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German Pages [212] Year 1980
Jan Badewien Geschichtstheologie und Sozialkritik im Werk Salvians von Marseille
JAN BADEWIEN
Geschichtstheologie und Sozialkritik im Werk Salvians von Marseille
V A N D E N H O E C K & RUPRECHT IN
GÖTTINGEN
F o r s c h u n g e n zur Kirchen- und D o g m e n g e s c h i c h t e Band 32
ClP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Badewien, Jan: Geschichtstheologie und Sozialkritik im Werk Salvians von Marseille / Jan Badewien. - Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1980. (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte ; Bd. 32) ISBN 3-525-551137-1
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1980 - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Meine Beschäftigung mit altkirchlicher Geschichtstheologie reicht weit in mein Studium zurück. Sie wurde angeregt durch verschiedene Seminare von Herrn Prof. Dr. Alfred Schindler, damals Heidelberg, jetzt Bern, dem ich auch den Hinweis auf das Thema dieser Arbeit verdanke. Er hat diese Arbeit von den ersten Anfängen bis zu ihrem Abschluß begleitet und gefördert. Dafür sei ihm auch an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. Mein Dank gilt auch der Universität Heidelberg für die Gewährung eines zweijährigen Promotionsstipendiums, der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Bewilligung eines Druckkostenzuschusses, sowie dem Verleger, Herrn Dr. Arndt Ruprecht, für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte". Die vorliegende Arbeit wurde 1978 von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Sie wurde für den Druck an einigen Stellen überarbeitet, die Bibliographie wurde aktualisiert. Gewidmet sei das Buch meiner Frau und meinen Eltern, die j e auf ihre Weise das Entstehen dieser Arbeit begleitet und mitgetragen haben. Überlingen, 1980
J a n Badewien
Abkürzungen Die Abkürzungen der Standardwerke, Zeitschriften, Quellenreihen sowie die allgemeinen Abkürzungen sind dem Abkürzungsverzeichnis der T R E entnommen (zusammengestellt von S. Schwertner, Berlin 1976). Wo dort angebotene Abkürzungen für diese Arbeit nicht sinnvoll zu sein schienen, wurde die entsprechende bibliographische Angabe ungekürzt wiedergegeben. Die Abkürzungen der Quellenschriften entsprechen dem Verzeichnis bei A. Blaise, Η. Chirat, Dictionnaire Latin-Franqais des auteurs chretiens (Turnhout 1954). Abweichend davon sind die Schriften Salvians sowie die Briefe und Traktate des Pelagius und seiner Schüler wie folgt abgekürzt: Salvian: Ε = Ad ecclesiam G (im Lesetext an wenigen Stellen ,Gub') = De gubernatione Dei (Die Stellenangabe erfolgt unter Angabe des Buches und des Paragraphen) Pelagianische Dem = Div = Div leg = Doct = Honor = Vit Christ =
Schriften: Ep ad Demetriadem De divitiis De divina lege Ep de malis doctoribus et operibus fidei et de iudicio f u t u r o Ep Honorificentiae tuae De vita Christiana
Eine Stellenangabe ist nur dann mit ,S.' oder ,Sp.' versehen, wenn ohne diese Zufügung die Gefahr einer Verwechslung der Seitenzahl mit Kapitel- oder Versangaben bestanden hätte.
Inhalt
Vorwort
5
Abkürzungen
6
Einleitung
·.
I. Z u r P r o b l e m s t e l l u n g d e r A r b e i t II. Z u r B i o g r a p h i e Salvians A . Salvians H a u p t w e r k „ D e g u b e r n a t i o n e D e i " I. D e r A u f b a u 1. Der Erweis des göttlichen Handelns in der Welt 2. Der Erweis der Gerechtigkeit des göttlichen Gerichts II. L i t e r a r i s c h e r C h a r a k t e r , I n t e n t i o n , A d r e s s a t e n B . Salvians G e s c h i c h t s t h e o l o g i e u n d ihre P r ä m i s s e n I. G e s c h i c h t s t h e o l o g i e als G e r i c h t s t h e o l o g i e 1. Die Dominanz des Gerichtsgedankens 2. Die Gegenwärtigkeit des göttlichen Gerichts 3. Die Gerechtigkeit des göttlichen Gerichts 4. Urteil und Strafvollzug 5. Die Bedeutung des gegenwärtigen Gerichts für die Geschichtstheologie II. D a s G e s e t z als N o r m des G e r i c h t s 1. Der Sprachgebrauch 2. Der Inhalt des Gesetzes 3. Gesetz als Offenbarung Gottes 4. Kenntnis des Gesetzes als Verpflichtung zum Gehorsam 5. Zur Frage eines natürliche Gesetzes 6. Die Verbindlichkeit des Gesetzes 7. Glaube und Handeln 8. Das Verhältnis von altem und neuem Gesetz 9. Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Gesetzeserfüllung
11 11 14 19 19 19 22 28 31 31 31 35 38 41 45 50 51 51 52 53 59 62 67 70 72
III. Salvians G o t t e s b i l d
73
I V . C h r i s t o l o g i s c h e u n d soteriol'ogische A s p e k t e
76
8
Inhalt
C . K o n k r e t i o n e n d e r G e s c h i e h t s t h e o l o g i e Salvians
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I. Die K o n k r e t i o n e n d e r A n k l a g e I : Salvians K r i t i k an d e r L e b e n s w e i s e aller C h r i s t e n 1. Die Exposition: Buch III
81 81
2. Kritik der Schauspiele a) Die moralische Ablehnung der Schauspiele b) Ablehnung der Schauspiele wegen ihres Ursprungs im heidnischen Kult c) Die Ablehnung der Spiele aus ökonomischen Gründen d) Die theologische Begründung der Ablehnung der Spiele 3. Kritik der Sexualmoral 4. Kritik an Relikten des Götzendienstes 5. Kritik der Verfolgung der Mönche
83 86 87 88 89 93 96 98
II. Die K o n k r e t i o n e n d e r A n k l a g e I I : K r i t i k a n d e n R e i c h e n und Mächtigen 1. Die Willkürherrschaft der Herren über die Sklaven 2. Unterdrückung der Armen durch korrupte Beamte 3. Kritik der Ungerechtigkeit der Lastenverteilung 4. Kritik an der Ausnützung der Notlage der Armen durch die Großgrundbesitzer a) Patrocinium b) Kolonat 5. Rebellion und Flucht als Formen des Widerstandes gegen die Unterdrückung 6. Kritik des Klerus und der Mönche
99 100 103 106 109 109 110 111 112
III. K o n t r a s t b i l d e r z u r r ö m i s c h e n G e s e l l s c h a f t 1. Die alten Römer. 2. Die Barbaren a) Die Solidarität der Barbaren untereinander b) Die Ablehnung der Spiele durch die Barbaren c) Die Ablehnung sexueller Ausschweifungen d) Die Gottesfurcht e) Negative Äußerungen über die Barbaren f) Kritik der Schilderung der Barbaren bei Salvian
116 117 122 122 122 123 124 125 127
I V . Salvians Z i e l p e r s p e k t i v e 1. Grundzüge einer christlichen Gesellschaft 2. Der Umgang des Christen mit dem Besitz a) Der Reichtum an sich b) Der rechte Gebrauch des Reichtums c) Die Adressaten der Forderung d) Zur Motivation des Gebers e) Der Mißbrauch und seine Folgen 3. Beispiele der Verwirklichung dieser Ziele aus der biblischen Tradition a) Israel in der Wüste b) Die ersten Christen
138 139 141 141 142 145 146 147 149 149 150
Inhalt 4. Die Verwirklichung in der Gegenwart: die Religiosi 5. Konsequenzen für den politischen Bereich
9 151 157
D. Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer christlicher Geschichtsinterpretation und Theologie I. Salvians pragmatischer Umgang mit der Geschichte II. Vergleich mit zeitgenössischen gallischen Autoren III. Salvians Nähe zum Pelagianismus
163 163 167 176
1. Diskussion der Forschung 2. Ubereinstimmungen mit pelagianischen G e d a n k e n a) Willensfreiheit b) Gnade und Gerechtigkeit c) Das Gesetzesverständnis d) Die Möglichkeit, sündlos zu leben e) Übereinstimmung in einzelnen Punkten der Ethik f) Übereinstimmung im Kirchenverständnis g) Entsprechung in der Sozialkritik?
177 179 179 180 185 188 190 191 194
3. Salvians K o n z e p t i o n als Weiterentwicklung pelagianischer Ansätze . .
197
Quellen- und Literaturverzeichnis
201
Register
211
Einleitung I. Zur Problemstellung
der
Arbeit
Die größere der beiden uns erhaltenen Schriften Salvians, „De gubernatione Dei", ist von der neueren Forschung „mit ungewöhnlichem Interesse" 1 untersucht worden. Sieht man von den zahlreichen stilkritischen und rein philologisch-literaturwissenschaftlichen Arbeiten 2 ab, so hat Salvians Schrift vor allem im Blickpunkt gestanden als „die aufschlußreichste Quelle für die inneren Zustände des weströmischen Staates, die einzige, die uns den ganzen Jammer der Zeit unmittelbar in seiner grausigen Wirklichkeit sehen läßt" 3 . Als Quelle dient „De gubernatione Dei" ebenfalls für die Frage der Einstellung der Römer zu den eindringenden Germanen: Salvian gilt als der erste, der sie in ihrer Lebensweise positiv beurteilte. Vorwiegend deutsche Abhandlungen rühmen seine „Ahnung von der kommenden Bedeutung des Germanentums" 4 , während vorwiegend französische Forscher ihn deswegen als Defätisten und politischen Opportunisten kritisieren, dem jedes römische Fühlen abgehe 5 . 1
J . Vogt, Kulturwelt und Barbaren 57; es ist hier auch auf die 3 kritischen Editionen der Werke Salvians zu verweisen von C. Halm, MGH. AA 1,1, von F. Pauly, CSEL VIII und von G. Lagarrigue, SC 176 und 220. 2 L. Rochus, Les proverbes et les expressions proverbiales chez Salvien; ders., L e s j e u x de mots chez Salvien; ders., La concinnitas chez Salvien; ders., La latinite de Salvien; O. Janssen, L'expressivite chez Salvien de Marseille, vol. I: Les adverbes; ders., „Vastar e " et ses synonymes dans l'oeuvre de Salvien de Marseille; J . Schmalz, Zu Salvian. In diesem Zusammenhang sind aber auch die Arbeiten zu literarischen Abhängigkeiten und Traditionen Salvians zu nennen: C. Weymann, Paulinus von Nola und Salvianus; J . P. Waltzing, Tertullien et Salvien; G. Vecchi, In locum quendam Salviani observationes; L. Alfonsi, L'oratore Servio Sulpicio Galba in Salviano; I. Opelt, Antikes Bildungsgut bei Salvian von Marseille. 3 E. Stein, Geschichte des spätrömischen Reiches Bd. 1, 511; als Quelle wird Salvian in nahezu allen Darstellungen der Spätantike und des Untergangs des römischen Reiches herangezogen, für Gallien speziell von E. Griffe, La Gaule chretienne 11,27—37; zur Schilderung der sozialen Situation von J . Gage, Les classes sociales, 432—437. Auch viele Arbeiten speziell zu Salvian werten vor allem seine Aussagen zu Kirche, Gesellschaft und Barbaren aus. 4 So J . Fischer, Die Völkerwanderung, 173; im Tenor ähnlich W. A. Zschimmer, Salvianus, 55; A. Schaefer, Römer und Germanen, 103; heute noch B. Altaner, A. Stuiber, Patrologie, 456. 5 In der neueren Forschung v.a. P. Courcelle, Histoire litteraire, 155 und F. Paschoud, Roma aeterna, 309f., aber auch A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 29.47.62f.
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Einleitung
Wer die Gesellschaftskritik oder die Germanendarstellung Salvians zum Gegenstand seiner Untersuchung macht, fragt zumeist nach der historischen Zuverlässigkeit seiner Ausführungen und versucht, literarische Topoi, rhetorischapologetische Übertreibung und historische Tatbestände auseinander zu dividieren 6 . Wer Salvians Konzeption insgesamt thematisiert, wer ihn als „Geschichtsdenker" 7 ernst nimmt, vergleicht „De gubernatione Dei" gerne mit den anderen großen Entwürfen, die ebenfalls zur Zeit der Germanenstürme versucht haben, Antwort zu geben auf die Frage des göttlichen Weltregiments: mit den „Historiae adversus paganos" des Orosius und mit „De civitate Dei" Augustins 8 . Daneben ist Salvians Schrift in Beziehung gesetzt worden zu kleineren gallischen Gedichten, Traktaten oder Predigten, die ebenfalls Reaktionen auf die politischen Umwälzungen jener Zeit gewesen sind 9 . Diese Vergleiche haben sich weitgehend darauf beschränkt, gemeinsame oder trennende Züge herauszuarbeiten. Es ist eigentlich nirgends der Versuch unternommen worden, die so eigentümliche Verbindung von Geschichtsinterpretation, Sozialkritik und theologischen Grundstrukturen bei Salvian auf ihre innere Beziehung hin zu untersuchen, die Interdependenzen dieser je für sich bereits recht markanten Elemente deutlich zu machen und nach der Tradition dieses Gesamtgefüges zu fragen. Die vorliegende Arbeit wird versuchen, einen Schritt in diese Richtung zu gehen. Es drängt sich die Frage auf, ob Salvians Geschichtstheologie, die Ausdruck seines Weltverständnisses ist, den Keim zu einer Schärfung des Blickes für immanente Kausalitäten in sich birgt, so daß nicht mehr allein die einzelnen Christen und ihr Verhalten zum Thema werden, sondern die Gesellschaft als Kollektiv, in der jeder einzelne Verantwortung für alle trägt. Liegt etwa in seiner Interpretation der Geschichte als Weltgericht der Schlüssel dafür, daß nicht mehr allein einzelne Übertretungen des göttlichen Gesetzes angeklagt Auf den nationalen Gegensatz in der Forschung machen auch E. A. Isichei, Political Thinking, 107, D . J . Cleland, Salvian and the Vandals, 2 7 0 und Ph. B a d o t , L'utilisation, 395 aufmerksam. 6 S o besonders E. Bordone, L a societä, 3 3 6 f . , W. A. Zschimmer, Salvianus, 53 und A. Schaefer, R ö m e r und Germanen, 53f., die für historische Glaubwürdigkeit nach Abzug gewisser rhetorischer Übertreibungen votieren. P. Courcelle, Histoire litteraire, 147, betont dagegen die zugrundeliegende T o p i k . 7 H.-J. Diesner, Salvian, 149. 8 Bei M. Pellegrino, Salviano, 2 1 1 - 2 2 8 ; M. Iannelli, L a caduta, 3 - 6 und 1 3 7 - 1 4 7 ; H.-J. Diesner, Orosius und Augustinus; F. Paschoud, R o m a aeterna; Ε. A . Isichei, Political Thinking. Dazu unten S. 164—167. 9 S o E. Bordone, L a societä, 3 3 2 - 3 3 5 und M. Iannelli, L a caduta, 1 1 8 - 1 2 2 . Dazu s. u. S. 1 6 7 - 1 7 6 .
Zur Problemstellung der Arbeit
13
werden, sondern auch — wenngleich nur vereinzelt — die ungerechten Strukturen anvisiert werden? Und welche theologischen Prämissen tragen dieses Geschichtsverständnis? Lassen sich die so o f t festgestellten Unterschiede zu den Entwürfen von Augustin und Orosius vielleicht daraus ableiten, daß verschiedene, vielleicht gegensätzliche theologische Grundpositionen das Geschichtsverständnis geprägt haben und von daher auch die Rolle, die die Gesellschaft für das Verhältnis von Gott und Menschen spielt, anders bestimmt wird? Diese Richtung der Fragestellung impliziert, daß nicht die historische Verifizierung einzelner Ausführungen Salvians zur Zeitgeschichte, zur gallischrömischen Gesellschaft oder zum Lebensstil der Germanen angestrebt wird. Ebensowenig sollen die Traditionen einzelner Theologumena, literarischer Topoi oder stilistischer Besonderheiten bis zu ihren Ursprüngen verfolgt werden. Diese Probleme werden nur soweit behandelt, wie sie zum Verständnis der Gesamtkonzeption Salvians beitragen — und wie es im Rahmen dieser Arbeit zu leisten ist. Die Suche nach verbindenden Grundmustern in den verschiedenen Elementen von „De gubernatione Dei" ist nur unter der Voraussetzung sinnvoll, daß Salvians Konzeption insgesamt durchstrukturiert und von einheitlichen Zielvorstellungen geprägt ist. Die Frage nach der inneren Verbindung der einzelnen, von der Forschung zu oft isolierten Themen in Salvians Werk steht hinter allen Abschnitten dieser Arbeit. Daher sollen zunächst Aufbau und Charakter von „De gubernatione Dei" analysiert werden, dann die theologische Argumentation, die bislang wenig Beachtung gefunden hat, obgleich sie die zeitgeschichtlichen Ausführungen umschließt. Ein weiterer Teil wird sich den Konkretionen dieser Theologie, der Sozialkritik und dem Vergleich von Römern und Barbaren zuwenden und nach Salvians darin zum Ausdruck kommenden Zielvorstellungen fragen. Am Ende steht der Blick auf zeitgenössische Entwürfe. Hier soll gezeigt werden, wo Salvian verbreitete Zeitströmungen repräsentiert und wo er durchaus als eigenständig anzusehen ist. Hier soll auch die Frage nach der inneren Kohärenz seiner Konzeption neu aufgegriffen werden. Dabei wird zu fragen sein, ob zur Zeit Salvians eine theologische Richtung existierte, die diese verschiedenen Elemente zumindest ansatzweise enthielt und als Nährboden für Salvians Entwurf zu betrachten wäre. Die hier angerissenen Fragen und Probleme lassen sich nicht restlos klären, sie markieren aber die Richtung, in die sich diese Arbeit bewegt.
14
Einleitung
II. Zur Biographie
Salvians
Von Salvians Leben wissen wir wenig. Die spärlichen zeitgenössischen Zeugnisse 1 und die wenigen und nicht sonderlich präzisen Aussagen in seinen eigenen Schriften 2 geben uns nur ein undeutliches, grobgerastertes Bild von Herkunft, Werdegang und Geschick dieses Mannes. Die wenigen erkennbaren Daten sind in der bisherigen Forschung ausführlich diskutiert worden und haben ein ziemlich einheitliches Bild ergeben 3 . Als gesichert kann gelten, daß Salvian kurz vor 400 im nördlichen Gallien (Belgica I oder Germania II) 4 geboren wurde. Eine nähere Lokalisierung des Geburtsortes (Trier oder Köln) 5 aufgrund von Eigenaussagen ist nicht möglich. Salvian stammte aus der Oberschicht, wie sich aus mehreren Indizien belegen läßt: seine Werke zeigen die gute Bildung des Autors; seine Kritik der Nobilität läßt auf gute Kenntnis ihrer Lebensweise schließen, während die Schilderung der Sklaven bei allem Wohlwollen in der Beurteilung doch von Vorurteilen gegen sie durchsetzt ist 6 ; nicht zuletzt darf die Charakterisierung der Familie des jungen Verwandten, den Salvian der Mönchsgemeinschaft empfiehlt, auf die eigene Herkunft übertragen werden: „inter suos non parui nominis, familia non obscurus, domo non despiciabilis" (Ep 1,5) 7 . Auch die bitteren Sätze über die Verachtung der conversi aus reichen Familien durch ihre früheren Standesgenossen deuten auf eigene diesbezügliche Erfahrungen 8 . 1 Gennadius, Vir ill 68 (ed. Richardson S. 84f.), Eucherius, Instructiones, praef (ed. Wotke S. 66,5), Hilarius. Sermo de vita S. Honorati 19,2 (ed. Valentin S. 124). Zu dem Abschnitt des Gennadius über Salvian vgl. jetzt Ph. Badot, La notice de Gennade. 2 Ep IV; Ep I; G VI,72.78.84. 3 Die Quellen zur Biographie werden ausführlich diskutiert bei W. A. Zschimmer, Salvianus, 5—16, A. Haemmerle, Studien 1,6—11; A. Schaefer, Römer u n d Germanen, 5ff.; M. Pellegrino, Salviano, 7—26; M. Iannelli, La caduta d'un impero, 16f.; G. Lagarrigue, Salvien I (Intr.), lOff. u n d zuletzt bei H. Fischer, Salvian, 11—13. Die Ergebnisse divergieren nur unwesentlich. Die wenigen, relativ exakt zu ermittelnden Daten zur Biographie und zur Chronologie der Schriften stimmen jeweils überein, sie werden im Folgenden übernommen. 4 Nach G VI,72 und Ep. I. 5 Trier nimmt als Geburtsort L. Rochus, La concinnitas chez Salvien, 108, an, für Köln votiert A. Haemmerle, Studien 1,6. 6 Z.B. G IV,29; vgl. H.-J. Diesner, Salvian, 150 und H. Fischer, Salvian, 12, u.ö. 7 Es ist allerdings unmöglich, aus der Bescheidenheitsformel Ep IX, 15 zu schließen, daß Salvian „zumindest nicht der gallischen Hocharistokratie angehört" hat (H. Fischer, Salvian, 13), damit wird die Topik dieses Ausdrucks nicht erkannt (vgl. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 93—95). 8 G IV,32f.; auch A. Schaefer, Römer und Germanen, 7, interpretiert diese Stelle in gleicher Weise. Die Auseinandersetzung mit den Schwiegereltern, die sich in
Zur Biographie Salvians
15
Über die Ausbildung und den Beruf Salvians vor seiner Hinwendung zum asketischen Leben wissen wir nichts. Der überdurchschnittlich kunstvolle, „fast klassische" Stil 9 seiner Schriften, der in zahlreichen philologisch-literaturwissenschaftlichen Analysen erwiesen worden ist 1 0 und die Aussage des Gennadius bestätigt, Salvian sei „humana et divina litteratura instructus 1 1 , haben allgemein zu der Annahme geführt, Salvian habe eine Ausbildung in Rhetorik erhalten 1 2 . Hierfür spricht auch die polemische Abgrenzung gegen die rhetorische Literatur in der Vorrede zu „De gubernatione D e i " 1 3 — der „conversus" wendet sich auch hier gegen Moden und Werte der zeitgenössischen Gesellschaft — ein Thema, das in vielen Variationen im weiteren Verlauf dieser Schrift aufgegriffen wird. Möglicherweise hat Salvian zusätzlich eine juristische Ausbildung erhalten 1 4 — die große Bedeutung juristischer Kategorien für seine Theologie und die stark juristisch geprägte Terminologie sprechen dafür 1 5 . Ob eine solche Ausbildung aber in Afrika (Karthago) erfolgte, oder ob überhaupt ein Aufenthalt in Afrika anzunehmen ist, bleibt Hypothese 1 6 . Zu Beginn der Zwanziger Jahre des 5. Jahrhunderts heiratete Salvian Palladia, die Tochter heidnischer Eltern 1 7 . Um 425 lösen beide im gegenseitigen Einvernehmen die Ehe auf, obwohl sie mittlerweile eine Tochter (Auspiciola) haben, um ein asketisches Leben zu führen. Dieser Schritt führt zum Abbruch der Kontakte mit den Schwiegereltern Salvians, der 7 Jahre später verfaßte Brief (Ep IV) zeigt, wie sehr sich Salvian um eine Versöhnung bemüht. In die Zeit der Auflösung der Ehe fällt auch die Umsiedlung nach Südgallien — möglicherweise als Folge der Barbareneinfälle in Nordgallien, von denen Ep IX spiegelt, zeigt, daß asketisches Leben in Salvians sozialem Umkreis nicht positiv gewertet wurde. 9 J. P. Waltzing, Tertullien et Salvien, 39: ,,Le style de Salvien est correct, presque classique". Ähnlich urteilt L. Rochus, La latinite de Salvien, 136—138. 10 Vgl. die oben Anm. 2 zu Einleitung I genannten Abhandlungen. 11 Vir ill 68 (ed. Richardson, S. 85); ähnlich Eucherius, Instructiones, praef (ed. Wotke, S. 6 6 , 6 ) , zu Salvian und Vincentius: „eloquentia pariter scientiaque praeeminentibus". 12 W. A. Zschimmer, Salvianus, 9; A. Haemmerle, Studien 1,7; A. Schaefer, Römer und Germanen, 8f.; M. Pellegrino, Salviano, 14ff. 13 G praef stellt die Ziele rhetorischer Literatur den eigenen gegenüber. 14 So W. A. Zschimmer, Salvianus, 12; A. Schaefer, Römer und Germanen, 10; M. Pellegrino, Salviano, 17f.; E. Bruck, Kirchenväter und soziales Erbrecht, 105; H. Fischer, Salvian, 12 läßt die Frage o f f e n . 15 L. Rochus, La latinite de Salvien, stellt die juristische Terminologie zusammen (20-22). 16 Für einen Aufenthalt Salvians in Afrika: W. A. Zschimmer, Salvianus, 12; A. Schaefer, Römer und Germanen, 11 — 13. " Ep IV.
16
Einleitung
Salvian noch als Augenzeuge berichtet 1 8 . Diese Ubersiedlung in den Süden war kein Einzelfall, sondern viele Römer aus wohlhabenden Kreisen flohen in die gesicherten Provinzen — die Verlegung der Präfektur von Trier nach Arles ist ein deutliches Zeichen dafür 1 9 . Nach seiner conversio erscheint Salvian im Kreise der Lerinenser Mönche. Er erringt die Freundschaft bedeutender Männer: Hilarius rechnet ihn zu den Freunden des Honoratus 2 0 , Eucherius vertraut ihm — neben Vincentius — die Erziehung seiner Söhne Salonius und Veranus an 2 1 , die später beide als Bischöfe wirken 2 2 . Der Kontakt zu Eucherius und Salonius bleibt auch nach der Lerinenser Periode bestehen, wie Briefe sowie die Widmung der Schrift „De gubernatione Dei" an Salonius zeigen 2 3 . Ob Salvian direkt Mitglied der Klostergemeinschaft war 2 4 oder nur als conversus in ihrer Nähe lebte 25 , bleibt unklar. Für Letzteres sprechen zwei Punkte: Noch sieben Jahre nach der conversio lebt Salvian offensichtlich mit der Familie zusammen 2 6 ; in einer Aufzählung bekannter Lerinenser Mönche nennt Eucherius Salvian nicht 2 7 . Bereits in den Jahren bei den Mönchen von Lerinum muß Salvian die Priesterweihen empfangen haben: Hilarius nennt ihn in seiner Vita S. Honorati bereits presbyter 2 8 . Im Kloster von Lerinum finden wir eine große Zahl von Aristokraten, die aus Nordgallien geflohen sind, und hier ihren Zufluchtsort gefunden haben. F. Prinz 29 nennt neben Salvian u.a. Honoratus, Hilarius, Vincentius und Eucherius, um nur die bekannteren zu erwähnen. Für sie wird 18 G V I , 7 2 f f . , bes. 8 2 - 8 9 ( 8 4 : „ q u o d ipse uidi atque sustinui"). 1 9 F. Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich, 4 0 ; H. Fischer, Salvian, 12. 2 0 Hilarius, Sermo de vita S. Honorati 19,2, „ c a r o r u m suorum u n u s " (ed. Valentin, S. 124). 2 1 Eucherius, Instructiones, praef (ed. Wotke, S. 6 6 , 5 f . ) ; vgl. Salvian, E p VIII. 2 2 Salonius als Bischof von Genf, Veranus als Bischof von Vence. Möglicherweise bezieht sich die rätselhafte Bemerkung des Gennadius, Salvian sei „magister episcopor u m " gewesen, auf diese Erziehungstätigkeit. Dazu Ph. B a d o t , L a notice de Gennade, 3 5 4 f . , der diesen Ausdruck allerdings umfassender versteht. 2 3 In E p IX,16—20 begründet Salvian für Salonius die Pseudonymität der Schrift A d ecclesiam. 2 4 S o die ältere Forschung durchgängig: W. A . Zschimmer, Salvianus, 17; A. Schaefer, R ö m e r und Germanen, 14; M. Pellegrino, Salviano, 22, aber auch F. Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich, 53. 2 5 Ν. K . Chadwick, Poetry and Letters in Early Christian Gaul, 163. H. Fischer, Salvian, 11, läßt die Frage o f f e n . 2« E p I X . 2 7 De laude heremi 4 2 (ed. Wotke, S. 192f.). 2 » Vita S. Honorati 19,2 (ed. Valentin, S. 124). 2 9 F. Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich, 49—58.
Zur Biographie Salvians
17
das Kloster zur Fluchtburg, zum schützenden Hafen, wie es Eucherius und Vincentius beschreiben 3 0 . Vermutlich noch in Lerinum verfaßt Salvian seine Schrift „Ad ecclesiam" unter dem Pseudonym Timotheus 3 1 . Gennadius überliefert für diese Schrift den prägnanteren Titel „Adversus avaritiam". Sie dürfte zwischen 435 und 439 entstanden sein 32 . Warum Salvian Lerinum verläßt, wissen wir nicht. Im Gegensatz zu vielen anderen Lerinenser Asketen 3 3 wird er nicht zum Bischof berufen, noch Gennadius nennt ihn „apud Massiliam presbyter". Seine Empfindlichkeit inbezug auf Verletzung seiner Ehre, wie sie aus den Briefen II und VII spricht, mag hier ihre Wurzel haben. Eucherius, der kurz zuvor zum Bischof von Lyon berufen worden war, hat Salvian nur durch einen Mittelsmann grüßen lassen, statt selbst zu schreiben (wobei Salvian die Beauftragung zum Gruß sogar anzweifelt!). Salvian nimmt das zum Anlaß, Eucherius zu warnen vor „superbia" und ,,ad-rogantia", einer häufigen Begleiterscheinung einer neuen Würde. Eucherius soll sich von dem Verdacht reinigen, er habe etwas in sich verkauft um der neuen Würde willen. Auch der Brief an Aper und Verus (Ep VII) zeigt diese wunde Stelle. Sicherlich gehen die Bescheidenheitsformeln zum großen Teil auf rhetorische Gepflogenheiten zurück. Aber selbst wenn man dies berücksichtigt, bleibt, daß Salvian sich mühsam eine Theorie zurechtlegt, warum die „superiores, ut uos estis" dem „paruus", wie er sich selbst bezeichnet, gerade dadurch, daß sie ihm nicht schreiben, große Ehre erweisen und nicht etwa mangelnde Aufmerksamkeit, wie zunächst vermutet werden könnte. Zur Erhaltung seiner Selbstachtung konstruiert Salvian diese abenteuerliche, höchst sophistisch anmutende und kaum nachvollziehbare Argumentation. Erfahrungen mit Mönchen in Lerinum werden auch zu seiner Kritik geführt haben, daß zahlreiche Aristokraten sich nur dem Scheine nach bekehren, um in der Hierarchie neue, größere Ehren und Machtpositionen zu erlangen 34 . 30
Eucherius, De contemptu mundi (PL 50, 726 C), dem Sinne nach auch De laude heremi 4 2 (ed. Wotke, S. 192, 15—22); Vincentius, Commonitorium I (ed. Jülicher, S. 2,5). 31 Zur Pseudonymität vgl. das grundlegende Werk von W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum (zu Salvian 31). Interessant ist, daß auch Vincentius sich zur Herausgabe seines „Commonitorium" eines Pseudonyms bediente („Peregrinus"). Zur Pseudonymität auch H. Fischer, Salvian, 102—104, sowie G. Lagarrigue, Salvien I (Intr.), 44. 32 Zur Datierung von „Ad ecclesiam" M. Pellegrino, Salviano, 31 f. und H. Fischer, Salvian, 14f. 33 So Honoratus, Hilarius, Eucherius, Salonius, Veranus, Lupus, Faustus. 34
2
G V,52-55. Badewien, Geschichtstheologie
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Einleitung
Von Salvians Wirken in Marseille ist nichts bekannt. Zwischen 439 (der Niederlage des Litorius gegen den Gotenkönig Theoderich) und 451 (der Hunnenschlacht, die in Gub nicht erwähnt wird) verfaßte Salvian das größere der beiden auf uns gekommenen Werke: die acht Bücher „De gubernatione Dei" 3 5 , die vor allem die Grundlage der folgenden Arbeit bilden. Gennadius nennt weitere Werke, die aber verloren gegangen sind 3 6 . Ein Echo der Zeitgenossen auf die Schriften Salvians ist leider nicht nachweisbar, selbst in dem allerdings sehr schmalen Werk des Salonius findet sich nichts, was als Einfluß Salvians interpretierbar wäre 3 7 . Ab 451 verlieren sich die Spuren Salvians gänzlich, bis Gennadius um 480 mitteilt, daß der Priester „vivit usque hodie in senectute bona" 3 8 . 3 5 Nur U. Moricca, Salviano e la data del de gubernatione dei, plädiert für eine spätere Datierung, seine These wird in der Forschung einstimmig abgelehnt. Zur Frage der Datierung zuletzt ausführlich G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.), 11 — 15. 3 6 De virginitatis bono, Expositionis extremae partis libri Ecclesiastes ad Claudium, De principio Genesis usque ad conditionem hominis und viele Homilien. 3 7 Die Schriften des Salonius liegen in der Edition von C. Curti vor: Commentarii in Parabolas Salomonis et in Ecclesiasten, De Evangelio Iohannis, De Evangelio Matthaei. 3 8 Vir ill 68 (ed. Richardson, S. 85).
A. Salvians Hauptwerk „De gubernatione Dei"
I. Der Aufbau
1
Eine Untersuchung der Geschichtstheologie Salvians muß von der Analyse seiner Schrift „De gubernatione Dei" ausgehen. Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht handelt es sich bei ihr nicht nur um eine „unablässige Wiederholung der gleichen Anschauung", die den Leser ermüdet 2 , sondern um eine nach verschiedenen Aspekten vielfältig gegliederte Abhandlung, die sehr wohl Gedankenfortschritte und -entwicklungen erkennen läßt. Ziel dieses Kapitels ist es, die Argumentationsfolge sowie die Beziehungen der Argumentationen untereinander zu untersuchen. Dabei wird vorausgesetzt, daß bei einem Autor, dessen rhetorisch-literarische Fähigkeiten weit über dem Durchschnitt theologischer Schriftsteller des 5. Jahrhunderts stehen 3 , der Aufbau einer so großen Schrift nicht belanglos und zufällig ist, sondern für die Analyse des Inhalts Bedeutung erlangt. Die literarische Schulung des Autors, soll inbezug auf die Gestaltung der ganzen Schrift ernstgenommen werden — und seine Rhetorik nicht nur als Entschuldigung für Übertreibung und Schwarz-Weiß-Malerei herangezogen werden 4 .
1. Der Erweis des göttlichen
Handelns in der Welt
Salvians Schrift besteht aus 8 Büchern 5 , die sich in zwei große Teile gliedern lassen. Der erste Teil umfaßt die Bücher I und II, der zweite die Bücher 1
Stellenangaben ohne nähere Kennzeichnung beziehen sich in diesem Kapitel auf „De gubernatione Dei". 2 A. Hauck, Art. „Salvian", 4 0 4 ; ähnlich W. A. Zschimmer, Salvianus, 4 4 und W. S. Teuffei, Geschichte der römischen Literatur 111,434 den A. Schaefer, Römer und Germanen, 34, zustimmend zitiert. 3 Vgl. die philologisch-literarischen Analysen und Belegsammlungen von L. Rochus und O. Janssen (s. o. Anm. 2 zu Einleitung I). 4 So u.a. W. A. Zschimmer, Salvianus, 36f.; O. Schilling, Reichtum und Eigentum, 204; H.-J. Diesner, Salvian, 151; Ch. Favez, La Gaule, 78; F. Paschoud, R o m a aeterna, 307. 5 Gennadius spricht in seiner Notiz „Vir ill" 68 (ed. Richardson S. 85) nur von 5 Büchern „ D e praesenti iudicio". In der Literatur hat man mehrfach versucht, diese Angabe mit den vorhandenen 8 Büchern zu harmonisieren und eine Korrek-
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Salvians Hauptwerk „ D e gubernatione Dei"
III—VIII6. Der erste Teil widmet sich dem Beweis der Existenz eines göttlichen Weltregiments in der Gegenwart (1,1; vgl. 111,5). Gleich mit dem ersten Satz umreißt Salvian das zentrale Problem: „Von einigen wird gesagt, Gott sei gleichgültig und gleichsam nachlässig gegenüber menschlichen Belangen, weder behüte er nämlich die Guten, noch züchtige er die Bösen, und deshalb gehe es in unserer Zeit den Guten meistens schlecht, während die Bösen glücklich seien" (1,1)7. In Antwort auf diese These der Zweifler unter den Christen (1,1; 111,5) entwickelt Salvian in fünf Argumentationsgängen seine Antithese. Der erste Beweisgang (1,2—5) ist der weiteste. Unter Hinweis auf die heidnische Philosophie legt der Verfasser dar, daß auch außerhalb der christlichen Religion die ,gubernatio dei' grundlegender Gedanke ist. Diese Eröffnung der Diskussion beabsichtigt, auch die nur oberflächlich Christianisierten, die in Denken und Fühlen heidnisch Gebliebenen, mit einzubeziehen 8 . Plato und die Stoiker sollen beweisen, daß allein gesunder Menschenverstand Gottes Handeln in der Welt sehen und erkennen kann. Interessanter und für Salvian typischer ist der zweite Beweisgang (1,6—16). Hier diskutiert er die Prämissen seiner Gegner, um ihnen die Irrigkeit ihrer These von Grund auf klarzumachen. Dieses Verfahren wendet Salvian in seiner Schrift mehrfach an 9 . Die Gegner argumentieren mit der Evidenz: den Guten gehe es schlecht, die Bösen dagegen genössen Gutes, und sie fordern die gerechte Umkehrung dieses Mißverhältnisses (1,7). Salvian geht an diese These mit einer doppelten Frage heran: Wer sind die Guten? ,,Die Heiligen, dh die wahren und gläubigen Christen, oder die fal-
tur der tradierten Bucheinteilung vorzunehmen: A. Haemmerle, Studien I, 16; K. Richter, Die Bücherfrage bei Salvian; M. Pellegrino, Salviano, 60—64; Ph. Badot, La notice de Gennade, 3 6 1 - 3 6 5 . 6 Diese Grobeinteilung wird in der Literatur allgemein vorgenommen, so z.B. von A. Schaefer, Römer und Germanen, 47—50, M. Pellegrino, Salviano, 72, G. Lagarrigue, Salvian II (Intr.), 19—25, Ph. Badot, La notice de Gennade, 3 6 5 . Anders gliedert nur Ν. K. Chadwick, Poetry and Letters, 165, sie faßt die Bücher I—III zu einem Hauptteil zusammen, in dem Bibelzitate im Vordergrund stünden, während in IV—VIII die zeitgeschichtliche Darstellung überwiege. 7 „Incuriosus a quibusdam et quasi neglegens humanorum actuum deus dicitur utpote nec bonos custodiens nec coercens malos, et ideo in hoc saeculo b o n o s plerumque miseros, malos beatos esse" (G 1,1). 8 „Cum Christianis agimus, solus deberet sermo diuinus. sed quia multi incredulitatis paganicae aliquid in se habent, etiam paganorum forsitan electorum atque sapientium testimoniis delectentur" (G 1,1). 9 „Vgl. z.B. G 111,2 und 6.
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sehen und betrügerischen? (1,7) 1 0 . Diskussionswürdig ist selbstverständlich allein die erstgenannte Gruppe, die andern haben die Übel j a verdient, die über sie gekommen sind. Die zweite Frage lautet: Was ist Glück? Und Salvian behauptet, daß die saneti — auch gegen den Augenschein — immer glücklich sind. Zur Diskussion steht die inhaltliche Füllung des Begriffs „Glück": nicht Reichtum, Gesundheit, Stärke charakterisieren das Glück der Christen, sondern freiwillige Schwachheit, Armut, Niedrigkeit 11 . Das hier entwickelte Bild des wahren Christen, der sich freh',iiiig und freudig all seiner weltlichen Kraft und Macht entledigt, gibt Sa'vians Vorstellung von der Vita Christiana wieder: die Nachfolge Jesu und der Apostel im Kreuztragen, nicht in Herrlichkeit. Warum diese freiwillige Schwachheit Glück zu nennen ist, begründet Salvian anthropologisch. Glück definiert er — unter Entlehnung stoischen Gedankengutes 12 — als Übereinstimmung des Seins mit dem Wollen eines Menschen. Nur in der Haltung zu dem äußeren Geschick unterscheidet sich Glück von Unglück. Dem stoischen Gedankengang entsprechend bringt Salvian Beispiele aus der heidnisch-klassischen Zeit Roms: Das sparsame, allem Wohlleben abgeneigte Leben der alten Römer wurde von ihnen als Glück empfunden. In ihrer Verachtung des Reichtums werden die alten Römer Vorgänger der wahren Christen, und die ernsthaften Christen somit zu legitimen Nachkommen der heldenhaften (heidnischen) Väter, wahre Römer also (1,10—12) 13 . Erst nachdem eine grundsätzliche Klärung erfolgt ist und die Prämissen der gegnerischen These destruiert sind, so daß eigentlich gar kein Grund mehr besteht, an der göttlichen ,gubernatio' zu zweifeln, erörtert Salvian den Inhalt der These selbst, Gott vernachlässige die Welt. Er tut dies auf dreifache Weise: „ratione an exemplis an testimoniis" (I, 19). In der „ r a t i o n a l e n " Erörterung führt Salvian aus, daß jegliches Beten sinnlos wäre, richtete Gott die Welt nicht auch in der Gegenwart (1,17—26). Exemplarisch zeigt Salvian Gottesgerichte an der Urgeschichte und der Geschichte Israels in der Wüste (1,27—60). 1 0 „Primum igitur ab his qui hoc ita esse uel dolent uel accusant illud requiro: de sanetis hoc, id est de ueris ac fidelibus Christianis, an de falsis et impostoribus d o l e a n t " (G 1,7). 1 1 „Non possunt tarnen esse aliud quam beati . . . Humiles sunt religiosi, hoc uolunt; pauperes sunt, pauperie delectantur; sine ambitione sunt, ambitum respuunt; inhonori sunt, honorem fugiunt; Iugent, lugere gestiunt; infirmi sunt, infirmitate l a e t a n t u r "
(GI,8).
1 2 Vgl. dazu den Aufsatz von W. Blum, Das Wesen Gottes; zum stoischen Verständnis von Glück M. Pohlenz, Die Stoa I, 1 5 5 f . 13
Näheres dazu s. u. S. 1 1 9 .
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Salvians Hauptwerk „De gubernatione Dei"
Als Zeugnisse führt er Worte des AT sowie vereinzelt des NT an, in denen Gottes Lenken und — schwerpunktmäßig — sein Richten angesprochen werden (II).
2. Der Erweis der Gerechtigkeit
des göttlichen
Gerichts
(III—VIII)
Galt der erste Teil dem „Daß" des Richtens Gottes, so thematisiert der zweite Teil das „Wie" bzw. „Warum" dieses gegenwärtigen Gerichts. Sprach der erste Teil allgemein vom Geschick der Guten und der Bösen, so wendet sich der zweite Teil dem konkreten Thema zu, das die allgemeine Diskussion ausgelöst hatte: „Warum ist die Lage der Barbaren viel besser ids unsere?" (111,2)14. Salvian gibt auf diese Frage eine mehrschichtige Antwort 1 5 . Zunächst lehnt er jede Erörterung ab unter Hinweis darauf, daß die Frage nach dem „Warum" des göttlichen Handelns unter das göttliche Geheimnis falle und menschlichem Forschen entzogen sei 16 . Die Zusage Gottes, daß er richtet, erübrigt jede weitere Frage nach dem „Warum": „Sufficiat tibi", weist Salvian die Zweifler in ihre Schranken. Die Fragen nach der Gerechtigkeit, nach Grund und Ursache sind letztlich erledigt durch die Tatsache, daß Gott spricht. Im Gegensatz zum Menschen ist Gottes Wort sich selbst Zeugnis und bedarf nicht eines weiterführenden Beweises. Der Verweis auf das Geheimnis Gottes zeigt, daß Salvians Gottesbild — und damit auch seine Geschichtstheologie — im Ansatz nicht so flach, nicht so rationalistisch ist, wie es zunächst den Anschein hat. Zwar handelt es sich nur um einen umfangmäßig kleinen Abschnitt, aber im Aufbau des Werkes nimmt er doch eine Schlüsselposition ein. Alles weitere, die Ausführungen zur Gesellschaft seiner Zeit und ihrer Beziehung zum göttlichen Gericht, stehen unter dem Vorbehalt dieses Abschnitts und seiner Aussage, daß die Frage nach dem „Warum" in ihrer Tiefe in dem „secretum divinitatis" gründet. Nur weil Gott seinen Willen offenbart hat, kann Salvian dennoch auf die Frage nach dem „Warum" des göttlichen Gerichtes eingehen (111,5). Erst nach dieser fundamentalen Rechenschaftsabgabe über die Legitimität seines Tuns erörtert Salvian die These der Zweifler. Er verfährt dabei analog zu dem Beweisgang im ersten Teil, nur daß jetzt ein allgemein philosophischer Vorspann nicht mehr möglich ist, wo er sich dem göttlichen Ge14 15 16
„Cur melior multo sit barbarorum condicio quam nostra" (G 111,2). Dies bemerkt auch P. Lebeau, Heresie et Providence, 168. „Nescio; secretum enim et consilium diuinitatis ignoro" (G 111,2).
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heimnis nähert und von der Offenbarung und nicht mehr von der ratio her argumentiert. Wieder untersucht er zunächst die Prämisse der Anfrage: „Viele meinen, daß Christen dies gleichsam als Lohn für ihren Glauben von Gott empfangen müßten, daß sie nämlich, weil sie gottesfürchtiger als alle Völker seien, auch stärker als alle sein müßten (111,6)17. Gemäß seiner Theorie, daß christliches Leben in Schwachheit und Leiden besteht, kann er diese Aussage nicht billigen. Nur unter dem zweiten Vorbehalt, daß die ganze Fragestellung und die hinter ihr stehende Vorstellung von einer „vita Christiana" in weltlichem Wohlstand von Anfang an falsch und ein Zeichen für Unwissenheit ist, begibt er sich auf die Ebene seiner Gegner und diskutiert von ihren Voraussetzungen aus, die im Grunde nicht die seinen sind. Dieser doppelte Vorbehalt, diese Ablehnung der Grundlagen der gegnerischen Klagen, ist im Folgenden im Ohr zu behalten. Der in den weiteren Ausführungen so sehr im Mittelpunkt stehende Tun-Ergehen-Zusammenhang gibt also nicht das Ganze der Theologie Salvians wieder. Allerdings scheint Salvian selbst im Eifer des Argumentierens diese Einschränkung zu vergessen, die Gerechtigkeit des göttlichen Gerichtes ist für ihn so evident, daß er diese tiefere Dimension nicht mehr in Anspruch nimmt. Erst nach dieser doppelten, grundsätzlichen Abweisung stellt Salvian sich nun also auf den gleichen Boden wie die Zweifler, um zu zeigen, daß selbst unter Akzeptierung ihrer irrigen These ein gerechtes Richten Gottes in den Ereignissen der Gegenwart zu erkennen ist. Der erste Schritt besteht in der Prüfung, ob die Klagenden wirklich „cunctis gentibus religiosiores" (111,6) sind. Seine Frage lautet darum: „Laßt uns sehen, was das ist, treu an Gott zu glauben" (111,7)18. In der Art, wie Salvian diese Frage beantwortet, liegt seine theologische Grundkonzeption beschlossen. Die Frage nach dem Glauben ist für ihn sofort und ausschließlich die Frage nach dem christlichen Handeln. Er verlagert die Frage ganz auf das Gebiet der Ethik, andere Bereiche kommen überhaupt nicht in den Blick. Der weitere Gang der Schrift wird von diesem Ausgangspunkt bestimmt: die Prüfung findet nur auf dem Gebiet der Ethik statt 1 9 . Es folgt ein breit angelegter Vergleich der Forderungen des göttlichen Gesetzes mit dem tatsächlichen Verhalten der Christen, ein Vergleich, der die 17
„Multi . . . putant homines Christianos haec quasi stipendia fidei suae a deo capere debere ut, quia sint cunctis gentibus religiosiores, sint cunctis etiam fortiores" (G
111,6). 18
,,Sed uideamus tarnen quid sit deum fideliter credi" (G 111,7). „Opinor, fideliter hominem Christo credere, id est fidelem deo esse, h o c est fideliter dei mandata seruare" (G 111,7). 19
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Salvians Hauptwerk „De gubernatione Dei"
Absurdität der Klage evident machen soll. Dreimal setzt Salvian mit diesem Vergleich an (111,9.22.30), dazwischen stehen kurze, aber grundsätzliche Ausführungen über die notwendige Härte des Gesetzes als Leitfaden der „imitatio Christi" und des Apostels (111,16—20), über die allgemeine Gültigkeit des Gesetzes (III,20f) und über die Notwendigkeit, alle Gebote zu erfüllen und nicht nur eine nach eigenem Gutdünken zusammengestellte Auswahl (111,27—29). Der ganze Abschnitt soll den Ungehorsam der Christen aufzeigen 2 0 . Salvian zieht selbst das Fazit: „Wo sind die, die entweder in allen oder doch jedenfalls in sehr wenigen Geboten Gott Folge leisten" (111,40)21, und er spitzt den Tatbestand auf den pointierten Satz zu: „non audivimus, non audimur" (111,43). Die Argumentation gipfelt in einer Kritik an der Kirche, die aus einer „placatrix dei" zu einer „exacerbatrix dei" geworden ist, aus einer „Versöhnerin" zu einer „Verhöhnerin", wie A. Mayer in seiner Übersetzung 2 2 dieses Wortspiel Salvians widergibt, und somit ihren Auftrag durch das Leben ihrer Glieder pervertiert (111,44—49). 111,50 leitet einen neuen großen Abschnitt ein. In ihm steht die Kritik an der Oberschicht im Vordergrund (bis IV,33). Diese Ausführungen zur aktuellen Situation sind wieder gekoppelt mit theologischen Erwägungen: ob die vielen Schlechten von den wenigen Guten gerettet werden können (III, 56—60), ob es nützt, ein „nomen sanctum" zu führen (111,60—IV,6) und ob es einen Glauben ohne Werke geben kann (IV,7—9). Die Darlegung der übergroßen Schuld der Christen führt ihn — in pointierter Umkehrung des Zweifels der Zeitgenossen — zur Erkenntnis von Gottes Liebe in allem Geschehen (IV,34—53). Und so formuliert er seine Antithese: „Wie schwierig und widrig auch sei, was wir erleiden — wir erleiden weniger als wir verdienen" (IV,34) 2 3 . Hat Salvian bisher begründet, warum die christlichen Römer gerechterweise dem göttlichen Gericht ausgesetzt sind, so bringt er ab IV,54 den Gegenpol in der akuten Auseinandersetzung, die Barbaren, mit ins Spiel. Zeigten die vorangegangenen Ausführungen, daß die Römer ihr Los verdient haben, so erörtert er jetzt zusätzlich, warum die Barbaren gerechterweise siegen. Schrittweise destruiert er die auf dem Vorurteil der Superiorität der Römer gegenüer den Barbaren beruhende These seiner Gegner: die Römer sind nicht gut, 20
„Ut intellegamus nos non modo non omnibus dei obtemperare uerbis, sed nullis paene illius oboedire mandatis" (G 111,11). 21 „Ubi sunt, qui aut in uniuersis mandatis deo aut certe uel in paucissimis obsequantur" (G 111,40). 22 A. Mayer, BKV, 103. 23 „Quamlibet aspera et aduersa patiamur, minora patimur quam meremur" (G IV,34).
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Der Aufbau
sondern leben gegen Gottes Gesetz, die Römer sind nicht besser als die Barbaren, sondern schuldiger. Wiederum verknüpft Salvian theologische und gesellschaftskritische Argumentationen aufs Engste. Wieder geht es um das Gesetzesverständnis. Er versucht theoretisch die größere Schuldhaftigkeit der Römer gegenüber den Barbaren auch bei gleichen Handlungen zu beweisen (IV,57f), da die Römer das Gesetz kennen, die Barbaren aber nicht und demzufolge auch nicht sich nach ihm richten können. Die heidnischen (IV, 61—95) und die häretischen (ab V , l ) Barbaren werden gesondert abgehandelt, der systematische Ansatz ist jedoch der Gleiche. Zusätzlich zu dieser grundlegenden Argumentation die von der Relativität der Schuld ausgeht, bemüht Salvian sich aufzuzeigen, daß die häretischen Germanen (Goten und Vandalen) nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Stellung zum Gesetz weniger schuldig sind als die Römer, sondern daß sie außerdem durch ihre Lebensweise die besseren sind. Dazu stellt er einen Vergleich an, der mehrere große Themen der Ethik einbezieht, und der eindeutig zugunsten der Germanen ausgeht: Salvian diskutiert die Steuerpraxis mit ihren Folgen für die Armen und für den Mittelstand (V), die Schauspiele (VI), die sexuellen Ausschweifungen (VII), dazu kritisiert er abschließend — ohne Vergleich — Götzendienst und Verfolgung der Mönche bei den Afrikanern (VIII). Durch Einleitungen, Zwischenbemerkungen und Schlußbetrachtungen macht Salvian jedesmal deutlich, daß diese Berichte über gesellschaftliche Mißstände sowie über die bessere Situation bei den Germanen seine These von der übergroßen Schuld der Römer belegen und somit die Gerechtigkeit des göttlichen Gerichts erweisen. Theologische und gesellschaftskritisch-zeitgeschichtliche Argumentationen folgen so in stetem Wechsel aufeinander, sie sind eng aufeinander bezogen. Die beigefügte tabellarische Gliederung der Bücher V—VIII veranschaulicht dies 2 4 . 24
Theologie
Gesellschaftskritik/Zeitgeschichte
V 1—4 5 — 14 15-18 19-23 24-26 27-37 38-44
Gesetz und Sünde Geringere Schuld der Häretiker
[36: Strafe verdient]
Proskription bei Römern — Nächstenliebe bei Barbaren Flucht zu Barbaren Flucht zu Bagauden Proskription der Armen durch die Reichen Patrocinium/Kolonat
26
Salvians Hauptwerk „De gubernatione Dei"
Fortsetzung Fußnote 24: Theologie 45—50 51—55 56 57—61
Gesellschaftskritik/Zeitgeschichte
Gericht milde gemessen an der Schuld Falsche Bekehrung vieler „Religiosi" Kritik an einem einzelnen Appell zur Umkehr
VI 1-8
9-19 20-29 30-34 35-38 39-45 46-52 53-65
Bedeutung der Sünde eines einzelnen für die Gemeinschaft Kritik der Schauspiele Circus als Vergeltung für Gottes Wohltaten? Spiele Verstoß gegen Taufbekenntnis
Römer ziehen keine Konsequenzen Spiele als Beleidigung Gottes ziehen Gericht nach sich
Beispiele: Zerstörung Karthagos, gallischer Städte, bes. Triers.
66-89 90-99
Circus wird der Kirche vorgezogen Zerstörung der Städte beendet Spiele [50f: Beispiel des antiken R o m ]
Besserungsstrafe verfehlt Sinn
VII 1-6 7
Strafe wie Milde bessern die Römer nicht Thema: Handelt Gott gerecht?
8-22
23-25 26 27-33 34-39 40-44 45-48 49 50-53 54-57 58-61
Unzucht in Aquitanien u n d der Novempopulana Sittenreinheit der Barbaren Gegensatz Spanier-Vandalen Barbaren als Werkzeuge Gottes Gottes Weltgericht ist sichtbar 1. Beispiel: Niederlage des Litorius 2. Beispiel: Sieg der Vandalen wegen ihrer Gottesfurcht Fazit: Tatsachen zeigen wie Gott über Römer und Barbaren urteilt Allmähliche Eroberung als „iudicium praesens" Vandalen als Werkzeuge Gottes bei der Bestrafung Afrikas Afrikas Sünde nach Ez Laster Afrikas (Karthago)
62-80
81-83
Verantwortung aller für die Schuld eines einzelnen
27
Der Aufbau
Die Interdependenz von theologischen und zeitkritischen Ausführungen, die sich aus der Analyse der Argumentationsstrukturen ergibt, zeigt, daß eine Verabsolutierung der einen wie der anderen Komponente Salvians Denken nicht gerecht werden kann. Sie zeigt aber auch, daß Salvian sein Werk sorgsam konstruiert hat, daß es sich daher lohnt, den jeweiligen Kontext, den Bezugsrahmen eines einzelnen Arguments, eines bestimmten Terminus, zur Interpretation heranzuziehen, was in der bisherigen Forschung leider zu selten geschehen ist. In immer neuen Anläufen umkreist Salvian im 2. Teil seiner Schrift das Zentrum seiner Beweisführung: den Erweis der Gerechtigkeit des göttlichen Gerichts in der Gegenwart. Überraschend bricht das Werk VIII,25 ab. Ob der Autor den Zweck für erreicht hielt und deshalb ein Ende' setzte, ohne auf die Ankündigung zurückzukommen, sich noch ausführlicher mit den alten Römern beschäftigen zu wollen 2S , ob er durch äußere Umstände zu Abbruch der Arbeit veranlaßt wurde, oder ob die Überlieferung unvollständig ist 26 , läßt sich nicht mehr feststellen. Deutlich ist aber, daß die Argumentation mit dem Bericht von der Verfolgung der wenigen wahren Christen, der Mönche, durch die „christlichen" Römer Afrikas einen Gipfel erreicht hat, an dem das eine Argumentationsziel der Schrift erreicht ist und über den hinaus eine Fortführung nicht unbedingt geboten erscheint 27 . , Fortsetzung Fußnote 24: Theologie
Gesellschaftskritik/Zeitgeschichte
84—100
Zucht der Vandalen, ihre Gesetze zur Bekämpfung der Unsittlichkeit 101—105 [Vergleich der Gesetze der Vandalen mit Sokrates] 107—108 Niederlage der Römer bedingt durch Unsittlichkeit VIII 1—8 9—13
Zurückweisung der Anklage gegen Gott 1. Beweis: Götzendienst der (reichen) Afrikaner 2. Beweis: Verfolgung der Mönche
14—24 25 Gottes Gericht ist gerecht (Fazit) 25 Vgl. G VII,2. 26 A. Haemmerle, Studien 1,16, votiert für einen Abbruch an der Arbeit, J . Fischer, Die Völkerwanderung, 194, und G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.), 25, erwägen eine unvollständige Uberlieferung. 27 Diese Ansicht vertritt auch Ph. Badot, La notice de Gennade, 3 6 5 f . Die Länge der Schrift ist Salvian selbst bewußt geworden, er spricht von „stili huius prolixitat e m " (G VIII,1).
28
Salvians Hauptwerk „De gubernatione D e i "
II. Literarischer
Charakter,
Intention,
Adressaten
Salvians geschichtstheologisches Werk verdankt seine Entstehung ähnlichen Fragestellungen wie die entsprechenden Schriften von Augustin und Orosius. Angesichts der ungünstigen Entwicklung der politischen Situation des Imperium Romanum, angesichts des Zusammenbrechens des für ewig gehaltenen Reichs und des Hereinflutens und Sesshaftwerdens fremder, unzivilisierter Völker, zweifelten viele Christen an der Weltregierung Gottes 1 . Salvian bemüht sich, diesen Zweifelnden zu zeigen, daß überall eben das von ihnen geleugnete göttliche Weltregiment am Werk ist — als verdientes Strafgericht. Er führt diese Argumentation nicht als Historiker l a und nicht als „wissenschaftlicher" Theologe, sondern als Prediger und Seelsorger. Im Gegensatz zu Augustin und Orosius muß er sich nicht mehr „Adversus paganos" wenden, die den Christen die Schuld an dem hereingebrochenen Unglück zuschieben wollten. Er spricht allein zu Christen, wenn auch viele von ihnen „noch etwas vom heidnischen Unglauben in sich stecken" (G 1,1) 2 haben. Heiden lehnt er als Gegenüber ab — „nicht, weil ich Mangel an Beweisen hätte, sondern weil ich zweifle, daß es nützlich ist, was ich zu sagen habe" (G 111,5) 3 . Den zweifelnden Christen aber will Salvian „Heilmittel" geben, die „den Gemütern der Kranken nützen" (praef 3) 4 . Als „leidenschaftlicher Prediger" 5 liefert er zu diesem Zweck eine Schrift, die ihn als „neuen Jeremia" 6 1 Dieser Zweifel spiegelt sich in zahlreichen anderen gallischen Zeugnissen. Es seien hier nur einige genannt, die gewisse Analogien zu Salvians Schrift aufweisen: das „ C o m m o n i t o r i u m " des Orientius von A u c h , das „Epigramma S. Paulini", das anonyme „Carmen de divina Providentia", die häufig Prosper Tiro zugeschriebenen 2 Bücher „De vocatione omnium g e n t i u m " . Vgl. dazu J . Fischer, Die Völkerwanderung, der eine systematische Ordnung der gallischen Quellen aus dem 5. J a h r h u n d e r t versucht, sowie P. Courcelle, Histoire litteraire. (Näheres s.u. S. 1 6 7 f f . ) 13 M. Pellegrino, Salviano, 1 7 3 , H.-J. Diesner, Salvian, 1 5 4 ; L . F . Barmann, Salvian of Marseilles Reevaluated, 9 3 ; Ph. Badot, L'utilisation, 3 9 7 . 2 3
„Multi incredulitatis paganicae aliquid in se h a b e n t " (G 1,1). „Non quia probatione deficiar, sed quia profuturum quod loquor esse d e s p e r o "
(G 111,5). G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.), 2 5 , charakterisiert Salvians Schrift treffend „Adversus Christianos". „Remedia, quae scilicet non tarn otiosorum auribus placeant quam aegrotorum mentibus p r o s i n t " (G praef 3). 4
5
M. Pellegrino, Salviano, 8 0 .
L . Rochus, L a concinnitas chez Salvien, 1 0 8 , ders., L a latinite de Salvien, 13, J . Fischer, Die Völkerwanderung, 1 9 5 . Diese Charakterisierung geht zurück auf Gregori, E x a m e n critique des oeuvres de Salvien, Marseille 1 8 4 7 (nach Ph. Badot, L'utilisation, 3 9 6 Anm. 16. 6
Literarischer Charakter, Intention, Adressaten
29
erscheinen läßt. Seine emphatische Redeweise hat zu der Annahme geführt, „De gubernatione Dei" sei „vielleicht aus einem Zyklus von Predigten über die göttliche Vorsehung hervorgegangen" 7 . Wenn auch diese These zu weit geht — die Schrift ist durchkomponiert und Nahtstellen einzelner Predigten lassen sich nicht finden 8 — so zeigt die Tatsache, daß Salvian mehrfach von seinem „ R e d e n " und vom „Hören" der Adressaten spricht, wie sehr er sich als Prediger empfindet 9 . Zum Predigen gehört ein persuasives Element. Salvian will überzeugen, überreden. Er will die Leser zur Einsicht bringen inbezug auf Gottes Gericht und will sie dadurch zugleich zur Umkehr rufen, er will sie „heilen" („sanare", G praef 4). Dieser Intention entspricht die Anwendung aller rhetorischen Künste, deren er mächtig ist 10 , von stilistischen und sprachlichen Figuren 1 1 über Schwarz-Weiß-Malerei und Übertreibung 1 2 bis hin zu einer unbedenklichen Verwendung auch widersprüchlicher Argumente 1 3 , wenn sie ihn nur im Moment dem Erreichen des einen großen Ziels aller Beweisgänge näherbringen, dem Erweis der Gerechtigkeit von Gottes gegenwärtigem Gericht. Dem paränetisch-persuasiven Charakter der Schrift korrespondiert ein vollständiger Verzicht auf historische Daten und Namen 1 4 . Nur wenige historische Begebenheiten und Personen lassen sich anhand seiner Ausführungen identifizieren 1 5 . Zur politischen und zur prosopographischen Erfor7
A. Kaufmann, Ein Verteidiger der göttlichen Vorsehung im 5. Jahrhundert, 62; die gleiche These hat vorher schon A. Haemmerle, Studien 11,5 und 111,21 Anm. 35, vertreten. 8 So auch M. Pellegrino, Salviano, 79. 9
G 111,5! Vgl. dazu A. Schaefer, Römer und Germanen, 33, der die Frage nicht entscheidet. 10 Salvians Polemik gegen die rhetorische Literatur (G praef 3f.) hindert ihn nicht daran, sie gehörte vielmehr gerade bei den rhetorisch geschulten kirchlichen Autoren zum guten Ton. 11 Die Stilmittel (Redefiguren, Wortwahl, Anspielungen u.a.) sind zusammengestellt in den oben (Anm. 2 zu Einleitung I) genannten Arbeiten von L. Rochus und O. Janssen. 12 Die Kritik hieran gehört geradezu zu den Topoi der Salvian-Literatur! (Vgl. oben Anm. 4 zu A I). 13 Dazu gehört das Nebeneinander von Tatethik (G IV,29) und Gesinnungsethik (G praef 4; V I , 6 . 4 8 f . ) , die nicht ausgeglichene Widersprüchlichkeit zwischen der Strafwürdigkeit aller aufgrund der Schuld eines einzelnen und der Rettung aller durch die Bekehrung der Mehrzahl (G 111,58; VI,2; VII,81 gegen V , 6 0 ; VI,5). Dazu s.u. S. 49, 120f u.ö. 14 Dies unterscheidet Salvians Schrift von historiographischen Werken und verstärkt den Predigtcharakter: A. Haemmerle, Studien 11,5; 111,21 Anm. 35, M. Pellegrino, Salviano, 80. 15 So z.B. die Zerstörungen Triers (G V I , 8 2 - 8 9 ; A. Haemmerle, Studien I,17ff.), die Belagerung und Einnahme Karthagos (G VI,69—71), die Niederlage des Litorius 4 3 9
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Salvians Hauptwerk „De gubernatione Dei"
schung des 5. Jahrhunderts trägt sein Werk wenig bei. Alle Aussagen zur Zeitgeschichte sind so stark verallgemeinert, daß sie für alle Leser als Exempel von Wert sein und in ihre jeweilige Lebenswirklichkeit transferiert werden können. Daher überwiegen Anklagen der Reichen, Adeligen, Beamten, Richter, Kleriker, ja, der Römer, der Christen allgemein. Die paränetische und die persuasive Intention des Predigers, der im Schwünge der Argumentation nicht auf die Stimmigkeit aller Elemente bedacht ist und dem das Exemplarische, nicht das konkret Individuelle wichtig ist, muß bei der Interpretation von „De gubernatione Dei" beachtet werden. (G VII,40—44). Allerdings spiegelt „De gubernatione Dei" die politische Großwetterlage im Westteil des Reiches deutlich wider (z.B. den Zug der Vandalen durch Gallien und Spanien nach Afrika, G VII,50ff).
Β. Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen I. Geschichtstheologie
als
Gerichtstheologie
Wie die Analyse von Aufbau und Zielsetzung von Salvians Schrift ergeben hat, geht der Autor nicht den Weg des Historikers, um sein Verständnis von der Geschichte und der in ihr wirksamen Kräfte darzustellen, sondern er versucht eine theologische Interpretation des Weltgeschehens, in die er zeitgeschichtliches'Material zur Begründung und zur Veranschaulichung einfügt. Die Eigenart seines Entwurfs wird uns deutlich, wenn wir die tragenden Elemente seiner Theologie der Geschichte untersuchen. Zentrales Interpretament ist das Verständnis allen Geschehens in der Welt von der Schöpfung bis hin zur Gegenwart als Manifestation des gegenwärtigen göttlichen Gerichts 1 . Salvian begreift das Verhältnis von Gott und Mensch in erster Linie als Rechtsverhältnis, seine Sprache ist geprägt von juristischem Vokabular 2 . Gott erscheint als legislative Instanz, er setzt das Recht, an dem das Handeln der Menschen sich zu orientieren hat, er spricht das Urteil über dies Tun und bewirkt den Vollzug der Strafe. Er gewährt auch bisweilen eine Zeit der Bewährung. Alle Elemente eines Gerichtsverfahrens bringt Salvian in seine Konzeption ein. 1. Die Dominanz
des
Gerichtsgedankens
Zuerst gilt es, das besondere Gewicht des Gerichtsgedankens gegenüber anderen Bezeichnungen des Handelns Gottes zu belegen. Neben den Termini 1
Der Gerichtsgedanke als zentrales Theologumenon Salvians ist erstaunlicherweise nur von G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.), 18.25—28, und D. J. Cleland, Salvian and the Vandals, 2 7 4 , in seiner Bedeutung für Salvians Konzeption entdeckt worden. Allerdings stellt auch J. Fischer, Die Völkerwanderung, neben anderen Aspekten den Gerichtsgedanken bei Salvian heraus. In der übrigen Literatur wird weitgehend unspezifisch von einer Apologie der göttlichen Weltregierung/Vorsehung/Lenkung gesprochen: W. A. Zschimmer, Salvianus, 4 5 ; R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 146; E. Bordone, La societä, 3 1 5 ; A. Schaefer, Römer und Germanen, 4 0 f . ; M. Pellegrino, Salviano, 79f.; A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 10; P. Courcelle, Histoire litteraire, 147; F. Paschoud, R o m a aeterna, 2 9 4 f . ; W. Blum, Das Wesen Gottes, 3 2 9 ; J. Vogt, Kulturwelt, 58. 2 S. dazu die Zusammenstellung von L. Rochus, La latinite de Salvien, 20—22, aber auch die im Folgenden aufgeführten Termini.
32
Salvians Geschichtstheologie u n d ihre Prämissen
„iudicium"/„iudex"/„iudicare" verwendet Salvian zahlreiche andere Begriffe, um Gottes Wirken in der Welt zu beschreiben: „gubernatio" 3 , „regimen" 4 , „ordinatio" s , „cura" 6 , „dispositio " 7 , „moderatio" 8 und „prouidentia" 9. Diese Aufzählung ließe sich noch erweitern, sie dokumentiert die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten Salvians. Neben das Bild Gottes als Richter treten Gott der Arzt 1 0 und Gott der Lehrer 11 . Es läßt sich aber formal wie inhaltlich zeigen, daß der richterlichen Funktion Gottes Priorität zukommt. Das beginnt mit der Beobachtung, daß „iudicare" die häufigste Bezeichnung für Gottes Handeln an der Welt ist, alle anderen Begriffe werden viel seltener verwendet 12 . Hinzu kommt, daß „iudicare" oft an besonders betonten Stellen steht und dadurch zusätzlich großes Gewicht erhält, was bei einem Autor, der rhetorische Stilmittel so bewußt einsetzt, einen großen Aussagewert hat. Salvian liebt Triaden, Sequenzen von drei gleichartigen Gliedern innerhalb eines Satzes 13 . Es fällt nun auf, daß „iudicare" oft das dritte Glied bildet, nirgends aber das erste oder zweite. Die Triaden sind nach dem Prinzip der Klimax angeordnet, sie gehen von einer allgemeineren Charakterisierung des göttlichen Wirkens aus und zielen über eine Zwischenstufe zu dem prägnanteren, näher qualifizierten Terminus, eben zum richtenden Handeln Gottes 14 . 3
„gubernare"/,,gubernatio": G 1,3.13.18.19.20.27.28.44; 11,6.7.8; 111,2; IV,53.54.
4 „regere"/„regimen": G 1,4.5.13.18.20.26.27; 11,6.7.8; 111,2. s „ordinare"/„ordinatio": G 1,28.31. 6 „ c u r a r e " / „ c u r a " : G 1,1.5.21.26.32.44; 111,2; IV,42.54. 7 „disponere"/,,dispositio": G 1,31.60; 11,8. 8 „moderare"/,.moderamen": G 1,5.13.19. 9 „prouidere"/,,prouidentia": G 1,3.19 (zweimal); VI,90. Außerdem verwendet Salvian „custodire" (G 1,1.5.), „respicere" (G 11,24; VI,20), „temperare" (G 1,13) u.a. 10 Gott als Arzt: G V,3; VI,91; VII,3f. 11 Gott als Lehrer: G 1,43. Zu Salvians Gottesvorstellung s.u. S. 73—76. 12 „iudicare"/„iudicium"/„iudex": G 1,17.18.22.26.27.28.32.36.38.40.41.48.49.50. 51.60; 11,13.15.18.25-28; 111,2.4; IV,38.55.66; V,10.11.47; VI,90; VII,7.42.49.50.55; VIII,6.25. 13 Dies hebt auch W. Blum, Das Wesen Gottes, 335, hervor. Er erwähnt die „spielerische Funktion dieser Triaden" in der spätantiken Literatur generell und fährt fort: „Bei Salvian selbst ist auf jeden Fall die Darstellung eines Gedankens in der Form von dreifachen Prädikaten oder Subjekten ein besonderes Stilmittel". In anderem Zusammenhang hat auch D. J . Cleland, Salvian and the Vandals, auf die inhaltliche Bedeutsamkeit der dreifachen Wiederholung eines Aufbauelements bei Salvian hingewiesen (273). 14 Es handelt sich um eine ganz bewußt so und nicht anders geordnete Reihe. „Cura", „praesentia", „gubernatio" und „judicium" sind keineswegs allesamt identisch, wie
Geschichtstheologie als Gerichtstheologie
33
Als Beispiel sei ein Satz aus G 1,27 zitiert: „Wir wollen sehen, wie Gott die Welt von Anfang an regiert hat (rexerit) und werden so zeigen, daß er immer alles gelenkt hat (gabernasse) und lehren, daß er zugleich auch gerichtet hat (iudicasse)" 1S . In G 11,1 heißen die Stufen „Unser Gott — ein höchst besorgter Beobachter (contemplator), ein allergütigster Lenker (gubernator) und ein äußerst gerechter Richter (iudex)" 1 6 , an anderer Stelle „aspicere"-,,regere"„iudicare" (G 111,2)11. Als letztes Beispiel sei noch eine vielgliedrige Beschreibung des handelnden Gottes zitiert, die wiederum in der Nennung des „deus iudex" gipfelt: „Ist es denn nicht Gott, der beobachtet, ermuntert, führt, betreut, bürgt, behütet, beschenkt, prüft, erhebt, straft und richtet?" (G I, 36) 1 8 . Ein weiteres Indiz für die dominierende Bedeutung gerade des Gerichtsgedankens bildet der Aufbau von Buch II. Dort sollen biblische Zeugnisse „die Gegenwart Gottes, seine Lenkung und sein Gericht" 1 9 (G 11,1; man beachte wieder die Reihenfolge in dieser Triade!) in drei gesonderten Argumentationsgängen beweisen. Die Belege für das göttliche Gericht stehen am Ende — doch nicht nur das, sie sind auch mit Abstand am zahlreichsten beigebracht (Gegenwart Gottes G 11,2-5; Lenkung 6 - 1 2 ; Gericht 1 3 - 2 8 ) . Als letztes sei schließlich noch hinzugefügt, daß die Bücher 1,11 und VIII — und damit das Gesamtwerk — mit prägnanten Sätzen über das „iudicium dei" enden. Die Schlußabschnitte beschreiben je einen verschiedenen Aspekt des Gerichts: die Universalität (G 1,60), die Gegenwärtigkeit (G II,27f) und schließlich, fast triumphal, die Gerechtigkeit (G VIII,25). Die Argumentation Salvians zielt also deutlich auf das Richten Gottes hin. Alles liegt ihm daran, Gott als „iudex", sein Handeln als „iudicare" zu beW. Blum, Das Wesen Gottes, 3 3 9 , glauben machen will. Die folgenden Zitate belegen das deutlich! 15 „Videamus qualiter mundum a principio deus rexerit, et ita eum semper omnia gubemasse monstrabimus ut simul etiam iudicasse doceamus" (G 1,27). 16 „Deus noster et contemplator sollicitissimus et gubernator piissimus et iudex iustissimus" (G 11,1). 17 „Omnia dicit aspici, omnia regt, omnia iudicari" (G 111,2). Vgl. auch 1,30: „ . . . et regit qui Cain post sacrificia castigat, et sollicitus est qui ab interfectore interfectum requirit, et iudicat qui percussorem impium iusta animaduersione c o n d e m n a t " und 1,26: „Igitur si stulte atque impie creditur quod curam rerum humanarum pietas diuina despiciat, ergo non despicit-, si autem non despicit, regit; si autem regit, hoc ipso quod regit iudicat, quia regimen esse non potest, nisi fuerit iugiter in rectore iudicium". 18 ,,Num deus n o n est et inspector et inuitator et ductor et sollicitus et sponsor et protector et munerator et probator et sublimator et ultor et i u d e x ? " (G 1,36). 19 „Nunc quia tria haec, id est praesentiam dei, gubernationem atque iudicium . . . " (G 11,1).
3 Badewien, Geschichtstheologie
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Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
schreiben. Ganz offensichtlich hat für ihn das Richten Gottes eine andere, spezifischere Qualität als das Lenken („gubernatio"), die Fürsorge („Providentia") oder das Regieren („regimen"). Es ist nicht möglich, anhand des Textes all die zahlreichen Begriffe zu definieren, mit denen Salvian das Handeln Gottes beschreibt. Er verwendet sie wechselnd und ohne ihnen eine spezifische Bedeutung beizulegen. Sie alle drücken aus, daß Gott sich um die Welt und die Menschen kümmert und sie nicht allein läßt. Das „Wie" dieses Handelns charakterisiert Salvian vor allem als Richten, als Durchsetzen der göttlichen Gerechtigkeit in Lohn und Strafe. Das Gericht Gottes als die präzisere Kennzeichnung seines Wirkens in der Welt erklärt für ihn die historisch-politische Situation 2 0 . Mit dem Ende von Buch II ist in mehrfacher Weise der Nachweis geführt, daß Gottes Einflußnahme auf die Welt in seinem Gericht besteht — und von nun an tritt die übrige, allgemeinere Begrifflichkeit noch weiter in den Hintergrund 2 1 , die Hinführung vom allgemeinen Handeln zur Qualifizierung dieses Handelns als Gericht, wie sie in dem Aufbau der Bücher I und II und in den mehrgliedrigen Sequenzen zu beobachten war, findet sich im weiteren Verlaufe der Schrift nicht mehr. Der Nachweis ist erbracht, es ist damit eine Basis gewonnen, von der aus Salvian weiterargumentieren kann, um die Gerechtigkeit dieses Gerichts darzulegen. Sehen wir uns seine Argumentation im einzelnen an. Salvian bemüht sich nicht nur, Gottes Wirken als ,Judicium" zu interpretieren, sondern er legt größten Wert auf die Feststellung, daß Gottes vergangenes Handeln — und damit analog auch sein gegenwärtiges — in AT und NT expressis verbis ids Gericht bezeichnet wird. Er resümiert 2. Sam 18,31: „Du siehst, wie die göttlichen Schriften durch heilige Zeugen erweisen, daß Gott nicht nur in Taten und Beispielen . . . , sondern unter Namen und Bezeichnung „Gericht" auch in dieser Welt richtet" (G 11,15) 22 . Und mit Blick auf die Vernichtung Sodoms stellt er die Frage, „ob Gott im Gericht oder ohne Gericht die Bösen verbrannt" habe (G 1,38) 23 . Salvian geht noch weiter. Er analogisiert die einzelnen Phasen des göttlichen Gerichts denen des menschlichen Gerichts: es ergeht „gemäß der Form des menschlichen Verfahrens": „Erstens wurde der, der gesündigt hatte, ergriffen, 20 Mit der Deutung der Völkerwanderung als Gericht Gottes steht Salvian nicht allein, s.u. S. 1 6 7 - 1 7 1 . 21 Vgl. die Stellenangaben in den Anm. 3—9 und 12. 22 „Vides q u o m o d o n o n rebus tantum . . . et exemplis, sed ipso nomine atque appellatione iudicii deum etiam praesenti saeculo iudicare diuinae per sacros testes litterae probent" (G 11,15). 23 „Ex iudicio an sine iudicio" (G 1,38).
Geschichtstheologie als Gerichtstheologie
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zweitens zum Tribunal geführt, drittens angeklagt, danach in den Kerker geworfen, zuletzt durch die Vollmacht des himmlischen Gerichts bestraft: aber nicht einfach bestraft, sondern bestraft nach einer Zeugenaussage" (G I, 50) 2 4 . Und wenig später führt er zur Aburteilung Mirjams (Num 12) aus: „Sie wurde nicht nur bestraft, sondern sie wurde bestraft nach Art eines Gerichtsverfahrens. Zuerst wurde sie nämlich zum Gericht gerufen, danach angeklagt, darauf gezüchtigt. Im Tadel empfängt sie nämlich die Bedeutung des Urteilsspruches, in dem Aussatz aber erleidet sie die Strafe der Verbrecherin" (G 1,53) 2 S . Durch den Nachweis von prozessualen Formen im göttlichen Gericht hebt Salvian den Charakter der Legalität, der Rechtmäßigkeit und Gerechtigkeit hervor: nicht Willkür herrscht, sondern eine Rechtsordnung.
2. Die Gegenwärtigkeit
des göttlichen
Gerichts
Mit Nachdruck zeigt Salvian, daß sich das göttliche Gericht nicht in einer fernen Z u k u n f t , sondern hier und j e t z t ereignet, zu allen Zeiten und darum auch in der Gegenwart. Das heißt nicht, daß er ein „iudicium f u t u r u m " leugnet. Beide Formen des göttlichen Richtens schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander 2 6 . „Und so bekräftigen wir, daß er (= Gott) in Z u k u n f t richten wird, wie wir auch lehren, daß er in dieser Welt immer gerichtet h a t " (G I,18) 2 7 . Dies kehrt er gegen die Christen heraus, die unter Hinweis auf das Endgericht die gegenwärtigen Ereignisse nicht als Handeln des „deus i u d e x " annehmen wollen (G I,17) 2 8 . Den Nachweis der Gegenwärtigkeit des Gerichts führt Salvian mit zwei divergierenden Argumentationen: logisch-rational („ratione") und exegetisch („exemplis an testimoniis"). In seinem rationalen Beweisgang argumentiert 24 „Iuxta humani examinis formam" . . . „Primum qui peccauerat comprehensus est, secundo quasi ad tribunal adductus, tertio accusatus, deinde in carcerem missus, postremo caelestis iudicii auctoritate punitus: porro autem non punitus tantum sed punitus sub testimonio" (G 1,50). 25 „Nec punitur tantum, sed punitur more iudicii. Primum enim ad iudicium uocatur, deinde arguitur, tertio uerberatur. In obiurgatione enim excipit uim sententiae, in lepra autem patitur piaculum criminosae" (G 1,53). 26 Zum Verhältnis von „iudicium praesens" und „iudicium futurum: G I,17f.38f.; 11,18f.24—28; I V , 3 6 - 3 8 . 27 „Et ita in futuro iudicaturum adfirmamus ut tarnen semper etiam in hoc saeculo iudicasse doceamus" (G 1,18). 28 Salvian respektiert die Meinung dieser Christen, auch wenn er sie für falsch hält: „non infidelis quidem uidetur adsertio, maxime quia futurum dei iudicium confitetur" (G 1,17).
36
Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
er — didaktisch sehr geschickt — stufenweise. Die erste Stufe erinnert an den kosmologischen Gottesbeweis. Das „pulcherrimum mundi opus" und die „inaestimabilis supernarum infernarumque rerum magnificentia" sprechen eindeutig dafür, daß der Schöpfer („elementorum fabricator") auch der Lenker („gubernator") sein muß, zeigen doch schon alle Dinge im menschlichen Bereich, daß nichts ohne Vernunft, ohne vernünftige Führung, Bestand hat (G 1,19). Beispiele aus verschiedensten Lebensbereichen von der Staatsführung bis zur Haustierhaltung sollen das untermauern (G 1,20). Wer das zu bezweifeln wagt, ist „ohne menschliches Erkenntnisvermögen" („expers humanae intellegentiae", G 1,19). Ironisch referiert Salvian eine „deistisch" anmutende These, nach der zwar ein Schöpfer anerkannt wird, dieser Schöpfer aber keinerlei Sorge für seine Schöpfung in der Gegenwart trägt: „Vielleicht flieht er die Arbeit und hat sie weit von sich gewiesen, und da er die lästige Ermüdung meidet oder durch andere Beschäftigung in Anspruch genommen ist, überläßt er einen Teil der Dinge sich selbst, da er nicht das Ganze verrichten kann" (G 1,20) 29 . Hat Salvian sich hier also mit denen auseinandergesetzt, für die Gott nur in der Vergangenheit gewirkt hat, so folgt in der zweiten Stufe der rationalen Argumentation noch einmal die Auseinandersetzung mit denen, die Gottes Wirken nur in einem zukünftigen Jenseits anzusiedeln vermögen. Ihnen gegenüber betont er, daß Gottesglaube, Hoffnung auf Vergebung und besonders das tägliche Gebet sinnlos wären, wenn Gott sich nicht gegenwärtig um die Welt kümmere. Mit der Bestreitung dieses Glaubenssatzes fällt für Salvian die ganze Religion in sich zusammen 3 0 . Der Einwand, die Ausübung der Religion sei sinnvoll aus Furcht vor dem „iudicium f u t u r u m " , allein in der Hoffnung auf ewigen Lohn, wird emphatisch zurückgewiesen 31 . Ein Gebet, das nicht mehr die Belange dieser Welt vor Gott bringen dürfte, das sich beschränken müßte auf Bitten um Jenseitiges hat keine Glaubwürdigkeit für sich. Kriterium für die Glaubwürdigkeit ist hier die Ratio: wie kann ein solch verstümmeltes Gebet vor der Vernunft standhalten 3 2 ? Die mangelnde Rationalität besteht darin, daß „ohne Zweifel der, der uns inbezug auf gegenwär-
29 „Laborem uidelicet forte fugiens a suo loco amandauit et molestiam fatigationis euitans aut occupatus negotiis aliis partem rerum reliquit, quia totum obire n o n possit" (G 1,20). 30 „Nihil penitus de religione seruatur" (G 1,21). 31 Gegenteilig äußert sich Salvian Ε 11,47. Dort nennt er als Begründung für die Wahl des asketischen Lebens: „Cogitantes scilicet et praesentium rerum breuitatem et futurarum aeternitatem, quam paruum istud quam grande illud; cogitantes quoque futurum iudicem et tremendi iudicii graues exitus". 32 „ Q u o m o d o ratione subsistit" (G 1,24).
Geschichtstheologie als Gerichtstheologie
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tige Belange nicht hört, uns auch nicht inbezug auf zukünftige h ö r t " (G 1,24) 3 3 . Die Argumentation endet mit einer zusammenfassenden Conclusio, in der Salvian aus der Beachtung der Welt durch Gott auf seine Regierung und aus der Regierung auf sein immer geschehendes (,,iugiter") Gericht schließt („non despicit" — „regit" — „iudicat", G 1,26). An diese rationale Beweisführung schließt sich die biblisch-exegetische an. Salvian bringt Beispiele in großer Zahl für das sofortige Richten Gottes in der Vergangenheit, in der Geschichte des Volkes Israel. Und immer wieder zieht er ein Fazit: die Exempel der Vergangenheit zeigen nicht etwas Damaliges, Vergangenes, sondern sie belehren über Gottes Handeln hier und heute. Er erzählt die alten Geschichten nur, um seinen Lesern ihre eigene Situation aufzuweisen, sein Interesse liegt allein im Transfer: so wie es damals geschah, so geschieht es auch heute. Darum fügt er den alttestamentlichen Erzählungen jeweils belehrende Interpretationen bei 3 4 , damit der Einwand, „Gott habe zwar einstmals so für die Menschen Sorge getragen, tue das aber jetzt nicht mehr" (G 1,45), hinfällig wird 3 5 . Die beiden Argumentationen haben unterschiedliche Qualität in Salvians Augen. Angesichts der Tatsache, daß die Frage der Sinnhaftigkeit eines nur auf die Zukunft gerichteten Gebets vor dem Forum der Ratio entschieden wird (G 1,23), überrascht, daß er generell den biblischen „exempla" höhere Dignität einräumt als den Vernunftgründen. Die biblischen Beispiele und Zeugnisse billigen den logischen Beweis, sie heißen ihn gut und legitimieren ihn damit: „Aber vielleicht könnte jemand für zu unbedeutend halten, was die Vernunft darlegt, wenn es nicht durch Beispiele glaubhaft gemacht wird" (G I, 27 ) 36 . Die Vernunft bleibt also der Offenbarung untergeordnet, sie hat Gültigkeit nur in dem Rahmen, der ihr von der Offenbarung eingeräumt wird 3 7 . 33
„Absque dubio, qui non audit nos pro praesentibus, non audit etiam pro futuris" (G 1,24). 34 Solche Aktualisierungen finden sich z.B. G l , 3 0 . 3 4 . 3 8 f . 4 5 f . 6 0 . Zwei Beispiele seien zitiert. Im Anschluß an die Schilderung der Bestrafung eines Lästerers während der Wüstenwanderung Israels führt Salvian aus: „hac igitur ratione atque iudicio omnia deus et nunc agit et semper egit" (G 1,50) und als Fazit aus der Bestrafung Mirjams: „porro autem etiam ex hoc consulere deus uoluit nostrae correctioni per censuram salubris exempli" (G 1,52). 35 „Sed respondeatur forte hoc loco, habuisse quondam hanc hominum curam deum, ceterum nunc penitus n o n habere" (G 1,45). 36 „Sed parum esse fortasse quispiam putet quod hoc ratio declarat, nisi probetur exemplis" (G 1,27). 37 Zum Verhältnis Vernunft — Offenbarung s.u. S. 59—62.
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Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
Der argumentative Wert der biblischen Exempel innerhalb der Bücher I und II liegt vor allem darin, die Struktur des göttlichen Handelns deutlich zu machen, zu beschreiben, wo und wie Gottes Gericht in der Vergangenheit manifest geworden ist und welche Lehre für die Gegenwart daraus zu ziehen ist. Hat die bisher dargestellte Argumentation in den Büchern I und II die Legitimität der Rede vom „iudicium praesens" erwiesen, so steht in III—VIII als weiterer Schritt der Vollzug des Gottesgerichts im Imperium Romanum des 5. Jahrhunderts im Zentrum. An die Stelle der biblischen Exempel tritt eine vielfältige Schilderung der gegenwärtigen Situation, die Salvian daraufhin befragt, ob und wie in ihr dieses gegenwärtige Gericht sichtbar wird. Und er kommt schließlich zu dem — in vielfachen Varianten wiedergegebenen Urteil: „Wir haben gezeigt, daß Gott alles kraft seines Gerichtes t u t " (G IV,66) 3 8 .
3. Die Gerechtigkeit
des göttlichen
Gerichts
Es ist an der Zeit zu fragen, warum Salvian das Modell des Gerichts so sehr in den Vordergrund rückt, warum er sogar auf dem Terminus „iudicium" insistiert. Der Grund ist darin zu suchen, daß er nicht nur allgemein das Handeln Gottes in der Welt nachweisen will, sondern die Gerechtigkeit dieses Handelns. Seine Intention geht also über den Erweis einer „gubernatio" oder eines „regimen dei" hinaus, sie zielt nicht nur darauf ab zu zeigen, daß Gott die Welt regiert, sondern daß er sie gerecht regiert, so verworren und widersprüchlich sie sich dem Betrachter auf den ersten Blick auch darbieten mag. Die „iustitia dei" kann Salvian offenbar nur in juristischen Begriffen und juristischen Denkmodellen erweisen. Deswegen beschreibt er das Verhältnis zwischen Gott und Menschen als permanenten Prozeß. Nur so glaubt er die Anschuldigung entkräften zu können, Gott handle willkürlich. Nur der „deus iudex" richtet nach offen dargelegten, nachprüfbaren Kriterien — nach seinem Gesetz 3 9 . Daher kann Salvian pointiert formulieren: „Wer sagt, daß die Sodomiter ohne Gericht von Gott bestraft worden sind, beschuldigt ihn der Ungerechtigkeit" (G 1,38) 40 .
38
„Omnia ex iudicio deum facere monstrauimus" (G IV,66). Dem Gesetzesverständnis Salvians ist das folgende Kapitel gewidmet, es bleibt daher zunächst außer Betracht. 40 »»Qui s i n e iudicio Sodomitas punitos a deo dicit, iniquum deum arguit" (G 1,38). 39
Geschichtstheologie als Gerichtstheologie
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„Iustitia" ist aber keine absolute Kategorie, der Gott in seinem Handeln unterworfen wäre. Es gilt vielmehr, daß Gott die Gerechtigkeit setzt: „Gottes Wille ist die höchste Gerechtigkeit" (G I,30) 4 1 , die ewig währt wie er selbst 42 . Wenn Gerechtigkeit eine ewige Eigenschaft Gottes ist, dann kann es per definitionem keine Ungerechtigkeit in seinem Handeln geben. Was dennoch ungerecht zu sein scheint, erhält diesen Anschein entweder aufgrund der Liebe und Barmherzigkeit Gottes, die bisweilen Strafaufschub bewirken, um dem Sünder Zeit zur Umkehr zu gewähren, oder aufgrund der mangelnden Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Mit der Einführung dieser beiden Argumente verläßt Salvians Konzeption den Bereich der Transparenz und Rationalität. Der einsehbare Zusammenhang von Tun und Ergehen, die unbedingte Gültigkeit der Norm des Gesetzes und die Folge von Sanktionen bei seiner Verletzung ist hier partiell außer Kraft gesetzt. Die Nachsicht Gottes, die die Strafe hinauszögert, um Zeit für die Umkehr zu lassen, erklärt das Ausbleiben des Gerichts dort, wo es aufgrund von Gesetzesverletzungen zu erwarten wäre, sie droht somit Gottes Gerechtigkeit zu verdunkeln 4 3 . Es ist allerdings interessant zu sehen, wie Salvian offensichtlich eine Unstimmigkeit zwischen der Vorstellung von Gott als Richter und seiner Liebe, Barmherzigkeit und Nachsicht empfindet. Wenn die Dialektik von Strenge und Milde thematisiert wird, spricht er lieber von Gott als dem Arzt, der verschiedene Heilmethoden anwendet, der mit lindernder Salbe oder mit dem Messer, mit süßer oder bitterer Medizin immer nur eines will: den Kranken heilen 4 4 . Die andere Argumentation hebt auf die ,,secreta dei" ab, auf eine göttliche Gerechtigkeit, die menschliche Vorstellungen übersteigt: „Denn es ist nicht deswegen ungerecht, was Gott tut, weil der Mensch die Macht der göttlichen Gerechtigkeit nicht erfassen kann" (G 1,30) 4S . In die gleiche Richtung geht ein Abschnitt zu Beginn des Buches III. Nachdem Salvian das Verhältnis von menschlicher Ratio zu Gott geklärt hat („Gott ist mehr als alle menschliche Vernunft", G 111,3)46, verbietet er ein menschliches Urteil über Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des göttlichen Wirkens, da alles, was von Gott
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„Summa iustitia est uoluntas dei" (G 1,30). „Quia sicut est deus semper sic iustitia dei semper . . . sicut deus iure perpetuus sic iustitia perseuerans" (G 11,25). "3 G I V , 1 0 . 4 7 f . ; V , 4 9 f . ; V I , 9 0 . 9 3 . 44 G V I , 9 1 ; VII,3ff. 45 „Neque enim ideo non iustum est quod diuinitas agit, quia capere uim diuinae iustitiae h o m o non ualet" (G 1,30). 46 „Plus est deus quam omnis humana ratio" (G 111,3). 42
40
Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
getan wird, „mehr als gerecht" genannt werden muß und nicht erlaubt ist, „das eine gerecht das andere ungerecht" zu nennen (G 111,3)47. Den Beweis für diese Behauptung führt Salvian nicht „ratione" — das wäre auch widersinnig —, sondern er begnügt sich mit dem Hinweis auf das Selbstzeugnis Gottes in den biblischen Schriften. Hier gilt ein qualitativer Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Wort: „humana dicta" benötigten Argumente und Zeugen, „dei autem sermo ipse sibi testis est" (G 111,4). Gottes Handeln erweist sich also nicht primär als gerecht durch die Möglichkeit, diese Gerechtigkeit zu erkennen, sondern zunächst und vor aller menschlichen Einsicht durch seine eigene Aussage und dadurch, daß Gott selbst letztlich bestimmt, was als „iustitia" zu gelten hat. Die „humana ratio" kann nur aufgrund der Offenbarung des Gesetzes diese Gerechtigkeit bis zu einem gewissen Grade verstehen 4 8 . Die Gerechtigkeit des göttlichen Willens ist somit eine Prämisse, die von keiner menschlichen Instanz angezweifelt werden kann. Die Frage nach der „iustitia dei", nach dem „Warum" allen Geschehens, ist im Grunde eine Frage, die die Grenze des dem Menschen zugänglichen Bereichs transzendiert. Sie führt in die Tiefe der „secreta dei", an die Salvian nicht zu rühren wagt: „Ich bin ein Mensch, ich verstehe die Geheimnisse Gottes nicht, ich wage nicht, sie zu erforschen und fürchte mich sogar, es zu versuchen, weil selbst das eine Art gotteslästerlicher Kühnheit ist, mehr wissen zu wollen, als zugelassen ist" (G 111,3)49. Die Gerechtigkeit als eine durchaus rationale Kategorie zum Verständnis der Geschichte wurzelt bei Salvian also letztlich im Unerklärlichen, im nicht rational Faßbaren und wird von dieser Wurzel her immer wieder durchbrochen. Die Rationalität des Weltgeschehens ist sekundär, sie ist als Interpretationsschema in den ihr gesetzten Grenzen brauchbar und gilt nicht absolut. Die beiden Argumentationen, die jeweils die Grenzen der Tauglichkeit des Theologumenon vom Weltgericht für die Interpretation aller Ereignisse 47
„Nec licet, ut de his quae diuino aguntur arbitrio aliud dicas iustum aliud iniustum, quia quicquid a deo agi uides atque conuinceris, necesse est plus quam iustum esse fatearis" (G 111,3). 48 Vgl. G ΙΙΓ,5: ,,Sed tarnen cum per scripturas sacras scire nos quasi de arcano animi ac mentis suae quaedam uoluerit deus noster . . . quicquid uel agnosci per suos uel praedicari deus uoluit n o n tacebo". 49 „ H o m o sum, n o n intellego secreta dei, inuestigare non audeo et ideo etiam adtemptare formido, quia et hoc ipsum genus quasi sacrilegae temeritatis est, si plus scire cupias quam sinaris" (G 111,3).
Geschichtstheologie als Gerichtstheologie
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des Weltgeschehens deutlich machen, gewähren Salvian eine große Flexibilität in seiner Konzeption. Sie geben ihm einerseits die Möglichkeit, seine These von einer letzten Gerechtigkeit in Gottes Handeln aufrechtzuerhalten, auch wenn sie sich durch Erfahrung und menschliche Urteilsfähigkeit nicht immer abdecken läßt. Sie erlauben ihm andererseits, jedes Geschehen entweder als verdiente Strafe oder als unverdiente Milde hinzustellen und so in sein System zu integrieren. Die Hervorhebung der Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in G o t t bzw. der Verweis auf die „secreta dei" gewähren seinem geschichtstheologischen Entwurf größtmögliche Anpassungsfähigkeit, ohne daß er die Identifizierung der heilsgeschichtlichen mit der weltgeschichtlichen Ebene aufheben m u ß 5 0 .
4. Urteil und
Strafvollzug
Der Urteilsspruch, mit dem Gott den Gehorsam oder den Ungehorsam der Völker richtet, ist in der Geschichte ablesbar. Die „sententia dei" unterliegt dabei einer weitgehenden Nachprüfbarkeit, die allerdings — wie oben dargestellt 5 1 — ihre Grenzen hat. Die Nachprüfbarkeit wird erleichtert durch gewisse Merkmale des göttlichen Richterspruchs: a) Das Urteil und sein Vollzug folgen der Tat in kurzem zeitlichen Abstand. Als Exempel nennt Salvian neben Berichten aus dem A T die vierfache Zerstörung Triers (G IV,82—89) und das Ende des römischen Feldherrn Litorius (G V I I , 4 0 - 4 4 ) . b) Es gibt o f t einen sachlichen Zusammenhang zwischen Vergehen und Strafe. Dieser Zusammenhang kann in einer Entsprechung bestehen: „Freilich, wir haben uns der Verbannten nicht erbarmt, siehe, jetzt sind wir selbst verbannt; wir haben die Fremden mit Tücke überlistet, siehe jetzt sind wir selbst f r e m d und werden betrogen; nach den Vorbildern der Zeiten haben wir Freigeborene unterdrückt, siehe, seit kurzem beginnen wir selbst, auf fremder Scholle zu leben und fürchten schon diese Vorbilder" (G V,47) 5 2 . 50
Zur Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes s.u. S. 73—76. Die Frage, inwieweit bestimmte Ausführungen Salvians durch Argumentationszwang geprägt sind, stellt sich an verschiedenen Stellen, besonders dringend bei seiner These der verminderten Schuld der Barbaren und bei der Schilderung ihres vorbildlichen Lebenswandels. Es wird daher unten näher darauf einzugehen sein S. 127—138. 51 S.o. S. 22f. 52 „Miserti quippe exulum non sumus, ecce ipsi exules sumus; peregrinos fraude cepimus, ecce ipsi peregrinamur atque fraudamur; praeiudiciis temporum ingenui
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Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
Die Beziehung von Tat und Strafe kann aber auch durch einen Kontrast hergestellt werden: Die selbstbewußten, auf eigene Mittel vertrauenden Römer werden besiegt durch die demütigen, auf Gott vertrauenden Barbaren 5 3 . Und die „impudicitia" von Aquitaniern, Spaniern und Afrikanern wird als Ursache der Strafe erkennbar durch die „pudicitia" von Goten und Vandalen: „Auf zweifache Weise wollte Gott in jener Eroberung Spaniens zeigen, wie sehr er die fleischliche Lust haßt und die Zucht liebt: indem er die Vandalen ganz allein wegen ihrer Keuschheit zu Herren machte und die Spanier ganz allein wegen ihrer Unkeuschheit unterjochte" (G VII,27 ) 54 . All diese Merkmale des göttlichen Urteils dienen dazu, die Aktivität Gottes hinter dem geschichtlichen Ablauf deutlicher herauszustellen. Die Gerechtigkeit in diesem Handeln läßt sich unschwer ermitteln durch einen Vergleich des Lebens der Menschen mit den Vorschriften des Gesetzes, denn das göttliche Gesetz liegt als einzige aber unbedingt gültige Norm dem Gericht zugrunde 5 5 . Die Strafe Gottes hat nicht die Vernichtung des Bestraften zum Ziel, sondern seine Besserung. Sie ist Teil seines Heilshandelns und entspringt seinem Willen zum Heil aller Menschen: „Der Herr will uns durch seine Züchtigungen heilen" (G VII,3) 5 6 , „die Züchtigung soll bei den Katholiken die Lust zu sündigen zügeln" (G V,13) 5 7 . Darum wirkt in Urteil und Strafvollzug nicht nur die strenge Gerechtigkeit Gottes, sondern auch seine Milde und Barmherzigkeit sind beteiligt 5 8 . Denn entgegen der Behauptung anderer Christen, glaubt Salvian zu erkennen, daß das Geschick der Römer nicht nur nicht zu hart, sondern — gemessen an den Vergehen — noch viel zu milde ist 5 9 . Die Barmherzigkeit Gottes kann sich auch in einem zeitlich begrenzten Aufschub der Strafe äußern, die den Sündern eine unverdiente letzte Gelegenheit zur Umkehr läßt — die aber, wie Salvian resignierend feststellen status homines circumuenimus, ecce ipsi nuper quidem in alieno solo uiuere coepimus, sed praeiudicia iam timemus" (G V , 4 7 ) . « G VII,38f. 4 5 - 4 9 . 54 „Dupliciter in ilia Hispanorum captiuitate ostendere deus uoluit quantum et odisset carnis libidinem et diligeret castitatem, cum et Wandalos o b solam maxime pudicitiam superponeret et Hispanos ob solam uel maxime impudicitiam subiugaret" (G VII,27). Vgl. auch G VII,25 und 72ff. ss Näheres dazu unten S. 5 Off. 56 „Curare nos uult castigationibus suis dominus" (G VII,3). 57 „Castigatio in catholicis peccandi refrenet libidinem" (G V , 1 3 ) , vgl. G VIII,7 u.ö. 58 Vgl. dazu S. 7 3 - 7 6 . s9 G V,49; IV,10.34.
Geschichtstheologie als Gerichtstheologie
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muß — nirgends im Reich genutzt wird 6 0 . So hat Gott die Strafe langsam auf die zu Bestrafenden zulaufen lassen. Eindringlich schildert Salvian das allmähliche Fortschreiten des Gerichts von Germanien über Belgien nach Gallien: „Aber nur allmählich [brannte] dieses auf, damit, während der eine Teil von Unglück niedergeschmettert wurde, der andere durch sein Beispiel gebessert würde" (G VII,50) 6 1 . Jedoch — „wo ist bei uns Besserung?" (G VII,51) 6 2 . Und ohne seinen Zweck, die Besserung, erreicht zu haben, breitet sich das Gericht aus nach Spanien und Afrika, „von Ort zu Ort, von Stadt zu S t a d t " (G VII,52) 6 3 — „Wir brennen, wir brennen, und dennoch fürchten wir die Flammen nicht, die uns bereits verbrennen!" (G V I , 4 7 ) R e s i g n i e r e n d konstatiert Salvian deshalb: „Der Herr will uns durch seine Züchtigungen heilen, aber auf die Arznei folgt keine Heilung" (G VII,3) 6 S . Bleibt die Besserungsstrafe ohne Wirkung, so droht die Vernichtungsstrafe, die Gott aber nur widerwillig, gezwungen durch die Schlechtigkeit der Menschen anwendet. „Gott ist gütig und barmherzig, und er will . . . niemanden zugrunde richten und verletzen", „wir selbst entzünden das Feuer himmlischen Zorns" (G VIII,7) 6 6 . Und ähnlich heißt es G V,50: „Wir zwingen Gott gegen seinen Willen, die Ungeheuerlichkeiten unserer Verbrechen zu rächen, fast ist es so, daß wir ihm nicht erlauben, uns zu verschonen" 6 7 . Ob Salvian in seiner Zeit noch Besserungsstrafe oder bereits Vernichtungsstrafe am Werk sieht 6 8 , ob er mit seiner Schrift noch zu Umkehr und Reform r u f t oder nur noch eine sterile, „programmlose Diagnose" 6 9 liefert, die Ausdruck seiner Resignation 7 0 ist, muß an anderer Stelle erörtert werden 7 1 .
60 G VI.93; VII.56. 61
„Sed paulatim id ipsum tarnen, ut, dum pars clade caeditur, pars exemplo eraendaretur" (G VII,50). Ähnlich G V I , 6 7 - 6 9 . 62
„Sed ubi apud nos emendatio . . . ? " (G VII,51). „ . . . de loco in locum, de urbe in urbem" (G VII,52). 64 „Arsimus, arsimus, et tarnen flammas quibus iam arsimus non timemus" (G V I , 4 7 ) . 65 „Curare nos uult castigationibus suis dominus, sed curam remedia n o n secuntur" (G VII,3). 66 „Nos caelestis irae ignem accendimus . . . Deus enim pius est ac misericors et qui . . . neminem uelit perire uel laedere" (G VIII,7). 67 „Cogimus ad ulciscendas criminum nostrorum immanitates nolentem deum: prope est ut eum non permittamus ut parcat" (G V , 5 0 ) . 68 Vgl. J. Fischer, Die Völkerwanderung, 179. 69 A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 38, ähnlich F. Paschoud, R o m a aeterna 307. 70 A. Schaefer, Römer und Germanen, 78—82. ή S.u. S. 1 5 7 - 1 6 2 . 63
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Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
Zum Vollzug der Strafe bedient Gott sich menschlicher Werkzeuge, im aktuellen Fall der Barbaren, die von ihm die Aufgabe zugewiesen bekommen haben, die Römer zu strafen. Als deutlichsten Beleg dafür, daß die Germanen nicht aus eigener Entscheidung handeln, sondern Gottes Auftrag vollziehen, verweist Salvian auf die rätselhafte Unrast der Vandalen, die den Römern offensichtlich aus politischen Motiven nicht erklärbar schien 7 2 . Ihr Zug von Gallien nach Spanien und von dort nach Afrika kann nur von einer „himmlischen H a n d " geführt gewesen sein, denn die militärische Auseinandersetzung mit dem römischen Heer hatten sie in Spanien für sich entschieden. Gott selbst sandte sie daher über das Meer, um die Afrikaner zu strafen. Wie die Barbaren ihr Aktionsfeld von Gott zugewiesen bekommen, so gehen auch ihre Erfolge nicht auf das Konto ihrer militärischen Überlegenheit, sondern sind Gottes Lohn für ihre Demut und ihre Sittenreinheit 7 3 . Salvian bemüht sich immer wieder, die Vandalen als die feigsten und unfähigsten aller angreifenden Barbarenstämme abzuqualifizieren, um so den Römern die wahren Zusammenhänge zu zeigen und keinen Zweifel an der göttlichen Urheberschaft ihrer Siege aufkommen zu lassen: „Wir sollen darin den Schlag der himmlischen Hand erkennen, daß uns nicht die tapfersten, sondern die feigsten Feinde unterjochten" (G VII,29) 7 4 . Mithilfe von alttestamentlichen Beispielen (u.a. Gideon, G VII,32f) versucht Salvian zu belegen, daß dieser Zug typisch für Gottes Gerichtshandeln ist, der seinen eigenen Anteil am Geschehen heraushebt. Der Strafvollzug an den Römern durch die Barbaren wird von Salvian doppelt begründet — die Niederlage der Römern mit ihren Lastern, der Sieg der Barbaren aber zusätzlich mit deren Verdiensten bzw. ihrer geringeren Schuld. Die Züchtigung der Katholiken und die Belohnung der Häretiker greifen ineinander 7 5 , Gericht vollzieht sich an beiden Parteien, was hier verdiente Strafe ist, ergibt dort den ebenso verdienten Lohn. Der besonderen Problematik der Gegenüberstellung von Römern und Barbaren wird sich ein eigenes Kapitel im Teil C zuwenden 7 6 .
™ G VII,53ff. u.ö., Näheres unten S. 124f. G VII,27.44.108. 74 „Et uel sic plagam caelestis manus agnosceremus quia nos n o n fortissimi hostium sed ignauissimi subiugarent" (G VII,29). Zur Feigheit der Germanen auch G VII, 2 8 . 3 9 . 4 6 . 5 0 . 5 3 . Weiteres dazu S. 136f. 75 G V , 1 3 . S. 1 1 6 - 1 3 8 .
Geschichtstheologie als Gerichtstheologie
5. Die Bedeutung
des gegenwärtigen
Gerichts für die
45 Geschichtstheologie
Nachdem geklärt ist, wie Salvian seine Rede vom ,Judicium praesens" legitimiert und warum ihm gerade an diesem Aspekt göttlichen Handelns so viel gelegen ist, ist es an der Zeit, die Anwendung dieser Vorstellung auf die Geschichtstheologie zu verfolgen. Der 2. Teil von „De gubernatione Dei" weist nach, wie eben dieses ,Judicium praesens" zur Zeit über das römische Imperium ergeht. Angeklagt und verurteilt werden in diesem Prozeß nicht einzelne, wie so o f t in den von Salvian beigebrachten biblischen Exempeln, sondern angeklagt ist das ganze Volk, das nahezu identisch ist mit der katholischen Christenheit. Auch die Barbaren spielen als Völker, als Gemeinschaften, ihre Rolle in Gottes Gericht. Im ,Judicium praesens" geht es also nicht um die Beurteilung der Individuen, sondern um Verdienst oder Schuld ganzer Nationen. Hier liegt für Salvian der Schlüssel, der ihm ein Verständnis für die Ereignisse seiner Zeit ermöglicht und ihm hilft, seine Gegenwart als sinnhaftes Geschehen zu interpretieren. Unter Einschaltung der Instanz des ,Judicium praesens" ergibt sich für ihn ein Kausalzusammenhang zwischen dem Handeln der Völker und ihrem Geschick: die Schlechten gehen unter, die Guten herrschen. Sieg und Niederlage, Aufstieg und Fall von Staaten sind Ergebnisse des göttlichen Gerichts, Manifestationen seines Urteils, sind Lohn oder Strafe. G o t t gibt das Land und nimmt es wieder 7 7 , G o t t setzt die einen zu Herren ein und unterjocht die anderen 7 8 , kurz: das gegenwärtige Gericht ereignet sich überall (G 1,60). Für Salvian wird damit das gegenwärtige Gericht Gottes zum Movens der Geschichte, die Weltgeschichte ist Schauplatz des ständig sich vollziehenden Gerichts. Geschichte stellt sich so als Abfolge zahlloser Gerichtsverfahren dar, sie zerfällt in viele Tun-Ergehen-Zusammenhänge und erhält ihre Einheit allein durch das Subjekt, durch den ,,deus i u d e x " und durch seinen Willen, der im Gesetz kodifiziert ist und als Norm dem Gericht zugrundeliegt. So sehr Salvian innerhalb der Gesellschaft auch politische oder ökonomische Kausalitäten aufspürt, so wenig erschließt sich ihn. Geschichte als Entwicklung immanenter Gesetze und Zusammenhänge, sondern er versteht jedes neue D a t u m als eine neue Entscheidung G o t t e s 7 9 . Trotz dieser transzendenten Instanz erhält das Handeln der Menschen eine, ja, die entscheidende Bedeutung zuerkannt: da das Gericht streng den Taten 77
G VII,7,25. 78 G VII,27. 79 Vgl. dazu H. J . Dienser, Salvian, 154 Anm. 34.
46
Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
folgt, haben die Menschen durch ihr Verhalten den Geboten Gottes gegenüber die Möglichkeit, ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Salvian lehnt es daher ab, Gott die Schuld am Weltgeschehen zuzuschieben: Es „darf Gott nicht zugeschrieben werden, was aufgrund der Sünde geschieht, denn ein Ereignis wird mit Recht jener Ursache zugeschrieben, die das, was geschieht, bewirkt h a t " (G VII,55) 8 0 . Und so kann Salvian sagen: , J e d e r von uns bestraft sich selbst" (G IV,36) 8 1 . Diese Selbstbestrafung identifiziert er ausdrücklich mit der von Gott in seinem gegenwärtigen Gericht verhängten Strafe 8 2 . Da die Gebote, die zu halten sind, größtenteils ethische Anweisungen enthalten, ist schon durch diese Grundlegung der Geschichtstheologie eine intensive Auseinandersetzung mit dem Lebensstil der Zeitgenossen geboten 8 3 . Konsequenterweise kennt Salvian aber keinen vorgefertigten, langfristigen Heilsplan Gottes, der in bestimmten Phasen von der Schöpfung bis zum Eschaton abläuft. Salvian leugnet diese beiden Grenzpunkte des Weltgeschehens nicht 8 4 , aber sie erlangen keine Bedeutung für seine Konzeption. Zwischen dem Anfang und dem Ende einerseits und dem zwischenzeitlich sich Ereignenden andererseits gibt es keinen systematischen Zusammenhang. Er läßt sich nicht auf irgendwelche heilsgeschichtlichen Spekulationen ein 8 5 , er versucht nicht, seine Gegenwart in irgendeiner Weise mit dem Weltende in Beziehung zu setzen und die Wirren der Völkerwanderungszeit als Anzeichen für die nahe Endzeit zu deuten, wie es neben anderen 8 6 auch in seiner unmittelbaren Umgebung Eucherius 8 7 und Vincentius 8 8 getan haben.
80 „Ac per hoc quicquid actum est peccatis non deo adscribendum, quia recte Uli rei factum adscribitur quae ut quid fieret exegit" (G VII,55). 81 „Vnusquisque nostrum ipse se punit" (G IV,36). 82 „A deo quippe punimur, sed ipsi facimus ut puniamur. . . . quia quicumque dat causam qua puniatur, ipse se punit" (G VIII,8). 83 S.u. Teil C (S. 8 1 - 1 6 2 ) . 84 Die Weltschöpfung wird erwähnt G 1,19.20; IV,41f.; das Endgericht Ε passim, G 1,17f. 38f.22; 11,18.25-28; I V , 3 6 - 3 8 . 85 Das unterscheidet Salvian von den bekannten Geschichtstheologen des 4. und 5. Jahrhunderts wie Orosius und Augustin. Dazu s.u. S. 163—167. 86 So etwa Hieronymus, Ep 60,16 (ed. J. Hilberg, pars I, 570f.); Pelagius, Dem 30 (PL 30,44A/B). 87 „De contemptu mundi" (PL 50, 722C): ,,Dissipatas loquimur opes mundi, cum iam ipse mundus in finem suum vergens spatiis agatur extremis". 88 Commonitorium I (ed. Jülicher S. l,15f.): Die „consideratio temporis" legt ihm die „adpropinquantis divini iudicii terribilis . . . exspectatio" nahe. Weitere gallische Zeugnisse für die eschatologische Deutung der Völkerwanderung bei J. Fischer, Die Völkerwanderung, 105ff.
Geschichtstheologie als Gerichtstheologie
47
Salvian sieht immer nur kleinere Zusammenhänge zwischen dem jeweiligen Verhalten eines Volkes und der darauf folgenden Reaktion Gottes. Wie es danach weitergeht, ist nicht in einem Plan festgelegt und vorprogrammiert, sondern hängt vielmehr allein davon ab, wie das betroffene Volk auf die Strafe Gottes reagiert, ob es sich in Zukunft für oder gegen die Befolgung des Gotteswillens entscheidet. Entsprechend wird dann wieder das göttliche Gericht ausfallen. Auch für Salvian gibt es Einschnitte in dieser Geschichte des immerwährenden Gerichts. Sie sind weitgehend identisch mit den Stufen der heilsgeschichtlichen S c h e m a t a 8 9 , doch haben sie nur begrenzte Bedeutung: weder die Gabe des Gesetzes, noch das K o m m e n J e s u noch die Predigt der Apostel haben an der Art der Beziehung zwischen Gott und den Menschen Grundlegendes geändert. Es änderten sich an diesen Punkten die Konditionen, der Gotteswille wurde jeweils präzisiert und die Anforderungen des Gesetzes verschärft. Das Schema des Umgangs Gottes mit den Menschen bleibt dabei aber konstant, es gilt zu allen Zeiten der Gehorsam fordernde Befehl Gottes. Daher spielt das Wirken J e s u auch nur eine relativ bescheidene Rolle in Salvians Konzeption, besonders wenn man die überragende Bedeutung des Richtergottes damit vergleicht 9 0 . In den heilsgeschichtlich orientierten Konzeptionen erhält das gegenwärtige göttliche Gericht nicht so überragende Bedeutung. Zwar ist auch bei ihnen die Vorstellung anzutreffen, daß Gott schon hier auf Erden richtet, doch hat dieser Gedanke nur peripheren Charakter. Euseb beschreibt das Ende einiger Verfolger der Christen als Gericht G o t t e s 9 1 — ein apologetisches Argument, das Laktanz zu einer eigenständigen Schrift ausgebaut hat 9 2 . Orosius verwendet das Theologumenon vom gegenwärtigen Gericht recht häufig, es ergeht über Einzelpersonen und vorwiegend über Heiden und Verfolger, es erhält aber niemals solches Gewicht, daß der Verlauf der Geschichte im Großen davon betroffen wäre. Der ist von Gott vor aller Zeit festgelegt und hängt nicht von menschlichen Verhaltensweisen ab 9 3 . Zu diesen S t u f e n sowie zu den verschiedenen Nomenklaturen s.u. S. 165 Anm. 12 (dort Literatur). 9 0 Zu Christologie und Soteriologie Salvians s.u. S. 76—80. »1 Kirchengeschichte 1,8,3 (ed. Schwartz S. 2 4 ) ; 1,8,16 (S. 27); 11,7 (S. 4 9 ) ; V I I I , 1 6 , 2 (S. 3 3 7 f . ) . 9 2 De mortibus persecutorum. Gott als Richter bes. I, 5 - 7 . 9 (ed. Moreau S. 79,20—29, 3 6 ) ; LII,1 (S. 1 3 8 , 1 - 6 ) . 9 3 E s gibt bei Orosius zahlreiche Belege für die Anwendung des Terminus „ i u d i c i u m " auf die Vergangenheit und Gegenwart, s. den Index in der Edition von Zangemeister s.v. Deus (S. 7 3 0 ) . S o versteht er die Einnahme R o m s 4 1 0 als Strafe G o t t e s über die 89
48
Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
Augustin ist noch wesentlich zurückhaltender, er erkennt deutlich die Ambivalenz der Vorstellung vom ,Judicium praesens". Er weigert sich, den Grund des jeweiligen Geschicks der Guten und Bösen in einem offenkundigen göttlichen Gericht zu sehen — zwar richtet Gott auch in der Gegenwart, doch ist dieses Gericht unerforschlich 9 4 . Erst im Endgericht wird die Gerechtigkeit Gottes offenbar werden 9 5 . Sowohl die Sicht der Geschichte als Folge von Tun-Ergehen-Zusammenhängen als auch die korporative Behaftung des Volksganzen im gegenwärtigen Weltgericht über Völker und Staaten, haben ihren Ursprung im AT. Nicht ohne Grund bezieht Salvian sich so häufig auf Gottes Handeln an Israel, wie es vor allem im Pentateuch und im deuteronomistischen Geschichtswerk seinen Niederschlag gefunden hat 9 6 . Auch in diesen alten israelitischen Geschichtswerken ist der Tun-Ergehen-Zusammenhang ein wichtiges Bindeglied zwischen Gegenwart und Vergangenheit, „er ist eine wichtige Kategorie geschichtlicher Erkenntnis. An ihr erschließt sich ein Verstehen der Bewertung von Vorgängen durch Jahwe. Als Erkenntnis a posteriori kann sie nicht für ein Geschichtsverständnis in Beschlag genommen werden, das einen kontinuierlich sich entwickelnden ,Plan' Gottes in der Geschichte sich verwirklichen läßt" 9 7 . Auch die Dimension des ganzen Volkes ist im AT bereits in den Blick genommen, und was M. Noth inbezug auf den Deuteronomisten formuliert, gilt in gleicher Weise für Salvian: er „erkennt also in der Geschichte des ganzen Volkes, noch nicht so sehr im Geschick des einzelnen, das gerecht vergeltende Handeln Gottes" 9 8 . Dieses Zitat tangiert ein Problem: Kann das insgesamt gesehen gerechte Urteil nicht im Einzelfall Unrecht sein? Ist es nicht ungerecht, sündige Stadt (VII,39.40, S. 544—552); vgl. dazu A. Lippold, Orosius christlicher Apologet und römischer Bürger, 100. 9* Civ XIX,15 (CChr.SL 48, S. 682), XX,1.2 (S. 6 9 9 - 7 0 1 ) . XX,2 (S. 701): „Nunc vero, quando non solum in malo sunt boni et in bono mali, quod videtur iniustum, verum etiam plerumque et malis mala eveniunt et bonis bona proveniunt: magis inscrutabilia fiunt iudicia Dei et investigabiles viae eius. Quamvis ergo nesciamus quo iudicio Deus ista vel faciat vel fieri sinat". 95 Civ XX,2 (S. 701): Vom Endgericht erwartet Augustin Klarheit: „non solum quaecumque tunc iudicabuntur, verum etiam quaecumque ab initio iudicata et quaecumque usque ad illud tempus adhuc iudicanda sunt, apparebunt esse iustissima. Ubi hoc quoqüe manifestabitur, quam iusto iudicio Dei fiat, ut nunc tam multa ac paene omnia iusta iudicia Dei lateant sensus mentesque mortalium". Mit diesem Endgericht befassen sich die Bücher XX—XXII. 96 G 1 , 2 7 - 6 0 ; 11,13-23; u.ö. 97 J. Kegler, Politisches Geschehen und theologisches Verstehen, 148. 98 M. Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien I, 100.
Geschichtstheologie als Gerichtstheologie
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wenn die wenigen Guten wegen der vielen Schlechten mitverurteilt werden? Oder reicht gar — im Extrem — ein Schuldiger aus, um die ganze Gemeinschaft der Strafe verfallen zu lassen? Oder können wenige Gehorsame die Mehrheit von Sündern kraft ihrer Verdienste retten? Die letztgenannte Position, die ein starkes Selbstbewußtsein der Asketen spiegelt, wie es etwa der Verfasser des „Epigramma S. Paulini" erkennen l ä ß t " , lehnt Salvian ab, sie übersteigt die Möglichkeiten jedes Menschen. Nach Ez 14,14 können nicht einmal Noah, Daniel und Hiob ihre Kinder retten. Angewandt auf die Gegenwart heißt das für Salvian: „Dadurch ist jegliche Hoffnung einer falschen Ansicht beseitigt, durch die wir glauben, die zahllose Menge verlorener Menschen könne durch die Fürbitte der wenigen Guten von den gegenwärtigen Übeln gerettet werden" (G III, 58) 10°. Inbezug auf die anderen beiden Möglichkeiten argumentiert Salvian nicht einheitlich. Einerseits führt er an, die Gemeinde als Leib werde verletzt durch das Verbrechen eines einzigen in ihrer Mitte (G VI,2). Er beruft sich dabei auf alttestamentliche und neutestamentliche Beispiele und Anweisungen 1 0 1 . Salvian vergleicht die Kirche mit einem Auge — fällt auch nur ein winziges Schmutzteilchen hinein, kann es nichts mehr sehen (G VIII, 81f). Andrerseits gibt es eine konziliantere Seite in seiner Argumentation. Zwar beweist bereits die Frage, ob die Mehrheit der Gehorchenden die Minderheit der Sünder retten könnte, wie sehr sich die Kirche von ihrem Ursprung entfernt hat, dennoch aber stellt er die Rettung aller bei Gehorsam der meisten in Aussicht (G V,60; VI,5) 1 0 2 . In all diesen Diskussionen ist der Blick immer allein auf das „iudicium praesens" und auf die gesamte Bevölkerung des Imperium Romanum gerichtet, es geht nur um die Frage, welche Gruppe der Bevölkerung den Ausschlag für das Gerichtsurteil über alle gibt — die Schicksalsgemeinschaft wird nicht aufgehoben. Inbezug auf das Gericht über den einzelnen wird der Tun-Ergehen-Zusammenhang gleich auf doppelte Weise durchbrochen: durch den Verweis auf das zukünftige Gericht und durch die Infragestellung der These: gottgemäßes Leben erbringt als Lohn Wohlergehen. »9 V. 8 7 f f . (ed. Schenkl, S. 5 0 7 ) . 100 „Ac per hoc sublata est omnis spes falsae opinionis, qua credamus innumeram perditorum hominum multitudinem suffragio paucorum bonorum a praesentibus malis posse defendi" (G 111,58). G VI,2: I Kor 5,6; G VII,81f.: J o s 7; II Sam 24; Mt 6 , 2 2 ; I Kor 5,6. 102 ,,Salubritas esset omnium generositas plurimorum" (G V , 6 0 ; vgl. G IV, 17). 4 Badewien, Geschichtstheologie
50
Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
Der erste P u n k t , in „De gubernatione Dei" fast ganz ausgeblendet, wird in „Ad ecclesiam" abgehandelt. Das Gericht über den einzelnen Christen ist ebenfalls ein Gericht nach den Werken und somit im Grunde ein Tu'nErgehen-Zusammenhang, denn entsprechend den Taten während des irdischen Lebens werden ewiger Lohn oder ewige Strafe zugemessen 1 0 3 . Der Mensch hat selbst die Möglichkeit, sich für eines zu entscheiden, er wählt „nach seinem Willen und seinem Urteil a u s " (E 1,7) 1 0 4 und m u ß die Folgen tragen. Das Muster des Gerichtsverfahrens ist also das gleiche, die Dimensionen allerdings sind beträchtlich verschoben. Die zweite Argumentation spielt dagegen in „De gubernatione Dei" eine bedeutendere Rolle. Ein Rückschluß vom Ergehen des einzelnen auf das göttliche Urteil wird abgewehrt mit der asketischen Lehre, daß wahre Christen die Nachfolge J e s u in Leiden, Schwachheit und Niedrigkeit auf sich nehmen, daß ihnen keineswegs Glück und Erfolg verheißten ist 1 0 5 . Salvian zitiert Mt 10,38: „Wer nicht sein Kreuz getragen hat und mir gefolgt ist, ist meiner nicht würdig" (G 111,14) 106 . In diesem Kreuztragen finden die wahren Christen, die Religiosi und Sancti, ihr Glück in selbstgewählter Niedrigkeit 1 0 7 . Auch inbezug auf das Geschick der Völker hat Salvian Einwände gegen die Gleichsetzung von Wohlergehen mit L o h n , von Niedergang mit Strafe Gottes erhoben, doch hat diese Argumentation dort keinen Einfluß auf seine weitere Darstellung und sein Konzept der Geschichtstheologie gehabt108.
II. Das Gesetz als Norm des
Gerichts
Salvians theologische Deutung der Zeitereignisse als gegenwärtiges Weltgericht Gottes ist in starkem Maße durch sein Gesetzesverständnis geprägt, das nachdrücklicher als andere dogmatische Themen explizit in besonde-
103 Ε I V , p a s s i m . 104
„Voluntatique ac sententiae suae deditus his in futuro adhaereat condicione, quibus hie adhaesit affectu" (E 1,7). '05 G I,8f.; 1 3 - 1 6 . Ähnlich Augustin, Civ 1,10 (CChr. SL 47, S. 1 0 - 1 2 ) . 106 „Et qui non tulerit crucem suam et secutus me fuerit, non est me dignus" (G 111,14). 107 Zu Salvians asketisch geprägtem Ideal von einer „vita Christiana" s.u. S. 138ff. 108 G 111,6; vgl. dazu o.S. 22f.
Gesetz als Norm des Gerichts
51
ren systematischen Abschnitten entfaltet wird 1 . Insgesamt werden die Ausführungen zum Gesetz zu einem roten Faden, der die so heterogenen Komplexe der Bücher III—VIII von innen her zusammenhält 2 . 1. Der
Sprachgebrauch
Salvian definiert an keiner Stelle, was er unter „lex" versteht. Geht man seinem Sprachgebrauch nach, so finden sich verschiedene Bedeutungen, die jeweils aus dem Kontext zu erschließen sind. Zum einen kann „lex" Äquivalent zu Tora sein und so die Gesetzesbücher des AT bezeichnen (G 111,8). Daneben kann „lex" auch die Gesamtheit der alt testamentlichen Gottesgebote umschließen und dem Evangelium als den Geboten des NT gegenübergestellt werden (E 11,23). Die weiteste und wichtigste Bedeutung erhält „lex" als Oberbegriff für die göttlichen Gebote allgemein, gleichgültig, ob sie dem AT oder dem NT entstammen. AT und NT werden dann unterschieden als „vetus" und „nova l e x " (E 1,57; 11,50). 2. Der Inhalt des Gesetzes Das Gesetz besteht aus ethischen Geboten, es macht viele Vorschriften inbezug auf den Lebensvollzug, enthält aber wenig Glaubensinhalte. Es ist Handlungsanweisung, nicht Anleitung zum Glauben, es zielt auf ein Leben in Vollkommenheit für alle Christen durch Befolgung der in ihm enthaltenen Gebote ab. Vor allem besteht das Gesetz aus den Forderungen des Dekalog, sowie den verschärfenden „mandata" der Verkündigung Jesu. Unter den Geboten Jesu unterscheidet Salvian zwischen „praecepta minora" und „praecepta maiora". Zu den „minora" gehören die Verbote zu schwören (G 111,31), zu streiten (111,22), sich zu wehren (111,24), zu lästern (111,31), zu neiden (111,33), zu verleumden (111,35) zu zanken (III, 35), zu murren und zu klagen (111,36) sowie die Ehe zu brechen durch begehrliche Blicke (111,37). Diese „praecepta minora" bilden den Grundbestand dessen, was jeder Christ zu jeder Zeit befolgen muß 3 , ihre Befolgung reicht allerdings zur Erlangung des Heils noch nicht aus 4 . » G III; I V ( 1 - 1 2 ) ; 6 4 - V . 1 4 ; VI,53f. Es ist daher um so erstaunlicher, daß das Gesetzesverständnis Salvians bisher noch nicht untersucht worden ist. 3 „ quae minora atque communia in summa quiete et omni tempore omnes Christiani obire possumus" (G 111,22). 4 „ . . . non quia sufficiat ad salutem, si maioribus spretis minora faciamus" (G III, 30). 2
52
Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
Zu den „praecepta maiora", die ebenfalls im Prinzip allgemeinverbindlich sind 5 , gehören Vorschriften, die eine durchgreifende Veränderung der bisherigen Lebensgewohnheiten erfordern: das Verbot von Besitz (G 111,14; Ε passim), von Vorsorge (G 111,10) und die Aufforderung zu echter Feindesliebe (G III, 1 Of). Bei dieser Einteilung bleibt der Dekalog unberücksichtigt, seine Gebote sind für Salvian selbstverständliche Norm christlichen Lebens, wie der Rekurs auf die in ihnen enthaltenen Bestimmungen im Verlauf der gesellschaftskritischen Abschnitte zeigt.
3. Gesetz als Offenbarung
Gottes
Gesetz ist für Salvian immer „lex dei", von Gott den Menschen offenbartes Gesetz. Die Gabe des ersten Gesetzes erfolgt unmittelbar nach der Schöpfung — und die erste Übertretung durch Adam führte zu ersten Verurteilung (G 1,27). Am Sinai gibt Gott dem Volk Israel das geschriebene Gesetz es erklingt „aus göttlichem Munde", „mit göttlichem Finger" sind seine „Buchstaben, Zeilen, Seiten in ein Buch aus Stein" eingeschrieben (G 1,43). Diese Gabe erfolgt zur , Erziehung des Volkes" (ebd), sie ist eine Manifestation der göttlichen Pädagogik. Salvian charakterisiert das Sinai-Geschehen als Lehrbzw. Lernvorgang: „Ein lernendes Volk und ein lehrender Gott und, indem Menschen und Engel nahezu vermischt sind, eine Schule des Himmels und der Erde" (ebd) 6 . So entsteht das Gesetz durch einen feierlichen Offenbarungsakt, den Salvian durch unmittelbare Gottesnähe qualifiziert sieht und der deswegen eine Vorwegnahme himmlischer Verhältnisse bedeutet 7 . Den Akt der Gesetzesoffenbarung am Sinai nimmt der Sohn Gottes vor, „vetus lex" und „nova lex" rücken somit noch enger zusammen, beide können als „munus Christi" gelten (so G IV,64) 8 . Als Offenbarung ist das Gesetz eine freie Kundgabe des göttlichen Willens. Die Menschen erfahren durch das Gesetz, wie sie dem Willen Gottes ent-
5 Vgl. dazu unten S. 141ff. „ . . . discentem populum et docentem deum, ac mixtis paene hominibus atque angelis unam caeli ac terrae scholam" (G 1,43). 7 „ . . . ut cum praesentis saeculi uitam agerent, speciem iam futurae beatitudinis possiderent" (G 1,44). 8 Zum Verhältnis von AT und NT s.u. S. 70—72. 6
Gesetz als Norm des Gerichts
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sprechend leben sollen. Wer das im Gesetz Gebotene mit Füßen tritt („legitima calcamus", G V,12), tut seinen Willen nicht 9 . Das Gesetz verleiht dem Willen Gottes seine unbedingte Gültigkeit für das Leben der Christen, ihm zu gehorchen wird zur Maxime christlichen Lebensvollzuges.
4. Kenntnis
des Gesetzes
als Verpflichtung
zum
Gehorsam
Aus dem Offenbarungscharakter des Gesetzes ergibt sich als Konsequenz, daß die Gebote nur für die Menschen verbindlich sein k ö n n e n , die Kenntnis von dieser Offenbarung, überhaupt Kenntnis von G o t t haben — also nur für J u d e n und Christen. Wer G o t t nicht kennt, kennt auch sein Gesetz nicht (G 1,1; IV,69). Und so unterteilt Salvian die Menschheit in zwei Gruppen: die einen stehen unter dem Gesetz, die anderen außerhalb des Gesetzes 1 0 . Wer außerhalb des Gesetzes steht und keine Kenntnis von ihm hat, kann es aber auch nicht übertreten. Salvian zitiert R o m 4,15: „Denn . . . wo kein Gesetz ist, gibt es keine Übertretung (G I V , 9 5 ) n . Die Unkenntnis des Gesetzes macht die Heiden — und auch die nichtrömischen Häretiker — weniger schuldig, auch wenn sie gleiche Taten begehen wie katholische römische Christen: ,,Die Unkenntnis des Gesetzes würde einigermaßen entschuldigen" (G IV,92) 1 2 . Salvian wird nicht müde seinen Lesern diese These von der geringeren Schuldhaftigkeit des Handelns der Heiden und Häretiker in immer neuen Varianten darzulegen 1 3 . Ein Großteil der Beweislast für die Gerechtigkeit des göttlichen Gerichts ruht auf dieser unterschiedlichen Bewertung der Taten der in die Ereignisse verwickelten Parteien 1 4 . Die Schuld einer Handlung liegt also nicht unmittelbar in der Handlung selbst, sondern in der Divergenz dieser Tat zu einem göttlichen Gebot. Die Entschuldigung aufgrund nicht selbst zu verantwortender Ignoranz dehnt Salvian auch auf die nichtrömischen Häretiker aus, obwohl sie doch die Bibel kennen und sich auf sie stützen. Salvian sieht in der „lex dei" jedoch ein unantastbares Corpus, das nur in Vollständigkeit und Unversehrtheit seine K r a f t entwickeln kann. Die arianischen Germanenstämme haben · 9
„ . . . dei [uoluntatem] nos facere nolimus" (G V,13). duas euidenter exposuit partes generis humani, extra legem positos et in lege uiuentes" (G IV,78). 11 ,, . . . quia . . . ubi non est lex, nec praeuaricatio" (G IV,95). 12 „ . . . certe ad praesens adhuc legis ignorantia aliquatenus excusaret" (G IV,92). 13 So G I V , 7 7 - 7 9 ; 92.95; V , 5 - l l . Μ Dazu s.u. S. 127ff. 10
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Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
die lex aber nur in verstümmelter Form und belastet durch eine falsche Lehrtradition, so daß „plenitudo" und „incolumitas" verlorengegangen sind, wodurch die „lex" der „virtus sacramentorum" beraubt worden ist — kurz: „non habent, quae sic habent" (G V,6.7) 15 . Die unverfälschte Kenntnis des Gesetzes wird somit zum Privileg der katholischen Römer („praerogativa", G IV,65): „Denn wir allein haben die heiligen Schriften vollständig, unverletzt, unversehrt, die wir sie entweder an der Quelle trinken oder die bereits an der allerreinsten Quelle geschöpften durch den Dienst der unverfälschten Weitergabe kosten: wir allein lesen sie gut" (G V,6) 16 . Das Gesetz der katholischen Römer ist unüberbietbar, es enthält die Wahrheit 1 7 und hebt die Römer über die Barbaren hinaus: „Dem katholischen Gesetz nach sind wir unvergleichlich besser" (G IV,64) 18 . Dieses Privileg des unverfälschten Gesetzes hat allerdings eine Kehrseite: Wie die Heiden und Häretiker durch mangelnde Kenntnis des Gesetzes entschuldigt werden, so stürzt das Vorrecht des Wissens um den Gotteswillen die Christen im Fall der Übertretung um so tiefer in Schuld: „Denn der verehrt eine heilige Sache nicht, der sie nicht heilig verehrt, und deswegen ist das Gesetz selbst, das wir verehren, unser Ankläger" (G IV,64) 19 . Und wenig später heißt es ähnlich: „Hier liegt unsere ganz besondere Schuld, die wir das göttliche Gesetz lesen und das geschriebene Gesetz immer verletzen, die wir behaupten, Gott zu kennen und doch seine Gebote und Vorschriften mißachten" (G IV,70) 20 . ls Dazu vgl. W. Henss, Leitbilder der Bibelübersetzung im 5. Jahrhundert, 81—85. Henss versteht hier G V,5—11 als Hinweis auf die in katholischen Kreisen der Zeit öfter zu belegende Kritik an der Unzuverlässigkeit der gotischen Bibel. In seinem neueren Aufsatz, Die Integrität der Bibelübersetzung im religiösen Denken des 5. Jahrhunderts, wertet er jedoch den von Salvian behaupteten Verlust von „plenitudo" und „incolumitas" nicht als mangelnde quellenmäßige Vollständigkeit, sondern als Verlust der Partizipation am göttlichen Pleroma: nur in der katholischen Kirche gibt es die richtige Lehrtradition, die Voraussetzung zum vollgültigen Verstehen der biblischen Schriften ist. Henss erinnert an die Wertung des jüdischen Schriftverständnisses durch die Christen und an die Lehre des Origenes vom dreifachen Schriftsinn. 16 „Nos ergo tantum scripturas sacras plenas, inuiolatas, integras habemus, qui eas uel in fonte suo bibimus uel certe de purissimo fonte haustas per ministerium purae translationis haurimus. Nos tantummodo bene legimus" (G V,6). 17 „Ueritas apud nos est" (G V,9). 18 „ . . . lege autem catholica sine comparatione meliores" (G IV,64). 19 „Neque enim colit qui rem sanctam non sancte colit, ac per hoc accusatrix nostri est lex ipsa quam colimus" (G IV,64). 20 „Noster ergo hie peculiariter reatus est, qui legem diuinam legimus et legalia semper scripta uiolamus, qui deum nosse nos dicimus et iussa illius ac praecepta calcamus" (G IV,70).
Gesetz als Norm des Gerichts
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Aus dem Privileg wird durch Ungehorsam Schuld, die nicht eingelöste Verpflichtung klagt an. Salvian erwartet von jedem, der einen höheren Rang einnimmt, ein vorbildhaftes Verhalten, das Versagen des Höhergestellten ist schuldhafter als das Versagen des Niedrigen: „Denn um so verbrecherischer ist die Schuld, je ehrenhafter der Stand" (G IV,57) 2 1 . Innerhalb der Gesellschaft gilt diese Sonderverpflichtung dem Adel und den Reichen 2 2 , innerhalb der Kirche dem Klerus und den Asketen 2 3 , und innerhalb der Völkerwelt kommt der Christenheit und damit der Bevölkerung des Imperium Romanum diese Rolle zu. Die Christen haben die Verpflichtung, besser zu sein als andere, nicht nur genauso schlecht und schon gar nicht schlechter 2 4 . Das Nichtgenügen gegenüber diesem Postulat verstrickt in tiefere Schuld: „Wo das Vorrecht höher ist, dort ist die Schuld größer" (G IV, 58) 2 S . Die Schuld der Christen besteht einmal in der Übertretung des göttlichen Gebotes selbst. Doch zum Ungehorsam tritt das für Salvian unerträgliche Auseinanderklaffen von Anspruch und Realität innerhalb der Christenheit hinzu. Christen beanspruchen, an Gott zu glauben, ihn zu verehren, und sie erklären sich vor aller Welt schon durch ihren Namen als Schüler Christi. Sie zeigen in ihrem Handeln aber nur eine permanente Mißachtung der „lex" und lästern damit Gott. In scharfer Antithese formuliert Salvian diesen'Widerspruch: „Wo ist das katholische Gesetz, an das sie glauben? . . . Sie lesen die Evangelien und sind schamlos, sie hören die Apostel und betrinken sich, sie folgen Christus und rauben, sie führen ein ehrloses Leben und behaupten, ein ehrbares Gesetz zu haben" (G IV,82) 2 6 . Dieses Mißverständnis enthält eine unendliche Beleidigung Gottes und dazu einen skandalösen Anlaß zur Gotteslästerung für die Heiden. Denn nichts erscheint Salvian selbstverständlicher als der Rückschluß aus dem Verhalten der Schüler auf die Lehren des Meisters, aus der moralischen Qualität des Lebens der Christen auf den Inhalt der Gebote Jesu: „Es ist für alle leicht, das Gesetz Christi zu verstehen: sieh, was die Christen tun, und du kannst klar verstehen, was Christus lehrt" (G IV,84) 2 7 . 21
„Criminosior enim culpa est, ubi honestior status" (G IV,57). G I V , 1 7 ; VII,19f. » Ε II,37ff.43ff.; G V,51ff. 24 Z.B. G IV,57: „meliores esse debemus". 25 „Ubi sublimior est praerogatiua, maior est culpa" (G IV,58). 26 „Ubi est lex catholica quam credunt? . . . Euangelia legunt et impudici sunt, apostolos audiunt et inebriantur, Christum sequuntur et rapiunt, uitam inprobam agunt et probam legem habere se dicunt" (G IV,82). 27 „Promptum est omnibus Christi intellegere doctrinam: uide Christiani quid agant, et euidenter potes de Christo scire quid doceat" (G I V , 8 4 ) . 22
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Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
Und so bringen die Christen durch ihre permanente Mißachtung der Gebote die Lehre Jesu und den Gehalt der biblischen Schriften in Mißkredit: „Denn wenn sie Gutes lernen würden, wären sie gut. Fürwahr — der, dem man folgt, ist so wie die, die ihm folgen! Sie sind zweifellos das, was sie gelernt haben. Daher ist es offensichtlich, daß die Propheten, die sie haben, Unreinheit lehren, die Apostel, die sie lesen, Frevel angeordnet haben und die Evangelien das predigen, was sie t u n " (G IV,83) 2 8 . Christen ehren Gott nicht mit ihrem Leben, wie ihnen geboten ist, sondern sie bieten den Heiden Anlaß zur Lästerung — das ist die tiefere Komponente ihrer Schuld. Die Grundlage dieses Arguments bildet die von Salvian aufgenommene Theorie vom „Tugendwissen" 2 9 . Wer das Gute erkannt hat — und das Gute ist immer gleichzusetzen mit dem Willen Gottes — der folgt ihm auch. Wer eine Lehre für richtig und wahr erachtet, der handelt in ihrem Sinne: „Heiliges würden Christen tun, wenn Christus Heiliges gelehrt h ä t t e " (G IV,84) 3 0 . Salvian benutzt daher auch so o f t Begriffe wie „scientia", „agnoscere", „legere", Worte also, die die intellektuelle Erfassung eines Objekts bezeichnen, wenn er das Verhältnis der Christen zur „lex dei" ausdrückt 3 1 . Die rationale Erfassung des Inhalts der „lex" müßte ausreichen, um dem Gesetz entsprechende Taten freizusetzen. Umgekehrt gilt, daß eine schlechte Tat unvernünftig ist: „Daher kann sich überhaupt keine schlechte Tat auf Vernunft gründen, denn Verbrechen können mit der Vernunft nicht in Verbindung gebracht werden" (G IV,41) 3 2 . Empirisch konstatiert Salvian allerdings das Gegenteil: „Wir kennen nämlich das Gute, doch wir handeln nicht gut. Wir verstehen den Unterschied zwischen gut und böse und wir folgen dem Bösen. Wir lesen das Gesetz 28 „Si enim bona discerent, boni essent. Talis profecto secta est quales et sectatores! Hoc sunt absque dubio quod docentur. Apparet itaque et prophetas quos habent, impuritatem docere, et apostolos quos legunt, nefaria sanxisse, et euangelia quibus imbuuntur, haec quae ipsi faciunt praedicare" (G IV,83).
Salvian greift in diesem Zusammenhang den alten Vorwurf auf, in der Eucharistie würden thyesteische Mahlzeiten abgehalten. Für ihn ist das ein Musterbeispiel dafür, wie das Bild der Kirche nach außen verzerrt wird durch das ungesetzliche Leben ihrer Glieder: aufgrund ihrer Beobachtung des unmoralischen Verhaltens der Christen sind die Heiden zu ihrer absurden Fehlinterpretation gekommen (G IV,86). 29 Vgl. J. Vogt, Kulturwelt und Barbaren, 62. 30 „Sancta a Christianis fierent si Christus sancta docuisset" (G IV,84). 31 „legere" G IV,70.79; „scientia" G IV,79.90; „nosse" G IV,86; „agnoscere" G IV, 92; die Nachweise ließen sich vermehren. 32 quidem licet nullum admodum malum facinus ratione subsistat, quia rationi non possunt scelera coniungi" (G IV,41).
Gesetz als Norm des Gerichts
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und treten das Gebotene mit Füßen" (G V,12) 3 3 . Wenn das Wissen um das Gute nicht bis zur Tat durchschlägt, so ist dafür der böse Wille verantwortlich, die „rebellio" (G V,12), das „Studium malae uoluntatis" (G VI,9). Da das Böse, der Ungehorsam gegen Gott, einem freien Willensakt entspringt, ist der Mensch voll dafür verantwortlich. Eine nicht willentlich, etwa im Wahnsinn begangene Tat birgt dagegen keine Schuld in sich, „denn der Wille begeht kein Verbrechen, wo in Raserei gesündigt wird" (G VI, 8 6 ) U m g e k e h r t reicht der Wille zur Tat bereits zur Verurteilung aus, auch wenn aufgrund äußerer Einflüsse die Tat nicht ausgeführt werden kann: „Wir können einsehen, daß wir allein für den Willen zu schändlichen Taten verurteilt werden, wenn wir auch die schändlichen und verdammenswerten Taten notgedrungen nicht ausführen" (G VI,49) 3 5 . Inbezug auf diesen letzten Punkt argumentiert Salvian nicht einheitlich. An mehreren Stellen verficht er eine solche Gesinnungsethik 3 6 , er kann jedoch auch einen gegenteiligen Standpunkt beziehen. So entgegnet er auf den Einwand, Sklaven hätten nur deshalb keine Konkubinen, weil es ihnen in ihrem Stand verwehrt sei, und keineswegs deshalb, weil sie ethisch besser seien als die Reichen: „Aber vielleicht mag dann geantwortet werden: den Sklaven ist ja nicht erlaubt, so etwas zu tun; denn sicherlich würden sie es tun, wäre es ihnen erlaubt. Ich glaube das wohl, aber wenn ich nicht sehen kann, daß es geschieht, kann ich es nicht ebenso beurteilen, als wäre es geschehen" (G IV,29) 3 7 . Diese Unausgeglichenheit zeigt 3 8 , daß Salvian nicht streng systematisch denkt. Er hat vielmehr ein Argumentationsziel und er nimmt sich zu seiner Erreichung die Argumente, die ihm ad hoc passend erscheinen. Die Sklaven sollen entschuldigt werden, daher zählt nur die ausgeführte Tat, die Römer müssen als schuldig erwiesen werden, daher gilt bereits der Wille wie die vollbrachte Handlung. Wie ein Anwalt vor Gericht paßt Salvian seine Argumente jeweils den aktuellen Erfordernissen an. Auf eine Stimmigkeit und Widerspruchslosigkeit im gesamten Rahmen der ausgedehnten Schrift achtet er nicht sonderlich. 33
„Scientes enim bona n o n bene agimus et discretionem recti ac praui intellegentes praua sectamur; legem legimus et legitima calcamus" (G V , 1 2 ) . 34 „Quamquam in his omnibus nulla res minus culpanda est quam amentia, quia uoluntas crimen n o n habet ubi furore peccatur" (G VI,86). 35 „Intellegere possumus quod, etiamsi res turpes atque damnabiles necessitate n o n agimus, pro ipsa tarnen rerum turpium uoluntate damnamur" (G VI,49). * Außer G VI,49 auch VI,6 und praef. 4. 37 „Nam profecto facerent, si liceret. Credo, sed quae fieri non uideo, quasi facta habere n o n possum" (G IV,29). D. J. Cleland, Salvian and the Vandals, 271, spricht in diesem Zusammenhang von „blatant contradiction". 38 Vgl. dazu o.S. 29f und 49f.
58
Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
Der rhetorische Charakter des Werkes zeigt sich an solchen Punkten besonders stark. Die Anteile, die Vernunft und Wille an der Umsetzung des Gesetzes ins Handeln haben, lassen sich nicht auseinanderdividieren. Intellektualistischer und voluntaristischer Ansatz greifen ineinander. Der Wille konterkariert nicht nur den rational gebotenen Gehorsam, er kann auch das Gute frei wählen (vgl. Ε 1,7) 39 . Die anthropologischen Aussagen Salvians sind aber wie die meisten seiner dogmatischen Explikationen ad hoc formuliert und der jeweiligen Argumentation angepaßt, sie lassen sich nicht zu einer systematischen Anthropologie zusammenfassen 40 . In seiner Betonung der „ignorantia" der Barbaren und der „necessitas" der Sklaven — und auch der rebellischen Bagauden — plädiert Salvian für mildernde Umstände. Er fragt für die Bewertung einer Tat sowohl nach der objektiven wie auch nach der subjektiven Schuld, wobei er der letzten die für die Verurteilung ausschlaggebende Bedeutung beimißt. Eine solche Abwägung findet sich im römischen Strafrecht nicht, wohl aber in der rhetorischen Statuslehre, sie gehört zum „status qualitatis" und damit zum Instrumentarium des Anwalts. Cicero nennt als Entschuldigungsgründe, die für einen Angeklagten vorgebracht werden können „error", „ignorantia", „imprudentia" und „necessitas" 40a . Die Zubilligung der „necessitas" für Sklaven und Bagauden und der „ignorantia" für die Barbaren entspringen somit der gleichen Wurzel, Salvians Argumentationen in der Gesellschaftskritik und in der Geschichtstheologie sind also strukturell verwandt und zeigen schon damit ihre Zusammengehörigkeit .
39
Zur Frage des freien Willens bei Salvian vor allem u. S. 179f. Anders W. Blum, Das Wesen Gottes, der versucht, Salvians Anthropologie wie auch sein Gottesverständnis auf triadische Formeln zu bringen. Den anthropologischen Größen esse — velle — conscientia sollen die Gott zugeordneten Begriffe praesentia — gubernatio — iudicium entsprechen (334—341, bes. 340f.). Diese Systematisierung erscheint aber als sehr fragwürdig angesichts der unsystematischen Denkweise Salvians. Die von Blum herausgestellten Begriffe liegen dabei auf verschiedenen Ebenen (er sieht das selbst, S. 334 Anm. 38!) und lassen sich nicht in eine Linie bringen. Zudem fallen wesentliche Aspekte des Salvianschen Menschenverständnisses dabei heraus, so das stark ausgeprägte intellektualistische Element. Die Systematisierung Blums erscheint daher inadäquat und zum Verständnis Salvians wenig hilfreich. 40a Dazu F. Horak, Die rhetorische Statuslehre und der moderne Aufbau des Verbrechensbegriffs. Horak stützt sich besonders auf Cicero, De inventione 1,11.15 (S. 135, Anm. 68). 40
Gesetz als Norm des Gerichts
5. Zur Frage eines natürlichen
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Gesetzes
Wenn Salvian die Schuldhaftigkeit einer Tat von der Kenntnis eines Gesetzes abhängig macht, das Heiden und Häretikern unbekannt ist, bzw. nur versehrt vorliegt, dann stellt sich die Frage, ob in seiner Konzeption eine „lex naturalis" Platz hat. Auch an diesem Punkt kann keine klare Antwort gegeben werden, Salvians Haltung zum natürlichen Gesetz bleibt ambivalent. Das erste Gesetz hat Gott Adam gegeben (G 1,27). Von diesem Ansatzpunkt her könnte eine naturrechtliche Konzeption entwickelt werden, Salvian verzichtet aber darauf, er zielt nur daxauf ab, Gottes Urteil über Adam zu legitimieren, die Bestrafung als gerecht zu erweisen, und gemäß seiner Devise „ohne Gesetz keine Übertretung" 41 ist die vorangehende Gabe eines Gesetzes dazu notwendig. Folgerungen inbezug auf eine die ganze Menschheit bindende Forderung Gottes zieht Salvian hieraus nicht. Ein einziges Mal spricht er explizit von „lex generalis": „Bindet doch die eigene Natur der Menschen und die allgemeine Gewohnheit alle gleichsam durch ein allgemeines Gesetz, daß wir denen mehr Dank schulden, von denen wir etwas geschenkt bekommen haben" (Ε IV,17) 42 . Das Gewissen („conscientia") ist die Instanz, die diesem Gesetz zur Geltung verhilft. Doch auch dieser Ansatz gewinnt für Salvians theologische Konzeption in „De gubernatione Dei" keine Bedeutung. Gleich zu Beginn seiner Erörterung der Weltregierung Gottes zeigt Salvian, wie die besten heidnischen Philosophen 43 aufgrund eigener Überlegungen und irgendeiner, von ihm nicht näher qualifizierten Kraft die regierende und lenkende Tätigkeit Gottes erkennen konnten: „Wenn also auch die, die außerhalb der Religion stehen, durch eigene Kraft und von irgendeiner Macht getrieben, sagen, daß alles von Gott wahrgenommen, bewegt und regiert wird,
4
« G IV,95 (mit Rom 4,15). „Nam et natura ipsa hominum consuetudoque communis hac quasi generali cunctos lege constringit ut a quibus aliquid liberalitatis accipimus, plus eis gratiae debeamus" (Ε IV,17). 43 Salvian nennt Pythagoras (G 1,2), Plato (1,3), die Stoiker (1,3), Vergil (1,4) und Cicero (1,4), er polemisiert gegen Epikur (1,5). Alle von Salvian angeführten Zitate finden sich bei Lactanz biv inst I, 5 und 6 (ed. Brandt, S. 13ff.) in nahe beieinanderliegenden Kapiteln. Es wird daher allgemein eine Benutzung des Lactanz durch Salvian angenommen (seit W. A. Zschimmer, Salvianus, der die entsprechenden Textpassagen nebeneinander stellt; S. 62). Salvian bezeichnet die von ihm zitierten Philosophen und Dichter als „principes et philosophiae simul et eloquentiae" (G 1,5). 42
60
Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
wie glauben da einige, daß er gleichgültig und nachlässig sei?" (G 1,5) 44 . Die Zielrichtung des Arguments wird deutlich, mehr holt Salvian aus diesen Sätzen nicht heraus, er rekurriert auch später nicht auf sie. Es ist überdies zu beachten, daß zwar eine gewisse Erkenntnis des göttlichen Handelns zugestanden wird, daß aber jeder Hinweis auf eine mögliche Erkenntnis von Grundzügen des Gotteswillens durch die Heiden fehlt. Ein weiterer Ansatzpunkt zu einer Theologia naturalis liegt in der Funktion der „ratio" in der Argumentation. An mehreren Stellen appelliert Salvian zur Beurteilung theologischer Sätze an diese Instanz. Er erklärt es für „unvernünftig" („inrationalis"), anzunehmen, Gott habe die Welt zwar geschaffen, kümmere sich aber nicht mehr um sie. Er stützt seine Ansicht mit dem Hinweis auf die Ordnung der Schöpfung und der menschlichen Gesellschaft, die nicht ohne lenkenden Geist vorstellbar sei (G I,19ff; IV,41ff). Auch ein Gebet könnte sich unter der Voraussetzung, daß Gott nicht die Geschicke der Welt lenke, nicht auf Vernunft gründen (G 1,24). Die Beurteilung menschlichen Handelns unterliegt ebenfalls der „ratio". Vernunftgemäßes Handeln kann nicht verbrecherisch, sondern m u ß immer gut sein (vgl. G IV,41). Vernunftgemäßes Handeln führt dazu, entsprechend den göttlichen Gesetzen zu leben, weil das Nutzen verspricht und deswegen der eigenen Natur des Menschen adäquat ist 4 5 . Auch bezeichnet es Salvian als nicht rational, Lohn und Glück auszuschlagen (E 111,37). Die rationalen Erwägungen zugängliche „utilitas" ist es auch, die Salvian zu einer eschatologischen Begründung der Askese führt: das Glücksstreben verlangt den Einsatz aller möglichen Mittel, um des im Jenseits verheißenen Glücks teilhaftig zu werden (E 11,47). In all diesen Stellen ist „ratio" als instrumenteile Vernunft als „gesunder Menschenverstand" anzusehen. Sie liefert Erkenntniswege, auf denen Ziele erreicht werden sollen, die sie nicht selbst bestimmt. Ihre Grenze findet die „ratio" an Gott selbst. Die rationale Argumentation für die Richtertätigkeit Gottes bedarf der Ergänzung durch biblische „exempla" und „testimonia": „Vielleicht könnte mancher für zu unbedeutend halten, was die Vernunft darlegt, wenn es nicht durch Beispiele glaubhaft gemacht wird"
44
„Cum ergo ömnes etiam religionis expertes ui ipsa et quadam necessitate compulsi et sentiri omnia a deo et moueri et regi dixerint, quomodo nunc eum incuriosum quidam ac neglegentem putant" (G 1,5). 45 „Consideremus non quid professione sed quid ratione, non quid uoto sed quid salubritate ipsa facere debeamus. Dicite mihi, quaeso, omnes religiosi, numquid est ullus hominum, qui non omnia quae facit uel salutis suae uel certe utilitatis gratia facial?" (Ε II,45f.).
Gesetz als N o r m des Gerichts
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(G 1,27) 46 . Vernunftgemäßes Fragen kann nur soweit in die göttlichen Geheimnisse vordringen, wie Gott sie offenbart und damit der Erforschung zugänglich gemacht hat, denn Gott steht über aller Vernunft (G 111,3)47. Desgleichen spricht die Tatsache, daß die Vernunft die Gerechtigkeit göttlichen Handelns nicht überall erkennen kann, nicht gegen die Gerechtigkeit, sondern zeigt nur die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit auf (G IV, 47). Die „ratio" ist somit ein zugelassenes, der Offenbarung untergeordnetes Erkenntnisprinzip. Sie steht nicht neben der Offenbarung und hat keinen eigenständigen Zugang zur Erkenntnis des göttlichen Willens. Salvian erweist sich hier als an der Bibel orientierter Theologe. Die Bedeutung des natürlichen Gesetzes für die Geschichtstheologie Salvians entscheidet sich daran, ob in der ausführlichen Diskussion um das Gesetz bei katholischen Römern und heidnischen bzw. häretischen Barbaren 4 8 die Möglichkeit einer natürlichen Erkenntnis von Wesen und Wollen Gottes in den Blick kommt. Wenn irgendwo, dann müßte hier die „lex naturalis" für die Gesamtkonzeption nutzbar gemacht werden. An dieser Stelle aber zeigt sich, daß Salvian nicht mit einem von der Offenbarung unabhängigen Naturgesetz rechnet. Die Entschuldigung der heidnischen und häretischen Barbaren, auch wenn sie Gleiches tun wie die Römer 4 9 , wäre sonst nicht möglich. Heiden sind vielmehr durch kein Gesetz gebunden, und was die Häretiker veranlaßt, nach Gottes Willen zu leben, so wie sie ihn verstehen, ist ein Rest von Erkenntnismöglichkeit, der ihnen aufgrund ihrer unvollkommenen Kenntnis des offenbarten Gesetzes geblieben ist 5 0 . Eine andere Weise, Gottes Willen — und d.h. sein Gesetz — zu erkennen, gibt es nicht. Das ist um so erstaunlicher, als gerade betont moralistische Theologen zur Bejahung eines natürlichen Gesetzes neigen. Tertullian 5 1 und Pelagius 52 , die jeweils starken Einfluß auf Salvian ausgeübt haben, sind Beispiele hierfür. Es könnte sich der Verdacht nahelegen, daß Salvian an dieser so wichtigen 46
„Sed parum esse fortasse quispiam putet quod hoc ratio declarat, nisi probetur exemplis" (G 1,27). 47 plus est deus quam ratio" (G 111,3). "8 G IV,57—V,14. 49 Vgl. o.S. 53f und u.S. 127ff. so G V , 5 f f . 51 Z.B. Adversus Iudaeos II (ed. Tränkle S. 4—6); zum Einfluß Tertullians auf Salvian vgl. J. P. Waltzing, Tertullien et Salvien, der die Benutzung der Apologie Tertullians durch Salvian nachweist. Ebenso M. Pellegrino, Salviano, 201—203, und L. G. Patterson, God and History in early Christian Thought, 132—139 („Salvian and the Tertullianist Revival"). Vgl. auch u. S. 83ff. 52 Dem I I I - V (PL 3 0 , 1 7 - 2 1 ) . Zum Einfluß des Pelagianismus s.u. S. 176ff.
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Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
Stelle das Naturgesetz außer Acht läßt, weil es dem Ziel seiner Argumentation zuwider laufen würde. Eine solche Hypothese ist nicht ganz abwegig, denn wir haben an anderen Stellen gesehen, wie bedenkenlos Salvian seine Argumente wählt, wenn sie nur im Moment passend erscheinen 53 . Jedoch — gleich ob diese Interpretation akzeptiert wird oder nicht, es muß konstatiert werden, daß an dieser Schlüsselstelle seines Werkes das Naturgesetz nicht ins Spiel kommt. Zu diesem Befund paßt eine weitere Beobachtung. Anders als in vielen anderen Erörterungen der Fragen von Besitz und Habsucht fehlt in „Ad ecclesiam" unter der Fülle der Argumente das naturrechtliche, der Hinweis nämlich, daß von Natur aus alle Menschen gleich seien und alle Ungleichheit, jedwedes Eigentum, erst von Menschen eingeführt und damit als Verkehrung der Schöpfung, der Natur, anzusehen sei 54 . Als Fazit läßt sich somit sagen, daß Salvian an peripheren Stellen durchals ansatzweise naturrechtliche Elemente in sein Denken einbezieht, nicht jedoch im Zentrum seines geschichtstheologischen Konzepts. 6. Die Verbindlichkeit
des Gesetzes
Grundsätzlich erhebt Salvian die Forderung, daß alle Gebote zu allen Zeiten von allen Christen erfüllt werden müssen. Er begründet diese totale Verpflichtung gegenüber dem Gesetz auf mehrfache Weise. Alle Gebote müssen erfüllt werden, weil es den Christen nicht zusteht, aus den Befehlen Gottes nach eigenem Gutdünken die ihnen genehmen auszuwählen. Salvian analogisiert das Verhältnis Gottes zu den Menschen dem Verhältnis eines (irdischen) Herrn zu seinen Sklaven. Selbst unter Menschen haben alle Gebote des Herrn gleiche Geltung — wieviel mehr gilt das, wenn der Befehlende Gott ist! „Es gibt nämlich keine gerechte Begründung, warum einige hervorgeholt werden, wo doch alle befolgt werden müssen. Denn so wie Sklaven menschlicher Herren keinesfalls auswählen dürfen, welche Vorschriften des Herren sie befolgen und welche nicht, so müssen auch wir, die wir Sklaven unseres Herrn sind, es für gänzlich unerlaubt halten . . . " (G III, 29) 5S . 53 Vgl. S. 16, 33f., 41 u.ö. 54 Die naturrechtliche Argumentation gegen das Eigentum findet sich u.a. bei Cyprian, Op et el 25 (ed. Härtel, S. 393f.), Basilius, Horn. 5,7 (PG 31, 2 7 6 B - 2 7 7 A ) und Horn. 7,8 (PG 31, 324 C - 3 2 8 B ) , Ambrosius, Off 11,38 (PL 16, 38B), Nab 1,2 (ed. Schenkl Teil 2, S. 469f.), Luc VII,124 (ed. Tissot Bd. 2, S. 52f.), „Pelagius", Div VIII,3 (ed. Caspari, S. 35f.). 55 „Neque enim iusta causatio est cur proferantur aliqua, ubi facienda sunt omnia. Sicut enim dominorum carnalium seruis eligere . . . omnino non licet quae ex praeceptis
Gesetz als Norm des Gerichts
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Eine zweite Begründung liegt im Charakter des Gesetzes: es ist heilig und aufgrund dieser Heiligkeit des Ganzen muß es in seiner Ganzheit unversehrt bewahrt und befolgt werden. Wer ein Gebot übertritt, verletzt das ganze Gesetz und macht sich des Delikts der Übertretung generell schuldig. Die Geschichte Davids zeigt, daß ,,unus error suus" (G 11,17.18) seine ganzen zuvor erworbenen Verdienste zunichte macht und ihn der Strafe verfallen läßt 5 6 . Daher genügt es auch keineswegs, nur die „praecepta minora" zu erfüllen, und die „praecepta maiora" beiseite zu lassen: „Denn es reicht zum Heil nicht aus, wenn wir die kleineren Gebote tun und die größeren verschmähen (G 111,30)". Die Gebote Jesu stellen aber auch keine Interimsethik dar, die nur in den längst verflossenen Zeiten des Anfangs der Kirche und der Verfolgung der Christen Geltung besessen hat. Denen, die eine solche These vertreten, hält Salvian entgegen, daß Gottes Gesetz für alle Zeiten gilt 58 . Zwar wird jetzt kein Einsatz des Lebens im Martyrium mehr gefordert, aber die treue Erfüllung des Kleinen im täglichen Leben erhält als Dank für das göttliche Geschenk des Friedens besondere Dringlichkeit. Durch „Reinheit makelloser Taten und Heiligkeit eines unbefleckten Lebens" (G 111,20)59 sollen die Christen sich als „geeignete Vollstrecker" („exsecutor idoneus", G III, 21) des göttlichen Willens qualifizieren. Die Verbindlichkeit des Gesetzes für alle Christen ergibt sich wiederum aus zwei Gründen. Der erste, in „Ad ecclesiam" vorgetragen, besteht darin, daß alle Christen gleichen Lohn wollen (ewiges Leben) und daher auch alle Gleiches leisten müssen, dem gleichen Gesetz unterstehen: „Aber vielleicht erscheint der Satz hart, der alle in gleicher Weise zur Vollkommenheit ruft und alle unter ein Gesetz zwingt, da nicht alle unter ein und derselben Bedingung leben. Sehr richtig könnte darauf gesagt werden; weil alle
erilibus faciant quae n o n faciant, sic nos, qui serui domini nostri sumus, inlicitum o m n i n o existimare debemus . . . " (G 111,29); vgl. auch G 111,40. Ähnliche Aussagen finden sich bei Pelagius, D e m 16 (PL 3 0 , 3 0 A / B ) , und im pelagianischen Brief „Honorificentiae tuae" 1 (Caspari, S. 6). Weiteres dazu s.u. S. 186. 56 Vgl. auch G 111,30 (nach Jak 2,10). Gleich streng Ep. „Honorificentiae tuae" 1 (Caspari, S. 6) und Div XIX,2 (Caspari, S. 61). 57 „non quia sufficiat ad salutem, si maioribus spretis minora faciamus" (G 111,30). 58 So auch Ep IX,6. Die gleiche Polemik findet sich in Div X, 4.5 (Caspari, S. 41 f.), s.u. S. 188. s9 „ . . . immaculatorum actuum puritate et uitae incontaminabilis sanetitate" (G III, 20).
64
Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
ewig leben wollen, müssen alle so handeln, daß sie am Leben teilhaben k ö n n e n " (E 1,10) 6 0 . In „De gubernatione Dei" argumentiert Salvian, dem Tenor des ganzen Werkes entsprechend, von der Gemeinschaft der Christen her. Die Gemeinde als Leib ist b e t r o f f e n von der Handlungsweise jedes Gliedes 6 1 . Die Konsequenzen, die Salvian daraus zieht, sind nicht eindeutig, wie oben ausgeführt worden ist 6 2 . Wichtig ist jedoch, daß die Gemeinschaft Bezugsp u n k t der Argumentation ist, nicht der einzelne und sein Seelenheil. Die Forderung der Gesetzeserfüllung ist damit in ihrer Radikalität in den präsentischen und kollektiven Horizont des göttlichen Weltgerichts integriert. Neben der „ h a r t e n " Linie gibt es aber auch angepaßtere, dem normalen Christen entgegenkommendere Aussagen Salvians zu diesem Thema. Neben dem strengen Asketen k o m m t auch der Seelsorger zu Wort, der etwas mehr Augenmaß für das Mögliche andeutet. So läßt sich Salvian immer wieder zu Zugeständnissen an die Normalchristen herbei, obgleich er stets die Einschränkung macht, daß eigentlich jedes Abrücken von der Totalität der Forderung illegitim ist. So entwickelt er als Seelsorger — gegen seinen erklärten Willen — doch eine Zweistufenethik, die für Laien einen geringeren Grad an Verbindlichkeit der Vollkommenheitsforderung zuläßt als für Kleriker und Mönche. Den Klerikern verkündet Jesus die Pflicht zu vollkommenem Leben — und das heißt hier vor allem: zu einem Leben in A r m u t —, für die Laien bleibt es dagegen freiwillige Leistung: „Daher ist, was ihnen (= den Klerikern) der Erlöser selbst im Evangelium auferlegt, für sie nicht wie für die anderen ein freiwilliger, sondern ein befohlener Dienst zur V o l l k o m m e n h e i t " (Ε II, 39 ) 63 . Dem Laien gilt dagegen: „Wenn du vollkommen sein willst . . , " 6 4 . Auf den unterschiedlichen Grad der Verpflichtung für den Laien („si uis") und den Kleriker („nolo possideas" nach Mt 10,9, Ε 11,40) macht Salvian explizit a u f m e r k s a m : „Ihr seht, wie groß der Unterschied in diesen beiden Worten Gottes ist" (ebd) 6 S .
60 „Sed austera forsitan uideatur esse sententia cunctos aequaliter ad perfectionem uocans et una omnes lege conpellans, cum utique non sit uniuersorum una condicio. Rectissime quidem dici ad ista poterat, quod cum omnes perpetuo uelint uiuere, omnes id agere deberent, ut uitam participare possint" (E 1,10). «i G VI,2; auch VII,81; milder V,60 und VI,5. « Dazu s.o. S. 48f. 63 „Unde est quod eis saluator ipse in euangelio, non ut ceteris uoluntarium, sed imperatiuum officium perfectionis indicit" (E 11,39). „ira" G 1,32; I V , 3 4 ; V , 5 0 ; V I , 6 2 . 8 9 ; VII,7 u . ö . 8 G 1,19f.; I V , 4 2 ; bes. Ε 11,4: d o m i n u s qui te p r i m u m munere suo genuit". 9 G VIII,7. »o G I , 4 3 f . ; I V , 6 4 . » G I V , 4 6 — 5 1 ; Ε 11,4. 12 „ b e n e f i c i a " G 1,47; V I , 2 6 . 6 5 ; V I I . 9 . 1 1 ; Ε 1,25; 11,3. 13 „Indigni itaque caelestibus donis sumus qui beneficiis dei n o n b e n e u t i m u r et facimus rem operum bonorum materiam tantum esse u i t i o r u m " (G V I , 6 5 ) . 14 Zu Salvians Verständnis v o n Gnade vgl. u. S. 1 8 0 — 1 8 5 . 15 „ D e u s enim pius est ac misericors et qui, ut scriptum est, n e m i n e m uelit perire uel laedere" (G VIII,7 m i t Zitat II Pet 3 , 9 ) . 16 „Clementissima e n i m ac benignissima castigatione m a u u l t n o s corrigere q u a m perire" (G I V , 1 0 ) , vgl. o. S. 4 2 f . 2
Salvians Gottesbild
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aller Liebe, alle menschliche Liebe zum Guten und zu anderen Menschen ist Wirkung dieser Liebe Gottes 17 . Gegenpol zur Barmherzigkeit und Liebe ist die Gerechtigkeit Gottes. Beide stehen nicht in Widerspruch zueinander, wenn es bisweilen so aussieht, zeugt das nur vom mangelnden menschlichen Erkenntnisvermögen 18 . „Gottes Wille ist höchste Gerechtigkeit" (G 1,30) 19, sein offenbarter Wille (im Gesetz) ist deswegen auch Maßstab für jede menschliche Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit Gottes ist nicht hinterfragbar, eine Scheidung seiner Taten in gerecht und ungerecht ist nicht erlaubt (G 111,3) 20 . Als Sachwalter der Gerechtigkeit ist Gott der Richter, der die Einhaltung seines Gesetzes überwacht und Übertretungen bestraft 2 1 . Aus Gerechtigkeit gerät Gott in Zorn, wenn er die Schlechtigkeit der Menschen sieht. Salvian kann sich nur schwer von dem philosophischen Ideal der göttlichen Apatheia losreißen: Gottes Geist und Würde lassen sich nicht zum Zorn verleiten, die Sünden zwingen ihn aber dennoch dazu: „Ihrer Natur nach sind Geist und Würde Gottes so beschaffen, daß sie nicht durch die Leidenschaft des Zorn erregt werden, dennoch ist die Erbitterung über unsere Sünden so groß, daß er von uns gezwungen wird zu zürnen" (G IV,34) 2 2 . In diesem aufgezwungenen Zorn sendet er Unglück 23 . Der Zorn ist aber uneigentliches Handeln Gottes, die Christen müssen „jede Art von Geschossen" einsetzen, um seine Barmherzigkeit zu überwinden (G IV,35) 2 4 . Gerechtigkeit und Liebe Gottes finden ihren Ausdruck in den Bezeichnungen „dominus" und „pater" für Gott. L. J . van der L ö f 2 5 hat darauf aufmerksam gemacht, daß diese beiden Titel Gott als universalen „pater familias" darstellen, dessen Aufgabe die „Ausübung von Herrschafts- und Strafgewalt einerseits und Schutz- und Fürsorgepflicht andererseits" 26 umfaßt. Van der Löf stellt einige Zitate zusammen, in denen beide Begriffe „in 17 praesertim cum omnis in nos rerum bonarum amor ex illius b o n o amore descenderit" (G IV,44). . . . ita amorem erga nos suum per eum quem nobis erga nostros dedit amorem, uoluit intellegi" (G IV,45). »» G 1,47, vgl. 1,30. 19 „Summa iustitia est uoluntas dei" (G 1,30). 20 Weiteres dazu oben $. 3 8 - 4 1 . 21 Zum „deus iudex" vgl. die Ausführungen S. 31 ff. 22 „Cumque eius naturae sit mens dei atque maiestas ut nulla iracundiae passione moueatur, tanta tarnen in nobis peccatorum exacerbatio est ut per nos cogatur irasci" (G IV,34), vgl. auch V I I , 1 2 . 5 2 ; VIII,7). 23 „Aduersa enim nobis per iracundiam dei ueniunt" (G VI,62). 24 „ . . . ita nos ad expugnandam misericordiam dei omni peccatorum immanium scelere quasi omni telorum genere pugnamus" (G IV,35). 25 Die Gotteskonzeption und das Individuum bei Salvianus. ^ Ebd. 3 2 0 .
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Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
einem A t e m " v o r k o m m e n 2 7 . Zu Recht sieht er bei Salvian eine „Gottesk o n z e p t i o n " , die durch „das römische Gesellschaftsleben" stark beeinflußt ist und „jüdische (dh biblische, J.B.) und römische Bestandteile" zusammenfaßt28. Die Polarität von Liebe und Gerechtigkeit k o m m t aber auch im Bild von G o t t als Arzt zum Ausdruck, der in Milde und Strenge nur ein Ziel hat: die Heilung des Patienten 2 9 . Salvian entwickelt keine Gotteslehre, er spekuliert nicht über das Wesen Gottes, sopdern er versteht G o t t aus seinem Handeln an der Welt, aus seinem Lenken und Richten, das „ a m o r " und „iustitia" erkennen läßt. Mögliche Widersprüche sind durch die Grenzen menschlicher Erkenntnis bedingt und liegen nicht in G o t t selbst. Mit der Beschränkung der Liebe auf das Ziel des göttlichen Handelns und die Bereitstellung der Möglichkeiten, gerecht zu leben und mit der Betonung der Gerechtigkeit als Eigenschaft des Richters über das menschliche Leben bleibt Salvians Gottesbild ganz im R a h m e n seiner ethisch orientierten Theologie.
IV. Christologische
und soteriologische
Aspekte
Ebensowenig wie eine ausgeführte Gotteslehre entwickelt Salvian eine systematische Christologie. Person und Werk Christi können in seiner Theologie nicht als Zentrum bezeichnet werden. In Jesus sieht er zuerst und vor allem den Gesetzgeber, den Lehrer der göttlichen Gebote. O f f e n b a r u n g des alten wie des neuen Gesetzes sind Werk des Gottessohnes 1 , A T und NT rücken damit eng zusammen, sie sind zwei Stufen des einen Gotteswillens 2 , das ganze Gesetz gilt als „ m u n u s Christi" (G IV,64). Als „magister" verkündet Jesus den Willen des Vaters, alle, die ihm nachfolgen, sind seine 27
Ebd. 321; Van der Löf zitiert G VI,90; Ep IX,7f. und Ε 111,20. Ebd. 323. Van der Löf zeigt, daß sich Salvian hier an Laktanz anschließt, der die römische Vatervorstellung des Pater et Dominus auf den Gott der Christen überträgt (vgl. dazu A. Wlosok, Laktanz und die philosophische Gnosis, darin den Anhang: Die Gottesprädikation Pater et Dominus bei Laktanz. Gott in Analogie zum römischen Pater Familias; 232—242, sowie von der gleichen Autorin: Vater und Vatervorstellungen in der römischen Kultur, 48—54. 28
™ G V,3; VI,91; VII,3f. 1 G 1,43 nennt sowohl Gott als auch den Gottessohn in Zusammenhang mit dem Sinaigeschehen: ,,adde hue erudiendae gentis officio descendentem ad terras deum, accommodantem se terrenis uisibus deum filium". 2 Vgl. Ε 11,19; zum Verhältnis von AT und NT bei Salvian vgl. oben S. 7 0 - 7 2 .
Christologische und soteriologische Aspekte
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„discipuli" (G IV,84). Das intellektuelle, kognitive Element der Beziehung Gott-Mensch wird gerade in der Beschreibung dieses Verhältnisses als Belehrung bzw. Lernvorgang deutlich 3 . Jesus tritt aber nicht nur als Lehrer hervor. Das von ihm verkündete Gesetz ist Handlungsanweisung zum Leben, und der Verkünder ist zugleich das Vorbild der Erfüllung dieses Gesetzes. Er lebt den Gotteswillen in unerreichbarer Vollkommenheit: „Keiner würde es schaffen, seinen Lebensweg so zu gehen, wie ihn der Erlöser gegangen ist" (G 111,15)4. Die Christen sind aufgerufen, in Jesu Fußstapfen zu treten und seine Nachahmer zu werden. Salvian zitiert (mit leichten Veränderungen) I Pet 2,21: „Christus . . . hat uns ein Beispiel hinterlassen, damit wir seinen Spuren folgen" (GVI,29) 5 . Als erste folgten die Apostel seinen Spuren (G 111,17.18.26) und alle Mitglieder der Urgemeinde zu Jerusalem (E 111,40—44) und heute leben die Sancti in diesem Sinn als „imitatores Christi", „Christi imagines" und „Christi membra" (Ε II,13) 6 . Neben der Bedeutung Jesu als Lehrer und Vorbild treten die Heilsereignisse Inkarnation, Tod und Auferstehung in den Hintergrund. Die Auferstehung erwähnt Salvian überhaupt nicht, sie hat in seiner Argumentation keine Funktion. Fleischwerdung, Leiden und Tod am Kreuz sind Ausdruck der übergroßen Liebe Gottes zu den Menschen, sind Selbstverleugnung des Gottessohnes. Die asketische Leibfeindlichkeit Salvians kommt hier sehr krass zum Ausdruck, er malt die Erniedrigung des Christus durch seine Menschwerdung in anschaulichen Bildern vor Augen: „Denn deinetwegen, ο Mensch . . . hat der Herr der Welt die Erde betreten, wurde er im Fleisch geboren und lebte er im Fleisch, erniedrigte er sich bis zur Schmach des menschlichen Anfangs, bis zum Schmutz der Windeln und zur Ärmlichkeit der Krippe, erduldete er die unwürdigen Bedürfnisse dieses Lebens, das Essen, das Trinken, die traurigen Wechsel von Schlafen und Wachen, die schmählichen Notwendigkeiten dieses vergänglichen Erdenwandels (E 11,4) 7 . Es folgt eine an3 Dazu sei noch einmal auf G 1,43 verwiesen: discentem populum et docentem deum . . . unam caeli ac terrae scholam", aber auch G I V , 8 3 . 8 4 wird das Lehren Christi und das Lernen seiner Anhänger ausgesprochen. 4 illud absque dubio nullus efficeret, ut per uiam uitae istius sie incederet sicut saluator incessit" (G 111,15). 5 „Christus . . . exemplum nobis relinquens ut sequamur uestigia eius" (G VI,29, Zitat II Pet 2,21). 6 Zum Ideal christlichen Lebens vgl. unten S. 138—161. 7 quod propter te, ο h o m o . . . rerum uniuersarum dominus terras adiit, ex carne pariter et in carne processit, humiliatus usque ad humani exordii pudorem et pannorum inluuiem et praesepii uilitatem, tolerans indignas se uitae istius passiones edendi bibendi, somni uigiliarum aegras uicissitudines et caducae istius conuersationis con-
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Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
schauliche Darstellung der Passion und eine knappe Formulierung über den Tod am Kreuz 8 . Jesus wird mehrfach als „salvator" bezeichnet 9 , sein Tod als Opfer 1 0 , als Loskauf 1 1 . Die Tat Jesu als deutlichstes Zeichen der Liebe Gottes gilt voraussetzungslos gerade den „Schlechten, Ungerechten, äußerst Gottlosen" (G IV,46), denn „hätte er sie den Heiligen und denen, die es verdient haben, gewährt, hätte er offensichtlich nicht etwas gewährt, was er nicht schuldig gewesen wäre, sondern etwas zurückgegeben, was er schuldig war" (G IV, 49) 1 2 . Ganz offensichtlich repetiert Salvian hier traditionelle dogmatische Terminologie. Nirgends führt er aus, was eigentlich unter dem Loskauf zu verstehen sei, wovon denn eigentlich die Menschen durch das Opfer Jesu befreit wurden. Im Gegenteil! Das Werk Jesu schafft neue Verpflichtungen gegen Gott, die mit menschlichen Mitteln nicht zu erfüllen sind. Selbst wenn die Schuld des Menschen in nichts anderem bestünde als in der Verpflichtung, dieses Opfer Jesu zu vergelten, könnte sie nicht getilgt werden: „Sage mir, ob du heiligmäßig bist oder dich für heilig hältst, ich frage dich, ob dies allein bezahlt werden kann, auch wenn nichts anders geschuldet w ü r d e ? . . . Es kann überhaupt nicht gutgemacht werden" (E 11,6) 13 . Die Konsequenz daraus ist aber nicht etwa ein christlicher Quietismus, sondern im Gegenteil höchste Anstrengung, diese Schuld so weit wie möglich aufzuarbeiten, bzw. zumindest keine neue Sünde hinzukommen zu lassen. Salvian fordert zur „retributio" auf. In der weitestgehenden Form versteht er unter dieser „retributio" das Martyrium, wobei der Tod des Menschen den Tod des Gottessohnes nicht aufwiegen kann 1 4 . Die zweite, eingeschränkte Form der „retributio", die den Lebensverhältnissen in einem christlichen Staat angepaßt ist, besteht in der Liebe, angespornt durch das Beispiel Jesu 1 5 . Salvian fordert die Christen auf, als Gegenleitumeliosas necessitates" (Ε 11,4), ähnlich G VI,26—29; leibfeindliche Aspekte finden sich auch in Salvians Verherrlichung asketischen Lebens, s.u. S. 154f. 8 Ε 11,5. G VI,27.29 („passus pro nobis"). 9 Z.B. Ε 11,8; G 111,15.31; IV,51; VI,27.29 u.ö. ι» „se inpendit" Ε 11,8; G 111,15. 11 „redemptio" Ε 11,24; G VI,27. 12 „Si enim sanctis et bene meritis praestitisset, non uidebatur quae non debuerat praestitisse, sed quae debuerat reddidisse" (G IV,49). 13 „ . . . quicumque ille aut sanctus es aut sanctum te esse credis, die mihi, quaeso, numquid solui haec sola possunt, etiam si nulla alia debeantur? . . . solui omnino non potest" (Ε 11,6). 14 mortem morte reddamus . . . tametsi minoris multo pretii mors nostra est quam sua" (G IV,50). I s „ . . . amore soluamus"; ut nos ad reddendam pietati tantae uicissitudinem pietatis suae traheret exemplo" (G IV,51).
Christologische und soteriologische Aspekte
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stung „fromm und gerecht" ihr Leben zu führen 1 6 , als „populus boni operis" und „populus sanctitatis (G VI,29). Die Forderung ist total, sie läßt sich nicht auf irgendwelche Kasuistik ein, niemand darf sich selbst oder irgendetwas von seinem Besitz zurückhalten, denn selbst wer alles gibt, kann das gesteckte Ziel nicht erreichen. Die Heilstat Christi hat somit nach Salvian vor allem zur Folge, daß der Imperativ bis ins Letzte radikalisiert wird. Neben der Sünde durch Gesetzesübertretung, die die Heiligen durchaus meiden können, stürzt die Tat Christi in Schuld — die aber belastet jeden Einzelnen wie die Gesamtheit der Menschen gleichermaßen (E 11,6—8)17. Salvian formuliert noch einen weiteren Grund, der Anreiz bieten soll zur totalen Hingabe an Gott, der allerdings nicht auf die Christol'ogie, sondern auf die Eschatologie verweist: es gilt nicht nur, die beiden genannten Defizite abzudecken, sondern zusätzlich die himmlischen Güter zu erwerben: „Wenn wir den Reichtum nicht geben zur Vergebung der Sünden, sollen wir ihn wenigstens zum Erwerb der Seligkeit geben" (E 11,54) 18 . Die Addition dieser drei Punkte ergibt, daß Salvian den Weg der vollständigen Selbsterlösung abschneiden will, daß er keine Selbstrechtfertigung lehrt. Heilsgewißheit aufgrund erbrachter Leistungen kann und darf es nicht geben 1 9 . Salvian ruft dazu auf, alle Berechnungen bleiben zu lassen, keiner darf irgendetwas zurückhalten, denn keiner braucht zu befürchten, Gott mehr zu geben als er schuldet (E 11,50). Salvian verneint damit die Möglichkeitkeit der Selbsterlösung, er spricht vielmehr von der Erlösung durch den Tod Jesu 2 0 . Doch wie diese Erlösung dem Gläubigen vermittelt wird, sagt er an keiner Stelle. Salvian entläßt seine Leser in dieser Frage mit großer Unsicherheit. Möglicherweise denkt er, der kirchlichen Praxis entsprechend, an eine sakramentale Anteilnahme des Christen am Heilswerk Christi, aber die Sakramente haben innerhalb seiner Darlegungen keinen Platz gefunden. Von der Bedeutung der Eucharistie spricht er nirgends 2 1 , die Taufe hat ihre zentrale Bedeutung als eidliche Verpflichtung des Täuflings zu einem Leben nach den Geboten (G VI,31—34), ohne den Gehorsam gegen das Gesetz nützt sie nicht zum Heil (G 111,8). 16
„ . . . uitam pie ac iuste agant" (G VI,28). Vgl. dazu S. 72f und 188f. 18 „Et ideo si opes non damus ob peccatorum redemptionem, demus saltim ad emendam beatitudinem" (E 11,54). 19 „ . . . hoc ipsum tamen genus maximae iniustitiae est si se iustum praesumat" (G 111,58). 20 „ . . . cum morte ipsius redemptionem acceperimus" (G VI,27). 21 Die Erwähnungen der Eucharistie E" 11,23 und G IV,85 sagen darüber nichts aus. 17
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Salvians Geschichtstheologie und ihre Prämissen
Möglicherweise denkt Salvian auch an einen letzten göttlichen Gnadenakt im „iudicium f u t u r u m " , der den, der „immer strebend sich gemüht" hat, erlöst. Göttliches und menschliches Handeln greifen jedenfalls ineinander, ohne intensivste Anstrengung der Menschen in ihrem Leben ist das Heil nicht zu haben. Über Gottes Weise, das Fehlende auszugleichen, spekuliert Salvian nicht. Sein Interesse gilt dem Anteil, den die menschliche Aktion am Heilsgeschehen hat, die anderen Aspekte verblassen daneben.
C. Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians I. Die Konkretionen der Anklage I: Salvians Kritik an der Lebensweise aller Christen 1. Die Exposition:
Buch
III
Die erste und grundsätzliche Kritik, die Salvian vorbringt, gilt dem Leben aller Christen. Der Presbyter hält seinen Zeitgenossen als Spiegel die Gebote Jesu aus der Bergpredigt vor. Die von ihm als „praecepta minora" bezeichneten Vorschriften beziehen sich vor allem auf kleinere alltägliche Verrichtungen, auf die innere Haltung des Christen sowie auf sein Verhalten zu seinen Mitmenschen. Die schwereren Gebote greifen stärker in das Leben derer, die sie befolgen ein, sie ziehen eine grundsätzliche Veränderung der Lebensform nach sich 1 . Bezüglich der „praecepta minora" konstatiert Salvian nicht nur eine Nichtbeachtung durch die Christen, sondern ihre direkte Umkehrung: „Wir aber tun mit Eifer und mit aller Kraft nicht nur das Befohlene nicht, sondern wir handeln im Gegensatz zu dem, was uns befohlen wird" (G III,43) 2 . Während Christus befiehlt, nicht zu streiten und lieber auf sein Recht zu verzichten als zu prozessieren, zielen die Christen darauf ab, ihren Gegnern möglichst alles wegzunehmen (G 111,22—24). Statt Unrecht zu ertragen, teilen sie möglichst nach allen Seiten Schläge aus (G 111,24), und von der Goldenen Regel beherzigen sie nur den ersten Teil (G 111,25). Statt überhaupt nicht zu schwören, schwören Christen Meineide. Statt nicht zu lästern, verwünschen sie (G 111,31). Sie sollen nicht neiden, doch Mißgunst und Verleumdung kennen bei ihnen keine Grenzen (G III,33f), sie sollen nicht murren, doch sie zanken und sie klagen über alles, was es auch sein mag (G III,35f). Salvian stellt diese seine Anklagen undifferenziert und ohne weitere Konkretionen in den Raum. Die Vorwürfe bleiben pauschal und blaß, der Presbyter hält eine Bußpredigt, von der sich jeder — oder auch niemand — betroffen fühlen muß. Die traditionellen Topoi der Bußpredigt werden Zur Unterscheidung der „praecepta minora" und „maiora" s.o. S. 51f. „ . . . porro autem nos omni studio, omni nisu, non solum iussa non faeimus, sed contra id faeimus quod iubemur" (G 111,43). 1
2
6 Badewien, Geschichtstheologie
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
nirgendwo durchbrochen, die Anklage läßt sich nicht an einer bestimmten Situation festmachen, sie ließe sich ohne Schwierigkeit in jede andere Gesellschaft zu jeder beliebigen Zeit transponieren. Das Fazit, daß „von uns überhaupt keiner der Befehle des Herrn gehalten" wird (G 111,41)3, macht auch die Abzweckung dieser Ausführungen deutlich: keiner kann auch nur die geringste Spur einer Lebensführung vorweisen, die vor Gott bestehen könnte. Alles ist schlecht, nichts ist gut oder zumindest ausreichend. Dieser Abschnitt sagt mehr über Salvians Rhetorik und über seine theologische Absichten (die Rechtfertigung des Weltgerichts) aus als über die Zeitgenossen und ihr Verhalten 4 . Die gleiche Praktik wiederholt Salvian auf einer etwas anderen Ebene. Er klagt nicht nur das Verhalten der Christen an, sondern er bezieht seine Kritik explizit auf die Kirche als Körperschaft, als die Gemeinde Jesu. „Die Kirche selbst, die in allem die Versöhnerin Gottes sein sollte, was ist sie anderes als die Verhöhnerin Gottes" und die „ganze Christenheit" beschimpft er als „Auswurf von Lastern": „Wie wenige findet man in der Kirche, die nicht Trinker, Genießer, Ehebrecher, Unzüchtige, Räuber, Schlemmer, Banditen oder Mörder sind" „wie wenige gibt es, die nicht etwas — wie wenige, die nicht alles davon sind" (G III,44f) 5 ! Für die Christen seiner Zeit besteht daher Heiligkeit bereits in einem geringeren Maß an Lasterhaftigkeit (G 111,46). Eine Kirche, in der man sich nicht mehr verpflichtet weiß, nach den Gesetzen dessen zu leben, der dort als Herr verehrt wird — das ist für Salvian Verunglimpfung Gottes. Die „Furcht vor der Würde des Heiligen" 6 ist gewichen, Reue, Sündenbekenntnisse sind nur noch äußerliche Riten, die gewohnheitsmäßig vollzogen werden, ohne daß sie Einfluß gewinnen auf die Lebensgestaltung. Nach dem Gottesdienst, nach dem Verlassen der Kirche wird das bisherige Leben ungebrochen fortgesetzt (G 111,47—49). Hier sind sicherlich eigene Erfahrungen Salvians eingeflossen: der Prediger klagt über die mangelnde Effektivität seines Wirkens. Zugleich wird hier aber Wesentliches zur Ekklesiologie ausgesagt: Salvian versteht die Kirche als
3
„ . . . cum a nobis nihil penitus dominicae iussionis fiat" (G 111,41). So auch Ν. K. Chadwick, Poetry and Letters in Early Christian Gaul, 163, die deswegen Buch III zum 1. Teil der Schrift zählt. 5 „Ipsa ecclesia, quae in omnibus esse debet placatrix dei, quid est aliud quam exacerbatrix dei? . . . Quotum enim quemque inuenias in ecclesia non aut ebriosum aut helluonem aut adulterum aut fornicatorem aut raptorem aut ganeonem aut latronem aut homicidam? . . . Quotus quisque hominum non aliquid est horum aut quotus quisque non totum?" (G III,44f.). 6 „ . . . sine ulla penitus reuerentia sacri honoris" (G 111,47). 4
Gesellschaftskritik I: Schauspiele
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Gemeinschaft all derer, die entschlossen ihr ganzes Leben nach den göttlichen Geboten ausrichten, die damit in ihrem Leben G o t t verherrlichen wollen 7 . Buch III schließt mit einem Abschnitt über die besondere Schuld der Reichen und Adeligen (5Off). Auch diese Auseinandersetzung e r ö f f n e t der Presbyter mit einem zunächst recht ungezielten Rundum-Schlag, der kaum pauschaler formuliert sein k ö n n t e : „Was aber ist das Leben aller (!) Geschäftsleute anderes als Betrug und Meineid, was das Leben der Kurialen anderes als Ungerechtigkeit, was das Leben der Beamten anderes als Betrug, was das Leben aller Soldaten anderes als R a u b " (G 111,50) 8 . Mord und Unzucht betrachten die Reichen geradezu als ihr Vorrecht, beinahe jeder von ihnen hat beides begangen (G 111,55). Damit ist die Exposition der Gesellschaftskritik gegeben, der Streit eröffnet. Es zeigt sich bereits die Unterscheidung von gesamtgesellschaftlicher und schichtenspezifischer Anklage, hier allerdings noch ohne Differenzierungen und Details. Vergegenwärtigen wir uns die theologische Argumentation in dem gleichen Buch, so entsprechen den wenig differenzierten Totalkritiken grundsätzliche Ausführungen zum T h e m a Gesetz: Salvian postuliert hier seine Gültigkeit in allen Teilen zu allen Zeiten für alle Christen 9 . Diese grundsätzliche Forderung kontrastiert mit der von ihm dargestellten ebenso grundsätzlichen Mißachtung durch die Christen auf eindrucksvolle Weise. Es wird sich zeigen, daß der feineren theologischen Argumentation von Buch IV an auch detaillierter ausgeführte Exempla entsprechen.
2. Kritik der
Schauspiele
Mit seiner Kritik des römischen Schauspielwesens steht Salvian in einer alten christlichen Tradition, von den Apologeten bis zu Augustin 1 0 . Seine Auseinandersetzung mit diesem Spezifikum der römischen Kultur findet sich in Buch VI und n i m m t breiten Raum ein. Dennoch hat sie, wie W. 7 Weiteres dazu s.u. bei den Ausführungen zur Ecclesiologie (S. 191 — 194) und zum Ideal christlichen Lebens (S. 138ff). 8 „Quid autem aliud est cunctorum negotiantium uita quam fraus atque periurium? quid aliud curialium quam iniquitas? quid aliud officialium quam calumnia? quid aliud omnium militantium quam rapina?" (G 111,50). 9 Vgl. dazu oben S. 62f~f. 10 Ausführliche Literaturangaben zu diesem Thema finden sich in den beiden Dissertationen von H.Jürgens, Pompa diaboli, und W. Weismann, Kirche und Schauspiele.
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
Weismann zu recht anmerkt, in der Literatur bislang keine adäquate Beachtung gefunden 11 . Über ein knappes. Referat der Hauptargumente kommen die kürzeren oder längeren Abschnitte in den Monographien oder Aufsätzen zu Salvian nicht hinaus 12 . Die beiden, jüngst zum Thema „Kirche und Schauspiele" veröffentlichten Bücher von W. Weismann und H. Jürgens werten Salvians Darstellung zwar gründlich aus, aufgrund der systematischen Gliederung beider Arbeiten tritt das Profil des antiken Autors insgesamt aber zurück (Weismann) bzw. wird gar nicht erst sichtbar (Jürgens) 13 . Salvian lehnt die „spectacula", „ludi", „ludicra" — wie immer er sie auch bezeichnet — ohne die leiseste Einschränkung ab. Sie sind in allen ihren Spielarten „spectacula diaboli" (G VI,33), und es gibt „fast kein Verbrechen, oder keine Schandtat, die nicht in den Schauspielen vorkommen" (G VI,10) 1 4 . Wenn Salvian von den „ludi" spricht, häuft er negative Epitheta, um seine Abscheu vor allem, was dort geschieht wieder und wieder zum Ausdruck zu bringen 15 . Einen neutralen Standpunkt kann er nicht einnehmen, in seiner Verwerfung ohne jede Einschränkung unterscheidet er sich nicht von seinen Vorläufern, die allesamt den Bereich der Schau11
W. Weismann, Kirche und Schauspiele, 30 Anm. 20. W. A. Zschimmer, Salvianus, 51; G. Sternberg, Das Christentum des 5. Jahrhunderts 64.67f. 174f.; A. Schaefer, Römer und Germanen, 44f.; E. Bordone, La societä, 320f.; M. Pellegrino, Salviano, 9 7 - 9 9 ; M. Iannelli, La caduta, 3 8 - 4 0 ; G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.), 34f. Zu G V I , 8 2 - 8 9 äußert sich V. Cinke, Salvian von Marseille und die Zerstörungen der Stadt Trier. 13 H. Jürgens, Pompa diaboli, beschränkt sich auf die Untersuchung des Verhältnisses der Kirche zum Theater, er sammelt und analysiert die Aussagen der Kirchenväter zu den verschiedenen Darstellungsformen und Inhalten. Sein Interesse gilt primär der Erforschung des spätantiken Theaterwesens, die Kirchenväter bieten ihm lediglich Material. 12
W. Weismann, Kirche und Schauspiele, nimmt dagegen die „spectacula" allgemein in den Blick. Er versucht, die Entwicklung der Auseinandersetzung der Kirche mit den Schauspielen in all ihren verschiedenen Gattungen im Laufe der ersten 5 J a h r h u n d e r t e aufzuzeigen. Dabei gliedert er nach den Hauptargumenten, mit denen die kirchlichen Schriftsteller ihre Ablehnung begründen. Allein der Konzeption Augustins ist eine besondere Darstellung gewidmet, von den anderen Autoren gewinnt man kein geschlossenes Bild, weil ihre Argumente auf die verschiedenen Kapitel verteilt sind. Das Schlußkapitel („Ergebnisse", 197ff.) versucht allerdings zusammenfassend dieses Defizit andeutungsweise auszugleichen. 14 „ . . . quod nihil ferme uel criminum uel flagitiorum est quod in spectaculis non sit" (G VI,10). 15 „obscenitas l u d o r u m " : G VI,23; „spectacula diaboli": G VI,33; „spectaculorum crimen": G VI,34; „feralia ludicra"/„turpia ludicra": G VI,38; ,,superstitio"/„sacrilegium": G VI,59.61; „turpes uoluptates": G VI,51; „immunditia", „luxuria", „immoderatio", „ f u r o r " : G VI,60; „impudicitia", „lasciuia", „intemperantia", „insania": G VI, 61; „foeditates theatralium l u d o r u m " : G VI,94.
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spiele ausschließlich negativ gewertet haben 1 6 . Weismann bemängelt, daß Salvian „seine völlige Verwerfung der Schauspiele . . . nur recht allgemein mit der Unsittlichkeit bzw. Grausamkeit der Darbietungen" begründet — „auf eine Spezifizierung der Vorwürfe oder ein Eingehen auf einzelne Darbietungen verzichtet der Bischof (sie!) von Marseille" 17 . Es wird sich zeigen, daß Weismanns Kritik Salvian nicht gerecht wird, sie läßt sich in dieser Allgemeinheit nicht halten und geht an den Intentionen des Presbyters vorbei. Salvian geht nicht auf alle Gattungen der Spiele ein, er beschränkt sich auf Circus und Theater 1 8 . Nur am Rande erwähnt er auch die anderen Formen, womit er aber deutlich zeigt, daß seine Verurteilung nicht nur für Circus und Theater Gültigkeit beansprucht, sondern die anderen Gattungen einschließt. So formuliert er in kurzen Sätzen eine Verwerfung des Geschehens im Amphitheater (G VI,10, dazu unten), so zählt er eine Fülle von Fachtermini aus allen Gattungen des Schauspielwesens auf und zeigt damit, daß ihm die verschiedenen Erscheinungen der „ludi publici" nicht fremd sind: Amphitheater, Konzerthäuser („odia"), feierliche Aufzüge („pompae"), Wettkämpfer („athletae"), Seiltänzer („petaminarii") und Pantomimen (alle G VI,15). Nimmt man die an anderer Stelle erwähnten „gymnasia", Ringschulen („palaestra") und Arenen (alle G VI,60) sowie aus dem Bereich des Theaters Mimen und Chorsänger (G VI,37) hinzu, so ist das Spektrum der römischen „spectacula" zumindest überblicksweise abgeschritten. Salvian schließt in seine Verurteilung also auch sportlichen Agon und literarisch qualifizierte Theateraufführungen ein — alle Spielarten der „ludi" sind betroffen, alle sind „verlockende Nachstellung" der Dämonen (G IV, 14). Das unausgewogene Nebeneinander von Termini unterschiedlicher Ebenen legt allerdings die Vermutung nahe, daß Salvian die Vielfalt der Schauspiele nur oberflächlich, nur von außen kennt. Als Begründung des Verdikts gibt Salvian durchaus traditionelle Argumente. Im Vordergrund steht — breit ausgeführt — die Ablehnung aus moralischen Gründen. Sie wird unterstützt durch ökonomische Erwägungen. Theologische Relevanz erhält die Kritik aber vor allem durch die Argumentation mit dem kultischen Ursprung der „spectacula" und durch die behauptete Antithetik von Schauspielern und Christusgeschehen und Taufgelübde. 16
Tertullian, Spect (CChr. SL 1 , 2 2 7 - 2 5 3 ) ; Novatian (?), Spect (ed. Härtel S. 3 - 1 3 ) ; Cyprian, A d D o n 7f. (ed. Härtel pars I, S. 8 - 1 0 ) und Ep 2 (ed. Härtel pars II, S. 4 6 7 4 6 9 ) ; Lactantius, Inst VI,20 (ed. Brandt S. 5 5 5 - 5 6 2 ) und Epit 58 (ed. Brandt S. 7 4 1 743). 17 W. Weismann, Kirche und Schauspiele, 2 0 3 . 18 „De solis circorum ac theatrorum impuritatibus dico" (G VI,15).
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a) Die moralische Ablehnung der Schauspiele Die moralische Ablehnung wird einmal durch das Dargebotene hervorgerufen. Salvian empört sich über die Gladiatorenkämpfe, über das Töten von Menschen als Volksbelustigung. Als besonderes Greuel hebt er die „venationes" hervor (ohne daß dieser Terminus fällt), in denen Menschen von Tieren zerfleischt werden (G VI, 10). Über Ablauf und Bedingungen der Kämpfe berichtet Salvian nichts, sein Interesse richtet sich nicht auf die Berichterstattung von Einzelheiten. Im Theater mißfällt dem Presbyter vor allem die „impuritas" (G VI,15), die Herzen, Ohren und Augen der Zuschauer beschmutzt (G VI, 16). Er spielt wohl auf Mimus und Pantomimus an 1 9 , wenn er „jene Unanständigkeiten der Worte und Witze" sowie „jene Schändlichkeiten der Bewegungen und Abscheulichkeiten der Gebärden" anprangert, die jede detaillierte Schilderung verbieten (G VI, 17ff) 2 0 . Diese Scheu, genauer auf die Darstellungen einzugehen und ihnen damit ungewollt zu weiterer Verbreitung zu verhelfen, läßt Salvian auch an dieser Stelle bei seiner ziemlich allgemeinen Anschuldigung verharren. Über das Geschehen im Circus fehlt jede Angabe. In viel stärkerem Maße als auf das Dargebotene stützt sich Salvians moralische Verurteilung der Schauspiele aber auf das Verhalten des Publikums. Die Zuschauer tragen durch ihre Schaulust und ihre begeisterte Zustimmung Mitschuld an all den crimina, die sich bei den Spielen ereignen. Bei den Gladiatorenkämpfen und Tierhetzen beteiligen sich die Zuschauer am Mord, denn es werden dort „Menschen zum Vergnügen der Umstehenden und zur Ergötzung der Zuschauer getötet", ja, sie werden „kaum weniger durch die Blicke der Menschen als durch die Zähne der Raubtiere verschlungen" (G VI,10) 2 1 . Auch an der „impuritas" des Theaters machen sich die Zuschauer mitschuldig. Während „alle anderen Frevel" nur den beschmutzen, der sie begeht, nicht den, der ihr Zeuge ist (G VI,18), machen sich im Theater Akteure wie Zuschauer gleichermaßen schuldig, denn die Zuschauer „handeln alle durch ihr Zusehen und ihren Beifall" (G VI,19). Jeder Besucher „treibt Unzucht im Geiste" und wird zum Ehebrecher (G VI,19) 2 2 . 19
Zu diesen beiden Darstellungsformen des Theaters vgl. W. Weismann, Kirche und Schauspiele, 42—46 und 49—53, dort auch weitere Literatur. 20 „ . . . illas uocum ac uerborum obscenitates, illas motuum turpitudines, illas gestuum foeditates" (G VI.17). 21 comedi homines cum circumstantium laetitia conspicientium uoluptate, hoc est non minus paene hominum aspectibus quam bestiarum dentibus deuorari" (G VI, 10). 22 omnes ea uisu atque adsensu agunt." „Itaque in illis imaginibus fornicationum omnis omnino plebs animo fornicatur, et qui forte ad spectaculum puri uenerant de theatro adulteri reuertuntur" (G VI,19).
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Wenn Salvian auch die Vorführungen im Circus mit keinem Wort beschreibt, so verurteilt er doch aufs Schärfste das Verhalten des Publikums dort: es rast, tobt und schreit. Ausgehend von des Idealen eines maßvollen, leidenschaftslosen Lebens sind „luxuria", „immoderatio" und „ f u r o r " negative Verhaltensweisen, die der Kritik unterliegen 2 3 . Die verschiedenen Formen der Gesetzesübertretungen bei den „spectacula" bilden in ihrer Gesamtheit eine Beleidigung Gottes. Gott selbst ist betroffen, wenn seine Gebote mißachtet werden (G VI,53f). Hier erst, wo Salvian die moralische Argumentation theologisch festmacht, erhält seine Kritik äußerste Schärfe und Prägnanz. Zugleich liegt hier die Rückkoppelung zur Geschichtstheologie: auf die Beleidigung hin reagiert Gott in seinem ,Judicium praesens" mit Verurteilung und Strafvollzug 2 4 . b) Die Ablehnung der Schauspiele wegen ihres Ursprungs im heidnischen Kult Salvian bekämpft die Schauspiele nicht nur wegen ihrer moralischen Gefährlichkeit, sondern auch wegen ihrer untrennbaren Verwobenheit mit dem alten heidnischen Götterkult. In Anlehnung an Tertullian und Lactanz weist er bestimmte Gattungen der „spectacula" bestimmten Göttern zu: „In den Gymnasien wird Minerva verehrt und geachtet, in den Theatern Venus, Neptun im Circus, Mars in den Arenen und Merkur in den Ringschulen" (G VI,60) 2 S . Diese Dämonen tummeln sich an den Plätzen, die ihrer Verehrung bestimmt waren (G VI,61) — und nicht nur diese! Salvian bietet die ganze Dämonenschar auf, um die Verderbnis der Spiele nur recht drastisch zu beschreiben: „Hier herrscht Unzucht, dort Zügellosigkeit, dort Maßlosigkeit, überall ein Dämon; wahrlich, an jedem einzelnen Schauplatz der Spiele sind sämtliche Dämonenscheusale: sie befehligen nämlich über die Plätze, die ihrer Verehrung geweiht sind" (G VI,61) 2 6 . Daher verstrickt 23 „bacchantur in circis . . . moechantur in theatris" (G VI,20); „ . . . quicquid luxuriarum in palaestris, quicquid immoderationis in circis, quicquid furoris in caueis" (G VI, 60); u o x bacchantium; . . . sonus populi qui clamabat in circo" (G VI,71).
Die von kirchlichen Autoren vorgetragene moralische Kritik deckt sich weitgehend mit profan-heidnischen Polemiken gegen die Schauspiele: W. Weismann, Kirche und Schauspiele, 72—74. μ G VI,58ff. 25 „Colitur namque et honoratur Minerua in gymnasiis, Venus in theatris, Neptunus in circis, Mars in harenis, Mercurius in palaestris" (G VI,60). P. Waltzing, Tertullien et Salvien, 4 2 , hat wahrscheinlich gemacht, daß Salvian aus der Materialsammlung bei Tertullian, Spect 5 (CChr. SL 1, S. 2 3 1 - 2 3 3 ) einige Beispiele ausgewählt hat (So auch M. Pellegrino, Salviano, 98 und W. Weismann, Kirche und Schauspiele, 98ff. und 2 0 6 ) . 26 „Alibi est impudicitia, alibi lasciuia, alibi intemperantia, alibi insania, ubique daemon; i m m o per singula ludicrorum loca uniuersa daemonum monstra: praesident enim sedibus
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die Teilnahme an solchen Spielen Christen nicht nur in moralische Schuld, sondern sie bedeutet zugleich „sacrilegium" und „superstitio", beteiligen sie sich doch an der Verehrung der Götter, denen die Spiele geweiht sind (G VI,59.61). Durch ihren „frevelhaften Aberglauben wird die Majestät Gottes verletzt" und so „das ewige Heil des christlichen Volkes zunichte gemacht" (G VI,59) 2 7 . Die Beleidigung Gottes bildet auch bei der kultischen Kritik wie bei der moralischen die äußerste Stufe der Schuld. c) Die Ablehnung der Spiele aus ökonomischen Gründen Neben die ethische und die kultkritische Argumentation tritt bei Salvian eine ökonomische. Er prangert es als Skandal an, daß die Spiele aus öffentlichen Mitteln finanziert werden 2 8 , daß der Fiskus und die römische Staatskasse für solche „läppischen Dinge" Geld vergeuden 2 9 . Obwohl die wirtschaftliche Notlage viele Städte zum Verzicht auf die Spiele zwingt (G VI, 42), empfindet Salvian die verbleibenden Ausgaben angesichts des allgegenwärtigen Elends immer noch als unangemessen hoch 3 0 . Die wirtschaftliche Zwangslage läßt die Abhaltung von Spielen in seiner Zeit als unverantwortlich — und damit als schuldhafter erscheinen als in Zeiten der Prosperität. Die Blütezeit Roms malt Salvian in Gold: der Reichtum quoll über, der Staat suchte geradezu nach Möglichkeiten, sein Geld auszugeben, der Aufwand für die Spiele fiel nicht ins Gewicht: „Niemand dachte an die Kosten des Staates, niemand an den Aufwand, denn man spürte die Ausgaben nicht" (G VI,51) 3 1 . J e t z t aber ist der Reichtum dahin, die negativen Begleiterscheinungen dieses Reichtums sind aber geblieben (G V I , 5 0 - 5 2 ) . Während von früheren christlichen Kritikern der „ludi" immer nur die Verschwendung bei den Spielen mit moralischen Argumenten angegriffen wurde (Verführung zum Wohlleben, zum Luxus, zur Verweichlichung) 32 , suo cultui dedicatis" (G VI,61). Ähnlich Tertullian, Spect 12, der über das Amphitheater schreibt: „omnium daemonum templum est" (CChr. SL 1, S. 239, 32f.). 27 „Nam per turpitudines criminosas aeterna illic salus Christianae plebis extinguitur, et per sacrilegas superstitiones maiestas diuina uiolatur" (G VI,59). 28 „ . . . orbis impendium est" (G VI,10). 29 „Calamitas enim fisci et mendicitas iam Romani aerarii non sinit ut ubique in res nugatorias perditae profundantur expensae" (G VI,43). 30 „Et res probat quanta prodigere uellemus, si opulentes essemus ac splendidi, cum prodigamus tanta mendici" (G VI,44). 31 „Nemo sumptus rei publicae cogitabat, nemo dispendia, quia non sentiebatur expensa" (G VI,51). 32 So z.B. Cyprian, Op et el 21f. (ed. Härtel pars 1, S. 3 8 9 - 3 9 1 ) ; Lactanz, Inst VI, 21,2 (ed. Brandt, S. 562); Ambrosius, Off 11,109 (PI 16, 140B - 141A). Dazu W.
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sieht Salvian neben diesen Gefahren für die Moral zusätzlich den Zusammenhang mit gesamtwirtschaftlichen Momenten und bezieht sie in seine Ausführungen mit ein. Ein im Rahmen von Gub notwendiger und für Salvian bezeichnender Gedankengang tritt hinzu: Der Verlust des allgemeinen Wohlstandes ist ein Akt göttlichen Gerichtshandelns, er muß daher adäquat beantwortet werden — mit Buße und Umkehr des Lebens, nicht aber mit der Fortführung des alten, gerichteten Lebens in notwendigerweise etwas eingeschränktem Ausmaß 3 3 . Mit seiner ökonomischen Kritik der Spiele gelingt es Salvian, seine Argumente in Beziehung zu setzen zur besonderen historischen Situation. ökonomische und moralische Argumentation sind verwoben. Dennoch ist die wirtschaftlich motivierte Kritik bei Salvian mehr als nur eine Spielart der traditionellen moralischen Ablehnung der „spectacula" 34 . Sie zeigt seine Anteilnahme am Leben und an den Problemen auch außerhalb der Grenzen der Kirche und sie belegt in gewissem Maße Salvians Einblick in politischwirtschaftliche Zusammenhänge. d) Die theologische Begründung der Ablehnung der Spiele Die moralische als auch die kultkritische Argumentation gegen die Schauspiele reflektiert Salvian im Hinblick auf ihre theologische Relevanz auf doppelte Weise. 1. Beide Beweisgänge gipfeln in der Behauptung, daß Gott durch die Spiele beleidigt werde. Den Charakter der Beleidigung verdeutlicht Salvian, indem er christologische Gedanken mit dem Schauspielwesen in Beziehung setzt. In Analogie zu der heidnischen Praxis, einer Gottheit zu danken durch die Veranstaltung von Spielen und ihr damit höchste Ehre zu erweisen, stellt Salvian die ironische These auf, Christen wollten durch ihre Teilnahme an den „spectacula" Gott bzw. Christus für die empfangenen Wohltaten danken: „Christus bieten wir Circusspiele und Mimen, Christus erstatten wir für seine Wohltaten die Unanständigkeiten der Theater, Christus
Weismann, Kirche und Schauspiele, 90—92, der aber die Sonderstellung Salvians nicht hervorhebt. 33 G V I , 6 2 f f . 34 W. Weismann, Kirche und Schauspiele, 91 f., subsumiert die „Kritik am finanziellen A u f w a n d für die Spiele" (so S. 7) unter die „moralische Ablehnung". Damit ist der Bedeutung dieses Arguments bei Salvian j e d o c h nicht ausreichend Rechnung getragen.
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
opfern wir schändliche Spiele" (G V I , 2 6 ) 3 5 . A. Schaefer folgert aus diesem Satz, daß im 5. Jahrhundert tatsächlich Spiele stattgefunden hätten, die Christus geweiht gewesen seien 3 6 . Er bemerkt nicht die Ironie, die hinter Salvians Sätzen steht und die sich im weiteren Verlauf der Argumentation noch verstärkt: „natürlich hat uns dies (die Abhaltung von Spielen, J . B . ) unser für uns im Fleisch geborener Heiland gelehrt . . . " (G VI, 2 6 ) 3 7 . Schaefers Interpretation ist in Anbetracht des Tenors dieser Kapitel absurd. Salvian schließt hier — wie auch schon zuvor 3 8 — vom faktischen Verhalten der Christen auf die Gebote Jesu zurück, um damit drastisch zu beleuchten, wie sehr dieses Verhalten sich von den tatsächlichen Anweisungen Jesu entfernt hat 3 9 . Um den Kontrast noch stärker zu beleuchten, malt Salvian den Lesern die Heilstaten Christi in z.T. recht bizarren Bildern vor Augen 4 0 . Seine pointierte Schlußfolgerung lautet: Die Christen vergelten die Erlösung mit einer „vita turpissima" (G VI,27). Nicht Theaterveranstaltung oder -besuch sondern ein Leben in den Fußstapfen Christi wäre die einzig angemessene Antwort. Die unmoralische Lebensweise, wie sie sich im Besuch der „spectacula" manifestiert, steht im Widerspruch zur gebotenen ,,vita Christiana", wie sie Salvian für alle Christen verbindlich machen möchte. 2. Während das erste Argument auf die Differenz von geforderter und praktizierter Lebensweise zugespitzt wird, setzt die zweite theologische Begründung der Verurteilung der Schauspiele spezifischer an. Salvian bezeichnet den Besuch der ludi als unvereinbar mit den Taufgelübden eines Christen 4 1 . Der Täufling schwört im Taufritus dem Teufel ab und wendet sich Gott zu. Salvian überliefert hier eine Taufformel, die das Stichwort „spectacula" enthält: ,,renuntiare se diabolo ac pompis eius et spectaculis atque operibus" (G VI,31; vgl. 32f). Für Salvian bedeutet die Teilnahme an den Spielen eine Zurücknahme dieser „abrenuntiatio diaboli", den Bruch aller Eide des Glaubensbekenntnisses 42 . Diese Rückkehr in die Macht des Teufels geschieht in vollem Wissen um die Konsequenzen und ist daher unentschuldbar: „Du hast einmal den Teufel „Christo circenses offerimus et mimos. Christo pro beneficiis suis t h e a t r o r u m obscena reddimus, Christo ludicrorum turpissimorum hostias i m m o l a m u s ! " (G V I , 2 6 ) . 3 6 A . Schaefer, R ö m e r und Germanen, 4 5 ; ähnlich G. Sternberg, Das Christentum des 5. Jahrhunderts, 6 8 , der meint, solche Spiele seien für Salvian denkbar gewesen. 35
„Videlicet hoc nos pro nobis in c a m e natus saluator noster e d o c u i t " (G V I , 2 6 ) . » Vgl. G I V , 8 4 . 3 9 Diesen Einwand gegen Sternberg erhebt auch M. Pellegrino, Salviano, 9 8 A n m . 1. 37 3
40
U.a. heißt es von Christus: „qui caelum regebat in pannis" (G V I , 2 6 ) .
41
Zum Folgenden vgl. W. Weismann, Kirche und Schauspiele 9 8 f f .
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„ . . . omnia symboli sacramenta soluuntur" (G V I , 3 3 ) .
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und den Schauspielen abgeschworen und daher mußt du erkennen, daß du in voller Kenntnis („prudens et sciens") zum Teufel zurückkehrt, wenn du zum Schauspiel gehst" (G VI,32) 4 3 . Und eben weil diese Rückkehr zum Teufelsdienst „Kundige und Wissende mit Absicht und Fleiß" und nicht „aus Zufall oder Unwissenheit" vornehmen (G VL23) 4 4 , daher verfallen sie dem Gericht. Sie haben den „Quell des Lebens" („origo vitae") verloren und also den Tod gefunden (G VI,34). Auch Tertullian hatte bereits im Besuch der Schauspiele einen Abfall vom Taufbekenntnis gesehen 45 . Für ihn manifestiert sich der Teufel mit seiner Pracht im Götzendienst und somit auch in den Schauspielen, die in diesem Kult ihren Ursprung haben. Salvian trennt diese beiden Argumente. Um den Besuch der „spectacula" als Rückfall in die Abhängigkeit des Teufels zu bezeichnen, benötigt er den Umweg über den kultischen Ursprung der Spiele nicht, weil in seiner Formulierung des Taufbekenntnisses die „spectacula" expressis verbis enthalten sind. Bei Tertullian lautet das Taufbekenntnis hingegen „renuntiasse nos diabolo et pompae eius et angelis eius" 4 6 . Salvian hat mit diesen Ausführungen das Thema der Schauspielkritik ins Grundsätzliche hineingeführt. „Spectacula" in ihren verschiedenen Formen und „ecclesia" sind gegensätzliche Welten, die den Teufel bzw. Gott repräsentieren. Zwischen ihnen müssen alle Menschen ihre Entscheidung treffen: Kirche oder Theater, Worte der Evangelien oder der Chorsänger, Worte des Lebens oder des Todes, Worte Christi oder des Mimen — das sind die Alternativen, eine Brücke zwischen beiden gibt es nicht 4 7 . Fast anekdotisch macht Salvian diesen grundsätzlichen sachlichen Gegensatz auf der empirisch wahrnehmbaren Ebene deutlich: Bei gleichzeitiger Abhaltung von Gottesdienst und öffentlichen Spielen beweisen letztere eine ungleich stärkere Anziehungskraft, die Kirchen sind leer bis auf einige ahnungslose Fremde, die aber gleichfalls eilends die Kirche verlassen, wenn sie von den Spielen Kenntnis erhalten haben (G VI,38). Die Schuldhaftigkeit der Spiele behauptet Salvian für seine Zeit in noch besonderem Maße, da ein für jeden erkennbares Gericht Gottes doch unüber43
„Renuntiasti semel diabolo et spectaculis eius, ac per hoc necesse est ut prudens et sciens, dum ad spectacula remeas, ad diabolum te redire cognoscas" (G VI,32). 44 „ . . . gnari ac scientes, de consilio et industria . . . non casu aut imprudentia" (G VI, 23). 45 Tertullian, Spect. 4 (CChr. SL 1, S. 2 3 1 ) . 46 Spect. 4,1 (CChr. SL 1, S. 231). 47 „quaero . . . quis locus maiores Christianorum uirorum copias habcat, cauea ludi publici an atrium dei, et templum o m n e s magis sectentur an theatrum, dicta euangeliorum magis diligant an thymelicorum, uerba uitae an uerba mortis, uerba Christi an uerba m i m i ? " (G VI,37).
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hörbar zur Umkehr mahnt — vergeblich, wie er immer wieder feststellt. Inmitten der Furcht vor Gefangenschaft und Tod ergeben sich die Römer der Schaulust. Salvian prägt den berühmt gewordenen Satz: Das römische Volk „moritur et ridet", es „stirbt und lacht" (G VII,6). Und drohend fügt er hinzu: „Daher folgen in fast allen Teilen der Welt Tränen auf unser Gelächter und es kommt in der Gegenwart jenes Wort unseres Herren über uns: ,Wehe euch, die ihr lacht, denn ihr werdet w e i n e n ' " (G VII,6) 4 8 . Gleichsam eine Illustration dieses Satzes ist sein Bericht über die Belagerung Karthagos. Der Lärm des Kampfes auf den Mauern und der Lärm im Circus gehen ineinander über, „der Schrei der Sterbenden mischte sich mit dem Schrei der Rasenden" (G VI,71) 4 9 . Die Schuld verringert sich nicht dadurch, daß nicht mehr so häufig Spiele stattfinden können, weil das Geld fehlt 5 0 oder die Städte von den Barbaren erobert sind 5 1 . Dort ist das Ende der Spiele nicht durch Einsicht erfolgt, es ist „miseriae beneficium non disciplinae" (G VI,48) und daher für die Schuldfrage unerheblich. Das Verlangen nach „spectacula" ist auch in den Gegenden ungebrochen, in denen .hre Abhaltung nicht mehr oder kaum noch möglich ist. Als Beispiel führt Salvian dazu an, daß die Bewohner dieser Provinzen auf Reisen — etwa in R o m oder Ravenna — keine Gelegenheit auslassen, Theater oder Circus aufzusuchen (G VI,49). Als besonders abschreckendes Exempel beschreibt Salvian das Schicksal Triers (G VI,82—89). Dreimal zerstörten Barbaren die Stadt, daraufhin forderten einige überlebende Adlige vom Kaiser Spiele „für eine verbrannte und zugrundegegangene Stadt, für ein gefangenes und vernichtetes Volk" (G VI,88) 5 2 . Die 4. und endgültige Zerstörung ist für Salvian die logische Konsequenz dieses Verhaltens, das von ihm als ungeheuerliche Herausforderung Gottes verstanden wird 5 3 . 48
„Et ideo in omnibus fere partibus mundi risus nostros lacrimae consequuntur, ac uenit etiam in praesenti super nos illud domini nostri dictum: Vae uobis, qui ridetis, quoniam flebitis" (G VII,6 mit Zitat Lk 6,25). 49 „ . . . confundebatur uox morientium uoxque bacchantium" (G VI,71). P. Courcelle, Histoire litteraire, 154f. versucht eine literarische Abhängigkeit Salvians von Quodvultdeus, Sermo de tempore barbarico I, 1 (PL 40, 700) nachzuweisen. so Vgl. o. S. 88f (G VI, 1 0 . 4 2 - 4 4 ) . 51 G VI,39f. 52 „Vrbi exustae et perditae, plebi captiuae et interemptae" (G VI,88). 53 V. Cinke, Salvian von Marseille und die Zerstörungen der Stadt Trier, meint nachweisen zu müssen, daß Salvians Behauptung, die 4. Zerstörung Triers sei aufgrund der Forderung nach Spielen erfolgt, „seinem allzu großen Rigorismus zuzuschreiben ist" und den „Grad der Abneigung, die Salvian den Zirkusspielen entgegenbrachte, ermessen"
Gesellschaftskritik I: Sexualmoral
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Die Tatsache, daß die Eroberung durch die Barbaren erst dem Greuel ein Ende setzt (G VI,39), Iäßt die Aussicht auf einen Umschwung der politischen Lage — und dh ein Ende der göttlichen Strafe — höchst unwahrscheinlich werden. Durch den Kontrast zu dem so anderen Verhalten der Barbaren, die dieser Art Volksbelustigung nichts abgewinnen können, wird Salvian deutlich, daß „Lasterhaftigkeit und Unreinheit mit den Römern verschwistert sind". Und er fragt: „Welche H o f f n u n g haben die christlichen Völker vor Gott, wenn in den römischen Städten dies Übel seit dem Zeitpunkt nicht mehr vorhanden ist, von dem an sie unter dem Recht der Barbaren stehen?" (G VI,40) 5 4 . Salvian greift das Thema „spectacula" paradigmatisch auf. Er zeigt, wie unangemessen die Christen auf das Handeln Gottes reagieren, obgleich sie aufgrund ihrer Kenntnis des Gesetzes zu einer adäquateren Antwort befähigt wären. Das Vordringen der Barbaren als Vollzieher des göttlichen Gerichtes bewirkt keine Abkehr von den Spielen oder zumindest von dem Verlangen nach ihnen. Die Folge ist, daß „der größte Teil des römischen Reiches zur Wüste geworden ist, zum Entsetzen und zum Fluch" (G VI,45 ) 55 , daß die Barbaren Tributzahlungen verlangen, Abgaben, deren Ende nicht abzusehen ist (G VI,99).
3. Kritik
der
Sexualmoral
Nicht weniger intensiv als gegen die Schauspiele zieht Salvian gegen die Laxheit der Römer im sexuellen Bereich zu Felde. Wieder argumentiert er nach dem Muster: gute Gaben Gottes werden von den Römern nicht, wie es sich gebührte, mit Dank vergolten, sondern mit Lastern (G VII, 7—12). Als Beispiele zitiert er die Lebensweise der Bevölkerung Aquitaniens und der Novempopulana (G VII,13—25), sodann, nach einer summaläßt (S. 5). Cinke meint sicher zu Recht, daß die Trierer Bitte durchaus „politische Bedeutung haben konnte" (ebd.). Er übersieht aber, daß Salvians kausale Verknüpfung von Spielen und darauffolgender Zerstörung ihren Grund in seiner Geschichtstheologie, in seiner Interpretation des Zeitgeschehens als gegenwärtiges Gericht Gottes, hat und irgendwelche immanente, historisch-erhebbare Kausalität gerade in diesem Punkt überhaupt nicht angesprochen ist. Cinke verwechselt bei Salvian theologische Interpretation und zeitgeschichtlichen Bericht! 54
„Quae spes Christianis plebibus ante deum est, quandoquidem ex illo in urbibus Romanis haec mala n o n sunt ex quo in barbarorum iure esse coeperunt? Ac per hoc uitiositas et impuritas quasi germanitas quaedam est h o m i n u m R o m a n o r u m et quasi mens et natura" (G V I , 4 0 ) . 55 „Per haec ergo iam factum est ut maior pars Romani orbis in desolationem esset et in stuporem et in maledictum" (G V I , 4 5 ) .
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
rischen Bemerkung über die Spanier (G VII,26—28), die Vergehen der Afrikaner (G VII,54—108). Es ist ein schauriges Sittengemälde, das der Presbyter vor seinen Lesern ausbreitet. Hier trifft am ehesten der Begriff „Skandalchronik" zu, mit dem Sterzl die gesamten Darlegungen Salvians zur Situation der römischen Gesellschaft abqualifiziert 5 6 . Salvian prangert die gängige Praxis an, Sklavinnen zu Concubinen zu machen. Für ihn ist das Ehebruch. Die Herren, die solches tun, geben ihren Familien und Sklaven zumindest ein schlechtes Vorbild und „wenn das Haupt krank ist, ist nichts gesund" (G VII,19) 5 7 . Hier spiegelt sich in der Verantwortung des Herrn für alle Mitglieder des Hauses die dominierende Stellung des „pater familias" in der römischen Gesellschaft, der eben in jeder Weise für die Lebensweise des ganzen Hauses verantwortlich ist, dessen Lebensstil für die übrigen „norma" ist 5 8 . Und so schließt Salvian aus dem Leben der Hausherrn auf das Verhalten der nachgeordneten Hausangehörigen: „Wie groß muß da die Verdorbenheit der Sklaven gewesen sein, wo die Herrn so zuchtlos waren?" (G VII,19) 5 9 . Salvians Verurteilung trifft die ganze Provinz pauschal. „Welche aquitanische Stadt gibt es, die nicht in ihrem reichsten und vornehmsten Teil geradezu ein Bordell gewesen ist?" (G VII,16) 6 0 . In seinem Urteil über Afrika spielt er auf die geographische Lage dieser Provinz an. Er vergleicht sie mit den untersten Bereichen der Schiffsbäuche, in denen aller Schmutz zusammenfließt (G VII,63). J a , er bestreitet, daß es dort in der Bevölkerung überhaupt positive Ansätze gibt — alles ist schlecht, unrein, verdorben (G VII,57; 72f) - nur Priester und Kleriker nimmt er aus! (G VII,74). Bemerkenswert ist die Stoßrichtung der Kritik der Prostitution. Er geißelt sie mit scharfen Worten — aber in stärkerem Maße die verheirateten Männer, die hier Ehebruch begehen, als die Prostituierten selbst. Ihnen hält er zugute, daß sie ein „foedus conubiale" nicht kennen, daher auch nicht dagegen verstoßen können. Da sie also kein „adulterium" begehen, trifft sie geringere Schuld (G VII,15). Der Grundsatz „Ohne Kenntnis keine Schuld" wird auch hier durchgehalten 6 1 . 56
A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 45. „Morbido enim capite nil sanum est" (G VII,19). 58 G VII,19; vgl. L. J. van der Löf, Die Gotteskonzeption und das Individuum bei Sal vi anus". 59 „ . . . quales putent fuisse illic familias, ubi tales erant patres familias" (G VII,19). 60 „Apud Aquitanicas uero quae ciuitas in locupletissima ac nobilissima sui parte non quasi lupanar fuit?" (G VII, 16). 61 „Meretrices enim quae illic sunt foedus conubiale non norunt ac per hoc non maculant quod ignorant" (G VII,15). Auf diese Stelle macht auch J. Vogt, Kulturwelt und Barbaren, 62 Anm. 3, aufmerksam. 57
Gesellschaftskritik I: Sexualmoral
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Die Hauptanklage gegen die Afrikaner betrifft ihre öffentliche Duldung der Homosexualität. Da die Regierung und die Öffentlichkeit die Möglichkeit gehabt hätte, diese Form der Sexualität zu unterbinden und es unterlassen haben, trifft alle eine Mitschuld 6 2 . D. J . Cleland hat darauf hingewiesen, daß Salvian mit seiner Kritik an dem Sexualleben der Römer einen Bereich anspricht, der von der römischen Gesetzgebung strafrechtlich nur unzureichend erfaßt wurde 6 3 . Um so positiver beurteilt er daher das Vorgehen der siegreichen Vandalen. Er lobt sie als die „keuschesten" aller Barbaren (G VII,26): sie lassen sich von der „verweichlichten" Lebensweise der eroberten Länder nicht anstecken und sie bekämpfen mit Gesetzen und Umerziehungsmaßnahmen Prostitution und Homosexualität. „Sie richten ihre Gesetze nach der Regel des göttlichen Gesetzes ein" (G VII,100) 6 4 . Salvian heißt ihre Bemühungen ohne jede Einschränkung gut. Für Salvian besteht kein Zweifel, daß die überlegene Sittlichkeit der Barbaren ihren Sieg herbeigeführt hat. Den Römern kann er nur zurufen „Schämt euch, ihr römischen Völker überall, schämt euch eures Lebens" (G VII, 108) 6 5 . Die deutliche moralische Überlegenheit der Goten und Vandalen sowie die fortgesetzte römische Laxheit im Sexualleben lassen Hoffnung auf ein Wiedererstarken des Imperium Romanum nicht zu: „Welche Hoffnung kann der römische Staat haben, wenn die Barbaren zuchtvoller und reiner sind als die Römer? . . . Welche Hoffnung können wir vor Gott auf Leben oder Verzeihung h a b e n ? " (G VII, 107) 6 6 . „Niemand soll sich etwas anderes einreden, niemand soll anderes glauben, uns haben allein unsere Laster besiegt" (G VII,108) 6 7 . Salvians Kritik gilt zwar allen Bewohnern der von ihm genannte Provinzen, doch richtet sie sich in verstärktem Maße gegen die Mächtigen und Einfluß-
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G VII,76ff. (79: „ . . . per publicam sceleris professionem fiebat etiam scelus integrae ciuitatis"; 83: „Potestas quippe magna et potentissima, quae inhibere scelus maximum potest, . . . quasi probat debere fieri".). 63 D. J. Cleland, Salvian and the Vandals, 2 7 2 f . 64 „ . . . leges suas scilicet ad diuinae legis regulam dirigentes" (G VII,100); dazu D. J . Cleland, Salvian and the Vandals, 2 7 2 f . Näheres s.u. S. 1 2 3 - 1 2 5 . 65 „Pudeat uos, Romani ubique populi, pudeat uitae uestrae" (G VII,108 Text mit Pauly gegen Lagarrigue). 66 „Et quae esse, rogo, R o m a n o statui spes potest, quando castiores ac puriores barbari quam Romani sunt? . . . quae nobis, rogo, ante deum aut uitae esse aut ueniae spes potest . . . " (G VII,107). 67 „ N e m o sibi aliud persuadeat, nemo aliud arbitretur: sola nos morum nostrorum uitia uicerunt" (G VII.108).
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
reichen 6 8 . Dieser Beobachtung entspricht eine erste kurze Anklage der sexuellen Ausnutzung von Abhängigen durch die Herren (G IV,24—26). Die schichtenspezifische Kritik, die im nächsten Kapitel behandelt wird, steht auch dort im Hintergrund, wo zunächst alle Römer angesprochen sind.
4. Kritik an Relikten
des
Götzendienstes
Eine weitere Schuld der Römer besteht darin, daß sie neben ihrer neuen christlichen Religion Relikte der alten heidnischen Kulte beibehalten haben. Bereits in G 1,1 spricht Salvian diese Tatsache aus, wenn er seine Leser charakterisiert als Christen, die noch „etwas vom heidnischen Unglauben in sich haben" 6 9 . Zur Entfaltung gelangt dieses Thema in G VI,12f und vor allem in VIII: Götzendienst als ein weiterer Ausdruck des Abfalls von Gott, der durch die Direktheit der Beleidigung Gottes noch schwerer gewertet wird als die zuvor behandelten. Er bezeichnet sie als größeren Frevel („maiora") als die „spectacula" (G VI,12). In G VI,12f berichtet Salvian, daß zu seiner Zeit immer noch von den Repräsentanten des alten Römertums traditionelle Formen der Mantik ausgeübt werden. Auch im christlichen Imperium halten die Konsuln Hühner und wird der Vogelflug beobachtet. Die Konsuln stellen sich damit auf die Stufe von Heiden 7 0 . Salvian vergißt nicht auf die heidnische Polemik gegen diese mantischen Praktiken hinzuweisen, er nennt aber weder Argumente noch Namen, so daß nicht deutlich wird, auf welche kultkritischen Positionen er sich bezieht. Besonderes Gewicht erhält diese heidnische Sitte durch die Würde der Schuldigen und durch die in der Duldung zum Ausdruck kommende Einwilligung aller Römer. Die Intention ist deutlich: die Schuldverhaftung aller durch die Tat weniger einzelner: „es ist nahe daran, daß keiner in der ganzen Welt entrinnt" (G VI,13) 7 1 . Erst in G VIII,9 greift Salvian das Thema Götzendienst wieder auf. J e t z t sind es nicht mehr die altrömischen Traditionen, fortgesetzt durch eine konservative Aristokratie, der sein Augenmerk gilt, sondern der in der
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Vgl. G VII,15 „nobilissimi"; 16: „quae ciuitas in locupletissima ac nobilissima parte"; 16 setzt die Situation des Herren voraus (ancilla); 17.19.20: „pater familias"; 18: „diuites"; 18.'20: „domini". 69 „ . . . multi incredulitatis paganicae aliquid in se habent" (G 1,1). 70 „Numquid non consulibus et pulli adhuc gentilium sacrilegiorum more pascuntur et uolantis pinnae auguria quaeruntur, ac paene omnia fiunt quae etiam illi quondam pagani ueteres friuula atque inridenda duxerunt?" (G VI,12). 7 1 prope est ut in omni mundo nullus euadat" (G VI,13).
Gesellschaftskritik I: Götzendienst
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Provinz Afrika immer noch weitverbreitete Kult der Astarte Caelestis, der trotz der kaiserlichen Gesetzgebung noch nicht ausgerottet werden konnte 7 2 . Salvian klagt jedoch nicht die bewußten Heiden an, Ziel seiner Kritik sind vielmehr die Christen, die als Christen gleichwohl ihrem alten Kult treu geblieben sind: „Ich rede nicht von den Menschen, die durch ihr Leben, durch Bekenntnis und Bezeichnung Heiden sind . . . Verderblicher und barbarischer war es, daß viele, die sich zu Christus bekannten, in ihrem Herzen den Götzen dienten" (G VIII, 10) 7 3 . Auch hier gilt der immer wiederkehrende Grundsatz: das Bekenntnis zu Christus ist eine Verpflichtung, wer gegen sie verstößt, lädt mehr Schuld auf sich als der, der sie nie übernommen hat 7 4 . Salvian bedient sich aller ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel, um die Abscheulichkeit dieses Synkretismus zwischen Christus- und Caelestisverehrung und der in ihm beschlossenen Beleidigung Gottes hervorzukehren: „Voll von dem Gestank heidnischer O p f e r " überschreiten sie „die Schwelle einer Kirche" und begehen damit ein „sacrilegium" — und kämen sie doch gar nicht mehr zum Gottesdienst, sie machten sich nur der „neglegentia" schuldig! (G V I I I , I I ) 7 5 . Überraschend kommt die Wendung, daß dieser heimliche Götzendienst nicht mehr der Volksmasse zur Last gelegt wird, sondern den „nobilissimi" (VIII,12), den „potentissimi" und „sublimissimi" (14). Hat Salvian wenige Sätze zuvor noch das ganze Volk angeklagt, so begründet er jetzt die allgemeine Geltung seiner Schelte mit der Vorbildrolle des „pater familias" für sein Haus und analog der reichen und mächtigen Familien für eine ganze Stadt. Frönen sie dem Götzendienst, dann werden es die Abhängigen erst recht tun. Diese einschränkende Argumentation, die nach dem feurigen Angriff wie ein kleinmütiger Rückzug wirkt, kann aufgrund des Textes nicht erklärt werden. Möglicherweise spielt Salvian auf einen allgemein bekannten Fall von Astarte-Verehrung durch die afrikanischrömische Aristokratie an. Es ist aber ebenfalls denkbar, daß auch hier 7 6 die Tendenz Salvians, die Reichen und Mächtigen für die Mißstände ver72
Zum Kult der Caelestis in Karthago s. K. Latte, Römische Religionsgeschichte, 3 4 6 f . ,,Nec loquor de hominibus sicut uita ita etiam professione ac uocabulo paganis . . . ; illud perniciosius ad scelestius quod multi eorum, qui professionem Christo dicauerant, mente idolis seruiebant" (G VIII, 10). 74 Dies gilt für die Sancti im Verhältnis zu den Normalchristen (E 11,43) und für die Christen allgemein im Verhältnis zu den Heiden (G IV,77f.; V , 5 f f . ; dazu oben S. 53—59). 73
75
,.Quis non daemoniacorum sacrificiorum nidore plenus diuinae domus limen introiit" (G VIII,11). 76 Eine ähnliche Wendung war bei der Kritik der sexuellen Verfehlungen zu beobachten, s.o. S. 95f. 7 Badewien, Geschichtstheologie
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
antwortlich zu machen, durchschlägt. Der Eindruck eines Rückzuges von einer nicht haltbaren Position legt sich allerdings auch nahe aufgrund des schnellen Übergangs zum letzten Thema der Schrift, der Verfolgung und Verschmähung der Mönche in Afrika. „Es sei also zugestanden, daß das, was wir gesagt haben, sich auf die Mächtigsten und Edelsten bezieht" — und fast rechthaberisch geht er über zu dem Punkt, in dem nun alle, arm und reich, betroffen sind: „War etwa jenes leichter, das Vornehmen und Niedrigen gemein ist?" (beides G VIII,15) 77 .
5. Kritik der Verfolgung
der
Mönche
Alle bislang kritisierten Verhaltensweisen der römischen Christen werden in ihrer Schuldhaftigkeit übertroffen von der Verfolgung der Mönche, die Salvian den Afrikanern vorwirft. Christen begegnen denen, die es sich zur Aufgabe gesetzt haben, den Gesetzen Gottes entsprechend zu leben, mit „Haß und Verfluchung". Aufgrund ihrer Lebensweise, die den üblichen Gepflogenheiten unerträglich hart kontrastierte, wurden die Sancti verlacht, verschmäht, verflucht, wie ein „neues, noch nie gesehenes Monstrum" (G VIII,22) verjagt. Für Salvian wird die Gottlosigkeit, die sich in vielfältigen Verstößen gegen die göttlichen Gebote manifestierte, hier am unmittelbarsten sichtbar. Die Afrikaner erkannten, daß die Mönche ihrem ganzen Leben widersprachen, aus der „diversitas voluntatum" der Namenschristen und der Sancti folgte die Feindseligkeit. Salvian rückt die Sancti in die Nähe Jesu, dem sie nachzuleben trachten. So ergibt sich die Konstellation der Passion Jesu neu: wie die Juden Jesus verlachten, verspotteten und schließlich kreuzigten, so tun es die Afrikaner (Christen!) mit den Mönchen. Und Salvian führt diese Parallelisierung so weit, daß er ihre Ehre und Schmach mit Gottes Ehre und Schmach identifiziert (G VIII,16) — wer sie verfolgt und haßt verfolgt und haßt Gott selbst (G VIII,17) 78 . Gott und Christus neu verfolgt — von Christen. Das ist das unüberbietbare „sacrilegium", das alle anderen in sich birgt. Ironisch resümiert Salvian: „Siehe, das ist der Glaube der Afrikaner, insbesondere der Karthager" (G VIII,23) 79 . 77
„Numquid ilia leuiora quae nobilibus ignobilibusque communia?" (G VIII,15). „Benignissimus scilicet ac piissimus dominus communem sibi cum seruis suis et honorem simul et contumeliam facit" (G VIII,16). „Insectabantur itaque Afri atque oderant seruos dei et in his deum" (17). 79 „Ecce Afrorum et praecipue Carthaginensium fidem!" (G VIII,23). 78
Gesellschaftskritik I: Verfolgung der Mönche
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Obgleich die Mönche bisher nicht getötet wurden, sieht Salvian sich berechtigt, von Verfolgung („persecutio") zu sprechen (G VIII,19). Den Schutz ihres Lebens rechnet er keineswegs einem letzten Einfluß göttlichen Gebotes zu, sondern dem alten 12-Tafel-Gesetz. Heidnische Gesetzgebung schützt also das Leben der Mönche (G VIII,24). Nicht ohne Bitterkeit verweist Salvian darauf, daß die Apostel unter Heiden sicherer gewesen seien als die Mönche unter Christen zu seiner Zeit (G VIII,23). Christen haben sich den Sancti gegenüber wie Barbaren verhalten — sie haben damit eine angemessene Strafe auf sich gezogen: jetzt leben sie unter Barbaren. Und so bindet Salvian auch diese Kritik wieder an sein Zentralthema: sein Fazit heißt „Iustus ergo est dominus et iustum iudicium suum" (G VIII,25). Die Bedeutung, die Salvian den Feindseligkeiten gegen die Mönche zukommen läßt, die Schilderung ihres Wollens und ihres Lebens, zeigen, wie sehr er sich ihnen verbunden weiß. So deutlich wie in diesen Kapiteln bricht es sonst nur selten auf, daß für ihn die Mönche die wahren Christen sind. So negativ wie hier urteilt er aber auch selten über die ganze „Restkirche", die er mit den Juden, die Jesus kreuzigten, parallel setzt. Wir werden auf diesen Punkt näher zu sprechen kommen, wenn wir Salvians ideale Vorstellung einer „vita Christiana" als Kontrast zur Realität des Lebens des Volkes untersuchen 8 0 .
II. Die Konkretionen der Anklage II: Salvians Kritik an den Reichen und Mächtigen Salvians Kritik der römischen Gesellschaft erhält ihren besonderen Akzent durch die scharfe Verurteilung der Reichen und Mächtigen und durch die darin zum Ausdruck kommende Parteinahme für die Armen und Schwachen 1 . Die verschiedenen Formen der Ausbeutung der Armen durch die Reichen kommen zur Sprache: die Willkürherrschaft der Herren über ihre Sklaven, die Korruption und Rechtsbeugung von Beamten und Richtern, Ungerechtigkeiten im Steuersystem und bei seiner Realisierung und nicht zu-
*> Vgl. u. S. 1 5 1 - 1 5 7 , 1 9 1 - 1 9 4 . 1 Dieser Teil der Sozialkritik hat in der Literatur über Salvian die größte Aufmerksamkeit gefunden, fast alle Arbeiten haben diese Hinwendung zu den Armen und Schwachen und die Polemik gegen die Reichen und Mächtigen als Spezifikum Salvians hervorgehoben (vgl. die Nachweise im Folgenden!).
100
Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
letzt die Versklavung der ehemals freien Landbevölkerung durch die Großgrundbesitzer mithilfe der Institutionen Kolonat und Patrocinium. Salvian wendet sich damit einem der größten Probleme des spätrömischen Reiches zu, der Konzentration des Reichtums in den Händen Weniger — und damit k o n f o r m gehend, dem Pauperismus der breiten Masse. Diese Entwicklung, beseitigte den , M i t t e l s t a n d " und führte zu einer tiefen Kluft in der Gesellschaft, die sie in zwei Klassen teilte — eine, die immer reicher wurde und die Macht ausübte und eine, die zunehmend verarmte und unterdrückt w u r d e 2 .
1. Die Willkür Herrschaft der Herren über die
Sklaven
Salvian lehnt die Sklaverei nicht grundsätzlich a b 3 . Er ist auch nicht frei von den römischen Vorurteilen gegen die Sklaven: ,,Es ist hinreichend sicher, daß Sklaven schlecht und abscheulich sind", er spricht sie nicht von der „Schuld der Liederlichkeit" (G IV,29) frei 4 . Ihre Vergehen bestehen hauptsächlich in Diebstahl, Flucht, Lüge und übermäßigem Essen, sowie sie die Gelegenheit dazu haben (G IV, 13). Diese Vergehen bindet Salvian aber in ihren sozialen K o n t e x t ein. Der Mangel („indigentia") zwingt Sklaven zum Diebstahl, besonders, da der Lohn zur Bestreitung des Lebensunterhalts nicht ausreicht (G IV,14) S . Die Flucht von Sklaven wird veranlaßt durch Mißhandlungen, durch willkürliche und grausame Bestrafung, besonders durch die Sklavenaufseher (G IV,15). Die Härte der stets drohenden Strafe zwingt sie zur Lüge und ihre Neigung zu Schlemmerei und Gefräßigkeit entspringt der Erfahrung des Hungers (G IV,16). Salvians Fazit: Gewiß vergehen sich die Sklaven gegen die geltenden Gesetze, Schuld sind jedoch die Herren, die sie dazu zwingen. Hier tritt die bei Salvian bereits beobachtete Relativierung der Schuld durch äußere Umstände erneut ins Blickfeld: die soziale Situation ist bei der Beurteilung eines Vergehens in Rechnung zu stellen und führt 2
M. Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich 11,237; ähnlich R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 151—153. 3 R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 162; A. Schaefer, Römer und Germanen, 67—72; M. Pellegrino, Salviano, 172. 4 „Malos esse seruos ac detestabiles satis certum est" (G I V , 2 9 ) . Vgl. Ph. Badot, L'utilisation, 4 0 0 . 5 Dazu H. Bellen, Studien zur Sklavenflucht im römischen Kaiserreich, 131 — 133: Für Sklaven stand die „Kost bzw. der Geldlohn in fester Relation zu ihrer Arbeitsleistung" (133). Bellen gibt u.a. einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen Motive zur Sklavenflucht ( 1 2 6 f f . ) .
Gesellschaftskritik II: Sklaverei
101
zu einer Vergrößerung oder aber zu einer Verringerung der Schuld. „Und deswegen macht der Mangel das Vergehen selbst weniger schuldhaft, denn ein des Diebstahls Angeklagter ist entschuldigt, wenn er gegen seinen Willen zum Diebstahl gezwungen wird" (beides G IV,24) 6 . Salvian sieht nicht über die Gesetzesübertretungen der Sklaven hinweg. Er verurteilt die Delikte, und die letztlich dafür Verantwortlichen, nicht jedoch die, die sie aufgrund ihrer Notlage begehen. Dem Verständnis für die Lage der Sklaven entspricht eine scharfe Anklage des Verhaltens der Herren. Die Vergehen, die sie den Sklaven anlasten und um derentwillen sie die Sklaven verachten und für moralisch minderwertig ansehen, gelten bei ihnen gar nicht als Vergehen, sie sind selbstverständliche Bestandteile des herrschaftlichen Lebensstils: „Kleinere Sünden zu begehen beanspruchen die Reichen ohnehin als Privileg, das ihnen von Rechts wegen z u k o m m t " (G 111,55)7. Das gilt für die Prasserei, die bei ihnen an der Tagesordnung ist (G IV,18f) wie für den Diebstahl, wobei auch hier die Untat durch die Reichen gesteigert wird. Salvian spricht bei ihnen nicht von Diebstahl, sondern gleich von Raub und weist auf die Ausnutzung der wirtschaftlichen Not der Armen sowie auf die Praktiken der Proskription hin 8 . Interessant ist die Analogisierung des Ungehorsams der Herren gegen die göttlichen Gebote mit der Flucht der Sklaven. Wie die „servi" von ihrem „dominus" fliehen, so fliehen die Herren vor Gott, ihrem „dominus". Und wieder die Steigerung der Schuld: der Sklave entläuft „vielleicht einem schlechten Herrn", der Reiche einem guten (G IV, 18). Über diese Entsprechungen von Sklaven- und Herrenvergehen gehen zwei weitere Anklagepunkte hinaus. Herren morden ihre Sklaven und bleiben straffrei 9 . Salvian wirft ihnen vor, die Tötung eines Sklaven als Ausübung 6
„ N o n grandis est culpae cum quis furatus fuerit: furatur enim ut esurientem impleat animam". „Ac per hoc culpam ipsam inopia minus culpabilem facit, quia excusabilis furti reus est, qui ad furtum cogi uidetur inuitus" (beides G IV,14). Der Sinn von Prov. 6 , 3 0 ist im hebräischen Text gerade entgegengesetzt: „Verachtet man den Dieb nicht sogar, wenn er stiehlt, um seine Gier zu stillen, wenn er hungert?" (Übersetzung von H. Ringgren, A T D 16,1, Göttingen 1962, S. 33). Zur „necessitas" als milderndem Umstand vgl. o.S. 58 Salvian legt diese necessitas sehr eng aus: übliche Berufspraktiken die mit den Geboten nicht in Einklang stehen, lassen sich damit nicht entschuldigen (G 111,51). 7 ,, . . . quia uolunt sibi id forte maiores quasi priuilegii uindicare ut iure suo crimina uel minora committant" (G 111,55). 8 So G IV,1 7ff. 9 Salvians Anklage wird n o c h verständlicher, wenn man einschlägige Gesetzestexte zur Interpretation mit heranzieht. Nach CTh I X , 1 2 , 1 . 2 wird ein Herr nur bestraft, wenn er seinen Sklaven vorsätzlich und mithilfe von Waffen getötet hat. Stirbt ein Sklave aber infolge von Schlägen oder Einkerkerung, geht der Herr straffrei aus, ebenso, wenn
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
eines Rechts anzusehen. Sklaven hingegen morden selten, die Angst vor Strafe hält sie zurück (G IV,23). Herren machen ihre Sklavinnen zu Konkubinen, sie brechen die eigene Ehe, die „fastigia nobilium matrimonior u m " ziehen sie in den Schmutz (G IV,24—26). Für den Asketen liegt hier eine besonders abscheuliche Unsitte vor, er scheut vor den stärksten Ausdrücken nicht zurück, um sie zu brandmarken: „Wem ist Haus und Familie nicht zum Bordell geworden?" (G IV,24) 1 0 . „Fast ein einziges Bordell ist das Leben aller" 1 1 , schreibt er über die Aquitanier (G VII,15). Und gleich zweimal zitiert er in diesem Zusammenhang Jer 5,7 „Wie tolle Gäule sind sie gegen die Frauen geworden" (G IV,24 und VII, 18) 1 2 , Sklavinnen konnten sich dem Verlangen der Herren nicht entziehen, „es war den Frauen nicht erlaubt, keusch zu sein unter den unzüchtigsten Herren, auch wenn sie gewollt hätten" (G VII,20) 1 3 . Strafverschärfend ist für die Herren, daß sie Abhängige zur Unzucht gezwungen haben: es war eine „necessitas subiectarum", der „libido dominantium" nachzukommen (G VII,20) 1 4 . Salvian erinnert an die Bedeutung, die das Verhalten des Hausherrn für die ganze Hausgemeinschaft hat. Der „pater familias" gibt Schutz, ist verpflichtet für seine Hausgenossen zu sorgen, er gibt zugleich mit seinem Leben das „exemplum", die Norm, nach der sich die nachgeordneten Mitglieder des Hauses richten. Ein Hausvater, der die Gesetze der Moral nicht achtet, ruft gleiche Einstellung bei den Sklaven hervor 15 . Die Schuld, die alle Christen wegen der Übertretung der Gebote auf sich laden, lastet somit auf den Reichen verstärkt, weil sie Verantwortung für das Leben der Abhängigen tragen und dieser Verantwortung nicht nachkommen. Auch hier bindet Salvian wieder die Übertretungen des Gesetzes in den sozialen Kontext ein. Die Sklaven handelten aus Not, die Herren dagegen aus Überfluß. Und ihre bevorzugten Lebensmöglichkeiten sollten Dank gegen den Geber der Wohltaten, gegen Gott, zur Folge haben. Gute Werke müßten folgen, weil die Reichen Gottes „Wohltaten ohne Unterlaß" (G IV, 17) 1 6 genießen. er den Sklaven nach einem schweren Delikt tötet, um die anderen Sklaven besser führen zu können. 1 0 „ . . . cui non d o m u s ac familia sua scortum s i t " (G I V , 2 4 ) . 1 1 „ . . . paene unum lupanar omnium u i t a " (G VII,15). 1 2 „ E q u i insanientes in feminas facti s u n t " (G I V , 2 4 und VII,18). 1 3 „ . . . sub impurissimis dominis castas esse, etiamsi uoluissent, feminas non l i c e b a t " (G VII,20). 1 4 Salvian nimmt auch hier die Zwangssituation als Entschuldigung für die Abhängigen, vgl. o. S. 58f, sowie zu dem hier verhandelten Anklagepunkt o. S. 9 3 f f . ι 5 Vgl. G V I I , 1 9 ; dazu oben S. 9 3 f f . 1 6 „ T u uero nobilis . . . beneficiis illius sine cessatione p e r f r u e r i s " (G I V , 1 7 ) . Im Hintergrund steht Salvians Anschauung von der Verpflichtung zu guten Werken bis zur völligen
Gesellschaftskritik II: Korruption
2. Unterdrückung
der Armen durch korrupte
103
Beamte17
Ein Aspekt der Ausplünderung der Massen durch wenige „potentes" ist die Korruption der Bürokratie. Salvian findet hier einen Hauptansatzpunkt für seine Anklage. Der Staat ist verarmt, aber die, die ihn verwalten, haben sich persönlich bereichert, sie machen ihre Gewinne auf Kosten des Gemeinwohls. So stellt er gleich zu Beginn seiner Schrift fest, daß „reiche Beamte den Staat arm machen" (G 1,11). In seinem Kommentar zu diesem Mißstand zeigt Salvian politische Urteilsvermögen: er hält es für „Torheit und Blindheit, daß sie glauben, privater Reichtum könne Bestand haben in einem bedürftigen und bettelarmen Staat" (G 1,11) 1 8 . Pauschal diffamiert Salvian das gesamte „Leben aller Curialen als Ungerechtigkeit", das „aller Officialen als Lug und Trug", das „Leben aller Soldaten als Raub" (G 111,50) 19 . Er beschuldigt die „principales ciuitatum", das Hab und Gut der Witwen und Waisen sowie der Sancti zu veruntreuen (G IV,18) 2 0 und kommt zu dem Ergebnis, daß in jeder Gemeinde (urbes, municipia, uici), so viele Tyrannen herrschen, wie es Curiale gibt (ebd) 21 . Die Terminologie, mit der er die ungerechtfertigte persönliche Bereicherung bei Ausübung eines öffentlichen Amtes bedenkt, entstammt dem Bereich der Kriminalität: „rapina", „latrocinium", „peculatio", bzw. des Militärs: „praeda", „uastatio", „depopulatio", „expoliator" 2 2 . Und er Weggabe allen Besitzes, die sich aus der Gottesgabe des Reichtums ergibt (dazu s.u. S. 141 f). 17 Zum Folgenden vgl. A. Haemmerle, Studien I, 29—41; R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 143f.; A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 30ff.; G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.), 3 I f f . 18 ,, . . . nunc autem diues potestas pauperem facit esse rempublicam. Et quae, rogo, insania est aut quae caecitas, ut egestuosa ac mendicante republica diuitias posse credant stare priuatas?" (G 1,11). 19 >>Quid autem aliud est cunctorum negotiantium uita quam fraus atque periurium? quid aliud curialium quam iniquitas? quid aliud officialium quam calumnia? quid aliud omnium militantium quam rapina?" (G 111,50). 20 Der Betrug an Witwen und Waisen (als den Hilf- und Rechtlosesten der Gesellschaft) ist Topos christlicher Kritik (vgl. auch G VII,71). 21 Die pauschale Kritik an den Kurialen, die doch selbst Opfer des Systems waren, ist zu Recht oft negativ vermerkt worden. Hier ist einer der Punkte, an denen Salvians Glaubwürdigkeit als Geschichtsquelle gerne angezweifelt wird: A. Haemmerle, Studien 11,3; R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 155f.; E. Bordone, La societä, 336; A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 34; E. A. Isichei, Political Thinking, 101. 22 „rapina" G IV,21; V,25; VII,91; „latrocinium" G IV,20; V,26; VII,91.92; „peculatio" G VII.91; „praeda" G IV,21; V,17; „uastatio" G IV,21 u.ö.; „expoliator" G VII,91; „gladiator" G VII,91; „tyrannis" G IV,20; vgl. dazu O. Janssen, Vastare et ses synonymes dans l'oeuvre de Salvien de Marseille.
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
scheut nicht davor zurück, die Steuereinnehmer mit Räubern zu vergleichen — wobei er die Räuber noch für weniger gefährlich hält, da sie in der Regel nur die Habe, nicht aber das Leben fordern, wie die Beamten. Daher scheint ihm der Vergleich mit „wilden Bestien" (G V,25) angebrachter zu sein. Der Mißbrauch öffentlicher Ämter zur persönlichen Bereicherung führt zu einer unerträglichen Belastung der Bevölkerung. Vom höchsten bis zum niedrigsten Amtsinhaber herrscht Korruption, selbst ehemalige Beamte behalten hinreichend Einflußmöglichkeit, um ihre Ausplünderung weiterzuführen. Die Gesetze helfen diesem Mißstand nicht ab, da nur die kleinen Leute ihnen gegenüber zum Gehorsam verpflichtet werden, während die Reichen sich ungestraft über sie hinwegsetzen können. Ihre Bestimmungen und Verordnungen, so klagt Salvian, nützen nichts, da „diejenigen sie am meisten verachten, die ihnen dienen sollen" (G VII, 93) 2 3 . Spezieller greift Salvian vier Formen der Korruption an, die jeweils für die Gesellschaft der Spätantike charakteristisch sind: den Ämterkauf (G IV,21), die Gewohnheit, offiziellen Boten Geschenke zu machen (G V,30), die Bestechlichkeit der Richter (G IV,23; VII,91.93) und die persönliche Bereicherung der Steuereinnehmer (G V,17.25). Es ist für Salvian bezeichnend, daß er nicht so sehr gegen die Praktiken des Ämterkaufs und der „ m u n e r a " als solche Einspruch erhebt, sondern sich vor allem gegen die Ungerechtigkeit wendet, daß diejenigen, die von dem Handel und von den Geschenken profitieren, nicht selbst zahlen, sondern die Kosten weitergeben an die von ihnen Abhängigen: „Eine Würde wird von wenigen gekauft, um mit der Ausplünderung aller bezahlt zu werden . . . Damit einige wenige zu Ruhm gelangen wird die Welt zerstört, die Würde eines einziges ist der Untergang der Welt" (G IV,21) 2 4 . Die Bestechlichkeit der Richter führt zu einer unerträglichen Rechtsungleichheit: Reiche haben von ihnen nichts zu fürchten (G IV,23), sie halten allein die Armen und Niedrigen an, dem Gesetz Folge zu leisten, allein ihnen droht Strafe, „sie werden gezwungen, das gleichsam heilig zu halten, was die Mächtigeren für Nichts achten und ständig mit Füßen treten"
23 „Ecce quid ualeant statuta legum, ecce quid proficit definitio sanctionum, quae illi spernunt maxime qui ministrant" (G VII,93). 24 „Ad hoc enim honor a paucis emitur ut cunctorum uastatione soluatur . . . ut pauci inlustrentur, mundus euertitur: unius honor orbis excidium est" (G IV,21). H.-J. Diesner, Salvian, 152, schreibt zu dieser Stelle: Der „Vorgang der wirtschaftlichen Aussaugung von Bevölkerung und Provinzen wird also erkannt, die parasitische Aneignung eines großen Teiles des Sozialprodukts durch wenige Reiche u n d Mächtige . . . treffend geschildert."
Gesellschaftskritik II: Korruption
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(G VII,93) 2 S . Die Richter selbst tun sich bei der ungesetzlichen Bereicherung besonders hervor und sie zeigen besonders stark die Zweigleisigkeit der Rechtswirklichkeit: „Der Richter bestraft bei einem anderen Veruntreuung und ist doch selbst ein Veruntreuer, er bestraft den Raub und ist selbst ein Räuber, er bestraft den Meuchellord und ist selbst ein Bandit, er bestraft das Aufbrechen von Schlössern und Türen und ist doch selbst ein Verwüster von Städten, er bestraft die Plünderer von Häusern und plündert selbst Provinzen aus" (G VII,91) 2 6 . Die Steuereinnehmer schließlich benutzen ihre Amtsbefugnisse, mittels Schuldenprivatisierung sich persönlich zu bereichern: „öffentliche Abgabe wird ihre Privatbeute", heißt es bei Salvian (G V,17) 2 7 . Wie zahllose kaiserliche Gesetze zeigen, sind diese Formen der Korruption über lange Zeit und vergeblich bekämpft worden. W. Schuller zeichnet in seinem Aufsatz „Grenzen des spätrömischen Staates: Staatspolizei und Korruption" die Entwicklung dieser Auseinandersetzung zwischen Kaisertum und Gesellschaft nach — bis hin zur Legalisierung eines Großteils dieser Praktiken als der einzigen Möglichkeit, sie zu kanalisieren 28 . Schullers These lautet, daß die Korruption in solchem Ausmaße geübt wurde, daß sie nicht mehr eine Abweichung von der üblichen Verhaltensnorm darstellt, sondern als eine „eigene soziale Gegenkraft" 2 9 gegen Kaisertum und Staatsapparat zu verstehen ist: „Die Spätantike zerfiel in einen zentralistischen und immer höhere materielle Anforderungen stellenden Staatsapparat, der vielen als nackte Räuberei erscheinen mußte, und in eine amorphe Gesellschaft, der jede legitime politische Betätigung und Interessenvertretung außerhalb dieses Apparats genommen war. Kein Wunder also, daß der Staat selbst sich nicht legitimieren konnte, und daß der Gesellschaft schon fast nichts anderes mehr übrig blieb, als neben und gegen diesen Staat ihre Interessen nun allerdings sehr unmittelbar, sehr chaotisch und ihrerseits grausam zu befriedigen" 3 0 . Hierin ist Schüller in 25
„ . . . cum ea minores quasi sacra obseruare cogantur, quae maiores iugiter quasi nulla conculcant" (G VII,93). 26 „Punit enim iudex in alio peculationem, cum sit ipse peculator, punit rapinam, cum ipse sit raptor, punit sicarium, cum ipse sit gladiator, punit effractores claustrorum et ostiorum, cum sit ipse euersor urbium, punit expoliatores domorum, cum sit ipse expoliator prouinciarum" (G VII,91). 27
„ . . . quibus exactio publica peculiaris est praeda" (G V , 1 7 ; vgl. 25). S. 16; Schuller weist die einschlägigen Gesetzestexte nach: gegen Ämterkauf S. 10, Anm. 21; gegen die „munera" S. 11, Anm. 23; gegen die Bestechlichkeit der Richter S. 9 Anm. 18; gegen die Schuldenprivatisierung und andere Übergriffe der Steuereinnehmer S. 12 Anm. 26. 29 Ebd. 20. 30 Ebd. 21. 28
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
Anbetracht der Ausmaße der Korruption, von der nicht zuletzt die ständigen Versuche kaiserlicher Gegenmaßnahmen zeugen, rechtzugeben. Die nicht enden wollenden Klagen bei heidnischen 3 1 und christlichen Schriftstellern (nicht zuletzt bei Salvian) zeigen m.E. j e d o c h , daß man sich mit dieser „Gegen-Kraft", mit dieser „privatistischen, vorkaiserlichen Auffassung vom öffentlichen Dienst" keineswegs abgefunden hatte, wie Schuller m e i n t 3 2 , sondern Gegenvorstellungen entwickelte, Staats- und Gesellschaftsideale, die entweder an einer glorifizierten römischen Republik, am Leben christlicher Gemeinschaften oder an den Verhältnissen bei den Barbaren orientiert waren.
3. Kritik der Ungerechtigkeit
der
Lastenverteilung33
Neben der Korruption n e n n t Salvian die Härte der Steuern und die ungleiche Verteilung der Abgaben als Grund für die unerträglichen Zustände bei der Mehrheit des Volkes. Er n i m m t besonders die sozialen Folgen der fiskalischen Praktiken in den Blick: die Hilfslosigkeit der Masse gegen das Diktat der Mächtigen, die sich in Resignation — im Eingehen von Abhängigkeitsverhältnissen als Klienten oder Kolonen — oder in Auflehnung — Flucht zu Bagauden oder Barbaren — niederschlägt. Ein Schwerpunkt dieser Kritik richtet sich gegen die Höhe der Belastung und gegen die Härte, mit der die „exactores" die Abgaben eintreiben. Die Opfer bezeichnet er als „miseri", als Unglückliche, „die wiederholt, ja beständig, Vernichtung erleiden durch öffentliche Steuer, denen immer schwere und unermüdliche Gütereinziehung d r o h t , die ihre Häuser verlassen, damit sie nicht in ihren Häusern gequält werden, die in die Verbannung gehen, damit sie nicht Martern erleiden müssen" (G ν ^ δ ) 3 4 . Die allgemeine Steuerlast ist für Salvian jedoch n o c h nicht das Schlimmste. Erhaltung des Eigentums und Vermehrung des eigenen Reichtums sind für 31
So etwa bei Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte X V , 2—4 (ed. Seyfarth Bd 1, 152). 32 Ebd. 19. 33 Dazu äußern sich R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 1 5 3 f f . ; A. Schaefer, Römer und Germanen, 72ff.; E. Bordone, La societä, 3 2 2 f . ; M. Pellegrino, Salviano, 170f.; F. Paschoud, R o m a aeterna, 3 0 6 ; G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.) 32. 34 ,, . . . miseri qui adsiduum, i m m o continuum exactionis publicae patiuntur excidium, quibus imminet semper grauis et indefessa proscriptio, qui domus suas deserunt ne in ipsis domibis torqueantur, exilia petunt ne supplicia sustineant?" (G V , 2 8 ) . Proscriptio „bezeichnet in späten kaiserlichen Erlassen die Strafe der Konfiskation" (M. Fuhrmann, Art ,proscriptio' 2 4 4 1 ) .
Gesellschaftskritik II: Lastenverteilung
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ihn keine positiven Werte, in der Weggabe des Besitzes zu guten Zwecken liegt vielmehr die einzige Art des richtigen Gebrauchs des Vermögens 3 5 . Daher ist die Höhe der Abgabe allein, ja selbst die vollständige Gütereinziehung für ihn noch nicht letzter Grund zur Anklage. Zwar bezeichnet er die Proskription als „mala", doch auf der Basis vollständiger Gegenseitigkeit wäre sie „tolerabilius ferme". Die Härte der „exactores" wäre — obgleich sie „unmenschlich" ist — „weniger schwerwiegend und schmerzlich, wenn alle sie in gleicher Weise und gemeinsam ertragen würden" (G V,28) 3 6 . Die ungleiche Lastenverteilung zuungunsten der Armen ist aber ein Mißstand, den Salvian schärfstens kritisiert: „Das ist unwürdiger und sträflicher [als die „uis exactionis" selbst], daß nicht alle die Last für alle auf sich nehmen, ja daß die Abgaben an die Reichen die armen Menschen niederdrücken und die Schwächeren die Last der Stärkeren tragen" (G V,28) 3 7 . Hier ist ein Einsatzpunkt für Salvian: Die Forderung der Gerechtigkeit ist verletzt, es herrscht „iniquitas" (G V,34). Die Reichen legen den Armen Tribute auf, sie beschließen über die Höhe der Abgaben, erheben Steuerzuschläge („adiectiones tributariae", „nouae indictiones", G V,29f), ohne diejenigen, die letztlich zahlen müssen, zu fragen. Sie beschließen und „spüren niemals, was sie beschließen" (G V,30) 3 8 . Salvians Urteil ist eindeutig: „Was kann es denn Ungerechteres geben oder was kann unwürdiger sein, als daß ihr allein (gemeint sind die Reichen) frei seid von Schulden, die ihr alle zu Schuldnern macht"? (G V,31) 3 9 . Und er fordert die Nobiles auf, auf ihre Steuerprivilegien zu verzichten: Ihr Reichen, „die ihr die ersten im Beschließen seid, seid auch die ersten in der Freigiebigkeit an Mitteln" . . . „Der du von dem Meinen gibst, gib auch von dem Deinen". „Veranlaßt wenigstens, daß die Forderung euch selbst auch mit uns gemeinsam gilt" (alles G V,31) 4 0 . Und soll die Zahlung für ein persönliches Anliegen verwendet werden, so erachtet Salvian es für billig, daß der, der eine Vergünstigung erlangen will, auch finanziell dafür aufkommt (G V,31). 35
So der Tenor von „Ad ecclesiam", vgl. u. S. 142—145. „Et quidem ipsum hoc, quamuis durum et inhumanum, minus tarnen graue atque acerbum erat, si omnes aequaliter atque in c o m m u n e tolerarent" (G V , 2 8 ) , (vgl. G VII,71). 37 „Illud indignius ac poenalius quod omnium onus n o n omnes sustinent, i m m o quod pauperculos homines tributa diuitum premunt, et infirmiores ferunt sarcinas fortiorum" (G V , 2 8 ) . 38 „Ipsi enim in nullo sentiunt quod decernunt" (G V , 3 0 ) . 39 „Quid enim iniquius esse aut quid indignius potest quam ut soli sitis immunes a debito, qui cunctos facitis debitores?" (G V , 3 1 ) . 40 „Estote ergo, diuites, primi in conferendo, qui estis primi in decernendo! . . . Qui das de m e o , da et de tuo! . . . facite saltim debitum ipsum uobis nobiscum esse c o m m u n e ! " (G V , 3 1 ) . 36
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
Aus Salvians Diktion spricht die klare Trennung zweier Schichten, die sich gegenüberstehen 41 : Ihr, die Reichen und wir, die Armen, mit denen Salvian sich solidarisch erklärt. Die Polarisierung ist vollständig, doch appelliert Salvian an die Reichen, diese Trennung wieder aufzuheben. Er fordert die Solidargemeinschaft der Reichen mit den Armen. Es ist für ihn unerträglich, daß diejenigen, die letztlich zahlen müssen, keine Mitsprache bei der Verwendung der aufgebrachten Mittel haben. Die Verwendung ist dem einfachen Bürger unklar, Auskunft darüber zu erhalten ist unmöglich, der Arme ist keinen Gesprächspartner des Reichen, er darf nur zahlen: „Und so zahlen die unglücklichen Armen, wie wir gesagt haben, ohne zu wissen, warum und zu welchem Zweck sie zahlen! Wem ist es erlaubt, zu prüfen, warum er zahlen soll, oder wem ist es gestattet, nachzuforschen, wieviel er schuldet?" (G V,32) 4 2 . Salvian beläßt es allerdings bei dieser Kennzeichnung eines Mißstandes, er fügt keine konkreten Vorschläge zur Abhilfe hinzu. Die Kumpanei der Reichen bei der Ausplünderung der Armen sieht Salvian auch in der Art der Verwendung von steuerlichen Erleichterungen, von besonderen staatlichen Zuwendungen in Notzeiten. ,,So wie die Armen für die Belastung die ersten sind, so sind sie bei der Wiederaufrichtung die letzten" (G V,34) 4 3 . Wieder sieht er als Grundübel „iniquitas" — die Subventionen gelangen nicht dorthin, wo sie benötigt würden. Arme gelten nur als Steuerzahler, wenn sie zahlen sollen, bei der Verteilung von „remedia" fallen sie aus der Zahl der Steuerpflichtigen heraus. Salvian sieht nur einen Weg, die gerechte Verteilung der Lasten herbeizuführen: die Übernahme der Herrschaft durch die Barbaren. Die geschundenen Armen „seufzen täglich zu Gott und flehen um ein Ende ihrer Leiden und, was das Schwerwiegendste ist, unterdessen fordern sie in der Bedrängnis allzugroßer Erbitterung auch die A n k u n f t der Feinde, und endlich haben sie von Gott erwirkt, die Zerstörungen von den Barbaren gemeinsam zu ertragen, die sie vorher von den Römern allein ertragen h a t t e n " (G V I I ^ l ) 4 4 . Die Barbaren heben so die „iniquitas" auf — allerdings in einer Weise, die Salvian hier keineswegs beschönigt. 41
„La division est . . . entre les classes" (R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 153). „Et quidem miserrimi pauperes sic t o t u m hoc quod diximus soluunt, quod qua re uel qua ratione soluant penitus ignorant! Cui enim licet discutere cur soluat, aut cui permittitur explorare quid debeat?" (G V , 3 2 ) . 43 „Nam sicut sunt in adgrauatione pauperes primi, ita in releuatione postremi." (G V,34). 44 „ . . . qui ingemescentes cotidie ad deum ac finem malorum imprecantes et, quod grauissimum est, interdum ui nimiae amaritudinis etiam aduentum hostium postulantes, 42
Gesellschaftskritik II: Patrocinium und Kolonat
4. Kritik an der Ausnützung Großgrundbesitzer
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der Notlage der Armen durch die
Dem Teil der Bevölkerung, der, durch Abgaben überfordert, keine Möglichkeit zur wirtschaftlichen Existenz mehr sieht, bleiben nur zwei Möglichkeiten: Aufgabe der Freiheit durch Eingehen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder aber Flucht zu Bagauden oder Barbaren. Die Aufgabe der Freiheit, die Bindung an einen „possessor", bot sich besonders für die kleinen Bauern an. Salvian schildert die 2 Formen, unter denen sich ehemals Freie („ingenui") zu Abhängigen herabstufen lassen mußten, um Schutz vor dem Zugriff der exactores zu erlangen: Patrocinium und Kolonat 4 5 . Wenn auch die Rechtsform verschieden ist, so ist doch das Ergebnis letztendlich das Gleiche: als „dediticii" oder „inquilini" werden sie zu Leibeigenen („proprii"), ja, fast zu Sklaven („servi"). a) Patrocinium Freie Bauern suchen Schutz bei einem Reichen oder Mächtigen, um von ihm Hilfe gegen die Übergriffe des Fiskus zu erhalten. Sie „liefern sich Größeren zum Schutz und Schirm aus, sie machen sich zu Untergebenen („dediticios") der Reichen, und gehen gleichsam in ihren Rechtsbereich und ihre Botmäßigkeit über" (G V, 38) 4 6 . Das Schutzverhältnis zwischen einem Mächtigen und einer Gruppe von Klienten hat in Rom eine lange Tradition, es war eine Institution, die den Bedrängten Hilfe brachte aufgrund der Verbindungen und Einflußmöglichkeiten des Patrons 4 7 . Salvian sieht in der Institution selbst noch nichts Negatives: „Ich würde dies nicht für problematisch oder unwürdig ansehen, ja, ich würde den Mächtigen beglückwünschen zu dieser Größe, wenn . . . " (G V,39) 4 8 und dann aliquando a deo impetrarunt ut eversiones tandem a barbaris in c o m m u n e tolerarent quas soli a Romanis ante tolerauerant" (G VII,71). 4S Dazu vgl. A. Haemmerle, Studien II, 8—45; R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 159— 162; A. Schaefer, Römer und Germanen, 76 — 78; E. Bordone, La societä 3 1 7 ; G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.), 32. ** „Tradunt se ad tuendum protegendumque maioribus, dediticios se diuitum faciunt et quasi in ius eorum dicionemque transcendunt" (G V , 3 8 ) . 47 Die historische Entwicklung des Patrocinium bis ins 4. und 5. Jahrhundert zeigt L. Harmand, Le patronat sur les collectivites publiques des origines au bas empire. Die Ausnutzung dieses Instituts zur Steuerflucht bzw. zur Ausbeutung der Beschützten stellt Harmand als Perversion der ursprünglichen Intentionen dar (448ff.). 48
„Nec tarnen graue hoc aut indignum arbiträrer, i m m o potius gratularer hanc potentium magnitudinem quibus se pauperes dedunt, si . . . " (G V , 3 9 ) . Die grundsätzlich positivi Einstellung zu diesem Schutzverhältnis zeigt seine Charakterisierung des Gottesverhältnisses der Sancti als „patrocinium": „in eius nos protectionem ac patrocinium ambitiosa humilitate contulimus" (E 11,49, dazu unten S. 156).
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
folgt die Kritik, die Mißstände aufzeigt, die aus dieser Institution einer patriarchalischen Gesellschaft ein Instrument zur Ausbeutung der Ärmeren gemacht haben. Antrieb der Großgrundbesitzer, Klienten anzunehmen, ist jedoch nicht „humanitas", sondern „cupiditas". Die „pauperes" büßen auf der Flucht vor der Steuer ihr Hab und Gut an den „defensor" ein, der „Schutz der Eltern wird mit der Bettelarmut der Kinder erkauft" (G V,39). Der dafür eingehandelte Schutz scheint — folgt man Salvians Zeugnis — nicht sehr solide gewesen zu sein: die Steuern („capitatio") sind von dem ehemaligen Besitzer weiter zu entrichten, auch nachdem er sein Gütchen („agellus") verloren hat (G V,42). Als Rechtsnachfolger der Eltern bekommen die Kinder zwar nicht das Land, wohl aber müssen von ihnen die „agrorum munia" aufgebracht werden ( G V,43). Private Ausbeutung und öffentliche Forderung greifen ineinander und vernichten die Existenz vieler freier Landbewohner. b) Kolonat 4 9 Eine Variante dieser Form, der Steuerbehörde zu entkommen, ist mit der Aufgabe des „ius libertatis" verbunden (G V,44): Freigeborene begeben sich als Kolonen in Abhängigkeit von einem Großgrundbesitzer, durch „das J o c h eines Hintersassen geben sie sich der Verachtung preis", sie werden wie „ F r e m d e " aufgenommen und sinken ab zu „servi" und „proprii" (G V,45 ) 50 . An diesem Punkt wird die Funktion der Sozialkritik als Exempel für die Geschichtstheologie besonders deutlich. Salvian leitet zu seinem Hauptanliegen über, zum Erweis der göttlichen Gerechtigkeit im Verlauf der Geschichte. Wie die Römer Fremde nicht gastfreundlich aufgenommen, sondern versklavt haben, so werden sie von den Barbaren verbannt, wie sie durch List Freigeborene zu Sklaven gemacht haben, so droht ihnen auch Versklavung 51 . Sein Fazit: „Wir erleiden die Strafe des richtenden Gottes und wir erkennen noch nicht, daß wir gerichtet werden" (G V,47) 5 2 . Die schonungslose Aufdeckung der Mißstände in der Gesellschaft soll diesem Ziel dienen, die Augen für Gottes Strafhandeln zu öffnen und die „causae poenarum" zu erkennen (G V,49). 49
Zum Kolonat vgl. Α. Η. M. Jones, The Roman Colonate; W. Goffart, Caput and Colonate. Towards a History of Late Roman Taxation. so „Nam quos suscipiunt ut extraneos et alienos, incipiunt habere quasi proprios; quos esse constat ingenuos, uertuntur in seruos" (G V,45). 51 Zum Prinzip der Entsprechung von Vergehen und Strafe s.o. S. 41. 52 „Damnationem perferimus iudicantis dei et necdum nos agnoscimus iudicari" (G V,47).
Gesellschaftskritik II: Rebellion
5. Rebellion und Flucht als Formen des gegen die Unterdrückung
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Widerstands
Kann man das Eingehen von Abhängigkeitsverhältnissen der oben beschriebenen Formen als Resignation bezeichnen 5 3 , so gab es andererseits die Möglichkeit des Widerstands durch offene Rebellion oder durch Überlaufen zu den feindlichen Barbaren 5 4 . Die Bagauden, „eine Bewegung der Landbevölkerung", in der die entlaufenen Sklaven dominierten 5 5 , hatten sich infolge sozialer Mißstände kurz vor der Abfassung von „De gubernatione Dei" in Spanien und in Gallien erhoben 5 6 . Salvian sieht die sozialen Ursachen dieser Rebellion und führt sie als „necessitas" entschuldigend für die Aufständischen ins Feld 5 7 . Er charakterisiert die Bagauden als Menschen, die „durch schlechte und grausame Richter beraubt, niedergeschlagen, vernichtet wurden" (G V,24) 5 8 . Die Rechtsbeugung im Reich hat nach seinem Urteil Formen angenommen, die den offenen Aufstand rechtfertigen: „Wir nennen sie Rebellen, wir nennen sie Verbrecher, die wir zwangen, Verbrecher zu sein" (G V,24) 5 9 . Das Leben unter den Bagauden schildert Salvian als Notsituation der Verzweifelten „sie sind gezwungen, ihr Leben zu verteidigen, weil sie sahen, daß sie ihre Freiheit bereits völlig verloren h a t t e n " (G V,26) 6 0 , sie führen dieses Leben „gleichsam als Gefangene unter dem J o c h der Feinde" — der sie unterdrückenden Reichen — „aus Notwendigkeit, nicht nach eigenem Willen", „sie sehnen sich in ihrem Herzen nach Freiheit, aber sie müssen tiefste Knechtschaft aushalten" (ebd.) 6 1 In gleicher Weise nimmt Salvian die Römer in Schutz, die zu den Germanen übergelaufen sind. Sie sind vor dem Steuerdruck, aus Angst vor Fol53
R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 159. A. Haemmerle, Studien III,6ff.; R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 157 — 159; E. Bordone, La societä, 316f.; G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.) 33. 55 H. Bellen, Studien zur Sklavenflucht im römischen Kaiserreich, 160. 56 B. Czüth, Die Quellen der Geschichte der Bagauden (Edition und Kommentar) gibt folgende Chronologie: 4 3 5 Tibattos 1. Bagaudenaufstand 4 3 7 Gefangennahme Tibattos Um 4 4 0 Bagaudengemeinden in Spanien und Gallien (Aremorica) (S. 35). Ähnlich auch G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.), 3 3 Anm. 1. 57 Zur „necessitas" als Entschuldigungsgrund bei Gesetzesübertretung s.o. S. 58. 58 qui per malos iudices et cruentos spoliati, afflicti, necati" (G V , 2 4 ) . 59 „Vocamus rebelles, uocamus perditos, quos esse compulimus criminosos!" (G V,24). 60 ,, . . . coactique sunt uitam saltim defendere, quia se iam libertatem uidebant penitus perdidisse" (G V,26). 61 „Sic sunt ergo quasi captiui iugo hostium pressi: tolerant supplicium necessitate, non u o t o ; animo desiderant libertatem sed summam sustinent seruitutem" (G V,26). 54
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
terungen geflohen, und „die Feinde sind milder gegen sie als die Steuereinnehmer" (G V,28) 6 2 . „Deshalb haben alle dort lebenden Römer nur einen Wunsch, daß es nämlich nicht nötig sein wird, in den römischen Rechtsbereich zurückzukehren. Ein einziges einstimmiges Gebet gibt es dort bei römischen Volksangehörigen: daß es ihnen vergönnt sein möge, ihr Leben weiterhin mit den Barbaren zu führen" (G V,37) 6 3 . Zeitgenössische Zeugnisse zeigen, daß Salvian mit dieser Einschätzung der Situation nicht alleine steht 6 4 . Die einfache Landbevölkerung erhoffte sich offensichtlich von den Barbaren einen Zuwachs an Freiheit und sie beschleunigte das Eintreffen der Befreiung durch Flucht oder sie wartete doch im Stillen auf die baldige Ablösung der römischen Herrschaft, wie es sich in G VII,71 spiegelt. H. Bellen hat auf die große Bedeutung des Fluchtproblems in der Spätantike aufmerksam gemacht, einer Bewegung, die Sklaven, Kolonen und andere Abhängige in gleicher Weise erfaßte. Nach seinem Urteil ist das Fluchtproblem „in der Form, in der es sich im 4./5. Jahrhundert darstellt, . . . Symptom einer schweren Erkrankung des Sozialorganismus" 65 . Daß Schilderungen vom besseren Leben unter den Barbaren, wie Salvian sie gegeben hat, nicht gerade zur Stärkung des römischen Verteidigungswillens beigetragen haben 6 6 , liegt auf der Hand, darüber wird unten noch zu reden sein 67 . Hier soll festgehalten werden, daß die Verantwortung für Rebellion und Überlaufen von Salvian den sozialen Mißständen gegeben wird, besonders dem Verhalten der Reichen, der Beamten wie der Großgrundbesitzer. Unter diesem Aspekt ist für ihn die Darstellung dieser Form des Widerstands gegen die Unterdrückung Teil seiner Sozialkritik, Teil seiner Verteidigung der Armen.
6. Kritik des Klerus und der Mönche In seiner Kritik einzelner Stände der Gesellschaft schließt Salvian auch Klerus und Mönche nicht aus 6 8 . Die „sacerdotes" — und hier sind wohl 62
„Leniores his hostes quam exactores sunt" (G V,28). „Itaque unum illic Romanorum omnium uotum est, ne umquam eos necesse sit in ius transire Romanum. Vna et consentiens illic Romanae plebis oratio, ut liceat eis uitam quam agunt agere cum barbaris" (G V,37). 64 Vgl. z.B. Priscus, Fragment 8, FHG IV, S. 8 6 - 8 8 ; dazu Α. Η. M. Jones, The Later Roman Empire 1,516. 65 H. Bellen, Studien zur Sklavenflucht im römischen Kaiserreich, 159. 66 Diesen Vorwurf erhebt besonders vehement P. Courcelle, Histoire litteraire, 150. «7 S. 1 2 7 - 1 3 8 . 68 Salvians harte Schelte des Klerus hat schon G. Arnold erfreut: „ . . . ob wohl einigen partheyischen sein eiffer nicht anstehen will, weil er von der clerisey gar zu deutlich ge63
Gesellschaftskritik II: Klerus
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vor allem die Bischöfe gemeint — protestieren nicht laut und nicht wirksam genug gegen das überall vor ihren Augen geschehende Unrecht. Sie wären nach Salvians Verständnis von christlicher Existenz aufgerufen, den Bedrängten zu Hilfe zu eilen — als letzte Instanz, wenn die Behörden und die Richter versagen. Daher empfindet er das Versagen der Priester als besonders schwerwiegend: „Denn wer gewährt den Gequälten und Mühseligen Hilfe, wenn auch die Priester des Herrn der Gewalttätigkeit verruchter Menschen nicht widers t e h e n ? " (G V , 1 9 ) 6 9 . Ihr Eingreifen, wenn es überhaupt geschieht, gleicht der sonst geübten Passivität: „Denn die meisten von ihnen schweigen oder gleichen Schweigenden, auch wenn sie r e d e n " (G V , 2 0 ) 7 0 . Zwar hält Salvian ihnen durchaus gute Absicht bei ihrem Tun zugute: sie wollen verhindern, daß die Reaktion der kritisierten Mächtigen die Situation der Armen noch verschlimmert. Nur — der Erfolg des Stillhaltens entspricht dieser Intention nicht: „Unterdessen werden die Armen ausgeplündert, die Witwen seufzen, die Waisen werden mit Füßen getreten (G V , 2 1 ) 7 1 . Es ist interessant, hier einen Blick auf Salvians Schilderung eines eigenen Versuchs zu werfen, bei einem Vornehmen Fürsprache für einen Armen zu leisten, der um seine letzte Habe fürchtete (G IV,74f). Salvian malt den habgierigen Reichen mit scharfen Zügen, fast als Karikatur: „ d a blickte jener, der wütend nach dem Hab und Gut des Armen gelechzt und die Beute schon in brennendstem Hoffen und Begehren verschlungen hatte, zitternd und mit grimmigen Augen auf meinen M u n d " 7 2 . Eine Einrede gegen die Entrechtung der Armen scheint recht unüblich gewesen zu sein. Ein Erfolg der Demarche blieb aus — der Reiche begegnet dem Priester zynisch: er habe bei Christus gelobt, diesem Armen seinen Besitz wegzunehmen. Salvian resigniert, er geht, in Erkenntnis seiner Machtlosigkeit. Seine abschließende Interpretation klingt bitter: die Sache wurde ihm als „gerecht und heilig" hingestellt, er ist belehrt worden über die Möglichkeit eines „gottwohlgefälligen Verbrechens" („religiosissimi sceleris", G IV,75).
schrieben hat. Womit er aber bei allen verständigen destomehr danck verdienet" (Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie 1,1, 2 5 0 ) . ..Quis enim uexatis ac laborantibus o p e m tribuat, cum improborum hominum uiolentiae etiam sacerdotes domini non r e s i s t a n t ? " (G V , 1 9 ) . 7 0 „ N a m aut tacent plurimi eorum aut similes sunt tacentibus, etiamsi l o q u a n t u r " (G V, 20). 7 1 „Inter haec uastantur pauperes, uiduae gemunt, orfani p r o c u l c a n t u r " (G V , 2 1 ) . 7 2 „ . . . tum ille, qui rebus eius siti rabida inhiauerat ac praedam iam spe et cupiditate ardentissima deuorarat, respiciens ac uibrans in os m e u m truces oculos . . . " (G IV, 74).
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
Salvian hat gesprochen — zu sprechen versucht. Sein Protest endet jedoch mit einem Rückzug, ohne daß er etwas ausgerichtet hätte: „Darauf ging ich weg (was hätte ich weiter tun k ö n n e n ? ) " (G IV,75) 7 3 . Sollte in die Kritik an den Priestern, die selbst dann, wenn sie sprechen, unhörbar bleiben, ein Stück Selbstkritik eingeflossen sein? Kritik übt Salvian nicht nur an Klerikern, die gegen Unrecht nicht oder nur unzureichend protestieren, sondern auch an Mönchen, die „unter dem Schein der Frömmigkeit ihren weltlichen Lastern hörig sind" (G V,52) 7 4 . Als Motive für eine solche scheinbare „conversio" nennt er die Möglichkeit, in der Institution Kirche schnellere und steilere Karriere zu machen als im säkularen Bereich. Religiosi, die nur ein neues Gewand, nicht aber eine neue Lebensweise angenommen haben (G V,53), streben nach „neuen Ehren", sie kaufen „vorher nicht innegehabte Machtstellen" (ebd.) 7 5 . Salvian wirft ihnen vor, sich an der allgemeinen Ausplünderung des Volkes zu beteiligen. Sie „enthalten sich der eigenen Gattinnen, aber sie lassen nicht vom Raub fremden Eigentums ab . . . Das Erlaubte [gemeint ist die Ehe] tun sie nicht, und das Unerlaubte begehen sie" (G V,54f) 7 6 . Diese Art der Bekehrung ist daher nicht „Hinwendung, sondern Abwendung" (ebd.) 7 7 . Klerus und Mönche haben eine besondere Verpflichtung, den Gesetzen Gottes in ihrem Leben Folge zu leisten. Die Kleriker wegen ihres hohen Ansehens bei den Gläubigen, das sie durch moralische Integrität rechtfertigen müssen (E 11,38). Und die besondere Verpflichtung der Religiosi ergibt sich aus ihren Gelöbnissen 7 8 . Das ideale Bild, das Salvian von der christlichen Lebensgemeinschaft der Asketen zeichnet 7 9 macht die Härte seiner Kritik verständlich: ein Makel in diesem Kernbereich der Kirche beeinträchtigt das Gesamtbild besonders nachhaltig. Sicherlich spielen auch hier eigene Erfahrungen eine große Rolle. Wir wissen aus den Biographien vieler Bischöfe, daß sie zunächst eine staatliche Beamtenlaufbahn begonnen und z.T. bereits sehr hohe Posten bekleidet 73
„Tum ego (quid enim amplius facerem) . . . discessi" (G IV,75). ,, . . . immo sub specie religionis uitiis saecularibus mancipati" (G V,52). 75 ,, . . . illi nouorum honorum religiosi ambitores et post acceptum paenitentiae nomen amplissimae ac prius non habitae potestatis emptores" (G V,53). 76 „illi . . . qui a coniugibus propriis abstinentes a rerum alienarum peruasione non abstinent. . . . Licita non faciunt et inlicita committunt" (G V,54f.). 77 „Non est hoc conuersio sed auersio" (G V,55). 78 Zur Interpretation der Gelöbnisse als Bestätigung der Kenntnis des Willens Gottes und der daraus folgenden Verpflichtung vgl. u. S. 156. 79 Dazu vgl. u. die Ausführungen S. 151 — 157. 74
Gesellschaftskritik II: Klerus
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hatten, bevor sie in ein leitendes Amt in der Kirche berufen wurden. Das Beispiel des Ambrosius (Statthalter in Mailand, zum Zeitpunkt seiner Bischofswahl noch ungetauft, ist da nur ein besonders krasses Beispiel 80 . Andere zeigen, daß der Übergang von Staatsbeamten in die Hierarchie nicht selten war 8 1 . Diese Bischöfe — aber auch andere — entstammten oft der Aristokratie 8 2 . Klagen über Kleriker und Mönche, die den Ansprüchen Salvians an ein Leben in der Nachfolge Christi nicht genügen, finden sich vor allem im „Ad ecclesiam": Reiche Asketen machen durch ihre Weigerung, auf ihren Besitz zu verzichten, ihre ganzen übrigen Verdienste wertlos 8 3 . Während Salvian einerseits über den Mißstand klagt, daß von vielen Religiosi der alte Lebensstil in neuem Gewand fortgeführt wird, daß auch das geistliche Amt als Möglichkeit zur Karriere genutzt wird, so schildert er andererseits die negative Reaktion des Volkes und gerade der Aristokratie, wenn einer der ihren zum Mönch wird. Er „verliert sofort die Würde seines Adels" — „Gottesverehrung entadelt". Mit beredten Worten klagt er, wie schlecht die Welt sei, „wo die Guten keinen Platz finden können", wo sie von Schlechteren mißachtet, mißhandelt, gequält, verfolgt werden (G IV,S2) 8 4 . Wie passen diese beiden Seiten zusammen? Die Familien der Nobilität, die alten römischen Traditionen verpflichtet waren 8 5 , und über großen Grundbesitz verfügten, werden die Übertritte in den Klerus nicht gern gesehen haben, noch viel weniger, wenn nicht gleich ein hohes Amt angetreten wurde. Asketisch lebende Kindern drohte die Enterbung, um den Besitz der Familie zu erhalten — was Salvian als eine harte Diskriminierung emp80
H. v. Campenhausen, Ambrosius von Mailand als Kirchenpolitiker. Als Beispiel sei an die Rede des Sidonius Apollinaris zur Unterstützung der Wahl des Simplicius zum Bischof von Bourges erinnert (Ep. VII,IX, ed. Loyen II, S. 50— 61). Zu diesem Thema äußert sich auch Α. Η. M. Jones, The Later Roman Empire II, 9 1 5 f . (dort weitere Beispiele). 82 In Gallien z.B. Sidonius Apollinaris sowie von den Lerinenser Mönchen, die zu Bischöfen aufgestiegen sind: Honoratus, Eucherius und seine Söhne, Hilarius, Lupus, Faustus, Caesarius (vgl. F. Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich, 49—58). S3 Bes. Ε I V , 2 . 5 . 2 4 . 2 9 ; auch Ε 11,39. 84 „ . . - quod si qui ex nobilibus conuerti ad deum coeperit, statim honorem nobilitatis amittit. . . . religio ignobilem facit". ,, . . . ubi boni locum habere non possunt" (G IV,32); vgl. auch Salvians Bericht von der Verfolgung der Mönche in Afrika G VIII, 18ff. Auch A. Schaefer, Römer und Germanen, 7 meint, daß eigene Erfahrungen Salvians bei seiner Klage über den Ausschluß von der Nobilität aufgrund der conuersio im Hintergrund stehen. 85 Vgl. Α. Η. M. Jones, Der soziale Hintergrund des Kampfes zwischen Heidentum und Christentum (zur Oberklasse im 4. und 5. Jahrhundert) 3 4 9 f f . 81
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
findet 8 6 . Seine Auseinandersetzung mit den Schwiegereltern Hypatius und Quieta läßt gewisse Rückschlüsse auf eigene Erfahrungen dieser Art zu. Fast 7 Jahre nach seiner Konversion bittet er in einem kunstvollen Brief (Ep IV) seine mittlerweile Christen gewordenen Schwiegereltern, den Kontakt zu ihm und seiner Frau wieder aufzunehmen. Beide waren von der Familie offensichtlich aufgrund ihres Beschlusses, asketisch zu leben, verstoßen worden, und die bislang unternommenen Versuche die Eltern umzustimmen und Verständnis für den Schritt zu erwecken, waren fehlgeschlagen (Ep IV,2). Eine Antwort auf den uns überlieferten Brief kennen wir nicht.
III. Kontrastbilder
zur römischen
Gesellschaft
Salvian verbindet die Kritik der Gesellschaft seiner Zeit mit einer positiven Darstellung anderer Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Die Formen dieses besseren Lebensstiles führt er exemplarisch in seine Argumentation ein: die Zeit der alten Römer, die Verhältnisse bei den Barbaren und die Idealvorstellung einer „vita Christiana", wie sie — zumindest in Ansätzen — bei den Mönchen zu finden ist. Die Art der Darstellung dieser drei Formen ist allerdings sehr verschieden. Die alten Römer werden nur in wenigen Sätzen erwähnt. Ausführlich und mit provokativer Zustimmung schildert er dagegen die Verhältnisse bei den Germanen. Hier entwickelt er an einem zeitgenössischen Beispiel, das für jedermann sichtbar und ohne besondere Gelübde oder Einschränkungen nachvollziehbar ist, das Bild einer Gegen-Gesellschaft zur christlich-römischen. Das christliche Leben, in der Vergangenheit im Volke Israel vorgeformt und als zeitlos gültiges Exempel von der Jerusalemer Urgemeinde verwirklicht, jetzt von den Sancti angestrebt, steht im Hintergrund der ganzen Schrift, es bildet die Folie, vor der die Fehlentwicklungen der christlichrömischen Gesellschaft besonders scharfe Konturen erhält. Diesem Ideal christlicher Lebensform wird daher ein eigenes Kapitel gewidmet, das sich auch mit der Frage befaßt, ob Salvian mit seinen negativen und positiven Beispielen Reformvorstellungen verbindet und auf eine Erneuerung der Gesellschaft abzielt oder ob er sich in konsequenzlosen Klagen ergeht. Ε III,21ff., bes. 2 7 - 2 9 und 3 7 - 3 9 . Dem steht jedoch eine andere Tendenz entgegen: die Anziehungskraft, die gerade strenge Askese auf die von den Idealen altrömischer Virtus geprägte Aristokratie ausgeübt hat — man denke nur an Demetrias und Melania und ihre Briefwechsel mit Hieronymus und Pelagius (vgl. dazu P. Brown, Pelagius and his Supporters, 1 8 8 f f . ) . 86
Kontrastbilder: Die alten Römer
1. Die alten
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Römer
Wie bereits angedeutet, spielt das alte heidnische R o m in Salvians Werk nur eine recht bescheidene Rolle. Hierin zeigt sich deutlich der Fortschritt der Christianisierung der Bevölkerung seit der Zeit, in der Augustin und Orosius ihre geschichtstheologischen Werke a b f a ß t e n : beide schrieben noch „Adversus p a g a n o s " 1 , sie m u ß t e n sich mit dem Vorwurf, die Abwendung vom alten Glauben Roms habe den Fall der Stadt verursacht, ausführlich auseinandersetzen 2 . Salvian k e n n t diesen Einwand, G o t t zeige seine Mißachtung menschlicher Belange dadurch, daß „die Römer, als sie noch Heiden waren, siegten und regierten, jetzt aber, w o sie Christen sind, besiegt und versklavt w e r d e n " (G VII,1) 3 . Doch antwortet er darauf mit einem kurzen Hinweis auf die Korrelation von Schuld und Wissen — ihre damalige Unkenntnis des göttlichen Gesetzes machte sie weniger schuldig. Dieser Satz gilt für sie wie für alle anderen Heidenvölker, Salvian räumt ihnen keine Sonderstellung ein, sondern wertet sie als einen Teil der „pagani gentes" 4 . Allerdings verspricht er, auf dieses T h e m a zurückzukommen und zu erweisen, daß dennoch das politische Geschick Roms damals wie heute seine Richtigkeit habe und die Gerechtigkeit Gottes zeige (G VII,2) — dieses Versprechen löst er aber leider nicht ein. „De gubernatione Dei" bricht ab, ohne daß dieser Argumentationsfaden wieder aufgenommen wird 5 . Es läßt sich aber tendenziell erschließen, wie diese Argumentation ausgesehen hätte — die Ausführungen über die Barbaren und die knappen Hinweise auf altrömische Exempla geben die Richtung an: auch ohne Gottes Gesetze zu kennen, lebten die alten Römer doch in vielen Punkten entsprechend den in ihnen erhobenen Forderungen. Alle Aussagen über das alte R o m stehen in Antithese zu den gegenwärtigen Zuständen: „ t u n c " — „ n u n c " oder „ q u o n d a m " — „ n u n c " 6 . Viermal verwendet Salvian diese Antithese: G I, lOf; VI,50.52, VI,98 und V I I , l f . Der wichtigste Text ist in unserem Zusammenhang G 1,1 Of. Hier schildert Salvian die „virtus R o m a n a " und stellt sie in die Nähe der „virtus Christi1
Vgl. den Titel der Schrift des Orosius: „Historiae adversus paganos". M. Pellegrino, Salviano, 213 und 218—220, verweist auf diesen Unterschied zwischen Augustin und Orosius einerseits und Salvian andererseits. 3 quod non respiciat res humanas deus, quia, cum Romani quondam pagani et uicerint et regnauerint, nunc Christiani et uincantur et seruiant" (G VII,1). 4 Zu diesem Argument vgl. o. S. 53ff. 5 Vgl. o. S. 27. 6 Auch Orosius vergleicht die vorchristlichen und die christlichen Zeiten in Antithesen, eingeleitet mit tunc — nunc oder illa — ista (dazu K. Schöndorf, Die Geschichtstheologie des Orosius, 107). 2
118
Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
ana". Um die freiwillige Armut der Sancti zu erläutern, greift er in die römische Geschichte zurück und erzählt, wie bereits dort die „ehrwürdiger Λ "inner von alter Tugend" — er nennt Fabius, Fabricius und Cincinnatus — „arm waren, weil sie nicht reich sein wollten" 7 . Er hebt hervor, daß sie ein „zurückhaltendes ländliches Leben" führten, „bäurische Hausmannskost" am Herd verzehrten, „grobe Gewänder" trugen und selbst im Schweiße ihres Angesichts ihre Felder pflügten, bis sie zu höchsten Staatsämtern berufen wurden. Besitz von Gold und Silber hatte Ausschluß aus dem „ordo senatorius" zur Folge, Silbergeld war nicht im Umlauf. Salvian malt in wenigen Sätzen das Bild eines für ihn idealen einfachen Lebens, einer Gesellschaft, in der aller Luxus verpönt war und die öffentlichen Belange unter Zurückstellung der privaten Interessen gefördert wurden. Damit wird die altrömische Gesellschaft exemplarisches Vorbild für die eigene, in allem gegensätzlich erscheinende: Damals regierten arme Verwalter einen reichen Staat — jetzt läßt eine reiche Clique von Machthabern den Staat verarmen (G 1,11). In diesem Bild, das Salvian von der heldenhaften römischen Vergangenheit entwirft, kommen zwei verschiedene Traditionen zusammen. Der Preis der „Vorzüge ländlicher Einfachheit" ist „ein fester Topos der Rhetorik", wie R. Vischer mit Zitaten von Cicero und Quintilian belegen kann 8 . Ein anderer Traditionsstrom überlieferte die Taten der Helden aus der republikanischen Zeit, es gab systematisch geordnete Exempelsammlungen, die für den Gebrauch der Rhetoren bestimmt waren. In Buch IV der Exempelsammlung des Valerius Maximus finden sich alle von Salvian erwähnten Beispiele 9 . An diesem verklärten Bild der Vergangenheit, in Rhetorenschulen und in Popularisierungen der stoischen Philosophie gepflegt, mißt Salvian die Gegenwart.
7
„Pauperes erant qui diuites esse nolebant" (G 1,10). R. Vischer, Das einfache Leben, 155, nennt als Beleg bei Cicero Pro Sex. Roscio Amerino 75 (ed. Enk. S. 71), bei Quintilian Institutio oratoriae 11,4,24 (ed. Rahn Bd. 1, 1 8 2 / 4 ) . 9 Valerius Maximus, Factorum ac dictorum memorabilium libri IX (ed. K e m p f ) : Fabius IV,3,9 (S. 182f.), Fabricius Lucinius IV,3,6 (S. 180f.), Cincinnatus IV,4,7 (S. 190). Die Berufung des Cincinnatus von der Feldarbeit zur Diktatur u n d die Entfernung des Cornelius Rufinus aus dem Senatorenstand wegen des Besitzes von 10 Pfund Silber verwendet auch Augustin, Civ V , 1 8 (CChr. SL 4 7 , S. 153) als Beispiel (letzteres bei ihm wie bei Salvian ohne Namensnennung!). Daß die Exempelsammlung des Valerius Maximus n o c h unter Rhetoren in Gebrauch war, wird durch zwei Auszüge, im 4. Jahrhundert hergestellt, belegt (F. G. Maier, Augustin und das antike R o m , 89 Anm. 19). Weitere Belege bei A. Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, s.u. „cunctari" (S. 101) und Fabricius (S. 129). 8
Kontrastbilder: Die alten Römer
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Er schafft jedoch darüber hinaus eine Beziehung zu seinen christlichen Idealvorstellungen: „So waren also die alten Römer, und damals verachteten jene, die Gott nicht kannten, den Reichtum, so wie ihn jetzt die verschmähen, die dem Herrn nachfolgen" (1,11) 10 . Wieder bedient Salvian sich der Wendung „ t u n c " — „nunc", doch diesmal nicht zur Betonung einer Antithese, sondern zur Herstellung einer Beziehung: die Mönche, die besitzlos leben, stehen in der Tradition der sparsamen, dem einfachen Leben verpflichteten Römer. Salvian setzt sich also nicht generell vom Römertun ab, wie Courcelle behauptet 1 1 . Er begnügt sich auch nicht mit wehmütiger Erinnerung an die alte Zeit 1 2 . Salvian fühlt durchaus römisch 1 3 — ja mehr noch: er reklamiert den in seiner Sicht besten Teil der heidnisch-römischen Tradition für sich 1 4 und nimmt ihn als Bestandteil der asketisch-christlichen Tradition in Anspruch! Die Sancti sind die wahren Nachfahren der römischen Heroen, nicht der Restbestand an Heiden in der spätrömischen Aristokratie, auch wenn dort alte Bräuche der Weissagekunst noch gepflegt werden, über die bereits die Klugen unter den heidnischen Denkern gelacht haben (G VI,12) 1S . Die Möglichkeit, „virtus Romana" explizit und ohne Notwendigkeit der polemischen Abgrenzung als Vorläufer der „virtus Christiana" hinzustellen, zeigt, wie eng die Begriffe Romanus und Christianus miteinander verwoben sind. Als Christ fußt Salvian auf römischer Tradition. E. Bordone hat mit Recht hierin einen Fortschritt in der christlichen Apologetik gesehen 16 . Die Besonderheit der Haltung Salvians fällt vor allem im Kontrast zu Orosius und Augustin auf, die beide neben der auch bei ihnen nachzuweisenden Anerkennung römischer Tugenden doch gegen bestimmte Züge des Römertums polemisieren 1 7 bzw. die Gegenwart als ethisch besser zu qualifizieren suchen 1 8 . 10 „Tales ergo tunc ueteres Romani erant et sic illi tunc contemnebant diuitias nescientes deum, sicut nunc spernunt sequentes d o m i n u m " (G 1,11). 11 P. Courcelle, Histoire litteraire, 155 Anm. 5. 12 J. Fischer, Die Völkerwanderung, 262, ähnlich A.-G. Sterzl, Romanus-ChristianusBarbarus, 18, der von „resignierender Erinnerung" an die einstige Größe spricht. 13 So auch R. Thouvenot, Salvien et la ruine, 1 6 2 u.ö., A. Schaefer, Römer und Germanen, 5 8 f f . , M. Pellegrino, Salviano, 218, E. Bordone, La societä 325—330; keine Feindschaft gegen Rom konstatiert auch P. Lebeau, Heresie et Providence, 164. Zu diesem Punkt vgl. auch u. S. 127ff. und 157ff. 14 So auch A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 18. 15 Vgl. o. S. 9 6 - 9 8 . 16 E. Bordone, La societä, 3 2 9 , ähnlich F. Paschoud, Roma aeterna, 3 0 2 . 17 M. Pellegrino, Salviano, 2 1 8 f f . Die Frage der Stellung Augustins zum antiken R o m ist in der Literatur o f t und kontrovers behandelt. Genannt seien das Buch von F. G. Maier, Augustin und das antike R o m (zu Civ I—III vgl. die Seiten 84—93) und der
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
Wird die Anerkennung der römischen Vergangenheit aber nicht auch bei Salvian eingeschränkt durch einen Text, in dem als Ergebnis der Prosperität der alten Zeit Sittenlosigkeit und Schauspiele genannt werden? P. Courcelle jedenfalls nimmt diesen Text (G VI,50f) im Zusammenhang seiner Interpretation von Salvians Darstellung der Barbaren zum Anlaß, dem Presbyter jegliches römische Empfinden abzusprechen 1 9 . In der Tat stellt Salvian heraus, daß sich „damals", zu Zeiten eines übermäßigen Wohlstandes, die Sitten lockerten: „kaum konnte das Ansehen der Religion die Strenge der Sitten unter so großem Überfluß der Güter aufrechterhalten" 1 9 3 . Der Staat suchte nach Möglichkeiten, Geld auszugeben und verfiel auf die Theater. In Analogie zu Salvians Verurteilung der Reichen, die gerade aufgrund ihrer übergroßen Gottesgaben zu größerer Gesetzesstrenge verpflichtet gewesen wären 2 0 , läge eine besondere scharfe Verurteilung der Römer an diesem Punkte wohl nahe. Überraschenderweise argumentiert Salvian an dieser Stelle aber genau gegenteilig: Da die Kosten damals nicht ins Gewicht fielen und allenthalben Überfluß herrschte, ist ihm diese „Leichtfertigkeit" („nequitia") eine nur allzu verständliche Reaktion. J e t z t allerdings, in der Stunde des Gerichts, wiegt die gleiche Schuld besonders schwer, da die Römer trotz der Strafe, trotz des Verlustes fast des gesamten Imperiums immer noch nicht von ihrem Laster lassen! Diese periphere Argumentation Salvians wird deshalb so ausführlich vorgestellt, weil sie einmal mehr zeigt, wie wenig stringent Salvian denkt und wie stark er seine Argumente ad hoc formuliert, ein Phänomen, auf das schon öfter aufmerksam gemacht wurde 2 1 . Er verwendet jede ihm passend erscheinende Interpretation, um sein eines Ziel zu erreichen: die Gerechtigkeit des Aufsatz von K. Thraede, Das antike R o m in Augustins ,De civitate Dei'. Recht und Grenzen eines verjährten Themas. Thraede diskutiert die neuere Literatur und legt zugleich eine eigene Interpretation der entsprechenden Abschnitte aus Civ vor. Dabei betont er die Ambivalenz der Haltung Augustins: die Ablehnung der „superbia" und gleichzeitig die Zustimmung zum Imperium: es ist „auch für Christen akzeptabel" (145). 18 Orosius, Adversus paganos VII (dazu K. Schöndorf, Die Geschichtstheologie des Orosius, 8 3 f f . ; F. Paschoud, R o m a aeterna, 2 8 5 f f . ) . 19 P. Courcelle, Histoire litteraire, 155 Anm. 5; zu G VI, 5 0 f . vgl. o. S. 88. Weiteres zum politischen Standort Salvians und zur lebhaften Diskussion dieser Frage in der Literatur s.u. S. 1 2 7 f f . und 160f. 19a „ . . . uix poterat religionis auctoritas inter tantam rerum exuberantiam morum tenere censuram" (G V I , 5 0 ) . 20 G IV,17. 21 Als Parallelen sind hier zu nennen: das unausgeglichene Nebeneinander von Tatethik und Gesinnungsethik (o. S. 29f. u. 58) sowie die verschiedenen Antworten auf die Frage, ob die Mehrzahl von guten Christen die schlechte Minderheit retten könnte, oder ob ein Sünder allein Strafe auf alle anderen herabzieht (o. S. 49).
Kontrastbilder: Die alten R ö m e r
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gegenwärtigen Gerichtes Gottes über die römischen Christen zu erweisen. Diesem Ziel ordnet er alles andere unter. Diese Art der Beweisführung verrät weniger philosophische als vielmehr rhetorische Bildung: nicht die Logik eines Argumentationsganges wird angestrebt, sondern die momentane Evidenz durch ein an dieser Stelle passendes Exempel mit entsprechender Interpretation 2 2 . „ D e gubernatione D e i " erscheint auch von daher eher als eine große rhetorische Streitschrift, als ein überdimensioniertes Stück persuasiver Prosa, denn als ein wissenschaftlich theologischer Traktat 2 3 . Und so kann selbst die Blüte der Schauspiele und die allgemeine Lockerung der strengen Sitten nicht das positive Bild trüben, das Salvian von den „ R o m a n i antiqui" entwirft. Hebt G 1,1 Of die vorbildliche Lebensweise hervor, entschuldigt G VI,50 die Lockerung der Sitten, so zeigt G VI,98 wie sehr der gegenwärtige Zerfall des Imperium R o m a n u m den Römer Salvian schmerzt. „Wo ist die alte Macht und die Würde der R ö m e r ? Einst waren die Römer die Stärksten, jetzt sind sie ohne Kraft. Die Alten Römer wurden gefürchtet, wir fürchten uns. J e n e n zahlten die Barbarenvölker Abgaben, wir sind den Barbaren steuerp f l i c h t i g " 2 4 . Diese Abhängigkeit von den Barbaren, die die Römer noch „den Genuß des Lichts verkaufen", empfindet Salvian als Schmach: „Was kann es Verächtlicheres und Elenderes geben als u n s ? " (G V I , 9 9 ) 2 5 . Die Tributzahlungen, kaschiert als „ m u n e r a " , als Geschenke, die keine Freiheit bringen, sondern einen Schwebezustand, ein unbestimmtes Abhängigkeitsverhältnis von den Feinden schaffen, ist für ihn Zeichen des Endes des Imperiums — aber er frohlockt nicht, er leidet darunter. Aus dem Vergleich mit den alten Römern leitet Salvian keinen Appell zur politischen Restauration ab, keinen Versuch, die vergangene „res publica R o m a n a " wiederherzustellen. Das unterscheidet seine Verweise auf die Vergangenheit der Verwendung ähnlicher Heldenerzählungen in heidnisch-aristokratischen Kreisen Roms, wie sie z.B. um S y m m a c h u s 2 6 nachweisbar sind.
Zur rhetorischen Herkunft dieser Argumentationsweise äußert sich M. Fuhrmann, Das E x e m p l u m in der antiken Rhetorik; zu Salvians exemplarischer Verwendung von Ereignissen der Geschichte s.u. S. 163—167. 2 3 Zur rhetorischen Struktur von „ D e gubernatione D e i " vgl. o. S. 19—27. 2 4 ,,Vbi n a m q u e sunt antiquae R o m a n o r u m opes ac dignitates? Fortissimi q u o n d a m Romani erant, nunc sine uiribus; timebantur Romani ueteres, nos timemus; uectigalia illis soluebant populi barbarorum, nos uectigales barbaris s u m u s " (G V I , 9 8 ) . 2 5 „ . . . uendunt nobis hostes lucis u s u r a m " (G VI,98) „ Q u i d potest esse nobis uel abiectius uel miserius?" (G VI,99). 2 6 Zu S y m m a c h u s und seinem Kreis vgl. R. Klein, S y m m a c h u s , eine tragische Gestalt des ausgehenden Heidentums. 22
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
2. Die Barbaren Als 2. Kontrast zu den gesellschaftlichen Mißständen im römischen Imperium seiner Zeit schildert Salvian die Verhältnisse bei den Barbaren. Dieser Vergleich des Lebens und Handelns von Römern und Barbaren ist viel breiter ausgestaltet als die exemplarische Behandlung der alten Römer. Es sind vor allem 4 Punkte, die Salvian an den Germanen hervorhebt: ihre Solidarität untereinander, ihre Ablehnung der Schauspiele, ihre Ablehnung von Prostitution und Homosexualität und ihre Religiosität 27 . a) Die Solidarität der Germanen untereinander Während die Römer sich gegenseitig ausplündern und mittels ihres harten Steuersystems zu ruinieren trachten, herrscht — so stellt es Salvian jedenfalls dar — unter Goten und Vandalen nichts als gegenseitige Liebe: „Fast alle Barbaren, die nur einem Volk und einem König angehören, lieben einander, fast alle Römer stellen sich gegenseitig nach" (G V,15) 2 8 . Solche gravierenden Mißstände sieht Salvian nur bei den Römern, denn, so fragt er, bei welchen Völkern „gibt es so große Ungerechtigkeit außer bei uns? Die Franken nämlich kennen dies Verbrechen nicht; die Hunnen sind frei von diesem Vergehen; nichts davon gibt es bei den Vandalen, nichts bei den G o t e n " 2 9 . Nicht einmal die Römer, die bei den Barbaren leben, haben darunter zu leiden (G V,36). Die Verhältnisse bei Goten und Vandalen sind gerade ein Gegenteil der römischen: „Wer von ihnen schadet denen, die sie lieben, wer verfolgt einen, der ihn achtet, wer ermordet die, die ihm teuer sind, mit dem Schwert? Du aber . . . " (G V,57 ) 30 und es beginnt wieder die Anklage gegen die Volksgenossen. b) Die Ablehnung der Spiele durch die Barbaren Schauspiele jeder Art sind Salvian aus verschiedenen Gründen ein Greuel 3 1 . Beispielhaft positiv wertet er daher, daß die Germanen dieser Art der Volksbelustigung ablehnend gegenüberstehen. Sie selbst halten keine Spiele ab 27
Ähnlich A. Schaefer, Römer und Germanen, 94; E. A. Isichei, Political Thinking, 104. „ . . . omnes se fere barbari, qui modo sunt unius gentis et regis, mutuo amant, omnes paene Romani mutuo persequuntur" (G V,15). 29 „Quorum iniustitia tanta nisi nostra? Franci enim hoc scelus nesciunt, Chuni ab his sceleribus immunes sunt, nihil horum est apud Wandalos, nihil horum apud Gothos" (G V,36). 30 „Quis eorum amantibus nocet, quis diligentem insequitur, quis cari sui mucrone iugulatur? Tu . . . " (G V,57). 31 Vgl. o. S. 8 3 - 9 3 . 28
Kontrastbilder: Die Barbaren
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(G VI,35). Salvian findet dies um so bemerkenswerter, als ihnen, im Gegensatz zu den Christen, keine göttlichen Gesetze und keine Gelöbnisse solche Vergnügungen untersagen 32 . Besonders verdienstvoll ist es aber, daß die Barbaren es auch den Römern unmöglich machen, ihre Schauspiele abzuhalten — nämlich überall da, wo sie ihr Recht zur Geltung bringen und wo sie die Basis für die Veranstaltung von ludi, die einigermaßen florierende Stadt, vernichten. Salvian nennt als Beispiele die Städte Mainz, Köln und Trier (G VI,39). Erst die Zerstörung der Städte — im Falle Triers gar eine viermalige Zerstörung (G VI,82—89) — konnte „haec mala" bezwingen. Da erst die Barbaren-mit Mißständen aufräumen, während „Lasterhaftigkeit und Unreinheit den Römern blutsverwandt" sind und als ihr „inneres Wesen und N a t u r " bezeichnet werden können, bleibt den „christlichen Völkern" keine „Hoffnung vor G o t t " — sie haben keine Zukunft (G VI,40) 3 3 . c) Die Ablehnung sexueller Ausschweifungen Salvian beschuldigt die Römer — und speziell Aquitanier und Afrikaner — des groben sexuellen Fehlverhaltens: Unzucht jeder Art wird nahe öffentlich und jedenfalls ungehindert getrieben 3 4 . Die Germanen setzen sich von diesem Verhalten ab. Die Goten lassen zwar die Römer nach ihrer Weise leben, beteiligen sich aber nicht daran: „Unter reinen Barbaren leben wir unrein . . . wir lieben die Unzucht, die Goten verwünschen sie, wir fliehen die Reinheit, jene lieben sie" (G VII,24) 3 5 . So pointiert faßt Salvian den Unterschied in der Lebensweise beider Völker zusammen. Noch stärker hebt er die Gesetzgebung der Vandalen in Afrika hervor. Sie steht in Einklang mit der „Norm des göttlichen Gesetzes" (G VII,100) 3 6 und verbietet nicht nur den eigenen Volksangehörigen, sondern auch den Römern Ehebruch, Prostitution und Homosexualität. Salvian erläutert detailliert ein Umerziehungsprogramm für Dirnen (G VII,95—99): da „Wort 32 Salvian bezieht sich hier wieder auf die von ihm hergestellte Verbindung von Taufgelübde und Absage an die „spectacula diaboli" (vgl. o. S. 90f.). 33 „Quae spes Christianis plebibus ante deum est . . . Ac per hoc uitiositas et impuritas quasi germanitas quaedam est hominum Romanorum et quasi mens atque natura" (G VI,40). 34 G VII,13ff.; vgl. o. S. 9 3 - 9 6 . 35 „Inter pudicos barbaros impudici sumus . . . Impudicitiam nos diligimus, Gothi execrantur; puritatem nos fugimus, illi amant" (G VII,24). 36 ,,Leges suas scilicet ad diuinae legis regulam dirigentes" (G VII,100). D. J. Cleland, Salvian and the Vandals, sieht hier den zentralen Grund für Salvians Idealisierung der Vandalen — er gewährt i h n e a Vertrauensvorschuß für ihren Versuch einer christlich orientierten Gesetzgebung (272—274).
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und Befehl" bei der Bekämpfung der Prostitution wenig ausrichten, werden die „unglücklichen Dirnen" — verheiratet. Sie zwangen alle Dirnen zur Ehe und „wandelten Hurerei zu rechtmäßiger Ehe" (97). Ebeji damit aber „erfüllen sie Wort und Befehl des Apostels, daß jede Frau ihren-Mann haben soll und jeder Mann seine Frau" (ebd. nach 1. Kor 7,2) 3 7 . Die Vandalen entsprechen in ihrer Gesetzgebung der christlichen Sexualethik, wie Salvian sie vertritt, sie gehen damit ein Stück weit in die von ihm propagierte Richtung: „convergence of earthly and heavenly laws" 3 8 . d) Die Gottesfurcht Exemplarisch sind die Germanen nicht zuletzt durch ihre Demut gegen G o t t 3 9 , die Salvian mit dem Stolz und dem Hochmut der Römer vergleicht. Exempla aus deüjüngsten Geschichte sollen den Unterschied belegen. Salvian berichtet über den Kampf der Goten unter Theoderich I gegen das römische Heer unter dem Feldherrn Litorius 4 0 und über den Zug der Vandalen von Gallen über Spanien nach Afrika (G VII,39—54). Bei den Goten hebt er die Friedfertigkeit hervor. Vor dem Kampf senden sie Emissäre zu den Römern — und zwar Bischöfe, was ihre Hochachtung vor den Klerikern demonstriert. Die Römer jedoch weisen das Friedensangebot zurück im Gefühl ihrer militärischen Überlegenheit (G VII,39). Auch als es zum Kampfe kommt, „glaubten jene, der Sieg stünde in Gottes Hand, während wir glaubten, er läge in unserer eigenen Hand, die zudem verrucht und gottlos w a r " (G VII,44). Theoderich betet: „hingestreckt im groben Gewand bis zum Tag der Schlacht, vor dem Krieg lag er im Gebet, zum Krieg erhob er sich vom Gebet . . . er hatte sich im Gebet den Sieg verdient" (ebd.) 4 1 .
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„Iusserunt siquidem et compulerunt omnes ad maritalem torum transire meretrices, scorta in conubia uerterunt, implentes scilicet apostoli dictum atque mandatum, ut et ,unaquaeque mulier uirum haberet suum et unusquisque uir coniugem suam' " (G VII,97). 38
D. J . Cleland, Salvian and the Vandals, 2 7 3 . Μ. Pellegrino, Salviano, 221, hebt hervor, Salvians Betonung der Religiosität der Barbaren sei singular. 40 Salvian nennt auch hier keine Namen, ausnahmsweise ist der Forschung an dieser Stelle die Identifizierung gelungen (in der gesamten Literatur bereits seit A. Haemmerle, Studien I,13f.). 41 „ . . . illi crediderunt in manu dei esse uictoriam nos in manu nostra i m m o in sacrilega atque impia . . . Denique ipse rex hostium . . . usque ad diem pugnae stratus cilicio preces fudit, ante bellum in oratione iacuit, ad bellum de oratione surrexit . . . iam meruerat in oratione uictoriam" (G VII,44). 39
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Im Tenor ähnlich berichtet Salvian von den Vandalen. Während die Römer auf die Hilfe der Hunnen bauten, „trat uns auf Seiten unserer Feinde das Buch des göttlichen Gesetzes entgegen" (G VII,46) 4 2 — die Vandalen scheinen die Bibel als eine Art Feldzeichen im Heer mitgeführt zu haben 4 3 . Sie zeigten dadurch, daß sie ,,in Furcht und Verwirrung auf Gott vertrauten — während die Römer „fast alles Religiöse" verlachen (G VII,47) Der Zug der Vandalen von Spanien nach Afrika kam nicht durch ihren eigenen Willen zustande, sondern „sie wurden von einem göttlichen Befehl getrieben und gedrängt" (G VII,54) 4 5 , um — wie Salvian interpretiert — die Frevel der Afrikaner zu bestrafen. Der Priester erblickt in dem Aufbruch aus Spanien und der Überquerung des Mittelmeeres keinerlei politische oder ökonomische Notwendigkeit, es bleibt ihm nur die Kategorie des göttlichen Gerichts, um diesen überraschenden Entschluß der Vandalen zu verstehen. 4 6 Inwieweit Salvian an diesem Punkt auf Quellen oder zumindest Traditionen zurückgreift, läßt sich für uns nicht feststellen. Es wird jedoch deutlich werden, wie sehr diese Interpretation in das Gesamtkonzept des Massiliensers paßt. Wie in der Gesetzgebung, so kommen die Vandalen also auch in ihren großen politischen Entscheidungen dem Willen Gottes nach — ihr Wert als Exempel steigt für Salvian damit erheblich. e) Negative Äußerungen über die Barbaren Nun stellt Salvian die Barbaren aber nicht nur als Muster der Tugend und der Gottesfurcht hin, sondern er übt auch Kritik an ihnen. 42
,, . . . a parte hostium nobis liber diuinae legis occurrit" (G VII,46). So vermuten auch A. Schaefer, Römer und Germanen, 95, A. Mayer, BKV 2 3 0 Anm. 3, und H.-J. Diesner, Das Vandalenreich, 28. 44 „Inrisus utique, sicut a nostris omnia ferme religiosa ridentur" (G VII,47). 45 „Sed illa utique caelestis manus, quae eos ad punienda Hispanorum flagitia illuc traxerat, etiam ad uastandam Africam transire cogebat. Ipsi denique fatebantur non suum esse quod facerent: agi enim se diuino iussu ac perurgeri" (G VII,54). 46 Offensichtlich ist vielen Zeitgenossen diese Aktion von König Geiserich nicht verständlich gewesen, H.-J. Diesner vermutet in seinem Buch „Das Vandalenreich", S. 45f., daß die Vandalen „diese Meinung offenbar auch selbst" verbreiteten, „wobei wir den guten Glauben der Barbaren hervorheben möchten, dahinter aber die Regie des Königs und seiner aufgeklärteren Umgebung sehen. Die Masse der Stammesgenossen war — im Gegensatz zum Adel — damals rein ökonomischen und machtpolitischen Erwägungen noch kaum zugänglich". Daher habe Geiserich „eine Konzeption geschaffen", „die auf der Grundlage eines antikatholischen arianischen Missionsbewußtseins statt eines Raub- und Kaperkrieges einen .Heiligen Krieg' ins Auge fassen ließ". Diesners kühne Interpretation ist allerdings anachronistisch und daher unangemessen. Sie setzt bei den Vandalenführern ein neuzeitliches Bewußtsein voraus! 43
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Römisches Vorurteil von der generellen Minderwertigkeit der Barbaren bricht durch, wenn er sich über „Gestank der Leiber und der barbarischen Kleidung" ausläßt, den die Römer ertragen müssen, die zu ihnen geflohen sind (G V,21) 4 7 . Auch von abzulehnenden Eigenschaften weiß er zu berichten: die heidnischen Barbaren sind „ungerecht", „habsüchtig", „treulos", „gierig", „schamlos", sie stehen auf gleicher Stufe mit den Römern. „Und wir sind es auch" fügt Salvian jedem der Negativmerkmale hinzu (G IV,65). Er zählt in Katalogform die Nationallaster der einzelnen Stämme auf: „Der Stamm der Sachsen ist wild, die Franken sind treulos, die Gepiden unmenschlich, die Hunnen schamlos" (G IV,67) 4 8 . Doch steht einer negativen auch eine positive Eigenschaft zur Seite: „Das Volk der Goten ist unzuverlässig, aber keusch; das Volk der Alanen ist schamlos, aber zuverlässiger, die Franken sind lügnerisch, aber gastfreundlich, die Sachsen sind rasend in ihrer Grausamkeit, aber bewundernswert in ihrer Keuschheit, alle Völker haben schließlich eigentümliche Fehler wie auch gewisse gute Eigenschaften." (G VII,64) 4 9 . Nicht sehr vorbildhaft ist auch die Hervorkehrung der Furcht und der Feigheit von Goten und Vandalen 5 0 . Mit diesen Kennzeichnungen hat es allerdings seine besondere Bewandnis, es wird unten noch davon zu handeln sein 51 . Es sieht also doch gar nicht so aus, als sänge Salvian das hohe Lob der Barbaren, wie ihm so oft rühmend oder tadelnd nachgesagt wurde! Differenziert sich nicht das Bild, das er von ihnen zeichnet, wenn Lob und Tadel nebeneinanderstehen? Ein solcher Eindruck der Sachlichkeit, des abgewogenen Urteils, ist möglicherweise vom Autor intendiert 52 . Eine Analyse zeigt jedoch, daß ihm dies nicht recht gelungen ist. Zunächst fällt die ungleichgewichtige Aufteilung ins Auge: den wenigen kritischen Stellen steht eine große Mehrzahl von Texten gegenüber, in denen „ . . . c o r p o r u m atque induuiarum barbaricarum f o e t o r e " (G V , 2 1 ) . „ . . . gens S a x o n u m fera est, Francorum infidelis, Gipidarum inhumana, Chunorum i m p u d i c a " (G I V , 6 7 ) . 4 9 „ G o t h o r u m gens perfida sed pudica est, Alanorum impudica sed minus perfida, Franci mendaces sed hospitales, Saxones crudelitate efferi sed castitate mirandi: omnes denique gentes habent sicut peculiaria mala ita etiam quaedam b o n a " (G VII, 64). Zu den Stammeslastern A . Schaefer, R ö m e r und Germanen, 92f. und A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 4 8 f . , der weitere Belege für ähnliche Charakterisierungen der Germanen aus der antiken Literatur beifügt. E. A. Isichei, Political Thinking, 104 stuft sie als „conventional e p i t h e t s " ein. 47
48
5° G V I I , 3 9 ; V I I , 2 8 . 2 9 . 4 6 . 5 0 . 5 3 . si S. 136f. 5 2 A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 4 8 , vermutet, die Aufzählung der Stammeslaster diene nur dazu, den Eindruck von Objektivität zu erwecken.
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Salvian unter Aufbietung seiner ganzen Formulierungskunst fast schwärmerisch die Tugend der Barbaren preist 5 3 . Vor allem aber zeigt der Duktus der Argumentation, daß Salvian selbst dort, wo er die Barbaren in ein schlechtes Licht rückt, die Schuld der Römer noch über dieses Maß hinaus steigert, so daß neben dem Tiefschwarz seines römischen Gemäldes das Dunkelgrau der Barbaren-Darstellung immer noch mehr Licht enthält. Die heidnischen Barbaren dürfen gleiche Untaten wie die christlichen Römer begehen, ohne in gleicher Weise der Schuld zu verfallen (G IV,67), sie stehen nicht unter dem Gesetz (G IV,70.76ff u.ö.). Und Gleiches gilt für die Arianer, wie Salvian mit seiner Theorie von der alleinigen Unversehrheit des Gesetzes bei den Katholiken und des Verlustes seiner „plenitudo" bei den Häretikern nachweist 5 4 . Und wenn den Barbaren jeweils ein Stammeslaster zukommt, so steht dem eine besonders hervorstechende Tugend an der Seite, während sich auf christlich-römischer Seite in der Sicht des Presbyter nur alle Laster kumulieren, ohne die geringste Spur von Gehorsam und Gesetzestreue. Bei den Römern ist alles nur schlecht (G VII,57). Ein weiterer Aspekt ist die Formelhaftigkeit und Allgemeinheit der negativen Äußerungen über die Barbaren. Sie sind viel weniger konkret als die entsprechenden kritischen Abschnitte über die Römer und auch farbloser als die lobenden Texte über die Germanen, in denen Salvian immerhin noch von einzelnen Begebenheiten erzählt. Globaleigenschaften eines ganzen Volkes zu nennen, mag rhetorisch wirksam sein, zeugt aber nicht von besonderer Kenntnis dieser Völker und ihres Lebens 5 5 — und schon gar nicht von differenziertem Urteilsvermögen. Sie zeigen allerdings, daß Salvian die Gesellschaftsordnung der Barbaren nicht für die Beste aller Möglichen hält, auch wenn er sie der römischen vorzieht. Sie machen deutlich, daß der Lobpreis der Barbaren nur relativ ist 5 6 — aber es bleibt ein Lobpreis, es bleibt die Überlegenheit der Barbaren in allen Punkten des Lebens, in denen er seine Vergleiche anstellt. f) Kritik der Schilderung der Barbaren bei Salvian Kein anderes Thema aus Salvians Schriften ist nur annähernd so polemisch und so kontrovers in der Literatur diskutiert worden wie seine Haltung 53 E. A. Isichei, Political Thinking, 105, spricht von „most unmeasured eulogy of the barbarians". » Dazu vgl. ο. S. 53f. 55 Dazu n o c h einmal A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 63: Stammeslaster sind Typisierungen und unterliegen damit in der Realienforschung einer negativen Kritik; ähnlich F. Paschoud, R o m a aeterna, 2 9 7 . 56 So auch E. Bordone, La societä, 3 2 4 .
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gegenüber den Barbaren. Das hat seine Gründe vor allem in der politischen Aktualität: germanische Stämme drangen in Gallien ein, französische und deutsche Historiker identifizieren sich ganz offensichtlich auch in jüngster Vergangenheit noch weitgehend mit diesen Vorgängen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, urteilen französische Forscher gerade konträr zu den deutschen 5 7 . Wo die einen Defätismus 5 8 und aktive Teilnahme an der Zerstörung der antiken Kultur 5 9 wittern, sehen die anderen die „Ahnung von der kommenden Bedeutung des Germanentums" 6 0 . Wie die Aufnahme der Schrift Salvians durch seine Zeitgenossen gewesen ist, wissen wir leider nicht. Wir müssen uns daher begnügen, die Provokationen, die der Text enthält, zu analysieren. Die Barbarendarstellung enthält eine dreifache Provokation: als kulturbewußter Römer preist Salvian unzivilisierte Barbaren, als Bürger des Imperium Romanum eindringende Feide, die den Bestand des Staates gefährden, als orthodoxer Katholik häretische Arianer. Drei Aspekte, an denen die Brisanz dieser Schrift deutlich wird, drei Aspekte, die von Salvian je in einer Weise behandelt werden, wie es sonst nur in Ansätzen in der zeitgenössischen Literatur zu finden ist 6 1 . Die tolerante Haltung gegenüber der Lebensweise und sogar gegenüber der Gottesverehrung der Häretiker wirft die Frage auf, ob Salvian, dessen Haltung E.A. Isichei als „particularly noteworthy, indeed revolutionary" 6 2 charakterisiert, als Vorreiter einer grundsätzlichen Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu betrachten ist. J . Lecler faßt G V,9—11 in diesem Sinn auf: „Hier haben wir also wirklich eine Ermahnung zur Toleranz, begründet auf dem Argument der bona fides und des guten Gewissens" 63 .
57 E. A. Isichei, Political Thinking, 107, stellt fest: „Salvian's praise of Germanic invaders and lack of overt Gallic patriotism still arouses the indignations of French historians, fifteen hundred years later". Ähnlich D. J. Cleland, Salvian and the Vandals, 2 7 0 , und Ph. Badot, L'utilisation, 3 9 5 , der von „tendances nationalistes" in der Literatur spricht. 58 F. Paschoud, R o m a aeterna, 3 1 0 ; G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.) meint, Salvians Theologie erlaubt es, jede Kollaboration mit den Invasoren zu rechtfertigen (41). 59 P. Courcelle, Histoire litteraire, 155. L. F. Barmann, Salvian of Marseilles Reevaluated, 95, führt Courcelles negative Haltung zu Salvian auf seine persönlichen Erfahrungen während der Zeit der deutschen Besatzung zurück. 60 J. Fischer, Die Völkerwanderung, 173; ähnlich W. A. Zschimmer, Salvianus, 55; A. Schaefer, Römer und Germanen, 103 u.ö.; heute immer n o c h B. Altaner, A. Stuiber, Patrologie, 4 5 6 (Salvian „ahnt die weltgeschichtliche Bedeutung der Germanenwelt"). 61 Dazu vgl. die materialreichen Arbeiten von J . Fischer, Die Völkerwanderung, P. Courcelle, Histoire litteraire, und J. Vogt, Kulturwelt und Barbaren. 62 Political Thinking, 103. 63 Geschichte der Religionsfreiheit I, 116.
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P. Lebeau hat mit Recht Lecler widersprochen und eingewandt, Salvian erörtere nicht das Problem der Toleranz, sondern versuche, „theologisch die Häresie zu bedenken, genauer, das Phänomen einer offensichtlich triumphierenden Häresie zum Ausgleich zu bringen mit den Anliegen des Glaubens an die Vorsehung" 6 4 . Damit erhalte Salvians „Kühnheit", die Barbaren über die Römer zu stellen, eine theologische Intention. Indem Salvian den Vergleich auf den Bereich der Ethik einschränke, also nicht über „die Häresie als solche", sondern über den Häretiker als „sujet moral" diskutiere, gelänge es ihm gleichzeitig, dogmatische Kompromisse zu vermeiden 6 5 . Eine Analyse des Textes zeigt, daß es Salvian in der Tat nicht um die Toleranz gegenüber dem Arianismus oder gegenüber den Arianern schlechthin geht. Er läßt an der Ablehnung der Theologie der Häretiker keinen Zweifel, es steht für ihn unverrückbar fest, daß die Römer „inbezug auf das katholische Gesetz unvergleichlich besser sind" (G IV,64) 6 6 und „bei uns die Wahrheit ist" (G V,9) 6 7 , während Goten und Vandalen „irren". Allerdings irren sie, ohne sich dessen bewußt zu sein: da die Lehrer, die die Römer ihnen sandten, Arianer waren (G V,14), kennen sie nur diese Variante des Christentums, sie irren „bono animo" und machen sich deswegen nicht schuldig. Gerade die Betonung des „bonus animus" zeigt aber die Einschränkung der Toleranz bei Salvian. Die römischen Arianer können dies Argument nicht geltend machen, sie hätten ja die Möglichkeit einer besseren Information und damit der Korrektur ihres Irrtums gehabt. Ihr Irrtum ist Schuld — und da sie die Laster aller übrigen Römer teilen, sind sie doppelt schuldig und tragen so verstärkt zum Untergang des Imperium Romanum bei (G V,14) 6 8 . Salvian klammert die dogmatischen Differenzen zwischen Arianern und Katholiken auch nicht gänzlich aus, sie treten lediglich bei der Schuldabrechnung nicht ans Licht, eben weil die arianischen Germanen den guten Glauben für sich haben. Er referiert die beiden abweichenden dogmatischen Standpunkte mit einer bemerkenswerten Sachlichkeit. Gerade unter Berücksichtigung der sonst so bissigen Polemik fällt die nahezu neutrale Abhandlung an diesem Punkt auf, und wir werden nach dem Grund zu fragen haben. „Wir sind sicher, daß sie der göttlichen Zeugung Unrecht tun, wenn sie sagen, daß der Sohn geringer ist als der Vater: jene meinen, daß wir dem Vater Un-
64 65 66 67 68
Heresie et Providence, 162. Ebd. 17Of. Wie Lebeau urteilt F. Paschoud, R o m a aeterna, 299f. „ . . . lege autem catholica sine comparatione meliores" (G IV,64). „Veritas apud nos est" (G V,9). So auch P. Lebeau, Heresie et Providence, 171.
9 Badewien, Geschichtstheoiogie
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recht tun, weil wir glauben, daß sie gleich sind" (G V,9) 6 9 . Und er stellt das Selbstverständnis der Arianer gegen das Selbstverständnis der Katholiken und damit gegen sein eigenes: „Bei uns gelten sie als Häretiker, bei sich sind sie es nicht. So sehr halten sie sich für Katholiken, daß sie uns mit dem Titel der Häretiker beschimpfen. Denn was jene für uns sind, das sind wir für sie" (ebd.) 7 0 . Es klingt gerade so, als würbe Salvian um Verständnis bei seinen Landsleuten für diese Arianer, die eben nicht mit den bislang bekannten römischen Vertretern der gleichen Richtung zu vergleichen sind. Diesem subjektiven Glauben der anderen hält er die eigene Richtung als „Wahrheit" entgegen. Die Katholiken haben die Wahrheit, sie „verehren G o t t " , die Arianer dagegen meinen nur, im Besitz der Wahrheit zu sein, Gott zu verehren, „sie sind gottlos, aber sie halten das für wahre Frömmigkeit, sie irren, aber sie irren in gutem Glauben" (G V,10) 7 1 . Das ist das größte Entgegenkommen, das ein Katholik einem Arianer machen kann, ohne die eigene Identität aufzugeben: unter Beanspruchung der objektiven Wahrheit dem anderen immerhin subjektive Ehrlichkeit, Wollen, „Zuneigung zu G o t t " zuzubilligen 72 . Das subjektive Bemühen, Gottes Willen zu tun, ihr Glaube, „Gott zu verehren und zu lieben" (G V,10) fallen stärker ins Gewicht als der objektive Irrtum. So läßt Salvian es sogar offen, ob sie für ihren Irrtum einst von Gott zur Rechenschaft gezogen werden oder nicht: „Inwieweit sie für diesen Irrtum ihrer falschen Meinung am Tage des Gerichts gestraft werden, kann niemand wissen außer dem Richter" (ebd.) 7 3 . In der Interimszeit bis zu diesem Tag des Gerichts erwerben sich die Barbaren trotz ihrer Häresie Verdienste aufgrund ihrer Lebensweise — Verdienste, die Gott zur Geduld ihnen gegenüber veranlassen und die Möglichkeit einer Bekehrung zum Katholizismus und damit ihr Aufrücken zu vollwertigen Christen ins Blickfeld rücken. Gott hat ihnen diese Frist eingeräumt „besonders da er weiß, daß sie vielleicht des katholischen Glaubens nicht un69
„Nos eos iniuriam diuinae generationi facere certi sumus quod minorem patre filium dicant; illi nos iniuriosos patri existimant quia aequales esse credamus" (G V,9). 70 „Haeretici ergo sunt sed n o n scientes. Denique apud nos sunt haeretici, apud se n o n sunt. Nam in tantum se catholicos esse iudicant ut nos ipsos titulo haereticae appellationis infament. Quod ergo illi nobis sunt, hoc nos illis" (G V,9). 71 „ . . . impii sunt, sed hoc putant ueram esse pietatem. Errant ergo, sed b o n o animo errant" (G V,10). 72 So urteilen auch W. A. Zschimmer, Salvianus, 58, und A. Schaefer, Römer und Germanen, 97. 73 „Qualiter pro hoc ipso falsae opinionis errore in die iudicii puniendi sint, nullus potest scire nisi iudex" (G V , 1 0 ) . Vgl. auch oben S. 69.
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würdig s i n d " (G V , 1 3 ) 7 4 — d i e Frist der R ö m e r zur U m k e h r n e i g t sich dag e g e n d e m E n d e z u . A u c h a n d i e s e m P u n k t z e i g t sich, d a ß Salvian d i e Lehrsätze seiner K i r c h e für d i e allein r i c h t i g e n hält — d i e Barbaren e r h a l t e n Z e i t , sich i h n e n z u z u w e n d e n , e i n e n g l e i c h w e r t i g e n R a n g k a n n er d e n a r i a n i s c h e n Theologumena nicht einräumen. O b w o h l d i e B e k e h r u n g d e r Barbaren d i r e k t a n g e s p r o c h e n ist, f e h l t a u c h b e i Salvian — w i e b e i allen Z e i t g e n o s s e n — der H i n w e i s auf e i n e m ö g l i c h e A k t i v i t ä t der k a t h o l i s c h e n K i r c h e zur M i s s i o n u n t e r d e n n e u e n V ö l k e r n , u m sie e n t w e d e r v o m A r i a n i s m u s a b z u b r i n g e n u n d der k a t h o l i s c h e n K i r c h e a n z u s c h l i e ß e n o d e r u m d i e H e i d e n z u C h r i s t e n z u m a c h e n , u n d d a m i t ihre A d a p t i o n i m R ö m i s c h e n R e i c h z u e r l e i c h t e r n . Z u t r e f f e n d urteilt J . V o g t : Salvian „ s t a n d a m T o r zur H e i d e n m i s s i o n , aber a u c h er trat n i c h t über d i e Schwelle"
7S
.
74 „ . . . maxime cum sciat eos forsitan catholica non indignos f i d e " (G V,13). Auf diesem Satz beruht zu einem großen Teil die Zuordnung Salvians zum Semipelgianismus bei E. Bordone, La societä, 339. Sie findet hier mit Recht eine „post praevisa merita" zugeteilte göttliche Gnade. Ihre Interpretation wurde aufgenommen von F. Paschoud, Roma aeterna 308, sie wurde von M. Pellegrino, Salviano, 138f., und M. Iannelli, La caduta, 11 Of. dagegen abgelehnt. Näheres dazu s.u. S. 182f. 75 J . Vogt, Kulturwelt und Barbaren, 63, ähnlich J . Vogt, Die kaiserliche Politik und die christliche Mission im 4. und 5. J a h r h u n d e r t , 187. Die gleiche Feststellung gilt für die anonym überlieferte und vielfach Prosper Tiro zugeschriebene Schrift „De vocatione omnium gentium" (B. Altaner, A. Stuiber, Patrologie, 451). Für unsere Frage sind besonders zwei Stellen interessant: 11,16 (PL 51.704A) und 11,33 (PL 51,71 7B— 718D). Beide Texte sprechen von der Zuwendung vieler Barbaren zum (katholischen) Christentum und interpretieren die Invasion als Mittel der göttlichen Vorsehung zum Heil für die Heiden. Während 11,16 aber nichts Näheres über die Modalitäten der Bekehrung der Heiden aussagt, zeigt 11,33 sehr deutlich, daß keine gezielte Aktivität der Kirche die Barbarenmission vorantrieb, sondern daß die Einzelinitiative von Christen, die als Sklaven bei den Barbaren dienten oder umgekehrt das Vertrautwerden mit christlich-römischen Häusern die Barbaren dazu brachte, den christlichen Glauben anzunehmen (So interpretiert auch W. H. C. Frend, Der Verlauf der Mission in der Kirche bis zum 7. J a h r h u n d e r t , 42, diesen Text). Damit verhält sich die Kirche im 5. Jahrhundert den Barbaren gegenüber noch so wie in den Jahrhunderten zuvor den heidnischen Römern gegenüber: „Diese Kirche wirkt durch ihr bloßes Dasein missionierend" (A. v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 526; so auch neuerdings E. Molland, Besaß die Alte Kirche ein Missionsprogramm oder eine bewußte Missionsmethode?)
Die Ansicht des Verfassers von „De vocatione omnium gentium" ist in Ansätzen bereits bei Orosius nachzuweisen: Adversus paganos VII,41,8 (ed. Zangemeister S. 554): „quam'quam si ob hoc solum barbari Romanis finibus inmissi forent, quod uulgo per Orientem et Occidentem ecclesiae Christi Hunis Suebis Vandalis et Burgundionibus diuersisque innumeris credentium populis replentur, laudanda et adtollenda misericordia Dei uideretur, quandoquidem, etsi cum labefactione nostri, tantae gentes agnitionem
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Wenn Salvian trotz der Abqualifizierung der arianischen Lehre die häretischen Germanen so sehr als Vorbild für die römischen Christen hinstellen kann, so hat das seinen Grund darin, daß die Lehre für Salvian nicht das Ganze, nicht einmal den wichtigsten Bestandteil des Christentums ausmacht. Neben, ja über der Lehre steht das Leben, und Salvian zieht den Christen, dessen Leben von den göttlichen Gesetzen geprägt ist, dessen Lehre aber Irrtümer enthält, demjenigen vor, dessen Lehre einwandfrei ist, dessen Leben aber in keinem erkennbaren Zusammenhang zur Lehre steht. Orthopraxie zählt mehr als Orthodoxie, Glaube erweist seine Validität allein im Handeln, ja er kann synonym für Handeln sein 76 . Der Vergleich mit den Barbaren findet darum auch nicht auf der Ebene der Lehre, des Gesetzes statt, wo es nichts zu diskutieren gibt, sondern auf der Ebene des Lebensvollzugs, im sozial- wie im individualethischen Bereich. Hier aber gilt unerbittlich: „Inbezug auf das Leben und die Sünde sind wir die Schlechtesten" (G IV,64) 7 7 . Es ist keineswegs ungewöhnlich gewesen, daß ein Bürger eines antiken Kulturstaates die Sitten, die Tugenden und die Weisheit der Barbaren gepriesen hat. Seit Plato und den Stoikern waren diese Gedanken in Griechenland vertraut, seit Caesar und Tacitus auch in R o m 7 8 . Im Gefolge dieser Autoren war die Rede vom guten und reinen Barbaren bzw. Germanen ein fester Topos der antiken Literatur geworden 7 9 , mit dem sich trefflich Kritik an der eigenen Kultur üben ließ. Der Unterschied zwischen dieser traditionellen topischen Verwendung des Lobs der Barbaren und Salvians Loblied liegt vor allem im Zeitpunkt, in der aktuellen politischen Situation, in der der Massilienser schreibt. In der Mitte des 5. Jahrhunderts sind die Barbaren gefährlich nahegerückt, es
ueritatis acciperent, quam inuenire utique nisi hac occasione non possent." (Dazu K. Schöndorf, Die Geschichtstheologie des Orosius, 90; F. Paschoud, Roma aeterna, 286f.; J. Vogt, Kulturwelt und Barbaren, 54f.). 76 Zum Verhältnis von Glauben und Handeln, vgl. o. S. 67—70. 77 „Vita enim . . . et peccatis sumus deteriores (G IV,64). 78 Zur Tradition dieses Topos sei vor allem auf J. Vogt, Kulturwelt und Barbaren, verwiesen, speziell zu Salvian außerdem auf P. Courcelle, Histoire litteraire, 147f.; die Germanendarstellung von Tacitus setzen in Beziehung zu Salvian: A. Schaefer, Römer und Germanen, 89.98—100, E. Bordone, La societä, 329; E. A. Isichei, Political Thinking, 102f., und F. Paschoud, Roma aeterna, 301. 79 P. Courcelle, Histoire litteraire, 148, erinnert vor allem an Mamertus Claudianus aus Vienne, der diese Tradition im südost-gallischen Raum lebendig gehalten hat („De statu animae" 11,8, ed. Engelbrecht 130,10) sowie an die Rhetorik, wo die Sittenreinheit der Barbaren als Deklamationsthema behandelt wurde: Ps-Quintilian, Declamatio 111,16 (ed. G. Lehnen S. 55).
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handelt sich darum nicht mehr um eine „Idealisierung der Naturvölker" 8 0 , sondern um die positive Beschreibung des Lebens und des Verhaltens des eindringenden Reichsfeindes. Die Narbonnensis war zum Frontgebiet geworden. Courcelle urteilt: „Es ist beunruhigend zu sehen, daß ein Römer in der Provence einen solchen Panegyrikus auf die Barbaren schreibt, während die Goten ihren Vormarsch auf Arles antreten. Er scheint begierig ihre Politik zu unterstützen . . . er nimmt durch seine Propaganda aktiv daran teil, das Reich und seine Kultur zu zerstören" 8 1 . Ähnlich scharf urteilen A.-G. Sterzl, der Salvian vorwirft, er vertrete in der Reichskrise einen „opportunistischen Standpunkt" und zeige als Mönch kein Staatsbewußtsein 8 2 , und F. Paschoud, der seine Ausführungen als „defaitiste et profondement antipatriotique" bezeichnet 8 3 . In seiner Zeit steht Salvian mit seiner Hervorhebung der Vorzüge der Barbaren ziemlich allein. Nur vereinzelt lassen sich einige Züge davon bei anderen römischen Autoren finden 8 4 , insgesamt entwirft das 5. Jahrhundert „aus der ,grundsätzlichen' Feindschaft zwischen ,Römern und Barbaren' heraus von den Vandalen und von den anderen Barbaren oft ein schauerliches Bild" 8 5 . Die Vorwürfe gegen Salvian bedürfen einer zweifachen Diskussion. Zunächst soll den Intentionen des Verfassers nachgegangen werden, anschließend muß darüber hinaus gefragt werden, welchen Effekt das Werk bei seinen Lesern hervorrufen konnte. Es ist verwunderlich, daß Salvian die Moral der Feinde hervorhebt, wo er doch wissen mußte — und wußte! —, wieviel Not und Elend unter der Bevölkerung die Invasion hervorgerufen hat. Zeitgenossen lassen denn auch das Leiden des Krieges und die Verfolgung der Katholiken durch die arianische 80
J. Vogt, Kulturwelt und Barbaren, 8. P. Courcelle, Histoire litteraire, 1 5 5 . 82 A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 29 u.ö. 83 F. Paschoud, Roma aeterna, 3 1 0 . 84 Die Milde der siegreichen Barbaren wird hervorgehoben von Augustin, Civ. 1,1 f. 7 (CChr. SL 4 7 , S. 1—3 und 6f.) jedoch verbunden mit sehr negativen Äußerungen über die Barbaren; Orosius, Adversus paganos VII,41,7 (ed. Zangemeister, S. 5 5 4 ) : Befreiung der Armen v o m Steuerdruck: Ps-eusebianische Predigt 25,3 (ed. Glorie 81
S. 2 6 9 f . ) , zu diesem Text J . Fischer, Die Völkerwanderung, 195 — 197, u n d j . Vogt, Kulturwelt und Barbaren, 56). 85 H.-J. Diesner, Das Vandalenreich, 14; ähnlich J. Vogt, Kulturwelt und Barbaren, 67: „Diese neuen Barbaren waren Wilde, wie es im Buch stand: die Goten gleich den Skythen, die Vandalen ähnlich den Cimbern, alle waren roh, unbeherrscht, treulos. Das literarische Schema legte sich wie eine Binde vor die Augen, so gab es Greuelmärchen statt Augenzeugenberichte."
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
Staatskirche im Vandalenreich in den Mittelpunkt ihrer Predigten und Schriften rücken 8 6 . Und in der Tat kennt Salvian die Kriegswirren und die schrecklichen Dinge, die sich in ihrem Gefolge ereignen. Besonders eindringlich ist sein Augenzeugenbericht von der Lage in der zerstörten Stadt Trier (G VI,82—89). Anschaulich beschreibt er die Auswirkungen der Katastrophe auf die Bevölkerung: „Denn das, was bei der Zerstörung dem Tode entronnen war, entging nach der Zerstörung dem Verderben nicht. Die einen starben in lang andauernden Todesqualen an ihren tieferen Wunden, die anderen, von den Flammen der Feinde angesengt, quälte nach den Flammen die Pein. Die einen gingen am Hunger zugrunde, die anderen infolge ihrer Nacktheit, die einen siechten dahin, die anderen erfroren . . . Überall verstreut lagen, was ich selbst gesehen und ertragen habe, die nackten und zerfleischten Leichen beiderlei Geschlechts, die den Anblick der Stadt schändeten, von Vögeln und Hunden zerrissen. Der todbringende Gestank der Leichen brachte Verderben für die Lebenden. Vom Tod wurde Tod ausgehaucht" (G VI,83.84) 8 7 . Salvian weiß, daß er nicht von einem Einzelfall berichtet, „in allen Teilen der Welt . . . sterben wir und werden wir erschlagen" (G VII,4) 8 8 , „fast alle Barbarenvölker haben Römerblut getrunken" (G VII,29) 8 9 . Und selbst im Süden Galliens wird er direkt mit den Folgen der Germaneninvasion konfrontiert, wie Ep I zeigt: der junge Mann aus der Umgebung von Köln, den er den Mönchen empfiehlt, ist vor den Barbaren geflohen, seine Mutter, Angehörige einer vornehmen Familie, ist zu sklavenähnlichen Diensten bei den neuen Herren gezwungen (Ep I,5f). Diese vereinzelten kurzen Einschübe beleuchten blitzlichtartig eine ganz andere Seite des „göttlichen Gerichts", die mehr Realitätsgehalt hat als die stereotype Lobrede über die Barbaren. Ch. Favez hat auf den Widerspruch aufmerksam gemacht: einerseits malt Salvian anschaulich das Grauen bei der Erobe-
86 Z.B. Victor von Vita, Historia persecutionis Africanae provinciae (ed. Petschenig) und Quodvultdeus, Sermo de tempore barbarico (PL 4 0 , 6 9 9 — 7 0 8 ) , für Afrika. 87 ,, . . . cum id q u o d in excidio euaserat morti, post exicidium n o n superesset calamitati. Alios enim inpressa altius uulnera longis mortibus necabant, alios ambustos hostium flammis etiam post flammas poena torquebat; alii interibant fame alii nuditate, alii tabescentes alii rigentes . . . Iacebant siquidem passim, quod ipse uidi atque sustinui, utriusque sexus cadauera nuda, lacera, urbis oculos incestantia, auibus canibusque laniata. Lues erat uiuentium foetor funereus mortuorum: mors de morte exhalabatur" (G VI,83f.). 88
„ . . . nam in omnibus partibus mundi . . . morte atque occisione finimur" (G VII,4). „Sed tarnen cum omnes fere barbarae gentes R o m a n u m sanguinem biberint" (G VII,29).
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Kontrastbilder: Die Barbaren
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rang Triers aus, andererseits hebt er die Tugend der Eroberer hervor 9 0 . Und in der Tat ist es erstaunlich, daß der Priester mit keinem Wort die Grausamkeit der Barbaren anklagt, wo Grausamkeit und Ungerechtigkeit der eigenen Landsleute ihn doch zu weitschweifigem Lamento veranlassen. M.E. zeigt gerade dieses unverbundene Nebeneinander, wie stark die Germanendarstellung Salvians literarisches Kunstprodukt ist. Der Topos von der Sittlichkeit der Fremden vereint mit der Bejahung ihrer Eroberung als Strafhandeln Gottes, der sich dieser Völker als Werkzeuge bedient, ermöglicht das Absehen von weiten Bereichen der Realität. Salvian weiß wenig von den Barbaren und von dem, was er weiß, findet nur nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewähltes Material Eingang in die wichtigen Beweisgänge seiner Schrift. Vor allem benutzt er die Germanen als rhetorisch wirkungsvollen Kontrast 9 1 und interpretiert von daher ihr Vorgehen im Rahmen seines Welt- und Geschichtsverständnisses. Diese These wird erhärtet durch die Unfähigkeit bzw. das mangelnde Interesse des Autors, selbst seine negativen Beschreibungen der Germanen mit den Greueln der Eroberung zusammenzubringen. Die abstrakten, formelhaften, aus der literarischen Tradition zusammengeschriebenen Stammeslaster sind eines, die beobachteten, zur Kenntnis genommenen Untaten ein anderes. Vergleicht man, wie engagiert Salvian die Anklage gegen die römischen Christen konkretisiert, und wie er Einzelereignisse zum Beleg seiner Thesen heranzieht, dann wäre zu erwarten gewesen, daß er seine pauschale negative Charakterisierung der Barbaren mit den vorhandenen „exempla" unterstützen würde. Das ist aber nicht der Fall. Die pauschalen Sätze über die Minderwertigkeit der Barbaren und die Berichte von konkreten, zum Teil selbst beobachteten Ereignissen stehen unverbunden und ohne Bezug aufeinander an verschiedenen Stellen seines Werkes. Indem Salvian darauf verzichtet, seine Darstellung der Barbaren zu einem Ganzen zusammenzufügen, zeigt er sehr deutlich, wie wenig Interesse er ihnen im Grunde entgegenbringt. Seine Ausführungen über sie sind nur Nebenprodukt, notwendiges Material zur Erreichung seines eigentlichen Ziels. Und so sprechen die Leiden im Gefolge der Eroberung Triers in Salvians Interpretation auch nicht für die Grausamkeit der Barbaren, sondern 90
La Gaule, 83. Im Anschluß an ein Resümee der von Salvian überlieferten Schreckensbilder schreibt Favez dort: „Teile est I'image que nous donne de la conduite des barbares — etrange paradoxe — l'homme qui s'etait fait l'ardent apologiste de leurs vertus!". 91 So auch A.-G. Sterzl, der mit Recht „De gubernatione Dei" als Quelle für die Ethnographie der Völkerwanderung für wertlos hält (Romanus-Christianus-Barbarus, 47). Ähnlich M. Pellegrino, Salviano, 1 74.
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
sie zeigen die besondere Frivolität der Forderung nach Circusspielen im Anschluß an vorangehende (wohl weniger schwere) Zerstörungen der Stadt. Das Verhalten der Römer ist das Thema, die Landsleute sind die Adressaten, die Barbaren nur Statisten. D. J . Cleland ist daher zuzustimmen, wenn er feststellt: „Salvian's interest lies entirely with the Romans" 9 2 . Der römischen Gesellschaft widmet er detaillierte Beobachtung, hier argumentiert er auf vielfache Weise — die Barbaren bilden nur den Widerpart. Clelands Satz bedarf aber noch der Ergänzung: Gottes gerechtes Gericht über die Römer interessiert den Priester, und die Rolle, die die Römer als die Angeklagten und Verurteilten in diesem Gericht spielen — und in Zukunft spielen können. Die Barbaren sind nur insoweit von Interesse, als sie in diesem Gericht eine Funktion bekleiden 9 3 . Wie sehr diese Dimension dominiert, zeigt nicht zuletzt ein eigenartiger Zug der Barbaren-Schilderung, der bisher nur beiläufig erwähnt worden ist 9 4 . Das römische Reich fiel danach nicht in die Hände tapferer, mächtiger, militärisch überlegener Feinde, sondern es wurde besiegt von „sehr feigen", furchtsamen Völkern, die vor dem Kampf in „Furcht und Zaghaftigkeit" verfallen 95 . Salvian wird nicht müde, diese These seinen Lesern einzuschärfen: Gott „hat alles den schwächsten Feinden ausgeliefert, um zu zeigen, daß nicht Kraft stark macht, sondern die [gute] Sache, und wir nicht durch die Stärke der damals sehr feigen Feinde niedergeworfen werden, sondern allein durch die Unreinheit unserer Laster überwunden werden" (G VII, 28 ) 96 . Gott hat „die Vandalen ganz allein wegen ihrer Reinheit zu Herren 92
Salvian and the Vandals, 273. Dieses Urteil wird durch die formale Analyse zu „De gubernatione Dei" von K. Richter bestätigt (die Bücherfrage bei Salvian). Sie zeigt den rhetorischen Ort des Vergleichs von Römern und Barbaren und verweist auf die seit Menander bei Rhetoren (Panegyrikern) übliche Form des Königslobs: „Zuerst sei der König zu loben, dann seine Herrschaft mit der anderer Könige zu vergleichen . . . Er [= Menander,] empfiehlt also dieselbe Methode, die Salvian verwendet, doch wendet sie dieser nach der negativen Seite hin an, indem er nicht lobt, sondern tadelt" (50f.). 93 Dazu oben S. 44f. 94 Oben S. 126. 95 G VII,39: „Gothi metuerent" „in summo timore" Über die Vandalen: VII,28: „infirmissimi hostes" 46: „timor et perturbatio" 50: „gens ignauissima" 53: „intra Gallias formidabant". 96 „Sed ideo ille infirmissimis hostibus cuncta tradidit ut ostenderet scilicet non uires ualere sed causam, neque nos tunc ignauissimorum quondam hostium fortitudine obrui sed sola uitiorum nostrorum impuritate superari" (G VII,28).
Kontrastbilder: Die Barbaren
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gesetzt, und die Spanier ganz allein wegen ihrer Unreinheit u n t e r w o r f e n " 9 7 (G VII,27). Und warum tat G o t t das? „Damit wir erkennen, . . . daß die Verdienste dies verursacht haben, nicht die K r ä f t e " (G VII,29) 9 8 . G o t t handelt in der Geschichte, G o t e n und Vandalen sind nur Werkzeuge in seiner Hand. Trotz ihrer militärischen Unterlegenheit führt er sie zum Sieg und erweist gerade dadurch, daß er selbst hinter allem Geschehen steht. Salvian bemüht biblische Beispiele, die zeigen, wie G o t t die Schwächeren über die Stärkeren triumphieren läßt, um seine überlegene Stärke zu demonstrieren: den Untergang Siseras (lud 4) und Abimelechs (lud 9,53) und den Sieg Gideons (lud 7) (alles G V I I , 3 0 - 3 3 ) . Nicht zuletzt hier zeigt Salvian wieder das an anderer Stelle bereits hervorgetretene Bewußtsein des Römers von der Überlegenheit über die Barbaren 9 9 . Für ihn ist die Niederlage der militärisch besser ausgerüsteten Heere Roms nur durch göttliches Eingreifen zu erklären. Barbaren sind feige, ihnen ist ein Sieg aus eigener Kraft nicht zuzutrauen. Allein die moralische Kraft, die ihnen die Unterstützung durch G o t t verschafft, führt die Germanen zum Sieg. Als Ergebnis läßt sich festhalten: Salvians Barbarendarstellung ist vor allem geprägt von rhetorischer Kontrastzeichnung zur Situation der christlich-römischen Gesellschaft unter A u f n a h m e literarischer Topoi und unter Einarbeitung zeitgeschichtlicher Ereignisse. Indem die Heiden und Häretiker als die Besseren und wo das nicht möglich ist zumindest als die weniger Schuldigen geschildert werden, wird die Gerechtigkeit des gegenwärtigen göttlichen Gerichts herausgestellt. Nicht nur die Römer werden zu Recht bestraft, sondern auch die Barbaren haben ihren Lohn verdient 1 0 0 . Die nur wenige Detailinformationen enthaltende, plakative Beschreibung der G e r m a n e n 1 0 1 ist als Kehrseite des Tadels an den R ö m e r n im R a h m e n der Konzeption Salvians notwendig 1 0 2 . Dafür sprechen die Herleitung verschiede97
„ . . . c u m et Wandalos ob solam maxime pudicitiam superponeret et Hispanos o b solam uel maxime impudicitiam subiugaret" (G VII,27). 98 „Quid? nisi ut agnosceremus scilicet . . . meritorum hoc fuisse non uirium" (G VII,29). 99 S.o. S. 1 2 5 - 1 2 7 . 100 Dazu auch oben S. 44. ιοί Vgl. J. Vogt, Kulturwelt und Barbaren, 59: „Aus dem ganzen Vorhaben des Anklägers versteht es sich, daß er nicht über die Politik, die Verfassung und das Wirtschaftsleben der Germanen orientiert, sondern ein mit der römischen Moraltiät kontrastierendes Sittenbild entwirft." 102 So auch P. Courcelle, Histoire litteraire, 147: „conduit par la logique de son systeme, Salvien se doit de faire l'eloge des moeurs barbares" und Ε. A. Isichei, Political Thinking, 102: „That he should praise the virtues of the barbarian invaders was implied, though not absolutely required, by this thesis"; ähnlich F. Paschoud, R o m a aeterna, 2 9 6 .
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
ner Züge der Darstellung aus literarischen und rhetorischen Traditionen und die strikte Trennung des Lobes von den durchaus auch vorhandenen, für die Gesamtinterpretation von Salvian jedoch total vernachlässigten negativen Beobachtungen des Verhaltens der Invasoren. Nur so k a n n die Gerechtigkeit des gegenwärtigen göttlichen Gerichts erhellt werden. Der Anspruch, diese Gerechtigkeit im Geschichtsverlauf aufzeigen zu können, verlangt angesichts der tatsächlichen politischen Entwicklung eine klare Verteilung der Rollen von gut und böse. Die Kritik an den christlichen R ö m e r n und das Lob der häretischen Goten und Vandalen sind die beiden Seiten der gleichen Medaille. Nur indem damit die Transparenz des Weltgeschehens gewährleistet ist, kann Salvian wiederum h o f f e n , seine Zeitgenossen anzusprechen und von der notwendigen Veränderung ihres Lebens zu überzeugen 1 0 3 .
IV. Salvians
Zielperspektive
Die scharfe, an vielen Punkten zu pauschale und gewiß überzeichnete Kritik an den Mißständen der eigenen Gesellschaft und ihre Kontrastierung mit den Verhältnissen bei den Barbaren führen zu der Frage, ob Salvian auch eine eigene Position entwickelt hat, ein Bild von einer Gegengesellschaft, die seinen in Kritik und Kontrast spürbaren Grundsätzen gerecht wird. O f t wurde Salvians Werk zwar „christlicher Liebeseifer" 1 als Motivation zuerkannt, ansonsten die dort vorgetragenen Aussagen zu den sozialen Problemen aber abqualifiziert als „zufällig" 2 oder als „programmlose Diagnosen" 3 , die eine „ b e t o n t programmatische Mentalität eines Sozialrevol u t i o n ä r s " 4 vermissen lassen oder als „moralische Verdammung, die letztlich vollkommen steril i s t " 5 . Μ. E. zeigt Salvian in seinem Werk sehr deutlich, wie eine von ihm akzeptierte Gesellschaftsordnung aussehen sollte. Zwar präsentiert er seine Vorstellungen nicht als geschlossenen E n t w u r f , sie lassen sich j e d o c h aus drei Textgruppen herausfiltrieren. Einmal läßt sich seine Kritik umkehren und aus dem abgelehnten Negativen das angestrebte Positive ableiten. Sodann 103 Dazu vgl. u. S. 1 5 7 - 1 6 1 . 1
W. A. Zschimmer, Salvianus, 5 5 ; A. Schaefer, Römer und Germanen, 5 1 ; E. F. Bruck, Soziales Erbrecht, 113; F. Paschoud, R o m a aeterna, 296. 2 D. J. Cleland, Salvian and the Vandals, 2 7 4 . 3 A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 38. 4 A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 32. 5 F. Paschoud, R o m a aeterna, 3 0 7 .
Grundzüge einer christlichen Gesellschaft
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gibt die lobende Schilderung der Barbaren die Richtung der eigenen Idealvorstellungen an, dies um so mehr, als ihr literarischer Charakter deutlich geworden ist. Es gibt aber zusätzlich eine dritte Gruppe von Texten, die zur Beantwortung dieser Frage herangezogen werden m u ß und die bislang nur am Rande behandelt worden ist, Texte, in denen Salvian positiv entfaltet, wie er sich das Zusammenleben in einer christlichen Gemeinschaft vorstellt. Dazu gehören neben knappen, reflektierenden Sätzen Hinweise auf die biblische Tradition und auf die weitgehende Verwirklichung christlichen Lebens bei den „religiosi". Es ist geboten, zu dieser Fragestellung „Ad ecclesiam" stärker als bisher mit in die Untersuchung einzubeziehen, weil Salvian dort sein Bild vom christlichen Leben unter einem bestimmten Aspekt ausführlicher expliziert als in „De gubematione Dei".
1. Grundzüge einer christlichen
Gesellschaft
Christen empfangen in ihrem Leben ständig die Wohltaten Gottes. Zu diesen „beneficia" gehören die Grundbedingungen menschlichen Lebens, in ihnen erweist sich die Liebe Gottes. Salvian nennt die Schöpfung, die Erhaltung von Welt und Menschen, die Gabe des Gesetzes, das K o m m e n , Wirken und Sterben des Sohnes, die Zuweisung von Lebensraum usw. 6 . Auf diese Liebeserweise Gottes sollen die Christen angemessen antworten, indem sie selbst Liebe üben (G IV,51), indem sie in „Glaube, Keuschheit, Demut, Nüchternheit, Barmherzigkeit und Heiligkeit" leben (G VII, 10) 7 . Salvian konkretisiert das am Beispiel der Aquitanien Nichts ist für ihn natürlicher, als daß dieses Volk, das von G o t t ein besonders fruchtbares und reiches Land erhalten hat auch in besonderer Weise Dank sagt: Es sollte „besonders diensteifrig" sein und „durch Verehrung und Frömmigk e i t " G o t t zu gefallen suchen (G VII,9) 8 . Diese sehr allgemeinen Bestimmungen erhalten durch Salvians Interpretation von Tit 2,11 — 14 ihre charakteristische Note: Im Anschluß an das Zitat dieses Textes fragt er: „Wo sind die, die die weltlichen Sehnsüchte fliehen, wo die, die f r o m m und gerecht ihr Leben führen, wo die, die zeigen, daß sie durch gute Werke eine selige H o f f n u n g hegen und ein unbeflecktes Leben führen und dadurch beweisen, daß sie das Reich Gottes er6 S.o. S. 73. 7 „Quid namque a nobis exigit, quid praestari sibi a nobis iubet, nisi solam tantumm o d o fidem, castitatem, humilitatem, sobrietatem, misericordiam, sanctitatem" (G VII, 10). 8 „Officiosiores absque dubio deo esse debuerant . . . iidem quoque specialius d o m i n o cultu ac religione placuissent" (G VII,9).
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
warten, denn sie verdienen, es zu empfangen" (G VI,28) „Wo ist das Volk der guten Werke, wo das Volk der Heiligkeit?" (G VI,29) 9 . Dieser Text ließe sich als Programm vor Salvians Gesellschaftskritik setzen und zugleich als Überschrift über seine eigene Konzeption. Er enthält in nuce Salvians wichtigstes Ziel: die Propagierung eines asketen-ähnlichen Lebens („die weltlichen Verlange fliehen") in Gerechtigkeit, Reinheit und Barmherzigkeit, das sich insgesamt an den göttlichen Gesetzen orientiert. Auf diese Grundzüge will Salvian alle Christen verpflichten. Unter diesen Kategorien lassen sich seine kritischen Darstellungen umkehren und die lobende Beschreibung der Germanen in Dienst nehmen. Die Formulierung der Ziele Salvians wird somit zunächst zu einem Resümee des in den vorigen Kapiteln Ausgeführten: — Statt Gott in allen Lebensbereichen zu verhöhnen, sollten Christen den Geboten gehorchen. Statt nur Namenschristen zu sein, deren Glaube nicht bis in den Lebensvollzug hinein wirkt, sollten sie entsprechend ihrem Glauben handeln und so ihre Erkenntnis des Richtigen in die Tat umsetzen 1 0 . — Die Schauspiele, die wegen ihrer Unsittlichkeit, ihrer Grausamkeit, ihrer Verwurzelung im heidnischen Kult und wegen ihrer Kosten untragbar sind, dürften nicht mehr veranstaltet werden 1 1 . — Die Kritik der Verschwendung und der Korruption, der Ausplünderung der Ärmeren durch die Reicheren und Mächtigeren beinhaltet die Forderung nach sozial gerechtem Verhalten. Salvian steht allerdings auf dem Boden der bisher gültigen Gesellschaftsordnung, er fordert nicht die Aufhebung der Sklaverei 12 . — Eine strengere Gesetzgebung müßte gegen die Relikte heidnischer Kulte sowie gegen sexuelles Fehlverhalten wie Ehebruch, Prostitution und Homosexualität vorgehen, wie es die Vandalen in Afrika beispielhaft tun 1 3 . — In allem soll Gott geehrt werden, als Geber aller Gaben, als Richter der Geschichte, der sich intensiv und eindeutig erkennbar um die Belange der Welt kümmert. Ein Zeichen dieser Verehrung Gottes ist die Achtung, die seinen treusten Dienern, den Klerikern und den Religiosi entgegengebracht wird 1 4 . 9
„Vbi sperare ipso se operis, 10 Vgl. u Vgl. 12 Vgl. 13 Vgl. ι" Vgl.
sunt qui desideria saeculi fugiant, ubi qui uitam pie ac iuste agant, ubi qui se spem beatam bonis operibus ostendant et, immaculatam uitam agentes, hoc probent regnum dei exspectare quia merentur accipere? . . . ubi populus boni ubi populus sanctitatis?" (G VI,28f.). o. S. 53ff. o. S. 8 3 - 9 3 . o. S. 9 3 - 1 1 6 . o. 96—98, 123f. o. S. 98f.
Der Umgang des Christen mit dem Besitz
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An einem Thema zeigt Salvian beispielhaft, nach welchen Zielen sich die von ihm geforderte christliche Lebensweise ausrichten müßte: am Umgang des Christen mit dem Besitz. Die Schrift „Ad ecclesiam", auch „Adversus avarit i a m " überschrieben 1 5 , gibt darüber A u s k u n f t . Hier wird deutlich, wie sehr christlicher Glaube, Gehorsam gegenüber den Gesetzen, wie Salvian ihn versteht, die bisherigen Lebensgewohnheiten umstülpt. Zugleich zeigen seine Darlegungen, wie Glaube und Handeln, Lehre und Leben, Dogmatik und Ethik ineinandergreifen und ein untrennbares Ganzes bilden.
2. Der Umgang des Christen mit dem
Besitz
„Ad ecclesiam" ist auf ein einziges T h e m a zugespitzt: auf die Frage nach dem Umgang des Christen mit seinem Besitz, nach Mißbrauch und rechtem Gebrauch. Die Frage, ob es einem Christen erlaubt sei, Privateigentum zu besitzen, gar Reichtümer sein eigen zu nennen, hat die Kirche von ihren Anfängen her bewegt 1 6 , ausgehend von entsprechenden Jesusworten und ins NT aufgenommenen frühen Schriften wie dem Jakobus-Brief. Obwohl die Kirche und die Masse der Gemeindeglieder längst ihre Kompromisse mit der Welt geschlossen hatten, wurde das Problem bis ins 5. J a h r h u n d e r t hinein immer wieder traktiert. In dieser Tradition steht Salvian auf dem Flügel derjenigen, die radikal die Forderung der A r m u t erheben — wie vor ihm J o h a n n e s Chrysostomus und der Verfasser des pelagianischen Traktats „De divitiis" 1 7 . a) Der Reichtum an sich Irdische Güter sind Gaben Gottes, von ihm gegeben durch seine Gnade (E 1,24). Als Gabe Gottes können sie nicht per se schlecht und verderblich sein. Sie sind dem Menschen von G o t t geliehen (E I,24ff) — und daraus folgt für Salvian, daß dem Menschen nur der Nießbrauch irdischer Güter z u k o m m t , 15 Diesen Titel überliefert Gennadius, Vir ill 68 (Richardson S. 84), er trifft den Inhalt konkreter als der in den Handschriften überlieferte. Letzterer wird allerdings durch Ep. IX,6 nahegelegt, obgleich sich diese Stelle auch auf Ε 1,1 unabhängig vom Titel beziehen könnte. Zur Diskussion vgl. M. Pellegrino, Salviano, 32f.; G. Lagarrigue, Salvien I (Intr.), 4 3 f . 16
Als Materialsammlungen seien genannt: I. Seipel, Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter; O. Schilling, Reichtum und Eigentum in der altkirchlichen Literatur; neuere kurze Abrisse der Auseinandersetzung der altkirchlichen Theologen mit dieser Frage: W.-D. Hauschild, Christentum und Eigentum; M. Hengel, Eigentum und Reichtum in der frühen Kirche. Einen knappen Überblick mit Perspektive auf Salvian gibt jetzt auch H. Fischer, Salvian, 25—54. 17 Zur auffällig starken Verwandtschaft Salvians mit den Aussagen der Schriften des Corpus Pelagianum s.u. S. 1 7 6 f f .
142
Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
Gott aber Eigentümer bleibt 1 8 . Diese Leihgabe ist abgezweckt: Reichtum ist „zum heiligen Werk von G o t t " gegeben (E 1,1) 1 9 · Bei rechtem Gebrauch trägt der Besitz dazu bei, vor Gott Verdienste zu erwerben, die für das Urteil im letzten Gericht entscheidend sind 2 0 . Das ganze Werk ist durchdrungen von der Warnung vor den Gefahren des Reichtums 2 1 . An zwei Stellen scheint Salvian sogar den Reichtum als solchen als verwerflich und gesetzeswidrig zu bezeichnen. So greift er in Ε I,33f die Drohungen gegen die Reichen aus J a k 5,1—3 auf und weist in seiner Exegese ausdrücklich darauf hin, daß diese Drohungen „nicht wegen Mordes, nicht wegen Unzucht, nicht wegen schändlichen Religionsfrevels" ausgesprochen werden, „sondern ganz allein wegen des Besitzes". Allerdings folgt sogleich in Form einer Apposition eine Erläuterung: „wegen der ungesunden Begierde, wegen des Hungers nach Gold und Silber" 2 2 . Ähnlich verhält es sich in Ε 1,35. Zunächst heißt es „Du mußt allein deswegen gemartert werden, weil du reich bist", doch dann wird hinzugefügt: „das heißt, weil du den Reichtum schlecht gebrauchst, weil du nicht einsiehst, daß der Reichtum dir zum heiligen Werk gegeben ist" 2 3 . Salvian harmonisiert also die strengere Beurteilung des Verfassers des Jak-Briefes in seinem Sinne. Die Beurteilung des Besitzes bleibt ambivalent, als Gabe Gottes ist er nicht an sich verwerflich, sondern er birgt in sich die Möglichkeit zu verdienstvollem Werk und zum Mißbrauch: „Denn der Reichtum ist nicht an sich schädlich, sondern die Gesinnung derer ist verwirflich, die ihn schlecht gebrauchen" (E 1,35) 2 4 . b) Der rechte Gebrauch des Reichtums Die Grundlage für den rechten Gebrauch des Besitzes ist das Wissen, daß der Mensch nicht der Schöpfer oder der allein sich selbst verantwortliche Eigentümer seiner Güter ist, sondern daß er sie empfangen hat. Als logische Konse„ C o m m o d a t i s enim a deo facultatibus utimur et quasi precarii possessores s u m u s " (E 1,26). 1 9 „ . . . ad opus sanctum a deo traditis" (E 1,1). 20 Ε III,6ff. 17f.76; I V , 3 6 - 3 9 . 2 1 Z.B. Ε 11,61—65, aber auch an anderen Stellen. 2 2 „ E t hoc . . . non propter homicidia non propter fornicationes, non ob sacrilegas inpietates aut alia postremo uitia letali gladio animas et perenni occisione iugulantia, sed propter solas tantummodo opes, propter insanam cupiditatem, propter auri atque argenti f a m e m " (E 1,34). 2 3 „ . . . sed torquendus tantummodo, quia diues, hoc est quia diuitiis male uteris, quia datas tibi ad opus sanctum diuitias non intellegis" (E 1,35). 2 4 „ N o m enim ipsae diuitiae per se noxiae, sed mentes male utentium criminos a e " (E 1,35). 18
Der Umgang des Christen mit dem Besitz
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quenz ergibt sich daraus für Salvian, daß der Geber und Eigentümer über die Verwendung zu entscheiden hat und nicht der, dem diese Güter auf begrenzte Zeit anvertraut sind 2 5 . So muß spätestens mit dem Tod des Nutznießers Gott sein Eigentum wieder zurückerhalten, geschieht dies nicht, so ist es Diebstahl 26 . Es gibt somit eine doppelte Limitierung des Gebrauchs des Reichtums: eine sachliche („ad opus sanctum") und eine zeitliche (Rückgabe, spätestens testamentarisch). Was verbirgt sich nun hinter der Bezeichnung „opus sanctum"? „Misericordia" und „humanitas" (E 1,9), die Hingabe des gesamten Besitzes für die Armen, für Christus, für Gott. Salvian wird nicht müde, diese Forderung in immer neuen Varianten ständig zu wiederholen 2 7 . Gleich bleibt in allen verschiedenen Formulierungen die Forderung, alles zu geben 2 8 . Salvian gebraucht gern Wendungen wie „Gott o p f e r n " 2 9 oder „Christus zum Erben einsetzen" 3 0 . Die Gabe dient somit in erster Linie der Ehre Gottes 3 1 , und sie wird begründet mit der Verdienstlichkeit des Gebens, mit einem in Aussicht gestellten himmlischen Lohn 3 2 , nicht mit einer Aufgabe, einer Notlage, die mittels des gespendeten Vermögens gelöst bzw. behoben werden könnte. Dieser Punkt hat bisweilen dazu geführt, „Ad ecclesiam" zu stark von „De gubernatione Dei" abzusondern: sie sei ein reiner Ausfluß asketischer Lebensauffassung, ohne Begründung und Verwurzelung im sozialen Bereich, dem sich die spätere Schrift gerade so intensiv zuwende 3 3 . Doch eine solche Beurteilung ist zu oberflächlich, denn die Motivation des Gebers ist zu unter25
„Quid rectius, quid honestius, quam ut ubi res ab eo discedit qui usum habuit, reuertatur ad eum possessio qui utendam concessit?" (Ε 1,27). » Ε I,28f.; II,66ff. « Ε I,53ff.; II,26f. u.ö. 28 „Totum, inquit aliquis, oblaturus est? at ego dico esse hoc t o t u m parum. Quid enim? iam seit aliquis an peccatorum mensuram oblata c o m p e n s e n t ? " (E 1,56). Vgl. dazu die Ausführungen von E. F. Bruck, Soziales Erbrecht, 1 0 5 f f . Bruck weist auf Parallelen zu Johannes Chrysostomus hin (114). » „deo offerre" o.a.: Ε 1,53.55.61 u.ö. 30 „Christum . . . facies heredem" (Ε IV,36). 31 Ε 1,24: ,,ad dei cultum referre debemus et in eius opere consumere"; ähnlich Ε 1,33: IV,8ff. 1 2 f f . 2 7 . Man darf aufgrund solcher Formulierungen nicht annehmen, Salvian habe den Besitz der Kirche — zu welchem Zweck auch immer — mehren wollen. Die scharfe Kritik an habsüchtigen Klerikern und Mönchen zeigt deutlich, daß dies nicht die Intention Salvians gewesen ist (so auch G. Lagarrigue, Salvien I (Intr.), 35f.). 32 Z.B. Ε 1,56, w o Salvian vom Eintauschen zeitlicher Güter in ewige spricht. 33 A. Schaefer, Römer und Germanen, 25f.; E. F. Bruck, Soziales Erbrecht, 111. Für eine enge Zusammengehörigkeit beider Schriften plädiert dagegen zu Recht H. Fischer, Salvian, 118.
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
scheiden von dem Verwendungszweck. Denn daß die gespendeten Mittel an die Armen und Bedürftigen zur Linderung ihrer N o t verteilt werden sollen, macht Salvian ausreichend deutlich. So besonders in Ε IV, wenn er auf den Einwand eingeht, G o t t habe das Geld doch schließlich nicht nötig (Ε IV, 16—23). Als A n t w o r t legt er Mt 25 aus: Christus ist arm, hungert, dürstet, ist unbekleidet: der Arme erhält, was G o t t geschenkt wird. Gleiches gilt von Ε IV,36, wo Salvian die reichen Christen davon zu überzeugen sucht, daß es keine Schande sei, für die Armen das ganze Vermögen zu geben: sie erhalten es zwar, doch für den Geber ist es Christus in ihnen, der es empfängt 3 4 . Auch die zwei Ausnahmen, die Salvian gelten läßt von seiner generellen Forderung, alles G o t t zu vermachen, zeigen, wie sehr ihm die A r m e n als reale Adressaten vor Augen stehen. Die eine Ausnahme ist, sein Vermögen armen Verwandten zu hinterlassen 3 5 , die andere die Kinder zu beschenken, die asketisches Leben gelobt haben — nicht damit sie reich werden, sondern „ d a m i t durch sie die etwas b e k o m m e n , die nichts h a b e n " 3 6 . So sind als Nutznießer des „opus s a n c t u m " eindeutig die Armen anvisiert, und es geht nicht nur u m das Opfer als Ausdruck f r o m m e r Gesinnung, sondern ebenso sehr auch um den Empfang des Vermögens zur Weitergabe an die Bedürftigen 3 7 . Salvian fordert die Hingabe des Vermögens bei Lebzeiten, denn nur dann kann ein Leben als „imitatio Christi" gelebt werden 3 8 . Doch macht er ein bemerkenswertes Zugeständnis: es gilt auch noch als gutes Werk, testamentarisch zu opfern, auf eine Weise also, die den Besorgnissen der Kleingläubigen, Krankheit oder Not k ö n n t e n Reserven erfordern, Rechnung trägt 3 9 . Allerdings b e t o n t er, daß sich keiner testamentarisch ewiges Heil kaufen könne. Der gläubige Sinn empfiehlt die Gabe, nicht umgekehrt 4 0 . Und ob Μ Vgl. auch Ε 111,4.90; IV,27.30. 35 Ε III,18f. 36 Ε 111,19, vor allem 23: „ut illis habentibus cuncti habeant non habentes". Salvian beklagt die Praxis, daß asketisch lebende Kinder enterbt werden: Ε III,22ff.39, diese Aussagen entsprechen G IV,32f. 37 „Si uis ergo, quaecumque illa es, si uis tibi esse consultum, si uis aeternam habere uitam et cupis uidere dies bonos, relinque substantiam tuam indigentibus sanctis relinque claudis, relinque caecis, relinque languentibus" (Ε IV,35). Auch G. Lagarrigue, Salvien I (Intr.), 34, hebt hervor, daß Salvian an die Armen als Nutznießer der Opfer denkt. 38 Ε 1,13; IV,42ff.; G 111,14. 3» Ε II,66ff. 40 „ . . . offerat cum dolore, cum luctu" (E 1,52); „nec enim animus dantis datis sed animo commendantur data, nec pecunia fidem insinuat sed pecuniam fides" (Ε 1,53); vgl. auch Ε 1,42.43.56.62; II,26f.
Der Umgang des Christen mit dem Besitz
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die Gabe, das gute Werk, ausreicht zur Erlangung des Heils, vermag er nicht zu entscheiden, er wertet es lediglich als letzten Versuch, den keiner um seiner eigenen Zukunft willen unterlassen dürfe 4 1 . Und so ist der ganze Duktus der Schrift darauf ausgerichtet: Wenn schon nicht — wie eigentlich gefordert — Verzicht während des Lebens, dann doch zumindest Rückgabe des Geliehenen an Gott nach dem Tode. Salvian meint hier bereits eine Milderung der apostolischen Gebote vorgenommen zu haben 4 2 . c) Die Adressaten der Forderung Wem gilt nun diese Forderung? Sie gilt im Prinzip allen Christen 4 3 . Salvian läßt nicht zweierlei Gesetz gelten für Vollkommene und für Normalchristen. Doch hier liegt eine Inkonsequenz. Die Forderung, alles zu geben, gilt zwar allen ohne Ausnahme, aber den Religiosi gilt sie in besonderer Weise 44 , während den anderen, die nicht besondere Gelöbnisse abgelegt haben, ein gewisser Spielraum bleibt 4 5 . Er hebt die allgemeine Gültigkeit seines Postulats zwar nicht auf, doch schleicht sich eine Zweistufenethik ein 4 6 . Unter den Normalchristen gilt für die Kinderlosen die Armutsforderung in strengerem Maße als für die anderen, die Kinder haben. Eine Verweigerung des Opfers wegen der Bedenkung der Kinder ist zwar schuldhaft, kann jedoch noch verstanden werden 4 7 . Salvian hält seine programmatische Strenge also doch nicht bis zum letzten durch. Er bezeichnet eine solche Elternliebe zwar als fehlgeleitet, denn auch die Kinder dürfen Gott nicht vorgezogen werden und das reichste Erbe, das Eltern ihren Kindern hinterlassen können ist die Lehre der göttlichen Gebote 4 8 . Er hält Eltern, die dennoch so handeln zwar für töricht, weil sie der eigenen Seele damit Schaden zufügen, aber eine letzte eindeutige Verurteilung fehlt 4 9 . Anders dagegen bei den 41
Ε I,47f.; Heilsgewißheit kann Salvian auf keine Weise vermitteln — auch eine sakramentale Vergewisserung und Zueignung des Heils steht ganz außer Betracht (vgl. I,62f.; II, 10f.36, 1,51 nennt „misericorida" als einziges Mittel zum Heil). « Ε 1,38-40. 43 Salvian preist die Besitzlosigkeit der Jerusalemer Gemeinde und macht ihr Vorbild für alle Christen seiner Zeit verbindlich: „habet igitur omnis aetas, habet omnis condicio q u o d sequatur: quicumque est partieeps fidei partieipem se beati faciat exempli" (Ε 111,44). 44
Ε I V , 2 4 f f . (bes. 28f.); I I , 1 3 f . 4 2 f f . Den Laien ist nach Mt 19,21 gesagt: „ S i uis perfectum esse . . . " (E 11,39). 46 Über den Unterschied der Verbindlichkeit der Forderung für Kleriker/Religiosi und Normalchristen s. Ε 11,39. 47 So den Eltern „guter und gerechter Kinder", Ε 111,7, trotz des strengen Erbverbots Ε 1,10.23ff.; 111,45. "8 Ε 1 , 1 7 - 1 9 . 49 Ε III,7f. Ε. F. Bruck, Soziales Erbrecht, 105ff., geht auf diese Kompromißbereitschaft nicht ein.
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10 Badewien, Geschichtstheologie
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
Kinderlosen, die Freunde, womöglich einflußreiche Fremde, als Erben einsetzen. Hier gibt es für Salvian keine Entschuldigung 5 0 . Uneingeschränkt gilt die Armutsforderung auch denjenigen, die durch Gelübde oder Weihen sich zu einer strengen christlichen Lebensführung verpflichtet haben. Salvians These lautet: ohne die Gabe des gesamten Vermögens sind alle anderen Anstrengungen nutzlos, der Geiz, der die Grundhaltung aller Besitzenden ist und der die Hingabe allen Besitzes verhindert, ist die schlimmste aller Sünden 5 1 . Er verweist auf die Klöster, in denen es üblich ist, daß Neuankömmlinge allen Besitz ablegen, bevor sie anderes auf sich nehmen 5 2 . Völlige Aufgabe des Eigentums ist Voraussetzung aller anderen asketischen Übungen und kann durch sie nicht ersetzt werden 5 3 . Die Aufgabe des Besitzes ist Prüfstein für die Ernsthaftigkeit des Glaubens, denn Geiz ist Unglaube und das asketische Leben eines Habsüchtigen ist nichts als pure Heuchelei 5 4 . d) Zur Motivation des Gebers Weil alle Gabe nur geliehen ist zum Gebrauch, ist jeder verpflichtet, Gott das Seine zurückzugeben. Wenn diese Pflicht von Gott noch als Verdienst gewertet wird, ist das allein Ausdruck seiner Milde. Wo dieser Akt nicht freiwillig vollzogen wird, liegt Pflichtverletzung des Schuldners vor 5 5 . Demjenigen, der das Opfer verweigert, droht ewige Verdammnis, vor allem da Habsucht noch zahlreiche andere Laster in ihrem Gefolge zu haben pflegt 5 6 . Salvian appelliert an den menschlichen Egoismus, manchmal in krassester Form: Tue etwas für dich, nicht für deine Kinder! Was nützt es dir in deiner Verdammnis, wenn deine Kinder ein Leben in Saus und Braus führen 5 7 ! Die Opferung des Vermögens ist der einzige Weg, es auch noch nach dem Tode genießen zu können. Wer seinen Reichtum G o t t übergibt, genießt ihn doppelt, er tauscht zeitliche Güter in ewige um 5 8 . Das ist die einzige erlaubte Weise, seinen Besitz zu vermehren 5 9 .
so si 52 53
Ε III,9f.57ff. Ε I V , 2 8 f f . ; vgl. auch oben Anm. 4 2 S. 145. Ε IV,42f.; vgl. Cassian, Inst coen 11,3 (ed. Guy, S. 6 0 - 6 4 ) . Ε IV,5. 54 Ε IV,28: „Falsarii criminis reus es, deo cuncta mentiris". ss Ε I,27ff. 56 Mit I Tim 6 , 1 0 bezeichnet Salvian Reichtum als „radix omnium malorum" (Ε 1,13; vgl. 1,3). 57 Ε III,6f.37—39.76ff.; I V , 3 0 f f . u.ö. 58 Ε I , 8 f . 2 1 . 3 0 . 5 5 . 5 6 . u.ö. 59 Ε I,30f.
Der Umgang des Christen mit dem Besitz
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Theologisch begründet Salvian seine Forderung dreifach: Exegetisch stützt er sich auf die zahlreichen Worte J e s u und der Apostel, in denen Armut gefordert und zur Besitzaufgabe zugunsten der Armen aufgerufen wird 6 0 . Eventuelle Gegenargumente unter Hinweis auf das A T und den Reichtum der Patriarchen schneidet er mithilfe der Überordnung des N T über das A T ab: das neue Gesetz hat das alte abgelöst 6 1 . Eschatologisch wird der Geber motiviert mit dem Hinweis auf sein Seelenheil: die Besitzaufgabe ist das einzige adäquate Mittel zum Loskauf der Sünden 6 2 . Kasuistische Berechnung der Höhe der menschlichen Schuld gegen G o t t lehnt Salvian ab, niemand kann die Höhe seiner Schuld ermessen. Nur eins ist ihm klar: sie ist unermeßlich groß, nicht zuletzt durch die Opferung des Gottessohnes, die keiner durch gute Werke aufwiegen k a n n 6 3 . Da aber keiner die Grenze seiner Schuld kennt, gibt es auch kein Limit des Opfers. Ein Mittel allein hilft: alles aufzugeben 6 4 . Und solchen Sancti, die glauben, einen Loskauf von den Sünden nicht nötig zu haben, empfiehlt er, dann — positiv — die ewige Seligkeit zu erwerben 6 S — allerdings nicht ohne zuvor diese Argumentation der Asketen durch Hinweis auf Passion und Tod J e s u und das unermeßlich hohe Opfer Gottes auch für die Frommen ad absurdum geführt zu h a b e n 6 6 . Nicht zuletzt fordert Salvian die Aufgabe allen Besitzes auch deswegen, weil er jegliches Eigentum als Last, als Hemmnis für den ansieht, der sich ganz auf G o t t und den Gehorsam gegen seine G e b o t e konzentriert. Diese Quelle der Ablenkung von der Gottesverehrung muß daher möglichst schnell beseitigt werden 6 7 . e) Der Mißbrauch und seine Folgen Mißbrauch des Reichtums ist jede Form seines Gebrauchs, die vergißt, daß er eine Leihgabe Gottes ist. Dazu gehört seine Verwendung aus60 Mt 6,19 (E 1,8.20; 11,51; 111,73). Mt 6,24 (E 11,51). Mt 10,9 (E 11,39). Mt 19,21 (E 11,39; 111,73.90; IV,42) Mt 19,24 (E 1,20). Mt 2 5 , 1 - 1 3 (E 11,39). Mt 25,31 ff. (E 11,51; IV,20ff.) Lk 6,24 (E 11,51.69). Lk 16,19ff. (E III,46ff.; IV,32). 61 Ε 11,14-23. 62 Ε I,55ff.; 11,1. «3 Ε I,54ff.; II,3ff.23f. 64 Ε I,54ff.; 11,1 lf.24. 66 Ε I,55ff.; II,23f.
65 Ε II,2.50.54ff. 67 Ε II,25.63ff.; vgl. IV,43.
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
schließlich für eigene Belange, seine Thesaurierung, seine Vermehrung 6 8 und schließlich seine Weitergabe an irgendwelche Menschen 6 9 . Im Gefolge eines solchen Mißbrauchs befallen zahllose Laster den Reichen. Katalogartig führt Salvian auf: Raubgier, Neid, Haß, Grausamkeit, Verschwendung, Schamlosigkeit, Verworfenheit 7 0 . Reichtum bindet die Seele an irdische Dinge und zieht damit Gericht und Verdammnis nach sich. Als Drohung malt er zukünftiges Gericht und ewige Verdammnis schrecklich aus 7 1 . Salvians Ausführungen zum Thema Besitzverzicht laufen darauf hinaus, ein Gestaltungsprinzip klösterlicher Gemeinschaft auf die gesamte Christenheit — und dh schon in seiner Zeit: auf die gesamte Gesellschaft — zu übertragen. In „Ad ecclesiam" ist die Gesellschaft nicht explizit thematisiert, die Armen erscheinen eher als Gegenstand christlicher Fürsorge und Diakonie, undifferenziert und topisch 7 2 , nicht als Opfer ungerechter Verhältnisse wie in „De gubernatione Dei". Doch wie bereits aus dem Titel hervorgeht, wendet sich Salvian auch in der ersten Schrift nicht an den einzelnen Christen, sondern sieht ihn als Teil einer Gemeinschaft, als Glied der Kirche, deshalb schreibt er bewußt „An die Kirche": „An wen sollte sich der Ruf wenden? Keiner schien geeigneter als die Kirche, waren doch die ein Teil von ihr, die dieses t a t e n " (Ep IX,12) 7 3 . Die gleichen Grundsätze, die in „Ad ecclesiam" ausgeführt werden, erhalten als Hintergrund zu „De gubernatione Dei" weitere sozial-politische Relevanz. Wo das Verhältnis von Privateigentum zu öffentlichen Mitteln überhaupt reflektiert wird 7 4 , kann eine solche Forderung 7 5 nicht mehr nur als Ausfluß individuell-asketischer Neigungen verstanden werden, sie zielt dann ab auf die „durchgreifende Reform der ganzen bestehenden Gesellschaftsverhältnisse und zwar auf christlich-asketischer Grundlage 7 6 .
β» Ε I,31ff. S.o. Anm. 47 und 4 8 S. 145. to Ε 1,3. ·" Ε III,45ff. 81. 72 Die traditionell genannten Notlagen werden nach Mt 2 5 , 3 I f f . aufgezählt, ohne Verankerung in einer konkreten Situation. 73 „ V o x autem ipsa cui inpenderetur nullus magis idoneus uisus est quam ecclesia, cuius utique pars ipsi erant, qui ista faciebant" (Ep. IX,12). Vgl. z.B. G 1,11; dazu s.o. S. 103. 75 In „De gubernatione D e i " wird diese Forderung 111,14 erhoben. 76 W. A. Zschimmer, Salvianus, 85. E. Stein spricht gar von „sozial-revolutionären Neigungen" (Geschichte des spätrömischen Reichs 1,511).
Beispiele christlicher Gesellschaftsformen
3. Beispiele der Verwirklichung
dieser Ziele aus der biblischen
149 Tradition
Als positive Beispiele aus dem politischen Bereich führt Salvian die alten Römer und die Barbaren an. Diese Exempel sind jedoch immer nur ein Stück weit zu gebrauchen, da heidnischen Römern wie Barbaren eine Voraussetzung zum vollständig richtigen Handeln fehlt: die wahre Erkenntnis der Gebote Gottes, denn sie kannten die „lex divina" nicht oder haben sie nur im depraviertem Zustand 7 7 . Was mithilfe dieser Beispiele nicht gezeigt werden kann, verdeutlicht Salvian mit Beispielen aus der biblischen Tradition sowie mit dem Hinweis auf die wahren Christen der Gegenwart, auf die Religiosi. a) Israel in der Wüste Salvian zeigt anhand je eines Beispiels aus dem AT und dem NT, wie er sich christliche Gemeinschaft vorstellt. In G 1,42—44 malt er ein Bild vom wandernden Gottesvolk in der Wüste — das Bild eines Volkes, das voller Vertrauen Gott folgt: „Es geht einen Weg ohne Weg, ein Wanderer ohne Straße, durch den vorangehenden Gott, durch göttliche Begleitung geehrt, mächtig durch himmlische Führung, der beweglichen Säule folgend, tags der Wolke, nachts dem Feuer" (42) 7 8 . Quelle und Bäche entspringen in wasserloser Wüste, Vögel kommen ins Lager, Gott sorgt für die Bedürfnisse des Volkes. Während der Wanderung setzt der Alterungsprozeß aus. Und das Entscheidende: Gott steigt zur Erde nieder „zur Erziehung des Volkes", das Volk hat unmittelbaren Kontakt mit seinem Gott, es lebt „in vertrauter Gemeinschaft mit Gott", „stark durch die Ehre der heiligen Freundschaft". Gott diktiert sein Gesetz, „Buchstaben, Zeilen, Seiten, ein steinernes Buch" — und Salvian preist „ein lernendes Volk und einen lehrenden Gott, Menschen und Engel sind fast vermischt, und es ist eine Schule des Himmels und der Erde" (43) 1 9 . Die Menschen „besitzen, während sie noch ihr Leben in dieser Zeit führen, schon eine Vorstellung der zukünftigen Seligkeit" (44) 8 0 . Es fällt auf, daß vom Volk überhaupt keine Aktivität ausgeht. Alles Handeln liegt bei Gott, er führt, er sorgt, er lehrt. Das Volk Israel folgt, 77
S.o. S. 53f. „Ag't iter sine itinere, uiatrix sine uia, praeuio deo, diuino commilitio honorabilis, ductu caelesti potens, sequens mobilem columnam, nubilam die, igneam n o c t e " (G 1,42). 79 „ . . . adde hue erudiendae gentis o f f i c i o descendentem ad terras deum, . . . innumerae multitudinis plebem in consortium diuinae familiaritatis admissam . . . legem diuino ore resonantem, incisas digito dei litteras rupices paginas, saxeum uolumen, discentem populum et d o c e n t e m deum, ac mixtis paene hominibus atque angelis unam caeli ac terrae scholam" (G 1,43). 78
80 quam ut cum praesentis saeculi uitam agerent, speciem iam futurae beatitudinis possiderent? " (G 1,44).
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
es wird umsorgt und belehrt. Es ist einzig auf Gott ausgerichtet. Salvian stellt sich das Gottesvolk für seine Zeit entsprechend vor. Denn Gott ist sich in seinem Handeln treu geblieben. G 1,45—47 bezieht das Exemplum explizit auf die Gegenwart, „ q u o n d a m " — „nunc" stellt die Relation her 8 1 . Allerdings verschließt Salvian keineswegs die Augen vor der Tatsache, daß auch damals dieser Idealzustand nicht lange erhalten blieb, er berichtet über den Widerstand Israels gegen Gott (G I,46ff). b) Die ersten Christen Überraschend spärlich sind die Aussagen über die frühe Kirche. Der Apostel Paulus dient als Exempel: wie er „imitator Christi" war, so sollen alle Christen „imitatores" des Apostels sein (G III, 17f). Stichworte dieser Nachfolge sind körperliche Schwachheit (G 1,14—16), Verzicht auf Besitz (G III, 14f), Kreuztragen (G 111,15), Kummer, härteste Mühsal, Leiden und Tod (G III,17f). Und Salvian fragt: „Wir wollen sehen, wer von uns als Nachfolger des Apostels erscheint" (18) 8 2 — und das nicht gerade im „Schiffbruch", den der Apostel dreimal, die Christen seiner Zeit aber lebenslang erleiden, wie er ironisch vermerkt. Der Apostel erhält seine Bedeutung von einer abgeleiteten Autorität: Christen sollen ihn nachahmen, wie er „imitator Christi" war. Jesus Christi selbst ist das vornehmste Beispiel, dem es nachzueifern gilt: „Christus hat für uns gelitten und uns ein Beispiel hinterlassen, auf daß wir seinen Fußstapfen folgen", so zitiert Salvian leicht abgeändert I Pet 2,21 (G VI,29) 8 3 . Wie unten noch auszuführen sein wird, erhalten auch die Sancti ihre Würde einzig als „imitatores Christi" (E II,13) 8 4 . In „Ad ecclesiam" wird zweimal die erste Gemeinde in Jerusalem als Vorbild zitiert, sie bildet dort den Maßstab, an dem kirchliches Leben sich auszurichten hat. In Ε 1,2—5 klagt Salvian über den Verlust der „Schönheit des ganzen Leibes" (1,5) der Kirche: „Längst verloren ist jene ausgezeichnete und überragende Seligkeit deines ersten Volkes, als alle, die Christus erkannt hatten, ihren vergänglichen Besitz an weltlichen Dingen austauschten gegen ewige Schätze himmlischen Besitzes" (1,2) 85 81
Zur antithetischen Zuspitzung „tunc"-,,nunc" bzw. „quondam"-„nunc" vgl. o. S. 117f. ,, . . . uideamus quis nostrum apostoli imitator appareat" (G 111,18). 83 „Christus . . . pro nobis passus est, exemplum nobis relinquens ut sequamur uestigia eius" (G VI,29). Der Originaltext II Pet 2,21 hat 2. Pers. PI. Μ S. u. S. 155. 85 „Abiit quippe illa egregia ac supereminens dudum primitiuae plebis tuae beatitudo, qua omnes Christum agnoscentes caducas rerum mundialium facultates in sempiternas caelestium possessionum opes conferebant" (E 1,2). 82
Verwirklichung in der Gegenwart: die Religiosi
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Ε 111,41—43 hebt hervor, daß das, was jetzt nur noch von wenigen „imitatores Christi" getan wird, nämlich die Aufgabe allen Eigentums, damals „nicht mittelmäßig, sondern im Übermaß nicht von sehr wenigen, sondern von V ö l k e r n " erfüllt worden ist (41) 8 6 . Salvian verweist auf Act 2,44 und 4,32f und schildert im Anschluß daran christliches Gemeindeleben. Aus den Angaben der Apostelgeschichte errechnet er bereits für die ersten 2 Tage der Gemeinde eine Mitgliederzahl von 8 0 0 0 (42). Daraus ergibt sich für ihn, daß solch strenges Leben durchaus für die ganze Kirche — und eben nicht nur für die wenigen Sancti — gefordert werden kann.
4. Die Verwirklichung
in der Gegenwart:
die
Religiosi
Christentum in seiner wahrhaftesten Ausprägung zeigt sich bei den Asketen, die Salvian meistens als Sancti oder Religiosi bezeichnet 8 7 . Von dem allgemeinen Sittenverfall sind sie zum großen Teil unberührt. Mehrmals hält Salvian in seiner pauschalen Verurteilung inne: „ausgenommen die sehr wenigen Diener G o t t e s " (G VII,58) 8 8 . Die Sancti stellen den extremen Gegenpol zu übrigen Gesellschaft dar. Die Afrikaner „lebten nämlich immer in Liederlichkeit, diese in Unschuld. J e n e in Begierde, diese in Zucht, jene in Bordellen, diese in Klöstern, jene fast immer mit dem Teufel, diese ohne Unterlaß mit Christus" (G VIII,21) 8 9 . Aufgrund dieser grundsätzlichen Verschiedenheit, die Salvian als „Unterschied der Willensrichtungen" (G VIII,20) 9 0 kennzeichnet, ergibt sich die feindselige Haltung der Bevölkerung gegen die Mönche: die Asketen werden zu Märtyrern, auch wenn sie nicht getötet werden. „Daher haßen sie (die Afrikaner) jene (die Mönche) nicht ohne Grund, denn sie erkannten alles als konkurrierend und feindselig" (G V I I I , 2 1 ) 9 0 a . Und so k o m m t es zu Schimpfen und Fluchen, Verlachen und Verspotten — Salvian scheut sich 86 „Haec quae etiam nunc ab aliquantis Christi imitatoribus fiunt, non mediocriter sed abundanter, nec a paucissimis sed a populis" (E 111,41). 87 Eine Differenz im Sprachgebrauch ist nicht festzustellen. In G VIII,19 werden die „sancti" mit den „monarhi" identifiziert. Von den „sancti" und den „religiosi" spricht Salvian als von Christen, die besondere Gelübde abgelegt haben, in denen sie strenge Befolgung der Gebote Gottes geloben (E 11,14.45; IV,28; vgl. H. Fischer, Salvian, 81-88). 88 „Exceptis enim paucissimis dei seruis . . . " (G VII,58). 89 „Illi enim uiuebant iugiter in nequitia isti in innocentia, illi in libidine isti in castitate, illi in lustris isti in monasteriis, illi prope iugiter cum diabolo isti sine cessatione cum Christo" (G VIII,21). 90 causa est discordiarum diuersitas uoluntatum" (G VIII,20). 903 „Itaque eos non sine causa . . . oderunt in quibus omnia sibi aemula atque inimica cernebant" (G VIII,21).
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
nicht, hier den Begriff „persecutio" zu verwenden (G VIII,19). In diesem Leiden erweisen sich die „Mönche, das sind die Heiligen Gottes" (19) als die wahren Nachfolger Christi: was Christus von den J u d e n zu leiden hatte, müssen sie unter den Mitchristen erdulden 9 1 . Die Mönche sind auch in ihrer freiwilligen Armut sowie in ihrer körperlichen Schwachheit Vorbilder und zugleich Gegenpole zur Gesellschaft, in der sie leben. Salvian entwickelt diesen Gedanken gleich zu Beginn von „De gubernatione Dei" als Antwort auf die Frage nach der Ursache des Leidens auch der wahren Christen. Er behandelt dort grundsätzlich die Frage, was ein Christ im Diesseits zu erwarten hat, und er löst sich von der gängigen vulgär-christlichen Identifizierung vom Wohlleben mit göttlichem Lohn. Er stellt dieser Ansicht zweierlei entgegen: 1. Wahre Christen „können nichts anderes als glücklich sein" (G I,8) 9 2 . 2. Wahre Christen leben in der Nachfolge Jesu und d.h. in der Nachfolge des Kreuzes. Salvian zitiert Mt 10,38: „Wer nicht sein Kreuz getragen hat und mir gefolgt ist, ist meiner nicht würdig" (G III,14) 9 3 . Diese beiden Punkte hängen eng miteinander zusammen, der erste argumentiert philosophisch, der zweite dagegen theologisch. In G I,8f erörtert Salvian sehr grundsätzlich, was denn für einen wahren Christen überhaupt Glück sei 94 . Glück ist danach unabhängig von äußeren Bedingungen, es hängt allein von der Übereinstimmung des eigenen Wollens mit dem Sein ab und ist in dieser seiner Subjektivität von den „ignoranies", den zuvor genannten „falschen Christen und Betrügern" (G 1,7) nicht erkennbar. J a , es ist von niemandem als von dem Betroffenen selbst zu beurteilen: „Denn niemand kann nach dem Gefühl anderer Menschen unglücklich sein, sondern nur nach seinem eigenen. Und daher können diejenigen nach dem falschen Urteil eines anderen nicht unglücklich sein, die in Wirklichkeit nach ihrem eigenen Bewußtsein glücklich sind" (G 1,8) 9S . Das eigene Bewußtsein wird damit zu der Instanz, die über Glück und Unglück entscheidet 9 6 . In den folgenden Sätzen präzisiert Salvian, daß dieses 91
,, . . . quia omnia in illos paene fecerunt quae in saluatorem nostrum Iudaeorum impietas ante fecit quam ad effusionem ipsam diuini sanguinis perueniret" (G VIII,19). 92 „ non possunt tarnen esse aliud quam beati" (G 1,8). 93 „Et qui non tulerit crucem suam et secutus me fuerit, non est me dignus" (G 111,14). 94 Zum Folgenden vgl. den Aufsatz von W. Blum, Das Wesen Gottes und das Wesen des Menschen nach Salvian von Marseille. 95 „ . . . nemo enim aliorum sensu miser est sed suo. Et ideo non possunt cuiusquam falso iudicio esse miseri, qui sunt uere sua conscientia beati" (G 1,8). 96 Die Bedeutung von „conscientia" für Salvian hat W. Blum, Das Wesen Gottes, 329f-, herausgestellt. Mir scheint jedoch die Bedeutung „Bewußtsein" das von Salvian Intendierte besser zu treffen als „Gewissen".
Verwirklichung in der Gegenwart: die Religiosi
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Glück in der Übereinstimmung des eigenen Wollens und Erkennens mit dem tatsächlichen Sein liegt: „Niemand ist glücklicher . . . als diejenigen, die nach ihrer eigenen Ansicht und ihrem Wunsch handeln" (G 1,8) 9 1 . Und etwas später: „Niemand ist glücklicher als die, die das sind, was sie sein wollen" (G I , 9 ) 9 8 . Die Entsprechung von Wollen und Sein hat bei Salvian zwei Aspekte, einen passiven und einen aktiven. Einmal fordert er dazu auf, das Eintreffende willig zu akzeptieren, die Zustimmung zum oder Ablehnung des Geschicks entscheidet darüber, ob es als leicht oder ids schwer empfunden w i r d " . Mit Recht sieht W. Blum hier „am deutlichsten den stoischen Ausgangspunkt Salvians" — in der Annahme des „Unglücks mit seinem freien Willen" 10 °, der wahre Christ entspricht insofern dem Bild des stoischen Weisen 1 0 1 . Der zweite Aspekt der Entsprechung von Wollen und Sein überwindet „die rein stoische Ergebung in das äußere U n h e i l " 1 0 2 . Salvian fordert dazu auf, gerade die Niedrigkeit, die Schwachheit zu wollen, sie freiwillig auf sich zu nehmen. Allein die freiwillige Armut ist verdienstvoll, erzwungene, aus Not entstandene gilt ihm dagegen als „indignissima paupertas" (E 111,24). Daher charakterisiert er die wahren Christen: „Niedrig sind die Gottesfürchtigen, sie wollen es sein; arm sind sie, die Armut erfreut sie; ohne Ehrgeiz sind sie, Ehrgeiz verachten sie; sie werden nicht geehrt, sie fliehen Ehrenbezeugungen; sie trauern, sie begehren zu trauern; sie sind schwach, sie freuen sich ihrer Schwachheit" (G 1,8) 1 0 3 . Es ist selbstverständlich, daß Salvian nicht einem schrankenlosen Voluntarismus das Wort redet. Er selbst sieht diese Gefahr, die aus seinen Sätzen erwachsen könnte und unterscheidet nun zwischen denen die „turpia atque obscena sectantes" und den Gottesfürchtigen (G 1,9). Salvian hält nämlich noch ein weiteres Kriterium für die Unterscheidung von wahrem und falschem Glück bereit. Er nennt es nicht explizit, aber es kommt dort zum „nulli enim . . . beatiores sunt quam qui e x sententia sua atque ex u o t o a g u n t " (G 1,8).
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„ . . . nulli beatiores sunt quam qui h o c sunt quod u o l u n t " (G 1,9). siue enim grauia haec siue leuia, animus tolerantis facit; nam sicut nihil est
tarn leue quod non ei graue sit qui inuitus facit, sie nihil est tarn graue quod non ei qui id libenter exequitur leue esse u i d e a t u r " (G 1,9). 1(*>
W. Blum, Das Wesen Gottes, 3 3 1 .
Dazu M. Pohlenz, Die Stoa I, 1 5 3 f f . , über die Wirkung des Ideals des stoischen Weisen auf die Kirchenväter 1 5 7 . 101
102
W. Blum, Das Wesen Gottes, 3 3 1 .
„Humiles sunt religiosi, hoc uolunt; pauperes sunt, pauperie delectantur; sine ambitione sunt, ambitum respuunt; inhonori sunt, honorem fugiunt; lugent, lugere gestiunt; infirmi sunt, infirmitate l a e t a n t u r " (G 1,8). 103
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
Ausdruck, wo er das vermeintliche Glück der Schlechten abqualifiziert: „In Wirklichkeit sind sie nicht glücklich, denn was sie wollen, sollen sie nicht wollen" (G 1,9) 104 . Es genügt also nicht, so zu sein, wie man will, sondern es tritt eine Forderung, ein Sollen hinzu. Was die Bösen wollen, sollen sie nicht wollen — nicht der Wille ist also die höchste Instanz, sondern eine Forderung, an der sich der menschliche Wille auszurichten hat. Blum erwähnt diese so wesentliche Einschränkung nur nebenbei, es sei ein „Korrektiv" 1 0 5 . Hier handelt es sich aber nicht nur um ein Korrektiv, sondern um ein Durchscheinen der Größe, die die gesamte Theologie Salvians bestimmt: um ein Durchscheinen des Gesetzes, des Willens Gottes, an dem sich alles menschliche Denken, Wollen und Handeln auszurichten hat 1 0 6 . Das, was die Sancti wollen, beschreibt Salvian dagegen im Superlativ. Sie sind glücklicher als alle, weil sie haben, was sie wollen und dieses Wollen mit der Norm, die für alles menschliche Handeln verbindlich ist, übereinstimmt. Zum Wollen tritt damit die Erkenntnis des Guten hinzu, dessen, was man soll. Die wichtige Funktion der Erkenntnis wird darin unterstrichen, daß Salvian die falschen Christen, die um das wahre Glück nicht wissen, als „ignorantes" tituliert (G 1,8) 107 . Erkenntnis und Wille müssen zusammenarbeiten, um zum wahren Glück zu gelangen. Blums Hervorhebung des Willens ist daher zu einseitig und verkürzt Salvians Ansatz 1 0 8 . Fragen wir, warum die wahren Christen Schwachheit und Leiden willentlich auf sich nehmen sollen, so antwortet Salvian einmal mit dem Hinweis auf das Kreuz Christi und die Aufforderung zur Nachfolge, sodann aber mit dem asketischen Grundsatz, die Schwachheit sei die „mater u i r t u t u m " (G 1,9). Nur wer schwach ist, kann heilig leben. Hier zeigt sich eine Form der Leibfeindlichkeit, die Salvian bereits in seinem Brief an Cattura, eine „alumna Christi", zum Ausdruck gebracht hat (Ep V) 1 0 9 . Cattura hat eine langwierige schwere Krankheit durchstanden und befindet sich auf dem Wege der Besserung (Ep V , l ) . Salvian versteht Krankheit wie Heilung als Erweis der Gnade Gottes (Ep V,6). Er spielt nun Stärke des Leibes und Stärke des Geistes als polare Größen geradezu gegeneinander aus: Die „Stärke" des Körpers ist „dem Geist immer feindlich" (Ep V,3) 1 1 0 , 101
re tarnen ipsa beati non sunt, quia quod uolunt nolle debuerant" (G 1,9). W. Blum, Das Wesen Gottes, 330. 106 Zum Gesetzesverständnis Salvians s.o. S. 50—73. 107 Zur Bedeutung von „Wissen" und „Erkennen" bei Salvian vgl. o. S. 53—58. 108 Zur Kritik der Darstellung der Anthropologie Salvians durch W. Blum vgl. o. S. 58, Anm. 40. 109 Die Kemaussagen zu diesem Thema wiederholt Salvian in G 1,16. Er führt sein Selbstzitat mit folgenden Worten ein: „non imprudenter quidam hoc loco dixit"! 110 ,, . . . cuius fortitudo . . . menti semper inimica est" (Ep V,3). 105
Verwirklichung in der Gegenwart: die Religiosi
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„die Schwäche des Fleisches schärft die Kraft des Geistes, . . . die Seele frohlockt über den schwachen Leib gleichsam wie über einen unterjochten Gegner" (Ep V , 4 ) U 1 . Salvian steigert sich dabei bis zu der Formel „je schwächer am Körper, desto reiner im Geist" (Ep V,5) 1 1 2 . Die leibliche Schwachheit wird besonders durch das Aufhören der inneren Versuchungen der „Verlockungen des Fleisches" qualifiziert (Ep V,4—6) — Schwachheit als Mittel der asketischen Zucht, der Keuschheit. Salvian stützt sich bei diesen Aussagen besonders auf verschiedene Paulustexte — in der Schwachheit des Leibes wird der Mönch zum Nachahmer des Apostels 1 1 3 , ja zum „imitator Christi", indem er das Kreuz auf sich nimmt 1 1 4 . Ein weiterer Punkt, in dem die Religiosi vorbildlich für die ganze Christenheit sind, ist ihr Leben in Armut. Der Verzicht auf allen Besitz steht dabei am Anfang aller Askese, ist die Schwelle zum Beginn eines gottgeweihten Lebens, denn dieser Akt bedeutet, eine Last abzuwerfen, ein Hemmnis auf dem Weg zur ungehinderten Nachfolge zu beseitigen. Sie befördern ihren Besitz somit an ihren „künftigen Wohnsitz" und sind darum des künftigen Lohnes würdig (E I,V,4f) 1 1 5 . Als Motivation, die die Männer und Frauen veranlaßt, Gelöbnisse abzulegen und das asketische Leben auf sich zu nehmen, nennt Salvian eine „rationale" Kalkulation, die vor allem Nützlichkeitserwägungen in den Mittelpunkt stellt: „Sagt mir doch, ihr Religiosi alle, ob es irgendeinen Menschen gibt, der nicht alles, was er tut, entweder um seines Heils oder wenigstens um des Nutzens willen t u t " (E 1 1 , 4 6 ) m . „Wir dachten an die Kürze des Gegenwärtigen und an die Ewigkeit des Zukünftigen, wie klein dies ist und wie groß jenes. Wir dachten auch an den zukünftigen Richter und die schwerwiegenden Entscheidungen des furchtbaren Gerichts" ( 4 7 ) U 7 . Salvian malt die Schrecken der Verdammnis und die Freuden der Seligkeit mit effektvollen Worten aus (47f) und schließt: „Dies bedachten wir, dies 111
„Inbecillitas enim carnis uigorem mentis exacuit . . . sed sola exultat anima, laeta corpore a f f e c t o quasi aduersario subiugato" (Ep V,4). 112 „ . . . quanto inbecillior corpore, tanto purior sensu" (Ep V , 5 ) . 113 Ep V,3 nach Gal 5,17 (gleiches Paulus-Zitat in G 1,16. In G 1,15 zitiert Salvian zusätzlich I Kor 9,27. Vgl. zu diesem Thema auch G 1 1 1 , 1 7 - 1 9 . 2 6 . 114 G 111,14f.; VI,28f.; Ε 11,13. 115 Vgl. dazu o. S. 1 4 1 - 1 4 9 . 116 „Dicite mihi, quaeso, omnes religiosi, numquid est ullus hominum qui non omnia quae facit uel salutis suae uel certe utilitatis gTatia faciat?" (E 11,46). 11 7 cogitantes scilicet et praesentium rerum breuitatem et futurarum aeternitatem, quam paruum istud quam grande illud; cogitantes quoque futurum iudicem et tremendi iudicii graues exitus" (Ε II" 4 7 ) .
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
bewogen wir und deshalb flohen wir zur Verehrung und zum Dienst der hl. Religion", unter „protectio ac patrocinium" Gottes (49) 1 1 8 . Angst um das ewige Heil trieb Salvian — wir dürfen den Text durchaus autobiographisch verstehen 1 1 9 — in die Askese. Wie sich die Kleinbauern vor den Nachstellungen des Fiskus in den Schutz des Großgrundbesitzers flüchten („patrocinium"), so flüchtet Salvian, so flüchten die Sancti, vor den Versuchungen in diesem Saeculum in „protectio ac patrocinium" Gottes (E 11,49). Wie die anderen Römer so suchen sie auch Schutz vor Gefahr und Not, nur daß sie sich nicht in menschliche Abhängigkeit begeben, sondern ein Schutzverhältnis mit Gott eingehen, und daher nicht einem habgierigen Herrn verfallen wie die Bauern. Die positive Wertung des Patrocinium, die in aller Kritik der realen Verhältnisse durchklang, erhält von diesem Aspekt her ein besonderes Gewicht 1 2 0 . Wie oben bereits ausgeführt wurde, nehmen die Sancti nicht nur christliche Traditionen auf, sondern sie setzen zugleich den besten Teil der römischen Überlieferung fort und erweisen sich somit zugleich als wahre Christen und als wahre Römer. Christentum und Römertum gehen bei ihnen eine Synthese ein 121 . Dieses hohe Bild, das Salvian von den Sancti entwirft, enthält zugleich die höchste Verpflichtung. Sie laden besonders Schuld auf sich, wenn sie in ihrem Lebenswandel nicht ihren Gelöbnissen entsprechen, sei es, daß sie nicht auf ihren Besitz verzichten 1 2 2 , sei es, daß sie ihr altes Leben unter dem Deckmantel einer angeblichen „conversio" weiterführen und nun nach neuer Ehre und Macht streben (G V,52—55). Die Kritik fällt um so schärfer aus, da sie in einmaliger Weise Repräsentanten des Christentums sind und durch ihre Gelübde gezeigt haben, daß sie Gottes Willen kennen 1 2 3 . Insgesamt laufen Salvians Zielvorstellungen darauf hinaus, aus der Volkskirche eine Gemeinschaft zu machen, die allen Geboten Gottes Gehorsam entgegen bringt und Gott damit in ihrem Leben ehrt, die fast mönchisch lebt und auf allen Besitz verzichtet. Wie dieses Ideal jedoch praktisch durchzuführen wäre, sagt Salvian nicht, er begnügt sich mit der Forderung und 118 „Haec itaque cogitantes, haec contemplantes, ad cultum religionis sacrae officiumque confugimus" (E 11,49). 119 Dafür spricht die Verbform (1. Pers. Plural), auch die Einführung durch „opinor" läßt diesen Schluß zu. 120 So G V,39, vgl. dazu o. S. 109f. 121 So G 1,11, vgl. dazu o. S. 119. 122 Ε II,13f.42ff.; IV,28ff. u.ö.; s. auch Ε Il,37f. (Klerus); dazu o. S. 9 2 - 9 5 . ι 2 3 Die Relativität der Schuld, die das Wissen um die Schuld zum Maßstab hat, wurde im Gegenüber von katholischen Christen und Heiden bzw. Häretikern bereits oben als Besonderheit Salvians herausgestellt (S. 53ff.).
Konsequenzen für den politischen Bereich
157
ihrer theologischen Begründung 124 . Ein Unterschied zwischen Kloster und Gesamtkirche bleibt unangetastet: Salvian bezeichnet die Ehe als erlaubt 1 2 5 , das Gelöbnis der Enthaltsamkeit bleibt eine zusätzliche Leistung, die er nicht verbindlich machen will.
5. Konsequenzen
für den politischen
Bereich
Nach Salvians Konzeption würde eine asketisch-religiöse Reform nicht nur Auswirkungen auf das Privatleben oder auf bestimmte Bereich des öffentlichen Lebens haben. Eine allgemeine Hinwendung zu Gott, eine Buße, würde vielmehr auch auf die politische Lage durchschlagen. Die strenge Erfüllung der Gebote Gottes bringt Lohn mit sich — und in „De gubematione Dei" ist nicht von einem zukünftigen Lohn der einzelnen die Rede, sondern von einem Lohn für das ganze Volk in der gegenwärtigen Geschichte, d.h. konkret von der siegreichen Wende des Geschicks des Imperium Romanum 1 2 6 . In der Dimension der Geschichte stellt Salvian anhand der Germanen diesen Zusammenhang exemplarisch dar: sie vertrauen nicht auf Waffen und Hilfstruppen, sondern auf Gott, und sie siegen 1 2 7 . In einer solchen Buße sieht Salvian die einzige Möglichkeit zu politischem Erfolg. Gott richtet die Welt, und wer sich Verdienste erwirbt, siegt mittels seiner Unterstützung. Gerade weil Salvian keine phasenhafte Weiterentwicklung des Heilsgeschehens postuliert, sondern die Geschichte in kleine Einheiten des Tat-Folge-Schemas aufteilt, gerade darum rechnet er weder mit einem notwendigen Fortbestand des römischen Reiches noch mit seinem notwendigen Ende. Das Geschick Roms wäre durch die „conversio" zu Gott zu wenden. Das asketische Interesse an der Hebung der allgemeinen Moral und an der Durchsetzung des göttlichen Willens in der Kirche und das politische Erneuerungsprogramm sind damit ununterscheidbar verwoben, sind deckungsgleich. Allerdings stimmt die o f t gemachte Beobachtung, daß der Ruf zur Buße in ,,De gubematione Dei" sehr verhalten klingt 1 2 8 , er ist nur selten expli124
G. Lagarrigue, Salvien I (Intr.), 36, meint, Salvian wolle bewußt alle praktischen Fragen offenlassen und sich nur mit Grundsätzlichem beschäftigen. Das mag für „ A d ecclesiam" in gewissem Maße gelten, in der an aktuellen Stellungnahmen überreichen Schrift „ D e gubematione Dei" macht sich dieses Fehlen der Konkretion jedoch als Mangel, als Praxisferne und fehlende Gestaltungskraft bemerkbar. 125 G V , 5 5 . ι » Dazu s.o. S. 4 1 - 4 4 . g VII,39.44.46f. 128 Dazu A. Schaefer, Römer und Germanen, 78—82 („Resignation"); A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 73.
158
Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
ziert. Salvian stellt vorbildliche Büßer dar: König David, der nach dem Urteilsspruch Nathans seine Schuld erkennt, „er demütigt sich, er wird von Reue gequält, er bekennt, er trauert, er bereut und er bittet" (G II, 19) 1 2 9 . Eine direkte Einladung zur Umkehr formuliert Salvian in G V , 5 0 : „Gott ruft uns zur Reue . . . Gott lädt uns zur Verzeihung e i n " 1 3 0 . Buch V endet mit einem dringenden Appell an einen ungenannten Reichen, der aber nur stellvertretend für viele steht: „Du mußt dich ganz selbst aufgeben und mußt umgewandelt werden. Sage dich von dir selbst los, damit Christus sich nicht von dir lossagt, verstoße dich, damit du angenommen wirst von Christus, vernichte dich selbst, damit du nicht zugrundegehst" (G V , 6 1 ) 1 3 1 . Oft spricht Salvian von der notwendigen Besserung der Christen, ohne in einen direkten Appell zu münden. Er führt aus, daß Gottes Handeln einzig dem Zwecke der Bekehrung der Christen dient, Strafe wie unverdiente Verschonung, Krieg und Not wie Zeiten des Friedens, alles soll der Einsicht und der Besserung des Volkes zugute kommen 1 3 2 . Deswegen ereignet sich das Gericht auch so langsam. Geradezu spannend beschreibt Salvian seinen allmählichen Fortgang: „Es wandert von Ort zu Ort, schreitet weiter von Stadt zu Stadt und verwüstet alles" (G V I I , 5 0 ) 1 3 3 . Salvian nennt die einzelnen Etappen: Germanien, Belgien, Aquitanien, Zentralgallien, später Spanien und Afrika. Es ging so langsam vonstatten, „damit, während ein Teil durch den Zusammenbruch vernichtet wurde, der andere durch das Beispiel gebessert würde" (G V I I , 5 0 ) 1 3 4 . Die ethische Besserung, der Gehorsam gegen Gott ist sein politisches Reformprogramm, beides geht bruchlos ineinander über. Die Rückkehr zu den Gesetzen ist für ihn auch die einzige Möglichkeit, die Mißstände innerhalb der Gesellschaft abzuschaffen. In allen Übeln sieht er zunächst und als tiefste Wurzel die Mißachtung des göttlichen Willens. Wird dies abgestellt, wird sich eine Verbesserung auf der ganzen Linie ergeben. Salvian legt sein Konzept oft dar — aber ebenso oft stellt er resignierend fest, daß das erwünschte Ziel, die Besserung, nicht erreicht worden sei 135 . ,, . . . humiliatur, compungitur, confitetur, luget, paenitet, deprecatur" (G 11,19). „Deus enim nos uocat ad paenitentiam . . . deus nos inuitat ad ueniam" (G V , 5 0 ) . 1 3 1 „ . . . exuendus tibi omnino et commutandus es. Abdicare itaque a te ipso, ne abdiceris a Christo; repudia te, ut recipiaris a Christo; perde te ipse, ne pereas" (G V , 6 1 ) . 132 Vgl. o. S. 4 1 - 4 4 . 129
130
„ . . . de loco ad locum pergens, de urbe in urbem transiens, uniuersa uastaret" (G V I I , 5 0 ) . 1 34 sed paulatim id ipsum tarnen, ut, dum pars clade caeditur, pars exemplo emendaretur" (G V I I , 5 0 ) . iss g V I , 4 6 f f . 6 6 f f . 8 2 f f . 9 0 f f . ; V I I , 3 f . 5 0 f f . u.ö. 133
Konsequenzen für den politischen Bereich
159
Weder Friedenszeiten und Wohlergehen, noch Niederlagen und Not k o n n t e n die Christen bisher zur Einsicht bringen. So bleibt Salvian im Wesentlichen die Beschreibung des Untergangs und der Weigerung, sich auf das einzig probate Mittel einzulassen. Und von der Beobachtung her, daß alle Appelle zur Buße bislang ohne Wirkung geblieben sind, beurteilt er auch die Zuk u n f t sehr skeptisch. „Welche H o f f n u n g haben die christlichen Völker noch vor G o t t " (G VI,40) — so bzw. so ähnlich lautet ein stereotyper Ausruf 1 3 6 . „Sie sind schon untergegangen, bevor sie untergehen" (G VI,79) 1 3 7 . „Das römische Reich stirbt oder liegt in den letzten Zügen" (G IV,30) 1 3 8 ; „ R o m „stirbt und lacht" (G VII,6) 1 3 9 . „Fast alle Völker des römischen Staates gehen lieber zugrunde, als daß sie sich bessern" (G VI,82) 14 °. Das ist Salvians Fazi't, das Ergebnis seiner Beobachtungen: Theoretisch ist die Möglichkeit zur Buße und damit zur politischen Erneuerung immer noch gegeben. Die Erfahrung aber lehrt Salvian, an ihrer Realisierung zu zweifeln. Die Strafe Gottes, als Mittel zur Besserung konzipiert — denn G o t t will nicht vernichten 1 4 1 — wird durch die Verweigerung der geforderten Umkehr zur Vernichtungsstrafe. Salvian steht auf dem Grat und blickt in beide Richtungen — und er hat wenig H o f f n u n g , daß die römischen Christen sich ändern. Das dürfte auch der Grund sein, warum er seine Zielvorstellungen nicht so positiv programmatisch formuliert wie in „Ad ecclesiam". J e d o c h will er mit der Beschreibung der Gegenwart und mit der Aufdeckung des hinter allem Geschehen wirksamen Prinzips, das beide Möglichkeiten für die Z u k u n f t noch immer zuläßt, seine Zeitgenossen noch einmal aufrütteln. Daran kann es keinen Zweifel geben. Wozu sonst dieser gewaltige rhetorische A u f w a n d , diese mitreißende, bilderreiche Sprache! Und schließlich darf Salvians eigene Zielangabe aus der Vorrede nicht außer acht gelassen werden. Er hält sein Werk für kirchliche Gebrauchsprosa, zum „ N u t z e n " geschrieben, „Heilmittel" enthaltend, die die „Sinne der Kranken heilen" (G praef 3) 1 4 2 . Nicht neutrale Darstellung, sondern persuasive Prosa, die verändern, verbessern will, auch wenn der Autor angesichts 136 „Quae spes Christianis plebibus ante deum est" (G VI,40); ähnlich G VI,9.96; VII,107; auch V I , 7 9 . 8 2 . 9 0 ; V I I . l f f . 5 0 - 5 2 . 137 „ . . . prius iam perierant quam perirent" (G VI,79). 138 ,, . . . Romana respublica uel iam mortua, uel certe extremum spiritum agens" (G IV,30). 139 „ . . . moritur et ridet" (G VII,6). 140 „ . . . et n o n cunctos ferme Romani nominis populos prius est interire quam corrigi" (G VI,82). ' 4 1 Vgl. o. S. 4 2 f . 142 ,, . . . remedia, quae scilicet n o n tarn otiosorum auribus placeant quam aegrotorum mentibus prosint" (G praef. 3), vgl. o. S. 28f.
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Konkretionen der Geschichtstheologie Salvians
der allenthalben zu konstatierenden Mißstände zu resignieren scheint. Vollständige Resignation hätte ihn, der nicht als Historiker schreibt und nicht als Literat, vom Schreiben abhalten müssen. Man mag vermuten, ob sein langes Schweigen nach der Abfassung von „De gubernatione Dei" nicht der Erkenntnis entsprungen ist, daß seine Appelle, seine Warnungen, ohne Widerhall geblieben sind und sich seine negative, aus der Erfahrung gespeiste Prognose inbezug auf das Imperium Romanum erfüllt hat. Auf ein Problem, das in der Forschung sehr umstritten ist, und das auch bereits in dieser Arbeit angeklungen ist 1 4 3 , muß in diesem Zusammenhang noch eingegangen werden: Hat Salvian in der politischen Auseinandersetzung zwischen Römern und Barbaren Stellung bezogen, und wenn ja, auf welcher Seite hat er sich engagiert? Allein die Tatsache, daß seine Aussagen für ein Engagement auf beiden Seiten Material bieten, mahnt zur Vorsicht gegenüber vorschnellen Festlegungen. Und in der Tat: die vorbildhafte Verwendung altrömischer Exempel, die Trauer um den Zerfall Roms, die Klage über die Abhängigkeit von den Barbaren sprechen für die Parteinahme zugunsten des Imperiums, seine „lirica esaltazione" 1 4 4 der Barbaren, sein Urteil inbezug auf die eindeutige moralische Überlegenheit der Invasoren in allen Vergleichsmomenten sprechen für die gegenteilige Auffassung. Nun hat die Darstellung ergeben, daß sein Interesse bei der Aufdeckung der römischen Mißstände und ihrer Beseitigung liegt, während die Barbaren den dafür nützlichen Kontrast bilden und ihre lobende Hervorhebung weitgehend literarisch zu verstehen ist, allerdings unter Einbeziehung sehr realer Bezugspunkte 1 4 5 . Die über weite Strecken zu beobachtende undifferenzierte Schwarz-Weiß-Malerei soll der Ausbildung eines Problembewußtseins bei seinen Landsleuten und der Erkenntnis ihrer eigenen Situation dienen. Diese Intention ist nicht in Einklang zu bringen mit der Hypothese von Courcelle, Salvian habe sich dem Feind angebiedert in einem politisch besonders kritischen Moment 1 4 6 . Erst recht ist es verfehlt, in der kurzen — und dazu anonymen — Passage über den Gotenkönig Theoderich (G VII, 39) eine Parallele zu Eusebs Konstantin-Verherrlichung zu sehen, wie es E.A. Isichei tut 1 4 7 . 143 Vgl. o. S. 127ff., dort sind auch verschiedene Positionen der Forschung kurz skizziert. ι** M. Pellegrino, Salviano, 222. 14 s Vgl. o. S. 1 2 7 f f . 146 P. Courcelle, Histoire litteraire, 154f.; auch A.-G. Sterzl, Romanus-ChristianusBarbarus, 29, wirft Salvian Opportunismus vor. W Political Thinking, 147.
Konsequenzen für den politischen Bereich
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Weiterführender scheint dagegen folgende Überlegung zu sein. Trotz der so eindeutig negativen Schilderung der Barbaren in der zeitgenössischen Literatur, besonders in den Gebieten die direkt von der Invasion betroffen waren 1 4 8 , kann das Verhältnis von Römern und Germanen nicht so eindimensional als Feindschaft beschrieben werden. Das gilt besonders von den Beziehungen zu den Westgoten, die zwar wechselhaft, aber doch immer vielschichtig gewesen sind. S o weist G. Lagarrigue auf den römischen Einfluß am Hof Theoderichs und seiner Nachfolger hin, auf das Zusammenwirken von Goten und gallischem Adel bei der Erhebung des Avitus zum Kaiser (455) u.a. 1 4 9 . Salvians positive Darstellung der Germanen und die in dieser literarischen Konstruktion doch zum Ausdruck kommende verständnisvolle Beurteilung ihres Handelns erscheint in diesem Kontext nicht mehr so ungeheuerlich, sie wäre vielmehr als literarische Entsprechung zu einer starken politischen Tendenz zu verstehen: eine theologische Hilfsargumentation zum faktisch sich vollziehenden Arrangement der Besiegten mit den Siegern 1 5 0 . Salvian liefert eine Theorie, die diese Zusammenarbeit von Goten und Römern legitimiert: der neue Status quo muß als Ergebnis des göttlichen Gerichts akzeptiert werden, die neuen Herren sind nicht Räuber und Plünderer, sondern Werkzeuge göttlichen Handelns, die ihren Sieg als Lohn ebenso verdient haben wie die Römer die Niederlage als Strafe 1 5 1 . Die Validität dieser Interpretation ist unabhängig von den bewußten Intentionen Salvians, sie berücksichtigt eine Tendenz, die seiner Konzeption innewohnt: die Apologie des Geschichtsverlaufs aufgrund seiner Gleichsetzung mit dem allzeit gerechten Gericht Gottes über die Völker. Der Gefahr, den jeweiligen Status quo zu legitimieren, entgeht Salvian nicht, wenn er die Geschichte auf diese Weise zum alleinigen Schauplatz der entscheidenden Auseinandersetzung von Gott und Menschen macht. 1 4 8 In Afrika etwa Victor von Vita, Historia persecutionis Africanae prouinciae (ed. M. Petschenig) und Q u o d v u l t d e u s , S e r m o de tempore barbarico (PL 5 0 , 698—708, dazu s.u. S. 167—176), in Gallien Sidonius Apollinaris (dazu J . Fischer, Die Völkerwanderung, 132—145 und P. Courcelle, Histoire litteraire, 172—179). 149 Salvien II (Intr.) 42. 1 5 0 Salvien II (Intr.), 4 1 : „le merite de Salvien a du etre, pour b e a u c o u p de ses contemporains, de rattacher ces illusions ä une argumentation theologique qui permettait de justifier toute collaboration avec l'envahisseur". 1 5 1 Nach A.-G. Sterzl, Romanus-Christianus-Barbarus, 4 5 , will Salvian die „politische Situation des Augenblicks programmatisch rechtfertigen", er spricht die typische Sprache der Herrschaftslegitimation durch eine göttliche Instanz. Sterzl hält dies jedoch irrigerweise für die Intention Salvians und bewertet eine solche „politische T h e o l o g i e " „ n a c h modernem E m p f i n d e n " negativ. Auch G. Lagarrigue, Salvien II (Intr.), 4 2 , fragt, o b Salvian ein „partisan du statu q u o " sei.
11
Badewien, Geschichtstheologic
D. Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer christlicher Geschichtsinterpretation und Theologie I. Salvians pragmatischer
Umgang mit der
Geschichte
Wie oben bereits ausgeführt worden ist 1 , stellt sich für Salvian Geschichte nicht als ein vorgeplanter phasenweiser Ablauf dar, sondern als eine Fülle von Tun-Ergehen-Zusammenhängen, die er theologisch als gegenwärtiges göttliches Gericht versteht. Dieses Gericht bringt zu jedem Zeitpunkt gerechte Ergebnisse hervor, man muß die Ereignisse nur richtig interpretieren. Diese Geschichtstheologie findet sich bereits im AT, die zahlreichen alttestamentlichen Belege zeigen, daß Salvian sich dieser Tradition bewußt ist. Vergangenheit wie Gegenwart bieten ein unerschöpfliches Reservoir von Exempeln. Diese sind zeitlos gültig, da sich Gottes Handeln am Menschen auf der Basis seines Gesetzes im Prinzip nicht geändert hat. Einzelne Begebenheiten lassen sich ohne Rücksicht auf ihren besonderen historischen Rahmen lehrhaft übertragen — als Warnung, als Mahnung oder als Vorbild. Die Intention ist pädagogisch, Geschichte wird zur „magistra vitae" 2 : „ex hoc . . . cognosce" (G 11,17) kann Salvian darum seinen Lesern im Anschluß an ein Exempel aus dem AT zurufen. Der historische Ort eines Geschehens in Vergangenheit oder Gegenwart ist ohne Belang, wichtig ist nur die momentane Nützlichkeit für den jeweiligen Argumentationszusammenhang. Die Exempel dienen dazu, eine Aussage zu beglaubigen oder auch erst zu beweisen. Mit seiner Kritik an den Verhältnissen im Imperium Romanum stützt und beweist Salvian die These, die Niederlagen Roms seien gerechtes Gericht Gottes. Seine Lobeshymnen auf die Lebensformen der Goten und Vandalen, in Beispielen expliziert, beweisen, daß ihre Siege der von Gott verliehene, gerechte Lohn sind. Die Exempel bilden nicht
ι S. o. S. 45ff. 2 Der Terminus stammt von Cicero, De oratore 11,9,36 (ed. Sutton Bd. 1, S. 2 2 4 ) , ein Geschichtsverständnis, das sich der einzelnen Begebenheiten der Vergangenheit in pädagogischer Absicht bedient, nennt man pragmatisch oder auch paradigmatisch (vgl. K. Stierle, Geschichte als Exemplum, 358f.). Zum Fortwirken dieses Terminus bis in die Neuzeit vgl. R. Koselleck, .Historia magistra vitae'. Ober die Auflösung eines Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte.
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Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer Theologie
nur einen Redeschmuck der ohne Schaden fehlen könnte, sondern sie belegen eine These und machen sie erst überprüfbar3. Diese Verwendung des Beispiels übernimmt Salvian aus der Rhetorik. Dort wird dem Exempel eine dreifache Funktion zugesprochen: es dient als Mittel gegen die Ermüdung der Hörer, als Schmuck und als Beweis 4 . Schon Quintilian empfiehlt daher einem Rhetor, stets so viele Beispiele wie nur möglich zur Hand zu haben 5 . Die Möglichkeit, Vergangenes als Beispiel für Gegenwärtiges oder gar Zukünftiges zu aktualisieren, setzt voraus, daß zwischen der damaligen und der jetzigen Situation eine Kontinuität besteht. Ein Exemplum verdeutlicht „einen Zusammenhang von Situation und Ausgang der Situation, der als immer wiederkehrender von allgemeiner Bedeutung ist" 6 . Für Salvian besteht das Kontinuum, das dem Vergangenen seine pädagogische Bedeutung für die Gegenwart und dem Gegenwärtigen seine richtungsweisende Funktion für die Zukunft zukommen läßt, im Willen Gottes, im Gesetz und in Gottes richterlichem Handeln: „Auf diese Weise und in diesem Gericht handelt Gott jetzt und hat er immer gehandelt" (G 1,50) 7 . Ein Blick auf die heilsgeschichtlich orientierten Entwürfe von Orosius und Augustin zeigt, wie sehr sich Salvians Verwendung der Geschichte als Paradigma von dem unterscheidet, was gerne als die typische christliche Geschichtstheologie angesehen wird 8 . Auch Orosius 9 und Augustin 10 3 Diese grundlegende Bedeutung des Exempels wird verkannt, wenn es nur als Mittel der Illustration bezeichnet wird (so G. Sternberg, Christentum, 37). 4 J . Martin, Antike Rhetorik, 119—124, bes. 119; M. Fuhrmann, Das Exemplum in der antiken Rhetorik, 451. 5 Institutio oratoria X , l , 3 4 (ed. Rahn Bd. 2, S. 444): „est et alius ex historiis usus et is quidem maximus . . . ex cognitione rerum exemplorumque, quibus in primis instructus esse debet orator"; vgl. dazu auch K. Stierle, Geschichte als Exemplum, 358. 6 So K. Stierle, Geschichte als Exemplum, 358. 7 „Hac igitur ratione atque iudicio omnia deus et nunc agit et semper egit" (G 1,50). 8 So z.B. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 168ff.; F. Vittinghoff, Zum geschichtlichen Selbstverständnis der Spätantike, 535ff. 9 „Adversus paganos" (ed. C. Zangemeister); dazu K. Schöndorf, Die Geschichtstheologie des Orosius; K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 160—167; A. Lippold, Orosius, christlicher Apologet und römischer Staatsbürger; H.-J. Diesner, Orosius und Augustinus; F. Paschoud, Roma aeterna, 276—292; E. A. Isichei, Political Thinking 90—97; Einen Vergleich zwischen Salvian, Orosius und Augustin führen durch: M. Pellegrino, Salviano, 2 1 1 - 2 2 8 und M. Iannelli, La caduta, 1 3 7 - 1 4 7 . 10 Civ (CChr. SL 4 7 / 4 8 ) ; dazu W. Kamiah, Christentum und Selbstbehautpung; K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 148—159; F. G. Maier, Augustin und das antike Rom; A. Wachtel, Beiträge zur Geschichtstheologie des Aurelius Augustinus; P. Brown, Augustine of Hippo, 2 9 9 - 3 1 2 .
Salvians pragmatischer Umgang mit der Geschichte
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verwenden Ereignisse aus Vergangenheit und Gegenwart als Exempel, beide können auch vom gegenwärtigen Gericht sprechen 1 1 , doch geschieht das mehr beiläufig und mit starken Einschränkungen, eine andere Vorstellung dominiert: sie verstehen die Geschichte als Procursus von der Schöpfung bis zum Eschaton, planmäßig von Phase zu Phase fortschreitend. Die verschiedenen Schemata 1 2 , die zur Einteilung der Geschichte bzw. der in oder neben ihr sich vollziehenden Heilsgeschichte herangezogen werden, machen diesen Ablauf-Charakter sehr deutlich. Ob die Geschichte in Weltalter gegliedert wird oder entsprechend den Schöpfungstagen in sechs Perioden — entscheidend ist, daß ein göttlicher Plan vorliegt und abläuft, ohne daß eine menschliche Einflußnahme auf die Ereignisse im Großen möglich wäre. Die einzelnen Perioden können charakterisiert und der Platz der Gegenwart im ganzen Gefüge kann bestimmt werden. Katastrophen und Kriege indizieren den jeweiligen Ort der Gegenwart auf der Skala zwischen Anfang und Ende, das Verhalten der Völker trägt zur Standortbestimmung bei, es ist aber nicht entscheidend für die Gestaltung der Zukunft. Das ist bei Salvian grundlegend anders. Auch für ihn wird, wie oben gezeigt worden ist 1 3 , die Welt von Gott gelenkt, doch dieses Lenken ist ein Richten aufgrund der Verdienste der Völker, aufgrund ihres jeweils aktuellen Verhaltens. Salvian muß darum nicht eine kontinuierliche Geschichtsdarstellung geben, um die Gegenwart erklären zu können, die Gegenüberstellung von Gesetz und Lebensweise der Zeitgenossen reicht für ihn im Grunde aus. Das Fehlen des heilsgeschichtlichen Phasenschemas darf nicht dazu verführen, Salvians Denken als unhistorisch zu bezeichnen. Auch wenn er keinen Procursus auf ein zukünftiges Ziel hin postuliert, so versteht er doch die Gesamtheit aller Begebenheiten von einer Mitte her. Der „deus iudex" und sein im Gesetz offenbarter Wille sind Zentrum und Movens der Geschichte, die damit nicht in eine zufällige Ereignisfolge zerfällt. In der Konzentration auf den richtenden Gott sieht Salvian die Einheit aller Tun-ErgehenZusammenhänge gewährleistet, sie alle unterliegen dem gleichen Gesetz. Da mit diesem Gesetz eine ethische Forderung verbunden ist, koinzidieren an diesem Punkt Geschichte und Moralphilosophie 14 , n Dazu s.o. S. 47f. 12 Zu diesen Schemata und ihren Traditionen vgl. Κ. H. Schwarte, Die Vorgeschichte der augustinischen Weltalterlehre; B. Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen; zur Tradition des Lebenslaltergleichnisses: R. Häußler, V o m Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs; auch A. Demandt, Zeitkritik und Geschichtsbild im Werk Ammians, 118—147. 13 S.o. S. 3 I f f . 14 Diesen Zusammenhang stellt K. Stierle, Geschichte als Exemplum, 3 5 8 , heraus.
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Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer Theologie
Der Blick auf den Richtergott und die Kontinuität seines Handelns macht dann nur die eine Seite des Geschichtsverständnisses aus. Die Verantwortung für den Ablauf der Ereignisse liegt nämlich wesentlich bei den Menschen. Trotz der Einschaltung der Institution des göttlichen Gerichtes ist die freie Entscheidung der Völker für oder gegen den Willen Gottes für die weitere Zukunft ausschlaggebend. Darum kommt in Salvians Konzeption der Weltgeschichte als Weltgericht dem Lebensvollzug der Völker so hohe Bedeutung zu. Erst die Analyse des Verhaltens des Volkes, gemessen an den Forderungen des Gesetzes liefert die grundlegende Einsicht in das weitere Schicksal der Römer. Salvian setzt dabei die Freiheit der Entscheidung zum Guten oder zum Bösen voraus, auch wenn er sie nur selten explizit einspricht 15 . Da Salvian in einer Zeit des politischen Niedergangs lebt, ist es ihm mit diesem Ansatz möglich, gerade die Mißstände, die Schwächen von Staat und Gesellschaft aufzudecken und anzuklagen. Er hat damit ein Instrumentarium, mit dem er der Realität Rechnung tragen und zugleich die christliche Lehre von der Fürsorge Gottes für die Welt verteidigen kann, ohne die gegenwärtige Notlage bagatellisieren zu müssen (wie Orosius) und ohne Heilsgeschichte und Weltgeschichte voneinander trennen zu müssen (wie Augustin). Salvian ist von seinem Ansatz her zu einer unnachsichtigen Kritik der eigenen Gesellschaft befähigt — ja geradezu gezwungen. Seine Grenzen liegen dort, wo Nuancen und Differenzierungen am Platze wären — für sie hat er in seiner Konzeption keine Verwendung. Es gibt nur ein Entweder-Oder. Die Sieger sind gut, die Verlierer böse — und da Sieg und Niederlage eindeutig zuzuordnen sind, verteilt er auch gut und böse klar auf die Kontrahenten. Seine Not mit der Realität hat Salvian nicht bei der Kritik der eigenen Gesellschaft, auch wenn sie zu pauschal geraten ist, sondern mit der positiven Schilderung der Sieger, der Germanen. Andere Autoren, die ebenfalls die Invasion als Gottesgericht verstehen, verzichten darauf, auch die Erfolge der Barbaren als verdient hinzustellen, sie beschränken sich ganz auf das Geschick der Römer 1 6 . Salvian versucht jedoch, auch diesen Aspekt zu bewältigen. Oben ist ausgeführt worden, daß er dabei wohl mehr auf traditionelle Topoi zurückgegriffen hat als auf reale Verhältnisse 17 , so daß der erreichte scharfe Kontrast eher eine literarische Konstruktion als eine realitätsgerechte Schilderung ist.
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So — allerdings inbezug auf den einzelnen — Ε 1,7; vgl. dazu S. 179ff. «« S.u. S. 167ff. " S.o. S. 127ff.
Vergleich mit zeitgenössischen gallischen Autoren
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Salvians Interpretation der Weltgeschichte als Manifestation des gegenwärtigen Weltgerichts in der spezifischen Verbindung mit der harten Sozialkritik ist damit zu einem Gutteil Produkt der spezifischen historischen Situation, hervorgebracht auf dem Boden einer stark asketisch ausgerichteten Theologie, deren zeitgenössischen Beziehungen in den folgenden Kapiteln noch nachgegangen werden soll.
II. Vergleich mit zeitgenössischen
gallischen
Autoren
Im Vergleich Salvians mit anderen Autoren seiner Zeit, die ebenfalls in Gebieten lebten, die von Barbaren b e d r o h t oder bereits besetzt waren, zeigt sich besonders deutlich, wo er Gedanken a u f n i m m t , die zu seiner Zeit Allgemeingut waren und wo sein eigenständiger Beitrag im Verstehen seiner Gegenwart liegt. Parallelen und Kontraste gibt es in reichem Maße. Dennoch bleibt der Versuch, Salvians eigene Position im Gegenüber zu anderen gallischen Schriften zu profilieren, fragmentarisch, weil eine Kombination der bei ihm vorherrschenden Elemente, nicht ein zweites Mal zu finden ist. Die anderen in diesem Zusammenhang interessanten Werke, die uns überliefert sind, sind wesentlich kürzer und decken jeweils nur einzelne Aspekte der Ausführungen Salvians ab. Schon unabhängig von inhaltlichen Untersuchungen kann man daher feststellen, daß Salvians Werk in der Fülle seiner Aspekte und in ihrer Verbindung kein Pendant in Gallien h a t 1 . a) Die Interpretation der Barbareninvasion als Strafgericht Gottes über die Sünden der Christen ist nicht unüblich. Das „Epigramma S. Paulini" 2 betont den Vorrang der inneren Verwüstung vor der äußeren. Es tadelt Trunksucht (v. 33f), Ehebruch (v. 35f), Neid (36), Ehrgeiz (v. 37f), Habgier (v. 39), Geiz (v. 41), die in den Augen des Verfassers nutzlose und an Gottes Geheimnisse rührende Erforschung der Natur (v. 46—51), Luxus und Eitelkeit der Frauen (v. 61—73) und schließlich die Theater (v. 76ff). Der Verfasser beklagt, daß diese „innere Seuche und der unermeßliche Krieg" (v. 15f) weder erkannt noch beseitigt wird: „Eher säubern wir 1
Als Materialsammlung, in der auch kleinste gallische Zeugnisse zur Völkerwanderung gesammelt und kurz dargestellt sind, sei J . Fischer, Die Völkerwanderung, genannt; vgl. aber auch P. Courcelle, Histoire litteraire, und E. Griffe, La Gaule chretienne II. 2 In: Poetae Christiani minores I (ed. Schenkl), 503—508. Das Gedicht ist etwa um 4 0 8 in Gallien entstanden (so Schenkl in seiner Einleitung S. 5 0 1 ) . Das „Epigramma S. Paulini" wird mit Salvian verglichen von E. Bordone, La societä, 332—334.
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Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer Theologie
den Weinstock . . . und erneuern das zerbrochene Fenster, als daß wir die weiten Felder der Seele und das Haus des Herzens pflegen" (v. 26—28) 3 . Wie Salvian hält auch Paulinus es für besonders verwerflich, daß sich an diesen Lastern trotz der äußeren Not, die von Gott als Mahnung zur Buße gesandt worden ist, nichts geändert hat: „Die wir gewesen sind, sind wir jetzt immer noch, wir bleiben unter denselben Lastern ohne Ende der Schuld" (v. 31f) 4 . Wie Salvian sieht auch Paulinus einen direkten Zusammenhang zwischen den Gesetzesübertretungen und dem politischen Niedergang, der die Gegenwart kennzeichnet: „Der Feind wütet überall in dem turbulenten Wirbel: es ist kein Wunder, daß die von ihm Unterworfenen auch im Kriege besiegt werden" (v. 87f) 5 . Wären andererseits die Christen frei von Verfehlungen, „dann wäre keine Macht stark gegen die Diener Christi" (v. 93) 6 . Ähnlich klingt es im „Carmen de Providentia divina", einer anonym überlieferten Schrift, die wie „De gubernatione Dei" Zweifler von der überall sich erweisenden Weltregierung Gottes überzeugen will 7 . Der Verfasser entfaltet zunächst die Frage seiner Zeitgenossen anhand der Not, die durch Goten und Vandalen verursacht worden ist, er spricht vom Sterben unschuldiger Kinder (v. 43f), von der Vergewaltigung geweihter Jungfrauen (v. 47), von der Ermordung von Witwen (v. 48) und von Eremiten (v. 49) und faßt die Ereignisse zusammen: „Die gleichen Wirren treffen Gute und Böse" (v. 52) 8 . Der Autor beginnt seine Apologie des göttlichen Handelns mit dem Hinweis auf die übergroße Zahl von Ungerechten, er spricht von Gewalttätigen, Geizigen, Ungläubigen, Spöttern. Falschheit triumphiert vor Gerichten, Fromme werden verspottet und Lästerer entweihen die Kirchen (v. 79ff). Die Wurzel allen Übels erblickt er in den „ungläubigen Herzen",
3
„Ac prius est uitem purgare aut fractam renouare fenestram quam latos campos animae et praetoria cordis excolere (v. 26—29, ed. Schenkl S. 504). 4 fuimus qui, nunc semper sumus isdem sub uitiis nullo culparum fine manentes" (v. 31 f., S. 504). 5 „Unus ubique hostis diffuso turbine saeuit: nec mirum est uinci belli terrore subactos" (v. 87f., S. 507). 6 „ . . . adversus Christi famulos uis nulla ualeret" (v. 93, S. 507). 7 PL 51, 617—638; dieses Werk wurde lange Prosper Tiro zugeschrieben trotz seiner pelagianisierenden Tendenzen, heute gilt es als anonym (vgl. B. Altaner, A. Stuiber, Patrologie, 451), inbezug auf die Aussagen zur Völkerwanderung wurde es ausgewertet von J. Fischer, Die Völkerwanderung, 163—166; E. Bordone, La societä, 334, hat es im Zusammenhang mit Salvian untersucht. 8 „Idem turbo bonos sustulit atque malos" (v. 52, PL 51, Sp. 618B).
Vergleich mit zeitgenössischen gallischen Autoren
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sie richten mehr Schaden an als die „skythischen Waffen" (v. 89f) 9 . Nachdem er dann ausführlich Gottes Heilshandeln in Schöpfung, Bewahrung des Volkes Israel und in Leben und Werk Jesu Christi dargestellt hat, kommt der Verfasser auf die Ausgangsfrage zurück und mahnt, nicht durch ungerechtfertigte Klagen über das Gericht den Zorn Gottes zu erwecken (v. 931—933). Das durch eigene Schuld verwüstete Innere sollte Anlaß zur Klage sein, nicht der erlittene Verlust an äußerlichen Dingen: „Könntest du nicht mehr über die eigenen Schäden Tränen vergießen, wenn du eher in das verwüstete Innere deines Herzens schauen würdest?" (v. 915—917) 10 . Der Anfechtung durch das gleiche Geschick von Guten wie Bösen begegnet er mit dem Hinweis auf die auf Erden unaufhebbare Vermischung von Guten wie Bösen, denen ja auch in gleicher Weise Sonne und Regen usw. zugeteilt werden (v. 816—819). Doch was nach außen für beide gleich aussieht, ist in Wirklichkeit grundlegend verschieden: für die Bösen ereignet sich Gericht, wo die Guten im Leiden die Krone des Lebens empfangen (v. 898—900) n . Auch der Bischof Orientius von Auch 1 2 , der anonyme Verfasser der 25. ps. eusebianischen Predigt 13 und der Bischof Quodvultdeus 14 von Karthago nennen die Verfehlungen der Christen als die eigentliche Ursache für die Not der Zeit. Orientius sieht das Grundübel in der Habsucht und tadelt daneben die üblicherweise in Bußpredigten angesprochenen individuellen Vergehen 15 . Die ps-eusebianische Predigt klagt allgemein über den 9
„Nec tantus dolor est Scythicis consumier armis, Quantus ab infidis cordibus ista seri" (v. 89f., PL 51, Sp. 619B). 10 „Nonne magis propriis posses lacrymas dare damnis/Si potius vastata tui penetralia cordis/Inspiceres" (v. 9 1 5 - 9 1 7, PL 51, Sp 637C). 11 „Namque eadem cunctos exercent tela fideles, Sub duplici causa; dum quo torquentur iniqui, Hoc sancti crescunt; et quod poenam attulit illis Pro culpa, hoc istis dat pro virtute c o r o n a m " (v. 8 9 7 - 9 0 0 , PL 51, Sp 637B). 12 „Commonitorii libri II", (ed. R. Ellis), in: Poetae Christian! minores I, 205—243; das Verhältnis zu Salvian behandeln E. Bordone, La societä, 334 und M. Iannelli, La caduta, 1 1 8 - 1 2 2 . 13 In: Eusebius ,Gallicanus' (= Ps-Eusebius Emisenus), Collectio homiliarum I (ed. Glorie), 295—298. (Nach der alten Zählung handelt es sich um die 24. Homilie). 14 „Sermo de tempore barbarico" (ML 50, 699—708). Quodvultdeus wird wegen seiner großen Nähe zu Salvian in einigen Details mit herangezogen, obwohl er geographisch aus dem Rahmen fällt. Seine Situation läßt sich aber durchaus mit der der gallischen Autoren vergleichen. Die Verfasserfrage für diesen Sermon ist nicht ganz geklärt (vgl. B. Altaner, A. Stuiber, Patrologie, 449). P. Courcelle, Histoire litteraire, votiert für Quodvultdeus als Verfasser (126—133, dort auch weitere Literatur!). 15 „De lasciuia" (I,320ff., ed. Ellis, S. 2 1 6 - 2 2 1 ) , „de inuidia" (I,457ff., S. 221f.), „de auaritia" (I,483ff., S. 222—228, Habsucht ist „radix causa caput fons et origo mali", 490), „de uana laude" (II,13ff., S. 228f.), „de cauendo mendacio" (11,41-44, S. 229), „de gula" (II,45ff„ S. 229f.), „de ebrietate" (II,5Iff., S. 230).
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Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer Theologie
Mangel an Vollkommenheit und rühmt — wie Salvian — die Milde des Gerichts, das mehr Bewahrung gezeigt habe als Strafe und Vernichtung 16 . Quodvultdeus kritisiert in seinem „Sermo de tempore barbarico" vor allem die Vergnügungssucht der Karthager in ihrer bereits belagerten Stadt — mit Worten, die Salvians diesbezüglichen Abschnitten so ähnlich sind, daß Courcelle hier eine Vorlage für Salvian vermutet 17 . Pointiert formuliert Quodvultdeus: „Nicht von den Feinden, nicht von den Barbaren, sondern durch sich selbst wird jeder Mensch in seiner Seele innerlich getötet" 1 8 . Und ganz im Tone Salvians klagt er pauschal alle an: „Nullus est excusatus" (I, 1; Sp. 700). Im Vergleich all dieser Positionen mit Salvian fällt auf, daß die Ursache des Leidens zwar bei allen in den Gesetzesübertretungen gesehen und Gottes Handeln daher gerechtfertigt wird. Die Übertretungen selbst beschränken sich aber auf die rein individuellen Sünden. Die sind zwar bei Salvian auch angesprochen, aber hinzu tritt bei ihm die Kritik der sozialen Verhältnisse, der ungerechtfertigten Machtpositionen der Reichen, der Verarmung der breiten Masse durch das Steuersystem usw. b) Während Salvian darauf verzichtet, die gegenwärtige Lage heilsgeschichtlich einzuordnen, setzen viele Zeitgenossen sie in unmittelbare Beziehung zum nahen Weltende. So etwa der mit Salvian eng verbundene Eucherius von Lyon: „Wir sagen, der Reichtum der Welt sei zerstört, wo doch die Welt selber sich schon ihrem Ende zuneigt und in den letzten Zeiten verrinnt" 19. Hungersnöte, Seuchen, Verwüstung, Kriege und andere Schrecken der Gegenwart signalisieren ihm, daß die Welt ihr Greisenalter erreicht hat. Auch Vincenz von Lerinum, ebenfalls aus Salvians Umgebung, redet von der „schrecklichen Erwartung des göttlichen Gerichts" 20 . Die Verknüpfung von Enderwartung mit dem sichtbaren Zusammenbruch des Reiches tritt bei Quodvultdeus besonders signifikant in Erscheinung. 16
„Interrogemus conscientias nostras: si aliquem in nobis deus profectum post castigationem primae hostilitatis inuenerit" (S. 296, ed. Glorie, S. 32f.). „Aduerte circa te indulgentiam singularem domini dei tui: sub tantis malis non crudeliter derelictus, sed salubriter humiliatus es" (S. 297, 67—69). 17 sanguis hominum quotidie funditur in mundo, et insanientium voces crepitant in circo" (1,1; PL 50, 700). Vgl. dazu Salvians Ausführungen G VI,69; zu beiden Stellen P. Courcelle, Histoire litteraire, 155 Anm. 1. 18 „Nec ab hostibus, nec a barbaris, sed a se ipso omnis homo in anima se intus occidit" (IV,5; PL 50, 703). 19 „Dissipatas loquimur opes mundi, cum iam ipse mundus in finem suum vergens spatiis agatur extremis" („De contemptu mundi", PL 50, 722C), dazu J. Fischer, Die Völkerwanderung, 114f. 20 ,, . . . adpropinquantis diuini iudicii terribilis quaedam exspectatio (Commonitorium I, ed. Jülicher, S. 1, 15f.), dazu J. Fischer, Die Völkerwanderung, 114.
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Zwar bezeichnet er die Barbarenherrschaft als einen „Wind", der bald vorübergehen wird 2 1 , doch drängt er zur Buße mit dem Ruf; „Dominus in proximo est" 2 2 . c) Es ist aufffällig, wie wenig sich die hier behandelten Schriften mit den Barbaren befassen. Sie erscheinen zumeist nur am Rande, als Verwüster, Plünderer und Mörder 2 3 sowie als Protagonisten des Arianismus 2 4 . Die Apologie des göttlichen Handelns durch Kritik am Leben der Christen entspricht zwar — zumindest in der Richtung — den Ausführungen Salvians, die bei diesem so klar durchgeführte Konsequenz, nämlich die Rechtfertigung der Erfolge der Germanen mit ihrer ethischen Überlegenheit fehlt dagegen völlig. Die Barbaren werden nicht als Menschen gesehen, die vor Gott mit den.Römern auf einer Stufe stehen und daher mit ihnen konkurrieren können — sie sind Werkzeuge Gottes zur Aufrüttelung der christlichen Römer, sonst nichts. Zwei Ausnahmen von diesem Schema verdienen jedoch Beachtung. Die ps-eusebianische Predigt 25 könnte auf die milde Behandlung der Besiegten durch die Sieger anspielen: Er „kommt mit römischem Sinn zu dir, den du für einen Barbaren hältest — und die von allen Seiten eingeschlossene römische Barbarei weiß nicht zu Gebeten Zuflucht zu nehmen, durch die sie den Stärkeren unterwerfen k ö n n t e " 2 5 . Gerade der Nachsatz zeigt aber, wie sehr der Prediger von der eigentlichen Vorrangstellung der Römer ausgeht: bei entsprechendem Verhalten stünde ihnen der Sieg zu. Als weitere Ausnahme sei auf die 2 Bücher „De vocatione omnium gentium" verwiesen, die den göttlichen Heilswillen als Movens der Geschichte herausstellen. Sinn der gegenwärtigen Umwälzungen ist es danach, die Barbaren mit dem Christentum bekannt zu machen, um auch ihnen die Rettung zu ermöglichen. Der Autor, möglicherweise Prosper Tiro, vertritt eine radikale Prädestinationslehre und hebt sich damit theologisch stark von den anderen hier vorgestellten Schriften ab, in denen die menschlichen Möglichkeiten, durch Buße zum Heil zu gelangen, betont werden. Nach „De vocatione" will Gott zwar das Heil aller, doch sind die zur Rettung
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„Sermo de tempore barbarico" IV,5 (PL 50, 703). „Sermo de tempore barbarico" IV (PL 5 0 , 7 0 3 ) . 23 „Carmen de Providentia divinia" v. 2 3 f f . (PL 51, Sp. 61 7f.); „Epigramma S. Paulini" v. 10—14 (ed. Schenkl S. 5 0 4 ) ; 18f.: „quid uastauit Sarmata, si quid Vandalus incendit ueloxque abducit Alanus" (ed. Schenkl, S. 5 0 5 ) . 24 Quodvultdeus, „Sermo de tempore barbarico" VIII,9f. (PL 50, Sp. 706). 25 „ . . . et tarnen romano ad te animo uenit qui barbarus putabatur, et ex omni parte conclusa romana barbaries, nec ad preces confugere nouit quibus humiliet fortiorem" (ed. Glorie 2 9 6 , 4 8 - 5 0 ) . 22
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Salvians Ort im S p e k t r u m zeitgenössischer Theologie
Vorgesehenen bereits vor aller Zeit auserwählt 26 . Diese göttliche Erwählung erstreckt sich auch auf die Barbaren, zu ihrer Realisierung wurde die Invasion in Szene gesetzt 2 7 . Die Unterschiede zu Salvians Schilderungs der Barbaren sind nicht zu übersehen, es fehlt vor allem auch jede Bemerkung über die bei ihnen herrschenden Verhältnisse, über ihre Lebensweise — das alles ist für den Autor von ,,De vocatione" nicht wichtig, ihm reicht der theoretisch-dogmatische Lehrsatz. d) Alle hier behandelten Schriften charakterisiert ein asketischer Grundzug — bezeichnenderweise mit Ausnahme von „De vocatione". Die Unsicherheit der Zeit, die Erfahrung des Verlustes von Menschen und Besitz führt diese Männer zu einer Geringschätzung äußerer Werte. „Ein weiser Diener Christi hat nichts an den Dingen verloren, die er verachtet hat, er hat sie bereits früher in den Himmel überstellt", heißt es im „Carmen de Providentia divina" (v. 908f) 2 8 . Zwar erklärt der Verfasser nicht genauer, was er unter diesem „Transfer in den Himmel" versteht, die Terminologie erinnert jedoch sehr an Salvians Aufforderung zum totalen Besitzverzicht, den er als Umtausch zeitlicher Güter in ewige versteht 29 . Auch Paulinus preist die „nicht kleine Schar von Guten", die „vielen Unsträflichen . . . denen ich gleich sein will" 3 0 . Eucherius und Vincentius rühmen die Ruhe des Klosters, das Schutz vor den Stürmen der Zeit gewährt 31 und auch Orientius und Quodvultdeus raten zur Askese 3 2 oder zumindest zur Buße 3 3 . M „ O m n e s q u e adoptionis filios non solum in eo tempore quo iam existentes vocati sunt, sed etiam priusquam mundus constitueretur, e l e c t o s " ; ,, . . . in Christo ante saecula aeterna p r a e e l e c t a " (11,33; PL 51, Sp. 7 1 8 C / D ) . 2 7 Vgl. 11,33; dazu auch oben Anm. 75 zu S. 131. 2 8 „ S e d sapiens Christi servus nil perdidit h o r u m / Q u a e sprevit, coeloque prius translata l o c a v i t " (v. 9 0 8 f . ; PL 51, Sp. 6 3 7 C ) . » S.o. S. 141 ff. 3 0 „ A t t a m e n in uestro p o p u l o non rara b o n o r u m turba uiget multosque pios ecclesia nutrit. Sunt plane insontes multi, pater optime, q u o r u m esse uelim similis (v. 9 6 - 9 9 , ed. Schenkl, S. 5 0 7 ) . 3 1 Eucherius, De c o n t e m p t u mundi (PL 50, 7 2 6 C ) , dem Sinne nach auch De laude heremi 4 2 (ed. Wotke, S. 192, 15—22); Vincentius, C o m m o n i t o r i u m I (ed. Jülicher, S. 2,5); Cassian, Coli praef (ed. Pichery Bd. 1, S. 75). 3 2 C o m m o n i t o r i u m I , 3 1 5 f . (ed. Ellis, S. 2 1 6 ) : „carnis uitiis et tempore u i c t i " und unter Hinweis auf ewigen L o h n bzw. Strafe: „quare post m o r t e m sequitur si uita perennis, laetificans iustos discruciansque r e o s " . 3 3 „ S e r m o de tempore b a r b a r i c o " VII,8 (PL 5 0 , Sp. 7 0 5 ) : „ N u n c vero q u o n i a m tempus est exhortari omnes ad poenitentiam, ut filii errantes revertantur". Diese A u f f o r d e r u n g erfolgt im Rahmen einer Auslegung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn.
Vergleich mit zeitgenössischen gallischen Autoren
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Die Zuwendung zur Askese aufgrund materieller Not scheint in jener Zeit nicht ungewöhnlich gewesen zu sein und er galt keineswegs als verächtlich. Das zeigt am deutlichsten die 3. Unterredung aus den „Collationes" von Cassian. Der Abt Paphnutius nennt drei Zugänge zur Askese: direkte Erleuchtung durch Gott, Einfluß von Menschen und schließlich Hinwendung aus Not. Zur dritten Art gehört neben dem Erleben von Todesgefahr und dem Verlust von Angehörigen auch der Besitzverlust: Wer im Wohlstand der Askese fremd gegenüberstand, findet in der Armut ihre Vorzüge. Cassian zieht den Vergleich zu Israel, das in Feindeshand zu Gott schreit und einen Retter gesandt bekommt. Und er fügt hinzu, daß auch „aus der dritten Reihe, die die unterste und laueste zu sein scheint, vollkommene Männer" hervorgegangen sind 3 4 . Ein Musterbeispiel dafür dürfte Paulinus von Pella sein, der durch die Barbareninvasion seine Familie und seinen großen Besitz verloren hatte und als Asket seinen Lebensabend in Marseille verbrachte 3 5 . Auch die Tatsache, daß viele Mitglieder der Mönchsgemeinschaft von Lerinum aus Nordgallien geflohene Mitglieder der besitzenden Schicht waren 3 6 , zeigt, wie sehr die äußere Bedrängnis die Hinwendung zur Askese begünstigt hat. Der kurze Überblick über einige nahezu zeitgleiche Versuche, die Zeitgeschehnisse zu interpretieren, hat folgende Ergebnisse gebracht: Wie Salvian verstehen auch andere die Völkerwanderung als Gericht Gottes, als Strafe über die sündige Christenheit. Wie Salvian beteuern sie, Gott wolle nicht vernichten, sondern bessern, sie sehen aber zugleich, daß Besserung im Leben der Christen nicht eingetreten ist. Wie Salvian rufen sie zur Askese, zum Loslassen der irdischen Dinge, wie Salvian haben sie — so weit Biographisches bekannt ist bzw. erschlossen werden kann — diesen Schritt selbst vollzogen 37 . Diese Entsprechungen zeigen, wie sehr Salvian Exponent einer breiten Zeitströmung gewesen ist. 34
Coli III,4f. (ed. Pichery Bd. 1, 142f.): „Tertio uero uocationis modus est qui ex necessitate descendit, c u m diuitiis mundi huius uel uoluptatibus obligati ingruentibus repente temptationibus, quae uel mortis pericula comminantur uel amissione bonorum ac proscriptione percutiunt uel carorum morte conpungunt, ad deum, quem sequi in rerum prosperitate contempsimus, saltim inuiti properare conpellimur." nonnumquam tarnen inuenimus etiam de tertio gradu, qui infimus uidetur ac tepidus, perfectos uiros ac spiritu feruentissimos extitisse". 35 Eucharisticos (ed. Brandes) in Poetae Christiani minores I, S. 291—314. Zum Aufenthalt in Marseille v. 5 2 0 f . (S. 3 1 1 ) . 36 Dazu F. Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich, 49—58; dazu auch o. S. 16f. 37 Sowohl Eucherius als auch Prosper lösten ihre Ehen auf, Vincentius war Mönch auf Lerinum, Orientius und Quodvultdeus waren Bischöfe. R. P. C. Hanson, The Reaction of the Church to the Collapse of the Western Roman Empire in the Fifth Century, beschreibt die Tendenz zur Askese als Zeitströmung in Zusammenhang
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Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer Theologie
Daneben aber zeigen sich signifikante Unterschiede. Keiner der anderen stellt die gesellschaftlichen Mißstände so detailliert da, keiner nimmt speziell die Unterdrückung und Ausbeutung der Armen durch die Reichen und Mächtigen in den Blick. Die Sünden und Verfehlungen — sofern sie nicht nur knapp und pauschal genannt und verurteilt werden — bleiben stets auf das Individuum bezogen, es sind die traditionellen Anklagen von Habsucht, Neid, Luxus und Unzucht, die uns dort begegnen, soziale, ökonomische und politische Zusammenhänge, wie sie uns bei Salvian begegnen, beleuchtet keiner 38 . Eine Sonderstellung nimmt Salvian auch mit seiner Beurteilung der Barbaren ein. Trotz der positiven Ansätze in der ps-eusebianischen Predigt und trotz des Hinweises auf die mögliche Bekehrung der Germanen in „De vocatione" muß festgestellt werden, daß die Barbaren nirgends als gleichwertige Gegenüber zu den Römern eingestuft werden, ein Vergleich der Lebensführung, gar eine moralische Höherbewertung der Germanen steht jenseits des Horizontes dieser Autoren. Toleranz gegen die barbarischen Arianer ist ihnen nicht möglich, eine so starke Überordnung der Orthopraxie über die Orthodoxie finden wir bei ihnen nicht, im Gegenteil, die Konfessionsgrenze verstärkt das Trennende, Quodvultdeus warnt vor der „arianischen Seuche": „Cavete, dilectissimi, arianam pestem" 3 9 ! Da weder die sozialkritischen noch die lobenden Ausführungen über die militärischen Sieger bei den anderen Autoren zu finden sind, bleibt ihre Aussage vom gegenwärtigen Strafgericht Gottes ein Theologumenon unter anderen, es wird nicht zur Dominante wie bei Salvian — und schon gar nicht finden wir Ansätze, die Gerechtigkeit dieses Gerichts im Lauf der Weltgeschichte und d.h. vor allem im gegenwärtigen Status-quo zu erweisen. Aus dem traditionellen Gedanken hat erst Salvian eine voll durchgeführte Geschichtskonzeption entwickelt 40 .
mit den politischen Umwälzungen: „one of the reactions of the Church to the collapse of the Western Roman Empire was an increased impulse towards monasticism" (281). Davon zeugt auch der Erfolg des asketisch orientierten Pelagianismus. 38 So urteilt auch E. Bordone, La societä, 335, im Anschluß an ihren kurzen Vergleich Salvians mit Orientius, dem Carmen de Providentia und dem Epigramma S. Paulini: „Manca . . . il senso de IIa relazione che stringe gl'individui alia societä manca loro il senso politico e storico". M. Iannelli, La caduta, 122, schließt sich diesen Ausführungen an. 39 „Sermo de tempore barbarico" VIII,10 (PL 50, Sp. 706). 40 Dies hebt auch C. Andresen, Die Kirchen der alten Christenheit, als besondere Bedeutung Salvians hervor (525).
Vergleich mit zeitgenössischen gallischen Autoren
175
Diese kleinere asketisch-apologetische Literatur kann somit nur in begrenztem Maß ids Hintergrund Salvians angesehen werden. Es bleibt die Frage, wo die starke sozialethische Komponente Salvians ihre Wurzeln hat. Gerne wird gerade zur Tradition der radikalen Armutforderung auf Johannes Chrysostomus und auch auf Basilius verwiesen 41 . Bei ihnen fehlt aber die Verknüpfung dieser sozialen Komponente mit den politischen Ereignissen, sie versuchen keine Geschichtsinterpretation damit zu verbinden — vielleicht wurde die Herausforderung dazu im Osten des Reichs um die Mitte des 4. Jahrhunderts nicht als so drängend empfunden. Selbst wo ein Einfluß dieser östlichen Theologen angenommen wird, läßt sich nicht deutlich machen, wie die Vermittlung vorzustellen ist. Griechisch konnte Salvian nicht 4 2 , direkte Benutzung von Schriften aus dem griechisch-sprachigen Raum ist nicht nachweisbar 4 3 . Als Vermittler wird gerne Cassian genannt, Schüler des Chrysostomus und Zeitgenosse Salvians in Marseille 44 . Und in der Tat finden sich beachtliche Parallelen zwischen beiden: für beide ist das Ideal des wahren Christen der Asket, der alle Anfechtungen und alle Laster besiegt, der in völliger Armut lebt 45 . Doch im Unterschied zu Salvian wendet Cassian sich nur an Mönche, die Lebenssituation des Weltchristen wird in seinen Schriften nirgends reflektiert. Die Forderung der strengen Gewissensprüfung, der breite Raum, den die Erörterung der Fragen von Hochmut und Demut einnimmt 4 6 , die Verherrlichung des Gehorsams gegen die Oberen im Kloster, gegen die Asketen, die bereits tiefere Einblicke in die göttlichen Geheimnisse gewonnen haben 4 7 — all das zeigt, wie stark Cassian seinen Horizont auf Kloster und Zelle einschränkt. Die Lebensordnungen, die er propagiert, sind auf das Kloster bezogen, jeglicher Blick auf die Gesellschaft, die die Klöster umgibt und auf die politische Situation fehlt.
41
So E. Bordone, La societä, 3 3 8 ; E. F. Bruck, Soziales Erbrecht, 1 1 2 - 1 1 4 . Vgl. W. A. Zschimmer, Salvianus 1 Of,; G. Sternberg, Christentum, 30. 43 Denkbar wäre die Kenntnis von lateinischen Ubersetzungen, die zu seiner Zeit bereits in größerer Zahl vorlagen (vgl. B. Altaner, Altlateinische Ubersetzungen von Basiliusschriften; ders., Altlateinische Ubersetzungen von Chrysostomusschriften). 44 E. Bordone, La societä, 3 3 8 ; E. F. Bruck, Soziales Erbrecht, 114f. 45 Gegen die auaritia wendet sich Buch VII der Inst coen (ed. Guy 2 9 2 - 3 3 2 ) . Die Forderung, alles wegzugeben findet sich ebd V I I , 1 6 . 2 4 (S. 3 1 2 - 3 1 4 ; 3 2 4 - 3 2 6 ) und IV,13 (S. 136—138). Der Kampf gegen die acht Hauptlaster wird in den Büchern V—XII thematisiert. Ähnlich sind die Coli ausgerichtet. 46 Cassian fordert die vollständige Mitteilung aller Gedanken der Novizen an den Oberen (Inst coen IV,9, ed. Guy S. 132), der Kampf gegen Hochmut und Stolz nimmt breiten Raum ein (XII, S. 4 5 0 f f . ; IV,27 und 31, S. 1 5 8 - 1 6 2 und 1 6 8 - 1 7 0 ) . Inst coen I V , 2 3 - 3 0 (ed. Guy S. 1 5 2 - 1 6 8 ) . 42
176
Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer Theologie
Selbst bei der Erörterungen von Themen, bei denen zumindest eine kurze Stellungnahme zu den Problemen außerhalb der Klostermauern nahegelegen hätte, findet sich kein Wort dazu. Das gilt von Cassians A n d e u t u n g e n über das nahe Weltende 4 8 wie von seiner Erwähnung des Eintritts in die klösterliche Gemeinschaft aus N o t 4 9 . Das gilt sogar von der Diskussion der Frage, warum G o t t die Guten mit den Bösen leiden lasse. Statt — wie später Salvian — den Anlaß zu dieser Erörterung beim Leiden der Bevölkerung in den gegenwärtigen Kriegswirren zu finden, entwickelt Cassian seine Gedanken anhand der E r m o r d u n g einiger Mönche in der arabischen Wüste 5 0 . Die asketischen Grundsätze, die Salvians Geschichtstheologie und seiner Sozialkritik zugrundeliegen, finden sich auch bei Cassian, das Proprium des Presbyters, seine schichtenspezifische Kritik selbst und ihre Verbindung mit der Interpretation der Weltgeschichte als Weltgericht sind von dort aber nicht ableitbar. Trotz der Forderung des totalen Besitzverzichtes aller Christen kann Salvians Konzeption des Zusammenlebens aller Christen wohl nicht als Ausdehnung des Klostermodells Cassians insgesamt auf die ganze Christenheit verstanden werden. Dazu fehlt das Element des Gehorsams gegenüber anderen Menschen, das bei Cassian eine so dominierende Rolle einnimmt. Zwar sollen die Christen G o t t und seinem Gesetz absolut Folge leisten, eine klösterliche Hierarchie liegt wohl k a u m in Salvians Interesse, es lassen sich nicht die geringsten Anzeichen für Neigungen in dieser Richtung entdecken. Als Fazit läßt sich feststellen, daß die Übereinstimmungen zwischen Cassian und Salvian nur sehr allgemeiner Art sind. Ein Einfluß Cassians und gar eine Vermittlung östlicher Theologie an Salvian ist aufgrund der vorliegenden Schriften nicht nachweisbar und bleibt rein hypothetisch.
III. Salvians Nähe zum
Pelagianismus
Der Blick auf andere geschichtstheologische Entwürfe und auf zeitgenössische Interpretationen der Barbareninvasion hat Entsprechungen und « Coll XVII, 19 (ed. Pichery Bd. 3, 2 6 3 - 2 6 6 ) . 49 Coli 111,4 (ed. Pichery Bd. 1,141—143); dieses Argument wird negativ angewendet von Mönchen gegen den anonym um Aufnahme ins Kloster nachsuchenden Abt Pinufius Inst coen IV,30,2 (ed. Guy S. 166). „Hunger und Armut" scheinen nicht selten Triebfedern zum monastischen Leben gewesen zu sein! so Coli VI,1 (ed. Pichery Bd. 1,219).
Salvians Nähe zum Pelagianismus
177
Differenzen zu Salvian gezeigt. Es bleibt n u n noch zu fragen, wo die Theologie des Presbyters im Spektrum theologischen Denkens des 5. J a h r h u n derts anzusiedeln ist. Die bisher erzielten Ergebnisse lassen es als sinnvoll erscheinen, eine asketisch-ethisch orientierte Theologie zum Vergleich heranzuziehen. Aus geographischen wie zeitlichen Gründen liegt es nahe, nach Beziehungen Salvians zum Pelagianismus zu fragen, waren doch gerade Lerinum und Marseille Zentren einer abgemilderten Form des Pelagianismus 1 , der ohne die dogmatischen Zuspitzungen, wie sie vor allem Caelestius und Julian in die Debatte eingetragen h a b e n 2 , a u s k o m m t und daher eher als ein in altkirchlicher Tradition verwurzelter Widerspruch der Minderheitschristen (Asketen) gegen das Volkskirchentum und seine Legitimierung durch die augustinische Theologie angesprochen werden k a n n 3 . Es liegt nicht im Interesse der folgenden Untersuchung, Salvian zum (Semi-) Pelagianer zu stempeln. Es geht vielmehr darum zu sehen, ob die H e r k u n f t aus pelagianisierenden Kreisen das Miteinander seiner Geschichtsinterpretation, seiner Sozialkritik und seiner Theologie besser verstehen ließe.
1. Diskussion
der
Forschung
In der Forschung ist die Frage, ob Salvian Vertreter des Semipelagianismus sei, bereits wiederholt aufgegriffen, jedoch nur mit wenigen und unzureichenden Argumenten geführt worden. Drei verschiedene Arten von Argumenten wurden genannt: Textabschnitte aus Salvians S c h r i f t e n 4 , die die Verwandtschaft belegen sollten, die positive Würdigung Salvians durch den Semipelagianer Gennadius, sowie seine Zugehörigkeit zur Lerinenser Klostergemeinschaft 5 . 1 Vgl. A. C. Cooper-Marsdin, The History of the Islands of the Lerins. — Dagegen hat P. Riehe Education et culture dans l'occident Barbare (VI e —VIII e siecle), 114, bestritten, daß es einen lerinensischen Semipelagianismus überhaupt gegeben habe, er sieht nur das Eingreifen zweier Lerinenser (Faustus und Vincentius) in die Debatte und verweist auf die gegenteilige Einstellung von Caesarius von Arles, ebenfalls ehedem Mönch zu Lerinum. 2 Vgl. G. Greshake, Gnade als konkrete Freiheit, 38f. 3 Diese Ansicht vertritt P. Brown, Augustine of Hippo, 3 4 8 , inbezug auf den gesamten pelagianischen Streit: „the victory of Augustine over Pelagius was also a victory for the average good Catholic layman of the Later Empire, over an austere, reforming ideal". 4 E. Bordone, La societä, 338—340; mit weniger Argumenten auch Α. Mayer, BKV (Intr.), 18f.; H.-J. Diesner, Salvian, 152; F. Paschoud, Roma aeterna, 3 0 8 . 5 W. A. Zschimmer, Salvianus, 87. Die verschiedenen Argumente und ihre Validität diskutiert M. Pellegrino, Salviano, 136f.
12 Badewien, Geschichtstheologie
178
Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer Theologie
Am ausführlichsten hat E. Bordone semipelagianisches Gedankengut bei Salvian nachzuweisen versucht 6 , ihr wurde entschieden widersprochen von M. Pellegrino 7 und M. Iannelli 8 . Neuerdings vertritt Ph. Badot die These, Salvian entwickle eine antiaugustinische Konzeption 9 . Diskussionspunkte sind in dieser Debatte: — Gibt es bei Salvian die Lehre der Gnade „post praevisa merita" (nach G V,13)? Diese würde der augustinischen und von der Kirche rezipierten Lehre widersprechen, daß die Gnade grundsätzlich umsonst geschenkt wird. — Kann der Mensch sich auch gegen Gottes Willen selbst verdammen? (nach G V,61) — Leugnet Salvian die Gemeinschaft der Heiligen und die Wirkkraft des Gebets, wenn er behauptet, daß „die Umkehr eines Einzelnen die Verbrechen der meisten nicht a u f h e b t " und die wenigen Guten daher mit der Masse der Schlechten ins Verderben stürzen? (nach G III,57f) Sowohl Bordone, die diese Sätze bejaht, als auch Pellegrino und Iannelli, die die Gültigkeit ihrer Interpretation bestreiten und ihr vorwerfen, sie habe die Texte aus dem Zusammenhang gerissen, und die ihrerseits Gegentexte anführen, versuchen zunächst dogmatisch zu klären, was Semipelagianismus ist und messen dann einzelne Aussagen Salvians an diesem dogmatischen Raster. Dieses Verfahren erscheint aber fragwürdig, weil Salvian so wenig theologisch-dogmatisch argumentiert und dazu seine Terminologie generell ziemlich unpräzise ist, wie Iannelli bemerkt 1 0 . Im Folgenden sollen Salvians Texte daher nicht an dogmengeschichtlichen Abstraktionen gemessen, sondern zu Texten in Beziehung gesetzt werden, die unbestritten von Pelagius oder seinen (unbekannten) Schülern stamm e n 1 1 . Die dogmatischen Fragen sollen dabei keineswegs ausgeklammert werden, jedoch gilt die Untersuchung nicht so sehr einzelnen Sätzen oder Formulierungen, sondern den theologischen Implikaten, die der gesamten Konzeption Salvians zugrunde liegen. Ein Schwerpunkt der Argumenta6
E. Bordone, La societä, 3 3 8 - 3 4 0 . M. Pellegrino, Salviano, 1 3 6 - 1 4 2 . 8 M. Iannelli, La caduta, 1 0 1 - 1 1 7 . 9 Ph. Badot, L'utilisation, S. 392 Anm. 5. 10 „Espressione imprecisa"; „l'imprecisione del linguaggio teologico" (La caduta 109 bzw. 116). 11 Es handelt sich vor allem um folgende Schriften: Ep „Ad Demetriadem" (=Dem), PL 3 0 , 1 5 - 4 5 , „De divina lege" (= Div leg) PL 3 0 , 1 0 5 - 1 1 6 . „De vita Christiana" (= Vit Christ), PL 4 0 , 1 0 3 1 - 4 6 , sowie um die von C. P. Caspari, Briefe, Abhandlungen und Predigten, edierten Schriften: Ep. „Honorificentiae tuae" (= Honor), 3 - 1 3 , „De diuitiis" (= Div), 2 5 - 6 7 , „De malis doctoribus" (= Doct), 6 7 - 1 1 3 . 7
Salvians Nähe zum Pelagianismus
179
tion wird auf dem Felde der Ethik liegen. Hier ist ein Hauptanliegen Salvians festzustellen gewesen, hier gibt es eine breite Textbasis — und hinzu k o m m t , daß auch ein Großteil des auf uns überkommenen Corpus Pelagianum ethischen Fragen gilt. Die Frage der Verfasserschaft der pelagianischen Schriften ist hier nicht von Belang, in die noch nicht abgeschlossene Spezialdiskussion über dieses T h e m a braucht nicht eingegriffen zu werden. Denn ob die meisten hier herangezogenen Schriften von Pelagius stammen, wie G. de Plinval nachzuweisen versucht h a t 1 2 , ob ein Teil der Schriften, die die Problematik des Reichtums ansprechen, einem besonderen Verfasser zuzuschreiben ist 1 3 , das ist sekundär gegenüber der Feststellung, daß sie alle von dem gleichen Geist bestimmt sind und einen Pelagianismus repräsentieren, der sich in dogmatischen Fragen nachgiebig, ja fast indifferent zeigt, in ethischen dafür um so rigoroser Position bezieht — ein Bild, das dem A u f t r e t e n des Pelagius selbst durchaus entspricht 1 4 , das sich aber abhebt von der systematisch-theologisch orientierten F o r m des Pelagianismus, wie sie von Caelestius und von Julian vertreten wurde und die Kontroverse mit Augustin eigentlich auslöste bzw. b e s t i m m t e 1 5 .
2. Übereinstimmungen
mit pelagianischen
Gedanken
a) Willensfreiheit Eine nicht wegzudenkende, nicht diskutierte, aber selbstverständlich in Anspruch genommene Prämisse für Salvians Geschichtskonzeption ist die Möglichkeit des Menschen, frei zwischen gut und böse zu wählen. Diese Wahlfreiheit macht den Menschen erst selbst verantwortlich für sein gegenwärtiges und sein zukünftiges Geschick — den einzelnen wie das ganze Volk. Am deutlichsten ist das mit Blick auf das ,Judicium f u t u r u m " expliziert in Ε I, 7: „Denn da, wie geschrieben ist, vor den Menschen in gleicher Weise Leben und Tod [gestellt] ist und er seine Hand ausstreckt, wonach er will, ist 12
Pelage, 17—47; so auch W. Liebeschuetz, Pelagian Evidence on the Last Period of Roman Britain?, 4 4 7 . 13 So J. Morris, Pelagian Literature. Vgl. auch zur Zuweisung der Vit Christ: R. F. Evans, Pelagius, Fastidius and the Ps-Augustinian „de vita Christiana". 14
Vgl· J · Morris, Pelagian Literature, 43: „The assertions and denials cites by Augustine in and about 4 1 5 are the statements of a man already old, anxious at all costs to avoid controversy, unwilling to engage his persuasive dialectic with the alien unilinear logic of Augustine". ls Vgl. G. Greshake, Gnade als konkrete Freiheit, 38f.
180
Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer Theologie
es notwendig, daß ein jeder Mensch in Ewigkeit das besitzt, was er hier gleichsam mit eigener Hand erlangt hat, und daß er nach seinem Willen und seinem Urteil in Z u k u n f t durch Vereinbarung an das gebunden bleibt, woran er sich hier seiner Neigung gemäß geklammert h a t " 1 6 . Ist hier das ewige Heil des einzelnen im Blick, so gilt für das gegenwärtige Gericht über die Völker Gleiches: Salvian redet immer wieder davon, daß die Römer das Urteil Gottes verdient haben (dazu unten). Die Schuld ist Folge der willentlichen Übertretung des Gesetzes, die aufgrund der Kenntnis des Gesetzes eigentlich vermieden werden könnte. Christen wollen den Willen Gottes nicht tun („nolimus", G V,13), sie befinden sich in „rebellio" (G V,12) gegen Gott, getrieben vom „Eifer des schlechten Willens" („Studium malae voluntatis", G VI,9). Eine nicht mit Willen begangene Tat kann dagegen entschuldigt werden, weil der Täter nicht voll verantwortlich ist (G VI,86) 1 7 . Die freie Entscheidung für oder gegen die Gebote und den in ihnen offenbarten Willen Gottes ist Grundlage der Transparenz der Weltgeschichte, die Interpretation allen Geschehens durch das Lohn-Strafe-Schema wird nur so sinnvoll. b) Gnade und Gerechtigkeit Bei Salvian haben sowohl „iustitia dei" als auch „amor", „misericordia", „pietas", „indulgentia dei" ihren Ort — es dominiert allerdings in Gott sein Wille zur Gerechtigkeit. Ihm verleiht er im gegenwärtigen wie im zukünftigen Gericht Ausdruck 1 8 . In dieser Betonung des göttlichen Gerichts und der in ihm waltenden göttlichen Gerechtigkeit zeigt sich wieder eine enge Verwandtschaft zwischen Pelagianern und Salvian. Beide bezeichnen nicht nur das zukünftige, sondern auch bereits das gegenwärtige Handeln Gottes als ,iudicare'. Wie Salvian zeigt auch der Verfasser der ,Vita Christiana', daß Gott schon in der Gegenwart urteilt und richtet, die Bösen zur Rechenschaft zieht 1 9 . Und wie bei Salvian findet sich auch hier das Motiv der Entsprechung von Vergehen und Strafe: Die Witwen und Waisen beraubten, hinterlassen nun 16
„Nam cum, ut scriptum est, ante hominem uita pariter ac mors sint ed ad quod uult manum porrigat, necesse est ea unusquisque h o m i n u m in aeternitate possideat, quae hic quasi manu sua ipse peruaserit, uoluntatique ac sententiae suae deditus his in futuro adhaereat condicione, quibus hic adhaesit a f f e c t u " (E 1,7), Salvian zitiert hier teilweise Jes Sir 1 5 , 1 8 . 1 7 . " Vgl. dazu o. S. 5 7. 18 S.o. S. 3 Iff. und 7 3 - 7 6 . ι« Vit Christ I l l f f . (PL 4 0 , 1 0 3 4 f f . ) .
Salvians Nähe zum Pelagianismus
181
Witwen und Waisen 20 . Und wie bei Salvian weist das Ausbleiben der Strafe auf die Langmut Gottes hin, die das verdiente Gericht in vielen Fällen aufschiebt, um Besserung und Buße herbeizuführen — ein Gnadenakt, der nicht zur Mißachtung des göttlichen Handelns führen darf 2 1 . Im Unterschied zu Salvian — und in Übereinstimmung mit einem breiten Traditionsstrom christlicher Bußpredigt — bleibt in „De vita Christiana" das göttliche Gericht jedoch auf den einzelnen beschränkt. Die Völker, das Imperium, kommen nicht in den Blick. Das Gericht Gottes ergeht bei Salvian allein nach den Verdiensten. Seine häufige Verwendung des Terminus ,mereri/meritum' läßt sich hier nicht als „Ungenauigkeit der theologischen Sprache" wegdiskutieren, wie M. Iannelli es versucht 2 2 , dafür kehrt dieser Begriff zu häufig in einschlägigen Zusammenhängen wieder 2 3 . Einige Belegen sollen die Prägnanz des Sprachgebrauchs zeigen. Bußübungen tragen dazu bei, daß der Büßer „durch freiwillige Selbstbestrafung im gegenwärtigen Leben die Nachsicht ewiger Absolution verdient" (E 1,50) 24 . Salvian stellt die rhetorische Frage: „Was für Lohn können wir erhoffen, wenn wir ihn nicht υ erdienen?" (E 11,54) 2S . Und entsprechend beschreibt er das Jüngste Gericht, „wo die heimatlose und geängstigte Seele keinen Trost erlangen kann als nur allein (!) ein gutes Gewissen, oder nur allein ein unschuldiges Leben oder, was dem guten Leben sehr nahe kommt, Barmherzigkeit, wo dem angeklagten Menschen keine Hilfe zuteil wird außer in freigiebigem Sinn, in fruchtbringender Reue und in reichlichem Almosengeben mit tatkräftiger Hand wo du schließlich nach der Verschiedenheit der Verdienste entweder höchstes Gut erlangst oder 20 Vit Christ III (PL 4 0 , 1 0 3 5 ) . Nach Ansicht von J. Morris, Pelagian Literature, 3 4 36, und W. Liebeschuetz, Pelagian Evidence on the Last Period of Roman Britain?, spiegeln sich hier konkrete Ereignisse. Während Morris an Vorkommnisse in Britanien denkt, vermutet Liebeschuetz aufgrund einer Analyse der einzelnen Angaben des Textes, daß hier auf das Ende des Prätorianerpräfekten des Ostens Rufinus angespielt werde, dessen nähere Umstände im Westen durch eine Schrift des Claudianus („In Rufinum") bekannt geworden seien ( 4 4 2 f . ) . Es würde sich hier dann nicht wie in entsprechenden Texten bei Salvian um grundsätzliche Sozialkritik handeln, sondern u m Kritik am Verhalten einzelner, wenn sie auch verallgemeinert und ohne Nennung eines Namens dargeboten wird. 21 Vit Christ XII (PL 4 0 , 1 0 4 2 ) . 22
M. Iannelli, La caduta, 116f. Μ Ε 1,9.30.50; 11,37.54.69; 111,2.13.78; IV,5; G 1,35; 11,5.19; IV,1 (= Ε II,37).2.39. 4 9 . 5 5 ; V , 1 4 . 4 9 ; V I , 2 0 . 2 8 . 8 1 ; V I I , 1 4 . 2 9 . 3 5 . 5 5 f . 8 8 . 9 0 ; VIII,5. 24 „ . . . ut indulgentiam scilicet absolutionis aeternae, praesentis poenae ambitione, mereatur" (E 1,50). 25 numquid etiam praemium sperare possumus n o n merentes?" (E 11,54).
182
Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer Theologie
äußerstes Übel, entweder unsterblichen Lohn oder Qual ohne Ende" (E 111,13)26. Hier hat Gnade keinen Raum, es gilt einzig die Gerechtigkeit. Die Möglichkeit, solche Verdienste zu erwerben war für alle Menschen gleich. Auch in „De gubernatione Dei" wird dem „meritum" besonderes Gewicht beigemessen. Die wahren Christen erwarten das Reich Gottes, „weil sie verdienen, es zu empfangen" (G VI, 28) 21 . Die wenigen guten, d.h. gehorsamen Christen „verdienten, von Gott zur Besserung geführt zu werden" (G VII,14) 28 . Und nicht zuletzt zeigten die Erfolge der Vandalen, daß „Verdienste ausschlaggebend sind und nicht die Kräfte" (G VII,29) 29 — wie die Römer überall das ereilt — was sie verdienten, nämlich der Untergang 30 . Ein sonst im individuellen Bereich geläufiger Begriff wird hier auf die Gemeinschaft ausgedehnt: die Christenheit, die Bevölkerung des Imperium Romanum kann jetzt insgesamt Verdienste erwerben. Zeigen die Belegstellen, daß der Terminus „meritum" in beiden Schriften Salvians eine bedeutende Rolle spielt, so sind ferner nicht minder gewichtige Stellen heranzuziehen, in denen zwar nicht der Terminus, wohl aber die damit gemeinte Sache belegt ist. Dazu zählt vor allem G V,13, ein Satz, der in der Debatte um den Semipelagianismus bei Salvian eine besonders große Rolle gespielt hat: Salvian schreibt dort, daß Gott in seinem richterlichen Handeln zugleich züchtigt und Nachsicht übt. „Die Züchtigung soll bei den Katholiken die Lust zu sündigen zügeln, und die Geduld Gottes soll bewirken, daß die Häretiker einst die volle Wahrheit des Glaubens erkennen, vor allem, da er weiß, daß sie vielleicht des katholischen Glaubens nicht unwürdig sind" 31 . Mit Recht erkennt E. Bordone hier in der Nachsicht Gottes gegen die häretischen Barbaren das Theo-
26 „Ecce iturus es, infelicissime omnium, ad examen sacrum, ad tremendum illud intolerandumque iudicium ubi peregrinanti animae atque anxiae nullum potest omnino esse solacium nisi sola tantummodo bona conscientia, nisi sola tantum innocens uita aut, quod proximum est bonae uitae, misericordia, ubi reo homini nullum es adiutorium nisi sola mens larga nisi paenitentia fructuosa et eleemosynae copiosae quasi manus ualidae, ubi denique pro diuersitate meritorum aut summum bonum inuenies aut summum malum, aut inmortale praemium aut sine fine tormentum" (E 111,13). 27 ,, . . . regnum dei exspectare quia merentur accipere" (G VI,28). 28 qui corrigi a diuinitate meruerunt" (G VII,14). 29 meritorum hoc fuisse non uirium" (G VII,29). 30 G VII,55f.88 u.ö. 31 „ . . . ut et castigatio in catholicis peccandi refrenet libidinem, et quandoque haereticos patientia dei faciat plenam fidei noscere ueritatem, maxime cum sciat eos forsitan catholica non indignos fide, quos uideat catholicis uitae comparatione praestare" (G V,13).
Salvians Nähe zum Pelagianismus
183
logumenon der Gnade „post praevisa merita" 3 2 — auch wenn die Terminologie eine andere ist und Salvian die im pelagianischen Streit inkriminierten Vokabeln vermeidet. Wo die Verdienste so hoch geschätzt und allein entscheidend sind für das Heil — es gibt offensichtlich keine anderen Möglichkeiten des Heilserwerbs! 3 3 — spielt die „gratia dei" nur eine untergeordnete Rolle. Im allgemeinen gebraucht Salvian diesen Begriff nicht, wenn er ihn nicht formelhaft verwendet — als Gruß in Anlehnung an paulinische Eingangsgrüße (E 1,1), als Schlußgruß (Ε IV,50), als Bestandteil offensichtlich vorgeprägter theologischer Wendungen (Ε II, 23; G 111,8). Oder „gratia" hat die Bedeutung ,Dank' (G 1,22; VII,37) bzw. ,Gunst' (Ep I,7f und vor allem G V,31). Wie oben mehrfach angeklungen ist, kann Salvian dennoch die Liebe, Güte und Barmherzigkeit Gottes hervorheben 3 4 . Dies geschieht jedoch stets in einer Weise, die auch im Pelagianismus nicht bestritten wird 3 5 : Gott schafft die grundlegenden Bedingungen für das richtige Handeln der Menschen, er gibt ihnen das Gesetz (G I,43f; IV,64), er schenkt „munera religionis" (Glaube, Zucht, Demut, Nüchternheit, Barmherzigkeit, Heiligkeit; G VII,11), er gewährt Strafaufschub. Nirgends ist Gottes Gnade am Zustandekommen des einzelnen Aktes der Gesetzeserfüllung beteiligt, in allem schafft Gott nur die grundsätzlichen Vorbedingungen. Und dennoch geht Salvian diese Güte so weit, daß sie seine Gerechtigkeit zu verdecken droht und die Transparenz des „iudicium praesens" beeinträchtigt (G V,49f). In diesem Rahmen muß auch ein Abschnitt interpretiert werden, der in der Debatte Bordone — Pellegrino ebenfalls eine Rolle spielt — und je nach Interpretation für beide Thesen in Anspruch genommen wird. Es handelt sich um G IV,48f. Als Exegese zu Rom 5,8f führt Salvian aus: „Deshalb sagt er (Paulus) auch: ,Gott bewährt seine Liebe an uns'. Wie bewährt er sie? Indem er sie denen gewährt, die sie nicht verdienen. Denn hätte er sie den Heiligen und denen, die sie wohl verdient haben, gewährt, hätte
32 E. Bordone, La societä, 3 3 9 , ebenso F. Paschoud, Roma aeterna, 3 0 8 ; dagegen M. Pellegrino, Salviano, 138f.: das „ m a x i m e " (G V , 1 3 ) weise darauf hin, daß die in Aussicht gestellte Hinwendung der häretischen Barbaren zum Katholizismus primär Gnade Gottes sei, zu der erst sekundär die eigene Leistung hinzutrete; und M. Iannelli, La caduta, 1 1 0 - 1 1 2 . 33 Vgl. o. S. 4 5 f f . , 53ff. und 7 6 - 8 0 . 34 Vgl. o. S. 7 3 - 7 6 . 35 Zum Gnadenverständnis des Pelagius vgl. G. Greshake, Gnade als konkrete Freiheit, 47-157.
184
Salvians Ort im Spektrum zeitgenössischer Theologie
er offensichtlich nichts gewährt, was er nicht schuldig gewesen wäre, sondern er hätte etwas zurückgegeben, was er schuldig war" 3 6 . Bordone hält sich an den 2. Teil des Satzes und belegt damit, daß es nach Salvian die Möglichkeit gibt, sich Gott zu verpflichten. Pellegrino und auch Iannelli verweisen dagegen auf den Vordersatz, daß nämlich Gott eben nicht pflichtschuldigst zurückerstattet, sondern den „non merentes" schenkt. Dieser Satz kann nur richtig verstanden werden, wenn seine Stellung im Kontext und seine Funktion in der Argumentation beachtet werden. Denn das Ziel der Beweisführung läßt den Priester nach jedem im Moment passend erscheinenden Argument greifen und es in seinen Diskurs zwängen, wie bereits Öfter zu beobachten war 3 7 . Eine einzelne Formulierung hat daher nur geringe Beweiskraft und darf nicht überinterpretiert werden. In G IV,47 behandelt Salvian die Frage der Vereinbarkeit von Güte und Gerechtigkeit Gottes und er sagt, daß die Größe der Gerechtigkeit von Menschen nicht erfaßt werden kann und bisweilen daher wie Ungerechtigkeit aussehen mag. Er belegt das mit dem Opfer des Gottessohnes für die Gottlosen (nach Rom 5,6f). Ziel des ganzen Abschnitts ist die Rückbindung dieser dogmatisch-christologischen Ausführungen an die Ethik. Genauer gesagt, an die Handlungsverpflichtung der Christen und damit der erneute Aufweis ihres Ungenügens. Der auf das obige Zitat folgende Satz bringt die Anwendung: „Was also erstatten wir für dies alles zurück? oder besser: was müssen wir zurückerstatten?" 3 8 . Für die Liebe Gottes soll bezahlt werden, das ist das Ziel der Argumentation — wenn nicht durch den Tod, dann zumindest durch Taten der Liebe: „si debitum morte non soluimus, uel amore soluamus" (G IV,51). Und dann mündet die Argumentation in die empirische Überprüfung dessen, was die Christen tatsächlich tun: „Da nun hinreichend sicher ist, daß wir dies dem Herrn schulden, laßt uns sehen, was wir für all das zurückerstatten" (G IV,52) 3 9 . Von freier Gnade Gottes, die über die auch von Pelagianern anerkannte Anfangsgnade hinausgeht, ist nichts zu entdecken. Auch das Christus36
„Idcirco itaque ait: Commendat suam caritatem deus in nobis. Quomodo commendat? Scilicet quia non merentibus praestat. Si enim sanctis et bene meritis praestitisset, non uidebatur quae non debuerat praestitisse, sed quae debuerat reddidisse" (G IV, 48f.). Zu diesem Text s. E. Bordone, La societä, 339; M. Pellegrino, Salviano, 139; M. Iannelli, La caduta, 113f. 37 Vgl. o. S. 49f., 57f., 120f. 38
»Quid ergo nos pro his omnibus retribuimus, uel potius quid retribuere debemus?" (G IV,49). 39 „Cum ergo haec a nobis deberi domino satis certum sit, uideamus quid pro his cunctis reddimus quae debemus" (G IV,52).
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Geschehen gehört in den Bereich jener grundlegenden Gnade, auf die die Christen aus eigenem Willen und in eigener Verantwortung aktuell antworten müssen, um ihre Schulden bei Gott, die aus seinem Liebeshandeln erwachsen sind, zumindest teilweise zu tilgen 40 . c) Das Gesetzesverständnis Bei Salvian und bei den Pelagianern ist die Ethik grundlegend bestimmt durch die dominierende Funktion des Gesetzes 41 . Es ist Grundlage allen ethischen Handelns und Norm des göttlichen Gerichts und erhält somit heilsvermittelnde Relevanz 4 2 . Für beide ist die Kenntnis des Gesetzes die Vorbedingung jeden guten Handelns: ,,prius est nosse" 4 3 . Das schließt bei Pelagius wie bei Salvian ein, daß in unverschuldeter Unwissenheit gegen Gott begangene Sünden nicht strafbar sind 4 4 . Für beide gilt die Forderung, daß alle Gesetze von allen Christen gehalten werden müssen. In ,De divitiis' wird dieser Sachverhalt knapp und präzise formuliert: „Ist nicht etwa für alle, die Christen genannt werden, dasselbe Gesetz der Christenheit gegeben? Oder enthält es in zweifacher Weise verschiedene Vorschriften, wonach einmal die einen zu Pflichten der Barmherzigkeit und der Frömmigkeit angehalten werden, wonach zum anderen die anderen die Erlaubnis zu Taten der Gottlosigkeit und der Grausamkeit erhalten?" und die Antwort ist klar: „Wir sind ein Leib . . . In demselben Volk darf es nicht so große Verschiedenheit geben" (Div VI,3) 4 5 . Salvian formuliert ähnlich, wie oben gezeigt wurde 4 6 . to Vgl. dazu auch o. S. 7 7 - 8 0 . 41 Dazu G. de Plirival, Pelage, 1 7 7 - 1 8 3 . 42 Vgl. Div leg III (PL 30, 107C/D): „Nam sine divinae legis et disciplinae coelestis scientia, difficile esse quemquam posse salvari". Ähnlich Div leg I (PL 30, 105f.). Zum gleichen Punkt heißt es bei Salvian: „In illa [lege] salus et uita tua est. Ac per hoc, dum legem diuinam deseris, salutem propriam derelinquis" (G V,3). 43
Div leg 111,4 (PL 3 0 , 1 0 8 - 1 1 0 ) . Zur Bedeutung der „scientia" für das richtige Handeln bei Salvian vgl. o. S. 53—58. 44 Zu Salvian s.o. S. 55—58; zu Pelagius vgl. den bei Augustin, „ D e gestis Pelagii" XVIII,42, überlieferten Satz von der Synode von Diospolis: „Obliuionem et ignorantiam n o n subiacere peccato, quondam non secundum uoluntatem eueniunt, sed secundum necessitatem" (ed. Urba/Zycha S. 97); vgl. dazu C. P. Caspari, Briefe, Abhandlungen und Predigten, 3 4 5 . 45
„Nunquid n o n omnibus, qui Christiani dicuntur, eadem Christianitatis lex data est? aut forte duplici et diuersorum praeceptorum genere continentur, uno, quo alios ad misericordiae pietatisque officia sit necesse constringi, altero, quo alii ad inpietatis crudelitatisque facta dimittantur? . . . Unum corpus nos esse . . . Non sit in e o d e m populo tanta uarietas" (Div VI,3, Caspari, S. 32f.). « S. o. S. 64.
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Entsprechend findet sich bei Salvian und im Corpus Pelagianum das Verbot, aus den Gesetzen auszuwählen, was man zu halten gedenkt: „Denn es ist nicht gleichsam in unser Ermessen gestellt, irgendwelche von den Geboten Gottes auswählen zu dürfen, sondern wir müssen alle gänzlich erfüllen" schreibt Pelagius an Demetrias (XVI) 47 . Die einmalige Übertretung zieht Strafe nach sich: „Adam hat einmal [das Gebot] übertreten und ist gestorben" (Honor. I) 4 8 . Dabei ist es gleichgültig, ob eine große Zahl von Menschen die Gesetze verletzt, die Strafwürdigkeit für jeden einzelnen wird dadurch nicht beeinträchtigt 49 . Und auch eine Scheidung in wichtigere und unwichtigere Gesetze ist nicht erlaubt, wird doch in jedem Fall die Würde des Gesetzgebers verletzt 50 . Trotz dieser totalen Forderung gibt es sowohl bei Pelagius als auch bei Salvian eine Abstufung der Forderung gegenüber Asketen, und Klerikern auf der einen und Weltchristen auf der anderen Seite 51 . Pelagius unterscheidet zwischen Gebotenem und Erlaubtem, er benutzt die in der mönchischen Tradition so wichtig gewordenen Termini .consilium' und ,mandatum' 5 2 . Wie bei Salvian gehört zum Gebotenen die Gerechtigkeit und — nach „De divitiis" — der Besitzverzicht 53 . In beiden Entwürfen wird aber die Ehelosigkeit ausdrücklich als freiwillig erwähnt, von Pelagius zusätzlich der Verzicht auf Wein und Fleisch 54 . In der „virginitas" und in der „abstinentia" von Wein und Fleisch unterscheiden sich die Asketen von den Normalchristen. Die Gebote jedoch sind unteilbar: „Von der Gerechtigkeit heißt es nicht: ,Wenn du es kannst, so tue es' " 5 S . Der Verstoß gegen die Gebote bringt Strafe mit sich, das Befolgen der „consilia" aber 47
„Non enim quasi ad arbitrium nostrum, quaedam ex mandatis Dei debemus eligere, sed generaliter universa complere" (Dem XVI, PL 30,30 A/B). Vgl. dazu C. P. Caspari, Briefe, Abhandlungen und Predigten, 239; G. de Plinval, Pelage, 179; ähnlich Vit Christ IX (PL 40,1038). Entsprechend bei Salvian G 111,27-30. 48 „Adam semel praeuaricauit et mortuus est" (Honor 1, Caspari, S. 6), ähnlich Div leg IV (PL 30.108D—110A); Salvian G II,17f., dazu o. S. 63. Ε 11,6-8. so Div leg V (PL 30,110); Vit Christ I (PL 40,1033): „Dei subsannatio"; IX (1039): „Sed vae illis per quos nomen Domini fuerit blasphematum". Salvian: G 111,28.43.60; IV,86ff., dazu o. S. 62f. 51 Salvian Ε II; I V , 2 4 - 3 3 ; G V,52ff.; 111,15; besonders deutlich Ε II,39f! Dazu o. S. 64-67. 52 Dem X (PL 30.25A). 53 Zu Salvian s.o. S. 64f., 141ff.; Div XII,3 (Caspari, S. 48): „Dictum enim nobis est, ut nihil habeamus"; Honor 4 (Caspari, S. 1 Of.): „Qui sua omnia uenundare praecipitur, nihil habere permittitur". 5" Salvian: G IV,54f.; Pelagius: Dem IX (PL 30,24 C/D): „Conceduntur quidem nuptiae, carnium usu et vini". 55 Dem X (PL 30, 25B): „De iustitia non dicitur: ,Qui potest facere, faciat'".
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Lohn. Insofern lautet die Zusammenfassung des Pelagius: „Das Schlechte ist verboten, das Gute befohlen. Mittleres ist erlaubt, Vollkommenes aber empfohlen" (Dem IX) 56 . Für Pelagianer wie für Salvian entscheidet sich Christsein am Lebensvollzug. „Christ ist, wer nach dem Beispiel Christi lebt", so lautet die bündigste Formulierung (Honor. I) 5 7 , und es folgt ein langer Abschnitt über die einzelnen Ge- und Verbote, die dieses Leben prägen und eingrenzen. In der „Vita Christiana" wird mehrfach versucht den Christen zu definieren: „Christ ist der Name für Gerechtigkeit, Güte, Reinheit, Geduld, Zucht, Weisheit, Demut, Menschlichkeit, Unschuld und Frömmigkeit" (VI) S8 . . . „Christ ist jener, der es nicht nur dem Namen, sondern dem Handeln nach ist: jener, der Christus in allem nachahmt und ihm folgt; der heilig, unschuldig, unbefleckt, unberührt ist: in dessen Brust das Böse keinen Raum hat, in dessen Brust allein Frömmigkeit und Güte Bestand haben, der niemandem schaden, niemanden verletzen kann, sondern allen Hilfe bringt. Christ ist jener, der weiß, daß er nach dem Beispiel Christi auch seine Feinde nicht haßt, sondern seinen Gegnern mehr Wohltaten zukommen läßt als sich selbst, und der für seine Verfolger und Feinde betet. Denn wer bereit ist, einen anderen zu verletzen oder zu schädigen, der lügt, wenn er behauptet, Christ zu sein. Christ ist, der gerechterweise sagen kann: Ich habe keinen Menschen geschädigt, ich habe mit allen gerecht gelebt" (Vit Chr VI) 59 . Dieser Abschnitt wurde so ausführlich zitiert, um zu zeigen, welch große Forderung an einen Christen gestellt wurde — wie sehr sein Leben, sein Umgang mit anderen im Zentrum des Christseins gestanden hat, aber dennoch immer nur der einzelne als Individuum angesprochen ist. Und es geht um einen „Christen", nicht um einen Mönch oder Kleriker: die 56 Dem IX (PL 30, 24B): „Prohibentur mala, praecipiuntur bona; conceduntur media, perfecta suadentur". 57 „Christianus ille est, qui Christi uiuit e x e m p l o " (Honor 1, Caspari, S. 5 ) . 58 „Christianus iustitiae, bonitatis, integritatis, patientiae, castitatis, prudentiae, humilitatis, humanitatis, innocentiae, pietatis est n o m e n " (Vit Christ VI, PL 4 0 , 1036). 59 „Christianus ille est, qui n o n nomine tantum sed, opere est: ille qui Christum in omnibus imitatur et sequitur; qui sanctus, innocens, incontaminatus, intactus est; cuius in pectore malitia non habet locum, cuius in pectore sola pietas consistit et bonitas, qui neminem novit nocere vel laedere, sed omnibus opem ferre. Christianus ille est, qui exemplo Christi nec inimicos novit odire, sed magis adversantibus sibi benefacere, et pro persecutoribus suis et hostibus exorare. Nam et quisquis aliquem laedere aut nocere paratus est, ille mentitur se esse christianum. Christianus est, qui potest iusta voce dicere, Neminem nocui hominum, iuste vixi cum omnibus" (Vit Christ VI, PL 4 0 , 1 0 3 7 ) .
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Pelagianer bezeichneten sich selbst ganz bewußt als „Christen" oder „Christiani integri" — es war die Forderung an alle und nicht an eine herausgehobene Minderheit 6 0 . Hand in Hand mit dieser am Leben orientierten Definition des Christen geht die Polemik gegen die bloßen Namenschristen, die bei Salvian und in den pelagianischen Schriften in aller Schärfe geführt wird 6 1 . Der dogmatischen Indifferenz steht eine harte, intolerante Haltung in Fragen der Ethik gegenüber. Glauben manifestiert sich im Handeln, ihm kommt keine eigenständige Bedeutung zu. Wie Salvian aus der Mißachtung der Gebote auf mangelnden Glauben an göttliche Strafandrohungen schließt 6 2 , so schreibt auch der Verfasser des Briefes „Honorificentiae tuae": „Man kann an Gott nicht glauben, ihn nicht lieben und fürchten, wenn man seine Gebote verachtet"63. Die Gebote Gottes gelten in ihrer Strenge zu allen Zeiten. Im Traktat „De divitiis" wird wie bei Salvian gegen solche Christen polemisiert, die die Forderung nach Aufgabe des Besitzes für eine Anweisung halten, die nur zur Zeit des Anfangs bzw. für die Zeit der Verfolgung Gültigkeit beanspruchen konnte. Beide betonen, daß es keinerlei Anlaß für eine solche Einschränkung gebe 6 4 . Für Pelagianer und für Salvian bedeutet das Evangelium nichts anderes als eine neue, verschärfte Form des Gesetzes, die das alte Gesetz abgelöst bzw. ergänzt hat. Beide lehnen daher Bezugnahmen auf das AT ab, wenn das NT eine strengere Regelung vorschreibt: so erklären sie z.B. in der Diskussion der Forderung des Besitzverzichts den Bezug auf den von Gott geschenkten Reichtum der Patriarchen als unzulässig 65 . d) Die Möglichkeit, sündlos zu leben Da einerseits auf die vollständige Befolgung aller Gebote so großer Wert gelegt wird, andererseits die Sünde als willentliche Gesetzesübertretung definiert wird, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit sündlosen Lebens. 60
Div leg IX (PL 30, 114f.); vgl. P. Brown, Pelagius and His Supporters, 1 9 2 f . Salvian: G I I I , 6 0 - I V , 6 , vgl. o. S. 67f. Honor 1 (Caspari S. 4): „nihil prodesse D e u m labris confiteri et factis negare"; Vit Christ I (PL 4 0 , 1 0 3 3 ) ; VI ( 1 0 3 6 f . ) . 62 S.o. S. 6 8 - 7 0 . 63 Honor 1 (Caspari, S. 4): „ut neque scire D e u m , neque credere, neque diligere, neque timere eum, qui eius mandata contempsit"; ähnlich Vit Christ IX (PL 4 0 , 1038f.).