ergeben. Nur so ist Erkenntnis über Vergangenes, also historisches Lernen, überhaupt möglich.

2.2

Kriterien „Sinnbildung“, „Erzählung“, „Medien“

Die Triftigkeiten für die Beurteilung von Geschichtsunterricht zu verwenden, mag auf den ersten Blick ungewohnt erscheinen, da diese ja nicht als Kriterien für die Beurteilung geschichtsdidaktischen Handelns konzipiert worden sind. Dennoch erscheinen diese geeignet für die Beurteilung von Geschichtsunterricht, da Gültigkeitskriterien auch für die Konstruktion von Geschichte im wissenschaftsorientierten Unterricht bzw. für die dort verhandelten Analysen von Geschichtsdarstellungen grundlegend sind.

5 6 7 8 9

Unterricht, 31 (1980), H. 3, S. 188–198, oder auch: Jörn Rüsen: Objektivität. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik (5. Auflage). Seelze-Velber 1997, S. 160–163. Jörn Rüsen: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens. Frankfurt a.M. 1990, S. 84. Ebd., S. 88. Rüsen (Anm. 4), S. 161. Rüsen (Anm. 5), S. 89. Ebd., S. 91.

Sinnbildung, Erzählung, Medien

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Allerdings setzt die Adaption des geschichtstheoretischen Modells voraus, dass Rüsens ursprüngliches Begriffsverständnis von Triftigkeit modifiziert wird, um die verschiedenen geschichtsdidaktischen Ansprüche zu einem kohärenten Beurteilungsinstrument entwickeln zu können. Es umfasst im Ergebnis die Kriterien „Sinnbildung“ (basierend auf der normativen Triftigkeit), „Erzählung“ (basierend auf der narrativen Triftigkeit) und „Medien/Quellen“ (basierend auf der empirischen Triftigkeit). Beim Kriterium „Sinnbildung“ wird die eigentliche Bildungsabsicht in einem Kerngedanken oder in einer Kernaussage gefasst. Warum sollen sich Jugendliche in der Gegenwart mit dem konkreten, vorgesehenen geschichtlichen Inhalt auseinandersetzen? Was für Orientierung stiftende und Werthaltungen reflektierende Erkenntnisse können sie aus der Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Inhalt gewinnen? Den Studierenden klar zu machen, wie wichtig die Klärung dieses didaktischen Kerns für das unterrichtliche Handeln ist, kommt somit zentrale Bedeutung zu. Erfahrungsgemäß bleibt dieses Kernanliegen den Studierenden (und damit auch den Schülerinnen und Schülern) oft unklar oder sie wählen einen Unterrichtsinhalt nach anderen Gesichtspunkten aus: beispielsweise, weil er im Hinblick auf den Kanon („Das muss man wissen“), aus ganz persönlichen oder aus rein geschichtswissenschaftlichen Erwägungen als relevant erscheint. Die der Unterrichtsplanung vorangestellte Verständigung über ein Kernanliegen trägt nicht nur dazu bei, Studierenden (und den Schülerinnen und Schülern) die Sinnhaftigkeit des Tuns im Geschichtsunterricht offen zu legen, es hilft den Studierenden auch, die verschiedenen Unterrichtselemente besser in einem Zusammenhang zu denken (siehe hierzu „Erzählung“). Das Kriterium „Sinnbildung“ folgt damit nicht nur dem Anspruch auf normative Triftigkeit, sondern auch dem Anliegen, den Geschichtsunterricht im Sinne eines visible learnings in seinen Begründungen und Vorgehensweisen transparent zu gestalten.10 Zur Konstruktion des Kernanliegens gehört nach dem hier vorgeschlagenen Modell auch die Auseinandersetzung mit Typologisierungen der historischen Sinnbildung. Dies sind einerseits die Sinnbildungstypen nach Rüsen (traditionales, kritisches, exemplarisches, genetisches Erzählen), andererseits die verschiedenen Zeitbezüge der Urteilsbildung: Geht es a) um die Beurteilung von Sachverhalten und Prozessen möglichst aus dem Blickwinkel der Wertvorstellungen der damaligen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen (Multiperspektivität, Fremdverstehen/Perspektivität) oder b) aus dem Blickwinkel heutiger Wertvorstellungen (Kontinuität und Alterität)? Oder geht es c) auch darum, aus der 10 Marko Demantowsky/Monika Waldis: John Hatties „Visible Learning“ und die Geschichtsdidaktik. Grenzen und Perspektiven. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), S. 100–116.

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Auseinandersetzung mit dem historischen Sachverhalt oder dem historischen Prozess eine Schlussfolgerung für die Wertvorstellungen der gegenwärtigen Gesellschaft zu ziehen (Konvention und Wertewandel)? Beim Kriterium der Erzählung geht es um die Struktur des Unterrichts. Werden die einzelnen Sinneinheiten bzw. Unterrichtsabschnitte durch eine Leitfrage oder eine These so verbunden, dass daraus Erkenntnisse entstehen können, die den Kerngedanken bzw. das Kernanliegen des Unterrichts den Schülerinnen und Schülern zugänglich machen können? Wird durch die Lehrkraft oder die Schülerinnen und Schüler die Leitfrage explizit formuliert und am Ende der Lektion beantwortet? Hilft die Leitfrage, den Unterricht zu strukturieren und die Erkenntnisse zu ordnen und einzuordnen? Führt sie Einstieg, Erarbeitungsphase und Ergebnissicherung sinnvoll zusammen? In dieser Hinsicht lehnt sich dieses Kriterium stark an die Überlegungen von Norbert Zwölfer11 und Holger Thünemann12 zur Lektionsgestaltung an, die die Formulierung einer Fragestellung bei der Planung einer Geschichtslektion verlangen. Zugleich wird auch der Anspruch an die Sichtbarmachung der Ziele und der Prozesse des historischen Lernens, wie sie Marko Demantowsky und Monika Waldis in Anlehnung an Hattie einfordern,13 adressiert. Und schließlich wird hier auch beurteilt, wie gut es den Studierenden gelingt, die normativ verstandenen Ziele der Sinnbildung und die empirische Plausibilität der verwendeten „Medien“ bzw. Quellen in einem unterrichtlichen Arrangement zusammenzuführen. Mit dem Kriterium Erzählung kann so beispielsweise in der Beurteilung thematisiert werden, dass der Einstieg nicht zur Leitfrage hinführte, dass die Aufgabenstellungen von der Leitfrage ablenkten oder dass beim Lektionsabschluss keine Antworten auf die Leitfrage oder zumindest eine Zusammenfassung der in der Lektion entwickelten Erzählung(en) von den Schülerinnen und Schülern oder der Lehrperson gegeben wurden. Zudem ist das Kriterium Erzählung auch geeignet, die Realisierung weiterer geschichtsdidaktischer Unterrichtsprinzipien (Multiperspektivität, Alterität, Personifizierung)14 bei der unterrichtlichen Konkretisierung zu thematisieren. Das Kriterium Medien/Quellen befasst sich mit der fach- und mediengerechten Verwendung von Quellen und Darstellungen im Unterricht. Dabei in11 Norbert Zwölfer: Die Vorbereitung einer Geschichtsstunde. In: Günther-Arndt, Hilke (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 197–205. 12 Holger Thünemann: Planung von Geschichtsunterricht. In: Hilke Günther-Arndt/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2014, S. 205–213. 13 Demantowsky/Waldis (Anm. 10). 14 Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. Seelze 2012, S. 76–91.

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teressiert einerseits die Frage, ob die eingesetzten Quellen bzw. die Darstellungen dazu dienen, die empirische Plausibilität der in der Lektion entwickelten Erzählung zu stützen oder zu hinterfragen. Mit anderen Worten: Dienen die eingesetzten Medien (Quellen und Darstellungen) der Beantwortung der Leitfrage? Darüber hinaus wird mit diesem Kriterium auch geklärt, ob medienspezifische Bearbeitungsmethoden zur Anwendung gelangen und ob eine quellenkritische Auseinandersetzung mit den verwendeten Materialien stattfand: Werden Nachweise gemacht? Wird sichergestellt, dass Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen der verwendeten Quellen den Schülerinnen und Schülern bekannt sind? Dieses Kriterium entspricht dem Anliegen, den Studierenden einerseits nahezulegen, Quellen nicht einfach illustrativ als historisierende Ausschmückungen ihrer Unterrichts-Erzählung zu verwenden, sondern die Funktion und Bedeutung von Quellen bei der Erarbeitung von plausiblen Aussagen über die Vergangenheit zu thematisieren. Zudem dient das Kriterium auch dazu, Quellenarbeit nicht in ein immer gleiches Abarbeiten medienspezifischer Analyseschemata abgleiten zu lassen, sondern stattdessen die Arbeit mit Quellen vor allem an der Fragestellung auszurichten. Bedeutsam ist bei diesem Kriterium auch die Aufforderung an die Studierenden, nicht zu viele Materialien (und diese dann meistens zu kurz) im Unterricht einzusetzen, sondern sich stattdessen eingehend mit ihnen auseinander zu setzen. Hier bekunden die Studierenden oft Mühe: Es fällt ihnen schwer, eine sinnvolle, zur Leitfrage passende Auswahl der zahlreichen bei der Vorbereitung gefundenen Materialien zu treffen.

2.3

Schülerorientierung und historische Kompetenzen

Die auf den Triftigkeiten von Rüsen basierenden Kriterien haben in erster Linie das Planen und Handeln der Studierenden im Blick. Dabei ist ein ebenso wichtiges Anliegen, mit der Schülerorientierung und dem Ansatz der Kompetenzförderung den Studierenden eine Alternative zur Gegenstandsorientierung nahezubringen, die von ihrem wissenschaftlich-akademischen Umgang mit Geschichte geprägt ist. Zu diesem Zweck führen wir auch das Kompetenzmodell von Peter Gautschi15 ein. Allerdings führt diese zusätzliche Sichtweise in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit oft zu oberflächlichen Anwendungen des Kompetenzmodells, die wir für kontraproduktiv halten. Wir versuchen daher, die Kriterien mit den Kompetenzdimensionen dergestalt zu verbinden, dass wir bei den Kriterien jeweils eine substantielle Schülerbeteiligung bzw. Schüleraktivität erwarten. So verbinden wir das Kriterium Sinnbildung mit den 15 Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009, S. 50f.

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Kompetenzdimensionen der Wahrnehmungskompetenz und der Orientierungskompetenz. Hier erwarten wir, dass die Bedeutsamkeit von historischen Themen für die Orientierung in der gegenwärtigen Lebenswelt aus der Sicht von Schülerinnen und Schülern bewertet oder mitbewertet werden soll bzw. die Jugendlichen die Möglichkeit erhalten sollen, sich eigenständig mit der Frage der Deutung und des Bezugs auf ihre Lebenswelt auseinander zu setzen. Das Kriterium Erzählung wird mit der Kompetenzdimension der Interpretationskompetenz verbunden. Die Studierenden sollen Wert darauf legen, Schülerinnen und Schüler an der Entwicklung und Befragung einer strukturierten und kohärenten historischen Erzählung zu beteiligen oder ihnen diese Aufgabe ganz übertragen. Das Kriterium „Medien“ wird mit der Kompetenzdimension der Erschließungskompetenz gekoppelt. Hier sollen die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit erhalten, bei der Entwicklung der Erzählung unterschiedliche Quellen und Quellengattungen als deren empirische Grundlage zu bearbeiten und zu befragen. Überdies sollen die Kriterien auch als Grundlage für das Begleiten von Lernprozessen in Unterrichtsformen dienen können, die mehr selbstständiges Lernen der Schülerinnen und Schüler anstreben und bedingen. Auch und gerade in diesen Unterrichtsformen sollen Schülerinnen und Schüler Quellen fachgerecht als Belege für ihre Aussagen und Argumente einsetzen, strukturierte und kohärente Beiträge und Projektergebnisse entwickeln und dabei auch darlegen können, inwiefern diese für sie selbst und für andere Publika (Mitschülerinnen und -schüler, Eltern, Öffentlichkeit) von Bedeutung und Interesse sein können.

3.

Erfahrungen und Fazit

3.1

Verständlichkeit und Akzeptanz, Anwendbarkeit und Validität

Nach der mehrfachen Erprobung über einen Zeitraum von zwei Jahren in insgesamt mehr als einhundert Unterrichtsproben scheint die Verständlichkeit und Akzeptanz des vorab entwickelten Modells im Ausbildungsalltag vergleichsweise hoch zu sein, sowohl bei den Studierenden wie auch bei den betreuenden Praxislehrpersonen. Dies liegt einerseits an der kleinen Menge der Kriterien, was der Überschaubarkeit und Handhabbarkeit des Modells dienlich ist, und andererseits an der Offenheit der Kriterien, sodass unter einen einfach zu kommunizierenden Kern bei Bedarf zusätzliche allgemein- und geschichtsdidaktische Aspekte, die durch das Unterrichtsgeschehen oder durch Werthaltungen der Praxislehrkräfte eingebracht werden, subsumiert werden können. Dies ist nicht nur dem Anspruch zuträglich, die Komplexität von Unterrichtsentscheidungen abdecken zu können, sondern ermöglicht auch eine schnelle, wenn auch nicht

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immer vollends übereinstimmende Verständigung zwischen Studierenden, Praxislehrkräften und Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktikern. Darüber hinaus werden auch unterschiedliche Grundhaltungen bei Studierenden und Lehrkräften angesprochen. Die Fachwissenschaftsaffinen sprechen auf den empirischen Aspekt der Quellenkritik und die Bedeutung von Quellen an, worin sie ein eigentliches Proprium des Geschichtsunterrichts erkennen. Mehr geschichtstheoretisch Interessierte sowie Liebhaberinnen und Liebhaber von klaren Strukturen können sich mit der Konzeption von Unterricht als Erzählung und ihrer Ausrichtung an einer Leitfrage identifizieren. Und jene Gruppe an Studierenden und Praxislehrpersonen, die sich an Bildungs- und Aufklärungsidealen orientieren und damit zuvorderst reflektiertes und reflexives Geschichtsbewusstsein schärfen oder alltagstheoretisch formuliert das „kritische Denken“ fördern wollen, sind dem Kriterium der Sinnbildung zugetan. Bezüglich Anwendbarkeit und Validität lässt sich feststellen, dass Aussagekraft und Trennschärfe dieses Verfahrens für die Beurteilung von Unterricht gut ist. Es gelingt damit, den allgemeinen „Eindruck“ der jeweils zu beurteilenden Lektion zunächst auf geschichtsdidaktische Kriterien zu fokussieren und dann zu einer stimmigen, mit dem allgemeinen Eindruck vereinbaren, konkreten Beurteilung zu gelangen, die dennoch so kurz gehalten und fokussiert ist, dass die Studierenden daraus anwendbare Erkenntnisse gewinnen können. Dies gilt allerdings vor allem dann, wenn nebst dem Besuch und der Protokollierung des Unterrichts auch die Planungsunterlagen für die Beurteilung herbeigezogen werden können. Anwendbar sind die Kriterien vor allem auf den Typus des erarbeitenden Geschichtsunterrichts. Dieser Typus tritt bei den Unterrichtsbesuchen (und insgesamt bei den ausbildungsbegleitenden Praktika) in mehr als vier von fünf Fällen auf. Geschichtsunterricht, der andere Lehr-Lernmethoden zur Anwendung bringt (aufgabenbasierter, projektorientierter, erkundender Unterricht)16 lässt sich mit diesen Kriterien ebenfalls beurteilen, jedoch in der Regel nicht anhand einer einzigen Lektion oder Doppellektion. Unter den gegebenen Bedingungen des genannten Ausbildungsgangs (Lehramt Maturitätsschulen) sind Unterrichtsbesuche (mit entsprechenden Rückmeldungen) in mehreren Lektionen der bzw. des gleichen Studierenden wegen mangelnder zeitlicher (und auch finanzieller) Ressourcen nicht möglich. Das wäre hinsichtlich der Evaluation der Wirksamkeit der Rückmeldungen (und damit auch der angewandten Kriterien) jedoch wünschenswert.

16 Hilke Günther-Arndt: Methodik des Geschichtsunterrichts. In: Günther-Arndt/ZülsdorfKersting (Anm. 12), S. 158–204, hier S. 181f.

344 3.2

Jan Hodel

Offene Fragen

Das hier vorgestellte Instrument mag als vager Kompromiss kritisiert werden, der zulasten der Trennschärfe von Kategorien und der widerspruchsfreien Übersetzung der Ausgangs-Theorien geht. Doch die hier vorgestellten Kriterien sind ein Ergebnis pragmatischer Erwägungen auf der Basis konkreter Rahmenbedingungen des Lehramts-Studiengangs. Sie stellen das Gerüst eines übersichtlichen Modells der Planung, Durchführung und Evaluation von Geschichtsunterricht dar. Zentrales Anliegen bei ihrer Entwicklung waren Akzeptanz, Verständlichkeit und Einfachheit nebst Anwendbarkeit und Aussagekraft im alltäglichen Einsatz bei der Beurteilung von Geschichtsunterricht. Und diesen Zweck erfüllen diese Kriterien. Problematischer erscheinen andere Aspekte: So beschäftigt uns die Fokussierung der Kriterien auf das Lehrerhandeln, die die Lernvoraussetzungen und den Kompetenzaufbau der Schülerinnen und Schüler scheinbar vernachlässigen. Der gewählte Ansatz ist indessen auch durch die leidlichen Erfahrungen mit sogenannten kompetenzorientierten Unterrichtslektionen motiviert, die jegliche inhaltliche Bezogenheit und geschichtsdidaktische Profilierung vermissen ließen und damit die Schülerinnen und Schüler nach Absolvierung kaum entschlüsselbarer Aufgaben rat- und orientierungslos zurückließen. Wenn künftige Lehrpersonen keine nachvollziehbare Vorstellung davon entwickeln, was im von ihnen verantworteten Geschichtsunterricht die Schülerinnen und Schüler lernen können, bleibt die Schülerorientierung und damit die Kompetenzorientierung eine Chimäre. Dennoch bleibt die Integration der Schülerorientierung eine zentrale Herausforderung dieses Bewertungsverfahrens. Mit Anpassungen an den Formulierungen der Kriterien, den Merkblättern und Anwendungsbeispielen soll Wirksamkeit der Kriterien auch in dieser Hinsicht laufend verbessert werden. Eine weitere Herausforderung ist die Entwicklung eines verlässlichen Verfahrens zur Ermittlung von Erkenntnissen über die Wirkung des Instruments. Ob die modellhaften Kriterien zu einer langfristigen Verbesserung des Unterrichts führen, ist aus verschiedenen Gründen schwierig zu bemessen. Zum einen sind die bewusst offen formulierten Kriterien kaum in standardisierte und formalisierte Testverfahren zu überführen, sondern erfordern ein hermeneutisches Verfahren, das sich eher für entwicklungsorientierte Rückmeldungen eignet, die den Studierenden bewusst Entscheidungsfreiheit darin lassen, inwiefern die rapportierten Beobachtungen in die eigene Praxis übernommen werden. Zudem ist die Zeitspanne, in der die Studierenden die Ausbildung absolvieren, mit ein bis zwei Jahren für eine entsprechende Untersuchung in der Regel zu kurz und lässt auch keine belastbaren Aussagen über die weitere berufsbiographische Entwicklung zu.

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Der hier dargelegte Weg einer theorie- und praxisbezogenen Professionalisierung angehender Geschichtslehrkräfte entspricht indessen einer Vorgehensweise, die nah bei den unterrichtspragmatischen Anforderungen an Geschichtslehrpersonen liegt: nämlich komplexe historische Sachverhalte sowie geschichtsdidaktische Prinzipen so zu fokussieren und zu vereinfachen, dass die Schülerinnen und Schüler wesentliche Sinnbildungspotentiale daraus herausarbeiten können.

Michele Barricelli

Kommentar: „Wie?“ Die Unterrichtsgestaltung

Die Frage, welche Methoden, Arbeitsweisen, Vermittlungstechniken (zusammen grob „Verfahren“) im Geschichtsunterricht angewandt werden sollen, um bei Lernsubjekten auf die Lernobjekte gerichtete Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Urteilsprozesse zu generieren, hat in Deutschland eigentlich nie eine herausgehobene Rolle gespielt.1 Zumindest ist es der Geschichtsdidaktik bisher nicht gelungen, hier ein tatsächlich facheigenes, unverwechselbares Profil zu entwickeln.2 Möglicherweise lässt sich die gewisse Zwanglosigkeit darauf zurückführen, dass der deutschen Schule und dem deutschen Bildungsideal jener bestimmte Pragmatismus, wie er etwa in den USA oder der Schweiz vorherrscht, generell stets fremd blieb. Man schaut ganz einfach viel mehr darauf, was zu lernen ist, wer für den Lernerfolg, also die Zielerreichung, Verantwortung trägt und ob es im Rahmen der Zumessung von Anforderungen Unterschiede geben soll (worauf ja das deutsche gegliederte Schulsystem mit seiner Begabungsidee beruht). Selbst noch die jüngere outcome-Orientierung des schulischen Kompetenzparadigmas ist ein deutliches Zeichen für dieses prinzipielle Desinteresse: Kompetenzen können an weitgehend beliebigen Inhalten erworben werden und bei den Lernenden auf verschiedenen Stufen ausgeprägt sein – wie dies zu bewerkstelligen sei, scheint keiner näheren Betrachtung wert. Die Tagungsleitung hat angesichts dieses Mangels, wie er den Lehrkräften im Unterrichtsalltag erscheinen muss, für die Benennung der von Anke John geleiteten sowie breit eingeführten Sektion zum problemhaltigen Ausdruck der „Unterrichtgestaltung“ gegriffen. Nun sind „Gestalt“ und „Gestaltung“ im 1 Der Vortragsstil ist beibehalten. Der „Kommentar“ bezieht sich im Wesentlichen auf die mündlichen Konferenzbeiträge und soll kein Ko-Referat sein (mit weiteren Literaturhinweisen, Belegen oder Widerlegungen), sondern das Vorgetragene assoziativ weitern. 2 So sind die bei Weitem meisten methodischen Vorschläge bei Birgit Wenzel: Kreative und innovative Methoden. Geschichtsunterricht einmal anders. 7. Aufl. Schwalbach/Ts. 2017, der allgemeinen Pädagogik oder aber anderen Fachkulturen entlehnt, obgleich es Wenzel oft gelingt, die Eignung vieler nicht eigenbürtiger Formate auch für das historische Lernen anschaulich zu machen.

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Michele Barricelli

Deutschen aufgrund ihrer sehr spezifischen Verwendung in philosophischen, psychologischen und bildungstheoretischen Diskursen hoch aufgeladene Termini technici, die abgeschlossene Forschungstraditionen nach sich ziehen und überhaupt nicht leicht auf den Punkt zu bringen sind. „Gestalt“ ist jedenfalls ein so urdeutsches, kaum übersetzbares und offenbar ganz vordringlich mit deutschem kulturellen Denken verknüpftes Wort, dass es als einer der seltenen Germanismen auch in die englische, französische und italienische Sprache eingegangen ist. Die „Gestalt“ (wie sie zum Beispiel in der „Gestalttherapie“ interessiert) bedeutet immerhin mehr als Form, Erscheinungsbild oder Aussehen; sie verbindet sich mit der Vorstellung des Werdens und Wachsens bzw. der Reifung („Gestalt annehmen“), mit Größe und Vortrefflichkeit („eine legendäre Gestalt“) und der von einem darüber befindenden Kollektiv ausgehenden Zustimmungsfähigkeit für das Ergebnis („Gestalt verleihen“). Die Frage nach dem „Wie“ des Unterrichts zielt hier also nicht auf den Einsatz von Kniffen und Tricks, um Schülerinnen und Schüler für ein sie zuvor nicht berührendes historisches Thema zu motivieren oder mäßige Arbeitsbereitschaft trotzdem in vorzeigbare Arbeitsergebnisse zu überführen. Die „Gestaltung von Geschichtsunterricht“ beschreibt vielmehr eine Suche nach der zielgerichteten Formung und Verwandlung von institutionell gestifteten Lernvorgängen zum Zwecke der Verfeinerung des Geschichtsbewusstseins und ergo der Verbesserung der Welt. In der Summe setzt sich daher jede „Gestalt“ aus einer Form, einem Bild und einer Botschaft zusammen. Diesem hohen Anspruch wandten sich die nachfolgend rekapitulierten Beiträge unter recht verschiedenen Vorzeichen zu. Saskia Handro schärft seit einiger Zeit schon der Geschichtsdidaktik ein, dass Sprache historische Lernprozesse auf jeder Stufe des Entwicklungsgangs – des Fragens, Erarbeitens, Sicherns und Transferierens – konstituiert. Die gerade auch für den historischen Lernprozess mit seinen zeitlich unerreichbaren, unanschaulichen, nicht demonstrationsfähigen Lerngegenständen gebildete Form der Aneignung ist (heute) wesentlich das Lesen. Anders als das sinnverstehende Hören oder sinnproduzierende Denken ist zwar das Lesen, obwohl dies häufig leichtfertig behauptet wird, keine fundamentale bzw. durch Ursprünglichkeit nobilitierte Kulturleistung, denn niemand würde wohl den übergroßen Bevölkerungsanteilen, die in Europa vor ca. 200 Jahren nicht oder doch fast nicht lesen oder schreiben konnten, unterstellen, sie hätten keine Kultur besessen. Aber selbstverständlich beruht unser heutiges Bild von Wissen und Können und damit ein Großteil von Unterrichtsgestaltung auf Akten, die zumindest irgendwie mit dem Lesen zu tun haben. Freilich wurde zuletzt durch den Siegeszug der Sozialen Medien unser Verständnis dafür erweitert, dass man sich dabei nicht auf genormte Seiten bedruckten Papiers beschränken muss. Eine medial-horizontal vielfältige Leseforschung ist schon im Entstehen (Lesen im Buch, im Netz, auf dem Smartphone etc.). Handro jedoch gibt zu Recht zu bedenken, dass eine

Kommentar: „Wie?“ Die Unterrichtsgestaltung

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fachliche Profilierung von Leseweisen noch aussteht – denn schnell einsehbar ist, dass der Umgang mit einem Text, der z. B. ein chemisches Experiment oder einen Vulkanausbruch beschreibt, sich kategorial vom Ablesen einer Erzählung etwa über offene Feldschlachten im 18. Jahrhundert unterscheidet. Um ,richtige‘ bzw. effektive Annäherungen zu kennzeichnen, spricht sie von „Lesestrategien“ und lässt mithin vermuten, dass das Lesen für das Subjekt trotz aller Hilfen und Übungen Teil eines Kampfes bleibt und ein Text damit immer auch eine zu bewältigende feindliche Einheit. Die Lösung ist generalstabsmäßig gedacht, da gesagt wird, dass die im Geschichtsunterricht relevanten Lesestrategien anzupassen sind an die Logik der historischen Lern- und Erkenntnisprozesse. Wenig überraschend vertraut Handro damit auf die Integration lesedidaktischer, linguistischer und geschichtsdidaktischer Prinzipien. Doch liegt dabei die ganze Schwierigkeit in der Bestimmung der Fachlichkeit. Wie bereits angedeutet (und allgemein anerkannt), gibt es in der Geschichte als Wissenschaft und Schulfach keine festen, unveränderlichen Objekte, die uns entgegengeworfen werden und an denen wir uns stoßen. Insofern können Lesestrategien, strenggenommen, keine „Werkzeuge“ des historischen Lernens sein, mit denen etwas grundsätzlich Anderes – fälschlich also die „Geschichte“, die vor dem Lesen schon existieren würde – zu bearbeiten (wahr-, aufzunehmen, zu erschließen) wäre. Während also eine fachvergessene allgemeine Leseforschung Lesen eher als etwas so Intermediäres und nicht Eigenständiges wie „Textverstehen“ (oder, das Wort gibt es wohl nicht, Textnachvollziehen) ausgibt, müsste eine geschichtsdidaktische Leseforschung nicht nur die Erkenntnisakte in Bezug auf Textgattungen (z. B. der Vergleich zwischen einer zeitgenössischen Chronik über Heinrichs IV. Alpenübergang nach Canossa und einer modernen Darstellung zum Investiturstreit) ergründen, sondern stärker noch schauen, wie junge Lernende in der lesenden Begegnung etwa mit Aussagen von Zeitzeugen und den Deutungen von Historikerinnen (verschiedener Jahrhunderte) oder heutigen Schulbuchautoren dem Erlesenen einen Sinn unterlegen. Geschichtsdidaktisch ausgefeilte „Lesestrategien“ als Kampfhandlungen am buchstäblichen Material sollten deswegen nicht nur auf die jeweils variierenden Schutzwälle, Gegenwehren und Kriegslisten im Text eingestellt sein, sondern genauso die allenthalben in ihnen versteckten Botschaften auskundschaften. Stefan Benz erklärt in seinem Beitrag einen alten Bekannten der geschichtsdidaktischen Debatte, die Multiperspektivität, als „Unterrichtsprinzip“ zum „Schlüsselkonzept historischer Bildung“. Wo Schlüssel benötigt werden, um Zugang zu gewinnen (was durchaus friedlicher als die strategische Eroberung klingt), muss man mit hinter Türen Verborgenem rechnen. Bei Benz könnten das historisch bzw. geschichtsdidaktisch relevante Einsichten, Kompetenzen, Haltungen, Bildungen sein. Niemand würde wohl widersprechen, dass eine Unterrichtsgestaltung, welche die zugehörigen Aktivitäten nicht als einförmig und

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sicher, sondern als vielgestaltig und tastend – eben multiperspektivisch – formt, das Gebot der Stunde ist. Benz schöpft seine weiteren Überlegungen wie so oft aus einer profunden Kenntnis von hilfreichen Argumentationsfolien aus Bildungs- und Kulturgeschichte, die durchaus ergänzen, was etwa Klaus Bergmann oder Martin Lücke zum Sachverhalt gesagt haben. Benz geht ganz richtig davon aus, dass „Perspektive“ zunächst etwas mit dem Sehen (bzw. dessen Wissenschaft, der Optik), im Übrigen aus einiger Entfernung, zu tun hat – weswegen sich die Metapher, das sei hier angefügt, eigentlich nicht gut mit Geschichte verbinden lässt, da dort, was abermals betont sein soll, gar nichts geschaut, sondern alles nur erzählt, gedacht, vorgestellt werden kann. Demzufolge ist begrüßenswert, dass Benz nicht tiefer auf die möglicherweise sogar ausgeforschte Dreifaltigkeit aus Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität eingeht (obwohl reizvoll gewesen wäre zu diskutieren, wie sich diese eingespielten und für unangreifbar gehaltenen Prinzipien gerade jetzt verhalten unter den wieder einmal angepassten Diskursregeln, die heißen: nicht zur Disposition stehende angeblich jüdisch-christliche bzw. europäische Werte; Heimat und Heimatschutz; Beherrschung einer einfältigen Nationalerzählung, die Voraussetzung ist für die gönnerhaft gewährte Integration). Stattdessen formt er Perspektivität bzw. Multiperspektivität interdisziplinär : Unterrichtsgeschehen soll unter den Maßgaben von Geschichtstheorie, Soziologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft und Ethik gestaltet werden. Das impliziert sehr verschiedene, möglicherweise gar widersprüchliche Botschaften, für deren Aushandlung noch unendlich viel Zeit ins Land gehen wird. Für das eigentlich Organisatorische beruft sich Benz unter anderen auf Jörn Rüsen, der fordert, am Beginn des Unterrichts habe stets der Aufruf zur Reflexion des eigenen Standpunkts und damit eine fundamentale Verunsicherung zu stehen, denn jede Frage nach der Selbstaufklärung, warum man dort steht, wo man steht, enthält ja die Möglichkeit, dass man sodann gesagt bekommt, aufgrund mangelnder Überzeugungsfähigkeit wäre eine Korrektur angebracht. Dies wiederum berührt ganz entscheidend auch die Disziplin Geschichtsdidaktik, firmierte doch im Unterthema dieser Jahrestagung „eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung“. Auch für das Konzept des dialogischen Erzählens im Geschichtsunterricht von Philippe Weber wird Multiperspektivität (wenn auch in weniger elaborierter Weise als zuvor bei Benz) als Konstituente allen historischen Lernens ins Feld geführt. Weber versteht ganz grundsätzlich die Wahrnehmung von Geschichte (z. B. durch Lesen) als einen produktiven Akt. Er führt das auf den unausweichlichen Gestaltcharakter von Erzählungen zurück, die nämlich deswegen, weil sie gut geformt oder gar vortrefflich sind, zu einem Urteil, einer Haltung, sprich Gegenerzählung herausfordern. Im Klassenzimmer ergibt sich daraus ein Widerspruch zwischen instruierender Demonstration und konstruierender Bemächtigung, zumindest solange dabei eine Rollenverteilung nach dem Ping-

Kommentar: „Wie?“ Die Unterrichtsgestaltung

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Pong-Prinzip vorausgesetzt wird: Der Eine macht den Aufschlag und die Anderen parieren. Doch geht es Weber um viel mehr als ein ziemlich steriles ReizReaktions-Schema, nämlich darum, wie durch das Erzählen das Neue oder Originelle in die Welt (hier zunächst: den Klassenraum) kommt. Für die Klärung nimmt er eine Anleihe beim Erzähltheoretiker Albrecht Koschorke, der von der Erzählung als einem „fluiden Medium“ spricht (was natürlich schlicht ihre Formbarkeit und Veränderlichkeit anzeigen soll). Doch ist man mit einem Votum aus der Literaturwissenschaft gut beraten? Wieder liegt die Antwort im strikten Bezug auf unser Fach Geschichte: Über dreißig Jahre geschichtsdidaktische Debatte und Theoriebildungen haben die Überzeugung reifen lassen, dass die historische Erzählung eben kein „Medium“ ist, das heißt nichts was in der Mitte zwischen dem zu Erkennenden und den Erkennenden stünde, sondern die Geschichte selbst. Insofern sind jede Imagination, jede Gegen- und Selbsterzählung, die beim Hören eines Vortrags, beim Lesen eines Textes und in der Kommunikation mit anderen Lernenden inklusive der Lehrkraft aufkommen, sich verfestigen oder auch wieder verflüssigen bzw. verflüchtigen, auch schon immer gestaltete Geschichte. Weber formuliert hier sehr suggestiv, im dialogischen Erzählen als Unterrichtsmodell sei jede Nach-, Weiter- oder Neuerzählung als „Intervention“ (am besten wohl in das Geschichtsverstehen) zu werten. Die „Rolle“ des Intervenierenden weist er freilich vornehmlich der Lehrkraft zu als eine Art Sorge für die Einführung in bedeutsame historische Fragen, welche die Lernenden dann bearbeiten, in veränderter Gestalt (re)präsentieren und nach gemeinsamer kriteriengeleiteter Deutung zur „Neubestimmung der Gegenwart“ nutzen. Daran ist, rein formal betrachtet, viel Gutes zu erkennen: alte Quellenbzw. Ideologiekritik, Lebensweltbezug und Orientierungsfunktion des historischen Lernens. Aber in dieser Unterrichtsgestaltung besticht doch die konsequente narrative Verankerung, die wiederum, weil das Unerhörte an jeder (nach-)gebildeten Schülererzählung und dessen unbedingter Wert betont wird, die hohe Stellung des Lernsubjekts würdigt. Dies scheint dann auch die Essenz der Botschaft zu sein: dass in der Formung von Geschichtsunterricht als dialogischer (wiewohl nicht gleichberechtigt geführter) Auseinandersetzung über die Erzählung von Vergangenheit ein Schlüssel zum historischen Lernen liegt. Jan Hodels abschließende Reflexion auf die zumindest vermutbaren Dimensionen geschichtsspezifischer Unterrichtsverfahren bündelt in gewisser Weise die vorangegangenen Beiträge. Der Entstehungszusammenhang des vorgestellten Modells mag etwas speziell erscheinen (Ausbildungssituationen für Geschichtslehrkräfte in der Schweiz). Im Rahmen der Kategoriensuche, um das Wie von Geschichtsunterricht beschreiben, planen und evaluieren zu können, bestätigt der Vorschlag jedoch die Abhängigkeit von den Prinzipien der historischen Erkenntnisgewinnung, die Bedeutung von Triftigkeiten insbesondere von Medien, denen man sich schauend, lesend und eingreifend zuwendet, die

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Anerkennung der während der Rezeption vollzogenen subjektiven Formungen von Geschichte und insgesamt das Bild von Geschichtsunterricht als Erzählveranstaltung. Hodel übt durchaus Kritik an manchen Strapazierungen bei den Formvorgaben von Geschichtsunterricht: Multiperspektivität als überspezifisches Merkmal entferne historisches Lernen von Ansprüchen der Allgemeinbildung, Kompetenzorientierung technisiere das Bildungsideal und komplexe Bestimmungen von „gutem Unterreicht“ machten, um im Bild zu bleiben, jede Disposition etwa für Methoden, Medieneinsatz oder Ergebniskontrolle einer Lektion zur Strategieplanung für ein Großunternehmen. Im Vordergrund müsse stehen, dass jede Entscheidung für eine bestimmte Unterrichtsgestaltung eine Entscheidung für den Umgang mit den allfälligen Neukonstruktionen von Geschichte sei und dass, um das dann Lernen nennen zu dürfen, eine an Regeln ausgerichtete Bewertung zumindest möglich sein sollte. Am Ende steht die Einsicht, dass, wenn denn also ein gut gestalteter Geschichtsunterricht einer ist, in dem vielfältig, sinnvoll und subjektorientiert erzählt wird (was das Lesen, Diskutieren, Kritisieren nicht nur einschließt, sondern voraussetzt), empirische, normative und narrative Triftigkeit als Maßstab der historischen Erkenntnis das „Wie“ des Unterrichts auf allen Ebenen anleitet.

Sektion 4: Wer? Die Akteure

Charlotte Bühl-Gramer

Wer? Die Akteure. Einführung in die Sektion

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Natürlich sind auch Schülerinnen und Schüler Akteure des Geschichtsunterrichts, und selbstverständlich ist Unterricht in hohem Maße ein kommunikatives Geschehen, geprägt von Lehrer-SchülerInteraktionen. Wenn der Fokus dieser Sektion ausschließlich auf Lehrkräfte gelegt wird, so sollen mit den Lehrerinnen und Lehrern die Akteure der Unterrichtsplanung und die für die unmittelbaren Lernprozesse im Geschichtsunterricht verantwortlichen Personen in den Blick genommen werden.1 Darüber hinaus trägt die Sektion dem Umstand Rechnung, dass das Berufsverständnis, das Handeln oder auch der Werdegang von Lehrkräften lange Zeit in der Geschichtsdidaktik ein unbeachtetes Forschungsfeld waren und erst in den letzten Jahren zu einem zentralen Themenfeld der geschichtsdidaktischen Diskussion avancierten.2

Lehrkräfte und Lehrerbildung in der Geschichtsdidaktik Holt man jedoch zeitlich ein wenig weiter aus, findet man einige kleinere empirische Untersuchungen zu Geschichtslehrkräften und Lehramtsstudierenden, die auf der zweiten Verbandstagung im Jahr 1975 in Nürnberg vorgestellt wurden.3 Während die Forschung zu Geschichtslehrkräften überschaubar blieb, 1 Sektion 2: Für wen? befasst sich mit Schülerinnen und Schülern. 2 Vgl. Markus Bernhardt: Geschichtsdidaktik nach PISA – Bilanzen und Perspektiven. Eine bibliometrische Analyse. In: Michael Sauer u. a. (Hrsg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz, Göttingen 2014, S. 349– 364, hier S. 355–360. 3 Vgl. Joachim Radkau: Das Geschichtsinteresse von PH-Studenten: Ergebnisse zweier Umfragen; Wolfgang Hug: Lehrermotivation im Fach Geschichte; Maria Zenner : Lehrereinstellungen zum Frontal- und Gruppenunterricht. Alle drei Beiträge in: Walter Fürnrohr/Hans Georg Kirchhoff: Ansätze empirischer Forschung im Bereich der Geschichtsdidaktik. Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom 1. bis 3. Oktober 1975 in Nürnberg, Stuttgart 1976, S. 45–74; S. 75–102; S. 103–110.

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Charlotte Bühl-Gramer

erfolgte im Zuge der seit Ende der 1960er Jahre intensiv geführten Reformdebatten zur Lehrerbildung eine theoretische und normative Auseinandersetzung zu Fragen der Geschichtslehrerbildung.4 Mitte der 1980er Jahre erinnerte Horst Gies an das Forschungsdefizit zu den Lehrpersonen. Angesichts der Konturierung des Geschichtsunterrichts als problemorientiertes Denk- und Arbeitsfach trat für ihn diese Forschungslücke besonders deutlich und schmerzlich zutage. Denn den Geschichtslehrkräften wurde durch diesen Paradigmenwechsel zwar eine erhöhte „didaktische Kompetenz“5 und mit Blick auf die Erweiterung der Themenbereiche auch eine erweiterte „fachliche Kompetenz“6 abverlangt, doch hatten „[…] die Geschichtsdidaktiker den Geschichtslehrer als einen der wichtigsten Faktoren der unterrichtspraktischen Umsetzung ihrer Ideen noch überhaupt nicht entdeckt.“7 Gies folgte damit Ulrich Krölls Problemanzeige von 1985, nach der die Geschichtsdidaktik unausgesprochen Geschichtslehrkräfte als „[…] funktionales Neutrum […behandelt], das nach einem entsprechenden „input“ einen erwünschten „output“ in Form historisch-politischer Bewußtseinsbildung des Schülers erbringt. Der Geschichtslehrer als Individuum mit seinen persönlichen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen bleibt ausgespart.“8 Diesen Problemanzeigen schloss sich jedoch keine intensive fachspezifische Lehrerforschung an. Im selben Jahr wurde dagegen erstmals eine Bestandsaufnahme der normativen Grundlagen zur Geschichtslehrerausbildung in allen deutschen Bundesländern vorgelegt.9 Im Zentrum der Analysen stand eine Bilanz über den „Zuwachs an Professionalisierung in den Lehramtsstudiengängen“10. Als Merkmale von Professionalisierung galten dabei – ohne genauere begriffliche wie fachspezifi4 Stellvertretend für die umfangreiche Literatur sei hier auf das Großkapitel im Handbuch der Geschichtsdidaktik verwiesen, in dem Artikel zur Geschichtslehrerbildung und –fortbildung vertreten waren – ein Bereich, der in der letzten Auflage des Handbuchs keine Berücksichtigung mehr fand. Vgl. das Kapitel Geschichtslehrerausbildung in: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Bd. 2. Düsseldorf 1979, S. 209–256. 5 Horst Gies: Der Geschichtslehrer im Spannungsfeld von Anforderungen der Praxis und Ansprüchen der Theorie. In: Ders.: Geschichte – Geschichtslehrer – Geschichtsunterricht: Studien zum historischen Lehren und Lernen in der Schule. Weinheim 1998, S. 109–128, hier S. 121. Die Erstveröffentlichung des Beitrags erfolgte im Jahr 1986. 6 Ebd. 7 Ebd. S. 122. 8 Ulrich Kröll: Geschichtsdidaktik und Geschichtslehrerfortbildung. Zum Verhältnis von geschichtsdidaktischer Wissenschaft, Geschichtslehrerausbildung und Geschichtslehrerfortbildung. In: Ders. (Hrsg.): Geschichtslehrerfortbildung. Perspektiven – Erfahrungen – Daten. Münster 1985. Diese „Objektrolle“ beklagte auch der damalige Vorsitzende des Geschichtslehrerverbands Siegfried Graßmann. Vgl. Ders.: Geschichtsbewußtsein – Geschichtsunterricht – Geschichtslehrer. In: GWU 31 (1980), S. 244–250, hier S. 247. 9 Horst Gies (Hrsg.): Geschichtslehrerausbildung in der Bundesrepublik Deutschland. Bochum 1985. 10 Hans Georg Kirchhoff: Versuch einer Bilanz. In: Ebd., S. 337–351, hier S. 340.

Wer? Die Akteure. Einführung in die Sektion

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sche Schärfung – eine stärkere Berufsfeldorientierung im Studium, die Institutionalisierung der Geschichtsdidaktik an den unterschiedlichen Einrichtungen der Lehrerbildung, die Höhe der fachdidaktischen Studienanteile und eine engere Verzahnung der ersten mit der zweiten Ausbildungsphase. Während gegen Ende der 1990er Jahre ein Interesse an Lehrkräften innerhalb wie außerhalb der geschichtsdidaktischen Disziplin durch einen Beitrag auf der Verbandstagung in Hamburg im Jahr 1998 zu fassen ist11, fokussierte die universitäre Geschichtsdidaktik in der nach dem PISA-Schock eingeleiteten Kompetenzdebatte zunächst vor allem Fragen nach einer Modellierung von Kompetenzen und einem Kompetenzerwerb von Schülerinnen und Schülern. Überlegungen zu Kompetenzen und Standards für Geschichtslehrkräfte bzw. die Lehrerbildung blieben zunächst vereinzelt.12 Wie Manfred Seidenfuß zurecht betont, waren jedoch im Gefolge der Debatte um die PISA-Studien erstmals die Lern- und Schulleistungen der Schülerinnen und Schüler in Korrelation zu den Lehrleistungen gestellt worden.13 Die an die PISA-Debatten anschließende internationale und nationale bildungswissenschaftliche empirische Forschung zum maßgeblichen Anteil der Lehrkräfte an der Unterrichtsqualität, am Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler und zur professionellen Kompetenz von Lehrpersonen wurde breit rezipiert.14 Im Zuge der auf die PISA-Studien folgende

11 Vgl. die Analyse der 1997 von der Körber-Stiftung initiierten Umfrage unter Lehrkräften, die Schülerinnen und Schüler als Tutorinnen und Tutoren beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten unterstützten. Erika Richter : Hat der Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte den Geschichtsunterricht verändert? Ergebnisse einer Befragung von Tutoren des Wettbewerbs. In: Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann/Hartmut Voit (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein und Methoden historischen Lernens. Weinheim 1998, S. 307–320; Bodo von Borries: Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht. Opladen 1999. 12 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Schwalbach/Ts. 2000, S. 24–52; Michael Jung/Holger Thünemann: Welche Kompetenzen brauchen Geschichtslehrer? Für eine Debatte über fachspezifische Standards in der Geschichtslehrerausbildung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 6 (2007), S. 243–252; Wolfgang Hasberg: Historiker oder Pädagoge? Geschichtslehrer im Kreuzfeuer der Kompetenzdebatte. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 159–179. 13 Vgl. Manfred Seidenfuß: Forschungsfeld Geschichtslehrkräfte. Eine Einführung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), S. 5–14, hier S. 5f. Die mitunter hektische Suche nach Ursachen für das schlechte Abschneiden in der PISA-Studie ging sehr schnell bis hin zu Fragen nach der Qualität der frühkindlichen Bildung. Vgl. Charlotte Bühl-Gramer : Frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen – erste Begegnungen mit Geschichte? In: Monika Fenn (Hrsg.): Frühes historisches Lernen. Projekte und Perspektiven empirischer Forschung. Schwalbach/Ts. 2018, S. 270–295. 14 Vgl. OECD: Teachers matter. Attracting, developing and retaining effective teachers. Paris 2005; John Hattie: Visible Learning: A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. Oxford 2008; Mareike Kunter u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster u. a. 2011; Marko

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Standard- und Kompetenzorientierung sowie des gestiegenen bildungspolitischen Interesses an einer Effektivierung des Bildungssystems sind seither empirische geschichtsdidaktische Forschungen zu Lehrkräften und ihren Kompetenzen mit Forschungen zur Professionalisierung der Lehrerbildung eng miteinander verbunden. Die Beiträge zur Professionalisierung von Geschichtslehrkräften auf der Zweijahrestagung in Augsburg im Jahr 2011 machten erste Zusammenhänge deutlich.15

Aktuelle Forschungsfelder Ein detaillierter Überblick zum geschichtsdidaktischen Forschungsstand auf dem Feld der Lehrerforschung kann und muss hier nicht vorgelegt werden, zumal Katharina Litten in ihrer Dissertation hierüber ein umfangreiches, äußerst lesenswertes Kapitel verfasst hat.16 Einige wenige Anmerkungen sollen daher an dieser Stelle genügen. Derzeit orientiert sich ein großer Teil der geschichtsdidaktischen empirischen Forschung an dem drei Bereiche umfassenden Konzept des professionellen Wissens von Lehrkräften in der Folge von Lee Shulman und Rainer Bromme und fragt nach den fachspezifisch gewendeten Wissensfacetten – dem pädagogischen und fachdidaktischen Wissen und dem Fachwissen – sowie nach individuellen Konzepten von Lehrpersonen, die in der Gesamtheit als „professionelle Handlungskompetenz“ bezeichnet werden.17 Der Bereich des Fachwissens ist deutlich weniger beforscht. Auf diesem Feld befasst sich die Forschung derzeit mit der fachspezifischen Ausdifferenzierung und Konzeptualisierung von professionellem Fachwissen von Geschichtslehrkräften, unter der Annahme, dass es sich hierbei um eine besondere schulbezogene Wissensform handelt. Aus dessen Modellierung sollen Implikationen für die erste Phase der Lehrerbildung abgeleitet werden.18 Diese Spezifika eines

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Demantowsky/Monika Waldis: John Hatties „Visible Learning“ und die Geschichtsdidaktik. Grenzen und Perspektiven. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), S. 100–116. Vgl. Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven. Göttingen 2013. Vgl. Katharina Litten: Wie planen Geschichtslehrkräfte ihren Unterricht? Eine empirische Untersuchung der Unterrichtsvorbereitung von Geschichtslehrpersonen an Gymnasien und Hauptschulen (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14). Göttingen 2017, S. 119–168. Jürgen Baumert/Mareike Kunter : Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, 9 (2006), H. 4, S. 469–520, hier S. 470f. Vgl. zuletzt Monika Fenn/Jessica Seider : Welches Fachwissen ist für Geschichtslehrpersonen relevant? Erste Ergebnisse einer Delphi-Studie. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 199–217. In einem kurzen Diskussionsvorschlag für die Verbesserung der ersten Phase der Lehrerbildung warb Jochen Huhn 1977 für eine gemeinsame curriculare Planung

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berufsfeldbezogenen Fachwissens waren u. a. jüngst auch ein Gegenstand in schriftlichen Experteninterviews mit Akteuren aus Schule, Referendariat und Universität. Dabei wird deutlich, dass alle Befragten die Relevanz des Fachwissens sehr hoch einschätzen, in den Ausführungen aber durchaus vielfältige Konzeptualisierungen deutlich werden.19 Neben Studien im längsschnittlichen Design zu Selbsteinschätzungen von Berufssituation und Professionalisierungsprozessen20 werden Forschungsfragen durch die Reduktion auf bestimmte Facetten des Wissens und Könnens (z. B. Aufgaben formulieren können; Diagnostizieren können) mithilfe der Entwicklung von Testformaten für Lehrerhandeln operationalisiert. Die geschichtsdidaktische Forschung setzt dabei Untersuchungsmethoden der empirischen Sozialforschung ein, wie etwa die Videoanalyse, die Konstruktion fachspezifischer Planungs- und Reflexionssituationen durch Vignetten, die Methode des Lauten Denkens oder des leitfadengestützten Interviews. Andere Forschungsfelder widmen sich der Frage nach der Transformation von Wissen und Können in die berufliche Praxis oder der Erhebung von Handlungsbeständen von Lehrkräften zu unterrichtlichem Tun bzw. aus der Frage, wie Geschichtslehrkräfte die Praxis gestalten.21 Auch der Bereich individueller Konzepte und der Erfahrungsorganisation von Geschichtslehrkräften und die Frage, ob und wie diese Faktoren für gelingenden Unterricht Relevanz entfalten und inwiefern daraus auch Befunde für Chancen und Blockaden erfolgreichen Geschichtsunterrichts wie auch für die Konzeption und tatsächliche Wirksamkeit geschichtsdidaktischer Lehrerbildung abgeleitet von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik und betonte die Relevanz methodologischer und erkenntnistheoretischer Fragestellungen als wichtige „berufsspezifische fachwissenschaftliche Kompetenz“ von Geschichtslehrkräften. Ders.: Geschichtsdidaktik – Geschichtstheorie – Geschichtslehrerstudium. Eine Problemskizze zum Verhältnis von Geschichtsforschung und Laien. In: Geschichtsdidaktik 2, 1977, H. 4, S. 298–313, hier S. 309–311. 19 Christian Kuchler/Andreas Sommer (Hrsg.): Wirksamer Geschichtsunterricht. Baltmannsweiler 2018; Konsens, aber auch Divergenz unter Fachleuten im Hinblick auf Maßstäbe gelingender Lernprozesse werden auch in einer rekonstruktiven Studie deutlich, in der Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker sowie Fachleiterinnen und Fachleiter aus der zweiten Ausbildungsphase ein und dieselbe Unterrichtsdoppelstunde analysieren sollten. Vgl. Johannes Meyer-Hamme u. a. (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012. 20 Vgl. Georg Kanert: Geschichtslehrerausbildung auf dem Prüfstand. Eine Längsschnittstudie zum Professionalisierungsprozess. Göttingen 2014. 21 Vgl. z. B. Jan Hodel/Monika Waldis: Sichtstrukturen im Geschichtsunterricht – die Ergebnisse der Videoanalyse. In: Peter Gautschi u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 91–142; Hanako Pade/Michael Sauer : Einstiege im Geschichtsunterricht. Empirische Befunde. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 8 (2009), S. 100–109; Michael Sauer : Quellenarbeit im Geschichtsunterricht – Empirische Befunde. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 176–197.

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werden können, wird derzeit beforscht.22 Diesbezüglich kursiert noch eine Vielzahl an Begrifflichkeiten – z. B. Alltagstheorien, Beliefs, berufsbezogene Überzeugungen, epistemologische Überzeugungen, Fach- und Selbstkonzepte, subjektive Konzepte – die der Präzisierung bedürfen. Was nun die Frage der Berufswahlmotivation von Studierenden für ein Lehramt im Fach Geschichte anbelangt, konnten bislang keine fachabhängigen, d. h. auch unterschiedlichen oder spezifischen Motivstrukturen festgestellt werden.23 Geschichtslehrkräfte, so resümierte auch Wolfgang Hug 1975 freilich 22 Vgl. Holger Thünemann: „Aber gerade das war ja historisches Denken.“ Guter Geschichtsunterricht aus Lehrerperspektive. In: GWU 62 (2011), S. 270–283; Markus Daumüller : Einstellungen und Haltungen von Fachlehrerinnen und –lehrern. In: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2. Schwalbach/Ts. 2012, S. 370–385; Ders.: Lehrgeschichten. Lerngeschichten. Lebenskonstruktionen. Wie Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer ihre Berufserfahrungen organisieren. Heidelberg 2014; Ludger Schröer : Individuelle didaktische Theorien und Professionswissen. Subjektive Konzepte gelingenden Geschichtsunterrichts während der schulpraktischen Ausbildung. Münster 2015; Monika Fenn: Beeinflusst geschichtsdidaktische Lehre die subjektiven Theorien von Studierenden zu Lehren und Lernen im Geschichtsunterricht? Ergebnisse einer empirischen Interventionsstudie. In: GWU 66 (2015), S. 515–538. Vgl. auch derzeit laufende Forschungsprojekte: Dirk Urbach: „Wenn man da in irgendeiner Form ein Samenkorn gesetzt hat“ – Nachhaltiger Geschichtsunterricht aus Lehrersicht. In: Michael Sauer u. a. (Hrsg.): Geschichtslernen in biografischer Perspektive. Göttingen 2014, S. 139–155; Anne Albers: „Weißt Du eigentlich wer Atatürk ist?“ Eine Rekonstruktion von Lehrer/innenbeliefs über Themen, Unterrichtsprinzipien und Lernpotenziale eines Geschichtsunterrichts für die vielfältige (Migrations-)Gesellschaft. In: Gerhard Henke-Bockschatz (Hrsg.): Neue geschichtsdidaktische Forschungen. Aktuelle Projekte. Göttingen 2016, S. 51–76; Martin Nitsche/Monika Waldis: Geschichtstheoretische und –didaktische Beliefs von angehenden Geschichtslehrpersonen in Deutschland und der Deutschschweiz. Erste Ergebnisse quantitativer Erhebungen. In: Monika Waldis/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 15. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 15“. Bern 2017, S. 136–150; Martin Nitsche: Geschichtstheoretische und -didaktische Überzeugungen von Lehrpersonen. Begriffliche und empirische Annäherungen an ein Fallbeispiel. In: Martin Buchsteiner/Ders. (Hrsg.): Historisches Erzählen und Lernen. Historische, theoretische, empirische und pragmatische Erkundungen. Wiesbaden 2016, S. 159–196; Ders.: Geschichtstheoretische und -didaktische Beliefs angehender und erfahrener Lehrpersonen – Einblicke in den Forschungsstand, die Entwicklung der Erhebungsinstrumente und erste Ergebnisse. In: Uwe Danker (Hrsg.): Geschichtsunterricht – Geschichtsschulbücher – Geschichtskultur. Aktuelle geschichtsdidaktische Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2017, S. 85–106. 23 Vgl. Martin Rothland/ Markus König/ Jörgen Wolf: Berufswahl Geschichtslehrer/-lehrerin? Vergleichende Analyse zur Bedeutung fachbezogener Varianz der Berufswahlmotivation als Gegenstand fachdidaktischer Forschung. In: GWU 66 (2015), S. 497–514. Allerdings blieben das Fachinteresse oder die Selbsteinschätzung fachlicher Kompetenz unberücksichtigt. Zu anderen Ergebnissen kommt Georg Kanert, der eine hohe intrinsische Motivation feststellen konnte. Allerdings lag hier der erste Erhebungszeitpunkt am Ende des Referendariats, eine Kontrollgruppe anderer „Fachlehrkräfte“ wurde hier nicht eingesetzt. Vgl. Georg Kanert: Geschichtslehrerausbildung (Anm. 20), S. 196–207 bzw. Ders.: Motivationale Beweggründe über die Wahl des (Geschichts-)Lehrerberufs und des Studienfachs Geschichte. In: Tobias

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noch ohne ein international elaboriertes Erhebungsinstrument auf der Basis einiger kleinerer Befragungen, gelangen demnach wohl erst durch Ausbildung und Berufspraxis zu fach- und berufsspezifischen Einstellungen.24 In welchen Phasen oder Schüben ein fachspezifisches Professionsverständnis wodurch entwickelt und inhaltlich gefüllt wird, ist derzeit noch nicht geklärt.

Lehrkraft für Geschichte – was heißt das eigentlich? Manfred Seidenfuß wies bereits 2014 darauf hin, dass man – auch im Zuge gegenwärtiger Förderungsbereitschaft für die empirische Lehrerforschung – weitere Ergebnisse im Forschungsfeld Geschichtslehrkräfte erwarten dürfe, „[…] die aber wegen der unterschiedlichen Designs und Instrumente kein Urteil darüber erlauben, inwiefern die Ergebnisse generalisierbar sind.“25 Ein weiterer Grund kommt freilich noch hinzu: „Einer der größten Mythen ist, dass alle Lehrer gleich seien.“26 Das zeigt schon ein kurzer Blick in den aktuellen „Sachstand in der Lehrerbildung/Stand 7. 3. 2017“27. Dort werden auf 169 Seiten die Anteile der Studienbereiche (Fachwissenschaften, Fachdidaktik, Erziehungswissenschaften, Praktika, Praxissemester) in der ersten Ausbildungsphase und die Struktur der Zweiten Phase (Dauer, Ausbildungsphasen, Ausbildungsformate, Umfang des angeleiteten bzw. eigenverantwortlichen Unterrichts; Prüfungsformate) für die verschiedenen Lehrämter in allen Bundesländern in tabellarischer Form aufgelistet. Schon auf dieser Ebene der normativen Vorgaben der Lehrerbildung bietet sich ein höchst heterogenes Bild. Bei tendenzieller Zunahme der Berufsfeldorientierung in der ersten Phase, differieren die Anteile der Geschichtsdidaktik in den Lehramtsstudiengängen der einzelnen Bundesländer erheblich,28 und auch die institutionell bedingte Varianz im erworbenen Fachwissen ist aufgrund divergenter fachlicher Qualifikationen als beträchtlich

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Arand/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Neue Wege – neue Themen – neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2014, S. 65–82. Vgl. Wolfgang Hug: Lehrermotivation im Fach Geschichte. In: Fürnrohr/ Kirchhoff (Anm. 3), S. 82. Seidenfuß (Anm. 13), S. 11. John Hattie: Lernen sichtbar machen. Überarb. deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning“ besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler 2014, S. 294. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Bildung/AllgBildung/2017-03-07__Sachstand _LB_o_EW.pdf (18. 5. 2018). Michael Sauer : Die Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und –lehrern. In: Michele Baricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2, S. 349–369, hier S. 352.

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zu charakterisieren.29 Diese höchst heterogenen Voraussetzungen beziehen sich nicht nur auf das föderalistische Bildungssystem und seine verschiedenen Schularten. Zusammen mit den verschiedenen Professionalisierungsverläufen, den unterschiedlichen -tempi und der Vielfalt an Selbstkonzepten (z. B. das Expertenparadigma als Geschichtslehrkraft oder ein weniger fachspezifisches Konzept als Lehrkraft allgemein oder für Deutsch und Geschichte oder für Mathematik und Geschichte etc.) stellen sie die empirische Professionalisierungsforschung vor große Herausforderungen. Trotz der eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten aufgrund außerfachlicher Rahmenbedingungen befasst sich die Geschichtsdidaktik in den letzten Jahren im Nachgang der massiven Veränderungen des Lehramtsstudiums im Zuge der Bologna-Reform und ersten Ergebnissen der Lehrerprofessionalisierungsforschung wieder intensiver mit Bestandsaufnahmen und Analysen von Studienstrukturen und Organisationsfragen der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung und ihrer verbesserten Abstimmung. Dazu zählen auch Konzepte für eine bessere Integration geschichtswissenschaftlichen und geschichtsdidaktischen Wissens während des Studiums.30 Ebenso wird derzeit eine Intensivierung des Berufsfeldbezugs durch verstärkte Praxisorientierung während der ersten Phase erprobt – eine Gratwanderung zwischen Berufsfeldorientierung und mancherlei rezeptologischer Erwartungen von Seiten der Studierenden.31 Bei derzeit großer konzeptioneller Heterogenität und spezifischen Praktikumsformen – häufig bei Verkürzung des Referendariats – ist es eine wichtige Aufgabe geschichtsdidaktischer Forschung, die unterschiedlichen Modelle zu vergleichen und empirisch genauer zu untersuchen, welche Interventionen und

29 Verwiesen sei an dieser Stelle exemplarisch auf das bayerische Beispiel: Studierende im Lehramt Mittelschule studieren ein Hauptfach und drei sog. Didaktikfächer, so dass Geschichtslehrkräfte der Mittelschule entweder Geschichte als Hauptfach gewählt und damit auch ein fachwissenschaftliches Studium absolviert haben oder im Didaktikfach ausschließlich Geschichtsdidaktik studierten oder Geschichte vollständig fachfremd unterrichten. 30 Vgl. Anke John: Das Praxissemester in der Mitte des Geschichtslehrerstudiums nach dem Jenaer Modell. Wie lassen sich Theorieskepsis und Transferwiderstände geschichtsdidaktischen Denkens auflösen? In: GWU 67 (2016), H. 3/4, S. 178–189, hier S. 186–189; Thomas Martin Buck/Jessica Kreutz: Fachwissenschaft trifft Fachdidaktik – Das „Freiburger Modell“ der Lehrerbildung im Fach Geschichte. In: Greifswalder Beiträge zur Hochschullehre, 8 (2017), S. 91–102. 31 Vgl. John (Anm. 30); Kerstin Arnold: Das gymnasiale Lehramtsstudium im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Überlegungen zur Verzahnung von Geschichtsstudium und Praxissemester. In: GWU 65 (2014), S. 660–671. „Was ist von „schulpraktischen Studien“ schon in der 1. Ausbildungsphase zu halten?“, fragte auch Horst Gies in seiner Einleitung zu einer Bestandsaufnahme der Geschichtslehrerbildung der ersten Phase im Jahr 1986. Ders. (Anm. 9), S. 9.

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welcher Studienverlauf geschichtsdidaktischem Denken besonders förderlich ist.32

Desiderata Im Jahr 2012 konstatierte Michael Sauer, dass die empirische geschichtsdidaktische Forschung zur Professionalisierung von Lehrkräften noch in den allerersten Anfängen stecke.33 Die Forschungsaktivitäten haben seither deutlich an Dynamik gewonnen, gleichwohl bleiben noch viele offene Fragen. Einige wenige Aspekte seien hier aufgeführt: Sämtliche Fragen nach Wissen, Können und Transfer in die Praxis lassen sich auch an alle Akteure und Akteurinnen der Lehrerbildung wie auch der Lehrerfort und -weiterbildung stellen, um die oft beredete kulturelle Kluft der ersten und zweiten Phase präziser fassen zu können.34 Weitgehend unbeantwortet sind dabei Fragen nach den Zusammenhängen von Handeln, Qualifikation und Sozialisation, nach Motivation, Habitus und berufsbezogenen Überzeugungen, Kriterien in der tagtäglichen Beurteilung von Geschichtsunterricht wie auch nach einem möglichen Kompetenzprofil von Lehrenden im Referendariat und in der Fort- bzw. Weiterbildung. Gerade den Lehrkräften, die im Vorbereitungsdienst aktiv sind und künftige Geschichtslehrkräfte sehr eng begleiten, wird der größte Einfluss auf die Professionsausbildung von Lehrkräften und damit der langfristigen Entwicklung von tatsächlichem Unterrichtsalltag zugeschrieben. Die Hauptqualifikation für Fachleiterinnen und Fachleiter bzw. Seminarlehrkräfte wie auch für Lehrkräfte in Fortund Weiterbildungen besteht bislang jedoch darin, selbst erfolgreiche Lehrkräfte zu sein. Ebenso fehlen Forschungen zu Konzepten von Lehrgängen und zur Wirksamkeit von Lernprozessen in Fort- und Weiterbildungen.35 Schließlich wissen wir auch nichts über gestaltungsmächtige Akteure und Akteurinnen im Bereich der kulturministeriellen Bildungspolitik. Entschei32 Vgl. John (Anm. 30), S. 189. 33 Vgl. Sauer (Anm. 28), S. 367. 34 Vgl. Michael Sauer: Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern, Einführung in das Tagungsthema, in: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven. Göttingen 2013, S. 19–38, hier S. 37. 35 Vgl. dazu bislang einen Beitrag von Monika Waldis/Corinne Wyss/Jan Hodel: Kompetenzförderung im Geschichtsunterricht. Ergebnisse aus dem Projekt „Erweiterung professioneller Handlungskompetenzen von Geschichtslehrpersonen“ zur Wirksamkeit einer Lehrerweiterbildung mit Unterrichtsvideos. In: Jan Hodel/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung ”geschichtsdidaktik empirisch 09”. Bern 2011 S. 91–103.

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dungen, Verordnungen und Empfehlungen auf der bildungspolitischen Ebene wirken unmittelbar normativ auf den Geschichtsunterricht ein. Wie und durch wen hier Entscheidungsprozesse auf der Ebene der Kultusministerkonferenz angestoßen werden, welche Konzepte oder Beliefs von Geschichtsunterricht bzw. „gutem Geschichtsunterricht“ hier ihren Niederschlag finden und welcher Wissensbegriff beispielsweise in den Vorgaben, Empfehlungen konzeptualisiert wird, ist bislang ebenfalls ungeklärt. Um es pointiert mit Markus Daumüller und Manfred Seidenfuß auszudrücken: „Nicht das Schulbuch, sondern die Lehrkraft war das Leitmedium des Geschichtsunterrichts.“36 Jugendliche – so ein Ergebnis ihrer Studie zur Sicht von Schulabgängerinnen und Schulabgängern auf ihren Geschichtsunterricht – wünschen sich keine Moderatorinnen oder Unterrichtstechnokraten, sondern aktive Teilnehmerinnen und Teilnehmer und Beteiligte am Unterrichtsgeschehen. Eine „gute“ Geschichtslehrkraft aus der Perspektive der Lernenden ist demnach sicherlich ein weiteres wichtiges Thema, wie auch der Einbau der Variable Schülerschaft in der geschichtsdidaktischen Lehrkräfteforschung ebenso noch aussteht.37 Schließlich ist auch an die langfristige Wirkung von Geschichtsunterricht in der nachschulischen Biografie und die mit wachsendem Abstand zur Schulzeit veränderlichen Perspektiven auch auf Lehrkräfte zu denken.38

Zu den Beiträgen dieser Sektion In dieser Sektion werden zwei zentrale Aspekte thematisiert: Die Unterrichtsplanung als ein zentrales Moment von Lehrerhandeln sowie die Formulierung von Aufgaben im Geschichtsunterricht. Die Planung von Geschichtsunterricht ist eine der Kernschwierigkeiten von Lehrkräften.39 Katharina Litten weist in ihrem Beitrag am Beispiel von Referendarinnen und Referendaren zurecht auf die Problematik hin, dass Kenntnisse und Fähigkeiten hierüber in Unterrichtsbesuchen und Examina zwar getestet werden, dazu aber keinerlei Kriterien und evaluativen Methoden vorliegen. In ihrem Beitrag stellt sie wesentliche Ergeb36 Markus Daumüller/Manfred Seidenfuß: Endstation Geschichtsunterricht. Berlin 2017, S. 176. 37 Seidenfuß (Anm. 13), S. 12. 38 Vgl. Charlotte Bühl-Gramer : Geschichtslernen in biografischer Perspektive – Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz. Einführung in das Tagungsthema. In: Sauer u. a. (Anm. 2), S. 23–36. 39 Georg Kanert: Geschichtslehrerausbildung auf dem Prüfstand. Eine Längsschnittstudie zum Professionalisierungsprozess. Göttingen 2014, S. 369; vgl. Peter Gautschi: Beurteilung von Geschichtsunterricht. In: GWU 62 (2011), S. 315–324.

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nisse ihrer Untersuchung und ihrer Anschlussstudie vor, wie Planung von Geschichtsunterricht in der Alltagspraxis von Lehrkräften tatsächlich aussieht und sie leitet daraus Herausforderungen und Aufgaben für die geschichtsdidaktische Forschung und Lehre ab. Demnach käme es darauf generell an, der Unterrichtsplanung als wichtigem Professionsbereich Rechnung zu tragen und dabei insbesondere auch den schulformspezifischen Anforderungen zu genügen.40 Der Beitrag von Mario Resch und Manfred Seidenfuß thematisiert Aufgaben, die im Zuge der Kompetenzorientierung zunehmend in den Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts gerückt sind.41 Die Fähigkeit, Lernaufgaben konzipieren zu können, kann dabei als eine Facette von Unterrichtsplanung und gelingendem Geschichtsunterricht verstanden werden. In ihrem Beitrag untersuchen Manfred Seidenfuß und Mario Resch den Zusammenhang von Wissen und Können bei Studierenden, nach dem Konnex von Theoriekenntnissen (hier : ein Teilbereich eines geschichtsdidaktischen Kompetenzmodells) und geschichtsdidaktisch profiliertem Fachwissen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass in bestimmten Testkonstellationen Fachwissen als Prädiktor für geschichtsdidaktische Handlungskompetenz identifiziert werden kann.

40 Auch Ulrich Baumgärtner weist auf dieses wichtige, jedoch weitgehend vernachlässigte Betätigungsfeld der Geschichtsdidaktik hin. Vgl. Ders.: Zwischen Universität und Schule. Beobachtungen zur zweiten Phase der Geschichtslehrerausbildung. In: GWU 65 (2014), S. 645–649, hier S. 651. 41 Vgl. Mario Resch: Aufgaben formulieren können. Entwicklung und Validierung eines Vignettentests zur Erfassung professioneller Kompetenz für historisches Lernen. Frankfurt/M. 2018; vgl. auch an Beitrag von Jutta Mägdefrau/Andreas Michler in diesem Band.

Katharina Litten

Wie lässt sich Planung von Geschichtsunterricht bewerten? – Am Beispiel von Referendarinnen und Referendaren

„Wo ist denn bei Allmende der Gegenwartsbezug? Das weiß ich nicht, das hatten wir nicht im Seminar.“ (R3, V1, 58–60)1

Diese Aussage einer Referendarin anlässlich einer kurz vor ihrem Zweiten Staatsexamen durchgeführten Unterrichtsplanung spiegelt die hohen Erwartungen, die angehende Lehrkräfte an die eigene Berufsausbildung haben: Im besten Fall möchten sie auf jede Planungsherausforderung im Alltagsunterricht vorbereitet sein. Die Annahme der Auszubildenden, sie müssten bis zum Abschluss alle nötigen Elemente der Unterrichtsvorbereitung zumindest einmal kennen gelernt haben, kollidiert allerdings mit der Überzeugung vieler erfahrener Geschichtslehrkräfte, bei der Vorbereitung einer Geschichtsunterrichtsstunde handele es sich um einen hoch individuellen Vorgang, der intellektuell derart komplex sei, dass er sich der Beschreibung entziehe. Dieser Vorgang könne demnach auch nicht konkret vermittelt werden. Unterrichtsplanung sei vielmehr nur in einem langen Prozess im Rahmen der Berufspraxis, quasi im Selbstversuch, erlernbar. Eine solche Prognose muss Referendare und Referendarinnen beunruhigen, die möglichst selbstsicher im Berufseinstieg agieren und zudem vorher ein gutes Examen ablegen wollen. Wie soll ihnen dies gelingen, wenn sie bei einer so zentralen Anforderung wie der Unterrichtsplanung im Dunkeln tappen? Wie sollen sie sich auf eine Prüfung des relevanten Wissens und Könnens vorbereiten, wenn ihnen keine Kriterien zur Messung dieses Wissens und Könnens bekannt sind? Die Bedeutung einer gut ausgebildeten Lehrkraft für einen erfolgreichen Unterrichtsverlauf gilt in der Geschichtsdidaktik mittlerweile als unumstritten.2 1 Zitiert aus dem Interviewprotokoll der Referendarin 3, Vignettenlösung 1, Zeile 58–60 (unveröffentlichte Untersuchung, 2018). 2 Monika Fenn/Jessica Seider : Welches Fachwissen ist für die Geschichtslehrpersonen relevant? Erste Ergebnisse einer Delphi-Studie. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), S. 199–217, hier S. 199; Michael Sauer: Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen

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Katharina Litten

So werden angehende und erfahrene Lehrkräfte in der Praxis bereits seit Langem auf ihre Güte getestet. Dies geschieht insbesondere während des Referendariats, aber auch zu Beförderungsanlässen im Verlauf der Berufskarriere. In solchen Prüfungen liegt neben der Beobachtung der Unterrichtsdurchführung ein Fokus auf der Planung des Unterrichts, die immer wieder als Voraussetzung für eine gute Unterrichtsqualität gewertet wird.3 Will sich die Lehrkraft auf dem Prüfstand auf eine solche Qualitätsmessung des eigenen professionellen Handelns vorbereiten, sieht sie sich allerdings allein gelassen: In der geschichtsdidaktischen Literatur finden sich nur wenige konkrete Vorschläge zum Erlernen des Unterrichtsplanens. Auch konkrete Handlungsanleitungen für die Planungspraxis sind rar. Insgesamt ergeben die Hinweise ein unübersichtliches Bild an mitunter divergierenden Empfehlungen, die sich weder zu einem praktischen noch zu einem theoretischen Planungsmodell für den Geschichtsunterricht zusammenfügen.4 Flächendeckend akzeptierte Modelle zu einer ,guten Planung von Geschichtsunterricht‘ fehlen ebenso wie jene zum ,guten Geschichtsunterricht‘ selbst, transparente Bewertungsraster existieren demzufolge ebenso wenig.5 Auf der Suche nach normativen Vorschlägen wurde daher in meiner Dissertation der Frage gefolgt, wie die Planung von Geschichtsunterricht in der Alltagspraxis von Lehrkräften tatsächlich aussieht. Über die praktische Beobachtung und Analyse sowohl des Planungshandelns als auch des Planungsverständnisses von 24 Lehrpersonen unterschiedlicher Schulformen (Gymnasium/ Hauptschule) und unterschiedlicher Erfahrungsgrade (Referendarinnen und Referendare/Lehrpersonen mit mindestens drei Jahren Berufserfahrung/Lehrund Geschichtslehrern. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und Internationale Perspektiven. Göttingen 2013, S. 19–38, hier S. 19. 3 Vgl. z. B. Bodo von Borries: Unterrichtsplanung – Artikulationsschemata – Lehrervorbereitung. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 2, Schwalbach/Ts. 2012, S. 181–201, hier S. 182; Wolfgang Hasberg: Analytische Wege zu besserem Geschichtsunterricht. Historisches Denken im Handlungszusammenhang Geschichtsunterricht. In: Johannes Meyer-Hamme/Holger Thünemann/Meik ZülsdorfKersting (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012, S. 137–160, hier S. 138. 4 Vgl. Jörgen Wolf u. a.: Das geschichtsdidaktische Planungswissen von angehenden Geschichtslehrer/innen. Entwicklung und Pilotierung eines Testinstruments zur Messung des fachdidaktischen Planungswissens von Lehramtsstudierenden im Fach Geschichte. In: GWU 69 (7/8) 2018 (im Erscheinen). Überblick in Katharina Litten: Wie planen Geschichtslehrkräfte ihren Unterricht? (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 14). Göttingen 2017, S. 31–84. 5 Zur anhaltenden Diskussion über guten Geschichtsunterricht siehe z. B. Thomas Sandkühler : Geschichtsunterricht und Geschichtslehrerausbildung heute. In: https://blog.historikerver band.de/2017/07/15/geschichtsunterricht-und-geschichtslehrerausbildung-heute/ (aufgerufen am 20. 3. 2018).

Wie lässt sich Planung von Geschichtsunterricht bewerten?

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personen mit mindestens acht Jahren Berufserfahrung) sollte der Ist-Zustand beschrieben werden. Die Probandinnen und Probanden wurden in ihrer alltäglichen Planungssituation über die Methode des Lauten Denkens, also die stetige Verbalisierung der eigenen Planungshandlungen, beobachtet. In einem anschließenden Leitfadeninterview gaben sie Auskunft über Vorbereitungsroutinen und berufsbezogene Überzeugungen zum Planungsalltag, zum Planungsgegenstand und zu den Planungsadressaten. Schließlich lösten alle Lehrpersonen eine fiktive Planungsaufgabe in Form einer Planungsvignette. Dabei war anzunehmen, dass die zu gewinnenden Informationen über Planungshandlungen, relevante Rahmenbedingungen und das zugrunde liegende professionelle Wissen auch erste Hinweise darauf liefern würden, ob Gütekriterien von Planung überhaupt formulierbar seien. Könnte Unterrichtsvorbereitung im Fach Geschichte womöglich doch derart objektivierbar sein, dass man sie in Form eines Planungsmodells würde beschreiben können, oder handelte es sich tatsächlich um eine „Geheimwissenschaft“, wie Angehörige der Berufsgruppe immer wieder selbst formulierten?6 Würden sich aus besonders häufig auftretenden Planungshandlungen in der Praxis Normen ableiten lassen, die Hinweise auf qualitativ gute Planungselemente und Vorgehensweisen zuließen?

1.

Erforschung der Praxis und Schlussfolgerungen für die Messbarkeit von Unterrichtsplanung

Die Untersuchung erbrachte eine Reihe von Ergebnissen, aus denen sich Schlüsse für die Messung von professionellem Wissen und Können in Bezug auf die Unterrichtsplanung ziehen lassen.

Unterrichtsplanung erwies sich als darstellbar Die Analyse der Daten zeigte, dass die Unterrichtsplanungen der 24 Probandinnen und Probanden darstellbar waren und sich derart übersichtlich in Kategorien zusammenfassen ließen, dass sich hieraus Schaubilder ergaben, die die Planungshandlungen vereinfacht abbildeten (s. Abb. 1). Es konnten sowohl individuelle als auch gruppenspezifische Schaubilder konstruiert werden: Planungen der Gymnasiallehrkräfte mit mindestens drei Jahren Berufserfahrung ließen sich beispielsweise in einen Handlungsplan fassen, der sich von jenem der Referendarinnen und Referendare der Hauptschulen deutlich unterschied. Die 6 Zitiert aus einem Interview in Litten (Anm. 4), S. 332.

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Mitglieder einer Probandengruppe folgten in ihren Unterrichtsplanungen grundsätzlich demselben Aufbau und berücksichtigten eine spezifische Auswahl an Planungselementen.

Abbildung 1: Beispiel eines individuellen Handlungsplans beruhend auf der Laut-Denk-Untersuchung

Diese Übersichtlichkeit in der Darstellung ermöglichte einen konkreten Vergleich der Handlungspläne einzelner Lehrkräfte. Es handelte sich weder um hoch individuelle Vorgehensweisen, noch waren sie derart komplex, dass sie sich der Abbildung entzogen. Im Gegenteil gaben diese Handlungspläne einen ersten Eindruck davon, wie Unterrichtsvorbereitung im Fach Geschichte beobachtet und aufgezeichnet werden kann. Darüber hinaus zeigten sie, dass eine Vielzahl von beschreibenden Kategorien wiederholt auftauchte. Ob diese Kategorien als Gütekriterien einer Planung in Frage kommen, bedarf der weiteren Untersuchung (s. u.).

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Unterrichtsplanung erwies sich als domänenspezifisch Die Gegenüberstellung der Planungen für die unterschiedlichen Fächer brachte eine Reihe von domänenspezifischen Elementen der Unterrichtsplanung für das Fach Geschichte zutage. Zentral für die Vorbereitung war beispielsweise die Themenwahl, mit der alle untersuchten Fachlehrkräfte ihre Unterrichtsvorbereitung begannen. Diese Themenwahl resultierte nach einer Reflexion fachwissenschaftlicher Inhalte und fachdidaktischer Fragen in der Formulierung einer geschichtsdidaktischen Leitfrage für die durchzuführende Stunde.7 Fachspezifische Herausforderungen im Rahmen der Themenwahl betrafen Fragen nach dem Lebensweltbezug, die Thematisierung des Konstruktcharakters des Lerngegenstands, die Berücksichtigung des breit gefächerten Vorwissens sowie die Organisation fachspezifischer Lernaufgaben. Auch die domänenspezifischen Herausforderungen in der Umsetzung einzelner Kompetenzen (besonders der narrativen Kompetenz) wurden in den Unterrichtsvorbereitungen häufig thematisiert. Schließlich erwies sich die Unterrichtsplanung auch in Bezug auf das Verlaufskonzept als fachspezifisch: Besonders die erfahreneren Lehrkräfte achteten darauf, eine „Denkfigur des Unterrichts“8 transparent werden zu lassen, indem die Stunde mit einem Rückbezug auf eine historische Eingangsfrage endete. Domänenspezifische Elemente müssen Vertretern der Geschichtsdidaktik und Ausbilderinnen bekannt sein, wollen sie planungsrelevantes Wissen bzw. planungsrelevante Kompetenzen messen. Die Untersuchung hat erste, wichtige Elemente herausgearbeitet, die ein Prüfling in einer Messsituation berücksichtigen sollte. Die Ergebnisse untermauern dabei die Forderung sowohl nach weiteren domänenspezifischen Studien als auch nach domänenspezifischen Hilfestellungen für die Unterrichtsplanung. Eine Lehrkraft, die im Begriff ist, Geschichtsunterricht zu planen, profitiert wenig von Planungshilfen für das Fach Englisch. Sie kann Vorschläge aus der Allgemeindidaktik oder Physikdidaktik nicht konkret für die eigene Vorbereitung nutzen, wenn hier grundsätzlich andere Entscheidungen im Zentrum der Planung stehen. Gleichzeitig gibt es keine Belege dafür, dass spezifische didaktische Hilfestellungen für das Fach Geschichte nicht erarbeitet werden könnten. 7 Im Gegensatz dazu hatten Untersuchungen für die Fächer Mathematik und Naturwissenschaften z. B. die Aufgabenorientierung als zentrale Maßnahme im Rahmen der Vorbereitung nachgewiesen, siehe Andrea Tebrügge: Unterrichtsplanung zwischen didaktischen Ansprüchen und alltäglicher Berufsanforderung. Eine empirische Studie zum Planungshandeln von Lehrerinnen und Lehrern in den Fächern Deutsch, Mathematik und Chemie. Bern 2001, S. 441. 8 So bei Michael Sauer : „Putsch“ oder „Revolution?“ Die verschlungenen Wege einer Unterrichtsstunde zur Russischen Revolution. In: Meyer-Hamme u. a. (Anm. 3), S. 55–72, hier S. 56.

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Unterrichtsplanung erwies sich als schulformspezifisch Lehrkräfte des Gymnasiums planten für ihre Schülergruppen Geschichtsunterricht anders als Lehrkräfte der Hauptschule. Hierbei erwiesen sich insbesondere differierende berufsbezogene Überzeugungen zu Schülerklientel und Lehrerrolle als maßgebliche Faktoren unterschiedlicher Planungsansätze. Dieses Ergebnis mag banal erscheinen. Tatsächlich aber existieren weder schulformspezifische Planungsmodelle oder didaktische Entwürfe für den Geschichtsunterricht noch theoretische Untersuchungen, die solche divergierenden Ansätze rechtfertigen könnten.9 Der gängige Lösungsansatz für die Herausforderungen unterschiedlicher Schülerklientelen bzw. unterschiedlicher Schulformen lautet in der politischen Debatte meist ,Individualisierung‘ bzw. ,Differenzierung‘. Es handelt sich hierbei aber womöglich um die falschen Stichworte, wenn neben allen individuellen Unterschieden empirisch Schulformspezifika zu beobachten sind, die für die Eignung schulformspezifischer Planungsansätze sprechen. Wenn man davon ausgeht, dass Schüler und Schülerinnen aller Schulformen dazu befähigt werden sollen, ein „reflektierte[s] Geschichtsbewusstsein“ zu erwerben, „Wertmaßstäbe für eigenes Handeln“ zu entwickeln10 und nicht zuletzt „eine politische […] Identität“ auszubilden11, dann leuchtet es ein, für all diese Schülerinnen und Schüler dieselben geschichtsunterrichtlichen Ziele zu formulieren.12 Nichtsdestoweniger zeigen Untersuchungen wie die vorliegende, dass sich der Unterrichtsalltag an der Hauptschule mit ihrer speziellen Schülerschaft13 von dem am Gymnasium unterscheidet, und es liegt auf der Hand, dass für beide Schulformen unterschiedliche Wege hin zu diesen selben Zielen nötig werden. Die spe9 Eine wichtige Ausnahme bildet die Untersuchung von Matthias Martens: Implizites Wissen, und kompetentes Handeln. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzen historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte, Göttingen 2010. Zur Situation der Hauptschule z. B. Christian Heuer : Für eine neue Aufgabenkultur – Alternativen für historisches Lehren und Lernen an Hauptschulen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 79–97, hier S. 79–83; Manfred Seidenfuß: Was denken erfolgreiche Geschichtslehrer bei der Unterrichtsplanung? Expertiseansatz und empirische Forschung in der Didaktik der Geschichte. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann: Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Münster 2002, S. 61–71, hier S. 64. 10 Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncurriculum für die Hauptschule, Schuljahrgänge 5–10, Geschichte. Hannover 2014, S. 5; Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncurriculum für das Gymnasium, Schuljahrgänge 5–10, Geschichte. Hannover 2015, S. 7. 11 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport: Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I, Jahrgangstufen 7–10, Hauptschule, Gesamtschule, Realschule, Gymnasium, Geschichte. Berlin 2015, S. 5. 12 Es sei daran erinnert, dass die konsensuale Formulierung solcher Ziele nach wie vor aussteht. 13 Vgl. z. B. Stefan Wellgraf: Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung. Bielefeld 2012; vgl. Heuer (Anm. 9), S. 81.

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zielle Klientel der Hauptschule verschwindet auch nicht, wenn sie mit ehemaligen Realschülern und Realschülerinnen in neuen Schulformen zusammen unterrichtet wird. Es ergeben sich hier vielmehr neue spezielle soziale und bildungsrelevante Umfelder, denen in der Anleitungsliteratur für Lehrkräfte Rechnung getragen werden muss. Umso dringlicher ergibt sich die Frage nach neuen, kombinierenden Konzepten, die das (alle Schülerinnen und Schüler betreffende) Ziel des Geschichtsunterrichts adressieren, die Anforderungen der Zielgruppen auflisten und fachdidaktische Konzepte enthalten, um diese Anforderungen zu erfüllen. Die vorliegende Untersuchung zeigt auch, dass Lehrkräfte bei mitunter sehr offen formulierten Rahmenlehrplänen, unverbindlichen schulinternen Curricula und teilweise unkooperativ arbeitenden Kollegien in der Vorbereitung des Unterrichts auf sich allein gestellt sind. Positiv formuliert lässt ihnen das sehr große Freiheiten, die eigene Bildungsaufgabe seriös wahrzunehmen. Negativ formuliert führt dies zu Orientierungslosigkeit speziell bei jungen Lehrkräften, die sich schlicht damit beruhigen müssen, dass ,Unterrichtsplanung nun einmal nicht erlernbar‘ sei (s. o.). Handelt es sich aber nicht um einen wichtigen Aspekt von Qualitätssicherung, wenn Lehrkräften wenigstens die nötigen, ökonomisch nutzbaren Hilfen zur Vorbereitung eines ,guten Geschichtsunterrichts‘ angeboten werden? Rahmenlehrpläne sind aus guten Gründen offen angelegt und unterschiedlichen Interpretationen zugängig. Praktische Hilfen müssen diese nicht sein – sie können der Lehrkraft einen konkreten Pool an Planungsoptionen liefern, aus dem diese eine begründete Auswahl zu treffen hat.14 Sobald solche unterschiedlichen Wege in der Vermittlung beschrieben worden sind, sollten sie folgerichtig auch Eingang in Prüfkataloge finden. Welche besonderen Voraussetzungen ihrer Schüler und Schülerinnen müssen Hauptschullehrkräfte in der Vorbereitung bedenken? Welche Momente der Klassenführung sind auch für die Planung im Geschichtsunterricht relevant? Und welche besonderen Fragen zum Thema müssen Hauptschulreferendare und Hauptschulreferendarinnen formulieren können?

Unterrichtsplanung erwies sich als erfahrungsspezifisch Der Vergleich der Unterrichtsplanungen von Lehrkräften unterschiedlicher Erfahrungsgrade gab Hinweise auf Planungsroutinen, derentwegen sich die Vorbereitungen der erfahreneren Lehrkräfte deutlich zügiger vollzogen als die der Anfängerinnen und Anfänger. Für die Frage nach der Messbarkeit von unter14 Auch die Kompetenz, aus praktischen Hilfen eine gewinnbringende und funktionale Auswahl zu treffen, könnte und sollte Teil der Lehrerausbildung sein.

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richtsplanerischem Wissen für das Fach Geschichte waren diese erfahrungsspezifischen Vorgehensweisen besonders relevant. So muss davon ausgegangen werden, dass bei erfahrenen Expertenlehrkräften solche Planungshandlungen beobachtet werden können, die sich in der Praxis bewährt haben und somit auch für Anfänger und Anfängerinnen erstrebenswert wären.15 Neben allen planungsmethodischen Routinen und Tricks erwies sich insbesondere das wachsende Selbstbewusstsein in Bezug auf die eigenen Planungshandlungen bzw. eine wachsende Souveränität hinsichtlich der eigenen Planungsentscheidungen als entscheidender zeitsparender Faktor in der Unterrichtsvorbereitung der erfahreneren Lehrkräfte. Derartige „Verdichtungen“, die in der Expertenforschung für unterschiedliche Domänen nachgewiesen worden sind,16 betreffen in der Unterrichtsvorbereitung besonders die Verknüpfung von fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen und pädagogischen Fragen, wie sie für das Fach Geschichte bereits zu Beginn der Planung, namentlich bei der Formulierung der thematischen Leitfrage für die Stunde (s. o.) vollzogen wird. Neben diesen grundsätzlichen Differenzen in den Vorbereitungen von Lehrkräften unterschiedlicher Erfahrungsgrade zeigten sich auch einzelne Unterschiede in den Planungselementen, die mit der Berufserfahrung korrelierten. So machte sich beispielsweise keiner unter den acht untersuchten Referendarinnen und Referendaren konkrete Gedanken zur Raumplanung (Tischanordnung, Sitzordnung, Austeilung der Arbeitsmaterialien), während sechs der acht Lehrkräfte der Mittelgruppe (mindestens drei Jahre Berufserfahrung) diese in die Planungen mit einbezogen. Besonders deutlich waren diese und weitere Unterschiede in der Vignettenstudie zu beachten (s. u.).

15 Meine Untersuchung folgte hierbei dem best-practice Ansatz: Als Probanden wurden erfahrene Lehrkräfte im Sinne von Experten ausgewählt, die nach einer Reihe von Kriterien als ,gute Lehrkräfte‘ identifiziert werden konnten. Trotzdem war es nötig wachsam zu bleiben: Waren es womöglich manchmal gerade die Anfänger, die geschichtsdidaktisch wünschenswerte Planungshandlungen verbalisierten? Zeigten Expertinnen mitunter weniger zielführende Routinen? 16 Vgl. Jürgen Baumert/Mareike Kunter : Das Kompetenzmodell von COACTIV. In: M. Kunter u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften – Ergebnisse des Projekts COACTIV. Münster u. a. 2011, S. 29–53, hier S. 35; Helmut Messner/Alex Buff: Lehrerwissen und Lehrerhandeln im Geschichtsunterricht – didaktische Überzeugungen und Unterrichtsgestaltung. In: Peter Gautschi u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 143–175, hier S. 147. Für die Planung im Geschichtsunterricht bereits bei Manfred Seidenfuß: Ein Anwendungsfeld qualitativer Empirie in der Geschichtsdidaktik. Geschichtslehrer entwickeln ihre Taktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2 (2003), S. 245–262, hier S. 251, 257.

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2.

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Merkmale von Planungsqualität

Begibt man sich auf die Suche nach qualitativen Unterschieden im Planungshandeln von Anfängern und Experteninnen, sieht man sich mit dem Problem konfrontiert, dass die Geschichtsdidaktik sich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht auf qualitative Kriterien eines guten Geschichtsunterrichts bzw. einer guten Planung von Geschichtsunterricht geeinigt hat. Hierbei handelt es sich nicht bloß um ein abstraktes Problem, da bereits gegenwärtig Planungsleistungen von (angehenden) Lehrkräften konsequent gemessen werden. Woran aber orientiert sich diese Messung? Wo konsensuale und transparente Messkataloge fehlen, liegt eine Qualitätsbeurteilung des Planungshandelns im Ermessen des jeweiligen Prüfkomitees. Ist man selber gefordert, eine qualitative Entwicklung zwischen Novizen und erfahrenen Lehrkräften zu bestimmen, zeigt sich schnell, dass die Ansatzpunkte einer solchen Qualitätsmessung divers sind: Konzentriert man sich auf Unterschiede in der Wissensvermittlung? Oder bewertet man beispielsweise lieber die Planungsökonomie? So handelt es sich bei der Beobachtung, dass erfahrenere Lehrkräfte weniger Zeit für die Vorbereitung benötigen (s. o.) um ein Qualitätsmerkmal in Bezug auf die individuelle Arbeits- bzw. Lebensqualität, nicht aber auf die Unterrichtsqualität. Soll ein solches Qualitätsmerkmal dennoch relevant sein? Soll es Gegenstand einer Prüfung sein? Die Frage nach den in einer (Examens-)Prüfung zu messenden Qualitätsbereichen ist offen und bedarf dringend einer Klärung: Wäre es nicht angesichts eines drohenden Anstiegs von Burn-Out-Raten nötig, auch ,ökonomisches Planen‘ als Prüfungsbereich zu berücksichtigen? In jedem Fall beschreiben derartige Elemente einer guten Arbeits- und Lebensqualität unbedingt ein lohnenswertes Untersuchungsfeld, dem bislang kaum Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Das Missverhältnis von Planungsaufwand und vorhandener Zeit stellte innerhalb meiner Probandengruppe jedenfalls die Grundlage für eine deutliche Berufsunzufriedenheit sowie eine selbstempfundene mindere Planungs- bzw. Unterrichtsqualität dar.

Relevanz berufsbezogener Überzeugung Ein wichtiges Untersuchungsfeld der Studie betraf die berufsbezogenen Überzeugungen der Probanden und Probandinnen. Unterschiedliche Überzeugungen zum Unterrichtsgegenstand beeinflussten die Planungen genauso maßgeblich (,Ziel: Denken lehren‘ versus ,Ziel: Wissen vermitteln‘) wie unterschiedliche Überzeugungen zur Lehrerrolle (,Moderator‘ versus ,Wissensvermittler‘). Die Beobachtung solcher stark differierenden Überzeugungen einerseits und ihres

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großen Einflusses auf die Unterrichtsvorbereitung andererseits unterstreichen Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung solcher Überzeugungen in der Lehrerausbildung.17 Neben vielen untersuchten Überzeugungen erwiesen sich auch die Einstellungen zur Flexibilität im Umgang mit der eigenen Unterrichtsplanung als einschlägig für das Planungshandeln. Gegenpole bildeten hier insbesondere die Überzeugungen ,flexibler Umgang mit Planung nötig‘ und ,flexiblen Umgang mit Planung vorausplanen‘. So glaubten also die einen Lehrkräfte, dass Unterrichtsplanung nur eine vage Leitlinie für die umzusetzende Stunde liefern könne. Die anderen waren der Ansicht, dass sie jedweden flexiblen Umgang mit der Planung, den die Unterrichtsrealität erfordere, durch didaktische Reserven bzw. Alternativpläne vorausplanen könnten.18 Führt man sich vor Augen, dass jede Lehrkraft als potenzieller Prüfer bzw. als Mentorin im Rahmen der Referendarsausbildung zum Einsatz kommen kann, so wird deutlich, wie einflussreich solche unterschiedlichen Überzeugungen in der Ausbildung zur Unterrichtsplanung und in ihrer Messung sein können. Einstellungen zu Flexibilität und Schülerwahrnehmung sowie Überzeugungen zu grundlegenden didaktischen und fachwissenschaftlichen Planungsentscheidungen variieren unter Geschichtslehrpersonen stark und bedürfen unbedingt einer weiteren empirischen Untersuchung. Gerade wenn die Geschichtsdidaktik bislang auf eine theoretische Anleitung zum Planenlernen verzichtet und völlig auf die Ausbildung relevanter Kompetenzen durch einen Ausbildungslehrer oder eine Ausbilderin setzt, müssen die persönlichen Einstellungen dieser Ausbilder untersucht und kriterial erfasst werden, um transparente Kriterienkataloge zur Messung von Planungskompetenzen erstellen zu können.19

3.

Wie kann und soll Unterrichtsplanung gemessen werden?

Im Alltag wird die Qualität einer durchgeführten Planung gemeinhin so beurteilt: Ein Prüfer bzw. eine Prüferin begutachtet die häusliche, schriftliche Vorbereitung einer Stunde und beobachtet im Anschluss ihre Durchführung. Der 17 Speziell für die Unterrichtsplanung im Fach Geschichte bei Monika Fenn: Modifikation subjektiver Theorien von Studierenden über Lehren und Lernen im Geschichtsunterricht. In: Jan Hodel/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 09“. Bern 2011, S. 83–92, hier S. 87f. 18 Die Studie zeigte, dass alle diese Überzeugungen sich sowohl als schulformspezifisch als auch als geschlechtsspezifisch erwiesen. So glaubten in meiner Stichprobe überwiegend weibliche Gymnasiallehrkräfte an die Notwendigkeit der exakten Vorausplanung. 19 Ist es besser zu bewerten, wenn jemand sehr ausführlich plant, oder ist es im Gegenteil ein Gütekriterium, wenn jemand einen ökonomischen Planungsablauf beherrscht?

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Prüfling ist aufgefordert, Planungsabweichungen zu rechtfertigen. Es handelt sich hierbei um einen nachvollziehbaren Vorgang, auch wenn die Kriterien der Bewertung weder transparent noch flächendeckend akzeptiert sind.20 So ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Prüfer sich an den gängigen allgemeindidaktischen Planungskriterien (didaktische Analyse, Sachanalyse, etc.)21 orientiert. Auch existieren vereinzelt geschichtsdidaktische Kriterienvorschläge.22 Ein fester Kanon existiert hier aber ebenso wenig wie Qualitätskriterien für den Geschichtsunterricht selbst. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass der Einfluss und die persönliche Meinung des einzelnen Prüfers maßgeblich sind. Die Forschung liefert für die Festlegung von Kriterien bisher kaum Hilfestellungen. Untersuchungen zur Beschreibung von Planungskompetenzen sind übersichtlich, eine konsensuale Definition ist nicht vorhanden. Zur Messung derartiger Kompetenzen gibt es dennoch eine wachsende Zahl von Studien:23 So versuchen die einen, pädagogische Planungskompetenzen anhand von Selbsteinschätzungen über Skalen zu erfassen. Neuerdings werden solche Selbsteinschätzungen mit Fremdeinschätzungen kombiniert, die meist von Ausbildern und Ausbilderinnen stammen. Für das Fach Physik existieren zudem Beobachtungsstudien zum kooperativen Planen.24 In internationalen Lehreruntersuchungen wurde versucht, planungsrelevantes Wissen über Leistungstests zu erheben. Es handelte sich hierbei in erster Linie um die Testung deklarativen, theoretischen Wissens. Auch offene Aufgaben zur Messung prozeduralen Wissens waren jedoch vorhanden.25 Zum jetzigen Zeitpunkt gehen diese Untersuchungen aber über die Erhebung von pädagogischem Planungswissen nicht 20 Bei diesen Angaben handelt es sich nicht um statistische Daten. Eine persönliche Kontaktaufnahme mit einer Reihe von Studienseminaren ergab, dass die Bewertungspraxis sich nicht nur in den Bundesländern, sondern auch in den einzelnen Städten bzw. Studienseminaren divers gestaltet. 21 So vorgeschlagen z. B. in Jelko Peters: Geschichtsstunden planen. St. Ingbert 2014, S. 167–176. 22 Siehe besonders Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts. 2013, S. 418. 23 Der Widerspruch entspricht der Realität: Es werden Studien zur Messung unternommen, ohne dass sich vorher auf die Definition der Kompetenzen geeinigt worden wäre. 24 Vgl. z. B. Irmela Blüthmann/ Steffen Lepa/ Felicitas Thiel.: Überfordert, Verwählt, Enttäuscht oder Strategisch? Eine Typologie vorzeitig exmatrikulierter Bachelorstudierender. In: ZfP 58/1 (2012), S. 89–108; Rainer Bodensohn/ Lars Balzer/ Andreas Frey (Hrsg.): Diagnose von beruflichen Kompetenzen in der Lehrerausbildung – das Projekt VERBAL. Landau 2008. Für das Fach Physik siehe Jens Wilbers/Gabriela Jonas-Ahrend: Die Lernerperspektiven als Gegenstand kooperativer Planungsprozesse. In: Dietmar Höttecke (Hrsg.): Chemie- und Physikdidaktik für die Lehramtsausbildung. Berlin 2009, S. 190–192. 25 Zur TEDS-M Studie vgl. besonders Sigrid Blömeke/Johannes König: Profile im Professionswissen zur Unterrichtsplanung bei Sekundarstufenlehrkräften. In: Karl-Heinz Arnold u. a. (Hrsg.): Jahrbuch für Allgemeine Didaktik. Baltmannsweiler 2011, S. 11–30.

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hinaus. Veröffentlichungen für das Fach Geschichte fehlen. Gleichzeitig liefert keine dieser Untersuchungen ein gelungenes Beispiel dafür, wie Unterrichtsplanung nach domänenspezifischen Kriterien im Alltag bewertet werden könnte.

Messung von Planungskompetenzen über Vignetten In jüngerer Zeit ist versucht worden, Planungswissen bzw. Planungskompetenzen über den Einsatz von Planungsvignetten zu erheben.26 Probanden und Probandinnen werden mit einer fiktiven Planungssituation für eine fiktive Lerngruppe konfrontiert, die sie über die Methode des Lauten Denkens lösen müssen. Die verbalisierten kognitiven Handlungen können anschließend transkribiert und analysiert werden. Zum Einsatz solcher Unterrichtsvignetten in der Lehrerausbildung wird heute in verschiedenen didaktischen Disziplinen geraten.27 Ob sie sich auch zur Bewertung der planerischen Kompetenzen eignen, ist bislang aber nicht erprobt worden. In der hier beschriebenen Untersuchung wurde daher zwei Zielen gefolgt: Zum einen galt es herauszufinden, ob die Vignette nach der Laut-DenkStudie zusätzliche Informationen über das Planungshandeln der Probanden und Probandinnen erbringen würde. Zum anderen sollte in einem ersten Versuch getestet werden, ob Lehrkräfte überhaupt in der Lage sein würden, eine domänenspezifische fiktive Unterrichtsplanung zu verbalisieren, die sich von einer Beobachterin in Kategorien würde abbilden lassen.28

26 Siehe bes. Erwin Beck u. a.: Adaptive Lehrkompetenz. Analyse und Struktur, Veränderbarkeit und Wirkung handlungssteuernden Lehrerwissens. Münster u. a. 2008, S. 91f.; Renate Hofmann: Religionspädagogische Kompetenz. Eine empirisch-explorative Studie zur Evaluation religionspädagogischer Kompetenz von ReligionslehrerInnen. Hamburg 2008, S. 697. Nicht konkret zur Unterrichtsplanung bei Mario Resch/Christian Vollmer/Manfred Seidenfuß: Ein Vignettentest mit geschlossenem Antwortformat zur Erfassung fachdidaktischer Kompetenzen bei angehenden Geschichtslehrkräften. In: B8atrice Ziegler/Monika Waldis (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 15. Bern 2017, S. 163–176. 27 Vgl. z. B. Michael Sauer : Die Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2012, Bd. 2, 2012, S. 349–369, hier S. 366. 28 Um herauszufinden, ob sich eine Vignette für die Messung von Planungskompetenzen eigne, wurden die Lehrkräfte aufgefordert, die Aufgabe mündlich zu lösen. Dies steht im Gegensatz zum schriftlichen Vorgehen in älteren Studien, denen zufolge eben jene schriftliche Beantwortung dem alltagspraktischen Handeln des Planens am Nächsten komme. Da es in meiner Untersuchung aber darum ging, eine mögliche Prüfungssituation zu simulieren, war die mündliche Verbalisierung die Methode der Wahl.

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Erkenntnisgewinn durch die Vignettenbeobachtung Hatte bereits die Untersuchung des Alltagsplanens von Lehrkräften über das Laute Denken Hinweise auf Unterschiede im Hinblick auf die Berufserfahrung zutage gebracht,29 zeigten sich diese Differenzen noch deutlicher in der Vignettenstudie. Während beim Lauten Denken eine alltägliche Planungshandlung in der realen Berufssituation beobachtet wurde, handelte es sich bei der Vignettenplanung um Unterrichtsvorbereitungen für eine imaginäre Lerngruppe. Da alle Probanden und Probandinnen bei der Vignette dieselbe Planungsaufgabe lösten und somit weder unterschiedliche Lerngruppen noch Stundeninhalte berücksichtigt werden mussten, ermöglichten die Transkripte einen strukturierten Vergleich der beobachteten Planungshandlungen.30 Wieder zeigten sich unter den Gymnasiallehrkräften deutliche gruppenspezifische Übereinstimmungen in den Planungshandlungen. Bei steigendem Grade der Berufserfahrung war wieder eine Zunahme an aus geschichtsdidaktischer Sicht wünschenswerten Handlungen zu verzeichnen (z. B. komprimierte Formulierung einer bipolaren Leitfrage, Schülerorientierung, Langzeitplanung, etc.). Die folgende Tabelle zeigt einen kleinen Ausschnitt aus den Ergebnissen zum Teilbereich ,Themenwahl‘. Sie offenbart einen deutlichen Zuwachs an wünschenswerten Planungshandlungen bei steigender Berufserfahrung in Bezug auf die Rekapitulation des Fachwissens. Während Referendare ihr Fachwissen kaum rekapitulieren, tun dies alle vier Lehrpersonen mit drei Jahren Berufserfahrung konsequent. Zudem strukturieren sie im Rahmen dieser Rekapitulation bereits das Unterrichtsthema für die zu planende Stunde. Alle Expertinnen und Experten mit mindestens acht Jahren Berufserfahrung rekapitulieren das Fachwissen, strukturieren das Thema und äußern zusätzlich Überlegungen zur Elementarisierung des Themas. Die Tabelle zeigt auch, dass nicht in allen Bereichen eine Zunahme an aus geschichtsdidaktischer Sicht wünschenswerten Planungshandlungen zu beobachten war. So wurden beispielsweise Schülerfragen bereits von allen Referendaren und Referendarinnen des Gymnasiums antizipiert. Es handelte sich also um eine Vorgehensweise, die nicht erst erfahrenere Lehrkräfte verbalisierten. 29 Meine Stichprobe ergab einen „unechten Längsschnitt“, indem verschiedene Stadien der Berufslaufbahn abgebildet wurden. Vgl. Sabine Anselm: Kompetenzentwicklung in der Deutschlehrerbildung. Modellierung und Diskussion eines fachdidaktischen Analyseverfahrens zur empiriegestützten Wirkungsforschung. Frankfurt/M. u. a. 2011, S. 112. 30 Die Vignettenplanungen wurden transkribiert und mit induktiven und deduktiven, der normativen Literatur zu gutem Geschichtsunterricht entnommenen Kategorien analysiert. Die induktiven Kategorien waren hierbei für die Untersuchung deutlich wichtiger als die deduktiven. So ging es schließlich nicht darum, an dieser Stelle das Planungsvorgehen zu bewerten oder zu beurteilen, sondern eben jene Kategorien aufzuspüren, mit denen sich Planung überhaupt beschreiben ließ.

380 Bereich Themenwahl Fachwissen (FW) Leitfrage Schülerfragen

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Referendar/innen sehr begrenzte Rekapitulation FW keine Leitfragenformulierung Formulierung mögliche Schülerfragen an das Thema

3 Jahre Berufserfahrung Rekapitulation FW bei gleichzeitiger Strukturierung der Themen

8 Jahre Berufserfahrung Rekapitulation FW bei gleichzeitiger Strukturierung und Elementarisierung der Themen

Leitfragenformulierung Formulierung mögliche Schülerfragen an das Thema

Leitfragenformulierung Formulierung mögliche Schülerfragen an das Thema

Abbildung 2: Vereinfachte Darstellung von Teilergebnissen zur Beobachtung der Themenwahl durch Gymnasiallehrkräfte in der Vignettenstudie

Fasst man alle Vignettenergebnisse für die unterschiedlichen Probandengruppen in Fließtexten zusammen, so ergeben sich hieraus Standardformulierungen. Die Standardformulierung, die sich aus den Vignettenergebnissen der Gymnasiallehrkräfte mit mindestens drei Jahren Berufserfahrung für den Bereich der Themenwahl formulieren lässt, würde wie folgt lauten: Die Lehrkraft reflektiert wesentliche inhaltliche Schwerpunkte des Themenbereichs. Unter Berücksichtigung der Lerngruppe (sozial, methodisches und fachliches Vorwissen, Interessen, Lernstile) formuliert sie ein Thema. Sie strukturiert das Thema, wobei sie fehlendes Fachwissen nachrecherchiert. Die Lehrkraft formuliert schülerorientierte Fragen an das Thema und wählt eine Leitfrage. Sie zeigt Kenntnisse über Stellung und Relevanz des Themas in den offiziellen Richtlinien und äußert Ideen zu einer eigenen Sequenzplanung. Erstellt man solche Standardformulierungen für alle beobachteten Elemente der Unterrichtsplanung (Themenwahl, Raumplanung, Vertiefungsphase, etc.) und für alle drei Stadien der Berufserfahrung erhält man einen sehr umfangreichen Text mit drei Niveaustufen.

Relevanz der Vignettenergebnisse für die weitere Forschung Diese Standardformulierungen sind zu umfangreich, um sie gegenwärtig konkret in der Praxis bei Messanlässen zu erproben. Es bedarf unbedingt quantitativer Untersuchungen, um herauszufinden, ob alle gefundenen Elemente und Strategien tatsächlich flächendeckend in der Unterrichtsvorbereitung von praktizierenden Lehrkräften anzutreffen sind. Solche quantitativen Studien könnten einerseits zusätzliche Elemente aufdecken, andererseits irrelevante Planungsinhalte, die in meiner Stichprobe womöglich zufällig auftraten, für nichtig erklären. In jedem Fall ist angezeigt, mit Häufigkeiten zu argumentieren,

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wenn man aus Erzeugnissen der Praxis Informationen für die Formulierung von Normen – verbindliche Kriterienkataloge zur Beobachtung und Messung von Unterrichtsplanung im Fach Geschichte – gewinnen will. Meine Untersuchung hat gezeigt, dass solche quantitativen Studien möglich wären und hierfür erste operationalisierte Items geliefert. Diese könnten nicht nur in large scale studies, sondern auch direkt in Studienseminaren und Universitäten eingesetzt werden. Auch dies würde helfen zu erproben, ob sich über diese Kategorien im Alltag Planungshandeln beschreiben lässt. Darüber hinaus würden die Items dazu dienen, Auszubildenden im Lernprozess direkt zu helfen, das eigene Planungshandeln zu reflektieren und sich an vorgeschlagenen Elementen der Planung zu orientieren. Die einzelnen Kategorien könnten mit einem Punktekatalog versehen werden (1 bis 5 Punkte in Abhängigkeit davon, wie sehr die jeweilige Kompetenz bedient worden ist), um Selbsteinschätzungen und Fremdeinschätzungen hinsichtlich des Kompetenzerwerbs vornehmen zu lassen.

Eignung von Vignetten zur Messung von Planungskompetenzen Offen bleibt auch nach Abschluss der Dissertationsstudie, inwiefern sich Vignetten dazu eignen, Planungsverhalten auf seine Qualität zu messen. Es bedarf dringend weiterer Studien, um die Erfahrungen und die ersten Erfolge und Misserfolge in die Schöpfung neuer Messmodelle einfließen zu lassen. In der hier beschriebenen Untersuchung erfüllten die Probanden und Probandinnen die Anforderungen gut. Die fiktive Planungsaufgabe war also für alle lösbar. Dennoch zeigte sich, dass die Lehrkräfte die Stundenplanungen weniger stringent und übersichtlich verbalisierten, als sie dies in der Laut-Denk-Untersuchung, also der beobachteten Alltagsplanung, getan hatten. Die folgende Abbildung zeigt den unkoordinierten Planungsablauf eines Probanden in der Vignettenuntersuchung. Vergleicht man diesen dargestellten Ablauf mit dem Handlungsplan einer Laut-Denk-Planung (s. Abb. 1) fällt der Unterschied bezüglich des Planungsverlaufs, der Koordination und der Zielgerichtetheit ins Auge. Es bleibt unklar, worin die Gründe für diese Schwierigkeiten der Probanden und Probandinnen lagen, in der Vignettensituation einem praxisnahen Handlungsmuster zu folgen. Eine erste Erklärung bietet sicher die Nervosität, die die Lehrpersonen zeigten, sobald sie erfuhren, dass es sich hierbei um eine simulierte Prüfungssituation handelte. Ein zweites Problem lag besonders für die Hauptschullehrkräfte darin, dass die Vignettensituation sich deutlich von ihrer Alltagssituation unterschied: Die untersuchten Hauptschullehrpersonen gaben alle an, in der Praxis selten allein und selten singuläre Stunden zu planen. Solche

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Abbildung 3: Bespiel einer Vignettenplanung

Alltagsrealitäten müssen aber in einer Prüfung, die handlungsnahe Kognitionen messen will, unbedingt berücksichtigt werden. Insgesamt erwiesen sich die Vignettenlösungen der Hauptschullehrkräfte als wenig aussagekräftig. Dies lag insbesondere am hohen Anteil von fachfremden Lehrkräften, die in ihren Planungen nur selten fachdidaktischen Forderungen folgten.31 Insgesamt war keine Progression im Rahmen der Berufserfahrung innerhalb der Stichprobe erkennbar. Eine Aussage über weniger sinnvolle Handlungen unter den Referendarinnen und zielführende Handlungen unter den Experten konnte für die Hauptschullehrkräfte somit nicht getroffen werden. Ein drittes Problem ergab sich aus der Formulierung der Unterrichtsvignette selbst. So kommt dem sinnvollen Impuls bei der Vignettenplanung entscheidende Bedeutung zu: Die Aufgabenstellung muss einerseits die Vergleichbarkeit der Antworten gewährleisten, sie muss darüber hinaus aber ebenso Alltagsnähe bzw. einen handlungsnahen Kontext garantieren, um tatsächlich handlungsleitende Kognitionen hervorzurufen. Schließlich müssen die Probandinnen und 31 Sechs der zwölf an einer Hauptschule unterrichtenden Lehrkräfte innerhalb der Stichprobe waren nicht für das Fach Geschichte ausgebildet worden. Die Studie zeigte, dass die Planungshandlungen dieser fachfremden Lehrkräfte sich in ihren Elementen, aber auch in ihrem Ablauf auffällig von den Planungen der Fachlehrkräfte unterschieden. Insbesondere die bei den übrigen Lehrpersonen vorhandenen Vertiefungsphasen fehlten.

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Probanden aufgefordert sein, sich von der eigenen Praxis zu distanzieren und diese somit zu reflektieren. Gewährleistet wurde dies in der hier beschriebenen Untersuchung über den Arbeitsauftrag, das eigene planerische Vorgehen einem Novizen bzw. einer Novizin zu erklären.32 Bei der Impulsformulierung für die Untersuchung mangelte es an Vorbildern aus der Geschichtsdidaktik. Hilfreich war stattdessen ein Pre-Test, bei dem jeweils eine Lehrkraft des Gymnasiums, der Realschule und der Hauptschule mit einer ersten Planungsvignette konfrontiert worden war. Hier zeigte sich in einem ersten Versuch, wie kompliziert sich eine Impulsfindung gestalten kann. Als Thema der fiktiven zu planenden Unterrichtsstunde war ,Stadt im Mittelalter‘ gewählt worden. Über einen Erwartungshorizont hatten hier separiert fachwissenschaftliche, fachdidaktische und pädagogische Wissensinhalte erhoben werden sollen. In der Durchführung zeigte sich jedoch, dass sowohl die Realschullehrerin als auch der Hauptschullehrer das Thema ,Stadt im Mittelalter‘ in ihrem Alltagsunterricht nicht durchführten (obwohl im jeweiligen Curriculum festgehalten) und auch die Planung einer solchen Stunde als unrealistisch ablehnten. Diese Erfahrung markiert die Problematik eines standardisierten Vorgehens: So ist offensichtlich nicht abzuschätzen, wie sich der Unterricht einzelner Lehrkräfte in der Praxis tatsächlich vollzieht – unabhängig von dem, was die offiziellen Vorgaben verlangen. Wertvoll sind hier qualitative Verfahren, die Einblick geben in einen stark persönlich geprägten, individuellen Alltag, von dem bislang zu wenig bekannt ist. Auch die anschließend umformulierte Aufforderung, eine Einstiegsstunde in das Themengebiet Mittelalter generell zu planen, erwies sich als unglücklich. Sie führte dazu, dass die Gymnasiallehrpersonen überwiegend methodische Überlegungen dazu äußerten, wie das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Unterrichtsstunde erhoben werden könne. Die Lehrkräfte zeigten dabei umfangreiches methodisches und pädagogisches Wissen, aber nur selten eine didaktische Aufbereitung des Themas, wie sie für die Untersuchung von Planungskompetenzen relevant gewesen wäre. Schließlich erwies sich wie in vorhergehenden Studien für andere Unterrichtsfächer als Problem, fachdidaktisches Wissen getrennt von fachlichem Wissen zu erheben und in seiner Qualität zu bewerten.33 Wenn es geradezu ein Ausweis an Expertise ist, dass beide Wissensbereiche verdichtet und kombiniert vom Planenden abgerufen werden, so ist eine Aufschlüsselung in der Messung

32 „Sie unterrichten parallel in einer siebten Klasse und einem Grundkurs der Oberstufe Geschichte und müssen für beide Lerngruppen eine Doppelstunde zum Einstieg in das Themengebiet ,Mittelalter‘ planen. In einem Mentorengespräch mit einem Referendar bzw. einer Referendarin beschreiben Sie die einzelnen Schritte der Planung und begründen diese.“ 33 Neuere Untersuchungen zum Thema bei Wolf (Anm. 4) und Fenn/Seider (Anm. 2).

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schwierig und läuft der Wertschätzung eines kompetenten Handelns im Grunde zuwider.

4.

Anschlussstudie: Bewertung von Unterrichtsplanungen über Vignetten

Zur weiteren Untersuchung der Eignung von Vignetten als Prüfinstrumente ist eine Anschlussstudie initiiert worden, die im Jahr 2017 in Berlin/Brandenburg durchgeführt wurde. Acht Gymnasialreferendare bzw. Gymnasialreferendarinnen kurz vor ihrem Zweiten Staatsexamen wurden mit zwei unterschiedlichen Planungsvignetten konfrontiert. Anders als in der vorherigen Studie handelte es sich bei dem Vignettenimpuls nicht um den Auftrag, denselben Unterrichtsgegenstand für zwei unterschiedliche Lerngruppen in unterschiedlichen Jahrgängen planerisch aufzubereiten. Diese Anweisung hatte speziell darauf gezielt, neben fachlichem Wissen auch diagnostisches und pädagogisches Wissen zu erheben. In der Anschlussstudie forderte der Vignettenimpuls die Probandinnen und Probanden vielmehr auf, zwei unterschiedliche Unterrichtsgegenstände für dieselbe Lerngruppe planerisch zu durchdringen. Die Beobachtung der Vorbereitungen sowohl eines ereignisgeschichtlichen als auch eines ideengeschichtlichen Unterrichtsgegenstands34 sollten Aufschluss darüber geben, welche unterschiedlichen Planungsansätze die Probandinnen und Probanden bei unterschiedlichen Themengebieten würden anwenden müssen und welche Rückschlüsse dies insbesondere auf ihr fachdidaktisches Wissen zulassen würde. Wieder waren alle Probanden und Probandinnen in der Lage, den Arbeitsaufträgen Folge zu leisten. Sie benötigten für die Durchführung im Schnitt 22 Minuten. Das Material wurde mit den bereits in der Dissertation erprobten Analysemitteln ausgewertet. Eine detaillierte Analyse und Deutung steht zum jetzigen Zeitpunkt noch aus. Eine erste Bearbeitung der Transkripte über deduktive und induktive Kategorienbildung zeigt aber bereits, dass die Vignettenbeobachtungen wie erhofft Anlass zur Erweiterung bzw. Überarbeitung der im Rahmen der Dissertation entwickelten Planungskompetenzen bzw. Standardformulierungen geben. Anders als in der Dissertationsstudie zeigten sich die Probandinnen und Probanden in der Durchführung ihrer Vignettenplanungen strukturiert, so dass 34 Themenbereich 1 lautete ,Zerstörung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit 1933‘, ,Ermächtigungsgesetz‘, ,Gleichschaltung‘. Themenbereich 2: ,Elemente der nationalsozialistischen Ideologie, Rassenideologie, Antisemitismus, Führermythos‘. Siehe Niedersächsisches Kultusministerium (Anm. 10), S. 22; Senatsverwaltung Berlin (Anm. 11), S. 31.

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sich die erstellten Handlungspläne übersichtlicher und aussagekräftiger gestalteten. Eine erste Analyse zeigt, dass die Referendarinnen und Referendare in ihrem Planungshandeln bei der Vorbereitung des ereignisgeschichtlichen Unterrichtsthemas eine Vielzahl an Übereinstimmungen aufwiesen. Sowohl in der Themenformulierung als auch in der methodischen Anlage der Stunde, bis hin zur Quellen- und Materialwahlauswahl kam es hier zu gleichen Entscheidungen, die sich auch in vergleichbaren Planungsabläufen niederschlugen. Die Planungslösungen zum ideengeschichtlichen Thema waren hingegen sehr divers. Auch der Ablauf der kognitiven Planungshandlungen war hier individuell sehr unterschiedlich. Differenzen lagen vor allem in der Intensität der fachwissenschaftlichen Reflexion des Themas, die zu stark abweichenden Schwerpunktsetzungen durch die Lehrkräfte führte, die wiederum gänzlich unterschiedliche Materialien und Methoden erforderten.35 Weitere Unterschiede betrafen das für die Vorbereitung verwendete Material. Während die Probandinnen und Probanden bei der Lösung des ereignisgeschichtlichen Themas ausschließlich Schulbücher konsultierten, verwendeten sie zur Bearbeitung des ideengeschichtlichen Themas so unterschiedliche Informationsmedien wie das Internet, Filme, populärwissenschaftliche Literatur, Romane und – in wenigen Fällen – didaktische Zeitschriften. Einen augenfälligen Erkenntnisgewinn brachte die Anschlussstudie in Hinblick auf mögliche Kriterien einer ,guten‘ Lösung des Vignettenimpulses. Alle Probandinnen und Probanden der Stichprobe waren im Rahmen ihrer Referendarausbildung mit ,sehr gut (1)‘ benotet worden. Daher waren auch in der Vignettenbearbeitung keine großen Leistungsunterschiede zu erwarten gewesen. Tatsächlich zeigte sich, dass bei allen Probandinnen und Probanden eine Vielzahl von geschichtsdidaktisch wünschenswerten kognitiven Planungshandlungen zu beobachten war und sie auch geschichtsdidaktisch wünschenswerten Prinzipien (Multiperspektivität, Alteritätserfahrung, etc.) folgten. Deutliche Unterschiede ergaben sich aber im Grad der Reflexion bzw. der Verbalisierung dieser Handlungen und Prinzipien. Die Entwicklung einer kriterialen Erfassung solcher unterschiedlicher Reflexionsgrade wäre ein weiterer wichtiger Schritt seitens der Geschichtsdidaktik, Planungskompetenzen im Alltag zu messen. Eine Aufschlüsselung impliziter Planungsentscheidungen sowie impliziter Überzeugungen zum Unterrichtsgegenstand und der eigenen Lehrerrolle wären dabei nicht nur für die Bewertung von professioneller Kompetenz überaus wertvoll. Sie könnte Berufsanfängern und Berufsanfängerinnen 35 So bedarf der Versuch einer Identifikation mit einem in den 1930er Jahren lebenden NSAnhänger grundsätzliche anderer Materialien als die Annäherung an die Biografie eines jüdischen Deutschen. Das Studium rassistischer Ideologien in Europa und der Welt vor 1933 erfordert einen anderen methodischen Zugang als das Studium von Unterrichtsplänen zur Rassenlehre unter der NS-Herrschaft.

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Katharina Litten

Abbildung 4: Beispiel einer Vignettenplanung, Anschlussstudie

gleichsam als Mittel dienen, den individuellen Weg zu einem professionellen Selbstverständnis bewusst und reflektiert zu beschreiten.

5.

Herausforderungen für die Geschichtsdidaktik

Auf Grundlage meiner Untersuchungen des praktischen Planungshandelns von Lehrkräften lassen sich folgende Forderungen an die Vertreter der Geschichtsdidaktik und an die geschichtsdidaktische Forschung formulieren: Die Geschichtsdidaktik muss Unterrichtsplanung als wichtigen Professionsbereich von Lehrkräften anerkennen und diese in der praktischen Ausübung dieses Professionsbereichs unterstützen. Damit das flächendeckend möglich ist, muss zunächst die Frage geklärt werden, wie wir ,guten Geschichtsunterricht‘ definieren wollen. In einem zweiten Schritt ist zu entscheiden, wie die ,gute Planung‘ eines solchen guten Geschichtsunterrichts aussehen soll. Sollen wir uns in der Definition von Gütekriterien ganz auf die Praxis erfahrener Prüfer bzw. Praktikerinnen verlassen? Oder müssen wir angesichts neuer Erfordernisse der Gegenwart, eigene geschichtsdidaktische Normen formulieren?36 Wie wollen wir 36 So handelt es sich z. B. bei der Kompetenzorientierung um ein theoretisches Konzept, dem

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den Zusammenhang von Planung und Unterrichtsdurchführung bewerten? Wie wichtig ist Flexibilität im Rahmen der Unterrichtsplanung? Wie wichtig ist eine pädagogische Unterrichtsplanung im Verhältnis zu einer geschichtsdidaktischen? Bei der Definition einer Planungskompetenz ist hierbei ein ergebnisorientiertes Vorgehen nötig. Es ist mittlerweile Konsens, dass auszubildende Lehrkräfte in ihrer Kompetenzentwicklung individuell gefördert und begleitet werden müssen. Das heißt aber nicht, dass die Geschichtsdidaktik zu Prüfungsanlässen keine Erwartungshorizonte formulieren darf, die zentrale Elemente einer wünschenswerten Unterrichtsplanung enthalten. Die Losung einer individuellen Ausbildung darf nicht dazu dienen, intransparente Bewertungskriterien zu verschleiern und die Vermittlung von Planungskompetenzen dem Können und der Willkür einzelner Ausbilder und Mentorinnen zu überlassen. Die Untersuchungen zeigen, dass es sich lohnt die Akteure des Schulalltags in ihren Forderungen und Wünschen ernst zu nehmen und in die Entwicklung von Prüfkriterien und Hilfsliteratur einzubeziehen. Alle 32 untersuchten (angehenden) Lehrkräfte äußerten, sinnvolle didaktische Hilfen für die Vorbereitung von Geschichtsunterricht zu vermissen. Fünf der erfahreneren Lehrpersonen forderten zudem Fortbildungen zur Vorbereitung. Neun der zwölf untersuchten Referendarinnen und Referendare formulierten deutlich, dass sie sich eine praxisorientiertere Ausbildung speziell in Hinblick auf eine alltagsrealistische Unterrichtsplanung wünschten. Neben diesen klaren Forderungen und Anregungen zeigten die Probandinnen und Probanden eine Reihe von impliziten berufsbezogenen Überzeugungen, die sich als für ihre Unterrichtsplanung handlungsleitend erwiesen. Die untersuchten Lehrpersonen bekräftigten immer wieder selbst, dass ihnen diese Überzeugungen nicht bewusst gewesen waren und dass sie deren Reflexion im Rahmen der Interviews als sehr gewinnbringend empfanden. Unter Berücksichtigung dieser Erfahrung ist unbedingt die Forderung zu wiederholen, derartige Überzeugungen bereits in der Ausbildung bewusst zu machen und ihren Einfluss auf das eigene Planungshandeln reflektieren zu lassen. Eine anschließende angeleitete Reflexion wäre zudem für die Dauer der gesamten Berufskarriere wünschenswert und im Sinne einer Qualitätsoffensive zu empfehlen. Darüber hinaus ist es nötig, schulformspezifischen Anforderungen an die planenden Lehrkräfte in der Publikation von Hilfestellungen Rechnung zu tragen. Hierbei reicht es nicht, theoretische Überlegungen zu den Themen Individualisierung und Differenzierung anzustellen. Geschichtslehrkräfte brauchen konkrete Vorschläge wie sie für Schüler und Schülerinnen in ihrer jeweiligen erfahrene Lehrkräfte mitunter kritisch gegenüber stehen, das aber nicht nur didaktisch, sondern auch politisch gewollt ist.

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Schulform gewinnbringend Geschichtsunterricht planen und inszenieren können. Sie müssen darin unterstützt werden, die eigenen Einstellungen und Annahmen über ihre Schülerklientel zu reflektieren und in die eigene Planung zu integrieren. Schließlich haben die Untersuchungen gezeigt, dass large scale studies und weitere Beobachtungsstudien unbedingt helfen würden, Kriterien guter Unterrichtsplanung für das Fach Geschichte zu finden, zu erproben und zu bestätigen. Wenn normativ Planungselemente, Planungskompetenzen und Graduierungen dieser Kompetenzen formuliert werden sollen, ist es angezeigt, mit in der Alltagspraxis auftretenden Häufigkeiten zu argumentieren. Für solche quantitativen Untersuchungen wäre eine Einigung auf handhabbare Items von großer Bedeutung. Unterrichtsplanung muss domänenspezifisch untersucht werden und die Geschichtsdidaktik sollte hier mit vergleichbaren Kategorien operieren, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten.

Mario Resch / Manfred Seidenfuß

Aufgaben formulieren im Geschichtsunterricht – Das Wissen und Können angehender Lehrkräfte1

1.

Einleitung

In diesem Aufsatz wird die Re-Analyse eines Datensatzes (N = 501) vorgestellt, der in den Jahren 2015/16 bei Studierenden der Pädagogischen Hochschulen Heidelberg, Ludwigsburg, Schwäbisch-Gmünd und Weingarten zum Zweck der Validierung eines Vignettentests erhoben wurde. Im Rahmen der Testvalidierung wurden in erster Linie die statistischen Eigenschaften von Items für ein quantitatives, mit ausschließlich geschlossenen Items operierendes Testinstrument untersucht.2 Bei der hier vorzustellenden ReAnalyse ging es also nicht um die Eigenschaften von Aufgaben, die im Test als geschlossene Items eingesetzt wurden, sondern um den Zusammenhang von Wissen und Können bei Geschichtslehrkräften, Theoriekenntnissen (Kompetenzmodelle) und geschichtsdidaktisch profiliertem Fachwissen. Untersucht wurde dieser Konnex an einem Kernbereich des Geschichtsunterrichts, dem Formulieren von Aufgaben: Inwiefern erkannten Studierende in bestimmten Unterrichtssituationen passende Lernaufgaben und inwiefern wurden sie dabei von Theoriewissen unterstützt? Außerdem wurde versucht, die im FUER-Modell

1 Diese Veröffentlichung wurde durch Sachbeihilfen des Landes Baden-Württemberg sowie der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und Ludwigsburg im Rahmen des Forschungs- und Nachwuchskollegs „Effektive Kompetenzdiagnose in der Lehrerbildung (EKoL)“ ermöglicht. 2 Vgl. Mario Resch: Aufgaben formulieren können. Entwicklung und Validierung eines Vignettentests zur Erfassung professioneller Kompetenz für historisches Lehren. Frankfurt a.M. 2018; Mario Resch/Christian Vollmer/Manfred Seidenfuß: Ein Vignettentest mit geschlossenem Antwortformat zur Erfassung fachdidaktischer Kompetenzen bei angehenden Geschichtslehrkräften. In: B8atrice Ziegler/Monika Waldis (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik. Beiträge zu Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 15.“ Bern 2017, S. 163–176; Mario Resch/Manfred Seidenfuß: Fachdidaktische Kompetenzen angehender Geschichtslehrkräfte beim Formulieren von Lernaufgaben – Theoretische Beschreibung und empirische Erfassung mit einem Vignettentest. In: Juliane Rutsch u. a. (Hrsg.): Effektive Kompetenzdiagnose in der Lehrerbildung. Professionalisierungsprozesse angehender Lehrkräfte untersuchen. Wiesbaden 2017, S. 115–128.

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postulierten Basisoperationen der Methodenkompetenz (Re- und De-Konstruktionskompetenz) empirisch zu trennen. Da die Fähigkeit zum Formulieren von Aufgaben lediglich eine Facette des Lehrkräftekönnens beschreibt, musste das Wissen und Können des Aufgabenformulierens in einem theoretischen und domänenspezifischen Kontext verortet werden (Heidelberger Geschichtslehrerkompetenzmodells, HeiGeKo).3 Dieses Modell postuliert für das Professionswissen domänenspezifische Wissensfacetten (Geschichtswissen und Geschichtsdidaktisches Wissen). In methodischer Perspektive wurde für die Re-Analyse das Auswertungsverfahren aktualisiert, indem die einzelnen Unterrichtssituationen (Vignetten) als geschlossene Testlets betrachtet wurden. Unter Berücksichtigung der sogenannten Testletstruktur für vignettengestützte Testinstrumente wurden in diesem Verfahren lokale Abhängigkeiten der Items zu den jeweiligen Unterrichtssituationen berücksichtigt.4

2.

Theoretischer Hintergrund

Lehrkräfte benötigen ein umfangreiches Fachwissen, wenn sie Aufgaben stellen und auf deren Bearbeitungen reagieren. Das Heidelberger Geschichtslehrerkompetenzmodell (HeiGeKo) soll die theoretische Verortung der Kompetenzfacette „Aufgaben formulieren können“ im Konstrukt Professionelle Kompetenz veranschaulichen (Abbildung 1). An dieser Stelle verzichten wir auf eine ausführliche Herleitung und Erläuterung des Modells mit all seinen Bereichen und Facetten.5 Dieses Modell ist teilweise eine Anwendung des professionellen Handlungsmodells für das Unterrichtsfach Mathematik.6 Im Rahmen des Forschungskollegs EKoL wurde diese Vorarbeit auf den geschichtsdidaktischen und geschichtsunterrichtlichen Kontext bezogen. Dafür waren die Vorarbeiten von Jörn Rüsen über die disziplinäre Matrix der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik richtungsweisend.7 3 Vgl. Christian Heuer/Mario Resch/Manfred Seidenfuß: Geschichtslehrerkompetenzen? Wissen und Können geschichtsdidaktisch. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 8 (2017), S. 158–176, hier S. 162–169. 4 Vgl. Juliane Rutsch u. a.: Modellierung der Testletstruktur bei vignettenbasierten Testverfahren mit geschlossenem Antwortformat. In: dies. u. a. (Anm. 2), S. 27–46, hier S. 32–35. 5 Für eine ausführliche Beschreibung der Wissensbereiche vgl. Heuer/Resch/Seidenfuß (Anm. 3). 6 Vgl. Jürgen Baumert/Mareike Kunter : Das Kompetenzmodell von COACTIV. In: dies. u. a. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster 2011, S. 29–53, hier S. 33. 7 Vgl. Jörn Rüsen: Historische Sinnbildung durch Erzählen. Eine Argumentationsskizze zum

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Abbildung 1: Heidelberger Geschichtslehrerkompetenzmodell (HeiGeKo)8

narrativistischen Paradigma der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik im Hinblick auf nicht-narrative Faktoren. In: Internationale Schulbuchforschung 18 (1996), S. 501–514, S. 517 bzw. 518. 8 Christian Heuer/Mario Resch/Manfred Seidenfuß: „What do I have to know to teach history well?“ Knowledge and expertise in History teaching – a proposal. In: Yesterday and today 18 (2017), S. 27–41, hier S. 29.

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Stichhaltige Belege für die qualitative und quantitative Bedeutung von Aufgaben lieferte Katharina Litten bei ihrer Untersuchung über die Unterrichtsplanung in Niedersachsen.9 Monika Waldis und Jan Hodel ermittelten bei 38 Unterrichtsstunden in der Schweiz durchschnittlich zwei bis drei Aufgaben pro Unterricht. Eine Aufgabe wurde durchschnittlich fast acht Minuten bearbeitet und rund sechs Minuten besprochen.10 Aus Schulbüchern sind Aufgaben und Aufgabensets nicht wegzudenken. Mit diesem Element erfüllen die Verlage die Erwartungen der Käufer*innen, ein Lehr- und Arbeitsbuch im Geschichtsunterricht einsetzen zu können.11 Christoph Bramann konnte in diesem Zusammenhang für österreichische Schulgeschichtsbücher herausarbeiten, dass 58 % der vorgeschlagenen Aufgaben nicht mehr auf die bloße Reproduktion deklarativer Wissensbestände abzielen.12 Im Vergleich zu vorangegangenen Untersuchungen zu Aufgaben in Schulgeschichtsbüchern, die seit den 90er Jahren eine Konzentration der Aufgaben auf das Reproduktionsniveau feststellten,13 verweist der Befund von Bramann auf einen Paradigmenwechsel in diesem Bereich der Aufgabenkonstruktion. Eine wachsende und sich wandelnde Bedeutung von Aufgaben ist ferner im Design der unterrichtspraktischen Zeitschriften wie „Geschichte lernen“ oder 9 Katharina Litten: Wie planen Geschichtslehrkräfte ihren Unterricht? Eine empirische Untersuchung der Unterrichtsvorbereitung von Geschichtslehrpersonen an Gymnasien und Hauptschulen (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 14). Göttingen 2017. 10 Vgl. Jan Hodel/Monika Waldis: Sichtstrukturen im Geschichtsunterricht – die Ergebnisse der Videoanalyse. In: Peter Gautschi u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 91–142, hier S. 116f. 11 Christian Heuer : Vorschläge, Aufträge, Aufgaben? Zum Wandel von Aufgaben im Schulgeschichtsbuch. In: Erziehung und Unterricht. Österreichische Zeitschrift für Pädagogik 167 (2017) 9/10, S. 935–944 und als Beispiel Karin Fuchs/Sabine Ziegler : Räume, Zeiten, Gesellschaften (Geschichte): Aufgabenset für den 3. Zyklus. In: Herbert Luthiger u. a. (Hrsg.): Kompetenzförderung mit Aufgabensets. Theorie – Konzept – Praxis. Bern 2018, S. 219–236. 12 Vgl. Christoph Bramann: Historisch Denken lernen mit Schulbuchaufgaben. Medienspezifische Analyse von Arbeitsaufträgen in österreichischen Geschichtsschulbüchern. In: Christoph Bramann/Christoph Kühberger/Roland Bernhard (Hrsg.): Historisch Denken lernen mit Schulbüchern. Frankfurt a.M. 2018, S. 181–214. 13 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Arbeitsfragen in Schulgeschichtsbüchern: Mögliche Auswirkungen auf die Rezeption im Unterricht und das Geschichtsbewusstsein. In: Gerhard Schneider (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein und historisch-politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988, S. 193–204, hier S. 200; Andreas Michler: Arbeitsaufträge in den Schulbüchern. Anleitungen zum historischen Lernen über das Mittelalter? Eine vergleichende didaktische Fallanalyse aufgezeigt am Thema „Die Kreuzzüge“. In: Martin Clauss/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Das Bild des Mittelalters in europäischen Schulbüchern. Berlin 2007, S. 271–302, hier S. 294; Waltraud Schreiber : Kategoriale Schulbuchforschung als Grundlage für empirische Untersuchungen zu kompetenzorientiertem Geschichtsunterricht. In: Jan-Patrick Bauer (Hrsg.): Geschichtslernen – Innovationen und Reflexionen. Geschichtsdidaktik im Spannungsfeld von theoretischen Zuspitzungen, empirischen Erkundungen, normativen Überlegungen und pragmatischen Wendungen. Kenzingen 2008, S. 61–76, hier S. 73.

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„Praxis Geschichte“ zu beobachten.14 Didaktische Kommentare des Unterrichtsgeschehens und der Kontext von Aufgaben und Materialien werden von den Redaktionen als sinnvoll, nachfragegewünscht und verkaufsfördernd eingestuft.15 Und selbst die neuesten Bildungs- oder Lehrpläne erkannten die Notwendigkeit expliziter Vorgaben. Mit Hilfe von Operatoren können Aufgaben und Prüfungen so konzipiert werden, dass das Postulat der Kompetenzorientierung gefördert und unterschiedliche Lern- und Leistungsniveaus angesprochen werden.16 Wagt man den Blick auf das Tagungsthema, den Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert, dann wird angesichts des Zukunftsnormativs ,Individualisiertes Lernen‘ die Bedeutung der Aufgaben für den Geschichtsunterricht weiter steigen. Aufgaben wirken wie Verkehrsschilder auf den und in dem Geschichtsunterricht. Sie strukturieren und organisieren das historische Lehren nicht im Nebenbei, sondern im Alltag aller Schularten. Mit diesem exakten Steuerungselement können die Lehrkräfte direkt, aber auch mittelbar und langfristig ihre Intentionen realisieren. Von der Lehrkraft formulierte und ausgewählte Aufgaben prägen also das Geschichtsunterrichtsdasein der Jugendlichen quantitativ und qualitativ. Geschichtslehrkräfte entwickeln darin Routinen, Lernende habitualisierte Verhaltensweisen. Deshalb und wegen der gebotenen synthetischen, diachronen, evaluativen und systemischen Wahrnehmung von Aufgaben ist der Begriff der Aufgabenkultur angemessen.17 Das Beispiel aus einer Geschichtsstunde über die „Flucht“ des Storkower Abiturjahrgangs an Weihnachten 195618 in einer 9. Klasse einer Werkrealschule (Juli 2017) soll die Erläuterung des strukturellen Wissenszusammenhanges bei Aufgaben erleichtern. Im Rahmen dieses Unterrichtsbeispiels zeigt die Lehrkraft eine Fotografie der Schulklasse und formuliert zu dem Bild verschiedene Aufgaben: a) Die „Flucht“ der Abiturklasse war in den Winterferien 1956/57 ein wichtiges Thema in Storkow und in ganz Deutschland. Die zurückgebliebenen Jugendlichen erfuhren davon im Elternhaus, von Freunden und aus den Fernseh- und Radiosendungen in West14 Bei Praxis Geschichte erfolgte dieser Wandel mit dem ersten Heft 2000. 15 Zuletzt Themenheft Geschichte lernen 29 (2016) H. 174. 16 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsplan 2016: Anforderungsbereich (AB) 1: Reproduzieren von Wissen und Kenntnissen, AB 2: Reorganisation und Transfer von Gelerntem, AB 3: Selbstständiges Urteilen und Bewerten. http://www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/LS/BP2016BW/ALLG/SEK1/RISL/OP (aufgerufen am 10. 01. 2018). 17 Vgl. Christian Heuer : Zur Aufgabenkultur im Geschichtsunterricht. In: Stefan Keller/Ute Bender (Hrsg.): Aufgabenkulturen. Fachliche Lernprozesse herausfordern, begleiten, reflektieren. Seelze 2012, S. 100–112. 18 Diese Geschichte wurde inzwischen verfilmt („Das schweigende Klassenzimmer“, Regie Lars Kraume). Premiere war bei der Berlinale 2018.

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deutschland. In Ostdeutschland wurde darüber nicht öffentlich berichtet. Überlegt euch einmal, was sich Lehrkräfte, die Schüler*innen, der Hausmeister und andere Eltern, die sich am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien auf dem Schulhof begegneten, erzählt und wie sie das Verhalten der verschwundenen Mitschüler*innen bewertet haben könnten! b) Inwiefern waren diese Ereignisse an Weihnachten 1956 für zahlreiche Medien und Politiker*innen in Westdeutschland und in Ostdeutschland willkommen oder unwillkommen? c) Kommentiere die These: Das Verhalten der Jugendlichen, auf die gewaltsamen Unterdrückungen in einem kommunistischen Land aufmerksam zu machen, war damals in der DDR mutig. Unter den heutigen Bedingungen wäre ein solches Verhalten eher normal.

Der Einsatz von Aufgaben ist eine genuin (geschichts-)didaktische Leistung. Sie zielt auf bestimmte Wissensbereiche, kann aber zu unbeabsichtigten Nebenwirkungen führen, weil das Bearbeitete und das Lernen bisweilen, zum Glück, mit Überraschungen aufwarten. Das sogenannte „Amalgam“19 des geschichtsdidaktischen Wissens und Könnens wird offensichtlich, weil die Lehrkraft situativ als Historiker*in, Geschichtsdidaktiker*in oder als Pädagog*in handeln muss. Deshalb benötigen Geschichtslehrkräfte bei diesen Aufgaben ein umfangreiches Professionswissen und nicht nur Geschichtswissen. Deklarative Wissensbestände zum vorangegangenen „Aufstand“ am 17. Juni, die folgenden Entscheidungen im Politbüro und Parteidisziplinierungen oder die durchgeführten Strafverfahren gehören ebenso dazu wie Begriffswissen („Flucht“ oder „Verrat“) und andere theoretische und reflexive Wissensbestände, die im „Heidelberger Modell“ im sogenannten Geschichtswissen abgebildet sind. Mithin bringen die Jugendlichen bereits Vorwissen und Sinnbildungen über Lebensbedingungen in der DDR mit, die sie im Geschichtsunterricht oder im weiten Feld der Geschichtskultur aufgebaut haben. Dafür und für die Analyse der Schüler*innenleistungen benötigen Lehrkräfte diagnostische Fähigkeiten. Weil aber Aufgaben auch den Kunst-, Deutsch- oder Mathematikunterricht prägen, muss das Spezifische von Aufgaben für den Geschichtsunterricht konturiert werden. Was ist das und was kann das sein? Geschichtsdidaktisch geprägte Aufgaben sollen diejenigen sein, die sich auf das Spezifische von Geschichte und des historischen Arbeitens und Erkennens konzentrieren. Das Spezifische ist, dass aus Geschäften, die in Quellen, darauf bezogener wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Historiographie vorliegen, eine für die Adressat*innen sinnvolle Geschichte gemacht werden kann, indem diese Quel19 Vgl. Lee S. Shulman: Knowledge and Teaching: Foundations of the New Reform. In: Harvard Educational Review 57 (1987), S. 1–21, hier S. 8.

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len und Forschungen quellenkritisch, textkritisch und im Hinblick auf die Bildungs- und Lernbedeutung interpretiert werden. Es geht um den Umgang mit Geschichte und das Machen von Geschichte, dies kennzeichnet den Geschichtsunterricht. Stellt man diese kleine Facette in einen größeren Zusammenhang, dann zeigt sich das geschichtsdidaktische Wissen und Können auch darin, exakt dieses Fallbeispiel (begründet) auszuwählen bzw. qualitativ ansprechende Lernexempel aufzuspüren, die Inhalte des Historischen verständlich aufzubereiten und sie für die Lernenden als „Geschichte“ zugänglich zu machen. Möglicherweise entscheidet die Lehrkraft sich wegen der geschichtskulturellen Würdigung des Themas im Spielfilm „Das schweigende Klassenzimmer“ (Premiere Berlinale 2018, Regie: Lars Kraume) und nach der Reflexion über bestimmte Medien und Kommunikationsformen im Geschichtsunterricht für eine Filmsequenz, mit der die Lehrabsichten realisiert und Arbeitsweisen gefestigt werden können. Es sind jedenfalls fachspezifische Wissensfacetten, die bei dem Formulieren, bei dem Bearbeiten und beim Besprechen von Aufgaben wahrnehmbar werden, beispielsweise um den Lernenden einen Einblick in den Konstruktionscharakter von Geschichte zu ermöglichen, die Flucht der Storkower Gymnasialklasse multiperspektivisch zu verstehen oder bei einem komplexen Zusammenhang bisweilen Lernschwierigkeiten zu diagnostizieren und situativ komplexe oder schwer verständliche Sachverhalte auf eine adressatengemäße Weise zu erklären. Bei der theoretischen Fundierung der Wissensfacette „Aufgaben formulieren können“ wurde auf die Geschichtsunterrichtsspezifik von schriftlichen Aufgaben oder mündlichen Hinweisen zur Quellen- und Materialienkritik abgehoben. Das tun Geschichtslehrkräfte tagaus, tagein. Innerhalb der Begriffs- und Konzeptvarianz der Kompetenzmodellierung orientierten wir uns an der Begrifflichkeit des FUER-Modells und wählten aus der Breite der Operationen beim historischen Lernen mit Aufgaben das Rekonstruieren und Dekonstruieren aus. Konkret wurden diese Basisoperationen der Methodenkompetenz aus dem FUER-Modell20 in den einleitenden Instruktionen des Vignettentests formuliert.

20 Vgl. Waltraud Schreiber : Kompetenzbereich historische Methodenkompetenzen. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 54–86.

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3.

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Fragestellungen

In der geschichtsdidaktischen Professionsforschung wurde bisher das empirische Verhältnis von Wissen und Kompetenz weitgehend ausgeklammert.21 Nur auf einer konzeptionellen und normativen Ebene wurde über die Gestalt und den Erwerb von Kompetenzen angehender Geschichtslehrkräfte reflektiert.22 Diese Desiderate wurden durch die erste Fragestellung „Wie beeinflussen Theoriekenntnisse zum FUER-Kompetenzmodell und Fachwissen die Fähigkeit, geeignete Aufgaben erkennen zu können?“ bearbeitet. Es war zu erwarten, dass Geschichtsstudierende, die über Kenntnisse des FUER-Modells verfügten, auch geeignete Aufgaben auswählten und dass die Auswahl passender Aufgaben auch vom Fachwissen abhing, weil das Rekonstruieren und Dekonstruieren zum Kerngeschäft des historischen Erkennens gehört. Inwiefern es sich bei der Re- und De-Konstruktionskompetenz um analytisch zu unterscheidende historische Denkakte handelt, die auch empirisch getrennt werden können, ist bereits in Ansätzen untersucht. Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Elisabeth Schaser stellten in einer empirischen Modellierung bei Schüler*innen (N = 962) anhand offener Aufgaben ähnliche Denkleistungen beim Re- und De-Konstruieren fest.23 Durch die Bearbeitung der zweiten Fragestellung „Lassen sich die Basisoperationen der Methodenkompetenz aus dem FUER-Modell empirisch trennen?“ wird der Versuch unternommen, die bisherigen Befunde in Bezug auf die empirische Trennung der Basisoperationen der Methodenkompetenz aus dem FUER-Kompetenzmodell zu konkretisieren.

21 Vgl. B8atrice Ziegler : Historische Konzepte und Kompetenzmodelle – ein empirischer Zugang zur Bedeutung von Wissen für Kompetenzen. In: Christoph Kühberger (Hrsg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundungen zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. 2012, S. 135–151, hier S. 135f.; Waltraud Schreiber : Zum Verhältnis zwischen Wissen und Kompetenzen. Ein Essay. In: Ebd., S. 119–134, hier S. 120. 22 Vgl. Holger Thünemann: Probleme und Perspektiven der geschichtsdidaktischen Kompetenzdebatte. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann: Aus der Geschichte lernen? Weiße Flecken der Kompetenzdebatte. Münster 2016, S. 37–51, hier S. 44; Christoph Kühberger : Historisches Wissen – verschiedene Formen seiner Strukturiertheit und der Wert von Basiskonzepten. In: Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven. Frankfurt a.M. 2016, S. 91–107. 23 Vgl. Christiane Bertram/Wolfgang Wagner/Elisabeth Schaser : Historische Kompetenzen mit offenen Antwortformaten messen – Eine Studie auf Basis der „Sechser-Matrix“ des FUERModells. In: Monika Waldis/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 13. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 13“. Bern 2015, S. 165–180, hier S. 178.

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4.

397

Methode

Zur Erfassung geschichtsdidaktischer Kompetenzen von Geschichtslehrkräften wurde ein vignettengestütztes Testinstrument mit geschlossenem Antwortformat eingesetzt. Bei der Suche nach realitätsnahen oder möglichst authentischen Erhebungsformaten des geschichtsdidaktischen Wissens und Könnens wurde vor allem das Kriterium der ökologischen Validität des Testinstruments berücksichtigt. Das meint, dass das handlungsrelevante Wissen und Können von Geschichtslehrpersonen im Testverfahren abgebildet werden sollte, im idealen Fall im Rahmen einer teilnehmenden Unterrichtsbeobachtung. Aus testökonomischen Gründen wurden stattdessen Ausschnitte aus dem Geschichtsunterricht favorisiert. Dafür werden inzwischen sogenannte Unterrichtsvignetten ausgewählt bzw. konstruiert, mit denen fachdidaktische Kompetenzen von Lehrpersonen erhoben werden können.24 Unterrichtsvignetten sind Darstellungen des Unterrichtsalltags, die unterrichtliche Probleme aufzeigen und mit bestimmten Kompetenzen der Lehrperson erfolgreich bewältigt werden können.25 Diese möglichst authentischen Unterrichtssituationen sollen repräsentativ das zu Messende oder das zu Reflektierende in unterschiedlichen medialen Formaten (v. a. Video, Text, Comic) präsentieren.26 Insgesamt wurden für den Kompetenztest von EKoL nach dem Durchlauf von vier Qualitätsschleifen sieben Textund zwei Videovignetten mit je vier Testitems ausgewählt, in denen Lehrkräfte bei der Planung und Durchführung von Lehr-Lernsituationen gezeigt wurden. Die Authentizität und Repräsentativität der entwickelten Vignetten wurde in einer qualitativen und quantitativen Expert*innenbefragung von 96 Expert*innen aus der Schulpraxis sowie Verantwortlichen der Lehrer*innenausbildung bestätigt.27 Abbildung 2 zeigt exemplarisch das „Drehbuch“ einer Videovignette, wie sie im Test eingesetzt wurde. Neben wesentlichen Kontextinformationen wie z. B. Jahrgangsstufe und Unterrichtsphase werden in der Vignette das Unterrichts24 Die ersten Erhebungen unter Verwendung von Vignetten wurden im Rahmen von sozialpsychologischen Settings bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts durchgeführt.Vgl. Cheryl S. Alexander/Henry Jay Becker : The Use of Vignettes in Survey Research. In: Public Opinion Quarterly 42 (1978) 1, S. 93–104. Vgl. weiter: Dorothee Brovelli u. a.: Using Vignette Testing to Measure Student Science Teachers’ Professional Competencies. In: American Journal of Educational Research 2 (2014), 7, S. 555–558. 25 Vgl. Markus Rehm/Katrin Bölsterli: Entwicklung von Unterrichtsvignetten. In: Dirk Krüger/ Ilka Parchmann/Horst Schecker (Hrsg.): Methoden der naturwissenschaftlichen Forschung. Berlin/Heidelberg 2014, S. 213–225, hier S. 215. 26 Vgl. Manfred Seidenfuß/Christian Heuer/Mario Resch: Unterrichtsvignetten in Forschung und Lehre. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (eingereicht). 27 Für eine ausführliche Beschreibung der Testentwicklung und Testvalidierung vgl. Resch (Anm. 2), S. 111–169.

398

Mario Resch / Manfred Seidenfuß

gespräch sowie ein Textauszug aus dem Jugendbuch „Der erste Frühling“ von Klaus Kordon präsentiert. Im Mittelpunkt steht die retrospektive Auseinandersetzung einer Romanfigur mit ihrer Begeisterung für die Hitlerjugend. Beispielvignette: Jugendbuch „Der erste Frühling“ Klassenstufe:

Sekundarstufe I (Klasse 9/10)

Kontext:

Die Schüler*innen lesen fächerübergreifend (Deutsch und Geschichte) das Jugendbuch „Der erste Frühling“ von Klaus Kordon. Im Geschichtsunterricht haben sich die Lernenden bereits mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt.

Ziel:

Die Darstellung einer Person aus dem Jugendbuch „Der erste Frühling“ untersuchen (dekonstruieren).

Auszug aus dem Unterrichtsgespräch [Hinführungsphase; Unterrichtssituation frontal; Jugendbücher und Geschichtsordner liegen auf den Tischen] L: Als wir uns in der letzten Geschichtsstunde mit dem Jugendbuch „Der erste Frühling“ von Klaus Kordon beschäftigt hatten, ist uns am Ende der Stunde eine Figur begegnet, die wir uns heute noch etwas genauer anschauen – Onkel Heinz. Kann jemand kurz zusammenfassen, was wir bereits über Onkel Heinz erfahren haben? [Einige Schüler*innen melden sich; Lehrerin ruft auf] S1: Onkel Heinz war in der Nazi-Zeit als Einziger aus der Familie ein Anhänger von Hitler und ist in die HJ eingetreten. Dadurch hat er sich natürlich mit seiner Familie zerstritten, die ja sonst Kommunisten – also gegen Hitler – waren. Nach dem Krieg tut es ihm leid. Er erkennt seine „falsche“ Haltung und versöhnt sich mit seiner Familie. L: Sehr gut und genau an dieser Stelle möchte ich jetzt mit euch noch einmal einsteigen. Kann bitte jemand die Textstelle auf Seite 62 noch einmal laut vorlesen. Die Stelle beginnt relativ weit unten bei „Onkel Heinz…“ und endet nach dem ersten Absatz auf der nächsten Seite. [Lehrerin ruft einen Schüler auf] S2: [liest laut vor] Onkel Heinz schweigt lange, dann sagt er leise: „Warum war ich nur so dumm, warum war ich nicht wie ihr?“ „Weil du in einer anderen Zeit aufgewachsen bist“, antwortet der Großvater ernst. „Und weil wir dich nicht vor den Nazis schützen konnten, ohne uns selbst zu gefährden. Warst ja damals ganz scharf darauf, in der HJ mitzumachen. Und irgendwie haben wir das auch verstanden. Zelten fahren, Abenteuer erleben, mit `nem Messer am Koppel herumlaufen – sowas gefällt einem Dreizehnjährigen natürlich.“ (Textstelle: Klaus Kordon: Der erste Frühling. Weinheim 2002. S. 62). L: Onkel Heinz sagt ja, dass sein Eintritt in die HJ „dumm“ war und der Großvater relativiert diese Aussage, indem er sagt, dass die Familie seine Begeisterung für die HJ irgendwie auch verstanden hat. Ihr hattet ja in der letzten Stunde gesagt, dass ihr es nicht nachvollziehen könnt, dass jemand freiwillig in die HJ eingetreten ist. Onkel Heinz war anscheinend begeistert von der Jugendorganisation und hat sich deshalb sogar mit seiner Familie gestritten. Wir werden in der heutigen Stunde einmal darüber nachdenken, wie das Verhalten von Onkel Heinz im Roman gedeutet werden kann. [Nun sucht die Lehrerin nach Möglichkeiten, wie die Beschäftigung mit dem Jugendbuchtext im weiteren Unterrichtsverlauf fortgeführt werden könnte.]

Abbildung 2: Beispielvignette

Für die Beispielvignette zum Jugendbuch wurden Aufgaben vorgeschlagen, die sich explizit auf die De-Konstruktion der Darstellung der Romanfigur Onkel Heinz bezogen (Abbildung 3). Die Aufgabenformulierungen der Items richteten sich auf die Weiterführung des Unterrichts bzw. auf Planungsentscheidungen und waren hinsichtlich des angestrebten Ziels der Unterrichtssituation nicht eindeutig mit ,richtig‘ oder ,falsch‘ zu beantworten. Deshalb wurden Formulierungen wie angemessen und passend formuliert.28 Die eingesetzten Aufgaben wurden theoriebasiert auf den geschichtsdidaktisch profilierten Ebenen „in-

28 Die Formulierung funktional oder dysfunktional geht ebenso. Vgl. Meik Zülsdorf-Kersting: Kategorien historischen Denkens und Praxis der Unterrichtsanalyse. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 36–56, hier S. 45.

Das Wissen und Können angehender Lehrkräfte

399

haltlich“, „methodengeleitet“, „sinnbildend“ und „über Sinnbildungen reflektieren“ entwickelt.29 Bei der Einschätzung der Ratingitems mussten die Proband*innen die Basisoperationen der Methodenkompetenz (Re- oder De-Konstruktion) anwenden, indem sie die Stimmigkeit oder Passfähigkeit von unterschiedlichen Aufgaben auf einer sechsstufigen Likert-Skala (von 1 = „überhaupt nicht geeignet“ bis 6 = „sehr gut geeignet“) bewerteten (Abbildung 3). Um schließlich die Einschätzungen der Proband*innnen bewerten zu können, wurden die Items von neun ausgewiesenen Geschichtsdidaktiker*innen (davon sechs männlich) eingestuft. Als Expert*innenurteil wurde für jedes Item der Modalwert, also jeweils der Wert, der am häufigsten gekreuzt wurde, herangezogen. Anhand dieser Referenznorm konnten die Beurteilungen der Befragten abgeglichen und nach einem Partial-Credit-Modell30 bepunktet werden.31 Die Expert*innen beurteilten Item a und Item c der Beispielvignette als gut geeignete Aufgaben (jeweils Modalwert 5), während Item b und Item d als überhaupt nicht geeignete Aufgaben (jeweils Modalwert 1) eingeschätzt wurden (Abbildung 3). Da der Zusammenhang bestimmter Operationen des geschichtsdidaktischen Wissens und Könnens mit dem Fachwissen untersucht werden sollte, musste der Vignettentest mit Kovariaten ergänzt werden. Für die Erfassung geschichtsdidaktischer Kompetenzen war ein domänenspezifisches Fachwissen zu begründen, weil in theoretischer Perspektive Fachwissen – verstanden als Geschichtsdidaktisches Wissen und Geschichtswissen – gemeinhin als Grundlage für den Kompetenzerwerb angesehen wird.32 Wegen der Anwendung der Basisoperationen der Methodenkompetenz beim Aufgabenformulieren fokussierten die Items des Fachwissenstests die Bereiche Re- und De-Konstruktionskompetenz. Die Theoriekenntnisse zum FUER-Kompetenzmodell wurden über eine vierstufige Selbsteinschätzungsskala („Inwiefern verfügen Sie über Kenntnisse zu den folgenden Kompetenzmodellen?“) von „Ich verfüge über gar keine 29 Eine ausführliche Beschreibung des Kategoriensystems zur Aufgabenkonstruktion für den Vignettentest: Mario Resch/Manfred Seidenfuß: A taxonomic analysis of learning tasks in history lessons – Theoretical Foundations and Empirical Testing. In: Yearbook of the International Society for History Didactics 38 (2017), S. 235–251. 30 Partial-Credit Kodierungen sind für Items konstruiert, bei denen auch teilrichtige Lösungen vorgesehen sind.Vgl. Markus Bühner : Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion. 2. Auflage, München 2006, S. 330. Bei der Auswertung des EKoL-Vignettentests wurden je nach Abweichung von der Referenznorm 0 Punkte, 0.5 Punkte oder 1 Punkt vergeben. 31 Vgl. Resch (Anm. 2), S. 136f. 32 Vgl. Sarah Düvel/Andreas Körber : Historisches Handlungswissen? In: Kühberger (Anm. 21), S. 153–171, hier S. 155. Andreas Körber : Die Dimensionen des Kompetenzmodells „Historisches Denken.“ In: ders./Schreiber/Schöner (Anm. 20), S. 89–154, hier S. 140– 142.

400

Mario Resch / Manfred Seidenfuß

Inwiefern sind die folgenden Aufgaben geeignet, um die Darstellung von Onkel Heinz im Jugendbuch untersuchen (dekonstruieren) zu können? Machen Sie in jeder Zeile ein Kreuz.

Überhaupt nicht geeignet

Sehr gut geeignet

1

2

3

4

5

6

a

Vergleiche die Darstellung von Onkel Heinz im Jugendbuch mit Erzählungen ehemaliger HJ-Mitglieder, die ihre Zeit in der HJ unterschiedlich bewerten.

[ ]

[ ]

[ ]

[ ]

[X]

[ ]

b

Verfasse einen möglichen Tagebucheintrag aus der Sicht von Onkel Heinz, in dem er von seiner Zeit in der HJ berichtet.

[X]

[ ]

[ ]

[ ]

[ ]

[ ]

c

Beurteile, was es für die Darstellung von Onkel Heinz im Jugendbuch bedeuten kann, dass der vorliegende Text ein fiktionaler Text ist.

[ ]

[ ]

[ ]

[ ]

[X]

[ ]

d

Arbeite anhand des Liedes der HJ („Unsere Fahne flattert uns voran“) die Faszination für diese Jugendorganisation heraus.

[X]

[ ]

[ ]

[ ]

[ ]

[ ]

Abbildung 3: Instruktion und Items mit Referenznorm (x = Modalwert) zur Beispielvignette

Kenntnisse“ bis „Ich verfüge über sehr gute Kenntnisse“ abgefragt. Neben der Bekanntheit des FUER-Modells wurde auch nach Kenntnissen zu den Kompetenzmodellen von Hans-Jürgen Pandel (2005), Peter Gautschi (2006) sowie zum Kompetenzmodell des Berliner Rahmenplans für die Sekundarstufe I Geschichte (2006) gefragt. Die Dimensionalität des Vignettentest wurde mit Hilfe einer Faktorenanalyse im Statistikprogramm Mplus33 konfirmatorisch geprüft. In diesem Fall wurde ein theoretisch angenommenes zweifaktorielles Modell (Faktor 1: De-Konstruktion; Faktor 2: Re-Konstruktion) empirisch überprüft. Um lokale Abhängigkeiten der Items zu den jeweiligen Unterrichtssituationen (Vignetten) zu berücksichtigen, wurden die einzelnen Vignetten in der Analyse als geschlossenes Testlet betrachtet,34 das heißt, dass der Test auf der Ebene der Vignetten so modelliert wurde, dass die Einschätzungen der Items innerhalb einer Unterrichtsvignette zu einem Summenscore addiert wurden. Auf der Grundlage dieses Summenscores konnten dann die weiteren statistischen Analysen durchgeführt werden. Die Berechnung von Gruppenunterschieden wurden anhand von t-Tests (Vergleich von Mittelwerten) mit der Statistiksoftware SPSS35 durchgeführt.

33 Vgl. Linda K. Muth8n/Bengt O. Muth8n: Mplus User’s Guide. Los Angeles 2007. 34 Vgl. Rutsch u. a. (Anm. 4), S. 27–46, hier S. 32f. 35 Vgl. IBM Corporation: IBM SPSS Statistics for Windows, Version 22.0. Armonk, NY, 2013.

Das Wissen und Können angehender Lehrkräfte

5.

401

Stichprobe

Die Gesamtstichprobe (N = 501) verteilte sich auf die genannten Pädagogischen Hochschulen, auf unterschiedliche Studiengänge (Lehramt an Grundschulen, 12.4 %; Lehramt an Werkreal-, Haupt- und Realschulen, 79 %; Lehramt Sonderpädagogik, 4.4 %; Master-Studiengang, 0.4 % und sonstige Studiengänge, 1.2 %) und hatte eine nachvollziehbare Alters- und Geschlechterverteilung (Alter : M = 23.6, SD = 3.75, 58.5 % weiblich). Die Befragten gaben an, dass sie zum Zeitpunkt der Befragung im Durchschnitt 7.35 Seminare zur Geschichtsdidaktik belegt hatten. Die Stichprobe war nicht repräsentativ. Dennoch konnten die vorgesehenen statistischen Analysen wegen der Verteilung von Geschlecht, Alter und Fachsemesteranzahl durchgeführt werden. Die zeitliche Dauer des Tests belief sich auf ca. 70 Minuten und wurde standardisiert im Rahmen von Seminarveranstaltungen an den jeweiligen Hochschulstandorten durchgeführt.

6.

Ergebnisse

Nach der Überprüfung des angenommenen zweidimensionalen Modells (Faktor 1: De-Konstruktion; Faktor 2: Re-Konstruktion) konnte ein Modell mit neun Vignetten und angemessenen Fitwerten (w2 (N = 501, df = 36) = 216.731, p = < 0.001, w2/df = 6.02, RMSEA = 0.024; CFI = 0.960; TLI = 0.941)36 berechnet werden. Beide Operationen korrelieren moderat (r = .304).37 Zwischen den beiden angenommenen Faktoren kann demnach ein statistisch feststellbarer Zusammenhang errechnet werden. Im zweifaktoriellen Modell laden die Vignette „Edelweißpiraten“ und die Vignette „Jugendbuch“ auf beide Faktoren. Auf dem Faktor Re-Konstruktion weisen zwei Vignetten („Edelweißpiraten“ und „Denkmal“) negative Faktorladungen auf (Abbildung 4). Auf der Grundlage dieses Modells wurden die Zusammenhänge zwischen geschichtsdidaktischem Wissen und Können, Fachwissen und den Theoriekenntnissen zum FUER-Kompetenzmodell weiter untersucht. 37 bzw. 232 Befragte gaben an, sehr gute bzw. gar keine Kenntnisse über das FUER-Modell zu haben. Der Bekanntheitsgrad wuchs mit der Anzahl belegter Geschichtsdidaktikseminare (r = .102, p < 0.05). Die Semesteranzahl hatte hingegen keinen Einfluss auf die Bekanntheit des Modells (r = .068). 36 Ein CFI-Wert und TLI-Wert über 0.95 sowie ein RMSEA-Wert von unter 0.05 gelten als Indikatoren für einen guten Modellfit.Vgl. Christian Geiser: Datenanalyse mit M-Plus. Eine anwendungsorientierte Einführung. Wiesbaden 2011, S. 60f. 37 Nach Cohen gelten Korrelationen ab 0.5 als groß, Korrelationen um 0.3 als moderat und Korrelationen um 0.1 als klein. Vgl. Jacob Cohen: Statistical Power Analysis for the Behavioral Sciences. Hillsdale 1988, S. 79–81.

402

Mario Resch / Manfred Seidenfuß

.355

De-Ko

.565 .434 .221 .232 .328

1848 Altsteinzeit Auswanderung Frauenrollen

.308

r = .304

Jugendbuch

Edelweißpiraten .-221 .478

Re-Ko

.447 .-210

Hitlerjugend Denunziant Denkmal

Abbildung 4: Zweidimensionales Modell für die Re- und De-Konstruktionskompetenz

Abbildung 5 zeigt die Mittelwertvergleiche dieser zwei Gruppen (Gruppe 1: „gar keine Kenntnisse“; Gruppe 2: „sehr gute Kenntnisse“). Im t-Test erreichte die Gruppe mit sehr guten Kenntnissen in den Bereichen De-Konstruktion (t(267) = -3.99, p < .001, d = 0.66) und Re-Konstruktion (t(267) = -2.73, p < .01, d = 0.47) signifikant höhere Punktwerte. Sehr gute Kenntnisse über das FUER-Modell beeinflusst das Abschneiden der Proband*innen im Bereich De-Konstruktion mit einem mittleren Effekt (d = 0.66) und im Bereich Re-Konstruktion mit einem kleinen Effekt (d = 0.47).38 Die beiden Basisoperationen korrelierten schwach positiv mit dem Fachwissen (De-Konstruktion: r = .145, p < .01; Re-Konstruktion: r = .120, p < .01) und den Kenntnissen über das FUER-Kompetenzmodell (De-Konstruktion: r = .170, p < .01; Re-Konstruktion: r = .092, p < .05). Proband*innen mit einem höheren Fachwissen erreichten auch höhere Punktwerte beim Re- und DeKonstruieren, wobei das Fachwissen und die FUER-Kenntnisse vor allem das Abschneiden im Bereich der De-Konstruktion beeinflussten.

38 Effektstärken von d = 0.20 gelten nach Cohen als klein, von d = 0.50 als mittelgroß und ab d = 0.80 als groß. Vgl. Ebd., S. 40.

403

Das Wissen und Können angehender Lehrkräfte

*** 11,0 10,5 10,0 9,5 9,0 8,5 8,0 Gar keine Kenntnisse

Sehr gute Kenntnisse FakDeko

** 6,8 6,6 6,4 6,2 6,0 5,8 5,6 5,4 Gar keine Kenntnisse

Sehr gute Kenntnisse FakReko

Abbildung 5: Ergebnisse t-Tests für Faktor 1: De-Konstruktion und Faktor 2: Re-Konstruktion; *** p < .001; ** p < .01

404

7.

Mario Resch / Manfred Seidenfuß

Diskussion der Ergebnisse und Ausblick

Die Basisoperationen Re- und De-Konstruktion der Methodenkompetenz aus dem FUER-Modell ließen sich nur mit Einschränkungen in einem zweidimensionalen Modell empirisch trennen. Beide Denkoperationen korrelierten moderat und die Vignetten „Edelweißpiraten“ und „Jugendbuch“ konnten im Modell nicht eindeutig einem einzelnen Faktor zugeordnet werden. Bei der Vignette „Edelweißpiraten“ dürften inhaltliche Argumente ausschlaggebend sein. Eine genaue Betrachtung der Instruktion zeigte, dass keine eindeutige Denkoperation in der Fragestellung formuliert wurde. Die Schüler*innen sollten anhand eines Zeitungsartikels das Handeln der Edelweißpiraten beurteilen. Die einleitende Fragestellung war entsprechend offen formuliert („Inwiefern sind die folgenden Aufgaben geeignet, um das Handeln der Edelweißpiraten beurteilen zu können?“). Außerdem stammte der in der Vignette eingesetzte Zeitungsartikel aus dem Jahr 1989, womit eine dritte Zeitebene zu berücksichtigen war und somit auch aus analytischer Sicht Überlappungsbereiche beim Re- und DeKonstruieren deutlich wurden. Die Video-Vignette „Jugendbuch“ war allerdings in theoretischer Perspektive eindeutig als De-Konstruktionsaufgabe definiert. Die Schüler*innen lasen einen Auszug aus dem Jugendbuch „Der erste Frühling“ (1993) von Klaus Kordon. Im Mittelpunkt des Textabschnittes stand „Onkel Heinz“, der sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Kreise seiner Familie für seine Begeisterung für die Hitlerjugend rechtfertigen musste. Die Proband*innen mussten Aufgaben bewerten, die sich auf eine anzubahnende De-Konstruktion der fiktiven Romanfigur bezog („Inwiefern sind die folgenden Aufgaben geeignet, um die Darstellung von Onkel Heinz im Jugendbuch untersuchen (dekonstruieren) zu können?“). Beim vorgelegten Textauszug handelte es sich eindeutig um eine dargestellte Geschichtsdeutung und die von der Lehrkraft anvisierte Denkoperation wurde auch explizit in der einleitenden Instruktion genannt. Insgesamt ist anhand der faktorenanalytisch ermittelten Befunde eher davon auszugehen, dass es sich bei den Operationen zum Re- und De-Konstruieren um sehr ähnliche Denkakte handelt. Die Ergebnisse der Studie von Bertram, Wagner und Schaser (2015) können bestätigt werden. Die Einschätzungen der Studierenden über ihre Kenntnisse zum FUERKompetenzmodell überraschten. Die Bekanntheit aktueller und geläufiger Modelle und Diskurse wäre zu erwarten gewesen. Zudem orientiert sich der aktuelle Bildungsplan Baden-Württembergs am FUER-Modell. In Bezug auf den Einsatz des Testinstruments war diese geringe Bekanntheit problematisch, weil die Basisoperationen Re-und De-Konstruktion als Grundlage für die Einschätzung der Items dienten. Wenn den Proband*innen das Geforderte unklar war, dann folgte aus Nicht-Wissen eben Nicht-Können, was in dem Vergleich der beiden Gruppen

Das Wissen und Können angehender Lehrkräfte

405

belegt werden konnte. Dass mit besserer Kenntnis des Modells auch die Punktwerte im Fachwissenstest und im Vignettentest stiegen, war erwartungskonform und kann als wichtiger Validitätshinweis für das entwickelte Testinstrument gewertet werden. In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Fachwissen und geschichtsdidaktischem Können kann vor allem bei der Beurteilung von Aufgaben, die sich auf De-Konstruktionsprozesse beziehen, Fachwissen als Prädiktor für geschichtsdidaktische Handlungskompetenz identifiziert werden. Wenn Theoriekenntnisse und Fachwissen das geschichtsdidaktische Können positiv beeinflussen und dieser Zusammenhang empirisch nachgewiesen werden kann, dann können daraus auch Implikationen für die Praxis abgeleitet werden. Das Testformat kann zu einem Lehrformat umgestaltet werden. Geschichtslehrpersonen könnten damit im Rahmen der Professionalisierung theoretisches Wissen mit der Unterrichtspraxis verknüpfen.39 Das Format des fallbasierten Lernens mit Unterrichtsvignetten wurde bereits im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen erprobt.40 Um die Wirksamkeit der Fort- und Weiterbildungen mit diesem Format weiter zu evaluieren, werden aktuell die entwickelten Lehrvignetten in Interventionsstudien in unterschiedlichen Kohorten untersucht.

39 Vgl. Seidenfuß/Heuer/Resch (Anm. 26). 40 Titel der Fortbildung: Mario Resch/Manfred Seidenfuß: Fallbeispiele aus dem und für den Geschichtsunterricht: Möglichkeiten für Analyse und Weiterentwicklung des Geschichtsunterrichts mit dem Schwerpunkt Aufgaben. Anerkannt als Lehrkräftefortbildung vom Regierungspräsidiums Karlsruhe (Nummer 88167269, Heidelberg 18. 11. 2016).

Peter Johannes Droste

Kommentar: „Wer?“ Die Akteure

Im Fokus der Vorträge dieser Sektion standen unter der Frage „Wer?“ die Geschichtslehrerinnen und -lehrer bzw. deren Fähigkeiten und Ausbildung. Alle Beiträge zielten auf zentrale Lehrerkompetenzen und Herausforderungen an den modernen Geschichtsunterricht: „Welches Fachwissen brauchen angehende Lehrkräfte für den Geschichtsunterricht?“ (Monika Fenn/Jessica Seider, Potsdam), „Wie lässt sich die Planung von Geschichtsunterricht bewerten?“ (Katharina Litten, Göttingen), „Aufgaben formulieren im Geschichtsunterricht: Das Wissen und Können angehender Lehrkräfte“ (Mario Resch/Manfred Seidenfuß, Heidelberg), „Lehrpersonen und digital literacy im Digitalen Wandel“ (Marko Demantowsky, Basel).1 Monika Fenn wartete mit den ersten Ergebnissen einer zweischrittigen Delphi-Studie auf und begann ihre Ausführungen mit den Ergebnissen einer Onlinebefragung von Lehramtsstudierenden, die sich um das Verhältnis von Fachwissen und didaktischen Kenntnissen drehte. Insgesamt wiesen 75,9 Prozent der Befragten dem Fachwissen eine hohe bis sehr hohe Priorität für alle Studierenden zu. Bei den offenen Items und der Frage nach bedeutsamen Zielen der fachwissenschaftlichen Ausbildung kristallisierten sich grundlegende Inhalte heraus, wie etwa Forschungsmethoden, epistemologische Prinzipien, Wissen um den Konstruktcharakter von Geschichte, die Notwendigkeit reflektierter Deutungen und Narrative und um den metakognitiven Umgang damit sowie Konzepte, Begriffe, Strukturen der Domäne Geschichte. Der zweite Themenblock der Befragung bezog sich auf den Grad der Durchdringung des Fachwissens: „Sollten die in der fachwissenschaftlichen Ausbildung vermittelten Konzepte bezogen auf das Berufsfeld Geschichtslehrkraft Ihrer Meinung nach quantitativ und/oder qualitativ verändert werden?“ Von den drei Antwortkategorien „erweitert werden“, „gleich bleiben“, „reduziert werden“ erreichte „gleich bleiben“ einen hohen Konsens für Fach- und Lehramtsstudierende 1 Anmerkung der Herausgeber_innen: Zu den Vorträgen von Monika Fenn und Marko Demantowsky wurden keine Druckfassungen eingereicht.

408

Peter Johannes Droste

(qualitativ 60,7 Prozent; quantitativ 59,26 Prozent). Die übrigen Antwortkategorien sprachen tendenziell dafür, dass Konzeptwissen in Tiefe (35,7 Prozent) und Breite (37 Prozent) für Lehramtsstudierende zu erweitern wäre. Der dritte Themenblock widmete sich der Frage nach der Gestaltung von Lehrveranstaltungen. 69 Prozent der Befragten erachteten einen fachwissenschaftlichen Bezug zu den späteren Lehrinhalten an der Schule für sinnvoll. Man darf gespannt sein, welche Ergebnisse die zweite Phase dieses Verfahrens zeitigen wird. In einem Tutorium zur Vorlesung sollen die fachwissenschaftlichen Inhalte auf schulnahe Inhalte reflektiert werden. Empirisch untersucht werden soll dann, ob und wie sich Fachwissen erweitert. Einer schwierigen Frage widmete sich Katharina Litten (Göttingen): „Wie lässt sich die Planung von Geschichtsunterricht bewerten“? Der Vortrag wurde stellvertretend für die erkrankte Referentin von Michael Sauer vorgestellt. Litten wies bereits in ihrer jüngst vorgelegten und vielbeachteten Studie zur Unterrichtsplanung darauf hin, dass diesbezügliche Kenntnisse und Fähigkeiten in Unterrichtsbesuchen und Examina getestet würden, ohne dass es hierzu allgemein anerkannte Kriterien noch Methoden gebe. In ihrem Vortrag stellte sie ihre Forschungsergebnisse wie auch den aktuellen Stand ihrer Anschlussstudie am Beispiel von Referendaren und Referendarinnen vor. Ziele der Untersuchung waren: die Deskription der Planungshandlungen, eine Erfassung der Rahmenbedingungen und die Deskription des professionellen Wissens. Auf Basis dreier unterschiedlicher empirischer Datenerhebungsformate konnte Litten u. a. maßgebliche Elemente des Planungshandelns von Lehrkräften darstellen: Themenwahl, Zielformulierung, Kompetenzformulierung, Phasierung, Methodenwahl, Materialwahl, Flexibilität, didaktisch-methodische Überlegungen und die Materialerstellung. Ein Merkmal für guten Geschichtsunterricht ist die Verwendung von sinnstiftenden Aufgaben, die Lernzuwachs ermöglichen. Der Beitrag von Manfred Seidenfuß und Mario Resch widmete sich mit der Fähigkeit Lernaufgaben zu konstruieren, einer wichtigen Facette fachdidaktischer Lehrerkompetenz. Für die theoretische Fundierung von Aufgaben, die in einem Vignettentest als geschlossene Ratingitems präsentiert werden sollten, stellten Manfred Seidenfuß und Mario Resch ein differenziertes Kategoriensystem vor, mit dem Aufgabenformate auf vier geschichtsdidaktisch profilierten Ebenen (inhaltlich, methodisch, sinnbildend, über Sinnbildungen reflektierend) begutachtet werden können. Die Befunde aus diesen Befragungen sollten auf zentrale Qualitätsmerkmale von Lernaufgaben verweisen. Neben empirischen Daten zur Untersuchung der Methodenkompetenz konnten die Referenten in Bezug auf die fachdidaktischen Kompetenzen der Studierenden positive Zusammenhänge zwischen kognitiven Grundfähigkeiten, Motiven der Berufswahl und von Selbstkonzepten nachweisen. Mit dem Plädoyer, dass im Geschichtsunterricht

Kommentar: „Wer?“ Die Akteure

409

stets Lernaufgaben zur Anwendung kommen sollten, stellten Seidenfuß und Resch ihr Testformat bezüglich Unterrichtsqualität als handhabbares Modell für die Zukunft vor. Auf den zum Teil recht komplexen Folien wurde u. a. deutlich, wie und wo sich fachwissenschaftliche Aspekte und fachdidaktische Intentionen ergänzen können. Dabei ging es um die Fragestellung: Wie beeinflussen Theoriekenntnisse und Fachwissen die Fähigkeit, geeignete Aufgaben erkennen zu können? – Und: Lassen sich die Basisoperationen der Methodenkompetenz aus dem FUER-Modell empirisch trennen? Es zeigte sich u. a., dass nur eine geringe Anzahl der befragten Studierenden der Meinung waren, über gute Kenntnisse zum FUER-Modell zu verfügen. Darüber hinaus ergab sich, dass Studierende mit besserer Kenntnis des FUER-Modells im Fachwissen sowie im geschichtsdidaktischen Wissen und Können signifikant höhere Punktwerte erreichen. Der Vignettentest konnte die Basisoperationen (Re- und De-Konstruktion) der Methodenkompetenz nach FUER nur mit Einschränkungen empirisch trennen. Insbesondere bei der „richtigen“ Einschätzung von De-Konstruktionsaufgaben konnte Fachwissen als Prädiktor für geschichtsdidaktisches Wissen und Können identifiziert werden. Ein ganz anderes, aber nicht weniger aktuelles Thema behandelte Marko Demantowsky (Basel): „Lehrpersonen und digital literacy im Digitalen Wandel. Fachdidaktisch-interdisziplinäre Projektkooperation an der PH FHNW“. Der Vortrag befasste sich mit der sog. digital literacy der Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer. Der Einsatz von und Umgang mit digitalen Medien im Geschichtsunterricht ist seit mindestens zwei Jahrzehnten ein Dauerbrenner, der immer wieder zwischen der Begeisterung für die Digitalisierung der Schule und dem Frust angeblich nicht vorhandener digitaler Unterrichtskultur schwankt. Neben den üblichen Neologismen, ohne die die digitale Welt offensichtlich nicht auskommt, wurde in Demantowskys Vortrag völlig zu Recht angemahnt, dass es bei der Frage der Digitalisierung längst nicht mehr um das „Ob“, sondern einzig und allein um das „Wie“ des digitalen Medieneinsatzes im Unterricht geht. Zusammenfassend bleibt die Frage: Welche Konsequenzen haben diese Erkenntnisse für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrpersonen? (kurz-/ mittel-/langfristig)? Demantowsky erläuterte sein Projekt „Teacher Concepts of Digital Tools in Education“, in welchem der Stand der digital literacy ermittelt werden soll. In den Ausführungen von Demantowsky wurde deutlich, dass die Medienkompetenz, ähnlich wie traditionelles Methodenwissen, ein grundlegender Baustein in der Ausbildung der Geschichtslehrenden werden muss. Lehrpersonen müssen für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet sein. Hierbei geht es weniger um das Einüben der Bedienung der Medien, die für die Schülerinnen und Schüler keinesfalls immer souverän genutzt werden, sondern um die Analyse und Verbreitung der Inhalte. Zusammenfassend kann man sagen, dass die vier Beiträge zwar noch viele

410

Peter Johannes Droste

Fragen offen lassen mussten, aber schon einige Fragen beantworteten und gute Wege, wie man professionelle Kompetenz beforschen kann, aufzeigen konnten. Dass diese Bewertungsmodelle nur bedingt zur dienstlichen Beurteilung dienen können, ist selbstverständlich.

Sektion 5: Womit? (Digitale) Medien des historischen Lernens

Astrid Schwabe

Womit? (Digitale) Medien des historischen Lernens. Einführung in die Sektion

Eine Reflexion schulischen historischen Lernens im 21. Jahrhundert aus geschichtsdidaktischer Perspektive muss neben Fragen nach den Aufgaben des Geschichtsunterrichts, seinen Inhalten, Adressaten und Methoden selbstverständlich auch die Medien historischen Lernens fokussieren. Dies gilt im Besonderen, weil sich Geschichte immer medial vermittelt materialisiert. In einer Gesellschaft, in der die Digitalisierung als eine der größten Herausforderungen angesehen wird, in einer Bildungslandschaft, in der in einem „Digitalpakt Schule“ die Schaffung „digitaler Lernumgebungen“ – was auch immer das genau sei – und die Förderung von Open Educational Resources zum politischen Programm ausgerufen werden, wie auch 2018 in der Bundesrepublik zu beobachten,1 gilt es dabei besonders, digitale Medien in den Blick zu nehmen. Die Sektion „Womit? (Digitale) Medien des historischen Lernens“ greift den aktuellen Diskurs über schulisches Lernen „im digitalen Wandel“2 mit dem spezifischen Fokus auf historische Lernprozesse auf. Dabei zielt sie jedoch nicht ausschließlich auf digitale Medien im Geschichtsunterricht ab, sondern richtet ihr Augenmerk auch auf das Spannungsfeld zwischen diesen vorgeblich neuen und den so genannten traditionellen, nämlich analogen Unterrichtsmedien, sowohl in Hinblick auf die tatsächliche Verwendung in der Unterrichtspraxis wie auch auf ihre jeweiligen spezifischen Potenziale für das historische Lernen.

1 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 19. Legislaturperiode. Berlin, 7. Februar 2018, verfügbar unter https://www.mdr.de/nachrichten/politik/in land/download-koalitionsvertrag-quelle-spd-100-downloadFile.pdf (aufgerufen am 04. 04. 2018), hier S. 39. 2 Marko Demantowsky/Christoph Pallaske (Hrsg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. Oldenburg 2014.

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Astrid Schwabe

Rahmenbedingungen des schulischen historischen Lernens in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft Forderungen nach dem Ausbau digitaler Infrastrukturen an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, nach Vernetzung, Cloud-Lösungen, Open Educational Ressources und Open Source, ja, auch Schlagwörter wie „digitale Schlüsselkompetenzen“ finden sich derzeit in nahezu jeder (bildungs-)politischen Verlautbarung im Land, dominieren viele Schlagzeilen. Dabei ist zu konstatieren, dass die geforderten Kompetenzen leider oft, wie beispielsweise im Gutachten 2018 der „Expertenkommission Forschung und Innovation“ als Beratungsgremium der Bundesregierung, deutlich stärker auf „Fähigkeiten in Software- und Algorithmenentwicklung“3 abzielen, denn auf eine Medienkompetenz im Sinne einer kritischen Reflexionsfähigkeit. Dennoch: „Bildung in der digitalen Welt“, so der Titel des zentralen Strategiepapiers der Kultusministerkonferenz aus dem Dezember 2016,4 ist auf der politischen Agenda. Die KMK formuliert hier : „Die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche führt zu einem stetigen Wandel des Alltags der Menschen. […] Die Digitalisierung […] wird hier im weiteren Sinne verstanden als Prozess, in dem digitale Medien und digitale Werkzeuge zunehmend an die Stelle analoger Verfahren treten und diese nicht nur ablösen, sondern neue Perspektiven in allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen erschließen, aber auch neue Fragestellungen z. B. zum Schutz der Privatsphäre mit sich bringen. Sie ist für den gesamten Bildungsbereich Chance und Herausforderung zugleich“.5 Die KMK sieht die Potenziale dabei vor allem in einer besseren individuellen Förderung und größeren Teilhabe. Im weiteren Verlauf dieses im Vergleich zu anderen politischen Papieren recht ausgewogenen „verbindlichen Rahmens“6 werden Anforderungen benannt, „über welche Kenntnisse, Kompetenzen und Fähigkeiten Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Pflichtschulzeit verfügen sollen, damit sie zu einem selbstständigen und mündigen Leben in einer digitalen Welt befähigt werden“.7 Es geht dabei um Standards, die 3 Expertenkommission Forschung und Innovation: Jahresgutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2018. Berlin 2018, verfügbar unter https ://www.e-fi.de/fileadmin/Gutachten_2018/EFI_Gutachten_2018.pdf (aufgerufen am 04. 04. 2018). 4 Kultusministerkonferenz: Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 08. 12. 2016 in der Fassung vom 07. 12. 2017. Berlin 2017, verfügbar unter https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_ beschluesse/2018/Strategie_Bildung_in_der_digitalen_Welt_idF._vom_07. 12. 2017.pdf (aufgerufen am 04. 04. 2018). 5 Ebd., S. 8. 6 Ebd., S. 4, Vorwort. 7 Ebd., S. 11.

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alle Schulen ab der Primarstufe erfüllen sollen, wobei ausdrücklich die „kritische Reflexion in Bezug auf den Umgang mit Medien und über die digitale Welt“8 im Mittelpunkt steht. Formuliert werden „Kompetenzen in der digitalen Welt“9, operationalisiert in sechs Kompetenzbereiche mit jeweils zahlreichen Einzelkompetenzen. Diese Kompetenzbereiche umfassen:10 1. „Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren“: Der Kompetenzbereich zielt neben dem Erlernen sinnvoller Suchstrategien in verschiedenen digitalen Medien vor allem auf die begründete Auswahl, Analyse und kritische Bewertung der Ergebnisse sowie ihre strukturierte und quellengestützte Verarbeitung und Speicherung ab. 2. Der Punkt „Kommunizieren und Kooperieren“ legt den Schwerpunkt auf den kommunikativen Aspekt digitaler Medien im Sinn der Teilhabe, von rein technischen Fähigkeiten über inhaltliche Kooperation bis hin zu ethischen Fragen der ,Netiquette‘. 3. Schüler_innen sollen in der Schule Erfahrungen machen im „Produzieren und Präsentieren“ mittels geeigneter Formate und unter Beachtung des Urheber- und Persönlichkeitsrechts. 4. Auf den wichtigen Aspekt des Datenschutzes, aber auch auf Suchtpotenziale und Energiefragen verweist der Bereich „Schützen und sicher Agieren“ [sic]. 5. „Problemlösen und Handeln“ als weiterer Aspekt fokussiert im Besonderen die technischen Aspekte digitaler Medien, hier geht es um ihren Werkzeugcharakter und auch Fragen ihrer algorithmusgestützten Funktionsweise. 6. Der letzte Kompetenzbereich „Analysieren und Reflektieren“ ist sicherlich inhaltlich der anspruchsvollste, hier stehen vor allem der kritische Blick auf digitale Medien, ihre Charakteristika und institutionellen Grundzüge sowie ihre Wirkungen auf Individuum und Gesellschaft im Mittelpunkt, im Sinne von Dieter Baackes „Medienkritik“.11 Die im Papier geforderte Kompetenzschulung solle durch den systematischen Einsatz „digitaler Lernumgebungen“12 als schulische Querschnittssaufgabe in jedem Fach erfolgen, also in anzupassende Fachcurricula integriert werden. Denn: „Jedes Fach beinhaltet spezifische Zugänge zu den Kompetenzen in der digitalen Welt durch seine Sach- und Handlungszugänge“,13 womit wir direkt im 8 9 10 11

Ebd. Ebd., S. 15. Vgl. im Folgenden ebd., S. 15–18. Vgl. Dieter Baacke: Was ist Medienkompetenz? In: Jürgen Lauffer/Renate Röllecker (Hrsg.): Chancen digitaler Medien für Kinder und Jugendliche. Medienpädagogische Konzepte und Perspektiven. Beiträge aus Forschung und Praxis. München 2012, S. 145f. 12 Kultusministerkonferenz (Anm. 4), S. 12. 13 Ebd.

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Thema der Sektion sind: Auch der Geschichtsunterricht wird sich zukünftig an diesen Erwartungen messen lassen müssen. Sicher lässt sich auch an diesem bildungspolitischen Strategiepapier einiges kritisieren. Zuvorderst ist der ihm zu Grunde liegende Medienbegriff14 undifferenziert, was unter einem Medium verstanden wird bleibt ebenso unklar, wie die Frage danach, was eigentlich unter dem Sammelbegriff digitale Medien subsumiert wird und welche Strukturmerkmale diese denn auszeichnen.15 Ähnlich nebulös bleibt das Verständnis von digitalen Lernumgebungen, die das Papier als zentral für die „Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen“ neuer Art ausmacht.16 Zudem fällt die große Spannbreite der Einzelkompetenzen auf, die von eher technischen Fertigkeiten über Hintergrundwissen zu zentralen rechtlichen Aspekten und ethischen Fragen bis zu einer grundsätzlich kritisch-analytischen Haltung reicht. Ihre Darstellung folgt einer eigenwillig sortierten, kaum hierarchisierten, eher additiv anmutenden Auflistung. Allerdings sind damit zentrale Aspekte einer Medienkompetenz erfasst, wie sie Baacke in vier Dimensionen systematisiert:17 Neben der schon erwähnten Medienkritik erkennen wir auch Bezüge zur Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung. Die Kultusbürokratien sehen also staatliche Bildungseinrichtungen in der Pflicht, vor allem bei jungen Menschen eine auf souveräne Partizipation an der Informationsgesellschaft ausgerichtete Wahrnehmungs- und Handlungskompetenz zu schulen, die nicht allein das Erlernen von Programmiersprachen oder das methodische Einüben des technischen Umgangs mit digitalen Medien umfasst. Hier würde (Geschichts-)Unterricht in dieser schnelllebigen Welt wohl auch immer hinterherhecheln. Das Konzept überwindet dabei den Mythos der so genannten Digital Natives.18 Mit diesem Konzept ist bekanntlich die Vorstellung verbunden gewesen, dass im Internetzeitalter Aufgewachsene sich stark über14 Vgl. hierzu Christoph Pallaske (Hrsg.): Medien machen Geschichte. Neue Anforderungen an den geschichtsdidaktischen Medienbegriff im digitalen Wandel? Berlin 2015; auch Daniel Bernsen/Ulf Kerber: Medientheoretische Überlegungen für die Geschichtsdidaktik. In: Diess. (Hrsg.): Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter. Opladen 2017, S. 22–36. 15 Vgl. Astrid Schwabe: Ein Blick über den disziplinären Tellerrand. Über die Potenziale eines kommunikationswissenschaftlichen Medienverständnisses für die geschichtsdidaktische Mediendiskussion im digitalen Wandel. In: Pallaske (Hrsg.) (Anm. 14), S. 37–51, hier S. 40–45. 16 Kultusministerkonferenz (Anm. 4), S. 12. 17 Vgl. Baacke (Anm. 11). 18 John Palfrey : Generation Internet. Die Digital Natives: wie sie leben, was sie denken, wie sie arbeiten. Unter Mitarbeit von Urs Gasser. München 2008. Die Begrifflichkeit geht auf Marc Prensky (2001) zurück. Vgl. hierzu auch Peter Haber : Digitale Immigranten zwitschernde Eingeborene und die Positivismusfalle. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 9 (2012), H. 2, verfügbar unter http://www.zeithistori sche-forschungen.de/16126041-Haber-2-2012 (aufgerufen am 04. 04. 2018).

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wiegend mit digitalen Medien beschäftigten und sich selbstverständlich und eigenständig in einer digitalisierten Welt zurechtfänden.19 Mit den angeführten Aspekten geht die KMK-Strategie weit über die notwendigen, aber nicht hinreichenden Forderungen nach Investitionen in eine flächendeckend zukunftsfähige digitale Infrastruktur für alle Bildungseinrichtungen (Netzanbindung und Geräteausstattung) hinaus. Sie versteht die Integration digitaler Medien in den schulischen Unterricht weder als Selbstzweck noch vornehmlich unter motivationalen Gesichtspunkten,20 sondern im Gegenteil als eine über fachliche Zugänge zu steuernde inhaltliche Auseinandersetzung mit spezifischen Gegenständen. Die Aufforderung besteht also darin, im Unterricht und damit vorbereitend auch in der Lehrer_innenbildung Analyse und kritische Reflektion in den Fokus zu nehmen, Aspekte, die in der öffentlichen Diskussion oft deutlich zu kurz kommen. Zumindest können die strategischen Ziele des Papiers wohlwollend so gelesen werden.

Historisches Lernen und digitale Medien Diese bildungspolitischen Rahmenvorgaben bestätigen eine in der geschichtsdidaktischen Disziplin schon längere Zeit bestehende Hinwendung zu Fragen nach dem Verhältnis von historischem Lernen und verschiedenen digitalen Medien, zuvorderst dem Internet. Konkret trägt die KMK-Strategie der Disziplin nun auch von offizieller Seite an, sich praxisorientiert mit historischen Lernprozessen in, mit oder durch digitale Medien zu befassen und deren Potenziale, Herausforderungen und Grenzen für die Vermittlung und Auseinandersetzung mit Geschichte zu untersuchen. Auch die Geschichtsdidaktik ist aufgefordert, Konzepte für einen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht zu entwickeln, der seine Adressat_innen befähigen möge, mündig in einer digitalen Welt zu agieren, in der auch „die zukünftige Beschäftigung der heutigen Schüler_innen 19 Zahlreiche Studien zur jugendlichen Mediennutzung und Freizeitgestaltung zeichnen ein durchaus differenziertes Bild: Auch wenn digitale Medien eine große Bedeutung haben, sind weder analoge Medien wie Bücher ,out‘, noch nicht mediale Freizeitaktivitäten abgeschrieben. Vgl. u. a. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.): JIM-Studie 2017. Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19jähriger, verfügbar unter https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2017/JIM_2017. pdf (aufgerufen am 04. 04. 2018). 20 Vgl. im Gegensatz hierzu bspw. die Aussagen von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek in einem Interview in: Die Zeit 14 (2018) vom 28. 03. 2018, S. 73 über die Chance „mit Filmen und Lernspielen Kinder anders für Inhalte [zu] begeistern als allein mit Büchern.“ Weiter : „Ich habe mich immer geärgert, wie schwer es Geschichtslehrern fällt, Schüler für ihre Themen zu interessieren. Wenn ich mir moderne historische Dokumentationen mit nachgestellten Szenen anschaue, denke ich dann: Wow!“

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mit Geschichte“21 maßgeblich in digitalen und digitalisierten historischen Angeboten stattfindet und stattfinden wird. Die (theoretische) Ausgangslage seitens der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik, auf die ich mich ausgehend von den beschriebenen bildungspolitischen Rahmenbedingungen im Folgenden pointierten Forschungsüberblick konzentriere, ist so schlecht nicht. Schon parallel zur vergleichsweise rasanten Ausbreitung des World Wide Web um die Jahrtausendwende begannen sich Teile der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik mit diesem verbreiteten digitalen Medium und seinen Implikationen für die Präsentation und Rezeption von Geschichte auseinandersetzen.22 Während geschichtswissenschaftliche Beiträge nachvollziehbarer Weise in der Regel zunächst auf die (fachdidaktische) Diskussion bestehender Angebote oder die Formulierung von Gütekriterien für digitale historische Angebote verzichteten, überwog in der Geschichtsdidaktik erst der praxisorientierte Blick im Hinblick auf eine schulische Nutzung dieser Angebote.23 Im Kontext eines ausführlichen geschichtswissenschaftlichen Diskurses und hochschuldidaktischer Reflexionen zum Gegenstand24 erreichte auch

21 Uwe Danker/Astrid Schwabe: Geschichte im Internet. Stuttgart 2017, S. 7. 22 Vgl. hier z. B. Christine Arbogast: Neue Wahrhaftigkeiten oder das endgültige Ende der Geschichte? Historika auf CD-ROM. In: Geschichte und Gesellschaft 4 (1998), S. 633–647; Mario Riemann: Historisches Lernen mit Hypermedia. Methodische Grundüberlegungen. In: Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann/Hartmut Voit (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein und Methoden historischen Lernens. Weinheim 1998 (Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 8), S. 120–137; später Stuart Jenks/Stephanie Marra (Hrsg.): Internet-Handbuch Geschichte. Köln u. a. 2001; Peter Haber/Christophe Koller/Gerold Ritter, Gerold (Hrsg.): Geschichte und Internet. „Raumlose Orte – Geschichtslose Zeit“. Zürich 2001; Andreas Körber : Neue Medien und Informationsgesellschaft als Problembereich geschichtsdidaktischer Forschung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (ZfGD) 1 (2002), S. 165–181; Waldemar Grosch: Geschichte im Internet. Tipps, Tricks und Adressen. Schwalbach a. T. 2002; Andreas Körber : Geschichte im Internet. Zwischen Orientierungshilfe und Orientierungsbedarf. In: ZfGD 3 (2004), S. 184–197; Angelika Epple/Peter Haber (Hrsg.): Vom Nutzen und Nachteil des Internet für die historische Erkenntnis. Version 1.0 Zürich 2005. Für einen ausführlichen Forschungsüberblick bis 2010, vgl. Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web: suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Göttingen 2012 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 4), S. 24–35; auch Daniel Bernsen/Ulf Kerber : Einleitung. In: Diess. (Hrsg.) (Anm. 14), S. 13–21, hier S. 14–18. 23 Vgl. u. a. die Themenhefte Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 9 (1996) und 1 (1998); Praxis Geschichte 5 (2001); Geschichte lernen 89 (2002); Andreas Körber : Neue Medien. Auch Surfen will gelernt sein. In: Lothar Dittmer/Detlef Siegfried (Hrsg.): Spurensucher. Ein Praxisbuch für historische Projektarbeit. Weinheim u. a. 1997, S. 119–139 (in jeder Neuauflage vollständig neu bearbeitet); Uta Hartwig: Internet im Geschichtsunterricht. Stuttgart 2001; Klaus Fieberg Wegweiser durch das Internet für den Geschichtsunterricht. Braunschweig 2001 (CD-ROM). 24 Vgl. zum Überblick u. a. Wolfgang Schmale: Digitale Geschichtswissenschaft. Wien u. a. 2010; Peter Haber : Digital Past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter. München

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die geschichtsdidaktische Beschäftigung mit der Rolle digitaler Medien in Bezug auf das historische Lernen im Laufe der letzten 15 Jahre eine recht große Breite und gelegentliche Tiefe, zumal sich auch engagierte Praktiker_innen des Geschichtsunterrichts einbrachten und für kontroverse Debatten sorgten.25 Neben grundsätzlichen Reflexionen existieren mittlerweile Analysen von Einzelphänomenen wie beispielsweise der Wikipedia oder Social Media Plattformen, die sowohl im Rahmen kleinerer Forschungsprojekte entstanden, aber auch als umfassende Qualifikationsprojekte angelegt sind.26 Oft stellten diese Untersuchungen geschichtskulturelle Aspekte in den Fokus, nicht primär spezifisch historische Lernmedien bzw. Fragen nach dem schulischen historischen Lernen in einer zunehmend digitalisierten Welt. Doch neben regelmäßig erscheinenden 2011; auch Martin Gasteiner/Peter Haber (Hrsg.): Digitale Arbeitstechniken für Geistes- und Kulturwissenschaftler. Wien 2010. 25 Vgl. hierzu v. a. Daniel Bernsen/Alexander König/Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen. Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften 1 (2012), verfügbar unter http://univer saar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg (aufgerufen am 04. 04. 2018); Christopher Friedburg (unter Mitarbeit von Markus Bernhardt): „Digital“ vs. „Analog“? Eine Kritik an Grundbegriffen in der Diskussion um den „digitalen Wandel“ in der Geschichtsdidaktik und ein Versuch der Synthese von „Altem“ und „Neuem“. In: ZfGD 13 (2014), S. 119–136; Daniel Bernsen/Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen. Herausforderungen und Hypes im digitalen Wandel. In: ZfGD 14 (2015), S. 191–203; Demantowsky/Pallaske (Hrsg.) (Anm. 2). 26 Seit 2004 fand eine Reihe von (meist) dokumentierten Fachkonferenzen oder Tagungssektionen statt (u. a. Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und Neue Medien. Schwalbach a. T. 2008; Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010; Demantowsky/Pallaske (Hrsg.) (Anm. 2); Wolfgang Buchberger/Christoph Kühberger/Christoph Stuhlberger (Hrsg.): Nutzung digitaler Medien im Geschichtsunterricht. Innsbruck 2015; Pallaske (Hrsg.) (Anm. 14). Vgl. u. a. die Dissertationsschriften Schwabe (Anm. 22); Jan Hodel: Verknüpfen und Verkürzen. Geschichte als Netz narrativer Fragmente Wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden. Bern 2013; Andrea Kolpatzik: Zeitgeschichte wird gemacht: Geschichtskulturelle Analyse von Produktion, Vermittlung und Aneignung medialer Geschichtskonstruktionen im Web 2.0 am Beispiel von FAZ, Spiegel Online, ZDF. Schwalbach a. T. 2016. Vgl. auch Hannes Burkhardt (u. a. Ders.: Erinnerungskulturen Social Web. Auschwitz und der Europäische Holocaustgedenktag auf Twitter. In: Uwe Danker (Hsrg.): Geschichtsunterricht – Geschichtsschulbücher – Geschichtskultur. Aktuelle geschichtsdidaktische Forschungen des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2017 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 15), S. 213–236), Christopher Friedburg (Youtube), Manuel Altenkirch (Wikipedia, Ders.: Situative Erinnerungskultur. In: Demantowsky/Pallaske (Hrsg.) (Anm. 2), Jonathan Peters (Ders.: Collaboration und R8sistance – der Kampf der Erinnerung im World Wide Web. In: Tobias Arand/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Neue Wege – neue Themen – neue Methoden? Ein Querschnitt aus der geschichtsdidaktischen Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Göttingen 2014 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 7), S. 257–268), Christoph Pallaske (Ders.: „Bei der Arbeit musste man viel selber denken.“ – Individuelles Geschichtslernen mit digitalen Medien“. In: Ebd., S. 269–297). Siehe auch den 2013 gegründeten KGD-Arbeitskreis „Digitaler Wandel und Geschichtsdidaktik“.

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Themenheften der Fachzeitschriften und unterschiedlich instruktiven Artikeln zum Gegenstandsbereich in den gängigen Handbüchern und Fachlexika erschienen zuletzt zunehmend Bände, die den Geschichtsunterricht explizit in den Blick nahmen,27 so dass die Bilanz 2018 schon etwas positiver ausfallen kann als jene, die Christoph Pallaske Anfang 2017 zum geschichtsdidaktischen Forschungsstand zog.28

Förderung einer historischen Medienkompetenz Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Förderung eines reflektiert-kritischen Umgangs mit digitalen Medien, den auch das KMK-Papier in den Mittelpunkt rückt. In der Tat scheint das Fach Geschichte spezifische Stärken zu besitzen, die es in besonderer Weise zur Schulung von medialer Kompetenz profilieren. Darauf wiesen einige Veröffentlichungen frühzeitig hin.29 Einerseits bietet die historisch-kritische Methode besondere Potenziale zur Ausbildung einer ,historischen Medienkompetenz‘, die letztendlich der Förderung einer allgemeinen Medienkompetenz dienen wird, auch wenn dieser Begriff vielfach schwammig bleibt und in der allgemeinen Debatte oft so inhaltsleer daherkommt.30 Wer die historisch-kritische Methode beherrscht, wird historische Darstellung im WWW oder Twitter-Geschichtsprojekte dekonstruieren, ein27 Buchberger/Kühberger/Stuhlberger (Hrsg.) (Anm. 26); Bernsen/Kerber (Hrsg.) (Anm. 14); Danker/Schwabe (Anm. 21); Daniel Bernsen: 33 Ideen digitale Medien. Geschichte. Step-bystep erklärt, einfach umgesetzt – das kann jeder. Augsburg 2018. Zudem beschäftigen sich einige Beiträge mit dem digitalen Schulbuch, vgl. hierzu u. a. die Beiträge von Markus Bernhardt/Christian Bunnenberg, Waltraud Schreiber/Florian Sochatzy/Marcus Ventzke und Astrid Schwabe in: Buchberger/Kühberger/Stuhlberger (Hrsg.) (Anm. 26). 28 Christoph Pallaske: Digital anders? Geschichtslernen mit digitalen Medien – ein Zwischenstand nach zwanzig Jahren. In: Geschichte für heute 10 (2017), H. 1, S. 10–25, hier S. 21. 29 Vgl. v. a. Hilke Günther-Arndt: Computer und Geschichtsunterricht. In: Diess. (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 2. Aufl. Berlin 2005, S. 219–232, hier S. 227; auch Themenheft Praxis Geschichte 4 (2009); Ulrich Kröll: Digitale Werkstatt für Geschichtspädagogen. Mit Neuen Medien Geschichte lehren und lernen. CDROM. Münster 2007. Vgl. aktuell in teilweise sehr unterschiedlichem Verständnis u. a. Jan Hodel: Internet. Das Internet und die Zeitgeschichtsdidaktik. In: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht. Schwalbach a. Ts. 2013, S. 352–378; Ulf Kerber : Medientheoretische und medienpädagogische Grundlagen einer „Historischen Medienkompetenz“. In: Demantowsky/Pallaske (Hrsg.) (Anm. 2), S. 105–120; Bernsen/Kerber (Hrsg.) (Anm. 14), wobei manche Beiträge, die sich besonders auf Recherche- und Medienkompetenzschulung konzentrieren, m. E. die fachspezifischen Aspekte des historischen Lernens vernachlässigen. Vgl. in Bezug auf fachspezifische Auseinandersetzungen Anke John: „Ich brauche ein Titelbild für meine Mappe.“ Bildgestützte Internetrecherche und historisches Bildverstehen. In: Pallaske (Hrsg.) (Anm. 14), S. 115–131; Danker/ Schwabe (Anm. 21). 30 Vgl. hier und im Folgenden Danker/Schwabe (Anm. 21), hier S. 9, auch S. 36–42.

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ordnen und interpretieren können; und hoffentlich diese exemplarisch, an konkreten Inhalten erworbenen Erfahrungen auf den Umgang mit Medien im Allgemeinen transferieren lernen. Das Konzept der Schulung geschichtskultureller Kompetenz – oder entsprechender (Teil-)Kompetenzen in den anderen Kompetenzmodellen – bietet hier tragkräftige Anknüpfungspunkte. Es geht also um die Integration digitaler Medien in den Unterricht als Lerngegenstände. Dies impliziert einerseits die spiralförmig wiederholte Analyse spezifischer digitaler geschichtskultureller Produkte mit Konzentration auf reflektierte und (selbst-)reflexive Bewertungsprozeduren. Andererseits soll auch die Erstellung eigener ,Geschichtserzählungen‘ in verschiedenen digitalen Formaten angestrebt werden. Auch solche handlungsorientierten Lehr-Lern-Arrangements helfen, die den verschiedenen Medien eigenen Charakteristika und ihren Einfluss auf die jeweilige Narration zu reflektieren. Zugleich wird man auch (fachspezifische) Recherchemethodik und ,eher technische‘ Anwendungen einüben und die eigene Mediennutzung kritisch hinterfragen lernen. Wenn man so will, erfüllt Geschichtsunterricht damit einen gesellschaftlichen Anspruch, der eine weitere Legitimation des Faches beinhalten kann. Auf der anderen Seite bietet der Geschichtsunterricht die Chance, Medien – und zwar analoge wie digitale – und ihre gesellschaftliche Bedeutung und Rolle in Bezug auf Öffentlichkeit, Teilöffentlichkeiten, Kommunikation und Partizipation im Wandel kennenzulernen. Die prägende Wirkung verschiedener Medien in historischer Perspektive zu untersuchen, auch das gehört zur Ausbildung einer (historischen) Medienkompetenz. Diesen Gedanken formulierten Irmgard Wilharm und Detlef Endewang schon 1997 in einer heute noch bemerkenswerten Aktualität: „Dem Fach Geschichte kommt im Zusammenhang mit der Förderung von Medienkompetenz die Aufgabe zu, wesentlich für ein Verständnis der Medienwirklichkeit heute zu wirken, die Veränderung von Kommunikation und Öffentlichkeit bewußtzumachen und auf den jeweiligen gesellschaftlich-historischen Hintergrund zu beziehen.“31 Die historische Perspektive auf Medien und Kommunikation ermöglicht auf diese Weise auch die Prüfung der Frage, ob wirklich alles im Kontext der digitalen Medien Diskutierte so neu ist, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag. Einige Angebote scheinen eher nur den Transfer von Altbekanntem in eine digitale Technologie darzustellen. Doch bei aller Hinwendung zu einer zunehmend digitalisierten Welt: Im Fokus des Geschichtsunterrichts muss das historische Lernen stehen, die För31 Irmgard Wilharm/Detlef Endeward: Medienpädagogik und Fachdidaktik – der Fall Geschichte. In: Geschichte, Erziehung, Politik 8 (1997), H. 3, S. 146–150, S. 150. Vgl. auch Charlotte Bühl-Gramer : Medienbildung in geschichtsdidaktischer Perspektive. In: Manfred L. Pirner/Wolfgang Pfeiffer/Rainer Uphues (Hrsg.): Medienbildung in schulischen Kontexten. Erziehungswissenschaft und fachdidaktische Perspektiven. München 2011, S. 197–214, hier S. 210.

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derung historischer Kompetenzen, die Ausbildung eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins. Aus unserer Perspektive gilt es also, die Frage nach dem didaktischen Mehrwert digitaler Angebote und Werkzeuge gegenüber traditionellen analogen Unterrichtsmedien ins Zentrum zu rücken, ihre jeweiligen didaktischen Potenziale für historische Lernprozesse zu analysieren, ohne dabei die möglicherweise bewahrenswerten Stärken analoger Medien zu übersehen, zumal die Arbeit mit analogen Quellen und Darstellungen auch einen ganz eigenen Wert besitzt.32

Desiderat: empirische Ergebnisse zur Nutzung digitaler Medien im Geschichtsunterricht und die Gestalt der Rezeptions- und Aneignungsprozesse digitaler historischer Inhalte Der angesprochene didaktische Mehrwert lässt sich zu einem großen Teil gewinnbringend und überzeugend aus dem Zusammenspiel geschichtstheoretischer, geschichtsdidaktischer und medienwissenschaftlicher Theorien ableiten und reflektieren. Hier sollten wir ganz bewusst und transparent immer wieder an die normative Aufgabe der Geschichtsdidaktik erinnern, sie gerade in diesem Bereich offensiv einbringen. Zusätzlich bedarf es jedoch einer empirischen Unterfütterung der Überlegungen zu den durch, mit oder in digitalen (Unterrichts-)Medien angestoßenen Prozessen historischen Lernens, um geschichtsdidaktisch begründete digitale Unterrichtsmaterialien und Lehr-Lern-Arrangements konzipieren zu können. Wie lernen Schüler_innen eigentlich durch, mit oder in digitalen Medien historisch? Wie gestalten sich die Rezeptions- und Aneignungsprozesse in verschiedenen digitalen Medien, auch im Vergleich zu klassischen Unterrichtsmedien? Wie beeinflussen spezifische mediale Strukturmerkmale den Umgang mit den im multimedialen Hypertext virtuell präsentierten Darstellungen und Quellen? Welche Elemente können historische Denk- und Lernprozesse möglicherweise auf eine andere, neuartige Weise anregen? Wo können digitale Medien einen spezifischen Zugang zu einem historischen Phänomen ermöglichen, den analoge Medien so gar nicht oder zumindest weniger komfortabel bieten können? Letztendlich können wir erst über den potenziellen Mehrwert spezifischer digitaler Lernmedien gegenüber traditionellen, meist gedruckten Materialien, über ihre so oft beschworenen Chancen für selbstbestimmtes historisches Lernen nach individueller Maßgabe (Stichworte Inklusion und Binnendifferenzierung)33 nachdenken, wenn wir hierüber Ge32 Vgl. auch Marko Demantoswky/Christoph Pallaske: Geschichte lernen im digitalen Wandel. Einleitung. In: Diess. (Hrsg.) (Anm. 2), S. VII–XVI, S. VIII. 33 Vgl. hierzu Astrid Schwabe: Historisches Lernen in Schulen der Vielfalt und Herausforde-

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naueres wissen. Hier ist der Forschungsstand weiterhin recht dünn.34 Die Sektion fokussiert deshalb aktuelle empirische Forschungsprojekte und -ergebnisse zum skizzierten Gegenstandbereich.

Zu den Beiträgen der Sektion Da der auf der Zweijahrestagung in Berlin vorgetragene, hier verschriftlichte Kommentar von Alfons Kenkmann zu den Beiträgen der Sektion die hier vorliegende Dokumentation abschließt, werden die Aufsätze hier lediglich kurz angekündigt. Den Realitäten des Einsatzes von Lehr- und Lernmitteln in der Schule widmen sich Roland Bernhard und Christoph Kühberger. Sie geben Einblicke über die Nutzung von analogen und digitalen Medien im Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe I an österreichischen Schulen, die im Rahmen einer breit angelegten empirischen Studie über teilnehmende Beobachtung im Geschichtsunterricht (CAOHT-Projekts, Competence and Academic Orientation in History Textbooks) erhoben wurde. Nutzungsdaten des kompetenzorientierten digitalen Schulbuchs „mbook“, die bei seinem Einsatz in der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgien im Rahmen einer großen Studie erhoben worden sind, stellen uns Waltraud Schreiber und Christiane Bertram vor. Im Fokus des hier vorliegenden Beitrags stehen Fragen nach durch den Einsatz digitaler Medien im Geschichtsunterricht initiierten Lehr- und Lernprozesse. Peter Gautschi und Martin Lücke untersuchen historische Lernprozesse über den Holocaust, die durch die Nutzung einer digitalen App mit videografierten Zeitzeug_innen angeregt werden. Neben Überlegungen zur Konzeption einer solchen digitalen Lernumgebung stehen empirische Ergebnisse zur Nutzung der App und Einstellungen der Lernenden zum historischen Gegenstand und zum Lernmedium im Mittelpunkt des Beitrags.

rungen der Digitalisierung. In: Bettina Alavi u. a. (Hrsg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Frankfurt a. M. (im Erscheinen). 34 Vgl. hierzu den Band Demantowsky/Pallaske (Anm. 2), der den deutschsprachigen Forschungsstand bis 2013 bündelt, insbesondere hier den Beitrag von Bettina Alavi: „Lernen Schüler/innen Geschichte im Digitalen anders? In: Ebd., S. 3–16; auch Pallaske (Anm. 28), S. 14f.

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„Digital history teaching“? Qualitativ empirische Ergebnisse aus 50 teilnehmenden Beobachtungen zur Verwendung von Medien im Geschichtsunterricht1

1.

Theoretischer Rahmen und Forschungsstand

Laut Michael Sauers Systematisierung des in der Allgemeinpädagogik und Geschichtsdidaktik diffus verwendeten Begriffs ,Medien‘ können in diesem Zusammenhang drei zentrale Dimensionen unterschieden werden: 1. Technik (Geräte bzw. Produktionsmittel wie Papier, Tafel, Kreide, Computer oder Beamer), 2. Darstellungen (Lehr- und Lernformate wie Tafelanschrieb, Arbeitsblatt) und 3. Inhalt (fachspezifische Lehr- und Lernmaterialien – Quellen und Darstellungen).2 Wird innerhalb der geschichtsdidaktischen Unterrichtsforschung die Frage danach gestellt, welche Rolle ,neue‘ bzw. ,digitale‘ Medien im Geschichtsunterricht spielen, bewegt man sich dabei in erster Linie innerhalb der ersten und teilweise innerhalb der zweiten Dimension und fragt danach, auf welche Weise die eigentlichen ,Medien des Geschichtslernens‘ (Quellen und Darstellungen) den Schüler/innen im Unterricht vorgestellt werden. Unter ,neuen Medien‘ werden daher in dieser Studie Gerätschäften verstanden, die mit digitalen Codes arbeiten – die digitale Tafel, das Handy, der Computer (auch in Kombination mit einem Beamer) oder Netzwerke von Computern (Internet). Unter ,traditionellen Medien‘ werden analoge Medien subsumiert, wodurch auch die zweite Dimension Sauers berührt wird – Arbeitsblätter, Schulbücher, Tafel(anschrieb) etc. Medien des Unterrichts – derzeit insbesondre digitale – sind ein bevorzugtes Thema sowohl im allgemeinpädagogischen als auch im geschichtsdidaktischen3 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projektes Competence and Academic Orientation in History Textbooks (CAOHT), das vom österreichischen Wissenschaftsfond gefördert wird (P 27859-G22). 2 Michael Sauer : Medien im Geschichtsunterricht. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd 2. Schwalbach/Ts. 2011, S. 85–91, S. 86. 3 Kelly T. Mills: Teaching History in the Digital Age. Ann Arbor 2013; Linda Pomerantz: Bridging the Digital Divide. Reflections on „Teaching and Learning in the Digital Age“. In: The History Teacher 34 (2003), S. 509–522; Vadim Oswalt: Multimediale Programme im Ge-

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Diskurs. Die euphorischen Töne von um die Jahrtausendwende (Stichwort: digital natives4) sind im Zuge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung allerdings bereits in weit abgekühltere Gefäße gegossen worden,5 auch wenn in der Öffentlichkeit und vor allem in der Bildungspolitik beispielsweise mit dem Stichwort ,digitale Revolution‘ noch Schlagzeilen zu machen sind. Noch 2006 erschien eine in der Schweiz durchgeführte empirische Studie, im Zuge derer 93 Lehrpersonen zur Verwendung von digitalen und analogen Medien quantitativ befragt wurden. Das Fazit dieser Erhebung lautete: „[D]as Zeitalter des eTeaching beginnt.“6 In dieser Studie wurde die Frage nach dem „Verschwinden der analogen Medien“7 aus dem Schulalltag gestellt und prognostiziert, dass „Online-Lernumgebungen, Beamer, Digitalkamera und Fotobearbeitung, Internetrecherchen, Lernsoftwareangebote etc. […] das Lernarrangement ,Schule‘ in seiner Gesamtheit“ verändern würden. „Die Aufgabe der Lehrkräfte wird es sein, eTeaching in einem umfassenden Sinn täglich zu praktizieren – nicht als abgetrennten, besonderen Teil von Schule, sondern integriert in den normalen Unterrichtsalltag.“8 Die geschichtsdidaktische Auseinandersetzung zur Nutzung digitaler Medien wurde in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum durchaus intensiver betrieben als so manch anderes Thema. Geschichtsdidaktische Arbeiten versuchten dabei zusehends vor allem die fachspezifische Umsetzbarkeit und Nutzung von digitalen Medien für das historische Lernen zu fokussieren. Dabei sind die deutschsprachigen Sammelbände aus dem letzten Jahrzehnt von

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schichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2002; Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web. Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Göttingen 2012 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 4), S. 406–410; Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien. In: Susanne Popp u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung. Göttingen 2010 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 2), S. 261–281; Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010; Bettina Alavi: Wie lernen Schüler/innen mit „historischer“ Selbstlernsoftware? In: Judith Martin/Christoph Hamann (Hrsg.): Geschichte, Friedensgeschichte, Lebensgeschichte. Herbolzheim 2007, S. 205–217. Der Begriff wurde ursprünglich von Marc Prensky geprägt: Marc Prensky : Digital Natives, Digital Immigrants. In: On the Horizon 9 (2001), H. 5, S. 1–6. Die Gegenüberstellung von „digital natives“ und „digital immigrants“ ist seit dem populär : vgl. Jan Hodel: Verknüpfen und Verkürzen, Geschichte als Netz narrativer Fragmente. Wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden. Bern 2013. Apostolos Koutropoulos: Digital natives. Ten years after. In: MERLOT: Journal of On-line Learning and Teaching 7 (2011), S. 525–538. Heinz Moser : Die Schule auf dem Weg zum eTeaching. Analoge und digitale Medien aus der Sicht von Lehrpersonen. In: MedienPädagogik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung 12 (2006), S. 1–20, S. 17. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17f.

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Danker/Schwabe (2008), Alavi (2010), Demantowsky/Pallaske (2015), Buchberger/ Kühberger/Stuhlberger (2015) und Pallaske (2015) zu nennen,9 aber auch Arbeiten aus dem anglo-amerikanischen Raum von Lyons (2009), Rosenzweig (2011), McCall (2011), Carver (2014) oder Kelly (2013).10 Neuerdings liegt auch ein deutschsprachiges Praxishandbuch von Kerber/Bernsen (2017) vor, das verschiedene Diskursstränge zusammenführt und eine starke Ausrichtung auf die Pragmatik des historischen Lernens besitzt.11 Bei diesem Sammelband handelt es sich fast ausschließlich um theoriegeleitete Konzeptionen, die Diskussionsräume für die Geschichtsdidaktik eröffnet haben, aber auch Unterstützungsstrukturen für die Praxis des Geschichtsunterrichts anbieten, die gleichzeitig für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Geschichtslehrer/innen brauchbar sind. Gleichzeitig gilt in der Geschichtsdidaktik mit dem Schulbuch immer noch ein traditionelles Medium als das „Leitmedium des Geschichtsunterrichts“, zumindest im deutschsprachigen Raum:12 „Obwohl wir empirisch nur relativ wenig darüber wissen, gilt das Schulbuch trotz eines rasanten medialen Wandels nach wie vor als Leitmedium des Geschichtsunterrichts“,13 führte Holger Thünemann im Jahr 2018 aus. Es wird in diesem Zusammenhang – wie in dem eben angeführten Zitat – stets auf ein „empirisches Defizit“14 hingewiesen. So konstatierte Jörn Rüsen schon 2008: „Es gibt so gut wie keine empirische Unter9 Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und neue Medien. Schwalbach/Ts. 2008; Alavi (Hrsg.) (Anm. 3); Marco Demantowsky/ Christoph Pallaske (Hrsg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. Berlin/München 2015; Wolfgang Buchberger/Christoph Kühberger/Christoph Stuhlberger (Hrsg.): Nutzung digitaler Medien im Geschichtsunterricht. Innsbruck/Wien 2015; Christoph Pallaske (Hrsg.): Medien machen Geschichte. Neue Anforderungen an den geschichtsdidaktischen Medienbegriff im digitalen Wandel. Berlin 2015. 10 John F. Lyons: Teaching History online. London/New York 2009; Jeremiah McCall: Gaming the Past. Using Video Games to Teach Secondary History. New York/London 2011; Roy Rosenzweig: Clio Wired. The Future of the Past in the Digital Age. New York 2011; Kelly (Anm. 3); Kathleen W. Carver: Developing Qualitative Literacy skills in History and Social Sciences. A Web-Based Core Standards Approach. London 2014. 11 Daniel Bernsen/Ulf Kerber (Hrsg.): Praxishandbuch Neue Medien im Geschichtsunterricht. Opladen 2017. 12 Vgl. dazu aktuell Roland Bernhard: Teaching to think historically using textbooks. Insights for initial teacher education drawn from a qualitative empirical study in Austria. Educatio Siglo XXI 36 (2018), N. 1, S. 39–56. 13 Holger Thünemann: Historisch Denken lernen mit Schulbüchern? Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Christoph Bramann/Christoph Kühberger/Roland Bernhard (Hrsg.): Historisch Denken Lernen mit Schulbüchern. Schwalbach/Ts. 2018, S. 17–62, hier S. 17. 14 Thomas Höhne: Schulbuchwissen. Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuches. Frankfurt/M. 2003, vgl. dazu auch Bodo v. Borries: Historisch Denken Lernen – Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe. Farmington Hills 2008, S. 47.

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suchung über den praktischen Gebrauch von Schulbüchern.“15 Folgerichtig wurde auch darauf hingewiesen, dass man die Vorstellung vom Schulbuch als Leitmedium „im Blick auf die wenigen Ergebnisse der Wirkungs- und Rezeptionsforschung relativieren muss“.16 In einer kürzlich von Katharina Litten vorgelegten qualitativen Interviewstudie jedenfalls, in der auch die Verwendung des Schulbuchs verhandelt wurde, wird in diesem Sinne als Fazit gezogen, dass die „zentrale Rolle des Schulbuchs im Rahmen der Vorbereitung [von Unterricht], wie sie für die Fächer Mathematik und Englisch festgestellt wurde, […] für das Fach Geschichte in der vorliegenden Studie nicht repliziert werden“17 könne. Christoph Pallaske geht jedenfalls davon aus, dass der „Medienwandel an den Schulen kommt“ und stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich das Schulbuch „auf der Roten Liste analoger Arten“18 befindet. Im Zusammenhang mit der immer stärker werdenden Dominanz digitaler Medien in der Gesellschaft, und möglicherweise auch in der Schule, stellt nicht nur die umfassende Beantwortung der Frage der konkreten Verwendung und der tatsächlichen Dominanz des Schulbuchs im Unterricht ein immer noch weitgehend uneingelöstes Desiderat der geschichtsdidaktischen Forschung dar. Auch die Frage nach der Verwendung von Medien generell – traditionellen wie digitalen – scheint lohnend, um zu eruieren, inwieweit die prognostizierte digitale Revolution bereits in den Geschichtsunterricht Eingang gefunden hat. Bisher blieb zwischen Theoretiker/innen und Praktiker/innen die Beobachtung des konkreten Geschichtsunterrichts und seiner Entwicklung im digitalen Zeitalter weitgehend ausgeblendet. Während sich die empirische Wende in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik immer stärker durchsetzt, scheint der Bereich des historischen Lernens im Zeichen des digitalen Wandels nach wie vor großteils eine terra incognita zu sein. Hervorzuheben sind dabei natürlich jene Einsichten, die etwa Alavi/Schäfer (2010) zur Nutzung von Lernsoftware vor-

15 Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen, Schwalbach/Ts. 2008, S. 162. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf eine quantitative Erhebung zur Schulbuchnutzung innerhalb der großen Studie von Bodo von Borries u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativquantitative Schüler- und Lehrerbefragung im deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005. 16 Saskia Handro/Bernd Schönemann: Zur Einleitung. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. Münster, S. 3–12, hier S. 5. 17 Katharina Litten: Wie planen Geschichtslehrkräfte ihren Unterricht? Eine empirische Untersuchung der Unterrichtsvorbereitung von Geschichtslehrpersonen an Gymnasien und Hauptschulen (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 14). Göttingen 2017, S. 415. 18 Christoph Pallaske: Medienwandel. Perspektiven für den Geschichtsunterricht. Das Schulbuch auf der Roten Liste analoger Arten? In: http://historischdenken.hypotheses.org/2494 (aufgerufen am 17. 08. 2017).

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legten19 oder Hodel zur Nutzung von Wikis in seiner Dissertationsschrift „Verkürzen und Vernetzen“ (2013).20 Daneben findet man auch noch Arbeiten zu best-practice-Beispielen, zu Leuchttürmen, die wohl für die meisten Geschichtslehrer/innen ohnedies als unerreichbare Ziele in der Ferne flackern.21 Andere Formen der empirischen Annäherung zeigen sich in Interventionsstudien, die in inszenierten Settings den fachspezifischen Lernfortschritt beobachten, wie etwa bei Merk/Werner/Wagner (2017) innerhalb eines computerbased learning environment,22 oder in der kritischen medienimmanenten Analyse zu Potentialen und Herausforderungen bestimmter medialer Formen (z. B. Internetseiten, Lernplattformen, Multimedia-Anwendungen).23 Was bisher jedoch fehlt, sind empirische Untersuchungen zu den konkreten Lernwelten des Geschichtsunterrichtes, also zu den Mühen des Alltags an den Schulen aus einer subjektorientierten Perspektive. Die wenigen Einblicke, die nicht selten über studentische Abschlussarbeiten punktuelle Hinweise geben, verweisen in eine Richtung, wonach die Geschichtsdidaktik nach wie vor in einer Art Euphorie verharrt, die Routinepraxen, Ängste, Ungewissheiten und Realitäten des Geschichtsunterrichtes und vor allem ihres Personals ausblendet. Als Beispiel soll hier auf den Einsatz von Computerspielen als durchaus dominantes Medium der jugendlichen Geschichtskultur verwiesen werden,24 auf das etwa auch schon der bundesweit geltende österreichische Lehrplan der Sekundarstufe I verweist.25 In punktuellen qualitativen Befragungen im Bundesland Salzburg bei Geschichtslehrer/innen der Sekundarstufe I zeigte sich, dass es nicht mehr die Ausstattung an den Schulen ist, die eine Auseinandersetzung blockiert, sondern dass vor allem das mangelnde Interesse an einer Arbeit mit Computerspielen vonseiten

19 Vgl. Bettina Alavi/Marcel Schäfer : Historisches Lernen und Lernstrategien von Schüler/ innen. Eine empirische Untersuchung zu historischer Selbstlernsoftware. In: Alavi (Anm. 3), S. 75–93. 20 Hodel (Anm. 4). 21 Vgl. Manuel Altenkirch/Marcel Schäfer : Möglichkeiten des historischen Lernens in virtuellen Lernarrangements ausgehend von einem Best-Practice-Beispiel. In: Alavi (Anm. 3), S. 187–200. 22 Vgl. Martin Merkt/Michael Werner/Wolfgang Wagner : Historical thinking skills and mastery of multiple document tasks. In: Learning and Individual Differences 54 (2017), S. 135–148. 23 Vgl. Alavi/Schäfer (Anm. 19). 24 Vgl. Christoph Kühberger : Computerspiele als Teil des historischen Lernens. In: Bernsen/ Kerber (Anm. 11), S. 229–236; vgl. auch Wolfgang Buchberger/Christoph Kühberger : Computerspiele und Geschichtsunterricht. Dynamische digitale Spielwelten kritisch hinterfragen. In: Historische Sozialkunde 4 (2013), S. 36–44. 25 BGBl. Jg. 2016, Teil II, 18. 5. 2016, S. 113. Verordnung: Verordnung der Bundesministerin für Bildung und Frauen, mit der die Verordnung über die Lehrpläne der Hauptschulen, die Verordnung über die Lehrpläne der Neuen Mittelschulen sowie die Verordnung über die Lehrpläne der allgemein bildenden höheren Schulen geändert werden.

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der Lehrer/innen einerseits sowie ein Zeitproblem im Unterricht andererseits einen Einsatz a priori verhinderten.26

2.

Forschungsfragen und Forschungsdesign

In dem vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse aus teilnehmenden Beobachtungen im Geschichtsunterricht vorgestellt, die im Rahmen des CAOHT-Projekts (Competence and Academic Orientation in History Textbooks) gewonnen wurden. Es handelt sich dabei um ein dreijähriges geschichtsdidaktisches Forschungsprojekt (2015–2018), das vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) finanziert und unter der Leitung von Christoph Kühberger an der Universität Salzburg durchgeführt wird. Im Rahmen des Projektes steht einerseits die Erforschung der Ausgestaltung von aktuellen Geschichtsschulbüchern hinsichtlich der normativen Vorgaben (i. e. Umsetzung der domänenspezifischen Kompetenzorientierung) im Fokus. Anderseits wird Geschichtsunterricht in Österreich empirisch im Feld beforscht und dabei – rund ein Jahrzehnt nach dem Paradigmenwechsel im österreichischen Lehrplan – ein spezieller Fokus auf die Verwendung von Lehr- und Lernmittel gelegt. In diesem Zusammenhang kommt im Sinne eines Mixed-Methods-Forschungsansatzes27 ein sequenzielles qualitativ-quantitatives Triangulationsdesign28 zur Anwendung, in dem qualitative Methoden eingesetzt werden, „um Kategorien und theoretische Aussagen zu entwickeln, deren Verallgemeinerbarkeit und Geltungsreichweite im Anschluss mit quantitativen Methoden überprüft wird“.29 So wurden im Zuge des CAOHT-Projektes 50 Unterrichtsstunden (Sekundarstufe I, n=48, Sekundarstufe II, n=2) teilnehmend beobachtet und mit 50 Lehrpersonen des Faches „Geschichte und Sozialkunde/ Politische Bildung“ an Neuen Mittelschulen und Gymnasien in Wien qualitative Experteninterviews30 26 Vgl. Daniel Schmiederer : Verwendung von PC-Spielen mit historischem Hintergrund im Unterricht. Masch. Man. B. Ed.-Arbeit/ PH Salzburg Stefan Zweig. Salzburg 2016. 27 Burke Johnson/Anthony Onwuegbuzie/Lisa Turner : Toward a Definition of Mixed Methods Research. In: Journal of Mixed Methods Research 1 (2007), H. 2, S. 112–133. 28 Zu Mixed Methods und Triangulation in der Geschichtsdidaktik siehe Roland Bernhard/ Christoph Bramann/Christoph Kühberger (Hrsg.): Mixed Methods/Triangulation in History Education Research. Special Edition of the History Educators Research Journal, ehemals International Journal of Historical Learning, Teaching and Research 16. 1. 2019 (in Vorbereitung). Ausführlich zu Triangulation allgemein Udo Kelle: Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung. Theoretische Grundlagen und methodologische Konzepte. Wiesbaden 2008. Dort für das sequentielle qualitativ-quantitative Triangulations-Design vor allem S. 285f. 29 Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung. 5. Aufl. Weinheim/Basel 2010, S. 253. 30 Die Vorgangsweise erfolgte angelehnt an Alexander Bogner/Beate Littig/Wolfgang Menz: Interviews mit Experten. Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden 2014.

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geführt, in denen u. a. auch der Einsatz von Medien im Geschichtsunterricht thematisiert wurde. Die Rekrutierung der Lehrpersonen erfolgte über Gatekeeper aus dem Bildungssystem und über direkte Anfragen an Direktor/innen diverser Schulen. Die Lehrpersonen meldeten sich auf unsere Anfrage hin freiwillig für die Studie. Geachtet wurde dabei auf eine hohe Diversität der Stichprobe, sowohl in Bezug auf die Schulen31 als auch auf die Lehrpersonen. Dem Triangulationsansatz folgend, wurden auf der Grundlage der qualitativen Einsichten quantitative Erhebungsinstrumente konzipiert, mit welchen überprüft wurde, ob die qualitativen Ergebnisse für Österreich generalisierbar sind. Dabei wurden von 1.085 Schüler/innen und 277 Lehrerinnen Fragebögen ausgefüllt. Diese Daten befinden sich gerade in Auswertung. Flankiert wird diese Studie von kategorialen Schulbuchanalysen.32 Folgende Forschungsfragen werden in diesem Zusammenhang im vorliegenden Beitrag adressiert: 1. Welche traditionellen und neuen/digitalen Medien werden im Geschichtsunterricht mit welcher zeitlichen Intensität angewendet? 2. Gibt es Hinweise in den Daten, dass neue/digitale Medien das traditionell als Leitmedium des Geschichtsunterrichts bezeichnete Schulbuch inzwischen abgelöst oder dessen Bedeutung geschwächt haben? Ist der prognostizierte Medienwandel in diesem Sinne im Geschichtsunterricht in Österreich angekommen? Bei der Erforschung des konkreten Handelns und von Überzeugungen von Geschichtslehrpersonen wurde in den letzten Jahren in mehreren internationalen geschichtsdidaktischen Studien auf das Problem der sozialen Erwünschtheit verwiesen; zum Beispiel von den US-amerikanischen Forscher/ innen Maggioni und Kollegen33 sowie von VanSledright und Reddy34 oder jüngst von den belgischen Geschichtsdidaktikern Voet und Wever.35 So stellte sich im CAOHT-Projekt die Frage, wie bei der empirischen Erforschung des Ge31 Es wurden verschiedene Schulformen (Gymnasium, Neue Mittelschule) und Schularten (öffentliche Schulen, konfessionelle und nicht-konfessionelle Privatschulen) in die Stichprobe aufgenommen. Die Schulen befanden sich darüber hinaus in verschiedenen Stadtvierteln mit unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen. 32 Vgl. Bramann/Kühberger/Bernhard (Anm. 13). 33 Liliana Maggioni/Patricia Alexander/Bruce VanSledright: At a crossroads? The development of epistemological beliefs and historical thinking. In: European Journal of School Psychology 2 (2004), H. 1/2, S. 169–197, hier S. 188. 34 Bruce VanSledright/Kimberly Reddy : Changing Epistemic Beliefs? An Exploratory Study of Cognition Among Prospective History Teachers. In: Revista Tempo e Argumento, Florianjpolis 6 (2014), H. 11, S. 28–68, hier S. 55f. 35 Michiel Voet/Bram De Wever : History teachers’ conceptions of inquiry-based learning, beliefs about the nature of history, and their relation to the classroom context. In: Teaching and Teacher Education 55 (2016), S. 57–67.

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schichtsunterrichts die Vorführung von sozial erwünschten ,Musterstunden‘36 bzw. sozial erwünschte Antworten in den Interviews verhindert werden könnten. Ähnlich wie dies Voet und Wever 2016 beschreiben,37 wurden die Lehrpersonen vor den teilnehmenden Beobachtungen per Mail und in einem angehängten Brief explizit darüber informiert, dass die Erhebung an der konkreten Praxis des Geschichtsunterrichts und an den Sichtweisen der Lehrer/innen interessiert ist, und dass Lehrpersonen dabei als Expert/innen angesehen werden, deren Perspektiven den geschichtsdidaktischen Diskurs bereichern sollen. Lehrpersonen wurden gebeten, „eine ganz normale Unterrichtstunde“ vorzubereiten, „die ihren Routinen entspricht“, da es im Projekt darum geht, „zu erheben, wie Geschichtsunterricht in der Praxis durchgeführt wird“, um von dieser Praxis zu lernen.38 Gemäß dem Vorgehen in einer empirischen Studie zu Geschichtslehrpersonen von den Utrechter und Cambridger Forschern Wansink und anderen,39 wurden auch im CAOHT-Projekt die Perspektiven und Erfahrungen von Lehrpersonen in diesem Sinne ernst genommen. Diese Zugangsweise wurde von den Lehrpersonen durchwegs begrüßt und diente auch der Herstellung einer Vertrauensbasis zwischen dem Forscher (Roland Bernhard) und den Lehrer/innen, wie dies in der Literatur zu qualitativen Methoden als notwendig erachtet wird.40 Die 50 Beobachtungen wurden in Wien in den Jahren 2016–2017 von dem Forscher passiv teilnehmend41 durchgeführt und aufgezeichnet, indem der Unterricht im Feld und dabei insbesondere jene Tätigkeiten, die sich auf die Verwendung von Medien bezogen, „so ausführlich wie möglich“42 schriftlich protokolliert und zusätzlich dazu auf Tonband mitgeschnitten wurden. Die Vorgangsweise bei der Aufzeichnung der Feldnotizen ähnelt in diesem Zusammenhang jener von Christopher Martell,43 der 2013 eine an der Universität 36 Zur Beeinflussung einer Forschungssituation durch die Gegenwart eines Forschers im Feld vgl. Howard S. Becker : Problems of Interference and Proof in Participant Observation. In: American Sociological Review 23 (1958), H. 6, S. 652–660. 37 Vgl. Voet/De Wewer (Anm. 35), S. 60. 38 Zur Notwendigkeit der zumindest teilweisen Offenlegung der Forschungsintention bei qualitativen Forschungsprojekten siehe Lamnek (Anm. 29), S. 547. 39 Bjorn G. J. Wansink u. a.: Epistemological tensions in prospective Dutch history teachers’ beliefs about the objectives of secondary education. In: The Journal of Social Studies Research 41 (2017), S. 11–24, hier S. 12 und S. 20. 40 Vgl. Lamnek (Anm. 29), S. 547. 41 Zum „Beobachter als Teilnehmer“ in einem sozialen Feld vgl. Lamnek (Anm. 29), S. 514. Zur teilnehmenden Beobachtung im Feld „Schule“ vgl. Georg Breidenstein: Ethnographisches Beobachten. In: Heike de Boer/Sabine Reh (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden 2012, S. 7–45. 42 Vgl. dazu Lamnek (Anm. 29), S. 565. 43 Christopher Martell: Learning to Teach History as Interpretation. A Longitudinal Study of Beginning Teachers. In: Journal of Social Studies Research 37 (2013), H. 1, S. 17–31, hier S. 30.

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Boston durchgeführte geschichtsdidaktische Studie mit Lehrpersonen beschreibt. Wo dies einen Mehrwert ergab, wurden die Protokolle anhand der Audiodateien ergänzt. Insgesamt konnten auf diese Weise 2.430 Minuten Geschichtsunterricht in 26 verschiedenen Schulen erfasst werden (beobachtete Stunden in Gymnasien n=25, in Neuen Mittelschulen – ehemals Hauptschule n=25). Für den hier vorliegenden Beitrag wurden in den Beobachtungsprotokollen mit MaxQDA all jene Textstellen, die in einem direkten Zusammenhang mit der Verwendung von Medien im Geschichtsunterricht stehen, angelehnt an die von Werner Früh beschriebene Methode der „integrativen Inhaltsanalyse“44 kodiert und ausgewertet. Nach der Erstellung des Kategoriensystems und mehreren Kodierdurchgängen wurden vorläufige Ergebnisse auf Konferenzen im Spätsommer 2017 präsentiert. In einer weiteren Sichtung der Daten wurden die Kategorien noch trennschärfer definiert. Dies hat in einem weiteren Kodierdurchgang zu geringfügigen Änderungen gegenüber den in der ersten Auswertung der Daten erhobenen Ergebnissen geführt.45 Zehn zufällig ausgewählte Protokolle (dies entspricht 20 Prozent der Daten) wurden durch eine zweite Person im Forschungsteam (Christoph Bramann) kodiert.46 Es zeigte sich bei 24 von 27 Kategorien eine absolute Übereinstimmung zwischen den Kodierenden. Ein Blick auf die drei Kategorien, in denen es Unterschiede gab (Handy, Tafel, Handout), offenbart, dass es sich um minimale Differenzen von fünf Minuten bei insgesamt 497 verkodeten Unterrichtsminuten handelt. In diesem Sinne ist von einer optimalen – in den Worten Rädikers „nahezu perfekten“47 – Übereinstimmung auszugehen.

44 Werner Früh: Inhaltsanalyse. 9. Aufl. Konstanz u. a. 2017, insbesondere S. 67f. 45 Aufgrund von Anregungen im Zuge der Vorstellung von vorläufigen Projektergebnissen wurde zum Beispiel die Kategorie „Heft“ fallengelassen, da es schwierig erscheint, das Mitschreibverhalten in einer Klasse von rund 25 Schüler/innen durch Beobachtung zu erfassen. 46 Zur Überprüfung der Intercoderreliabilität im Zusammenhang mit neuen und traditionellen Medien wurde eine Förderung des Habilitationsforums Fachdidaktik und Unterrichtsforschung der Universität Graz eingeworben, so dass die Überprüfung unter der Supervision des Methodenberaters Stefan Rädiker durchgeführt werden konnte. Vgl. dazu Stefan Rädiker/Udo Kuckartz: Analyse qualitativer Daten mit MAXQDA: Text, Audio und Video. Wiesbaden 2018 (in Druck). 47 Siehe dazu ebd., insbesondere das Kapitel „Intercoderübereinstimmung analysieren“.

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3.

Ergebnisse

3.1

Medienverwendung im Unterricht

Folgende Medien im Sinne der in diesem Beitrag verwendeten Definition kamen in den 50 beobachteten Unterrichtsstunden zum Einsatz. Traditionelle Medien Schulbuch

Neue Medien Beamer

Handout Overhead

Tablet Handy/Smartphone

Tafel Lapbook48

Computer Digitale Tafel

Atlas Flipchart Weltkarte

Für die Ermittlung der zeitlichen Verteilung traditioneller bzw. neuer Medien im beobachteten Unterricht wurde die Gesamtzeit erfasst, in der entweder mit einem (oder gleichzeitig mit mehreren) traditionellen Medien bzw. die Gesamtzeit, in der mit einem (oder gleichzeitig mit mehreren) neuen Medien im Unterricht gearbeitet wurde.49 Dabei zeigt sich, dass in 417 Minuten und damit in 17 Prozent der beobachteten Unterrichtszeit ein Medium (oder mehrere digitale Medien gleichzeitig) im Unterricht verwendet wurden. Abseits des Beamers wurde selten mit digitalen Medien gearbeitet: 27 Minuten mit einer digitalen Tafel, 33 Minuten mit PCs/Computer (ohne Beamer) und 26 Minuten mit Handys. An dem Einsatz des Beamers als Präsentationstool im Unterricht dürfte sich damit am ehesten ein Wandel zeigen, welchen Schüler/ innen in ihrem konkreten Schulalltag spüren. Auffallend ist, dass in den 50 beobachteten Unterrichtseinheiten das Zeigen von Bildern bzw. Bildquellen über dem Beamer50 und das Vorführen von Filmdokumentationen dominierten (mehr

48 Lapbooks sind Mappen, welche sich mehrfach aufklappen lassen, und in die verschiedene Faltbücher, Zettel, Klappkarten etc. eingeklebt werden können. Lapbooks werden als geeignet zur Präsentation von individuellen Lernergebnissen gesehen. 49 Wenn zum Beispiel gleichzeitig zehn Minuten mit einem Atlas, einem Schulbuch und einem Beamer gearbeitet werden, wurden zehn Minuten (und nicht 20 Minuten) für traditionelle Medien (Schulbuch und Atlas) und zehn Minuten für neue Medien (Beamer) kodiert. 50 Zum Problem der Unterscheidung von Bild/Bildquelle etc. in der geschichtsdidaktischen Unterrichtsforschung vgl. Roland Bernhard: Visual literacy – theoretische Überlegungen und empirische Befunde über Lernaufgaben zu Bildern im Geschichtsunterricht. In: Ders./ Christoph Kühberger (Hrsg.): Kompetenzorientierung in Schulbüchern – Aufgaben als

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als 50 % der Zeit, in der der Beamer verwendet wurde). Es scheint insgesamt, dass der Beamer vorwiegend jene Aufgaben übernimmt, die zuvor dem Fernseher (Dokumentationen) bzw. Handouts oder Schulbüchern zugekommen sind (Bilder, Arbeitsaufträge).

Abbildung 1: Digitale Medien: Häufigkeitsanalyse in Minuten

Abbildung 2: Absolute Verwendung digitaler Medien in Minuten. Unterzieht man die insgesamt verkodete Zeit von 417 Minuten Verwendung digitaler Medien einer genaueren Analyse, zeigt sich, dass der Großteil dieser Zeit von der Verwendung des Beamers in Kombination mit einem PC dominiert wird.51 In 341 Minuten und damit in 14 Prozent der beobachteten Gesamtzeit kam ein Beamer zur Anwendung.

Motoren. Themenheft der Zeitschrift Erziehung und Unterricht 9–10 (2017), S. 954–962, hier S. 954f. 51 Die Addition der Zeit der Verwendung einzelner Medien ergibt insofern nicht die insgesamt für die Verwendung digitaler Medien verkodete Zeit von 417 Minuten, da teilweise z. B. Tablets und Beamer gleichzeitig im Unterricht verwendet wurden.

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Da insbesondere auch das Internet mit der angenommenen „digitalen Revolution“ in Zusammenhang gebracht wird, sei ein genauerer Blick auf Einsätze des Internets in den beobachteten Unterrichtsstunden geworfen. Das Internet kam insgesamt in 118 Minuten und damit in etwas weniger als fünf Prozent der Gesamtzeit des beobachteten Unterrichts zur Anwendung. 41 Minuten davon bestehen in einer Vorstellung des Internetauftritts der Gedenkstätte Mauthausen (TB-N19). 29 Minuten lang wurde von einer Lehrperson ein Computerspiel mit dem Namen „Empire“ gespielt (TB-N6), um – wie die Lehrperson erwähnte – mit dem Online Spiel zu mittelalterlichen Burgen den Schüler/innen allgemeine Einblicke in die Welt des Mittelalters zu geben.52 22 Minuten lang wurden filmische Dokumentationen aus dem Internet angesehen (TB-N27, TB-N19, TBA13). Auch wurde das Internet von Lehrpersonen verwendet, um kurze Recherchen durchzuführen, z. B. was ist der „Trump Tower“ (TB-N18) oder zu welcher Zeit war Bill Clinton Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (TBN18). Vereinzelt durften Schüler/innen kurz selbständig im Internet recherchieren: Anwendung von google goggles, einem Bilderkennungsprogramm, um zwei Bilder österreichischer Politiker des 20 Jahrhunderts zu suchen; Suche von Informationen zur griechischen Götterwelt für eine Plakatgestaltung (TB-A9); Recherche, wo ein bestimmter Ort liegt (TB-N11). Auch zur kurzen Veranschaulichung wurde das Internet verwendet, beispielweise um zu zeigen, wie ein Schakal aussieht (TB-N31), oder um geographische Karten über google maps bzw. Solar System Scope (TB-A13, TB-N13_2) aufzurufen. In einer Stunde wurde zehn Minuten mit dem interaktiven Quiztool Kahoot gearbeitet (TB-A17), in einer anderen drei Minuten mit der ähnlichen Anwendung Plickers. In wieder einer anderen Stunde (TB-N5) wurde ein Kind mit besonderen Bedürfnissen von einer Sonderschullehrerin kurz an einen Computer gesetzt, um dort im Internet Bilder eines Dorfes im Mittelalter anzusehen, während die anderen Schüler/ innen andere Aktivitäten ausführten. Hiermit sind alle Anwendungen des Internets und der diversen digitalen Medien in den 2.430 Minuten beobachteten Geschichtsunterricht beschrieben. Es zeigt sich, dass das Internet zwar punktuell angewendet wird, dass aber von „Online-Lernumgebungen“ noch keine Rede sein kann.

3.2

Traditionelle Medien

Ein Blick auf die zeitliche Verteilung der Verwendung traditioneller Medien zeigt im Gegensatz dazu, dass in 71 Prozent der Gesamtzeit des beobachteten Ge52 Es handelte sich dabei um keine historische De-Konstruktion der Darstellung des Mittelalters im Computerspiel.

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schichtsunterrichts (1.729 Minuten) mit mindestens einem traditionellen Medium gearbeitet wurde. Dahinter verbirgt sich vor allem die Arbeit mit dem Schulbuch, mit Handouts und mit der Kreide an der Tafel: 1.619 Minuten und damit in 92 Prozent jener Zeit, in der mit traditionellen Medien gearbeitet wurde, können mit diesen drei Kategorien beschrieben werden. Auf die beobachtete Gesamtzeit bezogen ergibt sich damit, dass exakt zwei Drittel der Zeit des Unterrichts damit verbracht wurde, mit dem Schulbuch, mit Handouts oder an der Tafel zu arbeiten.

Abbildung 3: Traditionelle Medien. Absolute Verwendung in Minuten

Wie eingangs erwähnt, wird dem Schulbuch der Status eines Leitmediums attribuiert, wobei Verdrängungseffekte durch digitale Medien erwartet werden. Die hier präsentierten Daten deuten nun darauf hin, dass diese Verdrängungsprozesse derzeit kaum erkennbar sind. Unter den analogen Medien nimmt das Schulbuch (hier in einer Kategorie zusammen mit Kopien aus Schulbüchern) den ersten Platz ein. Während 944 Minuten und damit in 39 Prozent der beobachteten Gesamtzeit wurde mit dem Schulbuch oder mit Kopien aus Schulbüchern gearbeitet. Als Arbeit mit dem Schulbuch wurde dabei jene Zeit kodiert, in der ,direkt im‘ oder ,anhand eines Schulbuchs‘ gearbeitet wurde. ,Direkt im‘ bedeutete beispielsweise das gemeinsame Durcharbeiten von Absätzen, ,anhand eines Schulbuchs‘ bezeichnet Arbeitssituationen, in denen beispielsweise die Schüler/innen eine Arbeitsaufgabe auf einem Handout erledigten und dabei auf das Schulbuch zurückgriffen.53 Die Daten legen eine große Dominanz von derlei 53 Andere Arten der Schulbuchverwendung wie z. B. das „Schulbuch als Tischvorlage“ wurden ausführlicher beschrieben in Roland Bernhard: Fragebogenentwicklung anhand qualitativer Daten in einem Mixed-Methods-Research-Design. Eine geschichtsdidaktische Perspektive zu historischem Denken und Schulbuchnutzung. In: Bramann/Kühberger/Bernhard (Anm. 13), S. 37–62, hier S. 49f.

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Arbeit mit dem Schulbuch nahe: In 874 Minuten und damit in 36 Prozent der beobachteten Unterrichtszeit wurde auf diese Weise gearbeitet. Anders formuliert: Für Arbeit ,direkt im Schulbuch‘ oder ,anhand des Schulbuchs‘ wurde mehr als doppelt so viel Zeit verwendet als dies für die Arbeit mit sämtlichen digitalen Medien zusammen inklusive ,Computer mit Beamer‘ der Fall war.

4.

Diskussion der Ergebnisse

Die in diesem Beitrag präsentierten empirischen Befunde aus Österreich haben das Potenzial, die inzwischen schon gebremste Euphorie hinsichtlich digitaler Medien im Geschichtsunterricht noch weiter zu drosseln. Für die geschichtsdidaktische Diskussion stellt sich die drängende Frage, was die geschichtsdidaktische Antwort auf den in dieser Studie präsentierten Umgang mit digitalen Medien sein kann. Es war zu erwarten, dass sich mit einer neuen Generation von angehenden Lehrer/innen auch ein anderer Zugang zu neuen/digitalen Medien durchsetzen würde. Die hier präsentierten Daten und auch empirische Untersuchungen zu Lehramtsstudierenden in Österreich weisen jedoch selbst im Zusammenhang mit angehenden Lehrer/innen in eine andere Richtung. Jene Generation an Studierenden, die im digitalen Zeitalter aufgewachsen ist und von klein auf von Computern und digitalen Medien umgeben war, zeigt nämlich – zumindest in den Untersuchungen von Johannes Maurek – wenig Interesse an einem kritischen Umgang mit digitalen Medien.54 Damit ist aber sicherlich auch eine Bringschuld der entsprechenden Ausbildungsstätten verbunden. Blickt man nämlich auf die Hochschulen, kann festgehalten werden, dass die „notwendigen Kompetenzen […] nicht anderweitig und schon gar nicht in der rein individuellen Auseinandersetzung mit Medien erworben“55 werden, weshalb alle Fachbereiche, eben auch die Geschichtsdidaktik, diesen Teil verstärkt in ihr Lehrprogramm in der Lehramtsausbildung zu integrieren haben. Gleichzeitig muss in der gegenwärtigen Situation auch die Euphorie über die Möglichkeiten eines exzellenten Einsatzes von digitalen Medien, wie sie etwa zuletzt im Praxishandbuch von Bernsen/Kerber56 vorgestellt wurden, relativiert werden, da gemessen am österreichischen Sample die meisten Lehrpersonen und auch die Schulbuchverlage noch sehr weit davon entfernt arbeiten. Was sich aber zeigt, nicht nur als Behauptung oder Annahme, sondern mit empirischen

54 Vgl. Johannes Maurek: Lehramtsstudierende: „Digital Natives“ oder „digital distant“? Vergleichende Erhebungen zu digitalen Kompetenzen von Studierenden in der Studieneingangsphase (STEP). In: Buchberger/Kühberger/Stuhlberger (Anm. 9), S. 17–36, hier S. 34. 55 Ebd., S. 34. 56 Bernsen/Kerber (Anm. 11).

„Digital history teaching“? Qualitativ empirische Ergebnisse

439

Daten untermauert, ist, dass das Schulbuch tatsächlich als „Leitmedium des Geschichtsunterrichtes“ bezeichnet werden kann. Die Einblicke aus den qualitativen Untersuchungen im Rahmen des CAOHTProjektes unterstreichen diese Einschätzungen nun empirisch und verdeutlichen die herausragende Position, die den traditionellen Medien und vor allem den Geschichtsschulbüchern im Unterricht zukommen. Wenngleich noch weitere quantitative Auswertungen im Projekt folgen werden, kann man an dieser Stelle schon vorwegnehmen, dass das Geschichtsschulbuch als solches verstärkter Aufmerksamkeit bedarf, wenn die Praxis ihm ein derartiges zeitliches Ausmaß an Aufmerksamkeit und Zuwendung zubilligt. Es könnte an dieser Stelle die Frage aufgeworfen werden, ob Geschichtsschulbücher – und nicht zuletzt die in ihnen auffindbaren Arbeitsaufgaben – heute die Brücke hin zu den neuen/digitalen Medien darstellten. Dem ist jedoch (zumindest bezogen auf die österreichische Situation) nicht so. Man kann vielmehr einen „Feigenblatt-Aktionismus“ der Schulbuchverlage feststellen. Aus einer kategorialen Schulbuchanalyse, die sich mit der Verbindung von Aufgabenstellungen und digitalen Medien in Geschichtsschulbüchern der Sekundarstufe I in der 7. Schulstufe beschäftigt, ist abzulesen, dass die prozentuale Streuung von Arbeitsaufgaben, die sich mit digitalen Medien beschäftigen, zwischen 0 und 9 Prozent aller angebotenen Aufgaben liegt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Aufträge in den Büchern zudem zu undifferenziert sind, um durch sie einen kritischen Umgang mit digitalen Medien fördern zu können oder fachspezifische Momente des historischen Lernens zu schulen. Es dominieren durchgängig Arbeitsaufträge mit dem Operator „recherchiere“ (z. B. „Recherchiere im Internet die Lebensdaten und die Verwandtschaftsverhältnisse der hier dargestellten Personen“ oder „Informiere dich im Internet über Ignatius von Loyola und den Jesuitenorden.“). Von den in fünf (exemplarisch ausgewählten) Geschichtsschulbüchern auffindbaren 103 Aufgaben wenden ca. 84,5 Prozent den Operator „recherchiere“ an. Daneben existieren Aufforderungen zur Bildsuche (14 Prozent) sowie eine Aufgabe zum Abfassen eines Internetbeitrages und eine Aufgabe zum Anhören eines Musikstückes.57 Damit unterscheiden sich Schulbücher in ihrer (fach-)didaktischen Herangehensweise nahezu nicht von der Praxis, die man in den beobachteten Unterrichtseinheiten beobachten konnte.

57 An dieser Stelle gilt es, Claudia Gut für die Auswertung zu danken, die im Rahmen eines Seminars aus dem Bereich der Geschichtsdidaktik an der Universität Salzburg entstand.

440

5.

Roland Bernhard / Christoph Kühberger

Fazit

Ist die erwartete ,digitale Revolution‘ in der Praxis des Geschichtsunterrichts bereits angekommen? Prägen Computer, Internet, Smartboard und andere digitale Medien den Unterricht? Sind wir im Zeitalter des eTeaching angelangt, wie dies um die Jahrtausendwende prophezeit wurde und haben in diesem Sinne die aus der Generation der „digital immigrants“ stammenden Lehrer/innen die Zugänge und Verhaltensweisen der aus der Generation der „digital natives“ stammenden heutigen Schüler/innen übernommen und in den Unterricht integriert? Die in diesem Beitrag präsentierten empirischen Daten aus 50 teilnehmenden Beobachtungen im Geschichtsunterricht in Österreich weisen darauf hin, dass all diese Fragen mit einem eindeutigen ,Nein‘ zu beantworten sind. Während das Geschichtsschulbuch und andere traditionelle Medien wie Handouts und die analoge Tafel den Unterricht massiv dominieren, wurden digitale Medien in den 2.430 Minuten beobachteten Geschichtsunterricht nur punktuell eingesetzt. Die Tatsache, dass für die Arbeit ,direkt im Schulbuch‘ und ,anhand des Schulbuchs‘ mehr als doppelt so viel Zeit verwendet wurde wie für die Arbeit mit allen digitalen Medien zusammen, inklusive des doch recht häufig angewendeten Beamers, zeigt in diesem Zusammenhang die ungebrochene Dominanz des analogen Geschichtsschulbuchs. Die Daten weisen darauf hin, dass sich lediglich am Einsatz des Beamers als Präsentationstool ein Wandel abzeichnet, welchen Schüler/innen in ihrem konkreten Schulalltag auch wahrnehmen dürften. Der Beamer übernimmt damit teilweise Aufgaben, welche traditionell dem Fernseher, der Tafel oder Handouts zugekommen sind. Medien wie Handys, Computer oder das Smartboard spielen in den analysierten Geschichtsstunden eine untergeordnete Rolle. Auch das Internet wird meist nur punktuell zu Recherchezwecken oder zur Veranschaulichung von Sachverhalten angewendet. Überhaupt nicht ersichtlich sind jene Momente, die in der geschichtsdidaktischen Diskussion im deutschsprachigen Raum der letzten Jahre verstärkt positioniert wurden, nämlich die Nutzung jener Aspekte für fachspezifisches Lernen, die nur über digitale Medien erreichbar sind (Konnektivität, Dialogizität, Partizipation, Contenterstellung etc.58).

58 Vgl. Christoph Kühberger : Geschichte lernen digital? Ein Essay zu mehrfach gebrochenen Diskursen der Geschichtsdidaktik. In: Demantowsky/Pallaske (Anm. 9), S. 163–168.

Waltraud Schreiber / Christiane Bertram*

Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung. Wie empirische Studien helfen können, Geschichtsunterricht besser zu verstehen

1.

Auf welche Studien bezieht sich der Beitrag, in welchem Rahmen sind sie verortet?

Der Beitrag bezieht sich auf Studien in der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (DG). Dort hatte man, wie in vielen anderen Ländern auch, die Erfahrung gemacht, dass die Einführung kompetenzorientierter Rahmenpläne in den mittleren 2000er Jahren nicht zur erhofften Veränderung von Unterricht geführt hat – in diesem Fall in der Primarstufe und der Sekundarstufe I. Deshalb wurde die Entscheidung getroffen, für die Umstellung der Rahmenpläne für die Sekundarstufe II neue Wege zu gehen. Die Rahmenpläne wurden erarbeitet durch paritätisch besetzte Teams aus Fachdidaktiker_innen, Lehrkräften, Vertreter_innen der Schulbehörden. Wegen der Festlegung auf das FUER-Modell1 als Theoriebasis der Rahmenpläne für den Geschichtsunterricht wurden Geschichtsdidaktiker_innen der Universität Eichstätt-Ingolstadt (Waltraud Schreiber, Marcus Ventzke, Florian Sochatzy) eingeladen, den Paradigmenwechsel hin zur Kompetenzorientierung zu unterstützen. Vor Beginn der Arbeit fanden Gespräche mit Lehrkräften statt, um Ausgangslagen und Erwartungen zu klären. Auf die dabei sichtbar gewordenen Unsicherheiten in Bezug auf Kompetenzorientierung wurde im Rahmenplan reagiert, indem in den einzelnen Kompetenzbereichen jeweils angestrebte Förderziele durch Verschränkung von zu fördernden Kompetenzen und Inhalten klar ausgewiesen wurden. Auf diese Weise sollten die von den Lehrkräften gewünschten Spielräume bei der Auswahl der Themen und Schwerpunktsetzungen

* Die beiden Autorinnen stehen für eine Forschergruppe der Universitäten Eichstätt-Ingolstadt, Konstanz, Lüneburg und Tübingen. 1 Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007.

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Waltraud Schreiber / Christiane Bertram

ebenso sichergestellt werden, wie eine klare Ausrichtung auf einen kontinuierlichen Kompetenzaufbau bei den Schüler_innen.2 Aufgrund der Erfahrungen mit der nicht geglückten Implementation der Kompetenzorientierung in den Unterricht der Primar- und der Sekundarstufe I wurde seitens der Schulbehörde die Konsequenz gezogen, die Lehrkräfte intensiver zu begleiten. Zwei Wege wurden gewählt: a) die Einführung eines auf den Rahmenplan Geschichte abgestimmten Schulbuchs (bislang waren die Lehrkräfte bei der Suche nach Unterrichtsmaterial auf sich selbst gestellt gewesen, weil den Verlagen die Schülerzahl der Deutschsprachigen Gemeinschaft für eine eigene Geschichtsbuchausgabe zu klein ist); b) die Festlegung verpflichtender Lehrerfortbildungsmaßnahmen (je zwei Termine pro Schuljahr über drei Jahre). Die DG gab die Entwicklung eines digital-multimedialen Schulbuchs, des „mBook Belgien“, in Auftrag und sorgte dafür, dass an den Schulen Klassensätze von Tablets zur Verfügung standen. Diese konnten regelmäßig im Geschichtsunterricht (und wahlweise auch in anderen Fächern) genutzt werden, durften von den Schüler_innen aber nicht mit nach Hause genommen werden. Das Konzept für ein digital vorliegendes, kompetenzorientiertes Geschichtsbuch wurde an der Professur für Theorie und Didaktik der Geschichte der Universität Eichstätt-Ingolstadt erarbeitet3 und am „Institut für digitales Lernen“, einem dafür gegründeten wissenschaftlichen Spin-off der Professur,4 umgesetzt. Mit der Entwicklung des mBooks Belgien wurde von Anfang an die Absicht verbunden, Pragmatik mit Theorie und Empirie zu verbinden. Insbesondere sollte die Wirksamkeit digitaler Lehr-Lernmittel hinsichtlich der Kompetenzentwicklung erforscht werden. Deshalb wurde zusammen mit der Universität Tübingen eine Längsschnittstudie angelegt, die mehrere Teile umfasst: 2 Der Rahmenplan kann unter folgendem Link eingesehen werden: http://www.ostbelgienbil dung.be/PortalData/21/Resources/downloads/schule_ausbildung/schulische_ausbildung/rah menplaene_neu/RP_Geschichte_SEK_AU_T__2und_3_Stufe.pdf (aufgerufen am 22. 04. 2018). 3 Waltraud Schreiber/Florian Sochatzy/Marcus Ventzke: Das multimediale Schulbuch – kompetenzorientiert, individualisierbar und konstruktionstransparent. In: Waltraud Schreiber/Alexander Schöner/Florian Sochatzy (Hrsg.): Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik. Stuttgart 2013, S. 212–232; Marcus Ventzke/Florian Sochatzy/Waltraud Schreiber (Hrsg.): mBook Geschichte Bd. 1 bis 5 für die Oberstufe des Gymnasiums in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Eichstätt 2013; Online-Publikation: Florian Sochatzy : Das multimediale Schulbuch (mBook) – von der Theorie in die Praxis: Konzeption, Produktion und empirische Überprüfung eines multimedialen Geschichtsschulbuchs. Eichstätt 2016. 4 Seit 2017 ist das Institut für digitales Lernen ein eigenständiges, von der Universität getrenntes Wirtschaftsunternehmen; das Konzept mBook wird von einem Schulbuchverlag vermarktet und auf weitere Fächer ausgedehnt. Vgl. https://institut-fuer-digitales-lernen.de (aufgerufen am 22. 04. 2018).

Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung

443

– einen Kompetenztest, auf Grundlage des HiTCH-Tests5 (Fragebogen, Powertest); – die Erhebung des sozio-ökonomischen Status, der Motivation für Geschichte, der Mediennutzung (Fragebogen); – einen Wissenstest zu den Jahrgangsthemen (Fragebogen, Powertest); – die Erhebung des Interesses an den jahrgangsspezifischen Themen; – einen Test zur Erhebung der Lesegeschwindigkeit (Speedtest); – einen Intelligenztest (KFT figural, Fragebogen, Speed- und Powertest). Die erste Erhebung fand am Ende des Schuljahres 2012/2013 statt, also vor Einführung des neuen Rahmenplans und der Bereitstellung des mBook Belgien, die letzte am Ende des Schuljahres 2016/2017, also nachdem die ersten beiden Jahrgänge von Schüler_innen den neuen Rahmenplan durchlaufen hatten (für näherere Hinweise zu Sample, Methoden, Ergebnissen vgl. Kapitel 2.1). Die Daten der Testungen bilden die Grundlage für mehrere Forschungsprojekte, u. a. das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte QQM-Projekt („Erklärung der Kompetenzentwicklung im Fach Geschichte mithilfe von Indikatoren zur Quantität und Qualität der Nutzung eines elektronischen Schulbuchs“6) oder die Reformstudie Belgien, eine Effektstudie zur Einführung von Rahmenplan und mBook7 sowie für Qualifikationsarbeiten in Eichstätt und Tübingen. Für das QQM-Projekt erfolgte eine Erweiterung der Längsschnittdaten a) um die inhaltsanalytische Codierung aller Kapitel des mBook Belgien (vgl. Kapitel 2.2) und b) um durch Tracking der mBook-Nutzung erhobene Logfile-Daten (vgl. Kapitel 2.3). Im Forschungsprozess zu diesen Studien ergab sich die Notwendigkeit, zusätzlich qualitative Daten einzubeziehen.8 Sie wurden in Interviews mit den Lehrkräften zur Nutzung des mBooks Belgien für den Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe II erhoben (vgl. Kapitel 2.4), und durch die Videographie von Geschichtsstunden aus der Sekundarstufe II der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (vgl. Kapitel 2.5). Abb. 1 zeigt die zeitliche Verteilung der Datenerhebung. 5 Ulrich Trautwein u. a.: Kompetenzen historischen Denkens erfassen – Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts „Historical Thinking – Competencies in History“ (HiTCH). Münster 2017. 6 Verbundprojekt der Universitäten Eichstätt-Ingolstadt, Tübingen, Lüneburg und des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF); Laufzeit 2015–2017, Fördernummer 01LSA1503A/B/C. 7 Verbundprojekt der Universitäten Eichstätt-Ingolstadt, Tübingen, Lüneburg, intern finanziert. 8 Vgl. hierzu Waltraud Schreiber : Reformstudie Belgien, eine Effektstudie zur Einführung von Rahmenplan und mBook. In: Tagungsband zur Tagung „Kompetent machen für ein Leben in, mit und durch Geschichte“ 2017 (angenommen).

444

Waltraud Schreiber / Christiane Bertram

Abb. 1: Zeitliche Abfolge der Datenerhebungen für die empirischen Studien zu kompetenzorientiertem und digitalem Lernen im Geschichtsunterricht in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens.

Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung

445

Im vorliegenden Beitrag stehen nicht die einzelnen Studien im Zentrum, sondern die weiterführende Frage, wie Ergebnisse empirischer Studien dazu beitragen können, das durch Geschichtsunterricht initiierte und durch Digitalität unterstützte Lernen und Lehren besser zu verstehen. Deshalb werden in Kapitel 2 die Teilstudien und ihre Ergebnisse nur kurz skizziert. Dabei wird auf Publikationen verwiesen, in denen die einzelnen Studien im Zentrum stehen; dort ist auch die zugrunde gelegte Literatur zu finden.

2.

Die Teilstudien – ein kurzer Überblick über deren Anlage und Ergebnisse

2.1

Längsschnittliche Daten aus Schülerbefragungen und -testungen

Für die seit Ende 2017 komplett vorliegenden Daten aus den bis Juni 2017 laufenden insgesamt fünf Erhebungswellen wurden Skalierungen für die Kompetenztests, Wissenstests, das Interesse, das Selbstkonzept und die IT Nutzung außerhalb der Schule durchgeführt. Vorgehen und Ergebnisse werden im Folgenden kurz skizziert: Als Datengrundlage für die Modellierung von Veränderungen zwischen den Erhebungen (z. B. Kompetenzverläufe), die im Abstand von jeweils einem Jahr stattfanden, wurden sämtliche Schüler_innen ausgewählt, die sich zum Zeitpunkt ihrer ersten Teilnahme in Klassenstufe 9 befanden. Für sie wurden längsschnittlich erhobene Daten zu jeweils benachbarten Erhebungszeitpunkten betrachtet, also ihre Kompetenzveränderungen innerhalb eines Jahres. Dabei ist die Konfundierung mit den Erhebungswellen zu berücksichtigen, d. h.: für das erste Intervall (Kompetenzveränderungen zwischen der Klassenstufe 9 und 10) stehen Daten aus vier Wellen zur Verfügung.9 Für Kompetenzveränderungen zwischen den Klassenstufen 11 und 12, also den beiden Abschlussklassen, kann nur auf Daten aus den Wellen 1 und 2 zurückgegriffen werden, weil nur Schüler_innen aus diesen beiden Erhebungswellen alle Jahrgangstufen der Sekundarstufe II durchlaufen haben. Für die Kompetenzentwicklung der Schüler_innen über die vier Testzeitpunkte hinweg (jeweils Ende des Schuljahres) ergaben sich durchweg statistisch signifikante und praktisch bedeutsame positive Veränderungen. Die im Folgenden berichteten Effektstärken beziehen sich auf die jeweilige Streuung (Standardabweichung) des Merkmals in Klassenstufe 9. Eine Effektstärke von 0.2, die für Leistungsentwicklungen innerhalb eines Schuljahres nicht untypisch 9 Die letzte Welle kann hier nicht berücksichtigt werden, da für die Schüler_innen, die 2016/17 in der 9. Klasse waren, kein zweiter Erhebungszeitpunkt verfügbar ist.

446

Waltraud Schreiber / Christiane Bertram

wäre, entspricht also einem durchschnittlichen Zuwachs von 0.2 Einheiten auf einer anhand der Streuung in Klassenstufe 9 normierten Skala (auch als Zuwachs in Standardabweichungen bezeichnet). Von t1 (Klassenstufe 9) zu t2 (Klassenstufe 10) betrug der Lernfortschritt 0.34, von t2 zu t3 (Klassenstufe 11) 0.31.10 Dies ist eine deutlich ausgeprägte Kompetenzentwicklung über die Jahre hinweg. Von t3 zu t4 (Abschlussklasse 12) betrug der Lernfortschritt 0.18. Bezüglich der Entwicklung des Interesses zeigte sich folgender Verlauf: Nach einem leichten Rückgang von t1 zu t2 (-0.07 Standardabweichungen) ergab sich für das Interesse über die Jahre (Klassenstufen 10, 11, 12) ein kontinuierlicher Anstieg (t2 zu t3: 0.16; t3 zu t4: 0.13). Dabei zeigten sich in zusätzlichen Analysen für Mädchen – unter Kontrolle des Interesses im Vorjahr (d. h., bei jeweils vergleichbarer Ausprägung im vorangehenden Jahr) und der Anzahl der Klassenwiederholungen – teilweise geringere Interessensausprägungen als bei den Jungen. Die Geschlechtsunterschiede waren statistisch signifikant für die Analysen bezogen auf die Klassenstufen 10 und 11 (0.11 Standardabweichungen niedrigere Ausprägung für Mädchen) sowie 11 und 12 (0.08 Standardabweichungen niedrigere Ausprägung für Mädchen). Bezogen auf das Selbstkonzept zeigte sich ein statistisch signifikanter Anstieg von t1 zu t2 (0.11 Standardabweichungen), danach waren jedoch keine statistisch signifikanten Änderungen mehr zu beobachten. Hinsichtlich der Verfügung über IT-Geräte und der Häufigkeit ihrer Nutzung zu Hause waren über die drei Jahre keine statistisch signifikanten Veränderungen zu beobachten.11

2.2

Inhaltsanalytische Codierung des mBook Belgien

Die Codierung erfolgt in Anlehnung an Kuckartz12 und Mayring.13 Die Codiereinheiten ergeben sich formal aus dem Aufbau des mBooks; sie beziehen sich also z. B. auf Kapiteltypen (wie curricular begründete Einheiten, Methodenkapitel), schulbuchspezifische Elemente (wie Lehrtext, Materialien und Materialarten, Aufgabenstellungen) oder digitale Elemente (wie Bildergalerien, Videos 10 Gemessen wird an der Standardabweichung in Klassenstufe 9; einbezogen werden nur Schüler_innen, bei denen keine Klassenwiederholung stattfand. 11 Es sei abschließend darauf hingewiesen, dass sich bezüglich der Modellierung von Verläufen (geringfügige) Unterschiede ergeben können, abhängig von der Verwendung unterschiedlicher Modellierungen, z. B. eines anderen Skalierungsmodells oder des Umgangs mit fehlenden Werten. Bislang vorgenommene Robustheitsanalysen weisen auf insgesamt sehr stabile Effektschätzungen hin. 12 Vgl. etwa Udo Kuckartz: Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten. 3. Aufl. Wiesbaden 2010. 13 Vgl. etwa Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11. Aufl. Weinheim/Basel 2010.

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oder Animationen, Verlinkungen). Mehrfachcodierungen sind möglich. Die Codierungen wurden in einer Exceldatei festgehalten. Codiert wurden alle Bände der Sekundarstufe II. Codebaum Die Codeentwicklung erfolgte einerseits theoriebasiert und damit deduktiv, andererseits induktiv und materialgetrieben. „Kompetenzorientierung“ wird z. B., unter Bezug auf das FUER-Modell, durch Codes für die Ausrichtung auf prozedurale und kategorisierende Kompetenzbereiche erfasst, durch Codes zur Fokussierung auf Vergangenes, Gegenwart und Zukunft bei der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Inhalten oder durch expliziten Bezug auf epistemologische Prinzipien. Materialgetriebene Codes betreffen mBook-spezifische Elemente (wie z. B. Transparenztexte, Headerbilder, Autoreninterviews, Differenzierungsangebote oder Selbstlernangebote wie Glossare oder Infokästen). Sie wurden unter Bezug auf das Konzept des mBooks entwickelt, das durch die Schlagworte Kompetenzorientierung, Individualisierbarkeit und Konstruktionstransparenz gekennzeichnet ist.14 Schließlich wurden Codes vergeben, die den inhaltlichen Bezug zum Rahmenplan herstellten. Es handelt sich dabei um inhaltsbezogene Konzepte/Kategorien. Die theoriebezogenen Codierungen bilden eine geeignete Grundlage, um z. B. Zusammenhänge zwischen Kompetenzorientierung und mBook-Nutzung herzustellen bzw. danach zu fragen, inwiefern Zusammenhänge zwischen Rahmenplan, Geschichtsunterricht und mBook-Nutzung sichtbar werden. Die inhaltsbezogenen Codierungen erlauben Verbindungen zum Wissens- bzw. Interessenstest der Längsschnitterhebung und wiederum zum Geschichtsunterricht. Die mBookspezifischen Codierungen, einschließlich der Codes zu digitalen Elementen, ermöglichen es, digitales und kompetenzorientiertes Lehren und Lernen aufeinander zu beziehen.15 Alle Codes- und Codekombinationen können genutzt werden, um das Clickund Scroll-Verhalten der Schüler_innen geschichtsdidaktisch zu interpretieren (vgl. unten Kapitel 2.3). Auffälligkeiten in den Ergebnissen der Teilstudien werfen ggfs. die Notwendigkeit weiterer Analysen am mBook auf.

14 Vgl. Anm. 1. 15 Vgl. Waltraud Schreiber : Doppelte Kompetenzförderung durch digitale Lehr- und Lernmittel? In: ZLB.KU, Online Zeitschrift (2018), H. 2 (angenommen).

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Abb. 2: Beispiel für die inhaltsanalytische Codierung des mBooks.

2.3

Logfile-Daten

Die mBook-Verwendung generiert Logdateien, in denen die von Nutzenden ausgelösten Ereignisse gespeichert werden. Die für die Verhaltensanalysen insbesondere relevante Logdatei ist das sogenannte User-Log. Wir unterscheiden zwei verschiedene atomare Ereignisse: Click- und Focus-Ereignisse. Zu jedem Ereignis werden stets Stammdaten, wie zum Beispiel Nutzer-ID, Session-ID, Zeitstempel, Seiten-ID, usw., gespeichert. Darüber hinaus sind die beiden Ereignisse wie folgt definiert: Ein Click-Ereignis wird durch einen Click auf eine Komponente ausgelöst. Ein Click-Ereignis enthält zusätzlich die ID der geklickten Komponente, die Position des Clicks innerhalb der Komponente sowie eine Kopie des vorherigen FocusEreignisses zur Kontextualisierung des Clicks. Es wird mit Kontextinformationen und Metadaten durch die inhaltsanalytische Codierung für Seiten, Res-

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449

sourcen und Textabschnitte angereichert (vgl. Kapitel 2.2). Ein Click-Ereignis umfasst darüber hinaus auch etwaige Einträge in die angeklickten Such- und Eingabefelder und deckt auch Copy-und-Paste Aktionen einer Nutzerin bzw. eines Nutzers ab. Ein Focus-Ereignis wird z. B. durch Scrollen und Lupenfunktionen erzeugt und speichert den Status der gerade sichtbaren und unsichtbaren Komponenten. Das Ereignis „Focus-In“ wird immer dann ausgelöst, wenn eine neue Komponente sichtbar wird, und ein „Focus-Out“-Ereignis entsprechend immer dann, wenn eine Komponente aus dem sichtbaren Bereich des/der Nutzenden verschwindet. Anhand des User-Logs kann das Nutzerverhalten für das mBook exakt nachgebildet werden. Das formale Datenmodell einer Nutzersession ist eine Sequenz von den in dieser Session ausgeführten Click- und Focus-Ereignissen. Die Daten können angereichert werden um die geschichtsdidaktisch relevanten Kontextinformationen, z. B. aus der mBook-Codierung oder aus den Analysen qualitativer Daten, ebenso wie um Test- und Befragungsergebnisse aus den Längsschnittstudien.

2.4

Interviews mit Lehrkräften

Die Interviews wurden 2017 geführt, nachdem anhand der Logfile-Daten deutlich geworden war, dass nur in etwa der Hälfte der Klassen die Schüler_innen im Unterricht mit den Tablets arbeiteten. Die Interviews wurden inhaltsanalytisch codiert, wiederum in Anlehnung an Kuckartz und Mayring,16 diesmal unter Nutzung des Analyse-Programms MAXQDA. Codiereinheiten waren die Antworten auf Leitfragen bzw. Nachfragen, wobei Mehrfachcodierungen möglich waren. Der Codebaum umfasst die Codegruppen „Aussagen zum mBook“, „zur Kompetenzorientierung“, „zu Digitalität“ sowie „zur Lehrkraft und ihrem Unterricht“. Die Interraterreliabilität lag bei Krippendorffs a = 0,7, einem für komplexe Codings zufriedenstellenden Wert. Tobias Langguth, dem Bearbeiter dieser Teilstudie, gelang es, eine Lehrertypologie zu entwickeln. In ihr wurde einerseits eine an Papier-Schulbüchern entwickelten Nutzertypologie17 (hier als Vollnutzer – selektiver Nutzer – ablehnende Nutzer bezeichnet) formal repliziert (Abb. 3). Andererseits konnten aber distinkte Merkmale für diese Nutzergruppen ausgewiesen werden, die sich aus der Spezifik des mBooks als kompetenzorientiertem, digital-multimedialem 16 Vgl. Kuckartz (Anm. 12); Mayring (Anm. 13). 17 Peter Gautschi: Anforderungen an heutige und künftige Schulgeschichtsbücher. In: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 28 (2010), H. 1, S. 125–137.

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Lehr- Lernmittel ergeben.18 Damit kann für die Typologie zumindest ein Voraussagewert für die Realisierung von Geschichtsunterricht mit dem mBook angenommen werden. Zudem ist es möglich, einen Effekt auf die im Kompetenztest erfassten Kompetenzausprägungen der Schüler_innen zu untersuchen. Bei der Herausarbeitung der distinkten Merkmale zeigte sich, dass weder das Alter/die Berufserfahrung der Lehrkräfte noch die auftretenden Probleme mit der Technik bestimmend für die Zugehörigkeit einer Lehrkraft zu den Gruppen waren. Maßgeblich sind vielmehr die Wertschätzung bzw. Geringschätzung von Digitalität, die Tiefe der Auseinandersetzung mit historischen Kompetenzen und in diesem Zusammenhang die Bedeutung, die der Schülerorientierung zugemessen wird.

Abb. 3: Langguth: Lehrertypologie, auf Grundlage von Leitfadeninterviews mit Geschichtslehrkräften der Sekundarstufe II in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens.

18 Vgl. auch Tobias Langguth/Michael Werner/Waltraud Schreiber : Die Lehrkraft als Faktor der Schulbuchnutzung: Nutzertypen eines kompetenzorientierten und digitalen Schulbuchs am Beispiel des „mBooks Belgien“. In: Tagungsband zur Tagung „Geschichtsdidaktik empirisch 2017“ (angenommen).

Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung

451

Knapp ein Viertel der Lehrkräfte konnte in diesem Sinne als „Vollnutzer“ klassifiziert werden. Etwas über die Hälfte wurde dem Typus „selektiver Nutzer“ zugeordnet. Das restliche Viertel sind „ablehnende Nutzer“.

2.5

Videoanalysen

Methodisch basiert die Studie zu den videographierten Geschichtsstunden19 ebenfalls auf der Inhaltsanalyse nach Kuckartz und Mayring. Für die Analyse wurde das Computerprogramm MAXQDA 12 genutzt, in dem Videoaufnahmen direkt codiert werden können. Die Codeentwicklung erfolgte wiederum deduktiv-theoriebasiert und induktiv-materialgetrieben. Als Codiereinheit wurden abgrenzbare Unterrichtsphasen, die von Lehrkräften bzw. Lernenden initiiert wurden, definiert. Ein zentrales Ergebnis ist, dass die Bearbeiterin Stefanie Hölzlwimmer die von Langguth erarbeiteten distinkten Merkmale zur Lehrertypologie durch die Analyse der videographierten Unterrichtsstunden der befragten Lehrkräfte bestätigen konnte. Damit kann der Typologie bescheinigt werden, Voraussagewert für die Realisierung von Geschichtsunterricht zu haben. Die Unterscheidungsmerkmale Langguths wurden in den Videographien erfasst mit den Codegruppen – „digital“ oder „analog“ als hauptsächlich genutzte Vermittlungsform; – Fördermaßnahmen zur Entwicklung historischer Kompetenzen; – Fördermaßnahmen zur Entwicklung digitaler Kompetenzen; – Schülerorientierung vs. Lehrerzentrierung. Zwei weitere Ergebnisse der Videoanalysen seien kurz skizziert: a) eine Differenzierung für die Gruppe der selektiven Nutzer, b) eine These zur beobachteten Kompetenzförderung. Zu a) Differenzierung für die Gruppe der selektiven Nutzer Die bei Langguth sehr disparate Gruppe der selektiven Nutzer konnte aufgeteilt werden in „selektive Nutzer mit Nähe zu den ablehnenden Nutzern“ und „selektive Nutzer mit Nähe zu den Vollnutzern“. Die Ausrichtung des Unterrichts als schülervs. lehrerorientiert (mit den Merkmalen Mitarbeit, Differenzierung, leitende Fragestellung, Zielsetzung der Erarbeitungsphasen, Sozialformen), die Förderung 19 Stefanie Hölzlwimmer : Welchen Einfluss hat das mBook auf den Geschichtsunterricht? Inhaltsanalytische Auswertung von 20 videographierten Unterrichtsstunden. Eichstätt 2018 (Bachelorarbeit).

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historischer Kompetenzen, die Förderung digitaler Kompetenzen und die Nutzungsvarianten des mBooks konnten als distinkte Merkmale ausgewiesen werden. Dafür wurden u. a. „Heatmaps“ genutzt, eine Visualisierungsform (Abb. 4 und 5), die hilft, die bedeutsamsten Merkmale herauszustellen, die sich für die unterschiedlichen Nutzertypen ergeben. Exemplarisch werden im Folgenden die Graphiken für „Vollnutzer“ und „ablehnenden Nutzer“ wiedergegeben, auf die sich dann die Aufteilung der flexiblen Nutzer bezieht.

Abb. 4: Merkmale des Geschichtsunterrichts der „ablehnenden Nutzer“.

Abb. 5: Merkmale des Geschichtsunterrichts der „Vollnutzer“.

Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung

453

Zu b) These zur beobachteten Kompetenzförderung Der auffällige Befund, dass in den Unterrichtsstunden der Vollnutzer eine explizite Förderung der Sach- und Methodenkompetenz nicht erkennbar war, regte Hölzlwimmer weiter an, die mBook-Nutzung in diesen Stunden näher zu betrachten. Ihre These, dass die Lehrkräfte die Förderung von Sach- und Methodenkompetenz in die mBook-Nutzung auslagerten, dagegen durch eigene Maßnahmen Orientierungs- und Fragekompetenz fördern, ist plausibel, wenn man die Analysen des mBook, v. a. die vertiefenden Analysen desselben durch David Naaß betrachtet.20 Während die Entwicklung von Sach- und Methodenkompetenz im mBook auf vielfältige Weise unterstützt wird, erfolgt die Förderung von Frage- und Orientierungskompetenz dort nur in eingeschränkterem Maße: Es werden durch die Anlage der Kapitel Fragestellungen und mögliche Orientierungen zwar offengelegt und die Schüler_innen angehalten, sich dazu zu positionieren. Die Lernenden werden aber selten angeregt, eigenen Fragen nachzugehen, gerade auch ausgehend von aktuellen oder individuellen Orientierungsbedürfnissen oder irritierenden Erfahrungen. Genau dazu versuchen die Vollnutzer ihre Schüler_innen in ihrem Unterricht anzuregen. Sie erweitern in dieser Hinsicht also die Ansätze des mBooks.

3.

Wie empirische Studien helfen können, Geschichtsunterricht besser zu verstehen

3.1

Nachweis ansteigender Kompetenzausprägungen von Schüler_innen über die Schuljahre hinweg durch Kompetenztestung

Ein grundlegendes Ergebnis der „Belgienstudien“ ist der Nachweis einer ansteigenden Kompetenzausprägung von Schüler_innen über die Schuljahre der Oberstufe hinweg. Hoffnungen und Erwartungen zur Wirksamkeit von Geschichtsunterricht konnten damit erstmals evidenzbasiert bestätigt werden – auf Grundlage eines standardisierten, validen Kompetenztests bei einer repräsentativen Gruppe von Schüler_innen im Längsschnitt über fünf Jahre.21 Kompetenztests wie der HiTCH-Test22 formulieren die Testaufgaben bewusst so, dass möglichst wenige Zusammenhänge zum erfahrenen Geschichtsunter20 David Naaß: Geschichte als Identität – Die logischen Grundlagen von Narrativität und Zeitlichkeit. Eichstätt 2018 (Masterarbeit). 21 Vgl. hierzu die Kurzdarstellung in Kapitel 2.1 dieses Beitrags und den vertiefenden Beitrag Wolfang Wagner u. a. zur Berichterstattung über das QQM Projekt auf der Tagung „Geschichtsdidaktik empirisch 2017“. 22 Vgl. Trautwein (Anm. 5).

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richt bestehen. Der Frage nach Zusammenhängen zwischen den Kompetenzausprägungen und dem Geschichtsunterricht nachzugehen, ist ein über den HiTCH-Test hinausgehendes Ziel, das in QQM und den weiteren Wirksamkeitsstudien verfolgt wurde. Wegen der Komplexität des Geschehens im Geschichtsunterricht muss davon ausgegangen werden, dass stets mehrere Aspekte im Zusammenspiel die Kompetenzentwicklung der Lernenden beeinflussen und deshalb eine isolierte Auseinandersetzung mit nur einem Kriterium nicht zielführend ist. Indikatoren zu finden, die als bedeutsam erachtete Aspekte bündeln, ist damit eine zentrale Herausforderung der auf den Geschichtsunterricht bezogenen Wirksamkeitsforschung. Im bereits genannten QQM-Projekt hatten wir uns dafür entschieden, die Nutzung des auf den Rahmenplan abgestimmten, digital vorliegenden mBooks als Indikator für ein die Kompetenzentwicklung förderndes historisches Lernen zu nehmen. Wir hatten uns dabei auf gängige Annahmen gestützt. Etwa diejenige, dass Schulbücher für den Geschichtsunterricht bedeutsam seien oder die These, dass ein explizit kompetenzorientiert angelegtes Lehrmittel die „Qualität“ der Kompetenzförderung steigere. Zudem gingen wir davon aus, dass die digitale Anlage des mBooks die Motivation der Schüler_innen für den Geschichtsunterricht fördere, dass durch den gezielten Einsatz von Multimedialität und Digitalität kompetenzorientierte Lehrkonzepte besser verwirklich werden könnten, und auch, dass Lehrkräfte das mBook intensiv nutzen würden, weil es Rahmenplan-konform angelegt ist. Zwar ließ sich die methodologische Grundannahme, Logfile-Analysen, geschichtsdidaktische Codierungen und Testergebnisse aufeinander beziehen zu können, bestätigen. Deshalb stellt Kapitel 3.2 Ansätze zusammen, wie evidenzbasierte Aussagen zu Geschichtsunterricht durch die Nutzung von Trackingdaten, in Kombination mit geschichtsdidaktischen Analysen und/oder mit Ergebnissen der Kompetenztestung, gemacht werden können. Die Überlegungen zur mBook-Nutzung als Indikator für kompetenzorientiertes Lernen im Geschichtsunterricht aber mussten erweitert werden. Die in Kapitel 2.4 und 2.5 vorgestellten qualitativen Studien, die die „Variable“ Lehrkraft fokussieren, mussten ergänzt werden. Das hat damit zu tun, dass die Vorentscheidungen und Vorgaben von Lehrkräften die Nutzung der mBooks durch die Schüler_innen maßgeblich (mit-)bestimmen. Im abschließenden Kapitel 4 wird exemplarisch gezeigt, wie die Ergebnisse der qualitativen Studien zur mBook-Nutzung durch die unterschiedlichen Lehrertypen zum besseren Verständnis des Geschichtsunterrichts und des Lernens und Lehrens mit digitalen Lehr-/ Lernmitteln beitragen können.

Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung

3.2

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Blick in die Black-Box der Schulbuchnutzung

Die durch Tracking erschlossenen Logfile-Daten geben Auskunft darüber, dass bestimmte Stellen im mBook angeklickt wurden und wie gescrollt wurde, also in welcher Reihenfolge bestimmte Stellen aufgesucht und wie lange verweilt wurde. Erst durch die Codierungen des mBooks werden die Click-, Scroll-, Verweil- und Viewdaten geschichtsdidaktisch aussagekräftig. Dass dabei einzelne Codes, aber auch Gruppierungen von Codes für die Klassifizierung z. B. der Clicks genutzt werden können, wurde bereits gesagt. a)

Was (schon) Click-Ereignisse über das Lernen und Lehren im Geschichtsunterricht „aussagen“ können

Es lässt sich etwa auflisten, ob die Schüler_innen vor allem Lehrtexte ansteuern oder Materialien, ob sie dann vorrangig auf Quellen oder auf Darstellungen klicken, ob sie auch die Passagen ansteuern, die die Fragestellung des Kapitels textlich, bildlich oder durch Autorenvideos erläutern oder in welchem Maße sie Elemente nutzen, die es nur in einem digitalen Lehr-/Lernmittel gibt (Videos, Bildergalerien, Animationen, Autoreninterviews, Verlinkungen etc.). Bereits einfache Quantifizierungen von Click-Daten eröffnen Einblicke in das Unterrichtsgeschehen, die es ohne Logfile-Analysen nicht gäbe. Für die DG zeigte sich z. B., dass Elemente, die nur aufgrund der digitalisierten Anlage des mBooks vorlagen, weit seltener angeklickt wurden als erwartet. Um die Ergebnisse solcher Quantifizierungen darzustellen, gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, u. a. können sie in Tabellen dargestellt werden (Abb. 6), wobei das Clickverhalten auch mit dem Abschneiden in den Kompetenztests korreliert werden kann. Insgesamt zeigt sich, dass von beiden Gruppen deutlich häufiger „konventionelle Zugriffe“ erfolgen, auf schriftlich vorliegende Materialien, auf vergangenheitsbezogene Informationen, auf Sach- und Methodenkompetenz-fördernde Elemente, als auf multimedial-digitale Elemente, gegenwarts- und zukunftsbezogene Passagen oder auf Frage- und Orientierungskompetenzbezogene Ansätze. Als Tendenz zeichnet sich ab, dass die 10 Prozent der besten Schüler_innen mehr Kontextmaterialien anklicken als die anderen. b)

Kontextdaten und mBook-Nutzung

Aussagen zu langfristigen Unterrichtszusammenhängen werden z. B. möglich, wenn man die Zeitstempel der Logfile-Daten nutzt und sie gezielt mit Informationen zu Klassenzugehörigkeiten und Stundenplänen verbindet. Aus den Zeitstempeln lässt sich z. B. erkennen, inwiefern das mBook auch außerhalb der

Chap id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=105 id=1436 id=1436 id=1436 id=1436 id=1436

Dez1-9 Element Kompetenz Fokus gesamt Kapitelklicks Anteil in % Chap Ãœberschri" 3 290 1,034482759 id=105 Audio 1 290 0,344827586 id=105 Aufgabe 2 290 0,689655172 id=105 Darstellung 15 290 5,172413793 id=105 Dialogtext 7 290 2,413793103 id=105 Lehrtext, Bild 2 290 0,689655172 id=105 Lehrtext, Galerie 17 290 5,862068966 id=105 Lehrtext, Galerien 11 290 3,793103448 id=105 Lehrtext, Galerien 1 290 0,344827586 id=105 Quelle 27 290 9,310344828 id=105 Video, Anima#on 1 290 0,344827586 id=105 frage 7 290 2,413793103 id=105 methode 10 290 3,448275862 id=105 methoden 15 290 5,172413793 id=105 orien#erung 13 290 4,482758621 id=105 sach 61 290 21,03448276 Gegenwart 40 290 13,79310345 Vergagenheit 5 290 1,724137931 Vergangenheit 52 290 17,93103448 Ãœberschri" 3 125 2,4 id=1436 Aufgabe 6 125 4,8 id=1436 Bild 16 125 12,8 id=1436 Darstellung 8 125 6,4 id=1436 Dialogtext 1 125 0,8 id=1436 1 2 3 2 2 2 3 2 3 5 7 12 9 1 12

2 1 2 2 1

Lehrtext, Galerie, Bild Quelle sachkompetenz begriffskompetenz Geschichte Vergangenheit

gesamt

Dez 10 Element Kompetenz Fokus Ãœberschri" Darstellung Dialogtext Galerie Lehrtext, Bild Lehrtext, Galerie Lehrtext, Galerien Quelle frage methoden orien#erung sach Gegenwart Vergagenheit Vergangenheit

8 8 8 8 8

25 12,5 25 25 12,5

Kapitelklicks Anteil in % 66 1,515151515 66 3,03030303 66 4,545454545 66 3,03030303 66 3,03030303 66 3,03030303 66 4,545454545 66 3,03030303 66 4,545454545 66 7,575757576 66 10,60606061 66 18,18181818 66 13,63636364 66 1,515151515 66 18,18181818

456 Waltraud Schreiber / Christiane Bertram

Abb. 6: Auszug aus einem Dezil-Vergleich: Die obersten 10 Prozent aus der Kompetenztestung (=Dez 10; rechte Hälfte der Tabellen) verglichen mit den anderen 90 % (=Dez 1–9; linke Hälfte der Tabelle).

Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung

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Schulstunden genutzt wurde und ob sich Verdichtungen der außerschulischen Nutzung z. B. in den Zeiträumen der Zentralprüfungen ergeben. Für die DG zeigt sich in diesen Daten, dass das mBook fast nur von denjenigen Klassen auch außerschulisch genutzt wird, bei denen es auch in den Prüfungen eingesetzt wird. c)

Lehrertypen und Logfile-Daten

Verbindet man Logfile-Daten mit Lehrertypen, so zeigt sich z. B. dass das Nutzungsverhalten der Klassen, deren Lehrkräfte zu den selektiven Nutzern mit Nähe zu ablehnenden Nutzern gehören, sich von den selektiven Nutzern mit Nähe zu Vollnutzern unterscheidet. Das obere Bild (Abb. 7) visualisiert die Aktivität der Schüler_innen mit dem mBook in einer Klasse einer Lehrkraft, die als selektiver Nutzer mit Nähe zu den ablehnenden Nutzern klassifiziert worden ist, das untere stammt aus einer Klasse eines selektiven Nutzers mit Nähe zu den Vollnutzern. Jede Linie codiert eine Nutzersession einer Schülerin bzw. eines Schülers. Die Aktivität im oberen Bild gleicht einer „Flatline“, die aufzeigt, dass alle Schüler_innen dieselbe Seite im mBook geladen haben, aber nicht aktiv damit arbeiten. Im unteren Bild zeigen die Sessions der Schüler_innen eine andere Arbeitsweise auf. Zwar gibt es klar erkennbare „Flatlines“, aber die Schüler_innen navigieren um diese herum und erarbeiten sich auf diese Weise individuelles Wissen, welches dann im Unterricht angewendet werden kann, etwa, um auf Fragen der Lehrkraft zu antworten. d)

Logfiles und Unterrichtsmethoden

Bezogen auf Unterrichtsmethoden gibt es z. B. Nutzungsbilder, die zeigen, dass alle Schüler_innen tendenziell zur selben Zeit dasselbe Element ansteuern (was für Einzelarbeitsphasen im Frontalunterricht spricht), dass Gruppen von Schüler_innen an bestimmten Elementen arbeiten (was für Gruppenunterricht spricht) bzw. dass viele individuell unterschiedliche mBook-Nutzungen vorliegen, die sich aber auf ein (Groß-)Kapitel beziehen. Solche an einzelnen Stunden erhobenen Unterrichtsstrukturen können in Muster übersetzt und damit verallgemeinert werden. Zur Identifikation solcher Patterns haben wir vor allem die videographierten Geschichtsstunden herangezogen. Nach Logfile-Sequenzen kann in allen Unterrichtsstunden oder in den Stunden eines Jahrgangs bzw. in allen Unterrichtsstunden einer Lehrkraft gesucht werden. Betrachtet wird dazu die relative Distanz der „Session“ eines Schülers oder einer Schülerin zum Rest der Klasse. Die Distanz zweier Seiten im mBook ist dabei die Anzahl der Clicks, die man braucht, um von der einen zur anderen zu

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Abb. 7: Verlauf zweier Unterrichtsstunden.

Waltraud Schreiber / Christiane Bertram

Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung

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navigieren. Die mittlere Distanz einer Session sagt also etwas darüber aus, ob die jeweiligen Nutzer_innen den Anweisungen der Lehrkraft folgen oder sich alleine durch das Buch klicken. Mittelwerte solcher Distanzen über die gesamte Klasse können verschiedene Unterrichtsmethoden aufzeigen. Ist der Mittelwert eher gering, machen die Schüler_innen tendenziell alle das Gleiche, ist der Mittelwert dagegen eher hoch, ermöglicht die Lehrkraft den Schüler_innen, das Buch auf ihre Art nach Antworten zu durchsuchen. Das nächste Ziel ist es, Hypothesen zu generieren, die Unterrichtsmethoden zu Lehrertypen und zu Kompetenzausprägungen von Schüler_innen in den Tests in Bezug setzen. Abhängig von der Lehrkraft, ergeben sich häufig positive Korrelationen zwischen der MRD mit der Kompetenz. Schüler_innen, die mehr klicken, sind in der Tendenz auch kompetenter als Schüler_innen mit wenigen Clicks. Für einige Lehrkräfte ergibt sich jedoch auch das gegenteilige Bild: Schüler_innen, die viel klicken und damit den von der Lehrkraft vorgegebenen Pfad verlassen, schneiden in den Kompetenzmessungen schlechter ab. e)

Scrollverhalten und Unterricht

Abb. 8 zeigt vier häufige Scrollmuster. C2 und C19 stehen für lange ScrollOperationen, wobei C19 manchmal mit Klicks auf Infoboxen unterbrochen wird. Das Muster C14 wird zum Laden einer neuen Seite angewendet. Das Muster beginnt entweder mit Scrolloperationen oder dem Klick auf einen Link und ist damit ein klassisches Navigationsmuster, das zum Navigieren im Buch benutzt werden kann. C18 dagegen codiert kurze Scrolloperationen von weniger als 10 Pixeln. Wir beobachten dieses Verhalten häufig, wenn Schüler_innen beim Lesen scrollen oder unschlüssig über ihr weiteres Vorgehen sind. Abb. 9 zeigt, dass sich die 5 Prozent der Schüler_innen mit den höchsten Motivationswerten in der Längsschnitttestung von den restlichen 95 Prozent in der Häufigkeit dieser Muster unterscheiden. Motivierte Schüler_innen zeigen verglichen mit den anderen das Muster C2 (lange scroll-Operationen) sehr viel häufiger ; C19 dafür fast gar nicht (lange Scroll-Operationen, unterbrochen mit Stops an Infokästen). Sie interagieren intensiver mit dem mBook, z. B. öffnen sie mehr Seiten (C14). Motivierte Schüler_innen explorieren mit C2 und C14, aber nutzen nicht alle Funktionen des Buches, z. B. die Infoboxen in C19, um sich weiterzubilden. Interessant ist auch das Scrollverhalten, das laut Testung besonders „motivierte“ von besonders „kompetenten“ Schüler_innen unterscheidet: Kompetente Schüler_innen nutzen das mBook eher gezielt zum Selbststudium, sie klicken nicht so viel wie motivierte Schüler_innen, nutzen aber z. B. Infoboxen sehr viel häufiger als motivierte, die hauptsächlich im Buch stöbern.

460

Waltraud Schreiber / Christiane Bertram

Abb. 8: Vier häufige Scrollmuster.

Abb. 9: Verwendung der gefundenen Muster von motivierten Schüler_innen (grün, top 5 %) und allen anderen (blau, restliche 95 %).

f)

Logfile-Daten und Wissensausprägungen

Um einen Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der Wissenstests und der mBook-Nutzung herzustellen, wurden die Kapitel, in denen Themen erarbeitet wurden, die im Wissentest abgefragt wurden, mit Codes versehen. Ein erster Zugriff stellt Zusammenhänge zwischen „hat in den Kapiteln gearbeitet“ und den Ergebnissen in den Wissenstests her. Derzeit wird daran gearbeitet, die Zusammenhänge noch weiter zu präzisieren: Dafür muss die Theoriebildung zu historischem Wissen zuerst erweitert

Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung

461

und dann mit der empirischen Arbeit zusammengeführt werden: Michael Werner entwickelt in seiner Dissertation einen Ansatz, um historisches Wissen zu differenzieren.23 Nach diesem Konzept plant er, die Testaufgaben zu kategorisieren. Das Ziel der Logfile-Analyse ist zu klären, ob sich Muster in der Art und Weise erkennen lassen, wie die 10 besten Prozent der Schüler_innen im Vergleich zu anderen mit thematisch relevanten Kapiteln arbeiten. Dabei sollen Zusammenhänge erschlossen werden, denen prognostizierende Aussagen zugetraut werden. Hierfür können u. a. die inhaltsbezogenen Codierungen, aber auch die Kompetenzcodierungen für die betreffenden Kapitel herangezogen werden.

4.

Nutzertypen und ihr Unterricht – Konsequenzen aus den qualitativen Studien für die Veränderung von Unterricht

Dass die Auswertungen der Leitfadeninterviews bzw. der videographierten Unterrichtsstunden von Bedeutung für das Verstehen von Geschichtsunterrichts sind, hat schon die Darstellung der beiden Studien in Kapitel 2 gezeigt. Auch wenn die Interviewstudie nicht repräsentativ ist und die DG für Europa typisch und untypisch zugleich ist,24 bekommen die Ergebnisse Gewicht dadurch, dass sie sich durch die Analyse der videographierten Stunden von Lehrkräften aller Nutzertypen und durch Ergebnisse von Logfile-Analysen bestätigten lassen. Erste Untersuchungen der Zusammenhänge mit den Testergebnissen der Schüler_innen laufen aktuell; Tendenzen können vermutlich bereits im Beitrag zum Tagungsband Geschichtsdidaktik empirisch 2017 vorgestellt werden.25 Aus den beiden „Lehrkraftstudien“ lassen sich zum einen übergeordnete und zum anderen Detail-Einsichten ableiten. Eine übergeordnete Erkenntnis ist, dass die Art und Weise der Nutzung eines (digitalen) Schulbuchs durch Lehrkräfte und Schüler_innen als Indikator für Geschichtsunterricht tragfähig ist. Ein weiteres Ergebnis ist, dass weder kompetenzorientiertes noch digitales Lehren und Lernen bereits durch das Anbieten entsprechender Lehr-Lernmaterialien sichergestellt werden können. Insbesondere, dass eine doppelte Kompetenz23 Michael Werner : Wissens-Werte Geschichten. Wert heterogener Wissensausprägungen für inklusives historisches Lernen. In: Ulrich Bartosch/Waltraud Schreiber/Joachim Thomas (Hrsg.): Leben und Lernen in inklusiven Schulen. Verbundprojekt der KU Eichstätt-Ingolstadt. Bad Heilbrunn 2018 (im Druck). 24 Die DG in Belgien ist exemplarisch zumindest für Mitteleuropa; allerdings gibt es zwar eine eigenständige Schul- und Bildungspolitik, wegen der geringen Bevölkerungszahl aber z. B. keine eigene Lehrerausbildung und mit Ausnahme des mBooks auch keine spezifisch abgestimmten Schulbücher. 25 Vgl. Anm. 21.

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förderung möglich ist, wenn kompetenzorientiertes und digitales Lehren und Lernen aufeinander bezogen werden, muss eigens herausgestellt werden.26 Dass dafür ein positives Verhältnis von Lehrenden zu Digitalität, Schülerzentrierung und Kompetenzorientierung nötig ist, konnte gezeigt werden. Abschließend werden einige der Detailergebnisse vorgestellt. Dabei wird jeweils auch auf mögliche Konsequenzen aus den qualitativen Studien eingegangen, die zur Veränderung von Geschichtsunterricht beitragen könnten. a)

Hinweise für die aktuellen Digitalisierungskampagnen

Für die weltweiten Kampagnen für digitale Bildung z. B. ist das Ergebnis von Bedeutung, dass nicht technische Schwierigkeiten an sich ein Problem darstellen, sondern die Umgangsweisen, die ablehnende und tendenziell ablehnende Nutzer damit pflegen. Das Verhalten der Vollnutzer zu kennen,27 zu wissen, dass sich dieses medienkompetente Verhalten auch auf die Schüler_innen auswirkt,28 erleichtert es, im Rahmen der Digitalisierungskampagnen geeignete Maßnahmen im Bereich Service und Schulung zu entwickeln. b)

Beharrung auf den gewohnten Unterrichtsstilen

An den selektiven Nutzern zeigt sich, dass Lehrkräfte, die gewohnt sind, lehrerzentriert mit analogen Lehrmitteln zu unterrichten, digitale-kompetenzorientierte Lehr- und Lernmittel entsprechend umnutzen. Die selektiven Nutzer aus der DG z. B. bauen Elemente aus dem mBook in Arbeitsblätter ein oder projizieren ausgewählte Stellen über Beamer. Dürfen bei selektiven Nutzern Schüler_innen mit den Tablets arbeiten, fällt in den Videographien auf, dass dies an genau definierten Materialien und engen darauf bezogenen Aufgabenstellungen geschieht. Die Antworten werden auf Papier festgehalten. Gemeinsame Hefteinträge werden verfasst, die dann eine wichtige Grundlage für Prüfungen bilden. In den meisten der aufgezeichneten Stunden wird auf die Verwendung der auf Differenzierung, Individualisierung oder Kollaboration gerichteten Angebote im digitalen Schulbuch verzichtet. Erste Überprüfungen durch LogfileAnalysen bestätigen diesen Eindruck. Für die Schüler_innen macht es bei diesem Gebrauch wenig Unterschied, ob sie mit einem digitalen oder analogen 26 Zur doppelten Kompetenzorientierung vgl. auch Schreiber (Anm. 15). 27 Die Vollnutzer in der DG lassen sich nicht weiter von technischen Problemen stören, haben Konzepte zum Umgang mit Schwierigkeiten parat, bemühen sich, ggfs. unter Zuhilfenahme von technischem Support, um dauerhafte Problemlösungen. 28 Die Videographien zeigen: Die meisten der auftretenden Schwierigkeiten lösen die Schüler_innen selbständig und ohne jedes Aufhebens – so wie sie es auch aus ihrem außerschulischen Alltag gewohnt sind.

Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung

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Schulbuch arbeiten. Die nur geringe außerschulische Nutzung des mBooks über heimische Geräte könnte sich so erklären. Maßnahmen, die auf den Abbau lehrerzentrierten Verhaltens führen könnten, sind unter d) angeführt. c)

De-Konstruktion digitaler Lehr- und Lernmittel

Ablehnende Nutzer und die den ablehnenden Nutzern nahen selektiven Nutzer verwenden das mBook nicht nur nicht im Unterricht, sie haben sich auch nicht näher mit dessen Anlage befasst. Dies gilt vermutlich auch für manche der selektiven Nutzer, die das mBook sporadisch im Unterricht einsetzen. Hinweise darauf sind die weit auseinandergehenden Einschätzungen gerade der selektiven Nutzer dazu, ob das mBook zu schwierig oder zu leicht ist, ob die Materialien zu zahlreich oder zu selten, zu einfach oder zu kompliziert sind. Weitere Hinweise darauf, dass das Konzept des mBooks den Nutzern nicht genügend klar ist, sind die geringen Nutzungen der Autoreninterviews und der weiteren explizit auf Konstruktionstransparenz zielenden Elemente. Umgekehrt zeigt sich am Unterricht und den Interview-Aussagen der „Vollnutzer“, dass diese die Konzeption des mBooks genau erfasst haben und deshalb z. B. sehr gut einschätzen können, wann die Förderung einzelner Kompetenzen quasi dem mBook überlassen werden kann und wann die Lehrkräfte selbst aktiv werden müssen. Eine Förderung trauen sie dem Buch, so die ersten Hinweise aus den Unterrichtsanalysen und den Logfile-Daten, vor allem in Bezug auf Methoden- und Sachkompetenz zu. Die Gegenwartsrelevanz der Themen zu verdeutlichen, sahen die „Vollnutzer“ dagegen als ihre Aufgaben an. Die unterschiedlich tiefe Einsicht der Nutzertypen in die Konzeption des mBooks erklärt sich, so die expliziten Hinweise aus den Interviews und die impliziten aus den Videographien, auch aus der unterschiedlich tiefen Auseinandersetzung mit Kompetenzorientierung und digitalem Lernen. – Daraus lässt sich schließen, dass Lehrerfortbildungen besonderen Wert auf die Steigerung der Analysefähigkeit (De-Konstruktionsfähigkeit) legen sollten – bezogen auf das mBook, aber auch auf andere Lehr-Lernmaterialien. Zudem sollte die Möglichkeit eröffnet werden, in direkter Beobachtung best-practice-Beispiele einer mBook-Nutzung, die sich als Konsequenz aus der Analyse des Konzepts ergibt, zu sehen und zu diskutieren. d)

Mangelnde Sicherheit ausgleichen

Die gezielte Lehrerfortbildung ist vermutlich auch der Ort, auf ein weiteres Ergebnis der Interviewstudie zu reagieren, den Befund nämlich, dass die Vollnutzer oftmals erfahrene, die ablehnenden Nutzer dagegen unerfahrene, fachfremd unterrichtende Lehrkräfte sind. Dies lässt vermuten, dass es fachlicher Kom-

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petenzen, aber auch einer gewissen Routine im Umgang mit Geschichtsklassen und technischen Mitteln bedarf, um sich an die Herausforderung kompetenzorientierten Unterrichtens mit digitalen Medien heranzuwagen. Diese ist, so ein Ergebnis der Studien, immer auch mit schülerzentriertem und differenziertem Unterricht verbunden. Daraus könnte abgeleitet werden, dass in zukünftigen Weiterbildungen auch versucht werden sollte, einen Fokus darauf zu legen, die in digitalen Lehr- und Lernmitteln angelegten Möglichkeiten für einen schülerzentrierten Unterricht und für Differenzierung explizit herauszuarbeiten. Wieder bietet es sich an, entsprechende best-practice-Beispiele zu zeigen. An ihnen sollte herausgearbeitet werden, dass das Verständnis der Konzeption dieses Lehrmittels Sicherheit bei der Nutzung gibt und den Weg hin zu einem schülerorientierten Unterrichten stützen kann. Dafür, dass dieser Versuch durchaus erfolgreich sein könnte, spricht, dass 15 der 21 interviewten Lehrkräfte Multimedialität als Gewinn für den Unterricht betrachten.

Peter Gautschi / Martin Lücke

Historisches Lernen im digitalen Klassenzimmer: Das Projekt „Shoa im schulischen Alltag“1

Der schulische Umgang mit dem Thema „Holocaust“ steht zurzeit vor großen Herausforderungen. Er muss neue Angebotsstrukturen schaffen, weil sich das Lernumfeld substanziell verändert: Erstens „verstummen die Zeitzeugen“.2 Überlebende waren bis jetzt mit ihren Zeugenberichten zentral für die Vermittlung des Holocausts und haben die Erinnerungskulturen zu diesem Thema geprägt. Nun ergibt es sich aber, dass immer weniger Zeitzeug*innen in der Lage sind, noch persönlich über das Erlebte zu berichten. Dies bewirkt, dass der Holocaust aus dem kommunikativen Gedächtnis, das Geschichtserfahrung aufgrund von geteilten Erinnerungen mit Zeitgenoss*innen im Alltag speichert, verschwindet. Verschiedene erinnerungskulturelle Institutionen unternehmen deshalb seit Jahren große Anstrengungen, damit dieser Genozid nicht ins Vergessen gerät, dass er nicht in den „floating gap“3 fällt, sondern Eingang ins kulturelle Gedächtnis findet. Zweitens wächst die Anzahl von Medien und Materialien zum Holocaust stark. Es werden neue Quellen gefunden und öffentlich gemacht, neue Darstellungen geschrieben und neue mediale Gattungen geschaffen.4 Nachdem Zeit1 Die Pilotstudie „Die Shoa im schulischen Alltag“ wurde von folgenden fünf Institutionen durchgeführt: Erinnern.at, Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart, Leading House, Österreich; Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der PH Luzern, Schweiz; Friedrich Meinecke Institut, Didaktik der Geschichte und Center für digitale Systeme, FU Berlin, Deutschland; Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck, Österreich. Finanziert wurde die Studie im Wesentlichen vom Österreichischen Nationalfonds, von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ sowie durch Eigenmittel der beteiligten Institutionen. 2 Vgl. dazu z. B. Zehavit Gross/E. Doyle Stevick (Hrsg.): As the Witnesses Fall Silent. 21st Century Holocaust Education in Curriculum, Policy and Practice. Cham u. a. 2015. 3 Mit dem so genannten „floating gap“ wird die Lücke zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis bezeichnet. In dieser Übergangszeit zwischen den beiden Gedächtnisrahmen wird um die definitive Form und den Inhalt des kulturellen Gedächtnisses gerungen. 4 Vgl. z. B. Alina Bothe/Martin Lücke: Im Dialog mit den Opfern. Shoah und historisches Lernen mit virtuellen Zeugnissen. In: Peter Gautschi/Meik Zülsdorf-Kersting/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Shoah und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert. Zürich 2013, S. 55–74.

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zeug*innen ihre Geschichte zuerst in Filmen im Fernsehen und danach auf Tablets in einer App erzählt haben, sind sie neuerdings mittels Holographic Videos in 3D-Format in der Klasse präsent und beantworten dort die Fragen der Schüler*innen, die diese einem holographierten Zeitzeugen direkt stellen können.5 Drittens steigen die didaktischen Ansprüche bei der Vermittlung der Geschichte des Holocausts – und selbstverständlich nicht nur bei diesem Thema. Die Professionalisierung der Didaktik hat zu einer Reihe von neuen Erkenntnissen bezüglich Lehren und Lernen geführt. Gefordert wird ein kompetenzorientierter Unterricht, der die Schüler*innen unterstützt und fördert, damit sie sich neues Wissen und Können aneignen und neue Einstellungen und Haltungen aufbauen können. Dies soll auf eine binnendifferenzierte Art geschehen, bei der alle Lernenden auf ihren eigenen Wegen mit eigenen Schwerpunkten lernen können, damit auch tatsächlich eine je individuelle Identitätsentwicklung stattfindet.6 Diese Veränderungen erfordern neue Formen der Vermittlung des Themas Holocaust. Sowohl die Lehrmittelentwicklung als auch die Unterrichtspraxis haben in den letzten Jahren darauf reagiert und zum Beispiel in großer Zahl videografierte Zeitzeug*inneninterviews zum Holocaust für die Vermittlung bereitgestellt und in den Unterricht einbezogen.7 Es existieren heute unzählige Filme und Interviews mit Menschen jener Zeit, und sie sind zum Teil auch didaktisiert.8 Allerdings liegen bisher keine gesicherten Kenntnisse darüber vor, ob und wie die Beschäftigung mit diesen videografierten Zeitzeug*innen tatsächlich zu wirksamen Lernprozessen führt. In einem Pilotprojekt haben sich in den Jahren 2014–2016 Forschende aus 5 Vgl. dazu New Dimensions in Testimony – USC ICT and SFI – Classroom Concept (https:// www.youtube.com/watch?v=AnF630tCiEk, aufgerufen am 03. 05. 2018). 6 Vgl. z. B. Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht: Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2011. 7 Vgl. dazu z. B. Peter Gautschi: Videotaped eyewitness interviews with victims of National Socialism for use in schools. In: Werner Dreier u. a. (Hrsg.): Interactions. Explorations of Good Practice in Educational Work with Video Testimonies of Victims of National Socialism. Berlin 2018, S. 319–338. 8 Einen Überblick bietet Bernd Körte-Braun: „Zeugen der Shoah“ in videografierten Erinnerungsberichten. Projektschultage, DVD-Edition und Online-Plattform. In: Nicolas Apostolopoulos/Cord Pagenstecher (Hrsg.): Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt. Berlin 2013, S. 233–240. Hilfreich sind auch Juliane Brauer/Dorothee Wein: Historisches Lernen mit lebensgeschichtlichen Video-Interviews. Beobachtungen aus der schulischen Praxis mit dem Visual History Archive. In: GedenkstättenRundbrief 153 (2010), S. 9–22; Michele Barricelli: Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute als geschichtskulturelle Objektivation und seine Verwendung im Geschichtsunterricht – ein Problemaufriss. In: Hans-Jürgen Pandel/Vadim Oswalt (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach/Ts. 2009, S. 198–211.

Historisches Lernen im digitalen Klassenzimmer

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fünf verschiedenen Institutionen9 dieser Fragen angenommen und ein Forschungsprojekt lanciert, um herauszufinden, wie dieses durch videografierte Zeitzeug*innen angeregte, im regulären Geschichtsunterricht in Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz stattfindende, historische Lernen tatsächlich abläuft und was es bewirkt. Dieses Wissen soll Hinweise geben, wie solche Videos und die darauf aufbauenden Lernangebote gestaltet sein müssen, damit Lernende einen größtmöglichen Nutzen aus diesem Angebot ziehen können. Da kaum sicheres Wissen über historisches Lernen in digitalen Lernumgebungen vorliegt, geschweige denn zum gesellschaftlich relevanten Bereich des Lernens über die Shoa, hat das Pilotprojekt seinen Fokus sowohl auf die Nutzung digitaler Tools gerichtet als auch darauf, wie „gutes“ historisches Lernen zur Shoa in einer solchen digitalen Lernumgebung stattfinden kann, und ob ein solches Lernen auch Auswirkungen auf die Einstellungen der Schüler*innen zum Sachgegenstand bewirkt. In diesem Beitrag werden – nach einer kurzen Darstellung des Gesamtprojektes – das beobachtete digitale Nutzungsverhalten der Lernenden beschrieben sowie beobachtbare Änderungen der Lernenden zum Sachgegenstand analysiert.

Abb. 1: Standbild aus dem Trailer zur App „Fliehen vor dem Holocaust. Meine Begegnung mit Geflüchteten“. Der Trailer findet sich auf https://vimeo.com/251810470 (aufgerufen am 12. 05. 2018). Die App kann über die einschlägigen Plattformen (App Store und Google Play) sowie auf der Website http://www.erinnern.at/app-fliehen (aufgerufen am 12. 5. 2018) für Windows-Anwendungen gratis bezogen werden.

9 Vgl. Anm. 1.

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1.

Peter Gautschi / Martin Lücke

Hauptfragestellung und Forschungsdesign

Mittlerweile hat der Holocaust durch die großen Anstrengungen, die bei der Vermittlung seiner Geschichte auf verschiedensten Ebenen geleistet wurden, in den Schulen den Status eines kanonisierten Themas bekommen.10 Zu beobachten ist dabei einerseits, dass nationale Erinnerungs- und Unterrichtskulturen transnational verflochten und in ein komplexes Wechselverhältnis zueinander gestellt werden. Konstatiert werden kann andererseits, dass auch in Zeiten der Globalisierung der nationale Rahmen für Erinnerungs- und Unterrichtskulturen prägend bleibt: andere Themen, andere Ziele, andere Herangehensweisen, andere Inszenierungen. In diesem national geprägten und gleichzeitig transnational verflochtenen Kulturraum findet tagtäglich Geschichtsunterricht statt. Hierfür strebten die Beteiligten am Projekt an, eine unterrichtliche Inszenierung anzubieten, die es Schüler*innen ermöglicht, videografierten Zeitzeug*innen zu begegnen. Die Hauptfragestellung in diesem Forschungsdesign lautet: Wie nutzen Schüler*innen videografierte Zeitzeugeninterviews von Holocaustüberlebenden im Tablet-basierten Geschichtsunterricht? Auf diese Weise kann auch die geschichtsbezogene Tablet-Nutzung als solche eruiert werden, wozu ja ebenfalls kaum Erkenntnisse vorliegen. Im Kern des Projektes stand die Unterrichtssequenz „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“. Sie wurde von den Beteiligten unter Berücksichtigung der curricularen Rahmenbedingungen in den drei Ländern Deutschland, Österreich und Schweiz für den alltäglichen Geschichtsunterricht entwickelt, wo das Thema Holocaust im Rahmen der Vermittlung des Themas Zweiter Weltkrieg mit einem beschränkten Zeitdeputat vermittelt wird. Diese unterrichtliche Intervention wurde im Rahmen einer Pilotstudie in den Ländern Deutschland, Österreich und der Schweiz mit fünf Datenerhebungen begleitet und erforscht. 1. In einer ersten Befragungsrunde eine Woche vor der Durchführung der Unterrichtssequenz „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ wurden die beteiligten Schüler*innen mittels Fragebogen zum Holocaust, zu ihrem Umgang mit Tablets und zu ihren Erfahrungen mit Zeitzeugen*innen befragt. 2. Die zweite Datenerhebung erfolgte mittels Videografierung des Geschichtsunterrichts zum Holocaust. Hier wurden die Lehrer*innen- und Schüler*innenhandlungen sowie die Kommunikation aufgenommen. 3. Die Tablets, die in der videografierten Unterrichtssequenz „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ zum Einsatz kamen, waren mit einer Trackingsoft-

10 Vgl. Gautschi/Zülsdorf-Kersting/Ziegler (Hrsg.) (Anm. 4).

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ware ausgerüstet. Somit konnte das Nutzerverhalten der Schüler*innen während des Unterrichts mit den Tablets aufgenommen werden. 4. In einer zweiten Befragungsrunde im unmittelbaren Anschluss an den Unterricht wurden die Schüler*innen mittels Fragebogen und geschlossenen Fragen zu ihren Einschätzungen des Lernprozesses und der Lernergebnisse befragt. Zudem wurden offene Fragen zum im Unterricht Erlebten und zu den Lernerfahrungen gestellt. 5. Schließlich wurden die Schüler*innen zwei Wochen nach dem Unterricht in einer dritten Befragungsrunde erneut mit Fragebogen noch einmal mit denselben Fragen wie bei der ersten Befragungsrunde zu ihren Einstellungen zum Holocaust, zu ihren Erfahrungen im Umgang mit Zeitzeug*innen und zu ihrer Einschätzung des Lernpotenzials der Tablets befragt. Die Geschichtsdoppelstunde „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ wurde an je einer Schule in den drei beteiligten Ländern im Frühjahr 2015 durchgeführt: In Berlin wurde die Unterrichtseinheit mit einer Klasse der Gemeinschaftsschule Schöneberg, in Innsbruck in einer Klasse des Bundesrealgymnasiums in der Au, in Zofingen in zwei Klassen der Bezirksschule durchgeführt. Die Klassen unterschieden sich im Anspruchsniveau und die Schüler*innen in ihrer sozioökonomischen Herkunft erheblich. Insgesamt haben 79 Schüler*innen an der Studie teilgenommen. 74 davon haben an der Geschichtsdoppelstunde mitgemacht und wurde dazu befragt. Die Schüler*innen waren zwischen 15 und 19 Jahre alt, der Durchschnitt lag bei 16,7 Jahren.

2.

Geschichtsdoppelstunde mit videografierten Zeitzeug*innen als Kern des Projekts

Die Geschichtsdoppelstunde „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“, die den Kern der Pilotstudie bildet, dauert rund 90 Minuten und vollzieht sich im „klassischen Dreischritt“ (Einstieg, Hauptteil, Abschluss), der als ein Grundmaß von Unterricht gelten kann: Zum Einstieg erläutert die Lehrperson zuerst das Thema (das „Was?“) und die Vorgehensweise (das „Wie?“): Behandelt wird der Holocaust anhand von drei unterschiedlichen Videointerviews von Überlebenden. Jede*r Schüler*in arbeitet am eigenen Tablet. Darauf finden sich alle Aufgaben, also sowohl alle Lernmaterialien als auch die detaillierten Beschreibungen der Vorgehensweisen inklusive der Fragen und Arbeitsanleitungen. Ebenso werden alle Überlegungen der Schüler*innen sowie alle Lernergebnisse auf dem Tablet festgehalten. Nach diesen einführenden Erläuterungen der Lehrperson werden die Schü-

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ler*innen zur Vierecken-Methode11 eingeladen und diskutieren danach kurz miteinander, wieso sie sich gerade zu dieser Aussage gestellt haben. Anschließend sammelt die Lehrperson aus jeder Gruppe einige Begründungen für die getroffene Wahl. Der gesamte Einstieg mit den einleitenden Erläuterungen und der Viereckenmethode dauert rund zehn Minuten. Danach leitet die Lehrperson zum etwa 50 Minuten dauernden Hauptteil der Lektion über, nämlich zur Arbeit mit den Tablets, auf denen sich einerseits die Aufgaben und andererseits die Interviews mit den Zeitzeug*innen befinden. Die Schüler*innen können sich mit einem von drei Menschen wahlweise intensiver beschäftigen: entweder mit Lissi Pressl, die 1917 in Berlin geboren wurde und dann 1936 nach Cremona (Italien) und später nach Großbritannien flüchtete; oder mit Agnes Weiss-Balazs, die 1923 in Oradea (Rumänien) geboren wurde und 1944 zuerst ins Ghetto Oradea und dann ins Vernichtungslager AuschwitzBirkenau kam, wo sie 1945 durch die Rote Armee befreit wurde; oder mit Eugen Herrmann-Friede, der 1926 in Berlin geboren wurde, ab 1942 Zwangsarbeit leisten musste, danach verhaftet und 1945 aus der Haft in Berlin befreit wurde.12 Eine Viertelstunde vor Schluss beginnt eine abschließende Diskussion im Klassenplenum, in der unter anderem auch der Lernprozess und der Lernerfolg reflektiert werden: Was habe ich Neues gelernt? Was ist mir wichtig geworden? Was beschäftigt mich jetzt? Diese Doppelstunde „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ ist gekennzeichnet durch einen großen Anteil an Einzelarbeit, während der die Schüler*innen mit Kopfhörern an ihren Tablets ruhig arbeiten. Der Unterricht lässt sich als aufgabenbasiert charakterisieren; er ist durch zwei Phasen von fragendentwickelndem Unterricht zu Beginn und am Schluss der Doppelstunde eingerahmt.

11 Vgl. dazu z. B. Peter Gautschi: Geschichte lehren. Lernwege und Lernsituationen für Jugendliche. 6. Aufl. Aargau 2015, S. 189. Als Aussagen wurden ausgewählt: 1) Der Holocaust hat mit mir und meiner Generation nichts mehr zu tun. 2) Der Holocaust ist ein so bedeutendes Ereignis, dass ich mich auch wiederholt damit beschäftigen möchte. 3) Die Erinnerungen eines einzelnen Menschen helfen mir nicht, die Geschichte zu verstehen. 4) Über ZeitzeugInnen-Interviews bekomme ich neue Einblicke in die Geschichte. 12 Die drei Interviews stammen von der DVD „Zeugen der Shoah“ und sind auf knapp 30 Minuten gekürzt. Die Kurzbeschreibung der Zeitzeug*innen wurde dem entsprechenden Begleitheft entnommen. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung und FU Berlin: Zeugen der Shoah. Fliehen, Überleben, Widerstehen, Weiterleben. Schulisches Lernen mit VideoInterviews. DVD-Begleitheft für Lehrende. Berlin 2012, S. 46.

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Abb. 2: Mit der App „Fliehen vor dem Holocaust. Meine Begegnung mit Geflüchteten“ werden die Geschichten von fünf Menschen erzählt, die vor den Nationalsozialisten flüchten mussten. Die Nutzer*innen können die Geschichte auswählen, die sie am meisten interessiert oder betrifft. Kurzbeschreibungen – hier zu Eva Koralnik – helfen bei der Auswahlentscheidung.

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3.

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Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht

Geschichtsunterricht dient dazu, dass Schüler*innen historisch lernen. Dies bedeutet, dass sich das Wissen, das Können und die Einstellungen und Haltungen der Schüler*innen verändern. Im heutigen Sprachgebrauch wird dies zusammenfassend als Kompetenz bezeichnet. Zu den Kompetenzen gehören neben dem fachbezogenen Wissen, Können und den fachbezogenen Einstellungen und Haltungen auch das sachbezogene Interesse und die Motivationen.13 Historisches Lernen und Kompetenzerwerb können mit verschiedenen Modellen beschrieben werden. Unabhängig vom herangezogenen Modell steht als Hauptziel des Geschichtsunterrichts die Ausbildung der narrativen Kompetenz im Zentrum. Es geht im Kern darum, Schüler*innen zu befähigen, historische Erzählungen zu verstehen und selber historische Erzählungen zu entwickeln. Am intensivsten tun sie dies in der geschilderten Unterrichtssequenz, indem sie das Interview zusammenfassen, das sie auf dem Tablet studiert haben. Hier zeigen sich bei den Schüler*innen trotz derselben Grundlagen große Unterschiede. Die einen beginnen ihre Zusammenfassung mit der Charakterisierung ihres Erkenntniszuwachses: „Agnes Weiss-Balazs erzählt in ihrem Interview, wie sie die Zeit des Holocaust erlebt hat…“ (CH4B18). Andere konzentrieren sich auf die Ereignisgeschichte auf der Mikroebene („Frau Pressl konnte lange Zeit als Jüdin in Deutschland eine ganz normale Schule besuchen…“, CH4E17) oder auf der Makroebene („Vor der Machtergreifung Hitlers war alles ganz normal; es interessierte also niemanden, ob man nun Jude oder Nichtjude war…“, CH4E18). Selbstverständlich unterscheiden sich die Zusammenfassungen auch hinsichtlich der Länge, der zeitlichen und örtlichen Markierungen, der genannten Personen und insbesondere auch hinsichtlich der Ursachen und Folgen beim Erzählten. Insgesamt ermöglicht das Lernsetting den Schüler*innen jedenfalls das Zeigen ihrer narrativen Kompetenz: „Lissi Pressl, die hier interviewt wurde, ist eine Überlebende des Holocaust. Sie erzählt von ihren Erinnerungen und Erfahrungen, die sie in der Nazi-Zeit machte. Viele schlimme Dinge sind passiert, zum Beispiel, dass sie ihren Bruder und ihre Mutter zurücklassen musste, die dann erschossen wurden. Als der Krieg vorbei war, wollte sie wieder nach Hause, nach Ostberlin“ (ibk6). Die narrative Kompetenz wird bei verschiedenen Kompetenzmodellen auf unterschiedliche Art und Weise ausdifferenziert: Im Kompetenzmodell „Guter

13 Vgl. dazu z. B. Klaus Joller-Graf u. a.: Leitartikel zum kompetenzorientierten Unterricht. Begriffe – Hintergründe – Möglichkeiten. Luzern: Entwicklungsschwerpunkt Kompetenzorientierter Unterricht. Luzern 2014, hier v. a. S. 6–7.

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Abb. 3: Die Nutzer*innen der App „Fliehen vor dem Holocaust. Meine Begegnung mit Geflüchteten“ werden im Verlauf ihrer Begegnung mit den Menschen mit einer Reihe von Auswahlentscheidungen, Materialien und Aufgaben konfrontiert. Das, was die Nutzer*innen festhalten, wird in einem Album – einem Portfolio – festgehalten. Am Schluss der Arbeit mit der App verschicken die Nutzer*innen ihr Album mit einem Begleitkommentar per Mail an eine_n Adressat*in ihrer Wahl, in schulischen Zusammenhängen auch an die Lehrkraft.

Geschichtsunterricht“14 werden vier Probleme identifiziert, mit denen Individuen konfrontiert sind, wenn sie historisch lernen, und dem entsprechend vier Kompetenzbereiche bezeichnet, die in ihrem Zusammenspiel narrative Kompetenz ausmachen: Wahrnehmungs-, Erschließungs-, Interpretations- und Orientierungskompetenz. 14 Vgl. Gautschi (Anm. 6).

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Wahrnehmungskompetenz kommt in der hier beschriebenen Unterrichtssequenz in erster Linie bei der Betrachtung der Behauptungen in der ViereckenMethode sowie bei der Auswahl des Zeitzeugeninterviews zum Tragen. Erschließungskompetenz spielt in der Doppelstunde „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ bei der Betrachtung der Kurzinterviews eine große Rolle, aber auch beim Studium der längeren Interviews müssen die Schüler*innen erschließen, Notizen machen, Zitate auswählen. Interpretationskompetenz hat vor allem bei der Zusammenfassung, die die Schüler*innen zu den videografierten Zeitzeug*inneninterviews machen, große Bedeutung. Orientierungskompetenz nutzen die Schüler*innen zum Beispiel dann, wenn sie begründen, etwa, wieso sie sich in der Vier-Ecken-Methode zu welcher Behauptung gestellt haben oder wieso sie welches Zitat ausgewählt haben. Auch bei der abschließenden Schlussdiskussion äußern die Schüler*innen eigene Werturteile. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Schüler*innen in dieser Doppelstunde „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ zu einem vollständigen Lernprozess angeleitet werden, der ihre narrative Kompetenz in vielen Facetten fordert und fördert und ihnen damit ein gutes Angebot für historisches Lernen bietet. – Im Folgenden soll nun dargelegt werden, wie die Schüler*innen das unterrichtliche Angebot beurteilen und wie sie es nutzen.

4.

Einblick in den Unterricht aus Sicht der Schüler*innen

Um die Beurteilung des unterrichtlichen Angebots und des Lerngewinns der Schüler*innen zu erheben, wurden diese unmittelbar nach der Unterrichtsdurchführung mittels Fragebogen zu ihrer Selbsteinschätzung befragt. Seit der Studie „Guter Geschichtsunterricht“15 sind empirisch zwei Konstrukte mit elf Fragen validiert, die verlässlich Auskunft geben, ob die Schüler*innen Geschichtsunterricht als „gut“ einschätzen. Folgende sieben geschlossene Aussagen, zu deren Einschätzung eine vierstufige Skala vorgegeben ist, werden für die Beurteilung des Lernprozesses herangezogen: – In dieser Geschichtsstunde hat mich die Sache so fasziniert, dass ich mich voll einsetzte. – In dieser Geschichtsstunde wollte ich den Stoff wirklich verstehen. – In dieser Geschichtsstunde bin ich die ganze Zeit über gut mitgekommen. – In dieser Geschichtsstunde habe ich darauf geachtet, dass ich die Sache wirklich verstehe.

15 Ebd.

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– In dieser Geschichtsstunde habe ich genau aufgepasst, damit ich das Wichtigste behalte. – In dieser Geschichtsstunde überlegte ich mir, was zu tun ist und wie ich genau vorgehen soll. – In dieser Geschichtsstunde habe ich sofort erkannt, was ich tun oder antworten muss. Folgende vier geschlossenen Fragen, für deren Beantwortung eine sechsstufige Skala vorgegeben ist, werden für die Beurteilung des Lernergebnisses herangezogen: – Hast du in der vergangenen Stunde (eher) viel oder (eher) wenig gelernt? – Hast du den durchgenommenen Stoff (eher) verstanden oder (eher) nicht verstanden? – Bist du mit deinem Lernergebnis (eher) zufrieden oder (eher) unzufrieden ? – War diese Geschichtsstunde für dich (eher) interessant oder (eher) langweilig? Mit den Antworten wurde im Projekt „Guter Geschichtsunterricht“ auf Ebene der einzelnen Lernenden für beide Sachverhalte mit den bei der Faktorenanalyse ermittelten Faktorwerten jeweils ein gewichteter Summenindex berechnet. Als Gewichte dienen die empirisch ermittelten Faktorenladungen. Damit können nun für alle Lernenden die jeweiligen Werte der einzelnen Skala multipliziert und addiert werden. Anschließend werden in einem weiteren Schritt beide Skalen gemäß dem Spektrum der Antwortvorgaben ihrer Ursprungsitems transformiert, für den Bereich „Prozess“ auf die Vierer-Skala (1–4), für den Bereich „Ergebnis“ auf die Sechser-Skala (1–6). Jede*r Schüler*in erhält so einen Skalenwert auf jeder Skala. Durch diese Transformation wird es möglich, die Wertigkeit der Aussagen der Ursprungsitems bei der neu gebildeten Skala anzuwenden. Danach werden die Skalenwerte aller Schüler*innen einer Klasse addiert und zu einem Klassenmittelwert zusammengezogen. Dafür wird gemäß der Konstruktion der Ursprungsitems festgelegt, dass eine Lektion dann als „gut“ gelten soll, wenn der arithmetische Mittelwert im Bereich „Prozess“ größer oder gleich 3 und im Bereich „Ergebnis“ größer oder gleich 4 ist. Diejenigen Lektionen, die beide Bedingungen erfüllen, gelten aus Sicht der Lernenden als gute Geschichtslektionen. Für die hier beschriebenen Lektionen „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ lauten die Werte im Durchschnitt über alle drei Länder und bei 69 ausgewerteten Fragebögen für den Lernprozess 3.43 und für das Lernergebnis

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4.98.16 Das sind im Vergleich mit anderen untersuchten Lektionen hohe Werte und erlauben die Aussage, dass die beschriebene Unterrichtssequenz aus Sicht der Schüler*innen als guter Geschichtsunterricht beurteilt wird. Die Schüler*innen haben den Eindruck, dass sie durch die Sequenz viel lernen. Besondere Beachtung verdient auch der Befund, dass dies in allen beobachteten Klassen für sich betrachtet ebenfalls der Fall ist. Dies relativiert die immer wieder gerne zitierte Aussage von der dominanten Bedeutung der Lehrperson für den Geschichtsunterricht. Offenbar liegt mit der für dieses Projekt entwickelten Geschichtsdoppelstunde eine Unterrichtssequenz vor, bei dem das „Was?“ und das „Wie?“, also das unterrichtliche Angebot, lehrer*innenunspezifisch zu einer guten Nutzung der Schüler*innen führen kann – wenn diese denn wollen.

5.

Wie gehen Schüler*innen mit den Tablets um?

Das unterrichtliche Angebot „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ wird maßgeblich durch die Tablet-App bestimmt. Sie bestimmt im Hauptteil der Doppellektion das „Was?“ und das „Wie?“ des Unterrichts. Dies führt zu einer großen Klarheit und zu einer effizienten Zeitnutzung im Unterricht. Dadurch, dass die Schüler*innen in Einzelarbeit mit Kopfhörern am Tablet arbeiten, hier alles Material und alle Aufgaben zur Verfügung haben, gestaltet sich ein flüssiger und zielgerichteter Ablauf. Auch führt dieses Setting zu einer großen Disziplinierung der einzelnen Schüler*innen: „Ich fand es gut, mit den Tablets zu arbeiten; man konnte sich gut konzentrieren, und es war eine gute Arbeitsatmosphäre“ (CH4B08). Durch diese Art von Unterricht, der in Bezug auf die Grundform als „aufgabenbasiert“ bezeichnet werden kann,17 ist die Lehrperson frei, mit einzelnen Schülern*innen zu sprechen und sie durch motivierende Mittel, z. B. durch Anerkennung oder Konzentration aufs Positive, zu verstärken. Zudem hat die Lehrperson Zeit, mit einzelnen Schülern*innen länger zu diskutieren und auf ihre Anliegen einzugehen. Die Aufgabenvorgabe auf der App gewährleistet einen anregenden, aktivierenden und angepassten Unterricht. Die Schüler*innen werden gesteuert, sind aktiviert, eigenaktiv und kognitiv herausgefordert. Zudem wird das Gelernte auf dem Tablet zuverlässig gesichert: „Es ist eigentlich wie einen Film schauen. Man hört, versteht, notiert, löst eine Aufgabe und lernt dabei sogar noch etwas“ (CH4E18). 16 Alle Berechnungen wurden von Roland Künzle mit SPSS gemacht. Wir danken herzlich für die sorgfältige Arbeit. 17 Unterrichtsformen nach Peter Gautschi: Geschichte abwechslungsreich unterrichten. In: Karin Fuchs u.a: Zeitreise 1. Begleitband. Ausgabe für die Schweiz. Baar 2016.

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Abb. 4: Die Nutzer*innen der App „Fliehen vor dem Holocaust. Meine Begegnung mit Geflüchteten“ werden im Verlauf ihrer Begegnung mit den Menschen mit einer Reihe von unterschiedlichen Aufgaben konfrontiert. Dabei werden medienspezifische Formate umgesetzt, hier z. B. Drag & Drop anhand des Zeitstrahls.

Eine Stärke des Settings liegt sicher in der Klarheit und Strukturiertheit. Dies ermöglicht eine Konzentration auf das Wesentliche, nämlich auf die Begegnung mit den Zeitzeug*innen. Auch sind die Erwartungen klar ausgedrückt, die Aufgaben sind schriftlich gestellt und ermöglichen dadurch ein sinnvolles Vorgehen. Durch die Struktur der App und dank der linearen Nutzerführung ist insgesamt also eine große Inhalts-, Ziel- und Prozessklarheit vorhanden. Eine weitere Stärke des Settings liegt darin, dass die Lernenden innerhalb bestimmter Vorgaben selber entscheiden können, was sie lernen und auf welche

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Art und Weise sie es tun wollen. Der Unterricht bietet den Lernenden also Freiräume für ihre eigenen Interessen und Begabungsschwerpunkte sowie für ihre Selbststeuerung. Und die Lernenden haben diese Freiräume genutzt. So wurden denn die unterschiedlichen Zeitzeug*innen in den drei beteiligten Ländern ganz verschieden gewählt. Lissi Pressl, deren Erzählung als Fluchtgeschichte diente, wurde in der einen Schweizer Klasse am meisten und in der anderen Schweizer Klasse gar nicht gewählt. Dagegen wählten die Deutschen Schüler*innen in erster Linie die Geschichte von Eugen-Hermann-Friede, der Widerstand gegen die Nazis geleistet hat, und die Österreicher Schüler*innen interessierten sich in erster Linie für Agnes Weiss-Balazs, die das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt hat. Auch wählten mehr als die Hälfte der Mädchen Agnes Weiss-Balazs. Betrachtet man die Verteilung der gewählten Zeitzeugeninterviews über alle drei Länder, so ergeben sich folgende Zahlen: Lissi Pressl wurde 21 Mal gewählt, Eugen-Hermann-Friede 25 Mal und Agnes Weiss-Balazs 28 Mal. Aber nicht nur beim „Was?“ zeigten sich erhebliche Unterschiede in Bezug auf die Nutzung desselben unterrichtlichen Angebots, sondern auch beim „Wie?“. Die Tablet-App wurde so programmiert, dass es über Logfiles möglich ist, das Nutzungsverhalten von Schüler*innen am Tablet zu verfolgen. So können z. B. die Befehle für Abspielen (Play), für Pause (Pause), die Suchbefehle (Seek), natürlich die Spieldauer (Duration of play in minutes), die Dauer der Pausen (Duration of Pause) und schließlich auch die Gesamtdauer der Arbeit mit den Tablets (Duration of session in minutes) erhoben werden.18 Die Auswertung der Nutzerdaten ergab, dass die Schüler*innen während der Bearbeitung der Zeitzeug*innen-Interviews auf dem Tablet durchschnittlich 22 Mal „Play“ gedrückt, im Schnitt 14 Pausen gemacht und 25 Mal die Suchfunktion genutzt haben. Insgesamt schauten sie im Durchschnitt rund 31 Minuten lang ein Video an und arbeiteten während zwölf Minuten, ohne dass das Video lief, was eine durchschnittliche Gesamtsessiondauer von 43 Minuten ergab. Die Standardabweichungen sind vor allem bei den Such- und Play-Befehlen sehr groß, was bedeutet, dass sich das Nutzer*innenverhalten gerade in diesen beiden Bereichen erheblich unterscheidet. Um charakteristische Muster der Nutzung zu identifizieren, wurde die reale Lernzeit auf einer Matrix auf der vertikalen Y-Achse und die Zeit im Video auf der horizontalen X-Achse übergetragen. Erfasst wurden zudem exemplarische

18 Programmiert wurde die App von Bernd Körte-Braun M.A. (CeDiS, FU Berlin) und seinen Mitarbeitenden. Ausgewertet wurden die Logfiles mittels Nutzerdateninspektion von Guido Kempter vom Interdisziplinären Forschungszentrum für nutzerzentrierte Technologien an der FH Vorarlberg.

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Nutzerhandlungen (Befehle für „Play“, „Pause“, „Suchen“ u. a.). Auf diese Weise konnten insgesamt sechs verschiedene Nutzungsmuster identifiziert werden. 1. Schüler*innen schauen das Video geradlinig und ohne große Pausen durch. 2. Schüler*innen schauen das Video geradlinig durch und suchen am Schluss bestimmte Stationen und Stellen im Video noch einmal auf. 3. Schüler*innen wechseln ab zwischen Play und Pause. 4. Schüler*innen wechseln ab zwischen Play, Pause und Suchen. 5. Schüler*innen wechseln ab zwischen Play und Pause und nutzen dann vor allem am Ende die Suche. 6. Schüler*innen spielen ab und machen Pause, ohne aber im Video zu suchen. Auch hat sich gezeigt, dass die Mädchen deutlich mehr Befehle geben als die Jungen. Sie machen öfter Pause, sie suchen häufiger und drücken demzufolge auch öfter die Play-Taste. Interessant war, dass vor allem vier Muster relativ häufig vorgekommen sind. Am meisten vorgekommen ist das Muster 3 („Play and Pause“). Praktisch gleich oft wurden Muster 4 („Play, Pause and Seek“) und 5 („Play, Pause and Seek at the End“) genutzt. Ebenfalls häufig kam Muster 1 („Play straight forward“) vor. Da die Tablets den Lernenden individuell mit einem Code zugeordnet wurden, der auch bei den anderen Erhebungen verwendet wurde, lassen sich die verschiedenen Datenquellen verknüpfen. Interessant für die Entwicklung von Tablet-Apps im Besonderen und von Lernumgebungen im Allgemeinen ist die Frage, ob es Zusammenhänge gibt zwischen den charakteristischen Mustern der Nutzung und der Beurteilung des unterrichtlichen Angebots und des Lerngewinns der Schüler*innen. Hier zeigt sich zum Beispiel, dass vermehrte Interaktion mit dem Video (Befehle für „Play“, „Pause“, „Suchen“ u. a.) mit einem besseren Verständnis einhergeht, dass aber eine längere Beschäftigung mit dem Video geringere Betroffenheit auslöst. Wie gerade dieser letzte Befund zu deuten ist, müsste im Zuge eines qualitativen Forschungsdesigns ausführlicher beleuchtet werden. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass große individuelle Unterschiede im Nutzer*innenverhalten erkennbar sind. Welche Faktoren dieses Nutzer*innenverhalten beeinflussen, kann mit den jetzt vorliegenden Daten erst in Ansätzen geklärt werden. Offenbar spielt das Geschlecht eine Rolle. Zu vermuten ist, dass auch Persönlichkeitsmerkmale oder die Instruktion durch die Lehrperson einen Einfluss haben. Denkbar wäre auch, dass Wissen und Einstellungen zum Holocaust sowie Erfahrungen im Umgang mit Zeitzeug*innen oder mit Tablets das Nutzerverhalten prägen. Zu diesen drei letztgenannten Aspekten wurden die Lernenden eine Woche vor der unterrichtlichen Durchführung der Doppelstunde „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ und zwei Wochen danach befragt.

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6.

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Ausgewählte Ergebnisse der Befragung der Schüler*innen zu Holocaust, Zeitzeug*innen und Tablets

Die 79 Schüler*innen, die an der Pilotstudie teilgenommen haben, wurden zweimal zu ihrem Umgang und ihren Einstellungen zum Holocaust, mit Zeitzeug*innen und mit Tablets befragt. Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse aus beiden Erhebungen präsentiert. Wenn die Werte aus der Ersterhebung stammen, die eine Woche vor der Unterrichtssequenz „Begegnungen mit Zeugen des Holocausts“ durchgeführt wurde, sind sie mit „ /1.“ bezeichnet. Wenn sie aus der Zweiterhebung stammen, die zwei Wochen nach dem Unterricht durchgeführt wurde, dann sind sie mit „ /2.“ bezeichnet. Der erste Teil des Fragebogens thematisierte mit geschlossenen Fragen den Holocaust. Gefragt wurde: 1. Was weißt du über den Holocaust? 2. Was denkst du persönlich über den Holocaust? 3. Was interessiert dich persönlich am Holocaust? 4. Wo kommst du mit dem Thema Holocaust in Kontakt? Bei der Frage 2 „Was denkst du persönlich über den Holocaust?“ mussten die Schüler*innen auf einer 4-teiligen Ratingskala (von „stimme voll zu“ bis „stimme überhaupt nicht zu“) Stellung nehmen zu folgenden fünf Aussagen: a) Die Schweiz nahm während des Zweiten Weltkriegs zu wenige Jüdinnen und Juden auf. b) Jüdinnen und Juden hätten sich mehr gegen die nationalsozialistische Politik zur Wehr setzen sollen. c) Die Beschäftigung mit der Geschichte des Holocausts hilft mir Entwicklungen in der Gegenwart besser zu verstehen. d) Nach dem, was im Holocaust passiert ist, sollten wir uns für die Rechte von Minderheiten in allen Teilen der Welt einsetzen. e) Die NS-Zeit und der Holocaust haben mit mir und meiner Generation nichts mehr zu tun. Am häufigsten stimmten die Lernenden der Aussage d) „Nach dem, was im Holocaust passiert ist, sollten wir uns für die Rechte von Minderheiten in allen Teilen der Welt einsetzen“ zu (Wert 3,63 / 1.). Am wenigsten Zustimmung bekam die Aussage e) „Die NS-Zeit und der Holocaust haben mit mir und meiner Generation nichts mehr zu tun“ (Wert 2,19 / 1.). Generell fällt auf, wie wenig sich die Antworten der Schüler*innen bei beiden Erhebungszeitpunkten (eine Woche

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vor der unterrichtlichen Durchführung der Doppelstunde „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ und zwei Wochen danach) unterscheiden. Die Daten lassen sich nach verschiedensten Aspekten, zum Beispiel nach Geschlecht, nach Ländern, nach Interesse am Geschichtsunterricht oder nach Soziodaten getrennt auswerten. So zeigt beispielsweise in der Schweiz die Unterscheidung nach Migrant*innen und autochtonen Schweizer Bürger*innen, dass die Migrant*innen ausgeprägter als die Schweizer Bürger*innen finden, dass sich Jüd*innen mehr gegen die nationalsozialistische Politik hätten zur Wehr setzen sollen. Migrant*innen finden auch deutlicher als Schweizer Bürger*innen, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs zu wenige Jüd*innen aufgenommen habe. Bei beiden Gruppen fällt erneut auf, wie wenig sich die Einschätzungen zwischen den Erhebungszeitpunkten verändert haben. Auch bei der Frage 3 „Was interessiert dich persönlich am Holocaust?“ waren kaum Veränderungen der Einschätzungen zwischen den beiden Erhebungszeitpunkten feststellbar. Die Schüler*innen mussten hier erneut auf einer vierteiligen Ratingskala Stellung zu folgenden fünf Aussagen nehmen: a) Die NS-Zeit und der Holocaust sind ein Kapitel des Geschichtsunterrichts wie jedes andere. b) Brutale Verbrechen wie der Holocaust gehören nicht in den Schulunterricht. c) Der Holocaust ist eines der spannendsten Themen der Menschheitsgeschichte. d) Ich habe in der Schule bereits genug über den Holocaust gehört. e) Der Holocaust ist ein so wichtiges Ereignis, dass ich mich auch wiederholt damit beschäftigen will. Am meisten Zustimmung bekam die Aussage c) „Der Holocaust ist eines der spannendsten Themen der Menschheitsgeschichte“ (Wert 3.27 / 2.). Fast ebenso hohe Zustimmung bekam auch die Aussage e) „Der Holocaust ist ein so wichtiges Ereignis, dass ich mich auch wiederholt damit beschäftigen will“ (Wert 3.04 / 2.). Deutlich abgelehnt wurde Aussage b) „Brutale Verbrechen wie der Holocaust gehören nicht in den Schulunterricht“ (Wert 1.21 / 2.). Frage 4 thematisierte die Möglichkeiten, mit denen die Schüler*innen mit dem Thema Holocaust in Kontakt kommen. Zehn Optionen wurden vorgegeben, und die Schüler*innen mussten auf einer 4-teiligen Ratingskala einschätzen, wie oft oder wie wenig dies für sie zutrifft. Angeboten wurden: a) in Fernsehdokumentationen, b) in Spielfilmen, c) bei den Eltern und in der Familie, d) im Geschichtsunterricht, e) in anderen Schulfächern (z. B. Deutsch), f) in Zeitungen,

482 g) h) i) j)

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im Internet, in Büchern, im Freundeskreis, in Museen und an historischen Orten (z. B. Gedenkstätten).

Spitzenreiter war klar der Geschichtsunterricht (Wert 2,99 / 2.), und zwar unabhängig davon, ob Geschichte das Lieblingsfach der Schüler*innen ist (Wert 3.00 / 2.) oder nicht (Wert 2,98 / 2.). Diese Unterscheidung spielt hingegen bei Fernsehdokumentationen eine erhebliche Rolle. Wer Geschichte als Lieblingsfach bezeichnet, kommt nach eigener Einschätzung mit dem Thema Holocaust viel häufiger bei Fernsehdokumentationen in Kontakt (Wert 2.81 / 2.) als jene, die Geschichte nicht als Lieblingsfach bezeichnen (Wert 2.07 / 2.). Bei dieser Frage sind nun auch Unterschiede zwischen den Erhebungszeitpunkten ersichtlich. Die Kontakte über Internet und Bücher werden nach der Intervention deutlich höher eingeschätzt, obwohl in der Geschichtsdoppelstunde weder das Internet genutzt noch Bücher eingesetzt wurden. Allenfalls hat also der Unterricht dazu beigetragen, dass die Schüler*innen danach selber noch weiter gelernt und dazu das Internet und Bücher beigezogen haben. Der zweite Teil des Fragebogens beschäftigte sich mit Zeitzeug*innen. 5. Hast du Erfahrungen mit ZeitzeugIinnen-Interviews? 6. Was denkst du über ZeitzeugInnen-Interviews? Bei Frage 5 hatten die Schüler*innen zwei alternative Antwortmöglichkeiten (stimmt / stimmt nicht) auf folgende drei Aussagen: a) In der Schule haben wir schon mit ZeitzeugInnen-Interviews auf Video gearbeitet. b) Ich kenne ZeitzeugInnen-Interviews aus Fernsehsendungen. c) In der Schule habe ich an Gesprächen mit ZeitzeugInnen teilgenommen. Hier zeigt sich deutlich, dass es in den beteiligten Klassen kaum Schüler*innen gibt, die an Gesprächen mit Zeitzeug*innen teilgenommen haben (Wert 0,05 / 1.). Zeitzeug*innen-Interviews kannten die Schüler*innen vor der Doppelstunde „Begegnung mit Zeugen des Holocausts“ vor allem aus Fernsehsendungen (Wert 0,75 / 1.) und nach der Doppelstunde jetzt auch aus der Schule (Wert 0,87 / 2.). Das Resultat macht auch deutlich, dass sich die Schüler*innen ernsthaft mit dem Fragebogen auseinandergesetzt und ein charakteristisches Merkmal der erlebten Doppelstunde – Arbeit mit Zeitzeug*innen-Interviews auf Tablets – wahrgenommen und erkannt haben.

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Im dritten Teil des Fragebogens ging es um den Umgang der Schüler*innen mit Tablets. In Frage 7 wurde nach den Erfahrungen mit Geräten (Tablet, Smartphone, PC oder Mac) gefragt. Frage 8 lautete: Was denkst du über das Arbeiten mit Tablets im Geschichtsunterricht? Bei Frage 7 zeigte sich, dass die am Projekt beteiligten Schüler*innen Tablets sowohl zu Hause als auch in der Schule kaum nutzen (Werte 0,30 und 0,26 / 1. auf der zweiteiligen Skala: „mache ich – mache ich nicht“). Allerdings gab es zwischen den Ländern deutliche Unterschiede. Offenbar werden Tablets in der Schweizer Schule gelegentlich eingesetzt (Wert 0,53 / 1.). Kaum länderspezifische Unterschiede waren beim Umgang mit dem Smartphone erkennbar : Zuhause werden sie sehr häufig genützt (Wert 0,85 / 1.), in der Schule kaum (Wert 0,11 / 1.). PC und Mac sind sowohl zu Hause als auch in der Schule regelmäßig im Einsatz (Werte 0,90 und 0,84 / 1.). Erhebliche Unterschiede in Bezug auf das Geschlecht sind bei Frage 8 zutage getreten: Die Schüler*innen konnten hier erneut auf einer vierteiligen Ratingskala Stellung zu folgenden zehn Aussagen Stellung nehmen: a) Mit einem Tablet kann ich schnell und effektiv arbeiten. b) Arbeiten mit Tablets ist anstrengender als das Arbeiten mit dem Schulbuch. c) Ich würde gerne mit einem eigenen Tablet oder Smartphone in der Schule arbeiten. d) Lernen mit Tablets macht Spaß. e) Beim Lernen mit Tablets befürchte ich technische Probleme, die mir das Arbeiten erschweren. f) Die Arbeit mit Tablets ermöglicht mir ein vielfältigeres Lernen als mit einem Schulbuch. g) Durch die Arbeit mit Tablets werden Schulbücher, Hefte und Ordner überflüssig. h) Ich halte Tablets im Geschichtsunterricht für überflüssig. i) Ich kann längere Texte auf dem Bildschirm eines Tablets genauso gut lesen wie im Schulbuch. j) Das Wichtigste am Arbeiten mit Tablets ist die Möglichkeit im Internet zu surfen. Am häufigsten stimmten die Jungen den Aussagen d) „Lernen mit Tablets macht Spaß“ (Wert 3,59 / 2.) und a) „Mit einem Tablet kann ich schnell und effektiv arbeiten“ (Wert 3,51 / 2.) zu, und zwar deutlich stärker als die Mädchen (Wert 3,19 und 2,94 / 2.). Auch bei Frage i) „Ich kann längere Texte auf dem Bildschirm eines Tablets genauso gut lesen wie im Schulbuch“ sind deutliche geschlechterspezifische Unterschiede sichtbar : Die Jungen stimmen dem stark zu (Wert 3,30 / 2.), die Mädchen deutlich weniger (Wert 2,56 / 2.). Drei Aussagen stimmen die Mädchen stärker zu als die Jungen, nämlich b)

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„Arbeiten mit Tablets ist anstrengender als das Arbeiten mit dem Schulbuch“ (Mädchen mit dem Wert 2,41 / 2., Knaben mit 1,70 / 2.), e) „Beim Lernen mit Tablets befürchte ich technische Probleme, die mir das Arbeiten erschweren“ (Mädchen mit dem Wert 2,38 / 2., Knaben mit 1,89 / 2.) und h) „Ich halte Tablets im Geschichtsunterricht für überflüssig“ (Mädchen mit dem Wert 2,28 / 2., Knaben mit 1,89 / 2.).

7.

Perspektiven für ein mögliches Hauptprojekt

Deutschland, Österreich und die Schweiz befinden sich, was die Erinnerung an den Holocaust betrifft, in einem Übergang vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis. Dabei stellt sich die zentrale Frage, warum Erinnerung notwendig ist und wie die nachwachsenden Generationen in der Schule mit dieser Erinnerung umgeht. Der Holocaust hat mittlerweile über die Grenzen der westlichen Staaten hinaus den Status einer negativen politischen und kulturellen Norm erlangt. So legen die Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (1998, seit 2012 International Holocaust Remembrance Alliance) und das Stockholm International Forum on the Holocaust: A Conference on Education, Remembrance, and Research (2000), das Holocaust Outreach Programme der Vereinten Nationen (2005) und die Etablierung des 27. Januar – des Tags der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz – als internationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust Zeugnis davon ab, dass der nationalsozialistische Völkermord längst zum Gegenstand einer transnationalen Geschichtspolitik geworden ist. Dennoch bleibt der nationale Rahmen prägend, auch in Zeiten der Globalisierung, die ja häufig vereinfachend als eine lineare Entwicklung der Auflösung des Nationalen und fortschreitende Homogenisierung wahrgenommen wird. Die nationalen Erinnerungskulturen lassen sich aber mittlerweile nicht mehr ohne ihre transnationalen Verflechtungen verstehen. Nationale und transnationale Trends stehen in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander. Die nationale Rahmung der Erinnerung wird dabei nicht ohne weiteres aufgelöst, aber sehr wohl beeinflusst und verändert, überlagert und unterwandert von transnationalen Strömungen. So war und ist es von besonderem Interesse, Geschichtsunterricht und Erinnerungskultur zum Holocaust in drei Staaten (D, A und CH) vergleichend zu untersuchen. Hier hat die Pilotstudie nun gezeigt, dass mit videografierten Zeitzeug*inneninterviews kompetenzorientiert Geschichte vermittelt und aus Sicht der Lernenden gutes historisches Lernen angebahnt und umgesetzt werden kann. Besonders ergiebig scheint dies dann zu sein, wenn die Schüler*innen mit

Historisches Lernen im digitalen Klassenzimmer

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Tablets binnendifferenziert und auf eigenen Wegen lernen können. Schüler*innen nutzen eine solche Lernfreiheit und wählen diejenigen Aspekte aus, die sie besonders interessieren, und sie bearbeiten diese Aspekte auf je eigenen Wegen. Die Gründe, aufgrund derer die Schüler*innen ihre Wahl der Aspekte und Lernwege treffen, müssen vertiefter erforscht werden. Das lohnt sich auch deshalb, weil offenbar nicht alle Lernwege zum gleichen Lernerfolg führen. In einem Hauptprojekt – das haben die Ausführungen gezeigt – geht es also darum, den Spagat zwischen den Möglichkeiten des Einsatzes digitaler Lernumgebungen, geschichtsdidaktischen Prinzipien (die die Parameter für die Beurteilung von gutem Unterricht bieten) und dem politisch bedeutsamen Thema der Shoa verzahnt zu betrachten. Eine gute Lerneinheit greift dabei das besondere Potenzial digitaler Lernmedien auf, ,freies‘ Arbeiten in einem didaktisch klar strukturierten Lernmedium zu bieten. Gleichzeitig stellt das Medium selbst Möglichkeiten einer empirischen Beobachtung solcher Lernprozesse bereit, die sowohl eine quantitative wie auch eine qualitative Erforschung ermöglichen. Den Holocaust betrachten Schüler*innen heute nach wie vor als wichtiges Thema für den Geschichtsunterricht. Sie lernen daraus unter anderem, wie wichtig es ist, sich für die Rechte von Minderheiten in allen Teilen der Welt einzusetzen. Woher diese für heutige Gesellschaften hoch bedeutsame Einsicht kommt und wie sie im Unterricht zum Holocaust bekräftigt werden kann, muss ebenfalls weiter untersucht werden. Die Pilotstudie legt nahe, dass videografierte Zeitzeug*innen-Interviews, die den Lernenden mit Tablets zum Lernen angeboten werden, eine erfolgversprechende Möglichkeit sind.

Alfons Kenkmann

Kommentar: „Womit?“ (Digitale) Medien des historischen Lernens

Im Rahmen eines Antragsverfahrens zum „Qualitätspakt Lehre“ vor drei Jahren gab eine Abteilungsleiterin aus dem Sächsischen Kultusministerium zum Besten: Anträge zu Digitalisierung auf dem Feld der Schule seien doch von gestern, der Drops sei doch „schon lange gelutscht!“ Dies war schon damals eine völlige Fehleinschätzung – heute wirkt sie schier unglaublich. Eine jede Teilnehmerin/ein jeder Teilnehmer dieser Sektion „Womit? (Digitale) Medien des historischen Lernens“ wird den Befund teilen, dass wir uns auf unseren Arbeitsfeldern der Digitalisierung zu stellen haben. Ob dabei jedoch die in einem KMK-Strategiepapier „Bildung in der digitalen Welt“ postulierte „Kompetenzschulung durch den systematischen Einsatz digitaler Lernumgebungen“ die zwingende Zukunftsaufgabe sein wird, wird sich noch beweisen müssen. Zu oft lag die Kultusministerkonferenz mit ihren programmatischen Papieren knapp an der Absturzgrenze: Man denke an die geschichtskulturelle Fanfare auf dem Historikertag in Kiel 2004, als die Parole posaunt wurde, ein jeder Schüler/eine jede Schülerin müsse den Film „Der Untergang“ gesehen haben. Oder an das Papier derselben Institution zur Erinnerungskultur aus dem Jahre 2016, das Erinnerungsorte wie Babi Jar und Bautzen in bester totalitarismustheoretischer Perspektive auf einer erinnerungspolitischen Ebene gleichsetzte. In ihren einleitenden Worten zur Eröffnung hat die Moderatorin der Sektion auf das KMK-Strategiepapier Bezug genommen und die nachhaltige Reflexion über das Papier seitens der geschichtsdidaktischen Disziplin angemahnt, biete es doch die Chance, „Fragen nach dem historischen Lernen in einer zunehmend digitalisierten Welt in den Fokus der Gesellschaft zu stellen“. Auch Charlotte Bühl-Gramer hatte bereits in ihrem einleitenden Vortrag zur Tagung auf die neuen Möglichkeiten hingewiesen, die sich aus der Digitalisierung für den Stellenwert unserer Disziplin ergeben: „Medien – und zwar analoge wie digitale – und ihre gesellschaftliche Rolle in Bezug auf Öffentlichkeit, Teilöffentlichkeiten, Kommunikation und Partizipation im Wandel kennenzulernen“. In den Fokus gestellt werden sollte mit Astrid Schwabe nicht das Lernen mit digitalen Medien,

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sondern das Lernen an und über digitale Medien. Damit wird die Frage nach dem didaktischen Mehrwert ihres Einsatzes im Vergleich zu analogen Quellen in das Zentrum der Arbeit mit digitalen Medien im Geschichtsunterricht gestellt. Die im Rahmen der Sektion präsentierten Projektvorstellungen hatten einen starken empirischen Kern. Dieser ist auch geboten, ist doch der Mangel an empirischer Forschung zum historischen Lernen im Digitalisierungsprozess evident. Im komparativen Zugriff wurden die Chancen und Probleme historischen Lernens im digitalen Gewande entfaltet. Was wurde vorgestellt und diskutiert? Den Anfang machten die beiden ähnlich strukturierten empirischen Forschungsvorhaben von Christoph Kühberger gemeinsam mit Roland Bernhard und Waltraud Schreiber. In ihrem Vortrag widmeten sich die österreichischen Kollegen empirisch der „Verwendung traditioneller und digitaler Medien im Geschichtsunterricht“. Sie versuchten der Frage nachzugehen, inwieweit digitale Medien im Unterricht konkret ihren Platz gefunden haben und inwiefern sie alte Formate zu verdrängen wussten oder mit ihren Versuchen scheiterten. Mit der Forschungsverschränkung von qualitativ-quantitativer Analyse und mittels der „teilnehmenden direkten Beschreibung“ – man ging nahezu wie ein Ethnologe vor 100 Jahren ins Feld – wurde herauszufinden versucht, ob und inwiefern die digitalen Medien die traditionellen Medien, sprich das Schulbuch, aufgelöst bzw. verdrängt haben. Insgesamt wurden unter der Mitwirkung von 1.048 Schülerinnen und Schülern an Mittel- und Hauptschulen 2.430 Minuten Geschichtsunterricht aufgezeichnet. Wie sah das Ergebnis u. a. aus? In den untersuchten österreichischen Schulklassen wurde fast drei Viertel der Zeit mit traditionellen Medien (Schulbuch) verbracht (davon wieder knapp 40 Prozent der Zeit mit dem Lesen von Schulbuchartikeln); 17 Prozent der Zeit mit digitalen Medien. Von den sogenannten digitalen Medien mit Abstand am meisten genutzt wurden PC und Beamer, auf denen dann vor allem wiederum traditionelle Materialien wie Bilder und Dokumentationen in der Regel frontal an die Adressatinnen und Adressaten gebracht wurden. Die Studie offenbart: Von der digitalen Revolution ist der österreichische Geschichtsunterricht Lichtjahre entfernt – der dominante Einsatz des Geschichtsschulbuchs ist ungebrochen. Die ganze Hoffnung digitaler Erneuerung im österreichischen Geschichtsunterricht wird nun auf die heranwachsende jüngere Lehrkräftegeneration projiziert. Hier ist die Disziplin gefordert – an der Universität wie in der Lehrkräftefortbildung. Mit Fokus auf das unter ihrer Leitung entwickelte „mbook“ widmete sich dann Waltraud Schreiber dem multimedialen „Schulgeschichtsbuch in der Anwendung. Wie Empirie hilft, Geschichtsunterricht besser zu verstehen“. Hier handelt es sich um ein Gemeinschaftsunternehmen der Leuphana Universität Lüneburg, der Eberhard-Karls Universität Tübingen und der Katholischen Universität Eichstätt, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung

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unterstützt wurde. Die Reform des Rahmenlehrplans Geschichte der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien machte es möglich, im Rahmen des auf fünf Jahre avisierten Projekts den Versuch zu starten, inwiefern die mbook-Nutzung zur Kompetenzentwicklung und Wissensausprägungen bei Kindern und Jugendlichen der deutschen Sprachgemeinschaft in Belgien beizutragen in der Lage ist. Hierfür wurden die Logfiles arbeitsaufwendig codiert, um zu „Nutzungsprotokollen“ und darüber hinaus zu „Nutzungsmustern“ zu gelangen. Zusätzlich wurden/werden 31 leitfadengestützte Interviews mit Lehrkräften geführt und 24 Unterrichtsstunden videoanalysiert – zwölf vor Einsatz des mbooks, zwölf nach dem Einsatz des mbooks. Dabei wurde – sozusagen auf der Nebenstrecke – ein weiteres Resultat sichtbar : Das digitale Schulbuch wird von Lehrkräften auch über den Beamer für einen traditionell lehrergestützten Frontalunterricht genutzt. Im Ergebnis identifizierten die Projektverantwortlichen vor allem durch die Interviews mit Lehrkräften unterschiedliche Nutzertypen: den „Vollnutzer“ des mbooks, den „selektiven Nutzer“ und den „ablehnenden Nutzer“. Die Vollnutzer, bisweilen wurde auch das Wort „Vollchecker“ gebraucht, sind nicht die Lehrkräfte, die das Lehrmittel am häufigsten nutzen, sondern die, die Kompetenzorientierung (z. B. Zeiterfahrung) und digitales Lernen und Lehren am besten verstehen. Die selektiven Nutzer sind weder firm in Bezug auf die Kompetenzorientierung noch auf digitales Lernen und Lehren. Die ablehnenden Nutzer sind eine gemischte Gruppe mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Martin Lücke stellte das trinationale Forschungsprojekt „Die Shoah im schulischen Alltag“ mit deutschen, schweizerischen und österreichischen Kollegen vor. Hierbei ging es um das Feld historischen Lernens im Klassenzimmer. Ziel des Projekts war es, herauszufinden, wie die Prozesse historisches Lernens beim/bei der einzelnen Lernenden tatsächlich verlaufen, die/der auf einer für Tablets konstruierten App videografierten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen begegnet, und was es bei den Unterrichteten bewirkt. Empirisch ausgewertet wurde eine 90-minütige Unterrichtssequenz, basierend auf drei auf 30 Minuten gekürzten Videointerviews mit Holocaustüberlebenden aus dem „Visual History Achive“ der Shoah Foundation. In diesem Projekt wurden zusätzlich die Einstellungen, Erwartungen, Voraussetzungen und Lernergebnisse bzw. historischen Erzählungen der Lernenden dreifach erhoben: wenige Tage davor, unmittelbar nach der Unterrichtsstunde und 14 Tage später. Mit der Unternehmung wurde zusätzlich das Ziel verfolgt, „wie ein digitales Medium, in diesem Fall ein Tablet, auch Zugriff auf die Beobachtbarkeit von Unterricht bietet“. Bei einer solchen Methode sind wir nicht mehr weit vom „gläsernen Schüler“/von der „gläsernen Schülerin“ entfernt. Zu den Teilbefunden zählte:

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– Mit Tablets kann man binnendifferenziert auf eigenen Wegen lernen. – Die Annahme einer dominanten Bedeutung der Lehrperson wurde relativiert. Aber dennoch bleibt der sehr ernüchternde Befund: Das neue Lerndesign veränderte nur marginal das Wissen und die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler. Außerdem wurde in der Diskussion die Frage aufgeworfen, inwiefern bei dieser Unterrichtsmethode digitaler Einzelarbeit das partizipative Moment nicht zu kurz komme: Das Eintippen in die Tasten ersetze doch die sehr gewünschte Kommunikation im Klassenzimmer. Wollen wir das wirklich? Ist das der digitale Mehrwert? Maren Tribukait vom Georg Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung widmete sich dem Thema „Die Medialität des Geschichtsunterrichts. Zwischen digitalen Angeboten und geschichtsdidaktischen Herausforderungen“.1 Sie hinterfragte den geschichtsdidaktischen Medienbegriff Hans-Jürgen Pandels, der nicht zwischen Unterrichtsmitteln und -medien unterscheidet. Auch das Handbuch „Medien im Unterricht“ transportiere die Unschärfen des Begriffs weiter. Pandels Definition, in der er im genannten Handbuch Unterrichtsmedien und Medien historischer Erkenntnis gleichsetze, vernachlässige den technologischen Aspekt, lenke von der Medialität der historischen Quellen ab, schaffe kein Medialitätsbewusstsein, sondern produziere durch die mangelnde Binnendifferenzierung Medienblindheit. Tribukait plädierte in Anlehnung an den kommunikationswissenschaftlichen Medienbegriff von Thomas Mock – Unterscheidung von Medien als „Mittel der Wahrnehmung“, „Mittel der Verständigung“ und „Mittel der Verbreitung (Übertragung und Speicherung)“ – und an den kulturwissenschaftlichen von Lisa Gitelman dafür, Medien „als sozial realisierte Form von Kommunikation“ zu begreifen, die Technologien als auch die mit ihnen verbundenen kulturellen Praktiken der Kommunikation umfassen. Sie empfahl eine Nutzung kulturwissenschaftlicher Ansätze, die die „Nutzung digitaler Technologien als […] Teil vielschichtiger hybrider Medienpraktiken im Unterricht“ begreife. Überaus interessant waren ihre Beobachtungen schulischer Medienpraktiken aus dem Jahre 2014. Sie lieferten ein aufschlussreiches Beispiel aus dem niedersächsischen Schulalltag: Auf die Frage des Lehrers, welche Quelle die Schülerin denn benutzt habe, antwortete die Schülerin mit „eine PDF-Quelle“. Dieses Beispiel illustriere die Kontinuitäten und Brüche in den Medienpraktiken des Geschichtsunterrichts und die bereits eingetretene Macht der medialen Hybridität digitaler Medien: als medialer Komplex aus technischen Artefakten (Notebook, Smartphone etc.), dem Internet als Medium, durch das per Google na1 Anmerkung der Herausgeber_innen: Zu diesem Vortrag wurde keine Druckfassung eingereicht.

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vigiert wird, und verschiedenster dort eingebundener Medien wie Filmen, Audiofiles, Texten, Repositorien etc.. Ständig bestehe das Problem des Übermaßes an Informationen und die Frage der Zuverlässigkeit von Informationen – eine genuin geschichtsdidaktische Erschließung bleibt für Tribukait außen vor. Dies bedeute, dass das Internet durch seinen informellen, hybriden und permanenten Charakter seine ambivalente Wirkkraft unverändert entfalten könne. Die inhaltsorientierte (und nicht geschichtsdidaktisch kontextualisierte) Grundhaltung der Schülerinnen und Schüler werde – so die Hypothese – durch die Aufgabe zur Informationssuche im Internet zudem noch weiter bestärkt. Für die Zukunft notwendig sei die Hinführung zu einer kritischen Grundhaltung, die Orientierung in einer Zeit komplexer Wissensstrukturen liefert – mitunter mit der Lehrkraft als Navigator. Fazit: Alle vier Beiträge der Sektion sensibilisierten dafür, dass es bis heute kaum digital basierte Lernprozesse im Geschichtsunterricht gibt. Wir befinden uns auf dem Feld historischen Lernens in der digitalen Gesellschaft noch im Stadium zwischen Annäherung und Ernüchterung – so könnte der gemeinsame Befund aller Beiträge der Sektion lauten. Nimmt man die Äußerung unserer Bundeskanzlerin zur Digitalisierung am Wahlsonntag 2017 beim Wort, dies sei die „massivste Umwälzung in der Geschichte der Menschheit“, kommt einem die Ruhe unserer Disziplin in der Angelegenheit der digitalen Bildung ein wenig befremdlich daher. Aber vielleicht ist es auch gerade richtig, wenn wir uns von den aufgeregten Web 4.0-Impulsen der Consultant-Industrie nur wenig beeindrucken lassen. Ist nicht die Suche nach historischer Orientierung, um die Kategorie Jörn Rüsens aufzugreifen, auch eine Konstante des Menschen im digitalen Zeitalter? Gestattet sei noch ein abschließendes Zitat, das andeutet, dass auch im Herzen der digitalen Angebote die historische Offerte nicht außenvorbleibt: „,Annie ist im Wilden Westen‘, sagte Renata, wieder auf Mae konzentriert, ,müsste aber bald hier sein‘ […]. Renata lächelte höflich, lachte aber nicht. Mae wusste von der Unternehmenspraxis, jedes Gebäude auf dem Campus nach einer Geschichtsepoche zu benennen. Das war eine Methode, um einen riesigen Arbeitsplatz weniger unpersönlich, weniger businesslike wirken zu lassen. Jedenfalls besser als ,Gebäude 3B-East‘, wo Mae bislang [in ihrer Heimatstadt] gearbeitet hatte. […] Mae folgte Renata […] nach draußen. ,Du arbeitest in der Renaissance, da drüben‘, sagte Renata und deutete über den Rasen auf ein Gebäude aus Glas und oxidiertem Kupfer.“2 – Auch das Silicon Valley – analog wie digital – der Gegenwart und Zukunft kommt, wie es Dave Eggers in seinem Roman „Der Circle“ ausführt, nicht ohne historische Orientierungsangebote aus. Ein Sachverhalt, der uns bei der Nutzung des Digitalen zukunftsfroh stimmen sollte. 2 Dave Eggers: Der Circle. Roman. Köln 2014, S. 10f.