Geschichte und Kultur der Juden in Bayern: Lebensläufe [Reprint 2012 ed.] 9783111548579, 9783598075445


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German Pages 328 Year 1988

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Lebensläufe
Rabbi Jehuda ben Samuel he-Hasid (um 1140–1217), »der Pietist«
Meir ben Baruch aus Rothenburg (um 1220–1293), »supremus Magister«
Jakob von Landshut, ein jüdischer Arzt des 14. Jahrhunderts
Bemmel, ein Geldverleiher und Viehhändler aus dem schwäbisch- fränkischen Grenzgebiet
Isaak Alexander (1722?–1800), Rabbiner zu Regensburg, »Unser ausgezeichneter thorakundiger Herr und Meister Morenu hoRav Eisik, Sein Licht leuchte«
Simon Höchheimer (1744–1828), Arzt und Schriftsteller
Abraham Rost, Hoffaktor
Drei Generationen Seligmann-von Eichthal in München, »allda etablierte Banquiers«
Elkan Henle (1761–1833), ein Vorkämpfer für die Judenemanzipation
Die Familie von Hirsch-Gereuth im 18. und 19. Jahrhundert, Bankiers
Heymann (Chaim) Salomon Pappenheimer, Edler von Kerstorf (1769–1832), »Großhändler und Banquier«
Samson Wolf Rosenfeld (1780–1862), Rabbiner in der Emanzipationszeit
Bernhard von Eichthal (1784–1830), »Bürgerpflicht und wohltätiger Sinn«
Benjamin Berliner (1784–1838), Lehrer in Harburg
Die Offiziere Isidor und Maximilian Marx (1789–1862 und 1842–1916)
Moritz Gottlieb Saphir (1795–1858), »Vomkunstrichterstuhlherabdieleutevernichtenwoller «
Rabbiner Hirsch Aub (1796–1875) und Familie
Hirsch Kutz (1802–?), Buchbinder in Mönchsdeggingen
Friedrich Julius Stahl (1802–1861). Vom bayerischen Juden zum preußischen Konservativen
Simon Krämer (1808–1887), ein jüdischer Dorfschullehrer in Mittelfranken
David Morgenstern (1814–1882), der erste jüdische Landtagsabgeordnete in Bayern
Nathan Michael Ries / Michael Reese (1815–1878), ein amerikanischer Pionier aus Hainsfarth
Koppel (Jakob) Herz (1816–1871), Mediziner und »ordentlicher Universitätsprofessor«
Michael Hahn (1830–1886), Gouverneur von Louisiana
Heinrich Porges (1837–1900), Dirigent und Chorleiter
Hermann Levi (1839–1900), der erste »Parsifal«-Dirigent
Familie Bing, Fabrikanten in Nürnberg
Max und Emmy Noether (1844–1921 und 1882–1935), Mathematiker
Oscar Salomon Straus (1850–1931), amerikanischer Diplomat und Politiker
Henry Simonsfeld (1852–1913), Historiker in München
Emil Guggenheimer (1860–1925), Geheimer Justizrat
Max Littmann (1862–1931), Architekt
Carry Brachvogel (1864–1942), Schriftstellerin
Elsa Porges-Bernstein (1866–1949), Schriftstellerin
Edgar Jaffé (1866–1921), Nationalökonom und Finanzminister im Kabinett Kurt Eisner
Salomon Stein (1866–1938), Distriktsrabbiner von Schweinfurt
Alfred Neumeyer (1867–1944), Richter und Vorsitzender des Verbandes Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern bis 1941
Thomas Theodor Heine (1867–1948), Karikaturist und Zeichner
Kurt Eisner (1867–1919), Bayerischer Ministerpräsident
Karl Neumeyer (1869–1941), Jurist
Karl Wolfskehl (1869–1948), im Zeichen des »doppelten Antlitzes«
Felix Freudenberger (1874–1927), sozialdemokratischer Bürgermeister und Pazifist
Julius Wolfgang Schuelein (1881–1970), Maler
Nikodem Caro (1871–1935), Wissenschaftler und Industrieller
Jakob Wassermann (1873–1934). Vergebliches Tun – sein Weg als Deutscher und als Jude
Felix Aron Theilhaber (1884–1956), Arzt und Statistiker des deutschen Judentums
Lion und Marta Feuchtwanger (1884–1958 und 1893–1987), »Exil«
Ernst Toller (1893–1939), »der aber an Deutschland scheiterte...«
Philipp Auerbach (1906–1952), »Generalanwalt für Wiedergutmachung«
Hans Lamm (1913–1985), Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde München
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Geschichte und Kultur der Juden in Bayern: Lebensläufe [Reprint 2012 ed.]
 9783111548579, 9783598075445

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Geschichte und Kultur der Juden in Bayern Lebensläufe

Band 18

Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur Nr. 18/88

Herausgegeben von Claus Grimm

Haus der Bayerischen Geschichte

Geschichte und Kultur der Juden Lebensläufe

Herausgegeben von Manfred Treml und Wolf Weigand unter Mitarbeit von Evamaria Brockhoff

K G · Saur München · New York · London · Paris 1988

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Geschichte und Kultur der Juden in Bayern / Haus d. Bayer. Geschichte. Hrsg. von Manfred Treml u. Wolf Weigand. Unter Mitarb. von Evamaria Brockhoff. - München ; New York ; London ; Paris : Saur. NE: Treml, Manfred [Hrsg.]; Haus der Bayerischen Geschichte

Lebensläufe. - 1988 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur ; Nr. 18) ISBN 3-598-07544-8 NE: GT

© 1988 Bayerische Staatskanzlei Haus der Bayerischen Geschichte, München © K. G. Saur Verlag GmbH & Co KG, München Alle Rechte vorbehalten Satz (nach Datenübernahme) und Druck: Kastner & Callwey, München Umschlag: Fritz Armbruster ISBN 3-598-07544-8

Vorwort

Das biographische Einzelbeispiel vermag Lebenssituationen und Existenzbedingungen von Menschen besonders plastisch und eindringlich wiederzugeben. Aus diesem Grunde haben sich die Veranstalter der Ausstellung »Geschichte und Kultur der Juden in Bayern« entschlossen, neben dem Katalog und dem Aufsatzband die Publikation »Lebensläufe« in die Reihe der Veröffentlichungen aufzunehmen. Der Band ergänzt, vertieft und verdeutlicht manchen Z u s a m m e n h a n g , der in der Ausstellung nur angedeutet werden kann. Freilich sind den Darstellungsmöglichkeiten der Biographie auch Grenzen gesetzt. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit etwa ist die Rekonstruktion individueller Lebensläufe oft m ü h s a m und nur mit Einschränkungen möglich. Spärlich sind auch die Lebensschicksale der »kleinen Leute«, der ländlichen Hausierjuden etwa oder der kleinen Händler, weil schriftliche Quellen weitgehend fehlen oder nur in negativen Z u s a m m e n h ä n g e n vorhanden sind. Auch Frauenschicksale sind bisher wenig beachtet. Im 19. und 20. Jahrhundert stellt sich zusätzlich die Frage, wer zum J u d e n t u m zählt. Für die Entscheidung etwa, Friedrich Julius Stahl in den Band aufzunehmen, gibt es gewichtige Gründe, aber auch ernstzunehmende Gegenargumente. Die Herausgeber haben sich schließlich in diesem wie auch in anderen Fällen dafür entschieden, die H e r k u n f t und das Elternhaus als Hauptkriterien zu nehmen. Damit soll weder die Konversion als persönliche Glaubensentscheidung in Frage gestellt noch gar einer rassischen Begründung das Wort geredet werden. Die Einengung jedoch auf Glaubensjuden hätte das breite Spektrum von Lebensmodellen, wie sie sich gerade im Jahrhundert der Emanzipation finden, allzu sehr reduziert und die jüdisch-deutsche Lebens wirklichkeit dieser Jahrzehnte verfälscht. N u r aus der Fülle der Möglichkeiten entsteht ein wenigstens annäherndes Bild von der Verbundenheit der Juden mit dieser bayerischen Gesellschaft. Unübersehbar sind aber auch Distanz und Ausgrenzung. Erkennbar werden Bedrängung durch die christliche U m w e l t und aktive jüdische Gegenwehr. Jüdisches Selbstbewußtsein n i m m t individuelle, menschlich faßbare Konturen an. Dieser Band, der auch anregen möchte zu weiteren biographischen Publikationen, konnte nur aus dem Z u s a m m e n w i r k e n vieler Fachleute entstehen. Der Dank der Projektleiter der Ausstellung gilt daher allen, die dazu beigetragen haben: den Autoren, dem Mitherausgeber Wolf Weigand und der Redakteurin Evamaria Brockhoff. Manfred Treml Bernward Deneke

5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

5

Andreas Angerstorfer Rabbi Jehuda ben Samuel he-Hasid (um 1140-1217), »der Pietist«

13

Israel Jacob Yuval Meir ben Baruch aus Rothenburg (um 1220-1293), »supremus Magister«

21

Josef Kirmeier Jakob von Landshut, ein jüdischer Arzt des 14. Jahrhunderts

25

Manfred Hörn er Bemmel, ein Geldverleiher und Viehhändler aus dem schwäbisch-fränkischen Grenzgebiet

31

Renate Heuer Isaak Alexander (1722P-1800), Rabbiner zu Regensburg, »Unser ausgezeichneter thorakundiger Herr und Meister Morenu hoRav Eisik, Sein Licht leuchte«

37

Gunnar Och/Gerhard Renda Simon Höchheimer (1744-1828), Arzt und Schriftsteller

43

Margit Ksoll Abraham Rost, Hoffaktor

49

Franziska Jungmann-Stadler Drei Generationen Seligmann-von Eichthal in München, »allda etablierte Banquiers«

53

Manfred Treml Elkan Henle (1761-1833), ein Vorkämpfer für die Judenemanzipation

59

6

Erika Bosl Die Familie von Hirsch-Gereuth im 18. und 19.Jahrhundert, Bankiers

63

Alain Ruiz Heymann (Chaim) Salomon Pappenheimer, Edler von Kerstorf (1769-1832), »Großhändler und Banquier«

71

Falk Wiesemann Samson Wolf Rosenfeld (1780-1862), Rabbiner in der Emanzipationszeit

77

Franziska Jungmann-Stadler Bernhard von Eichthal (1784-1830), »Bürgerpflicht und wohltätiger Sinn«

85

Max Direktor Benjamin Berliner (1784-1838), Lehrer in Harburg

91

Rainer Braun Die Offiziere Isidor und Maximilian Marx (1789-1862 und 1842-1916)

95

U w e Puschner Moritz Gottlieb Saphir (1795-1858), »Vomkunstrichterstuhlherabdieleutevernichtenwoller«

101

Hendrikje Kilian Rabbiner Hirsch Aub (1796-1875) und Familie

109

Max Direktor Hirsch Kutz (1802-?), Buchbinder in Mönchsdeggingen

113

Wilhelm Füßl Friedrich Julius Stahl (1802-1861). Vom bayerischen Juden zum preußischen Konservativen

117

Falk Wiesemann Simon Krämer (1808-1887), ein jüdischer Dorfschullehrer in Mittelfranken

121

Ilse Sponsel David Morgenstern (1814-1882), der erste jüdische Landtagsabgeordnete in Bayern

129

7

Reinhard Η. Scitz Nathan Michael Ries/Michael Reese (1815-1878), ein amerikanischer Pionier aus Hainsfarth

135

Christa Habrich Koppel Oakob) Herz (1816-1871), Mediziner und »ordentlicher Universitätsprofessor«

143

Henry Marx Michael Hahn (1830-1886), Gouverneur von Louisiana

153

Robert Münster Heinrich Porges (1837-1900), Dirigent und Chorleiter

157

Ina Ulrike Paul Hermann Levi (1839-1900), der erste »Parsifal«-Dirigent

163

Rudolf Endres Familie Bing, Fabrikanten in Nürnberg

173

Michael Segre M a x und E m m y Noether (1844-1921 und 1882-1935), Mathematiker

179

Henry M a r x Oscar Salomon Straus (1850-1931), amerikanischer Diplomat und Politiker

183

Wolf Weigand Henry Simonsfeld (1852-1913), Historiker in München

189

Wolf Weigand Emil Guggenheimer (1860-1925), Geheimer Justizrat

195

Franz Menges M a x Littmann (1862-1931), Architekt

203

Renate Heuer Carry Brachvogel (1864-1942), Schriftstellerin

211

Ursula Wiedenmann Elsa Porges-Bernstein (1866-1949), Schriftstellerin

217

Franz Menges Edgar Jaffe (1866-1921), Nationalökonom und Finanzminister im Kabinett Kurt Eisner

225

U w e Müller Salomon Stein (1866-1938), Distriktsrabbiner von Schweinfurt

231

Alexander Neumeyer Alfred Neumeyer (1867-1944), Richter und Vorsitzender des Verbandes Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern bis 1941

235

Franz Menges Thomas Theodor Heine (1867-1948), Karikaturist und Zeichner

243

Helmut Hanko Kurt Eisner (1867—1919), Bayerischer Ministerpräsident

251

Heinrich von Bonhorst Karl Neumeyer (1869-1941), Jurist

257

Evamaria Brockhoff Karl Wolfskehl (1869-1948), im Zeichen des »doppelten Antlitzes«

263

Roland Flade Felix Freudenberger (1874-1927), sozialdemokratischer Bürgermeister und Pazifist

269

Fritz Armbruster Julius Wolfgang Schuelein (1881-1970), Maler

273

Helmut Hilz Nikodem Caro (1871-1935), Wissenschaftler und Industrieller

281

Leibi Rosenberg Jakob Wassermann (1873-1934). Vergebliches Tun - sein Weg als Deutscher und Jude

285

Renate Heuer Felix Aron Theilhaber (1884-1956), Arzt und Statistiker des deutschen Judentums

293

9

Volker Skierka Lion und Marta Feuchtwanger (1884-1958 und 1893-1987), »Exil«

299

Carel ter Haar Ernst Toller (1893-1939), »der aber an Deutschland scheiterte...«

309

Elke Fröhlich Philipp Auerbach (1906-1952), »Generalanwalt für Wiedergutmachung«

315

Brigitte Schmidt Hans Lamm (1913-1985),

321

Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde München Autoren

325

Bildnachweis

328

10

Lebensläufe

11

Andreas Angerstorfer

Rabbi Jehuda ben Samuel he-Hasid (urn 1140-1217), »der Pietist«

Rabbi Jehuda entstammt der berühmten Theologenfamilie Kalonymus 1 . Sein Vater Rabbi Samuel ben Kalonymus he-Hasid (1115-1180) war ein bekannter Talmudgelehrter und Pajtan (liturgischer Dichter) in Speyer. Er begründete mit seinem Sohn Jehuda den jüdisch-deutschen Pietismus (hasidut ha-ashekenazit). Neben der jüdischen Philosophie in Spanien, dem scholastischen Talmudstudium in Nordfrankreich und der Kabbala in Südfrankreich gehörte der Pietismus zu den vier neuen geistigen Richtungen des Judentums, für die es in Deutschland und Frankreich kein Vorbild gab. Jehuda wurde ca. 1140 in Speyer geboren, lernte bei seinem Vater2, studierte bei Rabbi Jomtov dem Heiligen 3 und Rabbi Isaak ben Samuel. Bald trat der Vater völlig hinter seinem Sohn zurück, die Handschriften bezeichnen ihn als Vater seines berühmten Sohnes 4 . Jehudas älterer Bruder Abraham ben Samuel leitete in Speyer eine Jeschiwa (Talmudschule). 1195/96 ging Jehuda nach Regensburg. Hier gründete er die Jeschiwa, an der er 21 Jahre lang lehrte, und die wie ein Magnet die jungen Gelehrten Deutschlands anzog. Jehuda hatte Kontakte zu den bedeutensten Halakhisten (rabbinischen Rechtsgelehrten) seiner Zeit, er erhielt viele Anfragen. Seine Antworten sind in der Handschrift 1408 der Nationalbibliothek Paris überliefert 5 . Auch eine Reihe von talmudischen Randglossen (Tossafot) geht auf ihn zurück. Jehuda war als einziger Pietist Mitglied des rabbinischen Gerichts (Bet Din) von Regensburg. Z u m Leben Jehudas gibt es unterschiedlichste Quellen, eigenes Schrifttum und Volkserzählungen. L. Zunz 6 charakterisierte die Quellenlage: »Wie der Mythos sein Leben, so durchzieht jüngere Arbeit seine Werke«, ähnlich urteilte M. Güdemann 7 : Auch die Schriften, die den namen Jehudas tragen, »umgibt der Nebel der Sage. Was durch denselben deutlich wahrnehmbar hindurchleuchtet, das ist der Glanz seines Namens, in welchem seine Schüler, die bedeutensten Männer des 13. Jahrhunderts sich sonnen«. Die Bedeutung Rabbi Jehudas »ist noch nicht in das gehörige Licht gestellt« 8 . Y. Baer 9 definierte die Haside Ashkenaz als populäre religiöse und soziale Bewegung mit einem detaillierten sozialreformerischen Programm; er sah in Jehuda einen der größten ethisch-religiösen Denker des Mittelalters und der Menschheit überhaupt, gleich mit seinem jüngeren christlichen Zeitgenossen Franz von Assisi (1182—1226)10. Auch G. Scholem" verstand 1941 die Haside Ashkenaz als eine geschlossene religiöse Volksbewegung, eine jüdische Mystik, die 13

christliche Ideen und Praktiken aufnahm. Erst in den letzten 20 Jahren konnten J . Dan 12 und I. G. Marcus" über neue Quellen und bessere Handschriften ein klareres Bild der jüdisch-deutschen Pietisten um das große Dreigestirn Samuel he-Hasid, Jehuda he-Hasid und Eleazar von Worms entwerfen 14 . Die »eigentlich produktive Periode der Bewegung« der jüdischen Pietisten dauerte von ca. 1170—124015, »aber noch lange nachher steht das Leben der deutschen Juden unter ihrem Stern« 16 . Fast nichts ist bekannt über Anzahl und geographische Verbreitung der Pietisten. Der jüdisch-deutsche Pietismus war keine einheitlich religiöse Bewegung, sondern bildete unterschiedliche Zirkel 17 , vor allem um Jehuda und Eleazar von Worms, die jedoch erhebliche theologische Unterschiede aufweisen. Vermutlich bildeten diese Pietisten keine festen Gemeinden oder Gruppen, sondern lebten ihrem chassidischen Ideal nach als einzelne zurückgezogen, Einsiedlern vergleichbar, in kleineren und größeren Zirkeln oder bruderschaftsähnlichen Gruppierungen im Rheinland und in Regensburg. M . Güdemann 18 beschrieb für Jehuda ein oppositionelles Verhältnis zur Geistesrichtung seiner Zeit, einen Konflikt »zwischen der chassidischen Lebensform und der N o r m des rabbinischen Judentums, der Halacha«. I.G. Marcus 19 definiert diese Pietisten des Sefer Hasidim als religiöse Subkultur, als »Sekte« mit eigenständigem Gruppenbewußtsein, esoterischer Exegese der Schrift und einem spezifischen Vokabular, das zwischen Pietisten und nichtpietistischen Juden klar unterscheidet. Wegen der religionswissenschaftlichen Problematik des an christlichen Vorstellungen gewonnenen Begriffs »Sekte« möchte ich eher von einer jüdischen Laienbruderschaft religiöser Extremisten sprechen, die ihre »Ordensregeln« im Sefer Hasidim kodifiziert hat. Der »Gründer« Jehuda prägte eine stark »kirchen«- und gesellschaftkritische Theologie. Die Persönlichkeit Jehudas kann nur über seine vielen Werke nachgezeichnet werden. Sie wurden anonym überliefert, denn er verbot, seinen Namen auf seine Werke zu setzen, damit seine Kinder und Enkel nicht durch die Verdienste ihres Vater stolz würden 20 . Jehuda besaß in Regensburg eine umfassende Bibliothek theosophisch-mystischer Schriften, in seinem Haus befand sich ein Kasten (Kiste/Kommode/Schrank) mit kuntrasim (Heften), in denen die heiligen Geheimnisse niedergeschrieben waren 21 . Jehuda muß unermüdlich gearbeitet haben. Verloren sind heute seine Kommentare zu den Büchern Ijjob, Sprüche Salomos 2 2 und Sefer Jetzira. Viel benützt wurde sein Torakommentar. Es existieren mehrere Handschriften, eine kritische Edition steht noch aus23. Jehudas esoterisches Hauptwerk »Sefer hak-kabod« (Buch der göttlichen Herrlichkeit) ist nur in Zitaten seiner Schüler überliefert 24 . Jehuda schrieb den ersten umfassenden Kommentar zu den Texten der Liturgie. Das 8-bändige Werk ist nicht erhalten, es existieren jedoch umfangreiche Zitate in dem Kompendium der Gebetsmystik »Sodot hat-tefilla« (Geheimnisse der Liturgie) seiner Schüler. Sein Kommentar bewirkte einen Neuanfang in der Einstellung

14

zum Gebetstext. Jehuda polemisiert gegen jede Hinzufügung oder Auslassung von Sätzen und Wörtern, da dies die religiöse Bedeutung des Gebets zerstört. Die Wörter und Buchstaben sind nicht zufällig, haben nicht nur wörtliche Bedeutung, sie reflektieren eine »mystische Harmonie, einen heiligen, göttlichen Rhythmus« 2 5 . Ein Gebet, bei dem die mystische Dimension der verborgenen Wahrheit gestört ist, ist wie »ein weltliches Lied, wie das (Gebet) der Christen«. Jehuda verfaßte selbst einzelne liturgische Lieder (Pijjutim), am bekanntesten ist sein Hymnus » A n " im zemirot«, der sich in fast allen aschkenasischen Gebetbüchern im Mussafgebet des Sabbat 26 findet. Einige ihm zugeschriebenen esoterische Werke sind in ihrer Autorschaft umstritten, so der »Sefer Gematriot« oder das »Testament des R. Jehuda he-Hasid« 27 , andere sind verloren oder nicht kritisch ediert, z . B . der »Sod ha-jichud« (Geheimnis der Gotteseinheit) 28 . Die Publikation von 31 dämonologischen Geschichten aus den Handschriften O x f o r d 1567 und Günzburg 82 (Moskau) 29 erlaubt einen Blick in den »Zettelkasten« Jehudas: Es sind Stoffe des »Sefer Hasidim«, in denen die moralischen Schlußfolgerungen noch fehlen: der Ritter und der Todesengel, Hexen, Traum als Todesvorzeichen, Ankunft des Messias, Enttarnung der Diebin 30 , nächtliche Hammerschläge, Hexenkatze, Geburtszauber, nächtliche Feuerzeichen, der Amulettschreiber und die Dämonen, der Rabenberg, die Nachtmahr, Vorausahnung der Tiere, der Verstorbene im Traum, der Lustgarten des Königs usw. Auch der »Sefer Mal'akim« (Buch der Engel) ist ein Werk des Regensburgers 31 . Es weist jedem Menschen einen Schicksalsengel zu, beschreibt Dämonenbannung, Traumanfragen, wilde Jagd, Nachtmahr, Todesvorzeichen, Amulettschreiber u. a. Die pietistischen Denker legten im 13. Jahrhundert die Fundamente der rabbinischen ethischen Literatur, die zum Religionsgesetz (Halakha) werden sollte. Mit dem »Sefer Hasidim« schuf Jehuda eine revolutionäre Ethik. Der »Sefer Hasidim« (Buch der Pietisten), von Befürwortern und Gegnern viel gelesen, bietet ein neues, geschlossenes System praktischer Unterweisung. Das bisher unübersetzte Buch 32 enthält knapp 2000 Exempla, Parabeln und dämonologische Erzählungen, esoterische Ethik, Gebetsmystik, Wundergeschichten, Bibel-, Talmud- und Midraschauslegungen. Das in ihm enthaltene theologische System analysierte J. Dan 33 . Die Pietisten brachten in die jüdische Theologie als erste Schrift vor der Kabbala die Idee einer »mehrschichtigen« Gottheit ein. Der verborgene, höchste, ewige Gott (»der Schöpfer«) ist die Quelle der Schöpfung, aller Naturgesetze und der Gesellschaft. Die göttliche Macht ist die Kabod, eine durch die Prophetie geoffenbarte Emanation, die verschiedene Formen annehmen kann. Sie ist in den Synagogen der Pietisten anwesend und flieht jeden bösen Ort. Während die Naturgesetze nach dem Willen des Schöpfers sind, kann die Kabod Wunder wirken. Ausnahmen der Naturgesetze sind demnach Resultate direkter Interventionen der göttlichen Kabod. Die Güte Gottes zeigt sich daher nicht im Lauf der Welt, sondern 15

nur in Wundern. In der Astrologie zeigen sich die göttlichen Beschlüsse, die der Schöpfer in den astrologischen Konstellationen aufschreibt. Jeder Mensch hat ein geistiges, astrales Double, einen Astralleib (tzelem), dessen Weg prädestiniert ist. Der jüdische Pietist hat völlig nach dem Willen des Schöpfers zu leben, der teilweise in der Schrift und in der mündlichen Uberlieferung geoffenbart ist. Dies geht über die Einhaltung des Ritualgesetzes hinaus, d.h., die Pietisten berufen sich auf eine geheime religiöse Autorität vom Sinai, die diejenige des rabbinischen Judentums übersteigt. Demnach gab es am Sinai eine dreifache Offenbarung: die Tora (für alle), die mündliche Überlieferung (für rabbinische Gelehrte) und das esoterische Wissen (für die Pietisten). Der Hasid tut nicht nur nichts Böses, er lebt ganz dem Willen des Schöpfers und widersteht den Versuchungen Gottes durch den bösen Trieb. Der »Gerechte« (= Pietist) leistet das Unmögliche, indem er Gott liebt und furchtet, trotz der ihm vom Schöpfer zugedachten Negativa. Tora und Talmud sind die von Gott gesteckte Hindernisstrecke, auf der sich der Pietist und jeder Mensch bewähren muß. N u r ein paar Gerechte garantieren, wie der leidende Messias, die Existenz dieser Welt". Jehuda gibt im »Sefer Hasidim« ein sozialethisches, ökonomisches und politisches Programm der Idealgesellschaft der Haside Ashkenaz nach den Leitmotiven »Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst!« (Lev 19, 17) und »Jeder in Israel ist für den anderen verantwortlich!«. Er unterscheidet Pietisten, nichtpietistische Juden und Christen, die er in vieler Hinsicht den Nichtpietisten gleichstellt. Die Entscheidung für den Pietismus hat für den Gläubigen weitreichende Folgen. Jehuda verlangt, daß Pietisten nicht mit Nichtpietisten leben, keine religiösen Mahlzeiten (Sederabend) mit ihnen teilen und nicht in deren Nähe wohnen. Außerdem gebietet Jehuda, sich gegen die Niederlassung von Nichtpietisten in der Stadt auszusprechen und sie nicht aufzunehmen. Sogar auf dem Friedhof wollten die Hasidim in einem eigenen Teil bestattet werden35. Pietisten trugen stets den Gebetsschal, nicht nur in der öffentlichen Liturgie; vier Schaufaden an ihrem äußeren Kleid machten sie als Pietisten kenntlich". Die Heiratsregeln empfehlen eher einen konvertierten Pietisten zu heiraten als einen nichtpietistischen Juden. Jehuda gibt einer armen Pietistentochter den Vorzug gegenüber der Tochter eines reichen Nichtpietisten. Die Initiative bei der Partnerwahl kann vom Mann oder der Frau ausgehen. Die Gruppe der Pietisten umfaßt Gelehrte (chasid chakam) und Nichtgebildete. Nur die Gelehrsamkeit des Pietismus ist wahre Gelehrsamkeit, denn nur sie kann den Willen des Schöpfers, der das Ziel des Torastudiums ist, interpretieren. Jehuda kritisiert nicht das Talmud-Studium als solches, sondern die nichtpietistische (=tossafistische) Auslegung. Der pietistische Gelehrte legt sich viele zusätzliche Verbote auf, die nicht in der Tora vorgeschrieben sind37. Er leitet die Gruppe und nur bei ihm kann man als Initiationsritus die Buße erbitten (s.u.). Er gibt auch Auskunft, ob eine Ehe »gemäß dem Willen des Schöpfers« sei, wie der Widerspruch religiöser Gebote zu lösen sei, wie 16

Träume als Zeichen des Schöpferwillens zu deuten seien. Almosen werden bevorzugt an die eigene Gruppe gegeben, innerhalb derer Verwandte vor anderen bevorzugt werden. Im vielfältigen Kontakt mit der christlichen Majorität markiert Jehuda klare Grenzen38. Ein Pietist muß eine Kirche und ihren Innenhof meiden39, er darf christliche Symbole nicht verehren40. Klerikern soll der Pietist weder das Alphabet noch Melodien lehren41. Christliche Bücher soll man weder in seinem Bücherschrank aufbewahren noch dürfen sie gebunden werden42. Der Pietist darf keine christlichen Musikinstrumente oder Melodien in der Liturgie benützen 43 . Auch Christen die Torarollen zu zeigen, ist ihm verboten 44 . Der »Sefer Hasidim« regelt die Gottesdienstpraxis, schreibt die Lebensweise des pietistischen Gelehrten vor, der zur Bescheidenheit angehalten ist45. Er darf auch unter Prostituierten und Würfelspielern leben, um sie vor Sünde zu bewahren 46 , doch sind ihm zeitgenössische Vergnügungen, wie etwa Würfelspiel, Tanz, profane Lieder, höfische Gesellschaftsformen wie der Minnedienst verboten 47 . Wie die anderen Werke Jehudas bietet der »Sefer Hasidim« eine Fülle an Informationen über den hochmittelalterlichen Aberglauben. Jehuda ist geprägt vom Milieu des christlichen Regensburg in seiner Sicht von Magie, Zauberei, Dämonologie, wie sich in seinem Gebrauch deutscher Fachausdrücke zeigt. Er glaubt an Vorahnungen, Todesprophetien, Traumanfragen, den bösen Blick, Dämonen und Hexen (Waldfrauen, Maren, fliegende Hexen, Hexenkatzen), Drachen, Vampire, wilde Männer, Werwölfe, Zauberer, Wilde Jagd, an die Macht von Amuletten und Beschwörungen 48 . Jehudas Interesse an diesen Phänomenen, das ohne Parallele in der mittelalterlichen hebräischen Literatur bzw. in der gesamten europäischen Literatur seiner Zeit ist, resultiert aus seiner Interpretation von Wundern, die verborgene Manifestationen der Güte Gottes in der Welt sind. Diese Mächte entstammen keiner dualistischen Welt, sondern sie werden von einem Gott regiert. Die Weltsicht Jehudas und der Haside Ashkenaz ist pessimistisch. Der Mensch steht in dieser Welt immer in der Situation des Quiddush ha-Shem, »der Heiligung des Namens Gottes«, d.h. der Wahl zwischen - konkret gesprochen Ermordung oder Zwangstaufe durch die Kreuzfahrer. Sie ist Alltagserfahrung des 12. Jahrhunderts und Prüfstein für die religiösen und ethischen Forderungen. Damit wird sie der höchste Ausdruck der Liebe des Menschen zu Gott. Ein Zentralthema des Pietismus ist die Buße und Reue49. Das »Bußbuch« ist der Initiationsritus der Pietisten. Die Beichtvaterrolle hat der pietistische Weise. Das »Bußbuch« orientiert sich an den pastoralen Nöten des Weisen als Bekenner und am Büßer. Es befaßt sich mit Sünden von Pietisten und Nichtpietisten. Der Sünder bekennt seine Sünden, ohne etwas zu verschweigen. Bei unvollständigem Sündenregister kann der Weise die Bußauskunft verweigern. Die Sünde ist eine subjektive Erfahrung von Lust bzw. Vorteil und ein objektiver Verstoß gegen die Tora, für den man Leiden und Selbstbestrafung auf sich zu nehmen hat. Jehuda kehrt den rabbinischen Satz »Die Belohnung ist proportional zum Leid« um. Was in dieser Welt erfreut, 17

vermindert die Belohnung in der kommenden 50 . Er schuf damit eine neue Theorie von Sünde und Buße. Durch Reue orientiert der Sünder erneut seinen Willen am Willen des Schöpfers. Der »Sefer Hasidim« handelt auch von Ärzten und ihrem Honorar, Urindiagnose, Schocktherapien, ansteckenden Krankheiten, Aphrodisiaka und Kräutern 51 . Viele Kapitel regeln das Zinswesen, Darlehen und Kredit. Jehuda verlangt ehrliches Geschäftsgebaren im Zusammenleben mit der christlichen Majorität. Er erörtert Probleme der Zwangstaufe, des Unterrichts, Talmudstudiums, Bibliothekswesens 52 und der Illustration von Büchern. Er rühmt die Liebe von Frauen zu Büchern und fordert das Torastudium auch für Mädchen. Viele Texte beschäftigen sich mit dem Armenwesen, der Armenkasse, Wohltätigkeit, Gastfreundschaft, Almosen, sogar »Hausbesetzer« kommen zur Sprache53 und auch als Tierschützer zeigt sich Jehuda. Er wendet sich u. a. gegen das Kupieren von Hundeschwänzen und kritisiert das Halten von Ziervögeln in Käfigen 54 . Jehudas »Sefer Hasidim« wurde das volkstümliche Ethik- und Erbauungsbuch des Mittelalters, das die Spiritualität des aschkenasischen Judentums geprägt hat. Nach dem 15.Jahrhundert zitierten sogar Halakhisten den »Sefer Hasidim« als Autorität. JehudasJeschiwa in Regensburg beeinflüßte die großen jüdischen Theologen des frühen 13. Jahrhunderts entscheidend, wie sie in ihren Schriften immer wieder bekennen. Die Schüler gründeten vermutlich weitere pietistische Zirkel, u.a. in Worms. Der sog. »Regensburger Zyklus« des Maassebuches (Nr. 158-182) 55 , ein hebräisch und jiddisch 56 abgefaßtes, vielfach gedrucktes Volksbuch, verklärt Jehudas Leben im Kolorit des spätmittelalterlichen Regensburger Ghettos. Die Druckausgaben kennen 20 »res gesta« Jehudas, ein Sammelcodex Hs. Brüll 57 noch weitere, deren historischer Kern schwer zu entschlüsseln ist. Legenden ranken sich um den Ungeborenen, um seine Geburt, um seine Berufung im Alter von 18 Jahren. Er soll vor den Qualen der Feuerhölle 58 retten, Gott soll ihn sogar als »mein Sohn« bezeichnet haben. Jehudas übersinnliche Fähigkeiten sollen eine ungerechtfertigte Mordanklage im Regensburger Ghetto verhindert haben 5 ', und dem Herzog in Regensburg gestohlene Schätze zurückgebracht haben. Bei Jehudas Sederabend soll der Prophet Elija zu Gast gewesen sein. Jehuda wird nachgesagt, der Schöpfer des Golem zu sein. Der Todesengel soll verhindert haben, daß der sterbende Jehuda den Termin des Weltendes noch aufschreiben konnte 60 . Die Legende verherrlicht seinen Tod, sein Leichenzug wird zum Triumphzug, bei dem einer der Regensburger Stadttürme einstürzt. Jehuda erkrankte am 9. Adar 4977 ( = 18. Februar 1217), er starb am 13. Adar ( = 22. Februar) und wurde auf dem neuen Friedhof in Regensburg begraben. Seine pietistische Gruppe in Regensburg löste sich spurlos auf, die Regensburger Gemeinde jedoch blieb im rabbinischen Schrifttum fur Jahrhunderte die »qehila qedischa« des Rabbi Jehuda he-Hasid.

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Anmerkungen 1 Vgl. Stammbaum bei Zunz, Leopold: Literaturgeschichte der synagogalen Poesie, Berlin 1865 - Neudruck Hildesheim 1966, S. 111 und Epstein, Abraham: R. Samuel heHasid br' Qalonimus hazzaqqen, in: HaGoren 4 (1903), S. 81-101. 2 Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt 1980, S. 112. 3 Ergibt sich aus Codex Oxford 1104. 4 »Vater des Rabbi Jehuda he-Hasid« in Paaneach raza, codex München 50, S. 14b; Meir von Rothenburg, Rechtsgutachten (ed. Prag), S. 112c. 5 Vgl. Nationalbibliothek Paris, Nr. 1408, fol. 137-139; Sirat, Colette: Le Manuscrit Hebreu N° 1408 de la Bibliotheque Nationale de Paris, in: Revue des Etudes juives 123 (1964), S. 335-358 und Hirschler, M o she: She'elot u-teshubot le- rabbenu Jehudah he-Hasid, in: Sinai 70 (1971), S. 34-38. Die Handschriften zählt auf Marcus, Ivan G.: Hasidej 'Ashkenaz Private Penitentials, S. 74 (E 1-3). Eine kritische Edition ist geplant. 6 Zunz, Leopold: Zur Geschichte und Literatur, Berlin 1845 = Neudruck Hildesheim 1976, S. 125. 7 Güdemann, Moritz: Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Frankreich und Deutschland, Wien 1880, S. 153. 8 Güdemann, Geschichte I, S. 153. 9 Baer, Jitzhak: Ha-megamah ha-datit-hahevratit shel Sefer Hasidim (The ReligiousSocial Tendency of the Book of the Pietists), in: Zion 3 (1937), S. 1-50 = Neudruck in Baer, Y.: Mehqarim u-masot be-toldot »am Yisra'el (Studies in the History of the Jewish People) II, Jerusalem 1985, S. 175-224. 10 Ebd., S. 49. Ein direkter Zusammenhang mit lateinischen Bußbüchern läßt sich nicht erweisen. 11 Scholem, Mystik, S. 87-127. 12 Dan, Joseph: »Iyyunim be-Sifrut Haside Ashkenaz (Studies in Ashkenazi Hasidic Literature), Ramat Gan 1975; ders.: Torat haSod shel Hasidut Ashkenaz (The Esoteric Theology of Ashkenazi Hasidism), Jerusalem 1968; ders.: Jewish Mysticism and Jewish Ethics, Seattle, London 1986, S. 45-75; ders.: The Emergence of Mystical Prayer, in: Dan, Joseph/Talmage, Frank (Hgg.):

Studies in Jewish Mysticism, Cambridge 1982, S. 85-120. 13 Marcus, Ivan G.: Piety and Society. The Jewish Pietists of Medieval Germany, Leiden 1981 (mit Forschungsgeschichte); ders.: Religious Virtuosi and the Religious C o m munity. The Pietistic Mode in Judaism, in: Neusner, Jacob (Hg.): Take Judaism, for Example. Studies toward the Comparison of Religions, Chicago, London 1983, S. 93115; Marcus, Ivan G.: Hasidei 'Ashkenaz Private Penitentials: An Introduction and Descriptive Catalogue of their Manuscripts and Early Editions, in: Dan/Talmage, S. 5783. 14 Nach Marcus, Piety and Society, S. 178-189 gibt es bis 1980 über 350 Titel, von denen über 200 sich einschlägig mit Jehuda heHasid und dem »Sefer Hasidim« befassen. Leider ist heute der großejüdische Theologe in der deutschen Forschung weitgehend unbekannt. Nachzutragen sind außer den Aufsätzen in Anm. 12 und 13 noch Dan, Joseph: Jewish Mysticism and Jewish Ethics, Seattle, London 1986, S. 45-75 und ders.: The Ashkenazi Hasidic Movement, in: ders.: Gershom Scholem and the Mystical Dimension of Jewish History, New York, London 1987, S. 92-126. 15 Scholem, Gershom: Jüdische Mystik in West-Europa im 12. und 13. Jahrhundert, in: Wilpert, Paul: Judentum im Mittelalter. Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch, Berlin 1966, S. 37-54 (Miscellanea Medievalia 4). 16 Scholem, Hauptströmungen, S. 88. 17 Z . B . der c Ijjun-Zirkel und der »Special Cherub «-circle, deren Schriften teilweise nur durch theologische Vorstellungen differenzierbar sind. 18 Güdemann, Erziehungswesen I, S. 154. 19 Marcus, Religious Virtuosi, S. 93-99. 20 Wistinetzki, Jehuda (Hg.): Sefer Hasidim. Das Buch der Frommen nach der Rezension in Cod. de Rossi No. 1133, Frankfurt 2 1924 = Neudruck Jerusalem 1969 (im folgenden: SHP), 1528 und 1620. 21 Salomo Luria, Rechtsgutachten Nr. 29. 22 Vielleicht liegt ein Auszug davon vor in SHP 1792ff. 23 Auf der Basis von Hs. Günzburg 82 (Moskau) und Hs. Cambridge 669,2 erfolgte eine

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Edition von Lange, Yitzhaq S.: Perushe hattorah lc-rabbi Jehudah he-Hasid, Jerusalem 1975. Dan, Joseph: Q e t a « mi-Sefer ha-kavod le-R' Jehuda he-Hasid, in: Sinai 71 (1972), S. 118120. Dan, Prayer, S. 90f. Zuletzt bearbeitet bei Petuchowski, Jakob J . : Theology and Poetry. Studies in Medieval Piyyut, London, Henley, B o s t o n 1978, S. 38-47. Abgedruckt zuletzt im zweiten Anhang bei Margaliot, Re'uven: Sefer Hasidim, Jerusalem 1984, S. 15-32. Hs. München 325. Dan, Joseph: Sippurim demonologijim mikitve R'-Jehudah he-Hasid, in: Tarbitz 30 (1960), S. 273-289 (=Ijjunim be-sifrut Haside Ashkenaz), Ramat-Gan 1975, S. 9-25. Analog Ma»asebuch Nr. 172. Wie Joseph Dan überzeugend demonstrieren konnte. Auszüge zu diesem T h e m a bei Crombach, Abraham: Social Thinking in the Sefer Hasidim, in: Hebrew Union College Annual 22 (1949) S. 1-147. Dan, Joseph: Sifrut ha-musar we-ha-derush, Jerusalem 1975; ders.: Jewish Mysticism and Jewish Ethics, S. 48-75. S H P 1556. S H P 266. Marcus, Piety and Society, S. 98f. S H P 228. Siehe dazu Katz, Jakob: Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, O x ford 1961, S. 93-105. S H P 1353. S H P 1354. S H P 348. S H P 668 und 681. S H P 1630, 348. S H P 1563. S H P 904. S H P 80. S H P 51 sowie Harris, M o n f o r d : The C o n cept o f Love in Sepher Hasidim, in: Jewish Quaterly Review 50 (1959/60), S. 13-44.

48 Ähnliche Exempla enthält der »Dialogus Miraculorum« des Mönchcs Cäsarius von Helsterbach (ca. 1180 - ca. 1240), der nach Jehudas Tod geschrieben wurde; s. dazu Dan, Joseph/Noy, Dev: Studies in Aggadah and Folk-Literature, Jerusalem 1971, S. 1827 (Scripta Hierosolymitana 22). Jehuda und Cäsarius basieren auf gleichen Volkserzählungen und Volksglauben. 49 S H P 17-265. 50 S H P 277. 51 Shatzmiller, J.: Doctors and Medical Practice in Germany around the Year 1200: T h e Evidence o f Sefer Hasidim, in: Festschrift Yigael Yadin, Totowa 1983, S. 583-593. 52 S H P 672. 53 S H P 1710. 54 S H P 861. 55 Meitlis, Jakob: D a s Ma c assebuch. Seine Entstehung und Quellengeschichte, Berlin 1933 = Neudruck 1987, und ders.: D i Sbachim fun Rabbi Schemu'el 'un Rabbi J u d a ' Hasid, London 1961. Z u den Texten s. Pappenheim, Bertha: Allerlei Geschichten. Maasse-Buch. Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch- deutscher Sprache. Nach der Ausgabe des Maasse-Buches A m sterdam 1723, Frankfurt a.M. 1929. 56 Sand, Ilse Z.: A linguistic comparison o f five Versions o f the Mayse-Bukh (16th-18th centuries), in: Weinreich, Uriel (Hg.): T h e Field o f Yiddish, London, T h e Hague, Paris 1965, S. 24-48. 57 Brüll, Nehemia: Beiträge zur jüdischen Sagen- und Spruchkunde im Mittelalter, in: Jb.d. Jüdisch-Literarischen Gesellschaft 9 (1889), S. 1-71, hier 20-45. 58 Ma»ase-Buch Nr. 170. 59 Spielt vielleicht auf einen Vorfall von 1512 an, s. Straus, Raphael: Urkunden und A k tenstücke zur Geschichte der Juden in Regensburg 1453-1738, München 1960, S. 276, Nr. 788. 60 Die Geschichte steht in Korrelation zu S H P 212, der gegen Endzeitberechnungen polemisiert.

Israel Jacob Yuval

Meir ben Baruch aus Rothenburg (um 1220-1293), »supremus Magister«

Rabbi Meir ben Baruch war der wichtigste Gelehrte der deutschen Juden in der zweiten Hälfte des 13.Jahrhunderts. Er zählt zu den letzten Tossafisten, den Verfassern eines scholastischen Talmudkommentars. Meir ben Baruch wurde um 1220 als Sohn einer Familie von Toragelehrten in Worms geboren. Sein Vater, Rabbi Baruch, selbst ein bedeutender Gelehrter, war sein erster Lehrer. Nachdem Rabbi Meir seinen Ruf begründet hatte, erwies ihm auch sein Vater Ehrbezeugungen und stellte an ihn halachische Anfragen. Eine von Rabbi Ascher ben Jechiel, seinem hervorragendsten Schüler, überlieferte Anekdote veranschaulicht das bemerkenswerte Verhältnis zwischen Vater und Sohn: »Nachdem Rabbi Meir aus Rothenburg berühmt geworden war, wollte er seinen Vater nicht mehr besuchen und wollte nicht, daß dieser zu ihm kommt«. Rabbi Meir befürchtete, daß sein Vater vor ihm, seinem Sohn, wie vor einem anderen großen Gelehrten, ehrfurchtsvoll aufstehen würde, eine Ehrbezeugung, die jedoch üblicherweise der Sohn dem Vater schuldet. U m diese Situation zu vermeiden, zog er es vor, seinen Vater überhaupt nicht zu treffen. In dieser Anekdote zeigt sich die für die aschkenasischen Chassidim typische streng pietistische Haltung Rabbi Meirs. Dieselbe Tendenz läßt sich auch in seinen literarischen Werken erkennen. In seiner Jugend studierte Meir u.a. in Würzburg bei Rabbi Isaak aus Wien, dem Verfasser des halachischen Werkes »Or Sarua«. Sein zweiter bedeutender Lehrer war Rabbi Jehudah Hakohen aus Friedberg. Wie viele seiner Zeitgenossen studierte Rabbi Meir auch an den Talmudhochschulen der großen Tossafisten in Frankreich. Hier war er Schüler von Rabbi Esra von Moncontour, von Rabbi Jechiel von Paris, von Rabbi Samuel von Falaise und Rabbi Samuel von Evreux, damals in Chateau Thierry. Rabbi Meir studierte in Paris bis zum Jahr 1242, als König Ludwig IX., der Heilige, eine Disputation zwischen jüdischen und christlichen Theologen anordnete. Rabbi Meirs Lehrer, Rabbi Jechiel von Paris, stand an der Spitze der jüdischen Disputanten. Als Folge des Streitgesprächs wurden Dutzende von Wagenladungen mit Talmudhandschriften verbrannt. Dieses Ereignis markiert das Ende des Goldenen Zeitalters der Juden im mittelalterlichen Frankreich. Danach verschob sich der Schwerpunkt jüdischer Gelehrsamkeit nördlich der Alpen nach Deutschland. Rabbi Meir beschrieb dieses Ereignis in seinem berühmten Klagelied »Rührt dich, flammenentloderte Tora, nicht?«, das bis zum heutigen Tag zur Liturgie des 9. Av, 21

des Trauertags zum Andenken an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem, gehört. Kurz danach ließ sich Rabbi Meir in Rothenburg nieder, woher er seinen Zunamen erhielt. Im Jahr 1272 ist er noch in Rothenburg nachweisbar, nach dem Tod seines Vaters (1276 oder 1281) zog er nach Worms, wo dieser begraben wurde. In Rabbi Meirs Haus in Rothenburg (oder vielleicht in Worms) befand sich eine große Talmudhochschule. Die 24 Zimmer des Hauses dienten hauptsächlich als Unterkunft für seine Schüler. Zu jener Zeit galt Rabbi Meir als intellektuelle Autorität und höchste gerichtliche Instanz der Juden in ganz Deutschland. Von überall her wandte man sich mit Fragen an ihn, auch aus dem Ausland: aus Italien, Frankreich und Spanien. Daher fand sich Rabbi Meir oft unter großem Zeitdruck und beantwortete nur Rechtsnachfragen von Richtern, während er sich Litiganten verweigerte, die ihn baten, als anerkannter Schiedsrichter ihre Streitigkeiten zu entscheiden. Letzteres tat er auch, um die Autorität der lokalen Gerichte nicht zu untergraben. Wer in seinen Fragen allzu ausschweifend war, wurde von Rabbi Meir gerügt; er antwortete auch unter Zeitdruck kurz vor Festtagen und vom Krankenbett. In einer lateinischen Urkunde wird Rabbi Meir mit dem Beinamen »supremus Magister« bezeichnet. Dies weist zwar kaum auf ein offizielles vom König verliehenes Amt hin, doch wird damit offenbar, daß er als der prominenteste unter den deutschen Rabbinern galt. In den 80er Jahren des 13.Jahrhunderts begann sich die Lage der deutschen Juden zu verschlechtern. Ritualmordanklagen wurden immer häufiger, und im Jahr 1284 belastete König Rudolf I. von Habsburg die Juden mit besonders hohen Steuern. Daher flüchteten Tausende auf illegalem Weg aus Deutschland, und am 6.12.1286 befahl der König, den Besitz der »ultra mare« geflüchteten Juden zu beschlagnahmen. Mit diesem Schritt setzte der König den rechtlichen Status, der den Juden seit 1236 in königlichen Privilegien garantiert worden war, in die Tat, genauer, in bare Münze um, denn sie galten als »servi camerae«, das heißt: Knechte der königlichen Finanzkammer. Unter den Flüchtlingen befand sich Rabbi Meir, der möglicherweise die Flucht initiiert hatte, und seine Familie. Am 28. 6. 1286 wurde Rabbi Meir von einem getauften Juden im lombardischen Gebirge, also hinter den Alpenpässen, nahe der italienischen Grenze, erkannt. Er wurde an den Grafen Meinhart II. von Görz-Tirol ausgeliefert. Aus Rabbi Meirs Reiseroute und aus der Bezeichnung »ultra mare« läßt sich schließen, daß Venedig das Ziel der Flüchtenden war, von wo aus sie ins Heilige Land segeln wollten. Dies stand in Übereinstimmung mit Rabbi Meirs Haltung, der die Auswanderung ins Heilige Land befürwortete, und im Widerspruch mit der bislang in Deutschland vorherrschenden Tendenz, sich vom religiösen Wert solcher Auswanderung zu distanzieren. Rabbi Meir wurde an Rudolf I. ausgeliefert, der ihn in der Feste Ensisheim im Elsaß einsperren ließ. In den Verhandlungen zwischen den Juden im deutschen Reich und dem König über die Freilassung von Rabbi Meir einigte man sich auf ein Lösegeld von 2 0 0 0 0 Mark Silber. Aber es scheint, daß Rabbi Meir sich

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weigerte, sich für einen so astronomisch hohen Betrag freikaufen zu lassen, denn er befürchtete, daß dies weitere Gelderpressungen von Seiten des Königs fördern könnte. Die Haftbedingungen waren unbequem. Zwar beantwortete Rabbi Meir aus dem Gefängnis viele an ihn gerichtete Anfragen und verfaßte auch verschiedene Schriften. Doch darin klagt er unter anderem über den Mangel an Büchern und Schreibmaterial. Später wurde er ins Gefängnis von Wasserburg gebracht, wo sich die äußeren Bedingungen seiner Haft besserten. Seine Schüler durften ihn besuchen, wann sie wollten. Gleichzeitig wurden auch die Verhandlungen über seine Entlassung wieder aufgenommen. Offensichtlich lag ein solches Abkommen in Reichweite und Rabbi Meirs Schüler, Rabbi Ascher benjechiel, stellte sich als Bürge zur Verfügung. Doch noch ehe das Abkommen realisiert werden konnte, starb Rabbi Meir am 27. 4. 1293 nach siebenjähriger Gefangenschaft. Auch nach seinem Tod gingen die Verhandlungen über die Bezahlung des Lösegeldes weiter, um ihn begraben zu können. Erst 14 Jahre später, am 7. 2. 1307, wurde Rabbi Meir in Worms beerdigt, dank den Bemühungen eines wohlhabenden Juden, Alexander Wimpfen, der ein Vermögen bezahlte, um die Erlaubnis für das Begräbnis zu bekommen. Als Gegenleistung wollte Alexander Wimpfen neben Rabbi Meir begraben werden, und dieser Wunsch wurde ihm auch erfüllt. Die Gräber der beiden liegen bis zum heutigen Tag nebeneinander auf dem jüdischen Friedhof in Worms. Rabbi Meirs Einfluß auf die kommenden Generationen war vielleicht noch größer als derjenige, den er zu seinen Lebzeiten genossen hatte. Im 14. und 15. Jahrhundert wird Rabbi Meir mehr zitiert als jeder andere Toragelehrte Deutschlands und Frankreichs. Neben seinen persönlichen Vorzügen gibt es dafür noch drei weitere Gründe: zum einen seine vielen Schüler, die mit großem Fleiß seine zahlreichen Responsen gesammelt hatten; zum anderen die Tatsache, daß er die letzte maßgebende Persönlichkeit unter den Tossafisten war; zum dritten der Niedergang der jüdischen Gelehrsamkeit in Deutschland im 14. Jahrhundert infolge von Verfolgungen und Vertreibungen, die die Juden seit Ende des 13.Jahrhunderts, vor allem aber zur Zeit der Pest (1348-50), in immer stärkerem Maße heimsuchten. Rabbi Meirs Responsensammlung ist die größte ihrer Art in Aschkenas. Sie enthält über 1000 Antworten. Rabbi Meirs Werk ist nicht erschöpfend erforscht. Keine einzige seiner Schriften ist vollständig erhalten. Sein literarischer Nachlaß ist voll und ganz das Werk seiner Schüler. Diese hatten, vielleicht sogar auf Rabbi Meirs Initiative hin, begonnen, die Responsen aller aschkenasischen Gelehrten, nicht nur diejenigen ihres Lehrers, zu sammeln. Man kann die Tatsache, daß die Responsen von Rabbi Meir in diesen Werken überwiegen, nicht dadurch erklären, daß er mehr als andere verfaßt hatte. Vielmehr liegt es in der Natur der Sache, daß Rabbi Meirs Responsen den Kompilatoren dieser Werke zur Verfügung standen, während viele seiner Vorgänger schon verloren waren. Da Rabbi Meirs literarisches Werk nicht von ihm selbst geordnet wurde, unterscheiden sich die vielen Sammelbände - insgesamt 27 - oft sehr stark 23

voneinander. Außerdem sind zahlreiche seiner Responsen, halachischen Entscheidungen und Bräuche in Werken seiner Schüler zitiert, vor allem in »Hagahot maimonjot« von Rabbi Meir Hakohen, »Sefer Hamordechai« von Rabbi Mordechai ben Hillel, »Sefer Hataschbez« von Rabbi Samson ben Zadok und »Sefer Haparnas« von Rabbi Moses von Rothenburg. Seine Schüler verfaßten auch eine Anzahl Sammlungen von Bräuchen aus seinem Lehrhaus. Rabbi Meir nahm an der Kompilation der Tossafot teil; zudem verfaßte er Pijutim (liturgische Dichtungen) und Klagelieder. Außer den oben genannten Schülern sollten die folgenden erwähnt werden: Rabbi Chajim O r Sarua, Rabbi Isaak aus Düren, Rabbi Alexander Süßlis Hakohen, Verfasser des Buches »Ha'aguda«, und Rabbi Ascher ben Jechiel. Man darf ohne Übertreibung sagen, daß die meisten der jüdischen Gelehrten Deutschlands in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts Schüler oder Schülersschüler Rabbi Meirs waren. Auch dies ist ein untrügliches Zeugnis für seinen entscheidenden Einfluß auf Geist und Leben der Juden in Deutschland im ausgehenden Mittelalter.

Literatur Agus, Irving H.: Rabbi Meir of Rothenburg, 2 Bde., New York 1947; Urbach, Ephraim E.: Ba'alei Hatossafot (hebr.), Jerusalem 2 1980, S. 521-564; Goldschmidt, Ernst D.: 'Meir ben Baruch', in: Germania Judaica II: Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Tübingen 1968, S. 709-712, 715-717; Cahana, Isak Z. (Hg.): Teshuvot Pessakim Uminhagim (hebr.), 3 Bde., Jerusalem 1957-1963 (Sammlung und erstmals thematische O r d nung der Responsen); Immanuel, Simcha: Kovzei Teshuvot Maharam Me-Rothenburg

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(hebr.), Magisterarbeit, Jerusalem 1987 (zu den gedruckten und handschriftlichen Responsen). Die wichtigsten Ausgaben der Werke Rabbi Meirs: Responsa: Cremona 1557; Prag 1608 (korrigiert von Moshe A. Bloch, Preßburg 1895, 2. Auflage: Budapest 1896); Lemberg 1860 (hg. von Raphael N. Rabinowicz); Berlin 1891-2 (hg. v. Moshe A. Bloch). Bräuche: Minhagim debei Maharam ben R. Baruch Mi-Rothenburg (hg. v. Israel S. Elfenbein), New York 1935.

Josef Kirmeier

Jakob von Landshut, ein jüdischer Arzt des 14. Jahrhunderts

Item n y m eynen suessen appell und broit u n d snyt den u f f u n d halt den v u r die ooren, so geit er heruß, p r o b a t u m est per m a g i s t r u m J a c o b u m de lanczhott 1 .

Jakobus de Lanczhott oder Jakob von Landshut war der Verfasser dieses Rezepts, mit dem ein Patient von Kopfweh, Ohrenschmerzen oder gar Taubheit geheilt werden sollte. Diese Arten körperlichen Unbehagens wurden nämlich - so glaubte man damals - 2 von einem Wurm verursacht, der einem Schlafenden ins Ohr kroch und dort mit seinen Zangen sein Opfer peinigte. Der O h r w u r m sollte also nach dem Rezept Jakobs mit Hilfe eines nassen Apfels hervorgelockt und der Patient damit von seinen Schmerzen befreit werden eine ungefährliche Methode, die aber für ernstere Erkrankungen am O h r gänzlich ungeeignet war. Dies trifft auch auf die übrigen Rezepte Jakobs zu, in denen die Behandlung von Wunden oder Geschwüren, die Herstellung von Salben gegen Erfrierungen oder die Bereitung von Bädern bei »krampen Gliedern« festgehalten sind3. Ungeachtet der heutigen Beurteilung, nach der Jakob ein stark im »Analogiedenken befangener«, von »magisch-mantischen Vorstellungen« geprägter Laienarzt war4, brachte es der jüdische Arzt in seiner Zeit zu hohem Ansehen. Spätestens seit 1368 war er Leibarzt des niederbayerischen Herzogs Stephan d. Ä., und selbst im 16. Jahrhundert wurden seine Hausmittel noch so hoch geschätzt, daß sie in Rezeptsammlungen christlicher Ärzte eingingen. Das Wissen über Jakob von Landshut verdanken wir weitgehend Peter Assion, der die bis dahin bekanntgewordenen Hinweise auf einen jüdischen Arzt namens Jakob von Landshut mit dem für das Jahr 1368 ausgewiesenen jüdischen Arzt des Herzogs identifizieren konnte s . Ein Rezept für ein Heilbad, das bis dahin unberücksichtigt geblieben war, weist als Verfasser einen Juden aus, der damit einen Landshuter Ritter geheilt haben soll. Die Heilmethode, die den dem Landshuter Arzt Jakob zugerechneten Rezepten sehr ähnlich ist, legt nahe, daß es sich bei dem Verfasser des Rezepts um den jüdischen Arzt des bayerischen Herzogs handelt. Der jüdische Leibarzt Jakob ist durch eine Urkunde aus dem Jahre 1368 eindeutig belegt6. In einer Schuldverschreibung Herzogs Stephan d.Ä. an seinen Sohn wird u.a. bestätigt, daß der Sohn die Schulden in Höhe von 80 25

Pfund Regensburger Pfennigen ausgelöst hat bei »Jakoben, dem Juden, unserm Artz (...) di wir im mit unserm brif gezaigt heten«. Die hohe Summe, die diese Urkunde nennt, wie auch die Erwähnung des Briefes, bei dem es sich um einen Schuldbrief gehandelt haben könnte, gibt Anlaß zu weiteren Spekulationen. Geht man davon aus, daß die Honorare eines herzoglichen Arztes nicht unermeßlich waren, könnte diese Summe, die mehr als VA der gewöhnlichen Jahressteuer der Stadt Landshut ausmacht 7 , auf eine andere Tätigkeit des jüdischen Arztes hinweisen, nämlich auf die Geldleihe, dem hauptsächlichen Gewerbe der Juden in dieser Zeit. Diese Vermutung läßt sich durch weitere Privaturkunden erhärten: Für das Jahr 1377 finden sich vier Belege, daß ein »Meister Jakob der Jude« Landshuter Bürgern und Adeligen Geld geliehen hat. Am 22.6.1377 hatte sich der Bürger Peter der Scharsacher bei Jakob und seiner Ehefrau 4 Pfund Regensburger Pfennige geliehen, zum Teil in barer Münze, ζ. T. durch Auslösung eines alten Schuldscheines von Sweikker dem Tuschel8. Dieser nahm dann drei Tage später erneut 26 ungarische Gulden auf. Ein Regest des 15. Jahrhunderts spricht sogar von 30 Gulden10. Aus einer Urkunde vom 26.10.1377 ist zu erfahren, daß die Schulden Sweikkers bereits auf 67 Gulden angewachsen waren". Bei allen Geldgeschäften ist der Adelige Sweikker der Tuschel beteiligt; er gehörte einer Familie an, die im Dienst des niederbayerischen Herzogs stand, und auch er selbst ist dem Gefolge des Herzogs zuzurechnen. Der gleichnamige Sweikker der Tuschel, vielleicht sein Vater, war 1329-1339 Vitztum, also höchster Verwaltungsbeamter, im südlichen Bezirk »bei der Rott«12. Da der spätere Sweikker lediglich als Schuldner bei Juden auftritt, kann aus dieser Verbindung zum Umfeld des Herzogs allein nicht auf die Identität des Geldleihers mit dem Arzt geschlossen werden. Ein weiteres Indiz ist jedoch die Benennung des Geldleihers als »Meister«. Diese Anrede, die zwar nicht als Synonym zur Bezeichnung »Arzt« verstanden werden darf13, kann als Ausdruck der Hochschätzung einer Person gelten, die sich durch Reichtum und vielleicht noch mehr durch Verdienste als Gelehrter und Wissenschaftler auszeichnet. Diese Belege, wonach der Arzt Jakob dem Herzog Geld geliehen hat, der Geldleiher Jakob dem Umfeld des Herzogs zuzurechnen ist und als »Meister« bezeichnet wurde, erlauben den Schluß, daß es sich um ein und diesselbe Person handelt. Hypothetisch bleiben muß dagegen die Beurteilung zweier weiterer Urkunden von 1366 und 1370. 1366 leiht ein Jude Jakob aus Gmünd einem Landshuter Bürger die Summe von 4 Pfund und 60 Pfennigen Regensburger Währung 14 . Am 10.9.1370 beurkundet Pichtolt der Wolfersdorfer für Eberhart von Achtorffer und Ayman den Plitzschmider Bürge und Selbstschuldner bei »Jacob ze Regenspurch, burger ze Lantzhut« 15 zu sein. Ein inhaltlicher Bezug dieser Urkunden zu dem jüdischen Arzt kann zwar nicht hergestellt werden, ist aber aus der geschichtlichen Entwicklung der Landshuter Judengemeinde zumindest denkbar. 26

Als gesichert kann gelten, daß 1349/50 die Landshuter Judengemeinde einer Verfolgung zum Opfer fiel und erst nach dem herzoglichen Privileg von 1352 wieder Juden in Landshut lebten". Ein Zuzug Jakobs nach Landshut kann somit erst danach erfolgt sein. Da ein anderer Jude mit dem Namen Jakob in Landshut nicht überliefert ist, und die Tätigkeit im Geldgeschäft für den Arzt angenommen werden kann, ist nicht auszuschließen, daß Jakob tatsächlich ursprünglich aus Gmünd, d.h. Schwäbisch Gmünd, stammte, wo bis zur Verfolgung 1349 eine jüdische Gemeinde existiert hatte17. Eine weitere Urkunde, die mit Jakob in Verbindung gebracht wird, datiert von 1427. In diesem Jahr ist ein Verkaufsbrief der Witwe des Arztes Jakob mit dem Namen Kathrey erhalten, in dem sie einen Hof an das Kloster Seligenthal veräußert 18 . O b diese Witwe mit der in den Urkunden des Jahres 1366 und 1377 genannten Ehefrau identisch ist, kann nicht belegt werden; daß es sich um die Witwe des Arztes handelt, ist trotz des großen Zeitabstandes wahrscheinlich, zumal einige bisher unberücksichtigt gebliebene Urkunden den zeitlichen Abstand zwischen den Belegen für den Arzt und dem Jahre 1427 reduzieren. Außerdem erlauben sie einen Einblick in den wirtschaftlichen Wohlstand des Arztes, aus dem der Grundbesitz der Witwe plausibel erscheinen würde. Folgt man den bisherigen Hypothesen und geht man davon aus, daß Jakob nicht in Landshut geboren ist, sondern vielleicht aus Schwäbisch Gmünd oder einer anderen deutschen Stadt stammt, so stellt sich die Frage, wo und wie er die Pogrome überlebt hat, die fast alle jüdischen Gemeinden in Deutschland zur Zeit der Pest betroffen hatten. In Süddeutschland war lediglich die Regensburger Gemeinde von Verfolgungen relativ unbeschadet geblieben. Die Verbindung Jakobs zu Regensburg, die aus der Urkunde 1370 hervorgeht, wo er als Jakob aus Regensburg und Bürger von Landshut bezeichnet wird, läßt sich durch weitere Urkunden belegen. 1372 ist bezeugt, daß der Jude »Meister Jakob von Landshut« ein städtisches Leibgeding - d.h. in diesem Zusammenhang eine Art Rente - durch die einmalige Zahlung von 60 Pfund Pfennigen an die Stadt erkaufte19·. Eine Anwesenheit vor 1370 in Regensburg, vor allem für die Zeit der Verfolgung 1349/50, ist nicht bezeugt. In diese Überlegung miteinzubeziehen ist der Berufsstand Jakobs als Arzt. D a j u d e n an deutschen Universitäten keine Ausbildung zum Arzt erwerben konnten, wichen viele in das tolerantere Italien aus, wo sie ihre häufig bei anderen Juden erworbenen praktischen Kenntnisse vertieften und ihre Ausbildung abschlossen20. Ein Studienaufenthalt Jakobs in Italien — vielleicht gerade zur Zeit der großen Verfolgung - ist deshalb nicht auszuschließen; seine volkstümlich orientierte Medizin jedoch, wie sie aus den Rezepten erkennbar ist, zeigt den teilweise sehr großen Abstand zur Schulmedizin und stellt so einen gewichtigen Einwand dar21. Diese Überlegungen über den Aufenthaltsort Jakobs vor 1366 müssen also spekulativ bleiben. Interessant an den Regensburger Urkunden ist jedoch, daß Jakob in dieser Zeit wohl nicht in Regensburg wohnte. 1372 ist er mit dem Beinamen »aus Landshut« belegt. In einer Urkunde von 1373, in der die bedeutendsten 27

Vertreter der Regensburger Gemeinde namentlich aufgeführt sind, erscheint er nicht; lediglich ein Moschel, der in »Meister Jakobs Haus« wohnt, wird genannt22. Ähnliches gilt für die Urkunde von 1375, in der der Jude Israhel den Empfang von 53 Pfund Pfennigen Zins für »Meister Jakob« bestätigt23. Dennoch sollten auch diese Urkunden durch die Beifügung »aus Landshut« und die Benennung als »Meister« dem jüdischen Arzt aus Landshut zugerechnet werden. Warum Jakob seine Beziehungen nicht auf Landshut beschränkte, sondern größere Geschäfte in Regensburg abwickelte, wo sich die bedeutendste jüdische Gemeinde in dieser Zeit gebildet hatte, und wo er ein Haus besaß, geht aus den Urkunden nicht hervor. Seine wirtschaftlichen Interessen in Regensburg sind so auffallend, daß zu fragen ist, ob Jakob seinen Besitz in Regensburg sicherer wußte als im Herzogtum Niederbayern. Die Regensburger Gemeinde war von allen großen Verfolgungen des 14. Jahrhunderts verschont geblieben, während die bayerischen Herzöge 1338 und 1349 nicht zögerten, die ihrem Schutz unterstellten Juden nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen ermorden zu lassen. 1349 war auch Herzog Stephan d. Ä., dessen Leibarzt der Jude Jakob war, daran beteiligt24. Nach dem Tod Stephans d.Ä., wahrscheinlich aber erst nach 1377, muß Jakob in Regensburg ansässig geworden sein. Von dort ließ ihn der junge bayerische Herzog von Straubing, Albrecht II., holen, als er 1392 in Straubing erkrankte. Dies belegt ein Rechnungsbuch des Herzogs von 1392, in dem drei Eintragungen, den jüdischen Arzt Jakob betreffend, verzeichnet sind: »an Erihtagen naht (22.4.1392) und mein Heere kom von München als vil dem Wenger zerung geben gein Regensburg nach maister Jacoben dem Juden, das der herab solt kumen zu meinem Herrn wann der etwas faul was 22 Pfg.«, »an Suntag Misericordia (28.4.1392)... Maister Jacoben den Juden geben 8 Pfd.«, »An Montag nach Andree apostoli (4.12.1392) Jakoben dem Juden meines Herren Arzt, geben di im gesprochen wurden desmols und hie, bei meinem Herrn gelegen was 5 Pfd.«25. Albrecht ließ sich also wegen einer Krankheit, die mit der recht ungenauen Bezeichnung »etwas faul« umschrieben ist und an der er wohl schon länger litt26, von Jakob behandeln, der dazu eigens aus Regensburg geholt werden mußte. Obwohl sich der Zustand nach einigen Tagen der Behandlung noch nicht sehr gebessert zu haben scheint - er mußte als Vertreter seinen Vitztum und den Landschreiber nach Cham zu einer Unterredung senden27 - , zahlte er die stattliche Summe von 8 Pfund Pfennigen an den Arzt. Am 4.12. desselben Jahres zahlte er dann - wohl wieder ganz gesundet - weitere 5 Pfund, so daß Jakob 1392 allein aus der Behandlung des Herzogs Einnahmen in Höhe von 13 Pfund Pfennigen erzielen konnte, eine Summe, die z.B. den in der Landshuter Zunftordnung vorgesehenenen Jahreslohn eines guten Handwerksmeisters weit übersteigt 28 . Daraus läßt sich erkennen, daß Jakob mit seinem Verdienst als Arzt eine reichliche wirtschaftliche Basis schaffen konnte. Der Besitz eines Hauses in Regensburg, der Ankauf einer Leibrente, die hohen Zinszahlun28

gen bzw. die Schulden, die Stephan d . Ä . bei ihm hatte, verdeutlichen diesen Wohlstand, den J a k o b durch das einträgliche Geschäft der Geldleihe zu vermehren verstand. Ü b e r diese recht allgemeinen Einschätzungen hinaus erbringen die hier herangezogenen weiteren U r k u n d e n zu J a k o b von Landshut keine neuen Erkenntnisse. D i e genaueren Lebensumstände des jüdischen Arztes in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bleiben weiterhin im dunkeln. Erschließbar ist lediglich, daß J a k o b vor 1349, vielleicht in Schwäbisch G m ü n d , geboren wurde, und daß er als Arzt u.a. zweier bayerischer H e r z ö g e in Landshut und später in R e g e n s b u r g wirkte. Nach seinem T o d - zwischen 1392 und 1427 hinterließ er seiner Witwe ein nicht unerhebliches Vermögen, das er als Arzt und Geldleiher erworben hatte. O b er Kinder hatte, ist nicht bekannt. N u r sein Wissen als Arzt sollte in den folgenden Jahrhunderten bewahrt bleiben; in verschiedene Manuale christlicher Ärzte fanden seine Rezepte E i n g a n g , z u m Teil versehen mit d e m Nachsatz: » p r o b a t u m est per m a g i s t r u m J a k o b u m des lancshott«.

Anmerkungen 1 Zit. nach Hirth, Wolfgang: Z u Jakob von Landshut, in: Sudhoffs Archiv 52 (1968), S. 81. 2 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli, B d . 6, Neudruck Berlin, N e w York 1987, Sp. 1219 ff. 3 S a m m l u n g der Rezepte mit weiterführenden Quellennachweisen bei: Assion, Peter: Jakob von Landshut. Zur Geschichte der jüdischen Ärzte in Deutschland, in: Sudhoffs Archiv 53 (1969), S. 280fF. 4 Keil, Gundolf: Z u Jakob von Landshut, in: Sudhoffs Archiv 52 (1968), S. 392. 5 Assion, S. 271 ff. 6 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Pfalz-Neuburg varia bavarica U 1927. 7 Landshuter Urkundenbuch, bearb. v. T h e o Herzog, Neustadt/Aisch 1963, Nr. 750, S. 358. Die Stadtsteuer betrug in diesen Jahren 300 Pfund Regensburger Pfennige. 8 B a y H S t A , Kurbaiern U 6202.

9 B a y H S t A , Pfalz-Neuburg varia bavarica U 1961. 10 B a y H S t A , Staatsverwaltung Nr. 3304, fol. 188. 11 B a y H S t A , Pfalz-Neuburg varia bavarica U 1962. 12 Landshuter Urkundenbuch, Nr. 325, S. 185, Nr. 444, S. 244. 13 Assion, S. 275. 14 B a y H S t A , G U Landshut Nr. 154. 15 B a y H S t A , Kurbaiern U 21060. 16 Monumenta Wittelbacensia, hg. v. F. U . Wittmann ( = Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte A F B d . 6), Neudruck Aalen 1969, Nr. 330, S. 425. 17 Germania Judaica II, S. 275 f. 18 Kalcher, Anton: Die Urkunden des Klosters Seligenthal in Landshut, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 33 (1897), Nr. 243, S. 69 f. 19 Monumenta Boica 54, Nr. 1001, S. 401.

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20 Spira, Moses Α.: Meilensteine zur Geschichte der jüdischen Ärzte in Deutschland, in: Festschrift f Werner Leibbrand, hg. v. J o seph Schuhmacher, M a n n h e i m 1967, S. 153. 21 Assion, S. 2 8 0 f.; schulmedizinisches Wissen glaubt dagegen zumindest in einem Rezept Keil zu erkennen: Keil, S. 393. 22 M o n u m e n t a B o i c a 54, Nr. 1013, S. 404. 23 M o n u m e n t a B o i c a 54, Nr. 1083, S. 427. 2 4 Vgl. dazu: Kirmeier, J o s e f : Aufnahme, Verfolgung und Vertreibung. Z u r Judenpolitik bayerischer Herzöge im Mittelalter, in: Treml, Manfred/Kirmeier, J o s e f (Hgg.): Geschichte und Kultur der Juden in B a y e r n . Aufsätze, München 1988.

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25 Freyberg, M a x Frhr. v.: S a m m m l u n g historischer Schriften und Urkunden, B d . 2, Stuttgart, T ü b i n g e n 1829, S. 9 6 und 131. 26 Freyberg, S. 95 f. 27 Freyberg, S. 96. 28 Ein als gut ausgewiesener Z i m m e r e r - oder Maurermeister erhielt nach der Landshuter Zunftordnung v o m 23.4. bis 30.9. an j e d e m Arbeitstag 10 Pfennige. Z u r übrigen Zeit täglich 6 Pfennige. Wenn der Meister also ganzjährig 6 Tage in der Woche arbeitete, käme er auf einen Jahreslohn von ca. lO'/s Pfund Pfennigen; vgl. die Zunftordnung von 1400; Staudenraus, Alois: C h r o n i k der Stadt Landshut in B a y e r n , 1. B d . , Neudruck Passau 1981, S. 85.

Manfred Hörner

Bemmel, ein Geldverleiher und Viehhändler aus dem schwäbisch- fränkischen Grenzgebiet Am 5. Juni 16051 wurde auf Anweisung der gräflich oettingischen Regierung zu Wallerstein das Haus des Juden Bemmel 2 in Oettingen durchsucht, Geschäftsbücher, Schuldverschreibungen und andere Dokumente beschlagnahmt und seiner Ehefrau Sara die Schlüssel abgenommen. Der Hausherr selbst befand sich zu dieser Zeit im Vogtland, wo er für Graf Rudolf von Helfenstein Pferde kaufen wollte; den Paß fur dieses Unternehmen hatte ein gräflicher Rat, also ein Mitglied der Regierung, erst am 26. Mai 1605 ausgestellt3. Auf die Nachricht von diesen Vorfällen hin eilte Bemmel zu seinen Schwiegersöhnen nach Bechhofen 4 , an der Wieseth zwischen Feuchtwangen und Günzenhausen gelegen, wo einige Wochen später auch seine Frau mit den Kindern eintraf. Innerhalb kürzester Zeit gelang es Bemmel, über eine Reise zu Alexander Marschall von Pappenheim, dem Ältesten der Familie5, nach Grönenbach ein kaiserliches Geleit für sich zu erwirken. Noch im Juni 1605 nahm er seinen Wohnsitz in der Stadt Pappenheim. Dorthin ergingen auch die - vergeblichen - Ladungen zu dem mittlerweile von der Regierung in Wallerstein gegen ihn eröffneten peinlichen Verfahren. Gleichfalls erfolglos blieben Versuche vom Sommer 1605 und Frühjahr 1606, bei der Familie Pappenheim die Auslieferung Bemmels zu erreichen. Dieser hatte unterdessen Gegenmaßnahmen ergriffen: Ende Juni 1605 hatte er sich wegen der seinen Schutzbrief verletzenden Gewalthandlungen an das Reichskammergericht gewandt, das nach Einholung von Bericht und Gegenbericht am 3. Januar 1606 ein Mandat an die Vormünder der Erben des 1602 verstorbenen Grafen Wilhelm II. von Oettingen-Wallerstein sowie an Kanzler und Räte zu Wallerstein erließ6. Was hatte die gräfliche Regierung zu ihrem Vorgehen bewogen? Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen 7 waren die unübersichtlichen Schuldverhältnisse des Wolf Wilhelm von Knöringen 8 . Diese veranlaßten im September 1600 Fürstpropst Wolfgang von Ellwangen, dessen Vetter, eine Tagsatzung anzuberaumen, die indes kein Ergebnis brachte, da sich Wolf Wilhelms Vater, Wolf Ulrich von Knöringen, weigerte, für die Schulden seines Sohnes aufzukommen. Freilich bevollmächtigte er unter der Hand seinen Schwager Heinrich Steinhäuser von Neidenfels, einem Juden eine Schuldforderung gegen seinen Sohn um maximal die Hälfte des Nominalbetrags abzuhandeln. Zu diesem Geschäft bediente sich Steinhäuser der Hilfe Bemmels, der die Brüder 31

Liebmann und Abraham Fränckel veranlaßte, eine Forderung von 32 400 fl. um 16 000 fl. abzutreten, wovon 5000 fl. »zu einer Verehrung oder belohnung seines vnnderhandels vnnd bemühung«' dienen sollten. Wegen der Höhe der Provision kam es später zu Streitigkeiten: Ein jüdisches Schiedsgericht ermäßigte die Ansprüche Bemmels schließlich auf 3500 fl. Wohl aus Konkurrenzgründen informierte der Bruder von Liebmann Fränckels Schwiegervater Coppel aus Neresheim, Mayer aus Günzenhausen, Wolf Ulrich von Knöringen, daß die Gläubiger die Forderung auch um 9000 fl. abgetreten hätten. Knöringen schrieb an die Regierung zu Wallerstein, die diese Abmachung, »hebräischer oder Jüdischer cession art nach auff ein kauff gerichtet, vor ein falsum gantz scharpff vnnd hoch angezogen«10, Bemmel »in ein sehr abscheulich gefengnuß geworffenn, in welcher er mit großem Elendt vnnd abscheulichen vngeziffer vonn bissigen vnnd vergifftenn wurmenn biß in Sechs oder 7 tag in höchster angst vnnd noth Jämerlich liegen vnnd beynahe, weyll er wegen abscheulichkaitt des gefengnuß nichts essenn oder drinckhen können, gahr verschmachten müeßen« 11 , ihn mit peinlicher Bestrafung bedrohte, aber auf Fürsprache seines Schutzherren Hans Jakob von Seckendorff und seiner Schwiegersöhne Abraham und Aron nach Urfehdeleistung 12 und Strafgeldzahlung im November 1600 entließ. Diese Vorgänge, von oettingischer Seite später als Beleg für Bemmels angeblich kriminelle Vergangenheit angeführt, hinderten die Regierung jedoch nicht daran, ihn gut zwei Jahre danach, am 17. Februar 1603, bis zum 8. Februar 1606, an dem ein achtjähriger Freiheitsbrief für die Juden der Grafschaft (Dettingen13 auslief, gegen eine Schutzgeldzahlung von 60 fl. jährlich in die Stadt Oettingen aufzunehmen14. Inzwischen hatte Herzog Philipp Ludwig von Pfalz-Neuburg wegen der Schulden des Wolf Wilhelm von Knöringen, der als sein Beamter in Ziertheim tätig war, zu mehreren Kommissionstagen nach Neuburg geladen15. Obwohl keineswegs alle Gläubiger erschienen und insbesondere viele Juden ausblieben, ergaben die Verhandlungen dennoch einen Schuldenstand von 155316 fl., wofür Wolf Ulrich von Knöringen sein Rittergut Weiltingen verpfänden mußte. Die einzelnen Obligationen sollten gegen 40 % des Nominalbetrags eingelöst werden. Da Knöringen sich häufig über weit höhere Summen als die ihm tatsächlich ausgehändigten hatte verschreiben müssen, behielt sich der Herzog vor, gemäß Reichs- und Landesrecht ein Achtel der Forderungen zugunsten seiner Kammer einzuziehen. Dieser Umstand erhöhte bei Schuldner wie Gläubigern die Bereitschaft, zum beiderseitigen Vorteil unter Umgehung des Herzogs über eine Ablösung der Schuld zu verhandeln. Als Philipp Ludwig davon erfuhr, drohte er für jede ohne sein Wissen erfolgte Abhandlung einer »Judenschuld« eine Strafe von 8000 fl. an - mit dem Ergebnis, daß dergleichen Verhandlungen unter noch strengerer Geheimhaltung geführt wurden. Hier griff nun Bemmel wieder ins Geschehen ein. Auf Drängen des Wolf Ulrich von Knöringen sollte er eine Forderung des Juden Lazarus aus Aufhausen unterm Schenkenstein von 8700 fl. um maximal 2500 fl. 32

ablösen; bei einem günstigeren Vergleich sollte ihm der eingesparte Differenzbetrag zufallen. Nach harten Verhandlungen mit Salomon, Lazarus' Sohn, einigte man sich auf die Zahlung von 1500 fl. Der Gewinn Bemmels wurde allerdings geschmälert, weil Lazarus beim Rabbinat zu Oettingen Klage wegen dieses ohne sein Wissen vorgenommenen Geschäfts erhob und 470 fl. als entgangenen Profit zugesprochen erhielt. Davon, daß diese Obligation von Salomon gefälscht worden war, wollte Bemmel zu diesem Zeitpunkt nichts gewußt haben. Nicht nur Salomon, der um Ostern 1602 sicherheitshalber nach Italien auswich, betätigte sich als Fälscher, sondern offenbar auch sein Schwager Liebmann Fränckel, ohne aber die Fähigkeiten seines »Lehrmeisters« zu erreichen. Anfang 1605 ließen sich seine Fälschungen nicht mehr verheimlichen, er rief Salomon aus Italien zurück, traf sich mit ihm in Thannhausen und verabredete dort angeblich, die Schuld möglichst auf Bemmel abzuwälzen. Er konnte für seinen Schwager beim gräflichen Kanzler noch einen Geleitbrief erwirken, bevor er auf Befehl Graf Gottfrieds von Oettingen-Oettingen in Haft genommen wurde. Auf Angebote seiner Angehörigen und Freunde, ihn freizukaufen, ging der Graf nicht ein. Unter der Folter gestand Liebmann Fränckel die ihm vorgeworfenen Fälschungen und belastete Bemmel. Ende Februar 1606 wurde er hingerichtet, doch soll er - so Bemmel - auf der Richtstätte zugegeben haben, er habe ihn durch »seine falsche Practickhenn ... in dieses sein vnngluckh vnschuldig bringenn helfenn«16. Die Regierung zu Wallerstein beschuldigte Bemmel demnach der Fälschung von Schuldbriefen und hatte deshalb versucht, sich durch die Hausdurchsuchung in den Besitz von Beweismaterial zu setzen. Erfolg war ihr damit nicht beschieden, denn sie mußte ihre Anklage weitgehend auf die Ausführungen des »Kronzeugen« Salomon stützen, dessen »versprochene impunitet« 17 Bemmel als höchst verdächtig empfand. Salomons Aussagen betrafen hauptsächlich zwei Fälschungskomplexe: Z u m einen habe er eine auf seinen Vater Lazarus lautende Obligation Knöringens verfaßt, die Bemmel »hernach mit einem falschen Insigel vnd nachgemahleter HandtVnderschrift selbsten becräftigt«18 und dem Schuldner um 2500 fl. überlassen habe; zum anderen habe Bemmel drei Verschreibungen auf mehrere Juden und den früheren fuggerischen Pfleger zu Niederalfingen über Beträge von 14300-17500 fl. gefälscht und sei mit Salomon einen - im peinlichen Verfahren vorgelegten - »Bundbrief« 1 ' eingegangen, wonach der bei der Ablösung seitens Knöringen erzielte Gewinn zwischen beiden geteilt werden sollte. Bemmel sah sich als Opfer einer Verschwörung, in die neben Salomon und Liebmann Fränckel verwickelt waren: Abraham Fränckel, Coppel, Mayer, Coppels Schwiegersöhne Mayer und Henlin sowie der gräfliche Rat Dr. Johann Pfeffer. Die gegnerischen Anschuldigungen wies er zurück: Er habe zwar dem Lazarus einen Schuldbrief abgehandelt, doch nicht wissen können, daß dieser gefälscht sei, zumal Wolf Ulrich von Knöringen Siegel und Unterschrift seines Sohnes rekognosziert habe; der angebliche Bundbrief sei seltsamerweise mit jüdischer 33

Monats- und christlicher Jahresangabc versehen, auch passe der angegebene Wochentag nicht zu dieser Datierung 20 , ferner sei Salomon zur fraglichen Zeit in Italien gewesen, schließlich sei die ganze Abmachung überflüssig, wenn er - wie die Gegenseite behauptete - selbst ein Meister im Fälschen von Siegeln und Unterschriften sei, ja widersinnig, da Ansprüche aus einem gemeinsam begangenen todeswürdigen Verbrechen vor keinem Gericht einzutreiben seien. Gegen die von der Regierung zusätzlich angeführten Zeugen brachte Bemmel vor, daß sie zum Teil mit der Gegenpartei verwandt seien, daß ihnen Irrtümer unterlaufen seien oder daß ihre Aussagen auf verdächtige Weise zustande gekommen seien, etwa indem man einen Notar betrunken gemacht habe. Da sich das Verfahren in Speyer länger hinzuziehen und Bemmel, dem Schuldbücher und -briefe weiterhin vorenthalten blieben, um seine Forderungen zu kommen drohte, erwirkte er bei Graf Gottfried die Ansetzung eines Verhörtags auf den 8. September 1607, auf dem dessen Untertanen über ihre Schulden Auskunft geben und Zahlungsmodalitäten vereinbart werden sollten. Statt dessen ersuchte die Regierung zu Wallerstein um einen Arrest auf diese Forderungen, und der Graf wies die Schuldner an, die fälligen Gelder bei ihm zu deponieren. Dagegen erlangte Bemmel, nunmehr in Grünstadt in der Grafschaft Leiningen wohnend, am 9. November 1607 ein »Mandatum de relaxando arresto« des Reichskammergerichts 21 . Die Regierung verwies auf das anhängige peinliche Verfahren vor dem Marktgericht in Wallerstein und auf mögliche Forderungen Knöringens, der den Arrest beantragt habe. Wegen einer Schuldforderung Abraham Fränckels gegen Bemmel in Höhe von 1200 fl. kam es vom November 1607 an zunächst am gräflichen Hofgericht zu Oettingen, dann am kaiserlichen Hofgericht in Rottweil und schließlich am Reichskammergericht zu weiteren Auseinandersetzungen um eine Arrestanlegung auf Forderungen Bemmels gegen gräfliche Untertanen 22 . Mitte Januar 1607 wandte sich Bemmel wegen zweier um die Jahreswende 1604/05 an Wolf Wilhelm von Knöringen vergebener befristeter Darlehen in Höhe von 350 fl. sowie 8000 fl., wovon dessen Onkel Heinrich Steinhäuser im April 1605 3000 fl. zurückgezahlt hatte, nach Rottweil 23 . Knöringen leugnete jede Kenntnis von diesen Darlehen, wies auf die Fälschungs vorwürfe gegen Bemmel hin und machte einige Umstände geltend, die auch in diesen Fällen eine Fälschung nahelegten, stützte sich aber zudem auf Reichsabschiede, die die Gültigkeit von Darlehensverträgen zwischen Christen und Juden an den Konsens der Obrigkeit banden 24 und die er - anders als Bemmel - selbst auf die Reichsritterschaft angewendet wissen wollte, denn - so sein Rottweiler Anwalt: »Seindt Bürger vndt Bauren allein Idioten?« 25 . Gegen die beiden Rottweiler Zahlungsurteile rief Knöringen das Reichsgericht an, ebenso gegen die vom Hofgericht, ungeachtet der in Speyer anhängigen Appellation, ausgesprochene Acht 26 . Alle Kamerai verfahren, an denen Bemmel beteiligt war, gerieten um das Jahr 1616 in Stillstand. Die Wiederaufnahme der Klage gegen Oettingen im November 1623 brachte keinerlei Ergebnis. Kein Endurteil verpflichtete die 34

Regierung zu Wallerstein zur Herausgabe der beschlagnahmten Papiere oder Knöringen zur Begleichung seiner Schulden. Kein Endurteil erklärte freilich auch das Vorgehen der Regierung gegen den Juden für rechtmäßig. O b nun der oettingische Fälschungsvorwurf oder Bemmels Verschwörungstheorie zutraf, von wem und in welchem U m f a n g , ja ob überhaupt gefälscht wurde, läßt sich nicht mehr klären. Unzweifelhaft aber ist, daß die Fälschungen, sollten sie tatsächlich vorgefallen sein, durch die chaotischen Geldleihepraktiken Knöringens begünstigt wurden, und daß ihr Ausmaß von interessierter Seite aufgebauscht wurde, u m sich so Zahlungsverpflichtungen zu entziehen.

Anmerkungen 1 Nach Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), RKG 7237, Q(uadrangcl) 24. Die peinliche Klagschrift (BayHStA, RKG 7240, Q 9) gibt den 12. Juni 1605 an. 2 Die meisten jüdischen Namen treten in den Akten nicht einheitlich auf. 3 Vgl. BayHStA, RKG 7237, Q 25, Nr. 96. 4 Bemmel lebte vor seiner Übersiedlung nach Oettingen selbst in Bechhofen. Zur jüdischen Gemeinde dort: Braun, Gustav: Markt Bechhofen in Mittelfranken. Ein lokalgeschichtlicher Versuch, Ansbach 1905, S. 76-78. 5 Zur Rolle der Familie Pappenheim beim kaiserlichen Judengeleit: Kraft, Wilhelm: Zur Geschichte der Juden in Pappenheim. Von den Reichsmarschällen zu Pappenheim in ihren Beziehungen zu den Juden im allgemeinen, in: Monatsschrift fur Geschichte und Wissenschaft des Judentums 70 (1926), S. 277-283. 6 Vgl. BayHStA, RKG 7237, Q 1. 7 Die folgenden Ausführungen stützen sich im wesentlichen auf Bemmels Replik (BayHStA, RKG 7237, Q 24) sowie auf Exceptiones und Duplik der Regierung (BayHStA, RKG 7237, Q 4 und 30). 8 Zur Weiltinger Linie der Familie Knöringen: Braun, Gustav: Markt Weiltingen an

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der Wörnitz. Eine lokalgeschichtliche Studie, Ansbach 1909, bes. S. 49-54. BayHStA, RKG 7237, Q 24. BayHStA, RKG 7237, Q 24. BayHStA, RKG 7237, Q 24. Vgl. BayHStA, RKG 7237, Q 7. Vgl. BayHStA, RKG 7237, Q 5. Vgl. BayHStA, RKG 7237, Q 6. Z u m folgenden: Braun, Weiltingen, S. 50 f. BayHStA, RKG 7237, Q 24. BayHStA, RKG 7237, Q 24. BayHStA, RKG 7237, Q 4. In deutscher Übersetzung: BayHStA, RKG 7237, Q 12. Vgl. Gegenüberstellung von christlichem und jüdischem Kalender 1600-1605: BayHStA, RKG 7237, Q 25, Nr. 30. Vgl. BayHStA, RKG 7240, Q 1. Das Mandat zielte auf die Aufhebung des auf die Schuldforderungen gelegten Arrests und die Wiederherstellung der vollen Verfügungsgewalt Bemmels darüber ab. Vgl. BayHStA, RKG 7240, Q 14-23; RKG 7244. Vgl. BayHStA, RKG 7852 und 7853/1. Ζ. B. Reichsabschied 1551, 78-80, vgl. Neue und vollständigere Sammlung der ReichsAbschiede ..., T. 2, Frankfurt 1747, S. 622. BayHStA, RKG 7852, Q 4, fol. 31 r. Vgl. BayHStA, RKG 7853.

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Renate Heuer

Isaak Alexander (1722P-1800), Rabbiner zu Regensburg, »Unser ausgezeichneter thorakundiger Herr und Meister Morenu hoRav Eisik, Sein Licht leuchte« In Fußnoten und Namenregistern fristet Isaak Alexander bis heute ein kärgliches literarisches Dasein, seine Schriften sind so selten und kostbar, daß man sie nur in Handschriftenlesesälen studieren darf. Dem Mann, der ein Zeitgenosse Moses Mendelssohns war und gelegentlich sogar dessen »Vorläufer« genannt wird, und dem — wohl zuletzt - vor gut zehn Jahren von Jacob Toury bescheinigt wurde, daß seine »deutschen Schriften auf eine damals ungewöhnliche Erudition schließen lassen«1, ist gleichwohl bis heute kaum bekannt. Seine Schriften wurden nicht rezipiert, seine Anregungen nicht diskutiert, erstaunlich und ungewöhnlich bleibt vieles an diesem Mann, dessen streitbare Stimme nur aus seinen halbverschollenen Werken spricht. Isaak Alexander soll am 17. August 1722 in Regensburg geboren worden sein, in der Literatur findet man aber auch Augsburg genannt, das jedoch deshalb nicht der Geburtsort gewesen sein kann, weil dort in dieser Zeit keine Juden geduldet wurden. 2 Regensburg, das die älteste Judengemeinde Deutschlands hatte - seit dem 10. Jahrhundert waren hier Juden ansässig — unterschied sich, was antijudaistische Austreibungen und Verfolgungen betrifft, nicht von anderen mittelalterlichen deutschen Städten. Auch die Regensburger Stadtgeschichte ist durch eine judenfreie' Periode nach der Austreibung von 1519 gekennzeichnet. Ab 1669 wanderten einzelne Juden wieder zu, aber erst ab 1730 bildete sich dort wieder eine jüdische Gemeinde, und dieses Faktum ist es wohl, das Lexikographen veranlaßte, Isaak Alexander einen anderen Geburtsort zuzuweisen. Isaak Alexander kann jedoch hier geboren und aufgewachsen sein. Isaak Meyer 3 jedenfalls würdigt ihn als ersten Rabbiner der wiedererstandenen Gemeinde Regensburg. Allerdings konnte Meyer, der die Manualakten der Kultusgemeinde, die Matrikelbücher des Rabbinats und Akten aus dem Kreisarchiv Amberg für seine Geschichte der Juden in Regensburg auswertete, nur das Konzept einer Anstellungsurkunde auffinden, das er auf etwa 1770 datiert. Er kommentiert das Schriftstück: »Es ist in klassischem Hebräisch mit öfteren Anlehnungen an die Ausdrucksweise der Thora abgefaßt und hat in deutscher Übersetzung folgenden Inhalt: Mit Gottes Hilfe! In der Versammlung haben wir Unterzeichneten, die wir festes Wohnrecht in Regensburg haben, folgendes einstimmig beschlossen, 'um die Krone wieder zu ihrem alten Glanz zu bringen'. Wenn etwas darin wiederholt ist, was schon einmal gesagt wurde, wird es nur wiederholt wegen des Neuen, was 37

hinzugefügt ist. U n d folgendes w u r d e zuerst beschlossen: Unser ausgezeichneter thorakundiger Herr und Meister Morenu hoRav Eisik, sein Licht leuchte, der uns schon seit siebzehn Jahren für einen jährlichen Gehalt von 150 Gulden Inhaber des Rabbinats war, w u r d e auch für die Z u k u n f t , so Gott will, als Lehrer der Entscheidung gewählt in allen Dingen, die aus seinem M u n d e nach der Lehre Gottes verlangt werden. Sowohl in den Vorschriften über Verbotenes und Erlaubtes, als auch in allen sonstigen Fragen, die hier v o r k o m m e n werden, ist er verpflichtet, zu entscheiden, soweit seine Entscheidungskraft reicht. A m Sabbath vor Feiertagen soll er öffentlich in der Synagoge dem Inhalt des Tages entsprechend predigen, nach dem Gebrauche anderer Lehrer, die auf dem Rabbinatstuhl in Israel sitzen. Sein Gehalt sei jährlich 200 Gulden rheinisch, d.h. es sollen ihm vierteljährlich 50 Gulden aus der Gemeindekasse gezahlt werden« 4 . Folgt man der Datierung Meyers, wäre Isaak Alexander etwa ab 1753 Rabbiner der Gemeinde Regensburg gewesen, als gut Dreißigjähriger nicht gerade sehr früh eingesetzt, doch mag sich das aus der sich erst langsam wieder entwickelnden und organisierenden Gemeinde mit erklären. Aus dem Konzept der Anstellungsurkunde sind interessante Rückschlüsse auf die Amtspflichten des Rabbiners zu ziehen: Neben der religiösen Unterweisung und Belehrung hat die richterliche Tätigkeit in Zivil-, Ehe- und Erbrechtsfragen den Vorrang, zu der ihn seine rabbinische Autorität, die sich im Morenu-Titel, »Unser Lehrer«, ausdrückt, befugt, während er als Prediger nur einige Male im Jahr zu fungieren hat. Hier folgt die Gemeinde noch einem seit dem Mittelalter in Deutschland geübten Brauch, der sich erst durch die späteren Reformbestrebungen im J u d e n t u m änderte. Neben der Gehaltserhöhung, die diese Anstellungsurkunde festsetzt, werden in einem angefügten Passus zusätzliche Einnahmen des Rabbiners fixiert, die ihm bei vollzogenen Trauungen zustehen. Das Schriftstück gibt einen deutlichen Einblick in die Gemeindesituation u m 1770 und den Grad der noch vorhandenen rechtlichen Autonomie der jüdischen Gemeinde: Die Gemeindevertreter und der Rabbiner sind Vertragspartner, detailliert festgesetzte Abgaben werden dem Rabbiner nicht nur von den Gemeindevertretern garantiert, sondern sie verpflichten sich darüber hinaus, von säumigen oder unwilligen Zahlern fällige S u m m e n eintreiben zu helfen. Die vertraglichen Regelungen werden also nur von Juden unter Juden bindend geschlossen. Ein zweites Aktenstück, das Meyer veröffentlicht hat, stammt aus d e m Jahr 1780 und läßt die mannigfachen Veränderungen erkennen, die sich während eines Jahrzehnts für die Juden, ja sogar für ihre Matrikelführung ergeben haben. Dieses Aktenstück ist in deutscher Sprache, wenn auch noch in hebräischen Lettern abgefaßt. Es belegt, daß der Rabbiner nicht nur Kontakte mit Christen pflegt, sondern diese auch ausnutzt, u m bei seiner Gemeinde eine Gehaltserhöh u n g zu erwirken: Auf Verwendung des Kursächsischen Gesandten Freiherrn von Hohenthal wird Isaak Alexander eine Aufbesserung seiner Bezüge versprochen. Bezeichnend an dieser Akte ist, daß die Schutzjuden von Regens38

burg, »weil es billig ist, dem Herrn Gesandten nicht zu widersprechen«, ihren Wochenbeitrag in die Gemeindekasse um einige Kreuzer, Batzen oder Gulden erhöhen, um so die Zulage für den Rabbiner aufzubringen. Aus dem Aktenstück geht hervor, daß die Gemeinde die Kontakte ihres Rabbiners mit Christen gebilligt haben muß. Außerdem läßt sich erkennen, daß Deutsch inzwischen die Sprache geworden war, in der Gemeindeangelegenheiten niedergeschrieben werden konnten, wenn man auch noch hebräische Buchstaben benutzte, die man bequemer und geläufiger handhabte als die deutschen. Orthodoxe Eiferer, die das Studium deutscher Bücher grimmig ahndeten, wie wir aus Moses Mendelssohns Lebensgeschichte wissen 5 , oder die selbst das Studium der Schriften des Moses ben Maimon für Ketzerei hielten, wie Salomon Maimon in seiner Lebensgeschichte überliefert 6 , scheint es in Isaak Alexanders Umgebung nicht gegeben zu haben. Und doch dürfte es den Regensburger Juden kaum verborgen geblieben sein, daß ihr Rabbiner intensive 'weltliche' Studien trieb, in christlichen Häusern verkehrte und sogar deutsche Schriften publizierte. Aus ihnen geht hervor, daß der Rabbiner die Werke von Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolf studiert hat, daß er die Berliner Literatur-Zeitung las; er zitiert Sokrates, aber auch Professor Johann Jakob Engel, er widmet eine seiner Schriften den Herren von T h u m und Taxis, eine andere dem Freiherrn von Hohenthal. Doch gerade diese letzte Widmung gibt Aufschluß darüber, daß seine Haltung den Christen gegenüber anders gewesen sein mag als die vieler seiner jüdischen Zeitgenossen, denn da heißt es nach den der Mode der Zeit entsprechenden Höflichkeitsfloskeln: »Tiefste Ehrfurcht ist es, welche Ew. Excellenz diese wenigen Bögen meiner unterthänigsten Ergebenheit überreicht. Sind sie so glücklich, nach Deroselben weisen Beurtheilung auch den verehrungswürdigsten Beifall zu erhalten; so wird mir dieß ein neuer R u f und die größte Ermunterung seyn, meine Arbeit fortzusetzen. Gründliche Einsichten in das große Reich der Wahrheiten durchdringende unpartheiische Prüfungen derselben - insonderheit der warme Eifer, womit Deroselben forschender Geist wider alles Vorurtheil der großen Welt über das Buch der göttlichen Offenbarung nachdenkt, und sich dadurch den höchsten Adel erwirbt. - Alles dieß und noch mehr in Absicht auf mich, die große Herablassung und Menschenliebe - flößet mir Muth ein, diese geringe Bemerkungen Ew. Excellenz zuzueignen. Welch ein unaussprechliches Glück für mich und meine Mitbrüder, einen so hohen, gelehrten, vornehmen Minister, sowohl als einen frommen Verehrer der Gottheit zum gnädigen Beschützer zu haben - ! Ewig sollen unsere Wünsche als ein feuriges Opfer zu dem Gott aller Götter für die Erhaltung Deroselben theuersten Lebens, und unverwelklich blühender Wohlfahrt sämmtlicher hohen Familie hinaufsteigen Die Redeformen der Untertänigkeit und Ergebenheit verdecken nicht, daß der Rabbiner die Unterschiede zwischen christlicher und jüdischer Überlieferung einfach übergeht, sich nur an den »frommen Verehrer der Gottheit« 39

wendet, auch seine Mitbrüder, die Juden, in die ihm erwiesene Gunst selbstverständlich einbezieht und tatsächlich einen Gönner gefunden zu haben scheint, dem er seine philosophischen Auslegungen der jüdischen Bücher der Bibel mit der begründeten H o f f n u n g auf Verständnis zueignen kann. Dies nämlich macht die Schriften des Rabbiners Isaak Alexander in seiner Zeit so einzigartig, daß sie fast ausschließlich Bibelauslegungen sind, die er mit den Methoden der Philosophie seiner Zeit u n t e r n i m m t und durch Zitate aus rein philosophischen Schriften zu verifizieren sucht. So steht im Z e n t r u m der Schrift, der diese W i d m u n g vorangestellt ist, »Von der Freyheit des Menschen« 8 , der 'Sündenfall', und die sorgfältigen D e d u k tionen, mit denen er aus dem 1. Buch Mosis, 3. Kap., seinen Begriff von Freiheit, von Gut und Böse, selbst von menschlicher 'Glückseligkeit' ableitet, zeigen ihn als Aufklärer, aber auch als jüdischen Aufklärer par excellence. Wenn seine erste Schrift »Von dem Daseyn Gottes, die selbstredende Vernunft« sich noch enger an die Muster seiner Zeit hält, zu deren bevorzugtesten T h e m e n der vernunftmäßig begründete Gottesbeweis gehörte, so findet er in den folgenden Werken i m m e r mehr seine eigene Form der Schriftauslegung in deutscher Sprache, in deren philosophische Erörterungen er starke jüdische Prägung hinüberzuretten vermag. A m ungewöhnlichsten für das Jahr ihres Erscheinens (1786) und die Situation ihres Verfassers ist jedoch die Schrift: »Verein! der Mosaischen Geseze mit dem Talmud in zwey Abhandlungen verfaßt«, denn sie informiert nicht nur ausfuhrlich über den Charakter, den U m f a n g und die Bedeutung des Talmud, sondern sie verteidigt auch die hebräische Sprache und deren Vorzüge. M a n erinnere sich an die zaghafte Apologie, die Moses Mendelssohn, wenn auch gut 25 Jahre früher, so doch in der doppelten Distanzierung einer literarischen Rezension und eines Gesprächs mit einem jüdischen Gelehrten wagte: »Sie beurtheilen dieses Werk nach d e m gemeinen Begriffe, den wir uns von dem Talmud zu machen pflegen, und belustigen sich schon zum voraus an den albernen Mährchen und ausschweifenden Fratzen, daraus es zusammengesetzt seyn wird, Ich denke aber ganz anders. Ich kann mich unmöglich bereden, daß die besten Köpfe eines Volkes (und gewiß das jüdische hat keinen Mangel an sehr guten Köpfen) sich seit so vielen Jahrhunderten einzig und allein mit einem Werke sollten beschäftigt haben, das aus lauter abgeschmackten Possen zusammengesetzt ist. Der ungemeine Fleiß, mit welchem sie diesem Studio obliegen, und die orientalische Hitze, mit der ich sie so oft über gewisse Materien habe streiten sehen, scheinen mir zu beweisen, daß ein Genie in dieser Art von Wissenschaft seine völlige N a h r u n g finden könne«'. Gegen diesen Textabschnitt, der zudem in die Besprechung der Übersetzung der Mischna ins Deutsche von einem christlichen Theologen 1 0 eingerückt ist, heben sich die Sätze, mit denen Isaak Alexander die Christen auffordert, sich mit der hebräischen Sprache eingehender und gründlicher zu befassen, als das bis dahin üblich war, durch ihren Eifer und ihr Pathos deutlich ab. »Ich wiederhole nochmals, daß es zu beklagen, und für das Haus Jakob äußerst nachtheilig ist,

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daß diese Sprache von anderen Nationen so ganz außer Betracht gekommen, und welchen Mangel zu ersetzen, noch kein Landesherr bedacht zu seyn schien - Wie viele böse Anschläge wären vereitelt worden, was für Übel, Unheil und falsch gegründete Vorwände hätten in ihren Vorhaben ersticken müßen, wenn die ebräische Sprache, allgemeiner gewesen wäre, weil nur dann ein jeder selbst eingesehen, wie viele unschuldige Vorwürfe und Beschuldigungen, was für gefährliche, ungeräumte der Gottheit und der holden Religion so entgegengesetzte Straflasten, das Haus Jakob unter dem despotischen Joche höchst ungerecht ertragen mußte - Paßion und Religionshaß, hätten niemals jene Eroberungen gemacht, welche sie in ältern Zeiten mit dem zu ihrem Vortheil gewünschten Erfolge ausgeführt« 11 . Mutig weist Alexander dann die christlichen Vorwürfe der Blutbeschuldigung zurück, die er ebenfalls daraus herleitet, daß die Christen die hebräischen Texte nicht kennen. »So wäre auch das höchst ungerechte und eben so schädliche Vorurtheil des Blutbrauchens niemals zur Folgerung gekommen, wenn die Welt damals eben so, um aufgeheitert zu werden nach vernünftiger Überlegung, gedürstet hätte. Dem Allgütigen können wir nicht genug danken, daß sich dieses Unheil, besonders zur Zeit Lutheri, seiner Zernichtung nach und nach näherte«12. Isaak Alexander ist der einzige Jude, der in dieser Phase der Aufklärung solche Forderungen erhebt. Und nimmt man sie ernst, stellt man sich vor, daß es ihm gelungen wäre, sie weithin durchzusetzen, hätte er eine Bewegung auslösen können, die im Zusammentreffen zweier wesensfremder Kulturen Gemeinsamkeiten aufgesucht hätte; wenn nicht nur die Assimilierung der jüdischen an die christliche, sondern auch die Beeinflussung der christlichen durch die jüdische Religion und Kultur propagiert worden wäre, wäre die Entwicklung deutsch-jüdischen Zusammenlebens vielleicht anders verlaufen, als es geschah. Doch seine Schriften und sein Auftreten haben die Wirkung nicht erzielt, die Isaak Alexander sich erhoffte. Und so steht dieser Rabbiner, der es vermochte, seine europäisch-gelehrte Bildung bruchlos mit seiner jüdischen zu vereinbaren, für einen Weg, den er nur aufzeigen, aber nicht öffnen konnte. Als Isaak Alexander 1800 in Regensburg starb, hatte David Friedländer sein »Sendschreiben«13 schon publiziert, das für die bürgerliche Emanzipation den Preis radikaler Reform des Judentums anbot. Damit war ein Assimilierungsprozeß eingeleitet, der sich von jüdischer Seite fast ungehemmt vollzog und den Rabbiner von Regensburg in Vergessenheit geraten ließ.

Anmerkungen 1 Toury, Jacob: Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 18471871, Düsseldorf 1977, S. 179. 2 Die Encyclopaedia Judaica und Salomon Wininger in seiner »Großen Jüdischen Na-

tional-Biographie« geben Augsburg als Geburtsort an. Eine Anfrage, die vom Archiv Bibliographia Judaica an das Stadtarchiv Augsburg gerichtet worden ist, wurde wie folgt beantwortet: »Da die Juden im Jahre

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1438 aus der Reichsstadt Augsburg vertrieben wurden und bis 1803 dort nicht mehr ansässig wurden, kann der Rabbiner A l e x ander nicht in Augsburg geboren worden sein«. 3 Meyer, Isaak: Z u r Geschichte der Juden in Regensburg. Gedenkschrift zum Jahrestage der Einweihung der neuen Synagoge nach handschriftlichen und gedruckten Quellen bearbeitet, Berlin 1913. 4 Meyer, S. 3 9 f. 5 Moses Mendelssohn's Lebensgeschichte, in: Mendelssohn, M o s e s : Gesammelte Schriften, hg. v. G . B . Mendelssohn, Neudruck Hildesheim 1972, S. 9 f. An dieser Stelle wird erzählt, daß S. Bleichröder, der M e n delssohn 1746 kennenlernte und ihm »durch kleine Dienstleistungen behülflich« war, mit einem deutschen B u c h auf der Straße von einem Gemeindebeamten ertappt und daraufhin aus der Stadt Berlin ausgewiesen wurde. 6 S a l o m o n M a i m o n s Lebensgeschichte, neu hg. V. Z w i Batscha, Frankfurt 1984, S. 127 f. M a i m o n fuhrt an dieser Stelle die A b w e i sung seines Gesuchs, in Berlin Medizin studieren zu dürfen, darauf zurück, daß er

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einem Rabbiner, der ihn über den Z w e c k seines Aufenthalts ausforschte, seinen K o m mentar zu Maimonides Werk » M o r e N e wochim« gezeigt hatte. 7 Isaak Alexander/Rabiners/zu Regensburg/ kleine Schriften, Regensburg 1789, unpaginiert, S. (3)-(5). 8 Alexander, Isaac: Von der Freyheit des Menschen, Regensburg 1789, I. Abschnitt der kleinen Schriften. 9 Mendelssohn, M o s e s : Gesammelte Schriften, Neudruck 1972, B d . 4/1, S. 529. 10 Es handelte sich u m die M i s c h n a - Ü b e r s e t zung des christlichen T h e o l o g e n Rabe. 11 Alexander, Isaak: Verein! der Mosaischen Geseze mit dem Talmud in zwey Abhandlungen verfaßt, Regensburg 1786, S. 18 f. 12 Alexander, Verein, S. 23. 13 Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern j ü d i scher Religion, Berlin, 1799, anonym erschienen (David Friedländer war der Verfasser, der mit dieser Schrift praktisch einen Massenübertritt der Juden zum Christentum anbot).

Gunnar Och/Gerhard Renda

Simon Höchheimer (1744-1828), Arzt und Schriftsteller

Simon Höchheimer gehört zu den wenigen Juden aus Bayern, die im Kreise der jüdischen Aufklärer und Vordenker der Emanzipation einen Platz beanspruchen können. U m s o erstaunlicher ist, daß über diese interessante Persönlichkeit bisher nur wenige und zumeist falsche Daten und Fakten publiziert worden sind. Auf der Grundlage neu aufgefundener Quellen und nach Sichtung von Höchheimers z.T. schwer zugänglichen Schriften kann nun erstmals zuverlässig sein biographisches und intellektuelles Profil gezeichnet werden. Simon Höchheimer wurde 1744 in Veitshöchheim bei Würzburg geboren.1 Er durchlief die jüdische Elementarschule, den Cheder, und mehrere Talmudschulen, von denen er mit hervorragenden Zeugnissen abging. Bald schon regte sich freilich sein Interesse an nicht religiös gebundenem Wissen. Im Selbststudium gewann er Einblick in Arithmetik, Geographie und Buchführung und beschäftigte sich auch mit den ökonomischen Wissenschaften. Zur praktischen Fundierung seiner theoretischen Kenntnisse begann er zu reisen. U m das Jahr 1773/74 kam Höchheimer nach Berlin, wo er sich als Privatlehrer durchschlug und Zugang zum Kreis um Moses Mendelssohn fand. Wie eng die Beziehung zu dem großen jüdischen Philosophen gewesen ist, wissen wir nicht. Doch bezeichnet ein Zeitgenosse Höchheimer immerhin als »Schüler und Klient von Mendelsohn« 2 . Und eine aus späterer Zeit stammende Eintragung Mendelssohns in das Stammbuch Höchheimers läßt auf eine gewisse persönliche Vertrautheit schließen.3 Wie lange Höchheimer in Berlin blieb und wohin ihn weitere Reisen führten, ist unbekannt. 1780 befand er sich jedenfalls wieder in seiner unterfränkischen Heimat. Da in Würzburg selbst keinejuden wohnen durften, hat er sich wohl in seinem Geburtsort Veitshöchheim oder in der großen jüdischen Gemeinde von Heidingsfeld vor den Toren Würzburgs aufgehalten. Die zahlreichen Empfehlungsschreiben, die er von Mendelssohn und anderen namhaften Berliner Gelehrten erhalten hatte, öffneten ihm den Zugang zu den intellektuellen Zirkeln der Residenzstadt. Sein Auskommen war jedoch keineswegs gesichert, so daß er sich mit einer Eingabe an den Fürstbischof wandte. Seit 1779 saß Franz Ludwig von Erthal auf dem Bamberger und Würzburger Bischofsstuhl, ein human eingestellter Fürst, der sich im Sinne des aufgeklärten Absolutismus für soziale und wirtschaftliche Reformen in seinem Land einsetzte. Vor allem die Entwicklung des Manufakturwesens und die Armenfursorge lagen ihm am 43

Herzen. Höchheimer unterbreitete dem Bischof, dessen soziales Engagement er ausdrücklich rühmt, einen ausführlichen Plan zur Hebung der Industrie und zur Verbesserung der Armenfürsorge. Sein besonderes Augenmerk galt dabei den zahlreichen Betteljuden. Zudem regte er die Einrichtung einer eigenen Erziehungsanstalt für die »jüdische Nation« an.4 Diese Eingabe erfolgte aus nicht ganz uneigennützigen Motiven, rechnete ihr Verfasser doch damit, die vorgeschlagenen Projekte im Dienste des Fürsten selbst durchführen zu können. Höchheimer fand jedoch keine Resonanz und muß kurz nach dieser Enttäuschung Franken wieder verlassen haben. Seine Reisen führten ihn unter anderem nach Augsburg, München und Wallerstein. Dabei wurde er immer wieder mit der schimpflichen Abgabe des Leibzolls konfrontiert, was ihn zutiefst empörte: »In nichts fül ich mich als Jude mehr gekränkt, in nichts verspüre ich meine Menschheit so sehr erniedrigt, als in diesem sklavischen Tribut des Leibzolles; ein Mensch soll an Menschen seinen Leib verzollen! (...) Welcher Abscheu! besonders, wie es sehr oft der Fall ist, wenn der Zöllner bei der Abnahme auch noch seine eigne Galle mit einmischt!« 5 . Daher empfand er Dankbarkeit und Genugtuung, als die würzburgische und auch die bayerische Regierung seinen Gelehrtenstatus anerkannten und ihn vom Leibzoll befreiten. 6 Aus Höchheimers Stammbuch geht hervor, daß er sich 1785 erneut in Berlin aufgehalten hat. Viele hervorragende Vertreter des geistigen Lebens widmeten ihm ein Andenken, darunter — neben Mendelssohn — Markus und Henriette Herz, David Friedländer und der aus Ansbach gebürtige Naturforscher Elieser Bloch. Josef Veit, Mendelssohns Schwiegersohn, gab ihm folgende Zeilen mit: »Vergiss die Stadt, die Du verlässt, nur Deine Freunde nicht« 7 . Ein Jahr später starb Moses Mendelssohn. Zu seinem Gedächtnis veröffentlichte Höchheimer den Nachruf »Ueber Moses Mendelssohns Tod« (1786), der zu Recht als die erste Mendelssohn-Biographie bezeichnet wurde. 8 Der Würzburger Theologieprofessor Oberthür bemerkte beifällig: »Es freut mich, daß auch ein Mann aus der in Franken wohnenden Kolonie der Israelitischen Nazion Simon Höchheimer (...) diesem edlen Israeliten ein Denkmal gesetzt« 9 . Höchheimer begnügte sich freilich nicht mit einer biographischen Skizze, sondern fugte aufschlußreiche Reflexionen hinzu, die der 'Verbesserung der Juden' gelten. Das Judenedikt Josephs II. von 1782 wird als ein »vortreffliches Muster der Toleranz« begrüßt 10 , der Prozeß der jüdischen Selbst-Aufklärung nach dem Vorbild Mendelssohns emphatisch verteidigt 11 . Wenig später muß Höchheimer mit dem Studium der Medizin begonnen haben, der einzigen akademischen Disziplin, die Juden in dieser Zeit überhaupt zugänglich war. Der weitgereiste und in Gelehrtenkreisen schon angesehene Mann hatte unter den adeligen Domherren am Würzburger H o f einflußreiche Gönner gefunden. Vor allem Friedrich Lothar von Stadion, der in Würzburg und Mainz die Domherrenwürde bekleidete, setzte sich dafür ein, daß Höchheimer in Mainz studieren konnte. Dieser leistete nach dem Studium ein einjähri44

ges Praktikum im Mainzer Militärhospital ab, ehe er sich zur Promotion nach Freiburg im Breisgau begab. Die damals vorderösterreichische Stadt Freiburg verwehrte seit Jahrhunderten Juden das Wohnrecht. Höchheimer, der mehrere Monate bei dem Schwertwirt in Oberlinden logierte, erwarb jedoch den Schutz der Universität und erlangte am 17. Februar 1791 die Doktorwürde. 1 2 Die »Schwäbische Chronik« meldete fur den 6. April 1791: »Freiburg i. Br. Vor kurzem erhielt auf unserer Universität zu erstenmale ein Mediziner jüdischer Religion den D o c torhut. Er heißt Höchheimer, ist aus Würzburg gebürtig, ein Schüler Mendelssohns in der Philosophie und von Geheimrat Hofmann in der Arzneiwissenschaft« 13 . In der Vorrede zu einer medizinischen Abhandlung berichtet Höchheimer über seinen weiteren beruflichen Werdegang. 14 Seiner Promotion an einer österreichischen Hochschule wegen gelang es ihm, in Wien Fuß zu fassen. Drei Jahre lang arbeitete er am Allgemeinen Krankenhaus und fand Kontakt zum österreichischen Hochadel. Im Dienst des Fürsten Karl von Lichtenstein ging er nach Mähren, wo er auf dessen Gütern »als Leibarzt und Physikus der ganzen Herrschaft« weitere drei Jahre »mit einem sehr reichlichen fixen Gehalt« zubrachte 15 . Der plötzliche Tod des Fürsten beendete Höchheimers Anstellung. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Westgalizien kehrte er 1798 nach Wien zurück. Dort fand er in dem Fürsten Dietrichstein einen neuen Gönner, der ihn als Stadt- und Spitalarzt für seine gleichnamige böhmische Herrschaft verpflichtete. 16 Als sich 1803 mit dem Reichsdeputationshauptschluß die politische Landkarte Süddeutschlands entscheidend änderte und Würzburg an das Kurfürstentum Bayern fiel, kehrte Höchheimer nach Franken zurück. Der jüdische Arzt setzte große Hoffnungen in den neuen Landesherren Kurfürst Maximilian Joseph, der als Anhänger der Aufklärung galt und von dem sich die Juden eine wesentliche Besserung ihrer Rechtsstellung versprachen. Zu ihrem Mentor wählten sie den geistlichen Rat Franz Oberthür, der sich schon unter dem fürstbischöflichen Regiment für die Belange der Juden eingesetzt hatte. Oberthür entwarf eine Bittschrift, wobei er auch »einen aufgeklärten und als Schriftsteller bekannten redlichen Israeliten«, nämlich Simon Höchheimer, zu Rate zog 17 . Das Memorandum wurde allerdings von Oberthürs jüdischer Klientel scharf kritisiert, denn es sah nach Maßgabe eines fragwürdigen Erziehungskonzeptes lediglich eine stufenweise Gewährung von Rechten parallel zum Fortschreiten der sittlichen Verbesserung der Juden vor, während man auf jüdischer Seite sofort und ohne Abstriche das volle Bürgerrecht verlangt hatte.18 Höchheimer selbst reichte 1805 einen Aufsatz über die Erziehung der Juden beim General-Schul- und Studiendirektorium ein, der breite Zustimmung fand und ihm eine Belobigung des Kurfürsten einbrachte. Vielleicht unter dem Eindruck dieses Erfolges wurde Höchheimer am 28. Juni 1805 von der Landesdirektion als Totenbeschauer in Würzburg offiziell bestätigt. Zusätzlich zu dieser amtsärztlichen Funktion stellte man ihm eine ander-

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weitige Verwendung in Aussicht. Aber wenig später wurde die Bestätigung als Totenbeschauer »bei der nachdrücklich entgegen stehenden allgemeinen Stimmung«, wie es in einem amtlichen Bericht heißt, zurückgezogen". Die ihm zustehenden Gebühren hatte er nicht erhalten, von einer anderen Anstellung war nun nicht mehr die Rede. Die Gründe für diesen Meinungsumschwung lassen sich nur vermuten. Höchheimer machte jüdische und christliche Neider, die ihm wegen seiner geleisteten Staatsdienste übel wollten, worunter er die kurze ärztliche Praxis und die Erziehungsdenkschrift verstand, für seine Lage verantwortlich. Seine eifrige Zusammenarbeit mit der neuen Regierung scheint ihm tatsächlich bei der Würzburger Bevölkerung, die der bayrischen Oberhoheit ablehnend gegenüberstand, Feinde gemacht zu haben. A m 2. Februar 1806 nahm Höchheimer die Erhebung Bayerns zum Königreich zum Anlaß, um Maximilian Joseph seine Notlage zu schildern. Unter Verweis auf seinen R u f als Arzt und Schriftsteller und auf die Versprechungen der Landesdirektion bat er um eine Anstellung als »Physikus« der Juden oder in einer anderen Funktion. 20 Die negative Stellungnahme des General-Landes-Kommissariats machte jedoch Höchheimers Hoffnungen endgültig zunichte. Seine Ansprüche wurden zwar anerkannt, seine ärztliche Qualifikation bestätigt, aber eine Anstellung dennoch nicht befürwortet, wobei in der Begründung deutlich judenfeindliche Ressentiments zutage treten. Nach dieser neuerlichen Enttäuschung kehrte Höchheimer Würzburg endgültig den Rücken. Im August 1806 trat er eine Stelle als Armenarzt bei der jüdischen Gemeinde in Fürth an. Als im Jahre 1815 die Posse »Unser Verkehr« Aufsehen erregte und beim Theater- und Lesepublikum seiner judenfeindlichen Tendenz wegen große Resonanz fand, meldete sich neben vielen anderen Zeitgenossen auch Simon Höchheimer zu Wort. Er verfaßte das als Gegenentwurf gedachte Drama »Der Spiegel für Israeliten«, das die in der Posse kolportierten Vorurteile und Klischees mit Empörung zurückweist. 21 Zugleich werden aber auch die eigenen »Religionsgenossen« dazu aufgefordert, noch zu beobachtende »Gebrechen«, wie mangelhafte Bildung oder übertriebene »neumodische« Anwandlungen, rasch zu beheben. Eine bemerkenswerte Passage des Dramas zielt offenbar auf das bayrische Judenedikt von 1813, das den Juden die erhoffte Gleichstellung abermals versagte. Nathan - die Identifikationsfigur des Stücks - wendet sich gegen alle halbherzigen Emanzipationsversuche. Nur das volle Bürgerrecht könne zu einer wirklichen »Verbesserung« der Juden fuhren: »Die hier und da ihnen ertheilten Mitteldinge, einzelne bürgerliche Rechte, nebst allen bürgerlichen Pflichten, haben keine Proportion; die Wunde ist oft größer als das Pflaster; daher ftir Staat und Juden nicht vortheilhaft zu nennen ist. Der Staat soll radikal und nicht palliativ kuriren« 22 . Höchheimers letzte Jahre waren - wie beinahe sein ganzes Leben - unruhig und entbehrungsreich. Die jüdische Gemeinde von Fürth, die größte und bedeutendste des jungen Königreichs Bayern, war in sich gespalten. Einem reformerisch gesinnten Flügel, der mit dem K a m p f um die Gleichberechtigung

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das Streben nach weitgehender Assimilation verband, stand eine konservative Fraktion mit dem Oberrabbinat und den Gemeindevorstehern an der Spitze gegenüber. Höchheimer war aus naheliegenden Gründen auf Seiten der Reformer zu finden. 1821 veröffentlichte er in hebräischer Sprache eine Schrift zur Erziehung der jüdischen Jugend, die er Aron Wolfssohn widmete, einem später ebenfalls in Fürth ansässigen jüdischen Schriftsteller aus der Schule Moses Mendelssohns. 23 Höchheimers eindeutige Parteinahme veranlaßte die einflußreichen Gemeindevorsteher und Armenstiftungspfleger als Verfechter der Orthodoxie, ihm die weitere materielle Unterstützung zu verweigern. Erst als städtische Behörden einschritten, wurden die entsprechenden Zahlungen wieder geleistet. Simon Höchheimer starb in Fürth am 26. Mai 1828.

Anmerkungen Eine wesentlich erweiterte Fassung dieses Aufsatzes erscheint im Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1988. 1 Stadtarchiv (StadtA) Fürth, Fach 20, Nr. 10, Matrikelnr. 243. 2 Aus einem B r i e f O b e r t h ü r s , zit. nach: Lindig, Annemarie : Franz O b e r t h ü r als M e n schenfreund, in: Volk, O t t o (Hg.): Professor Franz O b e r t h ü r als Menschenfreund. Persönlichkeit und Werk, Neustadt/Aisch 1966 ( = Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg, B d . 2), S . 3 9 . 3 Ein Stammbuchvers Moses Mendelssohn's, in: Jüdisches Literaturblatt. Beilage zur Israelitischen Wochenschrift 15 (1886), Heft 1, S. 4. 4 Vgl. Staatsarchiv (StA) Würzburg, Juden 17. 5 Höchheimer, S i m o n : Lieber Moses M e n delssohns Tod, Wien, Leipzig 1786, S. 19 f. 6 E b d . , S. 2 3 f. 7 Jüdisches Literaturblatt 15 (1886), S. 15. 8 Altmann, Alexander: M o s e s Mendelssohn. A Biographical Study, Alabama 1973, S. 84. 9 10 11 12

Zit. nach Lindig, S. 39. Höchheimer, Mendelssohns Tod, S. 15. E b d . , S. 49ff. Hundsnuscher, Franz/Taddey, Gerhard: Die jüdischen Gemeinden in Baden, Stuttgart 1968, S. 90.

13 Zit. n. Löwenstein, Leopold: Z u r Geschichte der Juden in Fürth. Teil 2: Rabbinatsbei-

sitzer und sonstige Persönlichkeiten, N e u druck Hildesheim, N e w York 1974, S. 68, A n m . 4. 14 Höchheimer, S i m o n : Systematische theoretisch-praktische Abhandlung über K r a n k heiten aus Schwäche und deren Behandlung nebst Beleuchtung Brownischer Grundsätze, Frankfurt 1803, S. IV-VII. 15 E b d . , S. V. 16 V g l . Hamberger, G e o r g Christoph/Meusel, Johann G e o r g : Das gelehrte Teutschland. 5. Ausgabe, B d . X I V , L e m g o 1810, S. 150. 17 Zit. n. Flade, Roland: Die Würzburger J u den. Ihre Geschichte v o m Mittelalter bis zur Gegenwart, Würzburg 1987, S. 64. 18 V g l . Günther, Eckhard: Das J u d e n t u m in Mainfranken 1789-1816, Diss. Würzburg 1941, S. 103 f. 19 Flade, S. 64. 20 S t A Würzburg, A d m i n . 677/15073. 21 Höchheimer, S i m o n : M e i n e W i n t e r - A b e n de oder D e r Spiegel für Israeliten und zum » U n s e r Verkehr«, dramatisch bearbeitet, geformt zum Schauspiel in vier Aufzügen von Dr. S i m o n Höchheimer, Fürth 1816. 22 E b d . , S. 55; (palliativ: schmerzlindernd, o h ne die Ursachen zu bekämpfen). 23 Vgl. Löwenstein, S. 154.

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Margit Ksoll

Abraham Rost, Hoffaktor

Abraham Rost wurde in Ansbach als Sohn des Rabbi und brandenburgansbachischen Hoffaktors David Rost geboren. 1745 heiratete er Merla, die Tochter des Juden Mayer Collomann aus Frankfurt. 1 Im selben Jahr erhielt Abraham Rost von Markgraf Karl Wilhelm Friedrich von BrandenburgAnsbach das Prädikat »Faktor« verliehen. 1747 kam er auf Empfehlung der Freiherrn von Mauchenheim gen. Bechtolsheim an den H o f des Fürstbischofs von Würzburg, Anselm Franz von Ingelheim, der ihn zu seinem Kabinettsfaktor machte. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß das 18. Jahrhundert die »klassische Zeit« der Hoffaktoren war; nahezu jeder Landesherr in den deutschen Territorien beschäftigte einen jüdischen Geldgeber. Während des ersten Jahres, das Abraham Rost am H o f und im Dienst des Würzburger Fürstbischofs verbrachte, lebten seine Frau und sein Sohn weiterhin in Ansbach. 1748 verlegte Rost den Wohnsitz seiner Familie nach Marktbreit, das den Fürsten von Schwarzenberg unterstand und wo es eine bedeutende jüdische Gemeinde gab. 2 Die Übersiedlung nach Marktbreit anstelle von Würzburg begründete Rost damit, daß es nach dem Tod des bereits betagten Fürstbischofs zu antijüdischen Unruhen kommen könnte, 3 womit er recht behalten sollte. Der Markgraf von Brandenburg war mit der Übersiedlung Rosts einverstanden und sicherte ihm weiterhin seinen Schutz zu. Die Erlangung eines schwarzbergischen Schutzbriefes war jedoch für Abraham Rost mit den größten Schwierigkeiten verbunden. Obwohl er dem schwarzenbergischen Oberamtmann von Grandjean acht Dukaten sowie einen Ring im Wert von 40 Reichstaler für die Gewährung eines Schutzes gegeben hatte, erhielt er, trotz Anforderung, keinen Schutzbrief. 4 Als der Würzburger Bischof am 9. Februar 1749 starb, wurde Abraham Rost, der sich jeweils am Sabbat bei seiner Familie in Marktbreit aufhielt, im Auftrag der würzburgischen Regierung von schwarzenbergischen Amtleuten überfallen und gefangengenommen, mit der Begründung, seine Schulden in Würzburg nicht bezahlt zu haben. Wenige Tage nach seiner Gefangennahme konnte Rost über Uffenheim nach Ansbach fliehen. Etwa fünfzehn Tage später lieferte ihn die ansbachische Regierung an Würzburg aus, wo er in den »schwersten Criminalarrest« gesperrt und erst nach siebzehn Monaten wieder entlassen wurde. Sofort nach seiner Gefangennahme in Marktbreit wurde sein Vermögen beschlagnahmt; seine Frau, die ein Kind erwartete, und sein dreijähriger Sohn 49

wurden zunächst vierzehn Tage unter Hausarrest gestellt, da Mcrla Rost der Fluchthilfe verdächtigt wurde; danach wurden sie ohne Habseligkeiten, Kleidung und Hausrat aus dem schwarzenbergischcn Territorium verwiesen. In Heidingsfeld fanden sie Aufnahme. Das schwarzenbergische Amt verhängte über das Vermögen von Abraham und Merla Rost ein Konkursverfahren. Dagegen erhob Rost zunächst beim Amt Marktbreit Klage. Er verwies darauf, daß er auf schwarzenbergischem Gebiet niemandem etwas schuldig sei, und daß die Schulden, die er außerhalb habe, sein Vermögen nicht überstiegen. Nachdem das Amt Marktbreit die Rechtmäßigkeit des Konkursverfahrens bekräftigt hatte, wandte sich Rost an die schwarzenbergische Regierung, die die Entscheidung des Amtes Marktbreit bestätigte. Dagegen appellierte Rost an das Reichskammergericht. 5 Auch gegen die Beschlagnahmung des Heiratsgutes von Merla Rost, 1200 Reichstaler, zahlreiche Silbergegenstände, Pretiosen und Kleider, die zur Konkursmasse gerechnet wurden, klagten Merla und Abraham Rost vor dem schwarzenbergischen Amt Marktbreit. Merla Rost machte ihre Ansprüche als erste Gläubigerin ihres Mannes, mit dem sie keine Gütergemeinschaft hatte, geltend; sie verwies auch darauf, keine Wechsel und Schuldbriefe zusammen mit ihrem Mann ausgestellt zu haben. Nachdem das Amt Marktbreit, wie auch die zweite Instanz, die schwarzenbergische Regierung, die Forderung Merla Rosts zurückgewiesen hatte, appellierte das Ehepaar auch in dieser Angelegenheit 1750 an das Reichskammergericht. 6 Dieses fällte in keinem der beiden Prozesse, die 1768 endeten, ein Urteil. Abrahm Rost wie auch dessen Ehefrau wurden von der schwarzenbergischen Regierung nicht als Schutzjuden anerkannt; auch vom neuen Würzburger Fürstbischof, Philipp Heinrich von Greiffenclau, hatten sie keinen Schutzbrief erhalten. Die Versteigerung des Rost'schen Vermögens wurde im schwarzenbergischen, würzburgischen und brandenburg-ansbachischen Gebiet bekannt gemacht. 7 Die Schuldforderungen an Rost wurden auf 1140 fl. 5 1/2 kr., das Gesamtvermögen Rosts auf 1886 fl. 30 kr. festgesetzt; bei der Versteigerung wurden 1616 fl. 30 kr. erzielt. Der Betrag des Gesamtvermögens setzte sich folgendermaßen zusammen: an Silber (Besteck, Becher, Tablett, Schnupftabakdose u.s.w.; 1 Loth = 1 fl. 15 kr.) 960 fl. 56 1/4 kr., an Zinn 82 fl. 7 kr., an Messing 42 fl. 30 kr., an Kupfer 10 fl. 40 kr., an Männerkleidung 118 fl., an Frauenkleidung 225 fl., an Bettzeug 55 fl., an Leintuch 6 fl. 15 kr., an Weißwäsche 25 fl., an Waffen (»1 kleines Flintlein, 1 paar Pisthol, 1 paar Terzerol«) 3 fl. 30 kr., an Uhren 27 fl., an Schreinerarbeiten 133 fl. 51 kr., an deutschsprachigen Büchern 156 fl. 29 kr., an hebräischen Büchern 156 fl. 29 kr. Daraus ergibt sich, daß Abraham Rost in wohlhabenden Verhältnissen lebte; das zeigte sich auch an seiner Wohnung. Er hatte in Marktbreit den ersten Stock, die Küche im Parterre, zwei Zimmer im dritten Stock sowie den Keller des Hauses des Juden Isaak Meyer gemietet für 50 fl. im halben Jahr. Die Bücher, die Abraham Rost besaß, lassen ihn als einen gebildeten Mann erscheinen; er verfügte unter anderem über ein »Allgemeines historisches 50

Lexicon«, zahlreiche juristische, theologische und historische Werke, S a m m lungen von brandenburg-ansbachischen Verordnungen, Reisebeschreibungen und unterhaltsamer Literatur; ein Teil der Bücher stammte von seinem Vater David Rost. 8 Rost warf der schwarzenbergischen Regierung vor, daß seine Silber- und vergoldeten Wertgegenstände von einem Schwarzenberger Untertan geschätzt wurden, der dergleichen noch nie in Händen hatte und daher auch deren künstlerischen Wert nicht beurteilen könne; auch seien zahlreiche Gegenstände in das Amtshaus gebracht und nicht in die Konkursmasse einbezogen worden. 9 Abraham Rost wurde nach seiner Entlassung aus der Haft aus Würzburg ausgewiesen. Der Schaden, der ihm durch die Haft und durch den Konkurs entstanden war, belief sich auf ungefähr 30 000 Reichstaler; angeblich hatte er allein Wechsel im Wert von 20 937 fl. verloren. Während dieser Zeit starben auch seine beiden Kinder. 10 Bereits 1748 hatte Rost sächsische Paßbriefe erhalten, und ab 1750 bezeichnete er sich als sachsen-hildburghausischer Hoffaktor. 11 Abraham Rost war aber nicht nur Hoffaktor, er war auch in anderen Geschäften tätig. So gab er Kredite fur Adelige; er hatte z.B. von den Grafen von Ingelheim 8000 fl. zu fordern. 12 Er betätigte sich auch als Kriegslieferant und Ehevermittler. In einem Verfahren vor dem Reichskammergericht 1753, in dem Abraham Rost gegen den Juden Nehem Hirsch zu Niederwerrn, einen Schutzjuden der Freiherrn von Münster, klagte wegen nicht erhaltener Gelder für die Ehevermittlung von Nehems Tochter, sagte Nehem Hirsch über Abraham Rost aus, es sei »Land- und Acten «-kundig, daß ihm »gar vielerley verbrechen zur Last kamen, und erwiesen wurden, als daß er zum Exempel leuten unter den unwahrhafften Praetext Ihnen zu Pfarreyen, Kellereyen, Seminarien etc.« zu verhelfen, hohe Summen abgepreßt habe.13 Auch wenn diese Anschuldigung nicht der Wahrheit entsprechen sollte, läßt sich daraus vermuten, daß Abraham Rost auf vielfältige Weise versuchte, Geld für sich und seine Landesherren zu beschaffen. Gleichzeitig bietet Abraham Rost ein Beispiel dafür, wie auch noch im 18. Jahrhundert die Juden der Willkür ihrer Landesherren ausgeliefert waren, und wie vollkommen rechtlos sie waren, wenn sie keinen Schutzbrief besaßen.

Anmerkungen 1 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München ( B a y H S t A ) R K G 7304 Q 9. 2 B a y H S t A R K G 7300 Q 5; zum Hoffaktorentum allgemein: Schnee, Heinrich: Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus, Bd. 3, Berlin 1955, S. 179 ff.;

B d . 4, Berlin 1963, S. 26 f., 31; Schremmer, Eckart: Gewerbe und Handel zur Zeit des Merkantilismus, in: Handbuch der bayerischen Geschichte, B d . 2, hg. v. M a x Spindler, München 1966, S. 526; Schwarzenberg, Karl Fürst zu: Judengemeinden Schwarzenbergischer Herrschaften, in: Schwarzenberger Almanach 34 (1968), S. 287-289.

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3 B a y H S t A R K G 7300 Q 5, 7304 Q 8 und Vorakt. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 B a y H S t A R K G 7304 Q 8, Q 9 u n d Vorakt. 7 B a y H S t A R K G 7304 Vorakt; die Versteiger u n g w u r d e u. a. a n g e k ü n d i g t in Scheinfeld, M a r k t Bibart, H ü t t e n h e i m , Iphofen, Kitzin-

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gen, Aub, Heidingsfeld, S o m m e r h a u s e n und Ochsenfurt. B a y H S t A R K G 7304 Vorakt, 7300 Q 17. B a y H S t A R K G 7300 Q 5. B a y H S t A R K G 7308 Q 2, Q 15. B a y H S t A R K G 7308 Q 25, Q 26. B a y H S t A R K G 7300 Q 26, 7308 Q 15. B a y H S t A R K G 7308 Q 3.

Franziska Jungmann-Stadler

Drei Generationen Seligmann-von Eichthal in München, »allda etablierte Banquiers«

A m ausführlichsten hat sich Heinrich Schnee 1 mit der Geschichte der Familie Seligmann-von Eichthal beschäftigt. Sein Urteil hat Gewicht, wenn er feststellt, daß diese Familie im 18. Jahrhundert in vier Generationen einen »Aufstieg ohnegleichen v o m jüdischen Kleinhändler z u m Großfinanzier und bayerischen Freiherrn« erlebte. Aron Elias Seligmann, der 1801 von Leimen bei Heidelberg nach München übersiedelte, zeichnete sich aus durch geschäftliche Wendigkeit und kühnes, manchmal skrupelloses U n t e r n e h m e r t u m , was ihn befähigte, ein für die damalige Zeit enormes Vermögen zu bilden.

Aron Elias Seligmann (ab 1814: von Eichthal) (1747-1824) Er w u r d e am 26. April 1747 in Leimen bei Heidelberg als Sohn des Elias Seligmann, Kaufmann und kurpfälzischer Hofagent, geboren, der zusammen mit seinem Bruder Aron als Salzentrepreneur im H e r z o g t u m Württemberg tätig war. Ebenso waren drei Brüder des Elias Seligmann Hoffaktoren: Mayer Elias Seligmann, Hoffaktor der Kurpfalz, Liebmann Elias Seligmann, H o f f a k tor der Kurpfalz und Lemle Elias Seligmann, Hoffaktor in M a n n h e i m und Dresden. Bis zum Tod des Vaters sind die Quellen über Aron Elias Seligmann spärlich. Erst aus dem Jahr 1779 ist überliefert, daß er eine Tabakmanufaktur in Leimen errichtete. Kurfürst Karl T h e o d o r genehmigte die Fabrik unter Bedingungen, die interessanterweise gewisse Parallelen zur Errichtung der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank aufweisen, die unter dem Sohn des Aron Elias, Simon von Eichthal, gegründet wurde. Die Fabrik sollte eine Aktiengesellschaft werden; die Aktien sollten nicht an Ausländer, sondern nur an kurpfälzische Landesangehörige und vor allem an Christen verkauft werden, die Firma oder der N a m e der Firma sollte an einen oder mehrere assoziierte Christen abgegeben werden. Aron Elias akzeptierte diese Bedingungen. Der Tabakmanufaktur wurden daraufhin weitere Vorteile eingeräumt. Aron Elias Seligmann betätigte sich zudem wie sein Vater im Salzhandel der Pfalz, vorwiegend in Zusammenarbeit mit anderen Firmen, vor allem mit dem christlichen Haus Schmaltz in Mannheim. Seit 1779 datiert sein Engagement als Heereslieferant für die kaiserlichen Truppen. 1782 w u r d e er wegen seiner besonderen Kenntnisse und Geschicklichkeit zum Kurfürstlich-pfälzischen Hofagenten befördert. In den Revolutionskriegen war er alleiniger Heereslieferant der bayerischen Armee. 53

Tabakmanufaktur, Salzhandel und Heereslieferung waren die drei Säulen, auf denen er seine Finanzkraft aufbaute. Fortan war er in der Lage, Kurpfalz und Bayern Anleihen in Millionenhöhe zu gewähren. 1799, bei Regierungsantritt Max Josephs, wurde er als Hofagent nach München berufen und erhielt den Auftrag, den Sold für die im Feld stehenden Truppen vorzuschießen. Da die bayerische Staatskasse und das staatliche Finanzwesen desolat waren, wurde Aron Elias Seligmann für den Kurfürsten bald unentbehrlich. Er gewährte Anleihen, er streckte die Beamtengehälter und die Auslagen im auswärtigen Dienst vor und ihm war das Rechnungswesen des Auswärtigen Departements übertragen. Der Dienst am Kurfürstenhof brachte die Nähe zum Kurfürsten mit sich. Im Bericht des preußischen Gesandten v. Krüger an Fürst Hardenberg wird Aron Elias Seligmann als Genösse der Tisch- und Spielpartien des Königs M a x I. bezeichnet 2 . Auch der Kronprinz Ludwig wickelte seine privaten Kunstkäufe häufig über ihn ab3. Obwohl Aron Elias Seligmann bereits 1799 das Bürgerrecht für sich, seine Söhne und Schwiegersöhne erhielt 4 , konnte er noch keine Immobilien erwerben. Erst mit der Privilegierung 1806 wurde ihm gestattet 5 , die Kaufbriefe sowohl des Palais Piasosque de Non, das auf den Namen seines Sekretärs eingetragen war, als auch des bischöflich Reisachischen Gartens, den er ebenfalls gekauft hatte, auf seinen eigenen Namen umschreiben zu lassen. Außerdem sollte er künftig bei Erwerbungen von Häusern und sonstigen Liegenschaften in seiner Eigenschaft als Hofbankier den christichen Untertanen gleichgestellt werden. Aron Elias Seligmann hatte zehn Kinder, fünf Söhne und fünf Töchter. Von den Söhnen wurden vier ebenfalls Bankiers: Arnold (1772-1838) etablierte sich in Augsburg, David (1775-1850) wurde Hofagent in Karlsruhe und Fabrikant in Grötzingen und St. Blasien, Ludwig (oder Louis) (1780-1840) gründete ein Bankhaus in Paris und Simon erbte das Stammhaus in München. Nur der Sohn Bernhard wurde nicht selbständiger Bankier, sondern ging als Finanzrat in den höheren Staatsdienst 6 . Aron Elias Seligmann verteilte sein Vermögen bereits zu Lebzeiten auf seine Nachkommen. Es war nicht leicht, seine Söhne zu »etablieren«, wie sich am Beispiel des ältesten Sohnes Arnold und dessen Niederlassung in Augsburg zeigen läßt. Aron Elias legt in einem Brief an Graf Montgelas dar: »Da ich nun, nach langjährigem Zaudern, meinen ältesten Sohn Arnold Seligmann zur Etablierung eines Hauses in Augsburg, nach meinem längst gehegten Vorhaben, zu bewegen gewußt habe, so ersuche ich Ew. Exz., ihn durch ein Schreiben an Tit. Herrn Stadtkommissair von Pflummern nicht allein zu empfehlen, sondern auch die allerhöchste Gesinnung mitzuteilen, daß man meinen Sohn in allen Fällen, und nie anders als andere allda etablierte Banquiers umso mehr behandeln möge, als dessen Etablissement und das ansehnliche Vermögen, welches er nach Augsburg bringt, verbunden mit dem ausgebreiteten Credit, nicht anders als dem städtischen Interesse und dem Gewerbefleiße von bedeutendem Nutzen sein kann« 7 . In Augsburg war es üblich, daß für Juden das 54

Scontrieren, also die Tilgung wechselseitiger Schulden, im Freien, auf der Straße vor der Börsenstube durchgeführt wurde; daß damit schikanöser Behandlung Vorschub geleistet war, versteht sich von selbst 8 . Arnold Seligmann schrieb in einem Brief an Montgelas, daß er sich diesem herabwürdigenden Brauch unter keinen U m s t ä n d e n unterwerfen und lieber sein Haus in Augsburg aufgeben wolle 9 , »weil mich die Herren Patrizier sonst würklich chicanirn möchten«. A m 22. September 1814 erfolgte die Erhebung Arnold Elias Seligmanns in den erblichen Freiherrenstand 10 für ihn und seine Kinder. 1823, als 76jähriger, machte Aron Elias sein »Arrangement für den Fall seines Ablebens«. Er unterrichtete König M a x I. Joseph, daß er mit seinen Söhnen übereingekommen sei, daß das Bank-Haus in München in gegenwärtigem Stande zu erhalten und fortzuführen sei. Aufgrund seiner u m das königliche Haus erworbenen Verdienste bat er u m den Vorzug, daß das Hofbankhaus bei Geldgeschäften vor allen anderen berücksichtigt würde, jedoch zu den gleichen Bedingungen wie andere Häuser. M a x Joseph I. wies seinen Minister von Lerchenfeld in diesem Sinne an11. A m 11. Januar 1824 starb Aron Elias von Eichthal in München. Er ist auf dem Alten Südlichen Friedhof begraben. Ihm folgte als Besitzer des Bankhauses Α. E. von Eichthal in München sein Sohn

Simon von Eichthal (1787-1854). Als U n t e r n e h m e r und Mitbegründer der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank hat Simon von Eichthal eine Würdigung erfahren, auf die hier zu verweisen ist12. Im folgenden soll der Blick vor allem auf sein soziales U m f e l d und seine Tätigkeit als vielseitiger U n t e r n e h m e r gelenkt werden. Aron Elias Seligmann war daran gelegen, das Bankhaus Α. E. von Eichthal in München in seinem Stand zu erhalten. Soweit man sehen kann, beabsichtigte er keine Ausweitung der Geschäfts auf andere Branchen. Der Sohn und Erbe Simon dagegen ging schnell daran, sich an der in Bayern einsetzenden Industrialisierung zu beteiligen. Zu erwähnen ist seine Teilhaberschaft an einer Lederfabrik und einer Mühle in Obergiesing, der Kohlebergbau in Penzberg, die geplante Baumwollspinnerei in der Au, die Tafelglasfabrik Nantesbuch 13 , sowie seine Aktivitäten beim Bau der Eisenbahnlinie AugsburgMünchen. Er ließ sich in diesem Z u s a m m e n h a n g das von dem Franzosen Hailette erfundene »Systeme de tube propulseur ä fermeture hermetique« für 15 Jahre in Bayern patentieren 14 . In seinem Bankhaus betrieb Simon von Eichthal auch das Versicherungsgeschäft für Mobiliar-Feuerversicherungen. Er war als Generalagent der französischen Gesellschaft »Compagnie Royal« tätig. Diese Kenntnisse sollten sich später bei der G r ü n d u n g der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank als nützlich erweisen, deren dritter Geschäftszweig nach dem Hypothekenbankund dem kaufmännischen das Versicherungsgeschäft war 15 . Die auswärtigen Versicherungsgesellschaften wurden 1836 in Bayern aufgehoben. Eichthals

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Unteragenten wurden, wie mindestens in einem Falle nachzuweisen ist, von der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank übernommen 1 6 . Im öffentlichen Leben bekleidete Simon von Eichthal mehrere Ämter. Er w u r d e zu einem der Landräte des Isarkreises ernannt 17 , war Vorstand des Verwaltungsausschusses des Münchner Handlungs-Gremiums 1 8 und Gründungsmitglied der Münchener Handelskammer 1 9 . Von seiner fachlichen Kompetenz legen die Protokolle des Bankausschusses der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank Zeugnis ab, der Vorläufer der Generalversammlung war 20 . Die Konzeption dieser Bank ist im wesentlichen sein Werk; Beratungen mit Rothschild aus Frankfurt und anderen sind nachweisbar. Eichthal war von 1835 bis 1844 und von 1850 bis zu seinem Tod 1854 Erster Direktor und bestimmte wesentlich die Geschäftspolitik. Er war zugleich der größte Aktionär und als solcher am Gedeihen der neuerrichteten Bank interessiert 21 . Eichthal war auch ein gesuchter, gut unterrichteter Gesprächspartner für Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wie aus den Gesandtschaftsberichten hervorgeht. Das Münzwesen Griechenlands richtete er nach französischem Vorbild ein22. Für seine Verdienste u m Griechenland w u r d e er zum griechischen Staatsrat ernannt. Wie sein Vater, der sich 1814 taufen ließ, konvertierte auch Simon von Eichthal. D a m i t war allerdings noch nicht die A u f n a h m e dieser wohlhabenden Münchner Familie in die höchste Gesellschaftsschicht verbunden. Wer im Hause Eichthal verkehrte, darüber läßt sich ein Eindruck gewinnen aus den Tagebuchaufzeichnungen des Sulpiz Boisseree, der von 1827 bis 1845 mit mehreren Unterbrechungen in München lebte und mit den Eichthals befreundet war 23 . M a n traf bei ihnen hauptsächlich Gelehrte und Künstler sowie Angehörige der Ministerialbürokratie; zu den bekanntesten N a m e n zählen Klenze, Gärtner, Peter Heß, Langer, Görres, von der Tann, Kobell, Himbsel, v. Schlichtegroll, Stieler, Ringseis, Schelling, Thiersch, Schwanthaler. Außer dieser Münchner Gesellschaft konnte man bei den Eichthals Reisende aus aller Welt treffen. So vermerkt Boisseree den Mediziner Carlyle aus Edinburgh, den Staatsrat Rehmann, C h e f des Medizinalwesens in Rußland, den ao. badischen Gesandten General Stockhorn, einen Rothschild aus Wien, den Bankier Smith aus London, Alexander Mendelssohn aus Berlin, Fürst Gagarin und zwei indische Rajas, O h e i m und Neffe aus Calcutta 24 . Diese beliebige Auswahl belegt die weitgespannten Beziehungen der Familie Eichthal. Der Lebenszuschnitt im Hause Simon von Eichthals war mehr als großbürgerlich. Die Kinder erhielten eine Erziehung, wie sie beim Adel üblich war. Sie wurden mit Hofmeistern auf Bildungsreisen durch Europa geschickt. Den Reiseplan stellte Boisseree auf25. Im S o m m e r war ein Kuraufenthalt der Familie in Bad Kissingen üblich. Ausflüge, Theaterbesuche, Besuche in Kunstgalerien, bei Künstlern waren an der Tagesordnung. Häufige Reisen und Begegnungen dienten den Geschäften und Kontakten. So ist z.B. zu vermuten, daß Boisseree, der zu den höchstbeteiligten Aktionären der Bayerischen

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Hypotheken- und Wechsel-Bank zählte, zu diesem Engagement von Simon von Eichthal geraten worden war. In den Boisseree-Tagebüchern ist vermerkt, daß Eichthal 1843 nach Bayreuth reiste, u m ein Landgut zu kaufen 26 . Es handelt sich entweder u m die H o f m a r k Sophienreuth oder Schoenwald in der Oberpfalz. Simon von Eichthal besaß seit dem Tod seines Bruders Bernhard 1830 auch das Gut Ebersberg sowie aus Ankäufen die H o f m a r k e n Baumkirchen und Berg am Laim 27 . Dieser Ankauf von liegenden Gütern hatte nicht nur den Zweck, Geld sicher anzulegen, vielmehr bedeutete er für Simon von Eichthal den Versuch, eine weitere Stufe des sozialen Aufstiegs zu erreichen. Wie aus einem Brief des Ministers Abel an König Ludwig I. hervorgeht 28 , hatte u m 1835 der damalige Minister des Inneren, Fürst Öttingen-Wallerstein, Simon von Eichthal aufgefordert, ein Fideicommiß zu bilden, »wie solches zur Erlangung der erblichen Reichsratwürde erforderlich sei«. Ü b e r Abel wollte Eichthal, der entschlossen war, eine Million Gulden für den Ankauf liegender Güter zu verwenden, nun erfahren, ob der König »ihm befragliche W ü r d e allergnädigst verleihen würde«. Die A n t w o r t Ludwigs I. ist nicht überliefert. Eichthal stieg jedenfalls nicht zur W ü r d e des erblichen Reichsrates auf. Seine Kinder hatten inzwischen den gesellschaftlichen Aufstieg weiter vorangetrieben durch Einheirat in den Adel. Carl (1813-1880) war verheiratet mit Gräfin Isabella Khuen-Belasi, Julius (1822-1860) war in erster Ehe mit Marie Gräfin Armannsperg, in zweiter mit Caroline von Seckendorf verheiratet. Bernhard (1823-1893) ehelichte Clothilde Gräfin Bossi-Fedrigotti. Sophie (1815-1898) war verheiratet mit Kaspar Graf Berchem. Nach dem Tod Simon von Eichthals w u r d e dessen Sohn Carl von Eichthal (1813-1880) alleiniger Besitzer des Bankhauses Α. E. v. Eichthal. Der am 9. Februar 1813 in M ü n c h e n geborene Carl von Eichthal w u r d e im väterlichen Bankhaus ausgebildet, w o er weiterhin bis zu dessen Ü b e r n a h m e gearbeitet hatte. 1842 erhielt er eine Großhandelskonzession und das Recht der Ansässigmachung in München. Er war Hofbankier und w u r d e mit dem Titel eines Kgl. Bayerischen Kämmerers ausgezeichnet. 1858 gab er mit der Begründung, sich mehr seinem Grundbesitz w i d m e n zu wollen 29 , sein Bankgeschäft auf, das sein Prokurist Robert von Fröhlich übernahm. 1868 gehörte Carl von Eichthal zu den Gründern der Bayerischen Vereinsbank, in die auch v. Fröhlich sein Bankgeschäft überleitete. Damit war das ehemalige Privatbankhaus Α. E. v. Eichthal erloschen. Eichthal gehörte z u m Verwaltungsrat der Bayerischen Vereinsbank, aus dem er 1871 aus gesundheitlichen Gründen ausschied. Von Februar 1868 bis März 1871 war er Mitglied des Zollparlaments des Norddeutschen Bundes. A m 3. Juli 1880 ist Carl von Eichthal in Miesbach gestorben.

Anmerkungen 1 Schnee, Heinrich: Die Familie SeligmannEichthal als Hoffinanziers an süddeutschen

Fürstenhöfen, in: Zs. f. bayer. Landcsgeschichte 25 (1962), S. 163-201; ders.: Die

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Hoffinanz und der moderne Staat, 4 Bde., Berlin und München 1953-63; Übersicht über die Daten der einzelnen Familienmitglieder s. Handbuch des in Bayern immatr. Adels, Bd. IV, Neustadt/Aisch 1953, S. 115125. Gesandtschaftsberichte aus München 18141848, Abt. III.: Die Berichte der preuß. Gesandten, Bd. 1, hg. A. Chroust, in: Schriftenreihe zur bayer. Landesgeschichte 39, München 1949, S. 96. Die Gesandtschaftsberichte (französ., österr., preuß.) enthalten eine Reihe von Äußerungen über die Eichthals. Vgl. dazu Messerer, Richard: Briefwechsel zwischen L u d w i g I. von Bayern und Georg von Dillis, 1807-1841, in: Schriftenreihe zur bayer. Landesgeschichte 65, München 1966, Nr. 93, 118, 210, 213, 214, 236, 341, 413, 415, 416, 531. Abgedruckt bei Schnee, Die Familie Seligmann-Eichthal, S. 200 f. Bayerisches Hauptstaatsarchiv ( B a y H S t A ) , M H 5411: »Die Qualifikation des H o f b a n quier Seeligman zu Erwerbung von Häusern und sonstigen liegenden Gründen betr.«. Vgl. Bernhard von Eichthal (in diesem Band). B a y H S t A , M H 5411: »Eingliederung des Juden Seligmann in die Augsburger Kaufmannschaft«. Auch der J u d e Jakob Obermayer beklagte sich bitter über die Behandlung durch die Mitglieder der Augsburger Kaufleutestube, vgl. B a y H S t A , M H 5411. Brief Arnold Seligmanns an Exz. v. M o n t gelas, 22.3.1808, B a y H S t A , M H 5411. B a y H S t A , Adelsmatrikel Freiherren Ε 6 Beiakt. B a y H S t A , G H A Min. d. kgl. Hauses Nr. 139. Düring-Ulmenstein, U . v.: Simon von Eichthal - Mitbegründer der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank, in: Unternehmer — Arbeitnehmer, hg. v. Rainer A. Müller, München 1985, S. 116-122. Vgl. v. Düring-Ulmenstein, S. 116, 118, A n m . 5 und 6. B a y H S t A , MInn 14361: »Das Prinzip der Anwendung des Drucks der atmosphärischen Luft zur Fortschaffung von Lasten namentlich auf Eisenbahnen«. Vgl. Jungmann-Stadler, Franziska: Quellen-

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edition zur Gcschichte der Bayerischen H y potheken- und Wechsel-Bank, in: Beiträge zur Bankgeschichte, Sonderbeil. d. Zeitschrift f. d. ges. Kreditwesen 22 (1985), Beil. zu H. 13, S. 1. Beispiel des Agenten F. X . Poschacher in Tittmoning, der nach der Gründung der Mobiliar-Feuerversicherung von der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank übernommen wurde, Briefwechsel im Hist. Archiv der H y p o - B a n k . K g l . baier. Intelligenzblatt für den Isarkreis v. 7.12.1831, Sp. 1074. Vgl. Verzeichnis im Adreßbuch der kgl. Haupt- und Residenzstadt München, M ü n chen 1835, Nachdruck 1985, S. 114. A m 7.4.1843 gegründet. Die Protokolle liegen im Historischen Archiv der H y p o - B a n k . Zu seinem Wirken als Direktor der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank vgl. die Quellenedition: Jungmann-Stadler, Franziska (Hg.): Die Anfänge der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank. Aus den Protokollen der Administration 1835 bis 1850, München 1985, die sämtliche die Entstehung und Entwicklung der Bank betreffenden Beschlüsse in vollem Wortlaut enthält und so sein Wirken dokumentiert. Gesandtschaftsberichte, Abt. III, Bd. 2, S. 469. Boisseree, Sulpiz: Tagebücher, hg. v. H.-J. Weitz, Bd. 2: 1823-1834, Darmstadt 1981; B d . 3: 1835-1843, Darmstadt 1983; Bd. 4: 1844-1854, Darmstadt 1985. Boisseree, Bd. 2, S. 225, 441, 468, 612, 877; Bd. 3, S. 6, 48, 861 Boisseree, Bd. 2, S. 416 f. Boisseree, B d . 3, S. 1012: Besuche bei Eichthal, der zurückgekehrt ist von seiner Reise nach Bayreuth, wo er ein Gut gekauft an der böhmischen Grenze. Elend der Leute; k ü m merlicher Zustand eines Land-Richters. Aufzählung in: B a y H S t A , Adelsmatrikel Freiherren Ε 6. B a y H S t A , G H A Kabinettsakten Ludwigs I. Nr. 444 v o m 8.7.1842. Bekannt ist seine Rolle bei der Erschließung des Gärtnerplatzviertels in München, ferner besaß er das Schloß Hohenburg bei Tölz, Schloß E g g bei Deggendorf, Offenberg und Loham, eine Mühle in Fleck, das Bergwerk in Penzberg, die Herrschaft Cerekiew in Galizien, soweit heute übersehen werden kann.

Manfred Treml

Elkan Henle (1761-1833), ein Vorkämpfer für die Judenemanzipation

Jüdische Stimmen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die Gleichberechtigung und Emanzipation eintraten, waren in Bayern selten. Einer der ersten Wortführer war der Fürther Wechselhändler 1 Elkan Henle 2 . Aus der Stadt Fürth, in der die florierende jüdische Gemeinde seit langem unter besonders günstigen Bedingungen lebte 3 , kamen schon früh Anstöße zur Emanzipationsdiskussion. Hier hatte sich bereits ein selbständiges und selbstbewußtes jüdisches Bürgertum entwickelt, das über Besitz und Bildung verfugte und daher an dem durch die Französische Revolution initiierten bürgerlichen Aufstiegsprozeß beteiligt zu werden verlangte. Elkan Henle entstammte einer Familie, die Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem schwäbischen D o r f Butten wiesen zugewandert war. Sein Vater Jakob und sein Onkel Wolf hatten sich durch Juwelenhandel Ansehen und Vermögen erworben und waren bald zu den einflußreichsten Mitgliedern der Fürther Gemeinde aufgestiegen. Ü b e r die Kindheit und Jugend Elkan Henles ist wenig bekannt; doch dürfte er wohl eine traditionell jüdische Schulbildung erhalten und im Geschäft des Vaters gelernt haben. Mit kaum zwanzig Jahren heiratete er Sprinzle Berlin, die Tochter des späteren Kassler Landesrabbiners. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor, deren Lebenswege deutliche Beispiele für den sozialen Aufstieg und die fortschreitende Assimilation des bayerischen J u d e n tums sind. Gleiches gilt auch für die aus zweiter Ehe mit O l k Frankel, einer Verwandten des berühmten Landesrabbiners David Fränkel, hervorgegangenen Kinder 4 . Nachdem Elkan Henle von seinem 1802 verstorbenen Vater ein reiches Erbe ü b e r n o m m e n hatte, widmete er sich verstärkt dem Anliegen der Emanzipation. 1803 erschien anonym und unter Angabe des falschen Druckorts Offenbach am Main seine Schrift »Über die Verbesserung des Judenthums«, die 1808 in der von David Fränkel herausgegebenen Zeitschrift »Sulamith« erneut abgedruckt wurde, ein Beweis für die fortdauernde Aktualität dieser Publikation. Das Vorbild der berühmten Schrift des preußischen Kriegsrates Christian Wilhelm von D o h m »Über die bürgerliche Verbesserung des Judenthums« war bereits im Titel erkennbar. Die Schrift war außerdem erfüllt v o m Geist der jüdischen Aufklärung; die Gedanken Mendelssohns und seines Berliner Kreises standen ohne Zweifel Pate. Angestoßen durch die Reformen Josephs II. von Österreich und vor allem durch die Französische Revolution forderten nun

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auch die aufgeklärten Juden dem Zeitgeist gemäß Toleranz, Herrschaft der Vernunft und Gewährung von Menschenrcchten 5 . Gerade die fränkische Judenschaft, die in dem Würzburger Theologieprofessor Franz Oberthür einen engagierten Fürsprecher hatte, war seit Jahren in dieser Richtung tätig. Die öffentliche Meinung zu beeinflussen und für das Anliegen der Juden zu gewinnen und zugleich das Ohr der Obrigkeit zu erreichen, war sicher auch die Absicht der Schrift von Henle, die in Argumentation und Sprachbeherrschung keinerlei Schwächen zeigte. Henle stellt zunächst fünf grundsätzliche Fragen6, die er dann ausfuhrlich bearbeitet: 1. ob die Verbesserung der Juden Aufgabe des Staates sei, 2. ob dies für den Staat Nutzen bringe, 3. welche Mittel dafür am zweckmäßigsten seien, 4. ob auch Zwangsmittel zu rechtfertigen seien und 5. - in einer Art Scheinfrage — ob nicht das Bürgerrecht nur dem aufgeklärten Teil der jüdischen Nation zuzugestehen sei. Im weiteren beschäftigt er sich mit der landläufigen Behauptung von der Schädlichkeit der Juden 7 , die bis in die offizielle Regierungspolitik hinein wirksam war. Er zählt alle gängigen Vorwürfe auf, die gegen Juden erhoben wurden: Wucher und Betrug, Verschwendungssucht, Verweigerung jeder bürgerlichen Pflicht, Stolz und Hochmut, Trägheit, Arbeitsscheu und Starrsinn, nennt dann auch einige positive Eigenschaften, um abschließend zu folgern, daß die Ursache für beides in Erziehung und Lebensart der Juden liege: »... unter besserer Ausbildung und freyerer Lebensart, würden die Fehler meistens, der guten Eigenschaften aber nur wenige wegfallen« 8 . Dieser Kernsatz seiner Schrift ist bezeichnend fur den Bildungsoptimismus der jüdischen Aufklärer, die in der Anpassung an die Umwelt und der Umerziehung ihrer Glaubensgenossen das entscheidende Instrument zur Emanzipation sahen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den erhobenen Vorwürfen schließt sich an, wobei Henle wohl auch aus eigener beruflicher Erfahrung die neuralgischen Punkte kennt und klar benennt: den Konkurrenzneid der christlichen Handelsleute, den Zwang zur Freigiebigkeit, die Verweigerung des Bürgerrechts, die gesellschaftliche Diffamierung und politische Unterdrükkung und nicht zuletzt die Abhängigkeit von den Rabbinern. Entscheidendes Manko ist für ihn die fortdauernde Verweigerung der Menschenrechte: »Wäre der Jude als Mensch geachtet, man würde längst seine Besserung beabsichtiget und erreicht haben, und warlich dies verdienen diejuden als Juden weit eher, als wenn sie alle an Einem Tage zum Christenthum übergingen«'. Das Recht, auch als Jude geachtet und gleichberechtigt zu sein, klagt Henle damit ein. Nicht der Zwang zur Änderung, den auch die nichtjüdischen Aufklärer in den Vordergrund stellten, oder gar zur Konversion löst für ihn die Probleme, sondern nur die konsequente Befolgung der eigenen aufklärererischen Prinzipien. Die Antworten auf die fünf Eingangsfragen werden anschließend klar formuliert: Der Staat muß im eigenen Interesse diese Erziehungsaufgabe übernehmen; Hauptmittel zur Besserung ist die Naturalisation der Juden, also die Verleihung des vollen Bürgerrechtes und die Bezeichnung »jüdische Bürger«; dazu ist kein Zwang nötig, da der aufgeklärte Teil des Judentums sich 60

ohnehin zu dieser Verbesserung bekennt; dem nicht aufgeschlossenen Teil der Juden kann man allerdings kein Bürgerrecht gewähren, sondern muß ihn mit Güte und Zwang anleiten. Henle fügt einige interessante konkrete Vorschläge an, die auch Licht auf die Lebensbedingungen vor allem des Landjudentums werfen. Er fordert nicht nur die Befreiung von diffamierenden Abgaben, vor allem dem immer noch geltenden Leibzoll, und die Gleichberechtigung beim Handel, sondern wünscht auch die Möglichkeit für jüdische Kinder, jedes Handwerk lernen und treiben zu dürfen. Maßnahmen regt er außerdem an gegen die frühen Heiraten, die er für verderblich hält, gegen die hohen Gemeinschaftsabgaben, gegen schädliche religiöse Mißbräuche, übertriebene Unterstützung von Betteljuden, die Banngewalt der Rabbiner und die Strafgewalt der Gemeindevorsteher. Henles Zielrichtung gegen das orthodoxe Judentum, nicht zuletzt gegen das traditionalistische Landjudentum in den fränkischen Dörfern, gegen Rabbinervormacht und konservative Glaubenspraxis ist eindeutig. Diese für das jüdische Selbstverständnis nicht unproblematische Einstellung läßt ihn auch für zweierlei Recht plädieren, ein Vorschlag, der noch 1937 von jüdischer Seite kritisiert wurde: »Die Forderung Mendelssohns, beider Lasten, die des Bürgers und die des Juden, in Ergebenheit und Geduld zu tragen, war bei Henle endgültig zugunsten des Bürgers entschieden« 10 . Freilich sah Henle gerade diesen Gegensatz nicht als gegeben an, sondern war voll überzeugt von der Möglichkeit, Bürger und Jude zugleich sein zu können. Wenige Jahre später schaltete er sich erneut in die öffentliche Diskussion ein. Fürth war inzwischen bayerisch geworden, und die Judenschaft wartete mit Skepsis auf die neuen gesetzlichen Regelungen, die seit Jahren vorbereitet wurden. Im Jahre 1811 ließ Henle seine Schrift »Über die Verfassung der Juden im Königreiche Baiern und die Verbesserung derselben zum Nutzen des Staats« 11 erscheinen. In einer Widmung und einer kurzen Vorrede wendet er sich zunächst an den allmächtigen Minister Montgelas und spart auch nicht mit Lobworten auf den bayerischen Staat und seinen König Max I. Joseph. Deutlicher als in der früheren Schrift fordert er nun, die »Beglückung meiner bedrängten Mitbrüder zum Nutzen des Staates zu fördern« 12 . Neben den bekannten Vorwürfen und ihrer, diesmal sogar noch betonteren Widerlegung tauchen auch neue, besonders gewichtige Aspekte auf. So nennt Henle unter Berufung auf »ächtfromme Theologen« 1 3 als Wesenskern der jüdischen Religion: »1. Die Verehrung eines Einzigen, Ewigen, Allgültig und Allmächtigen Schöpfers. 2. Die Selbsterhaltung. 3. Die Liebe des Nächsten im höchsten Grade. 4. Unbegränzte Treue für's Vaterland; und 5. Die höchste Ehrfurcht gegen den Regenten« 14 . Staatsbürgertum und Judentum, das versucht Henle damit zu belegen, schließen sich keineswegs aus, sondern sind auf der gegebenen religiösen Basis ohne weiteres zu vereinbaren. Auch die Zeremonialgesetze der frommen Juden stehen nach seiner Ansicht damit nicht im Widerspruch, wenn diese durch deren Ausübung nicht von ihren Bürgerpflichten abgehalten werden. 61

Eine Reihe von konkreten Verbesserungsvorschlägen enthält auch diese Schrift, wobei die Forderung nach vollen Bürgerrechten im Zentrum steht. Auch die ineffektive Organisation der Gemeinden und die Zersplitterung der Juden in organisatorischer und religiöser Hinsicht beklagt Henle. Abhilfe verspricht er sich von einem Konsistorium als zentrale Verwaltungsbehörde. Durch Anträge und Anfragen bemühte er sich auch in der Folgezeit, Einfluß auf die gesetzgeberischen Pläne zu nehmen. Dem Modell des Synhedrions folgend, in dem Napoleon die Honoratioren des französischen Judentums versammelt hatte, wünschte er in Bayern eine jüdische Beratergruppe. Auch den Kontakt mit führenden Vertretern anderer jüdischer Gemeinden, so etwa mit dem sehr regen Münchener Gemeindevorsteher Abraham Uhlfelder, mit dem er auch verwandt war, nützte er gezielt. Doch seine Bemühungen führten nicht zum Erfolg. Das Judenedikt vom 10. Juni 181315 gewährte zwar das Bürgerrecht, schränkte aber durch andere Bestimmungen dieses Recht in der Praxis wieder erheblich ein. Elkan Henle widmete sich deshalb auch in den folgenden beiden Jahrzehnten dem Kampf um eine Revision des Edikts. Im Jahr 1827 äußerte er sich erneut publizistisch. Sein Werk »Die Stimme der Wahrheit in Beziehung auf den Kultus der Israeliten und die diesfalls eingeleitete Umgestaltung mittels Religionslehre, Consistorium und hohe Talmudschule« vertrat nun noch glühender die Sache des jüdischen Volkes und widersprach vehement den traditionellen Vorurteilen. Henle sollte allerdings die Gleichstellung der Juden, für die er ein Leben lang gekämpft hatte, nicht mehr erleben. Er starb am 14. Oktober 1833 als angesehener Fürther Bürger. Erst mehr als dreißig Jahre später, zwischen 1861 und 1870, wurde die rechtliche und politische Gleichberechtigung der Juden auch in Bayern Wirklichkeit. Elkan Henle aber gebührt als Wegbereiter und Vorkämpfer ein Erinnerungsplatz in der bayerischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Anmerkungen 1 Addreß-Buch der Königlich Baierischen Stadt Fürth/oder Vollständige Übersicht über die Häußerzahl etc. Verfaßt von J.G. E[ger], Fürth 1807 bey Friedrich Korn, S. 49, Nr. 249. 2 Babinger, Franz: Elkan Henle, 1761-1833, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (62) 1918, S. 223230; Große Jüdische National-Biographie, hg. V. S. Wininger, Bd. 3, 1928, S. 51 f. 3 Renda, Gerhard: Fürth, das »bayerische Jerusalem«, in: Treml, Manfred /Kirmeier, Josef (Hgg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze, München 1988. 4 Babinger, S. 225 f. 5 Treml, Manfred: Von der »Judenmission«

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zur »Bürgerlichen Verbesserung«, in: Treml/Kirmcier. Uber die Verbesserung des Judenthums, Offenbach 1803, S. 5 f. Über die Verbesserung, S. 6-8. Ebd., S. 8. Ebd., S. 14 Stein, Siegfried: Die Zeitschrift 'Sulamith'; in: Zeitschrift für Geschichte der Juden in Deutschland 7 (1937), S. 221. München, gedruckt mit Hübschmann'schen Schriften. Ebd., S. 14. Ebd., S. 25. Ebd., S. 25 f. Treml.

Erika Bosl

Die Familie von Hirsch-Gereuth im 18. und 19. Jahrhundert, Bankiers

In der Geschichte des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts spielen jüdische Hofbankiers (Hofentrepreneurs) dadurch eine große Rolle, daß sie die politischen und militärischen Unternehmungen der absolutistischen Fürstentümer (Habsburger, Hohenzollern, Hannoveraner, Wittelsbacher, Badener) mit namhaften Summen finanzierten. Auch Bayern bot vor allem im 19. Jahrhundert dem Unternehmungsgeist und Finanzkapital der jüdischen Hofbankiers ein reiches Betätigungsfeld. Dafür sind die Familien Hirsch und SeligmannEichthal ein idealtypisches Beispiel. Die bayerische Staatswirtschaft befand sich während der napoleonischen Kriege und in deren Folge in desolatem Zustand. Enorme Ausgaben für Rüstung und Kriegsführung, für den Unterhalt der französischen Heere und für die wiederholte Umgestaltung der bayerischen Staatsverwaltung hatten die Staatsschulden in den Jahren 1800 bis 1811 von 28 Millionen Gulden auf über 118 Millionen ansteigen lassen. Die Finanznot des Staates machte vor allem die Hofbankiers Aron Elias Seligmann und Jakob von Hirsch zu einflußreichen Männern. Als Großgläubiger konnten sie sich durch Beratung der Regierung und den Vertrieb von Staatsanleihen persönliche Verdienste um das Ansehen des Staates erwerben. Neben Jakob von Hirsch waren auch seine beiden Söhne Hofbankiers: Julius in Würzburg und Joseph, wie sein Vater, in München. Auch die beiden Enkel Jakobs, Moritz und Emil, erwarben ihr Vermögen zunächst als Bankiers 1 . Jakob von Hirsch-Gereuth (1765-1840), der erste adelige Vertreter der Familie, entstammte dem angesehenen und wohlhabenden Landjudentum des Hochstiftes Würzburg. Er wurde am 22. September 1765 in Königshofen (Gaukönigshofen) bei Ochsenfurt als Sohn des Händlers und Gütermaklers Moses Hirsch geboren 2 . Jakob erhielt eine talmudische Erziehung, wie sie damals in jüdischen Familien Tradition war. 1800 gründete er in Ansbach eine Bank. A m 13. Juli 1803 wurde sein Name 3 beim dritten Versteigerungstermin für den Ebracher H o f in Würzburg genannt 4 . Mit 15620 Gulden blieben »Jud Hirsch und Söhne von Gaukönigshofen« Meistbietende. Da die Käufer Juden waren, konnte die Ratifizierung des Kaufes durch den bayerischen Kurfürsten nach erheblichen Schwierigkeiten 5 erst am 10. Oktober 1803 stattfinden 6 . In der Folgezeit erwarb die Familie Hirsch weiteren Grundbesitz sowohl in

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Würzburg (Oberzeller Hof, Schrotzbergscher Domherrnhof) 7 als auch im übrigen Franken8. Damit war der Grundstock für den weiteren wirtschaftlichen Aufstieg der Familie gelegt. Am 30. Januar 1806 erhielt Jakob Hirsch das Recht der Freizügigkeit innerhalb des gesamten Königreiches. Von 1806 bis 1815 war er als großherzoglich-würzburgischer Hofbankier tätig. In dieser Eigenschaft hatte er im Jahr 1805 dem Staat 100000 Gulden geliehen. 1806 belief sich die S u m m e auf 500000 Gulden. Folgende finanzielle Transaktion bekam für ihn u. a. besondere Bedeutung: 1812 erhielt er von der freiherrlichen Familie von Greiffenclau den Auftrag, »ihre sämtlichen Schulden zu arrangieren«. Ferner kaufte er auch deren Rittergut Gereuth bei Ebern in Unterfranken mit Kaufvertrag vom 15. September 1815 für 220000 Gulden. Mit dem Kauf des Gutes war die formale Voraussetzung geschaffen, um von König Max I.Joseph von Bayern 1818 in den Adelsstand erhoben zu werden 9 . Jakob von Hirsch war somit der erste jüdische Großgrundbesitzer Deutschlands, der die Patrimonialgerichtsbarkeit besaß. Bereits 1817 war zwischen von Hirsch und der bayerischen Staatsschulden-Tilgungskommission ein Anleihenvertrag zustande gekommen. 1821 siedelte Jakob von Hirsch nach München über, wo er sich in den vergangenen Jahren schon mehrmals für längere Zeit aufgehalten hatte, um seine Finanzgeschäfte mit dem bayerischen Staat zu tätigen. Hier wurde er 1824 zum Hofbankier ernannt. Er eröffnete im Haus Promenadeplatz 16, das er für 50000 Gulden von Franziska Freifrau von Lerchenfeld erworben hatte, sein Unternehmen. 1825 kaufte er für 110 000 Gulden die Hofmark Planegg von Graf Karl von Thürheim. Das Schloß befindet sich noch heute im Besitz der Familie von Hirsch 10 . In Planegg errichtete von Hirsch Ende 1836 eine Brauerei, die 1928 an die Pschorrbrauerei überging. Jakob von Hirsch starb am 24. Dezember 1840 in München. In seinem Testament vom 18. Dezember 1840 errichtete er mehrere Stiftungen, die seinen Namen tragen". Mit derselben Beharrlichkeit, mit der er für seine eigenen Rechte gekämpft hatte, setzte er sich für die Durchführung der Emanzipation der bayerischen Juden ein12. Durch den Wegzug Jakob von Hirschs aus Würzburg war es zu einer Teilung der Familie in eine Würzburger und in eine Münchner Linie gekommen. In Würzburg übernahm die Geschäfte sein älterer Sohn.

Julius (urspr. Joel Jakob) von Hirsch (1789-1876) Er wurde am 5. September 1789 in Königshofen geboren 13 . Seit 1809 in Würzburg ansässig, ging er hier seine erste Ehe mit Friederika Jeidl ein. 1811 gründete Julius ein Bankhaus in Würzburg und gewährte vornehmlich dem Adel Darlehen. Daneben beteiligte er sich am Eisenbahnbau und organisierte den fränkischen Holzhandel neu, dessen Gründung und Ausbau sein Werk gewesen waren. Seine Dienste als Bankier und Treuhänder wurden sowohl von König Max I.Joseph als auch von König Ludwig I. in Anspruch genommen. Daneben regelte Julius von Hirsch die Vermögensverhältnisse der Fürstin von 64

Waldeck in Prag und die Finanzen des Freiherrn von Bibra und des Fürsten von Wallerstein. Wichtig ist auch seine tatkräftige Mitwirkung bei der Gründung der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank in München 1835. Er selbst zeichnete 1 Million Gulden und konnte auch das Frankfurter Bankhaus Rothschild gewinnen, 1,5 Millionen Gulden in Aktien zu investieren. Julius von Hirsch setzte sich vehement für eine Verbesserung der Rechtsstellung der Juden in Bayern ein. So konnte er mit Unterstützung des Grafen von Giech den Landtagsabschied vom 10. November 1861 durchsetzen, der die harten Vorschriften des Judenediktes von 1813 beseitigte. Obwohl er keine Ämter in der jüdischen Gemeinde Würzburg bekleidete, trat Julius von Hirsch, in dessen Haus sich eine Privatsynagoge befand, für seine Glaubensgenossen ein. Julius von Hirsch starb am 6. September 1876 in Würzburg; er wurde auf dem jüdischen Friedhof zu Heidingsfeld bestattet. Seine Persönlichkeit erfuhr eine Würdigung in einem Nachruf der »Neuen Würzburger Zeitung« vom 15. September 1876.14 Die Münchner Linie der Familie von Hirsch wurde von seinem jüngeren Bruder Joseph weitergeführt, dem er bereits mit Vertrag vom 10. November 1858 das Stammschloß Gereuth übergeben hatte; Joseph von Hirsch verkaufte es bereits am 6. Januar 1859.

Joseph von Hirsch (1805-1885) Der am 2. Juli 1805 in Würzburg geborene Joseph von Hirsch 15 erhielt 1828 von der Münchner Polizeidirektion die Erlaubnis zur Ansässigmachung und Heirat mit Caroline (1808-1888), der Tochter des Bankiers Wolf Zacharias Wertheimber aus Frankfurt a. Main. 1830 stellte er den Antrag für eine sogenannte Großhändlerkonzession beim Magistrat der Stadt München. Die Erteilung stieß jedoch auf unerwartete Schwierigkeiten, da Joseph von Hirsch, ohne von dieser Vorschrift befreit worden zu sein, nicht in der Judenmatrikel eingetragen war16. In den folgenden Jahren mußte er immer wieder, teils auch langwierige, Rechtsstreitigkeiten durchfechten - u. a. um den Erwerb von Liegenschaften in München, um die Eintragung als Eigentümer von Planegg oder u m die Erteilung einer Konzession für eine Branntwein- und Spiritusfabrik. A m 27. Dezember 1840 wurde Joseph von Hirsch von König Ludwig I. zum Hofbankier ernannt. Diese Ernennung wurde sowohl von König Max II. als auch von Ludwig II. bestätigt. Er fungierte als Vertrauensmann der Wittelsbacher bei deren Grundstückserwerbungen. Durch seine Vermittlung konnte das württembergische Finanzministerium von 1839 bis 1841 verschiedene oberschwäbische Herrschaften erwerben 17 . Aufgrund dieser Verdienste wurde Joseph von Hirsch am 6. Juni 1840 zum württembergischen Konsul ernannt und in der Folgezeit durch die Verleihung mehrerer württembergischer Orden geehrt. In Bayern war es die Erhebung in den Freiherrenstand 1869, durch die seine Verdienste um den bayerischen Staat honoriert wurden 18 . 1856 beteiligten sich die Bankhäuser von Hirsch und Bischoffsheim & Gold65

schmidt an den bayerischen Ostbahnen. Noch 1869 wurde von Hirsch als »Verwaltungsrat und Aktionär der königlich privilegierten bayerischen Ostbahnen« genannt". Joseph von Hirsch starb am 9. Dezember 1885 auf seinem Gut Planegg. Er wurde im Familiengrab auf dem Alten Israelitischen Friedhof in MünchenThalkirchen beigesetzt. Sein jüngerer Sohn Emil von Hirsch-Gereuth (18371917)20, Bankier in München, war zunächst Mitinhaber des väterlichen Bankhauses. 1868 vermählte er sich mit der Bankierstochter Mathilde Ladenburg aus Mannheim. Von 1869 bis 1881 war Emil von Hirsch Mitglied des Aufsichtsrates der Bayerischen Vereinsbank in München. 1886 liquidierte er sein eigenes Bankhaus und offerierte es der Bayerischen Vereinsbank. Der Beschluß des Aufsichtsrates bezüglich der Annahme dieser Offerte erfolgte einstimmig. Über den bayerischen Raum hinausgehendes hohes Ansehen gewann sein Zweitältester Sohn

Moritz von Hirsch (1831-1896). Er wurde am 9. Dezember 1831 in München geboren 21 . Seine erste Ausbildung erhielt Moritz von Hirsch von 1844 bis 1848 in Brüssel, wohin er 1851 zurückkehrte, um in das Bankhaus Bischoffsheim & Goldschmidt einzutreten. 1855 vermählte er sich mit Clara Bischoffsheim. U m 1860 gründete er mit seinem Schwager Ferdinand Bischoffsheim in Brüssel die F. Bischoffsheim-de Hirsch Bank. Dieses Bankhaus fusionierte 1872 mit der Banque de Paris et des Pays Bas. Bereits 1858 gründete Moritz von Hirsch zusammen mit dem belgischen Finanzier Langrand-Dumonceau die Firma Anker in Wien, deren zeitweiliger Direktor er auch war. Daneben war er an weiteren Versicherungsgesellschaften in Österreich, Belgien und Holland beteiligt. Er finanzierte ferner Eisenbahnbauten in Belgien, Holland, Rußland und Ungarn. 1869 erhielt er von der türkischen Regierung, der Hohen Pforte, die Konzession zum Bau der Orientbahnen von Wien nach Konstantinopel. Somit wurde er der Nachfolger Langrand-Dumonceaus, der als Konzessionär der türkischen Eisenbahnen ein unrühmliches Ende gefunden hatte. Die sogenannten Conventionen von 1869 beinhalteten zum einen einen Konzessionsvertrag zwischen der Hohen Pforte und Moritz von Hirsch und zum anderen einen Betriebsvertrag zwischen von Hirsch und der österreichischen Südbahngesellschaft 22 . So übergab Baron von Hirsch als Baugesellschaft 23 nach Vollendung der einzelnen Strecken dieselben an Baron von Hirsch als Betriebsgesellschaft 24 . Dies hatte den Anschein, als ob er der Regierung seine Bauarbeiten zweimal verkaufen würde. Zur Finanzierung dieses Unternehmens wurden 3% Obligationsscheine, die sogenannten »Türkenlose«, ausgegeben 25 , die Baron von Hirsch den Namen »Türkenhirsch« einbrachten. 1888 wurde das Bahnnetz fertiggestellt. Es kam zu Finanzstreitigkeiten mit der Hohen Pforte, die ein Schiedsgericht bereinigen sollte26. Moritz von Hirsch verkaufte seine Aktien 1888 an ein Konsortium der Deutschen Bank, des Wiener

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Bankvereins und der Schweizerischen Kreditanstalt. Dieser Verkauf brachte ihm ein geschätztes Vermögen von 160 bis 170 Millionen Francs ein. Der Bahnbau, eine »Großtat der Zivilisation«, machte von Hirsch zu einer der bekanntesten Persönlichkeiten seiner Zeit. Daneben konnte er durch industrielle Unternehmungen, Finanzspekulationen und Erwerb von Grundbesitz in verschiedenen Ländern (u.a. Frankreich, England und Österreich-Ungarn) sein Vermögen weiter vermehren 27 . Nach dem Tod seines einzigen Sohnes Lucien (1856-1887) wandte sich Moritz von Hirsch philanthropischen Aufgaben zu. Insbesondere lag ihm das Schicksal der russischen Juden am Herzen, die unter schlechtesten Bedingungen existierten. Er bot der russischen Regierung die hohe Summe von 50 Millionen Francs an, um die Lebensbedingungen der Juden im Zarenreich zu verbessern. Nachdem die russische Regierung die Annahme der Spende mit Vorstellungen verknüpfte, die Hirsch nicht akzeptieren konnte, kam er zu der Erkenntnis, daß nur die Emigration Abhilfe schaffen könne. Auf Grund von Gutachten, die er über Teile von Amerika, Brasilien, Mexiko, Kanada und Argentinien hatte erstellen lassen, erwies sich Argentinien als am besten geeignet zur Kolonisierung. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde 1891 sein Hauptwerk, die »Jewish Colonization Association« (I.C.A.), mit namhaften Gesellschaftern gegründet28. Die Summe, die Moritz von Hirsch für philanthropische Zwecke bereitstellte bzw. hinterließ, belief sich auf ca. 500 bis 800 Millionen Francs. Damit wurden u.a. finanziert: der 1891 gegründete »Baron Hirsch-Fonds«, Wohltätigkeitsbüros in London, Paris, Wien, Krakau, Lemberg und New York, die 1889 in Wien gegründete »Hirsch-Stiftung« zur Errichtung von Schulen für galizische Juden. Als Pan-Europäer stand Moritz von Hirsch auch in freundschaftlichen Beziehungen zu den Häusern Bourbon und Coburg. 1886 wurde er von Kronprinz Rudolf von Österreich dem Prinzen von Wales, dem •späteren König Eduard VII. von England, vorgestellt. Fortan gehörte er zu dessen engerem Kreis; er teilte dessen Vorliebe für den Pferderennsport; die Gewinne, die Baron von Hirsch hierbei erzielte, kamen den Londoner Spitälern zugute. Mit Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus, traf von Hirsch erstmals 1895 zusammen. Herzl äußerte sich positiv und hoffnungsvoll über diese Begegnung 2 '. Moritz von Hirsch war jedoch nicht bereit, Theodor Herzl beim Aufbau eines jüdischen Staates in Palästina zu helfen. Er zeigte wenig Verständnis für einen politischen Zionismus, da er nicht an eine nationale Wiedergeburt glaubte. Baron Moritz von Hirsch starb am 20. April 1896 auf seinem ungarischen Gut O-Gyala im Komitat Komorn. Am 26. April wurde er im Familiengrab in Paris beigesetzt. Sein Testament schließt mit den Worten: »Ehrlich und furchtlos: Damit erweist man sich selbst den größten Dienst und erwirbt sich die Hochachtung der Menschen«. Seine Frau war, wie schon erwähnt,

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Clara von Hirsch-Gereuth, geb. Bischoffsheim (1833-1899) Clara B i s c h o f f s h e i m w u r d e a m 13. J u n i 1883 in Antwerpen als zweite Tochter des Bankiers und späteren belgischen Senators Jonathan Raphael B i s c h o f f s h e i m und seiner Frau Henriette, geb. Goldschmidt geboren 3 0 . Ihr Onkel S a l o m o n Η . Goldschmidt war Präsident der »Alliance Israelite Universelle« 3 1 . Ihre Eltern ließen Clara eine liberale Erziehung angedeihen. Sie beherrschte neben der französischen und deutschen auch die englische und italienische Sprache. N a c h Abschluß ihrer Studien w u r d e Clara Privatsekretärin ihres Vaters. 1855 fand ihre Vermählung mit M o r i t z von Hirsch statt. Von da an lebte sie abwechselnd in München, Brüssel und zuletzt in Paris, w o sie a m 1. April 1899 starb. U m die Stadt München erwarb sich Clara von Hirsch-Gereuth große Verdienste durch die Errichtung der »Freiherrlich von Hirsch'schen Stiftung« für Wöchnerinnen und Rekonvaleszenten. D u r c h Magistratsbeschluß v o m 8. A u g u s t 1899 w u r d e ihr die Ehre einer Straßenbenennung in München zuteil 32 . In N e w York erinnert das »Clara de H i r s c h - H e i m « für j ü d i s c h e M ä d c h e n an sie.

Anmerkungen 1 Schnee, Heinrich: Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus, 4 Bde., Berlin, München 1953-1963; Flade, Roland: Die Würzburger Juden. Ihre Geschichte v o m Mittelalter bis zur Gegenwart, Würzburg 1985; Gleibs, Yvonne: Juden im kulturellen und wissenschaftlichen Leben Münchens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München 1981 ( = M B M 76); Brunncr, Frederick H.: Juden als Bankiers - Ihre völkerverbindende Tätigkeit, in: In zwei Welten. Siegfried Moses zum 75. Geburtstag, TelAviv 1962; H ü m m e r t , L u d w i g : Die finanziellen Beziehungen jüdischer Bankiers und Heereslieferanten zum bayerischen Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, M ü n chen 1927; L a m m , Hans (Hg.): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in Münchcn, M ü n chen, Wien 1982. Bosl, Karl: Der Bayerische Oberste Rechnungshof im ersten Jahrhun-

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dert seines Wirkens, in: D e m Staat in die Kasse geschaut 1812-1987. 175 Jahre Bayerischer Oberster Rechnungshof, München 1987, S. 23-38. Neue Deutsche Biographie, hg. v. d. Historischen K o m m i s s i o n bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, B d . 1-15, Berlin 1953-1987 (im folgenden N D B ) , hier Bd. 9, S. 206f. Biographisches Wörterbuch zur Deutschen Geschichte, begr. v. Hellmuth Rössler u. Günther Franz, bearb. v. Karl Bosl, Günther Franz, Hanns Hubert Hofmann, 3 Bde., München 2 1973, Bd. 1, Sp. 1172f. »Jud Jacob Hirsch von Gaukönigshofen«. Siehe gerichtliche Anzeige in: Würzburger Intelligenzblatt Nr. 38 v. 27. Mai 1803. Prys, Joseph: Die Familie von Hirsch auf Gereuth. Erste quellenmäßige Darstellung ihrer Geschichte, München 1931, S. 8-13. Die K a u f s u m m e wurde Mitte 1804 in bar erlegt.

7 Scherg, T h e o d o r J . : Der Verkauf der säkularisierten Domherrnhöfe in Würzburg, in: Archiv des historischen Vereins fur Unterfranken 56 (1914), S. 43ff. 8 U.a. in Rödelsee, Rodheim, die Hofgüter M o o s , Wöllried, Bergtheim, B u r g r u b und das Schloßgut Thundorf. 9 Prys, S. 24f., Abdruck des Adelsbriefes. 10 Prys, S. 45-48; Süddeutsche Z e i t u n g / M ü n chener Stadtanzeiger v. 11.12.1987. 11 Prys, S. 85f. 12 Eckstein, Adolf: Der K a m p f der Juden u m ihre Emanzipation in Bayern, Fürth 1905, S. 45ff. 13 N D B 9, S.207. 14 Prys, S. 29. 15 N D B 9, S. 207. 16 Prys, S. 79-83. 17 U . a . Erolzheim, Großlaupheim, Bettenreute, Niederalfingen. 18 Prys, S. 93, Abdruck der Baronisierungsurkunde. 19 Prys, S. 91. 20 Porträt von H u g o von Habermann (18491929), Abbildung in: Steffan, Franz: Bayerische Vereinsbank 1869-1969. Eine Regionalbank im Wandel eines Jahrhunderts, München 1969, Nr. 33. 21 N D B 9, S. 207f. 22 Dimtschoff, Radoslave M . : Das Eisenbahnwesen auf der Balkan-Halbinsel. Eine poli-

tisch-volkswirtschaftliche Studie, B a m b e r g 1894, S. 24f.; Dehn, Paul: Deutschland und Orient in ihren wirthschaftspolitischen Beziehungen, München, Leipzig 1884; Rechberger, Walther: Zur Geschichte der Orientbahnen. Ein Beitrag zur österreichisch-ungarischen Eisenbahnpolitik auf dem Balkan in den Jahren 1852-1888, Diss, masch. Wien 1958. 23 Societe Imperiale de construction des chemins de fer de la Turquie d'Europe. 24 C o m p a g n i e generale d'exploitation des chemins de fer de la Turquie d'Europe. 25 Dimtschoff, S. 43. 26 Dimtschoff, S. 51. 27 Daneben besaß er u. a. Häuser in Paris und London, den Landsitz Beauregard in Frankreich; in Mähren das Schloß Eichhorn bei Brünn. 28 Adler-Rudel, S.: Moritz Baron Hirsch. Profile o f a Great Philanthropist, in: Year B o o k VIII, Publications o f the Leo Baeck Institute, London, Jerusalem, N e w York, 1963, S. 50. 29 Grunwald, Kurt: Türkenhirsch. A Study o f Baron Maurice de Hirsch. Entrepreneur and Philanthropist, Jerusalem 1966, S. 76. 30 N D B 9, S. 207. 31 Wininger, Salomon: Große Jüdische National-Biographie, B d . 3, Czernowitz 19251936, S. 118. 32 »Hirsch-Gereuth-Straße«.

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A r o n Elias S e l i g m a n n - v o n E i c h t h a l , G e m ä l d e v o n J o s e p h H e i g e l , 1818.

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Jakob von Hirsch, Gemälde.

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Simon von Eichthal, Gemälde a n o n y m , n a c h 1838.

B e r n h a r d v o n E i c h t h a l , B ü s t e v o n Bertel

T h o r v a l d s e n , 1830/31.

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Alain Ruiz

Heymann (Chaim) Salomon Pappenheimer, Edler von Kerstorf (1769-1832), »Großhändler und Banquier«

Heymann (Chaim) Salomon Pappenheimer wurde am 12. April 1769 in Lublinitz (Schlesien) geboren als erster der drei Söhne des Rabbiners Salomon Seligmann Pappenheimer (1740-1814) und dessen Ehefrau Fridoline, geb. Heymann. Sein Vater nimmt als Dichter, Sprachforscher und philosophischer Autor zahlreicher Werke in hebräischer und deutscher Sprache einen bedeutenden Platz in der jüdischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts ein. Während dieser, der als »Dayan« in Breslau starb, sich immer mehr zu strenger Orthodoxie bekannte, distanzierte sich sein Sohn von den traditionellen Lebensformen und schlug, den Vorstellungen Moses Mendelssohns folgend, den Weg zur Emanzipation ein. Entscheidend für seinen Werdegang war der Einfluß von Hartwig Wessely, Mendelssohns bedeutendstem Mitstreiter für die »Regeneration der jüdischen Nation«. Heymann Salomon Pappenheimer widmete ihm einen im Geist der Aufklärung (Haskalah) gehaltenen, verehrungsvollen Aufsatz1. Anfang der 90er Jahre war Pappenheimer in Altona Privatlehrer bei dem vermögenden jüdischen Pferdehändler Julius 2 , der große Geschäfte mit deutschen Regierungen tätigte. Damals wurde der Hofmeister zu einem entschiedenen Anhänger der Ideen der Französischen Revolution. Seine Entwicklung war mit dem Umgang verknüpft, den er in der zur toleranten dänischen Monarchie gehörenden Stadt Altona mit freiheitlich Gesinnten pflegte, die im Geist Lessings christlich-jüdische Kontakte auf der Basis voller Gleichberechtigung anstrebten. So verkehrte Pappenheimer mit dem Personenkreis um die staatliche Gelehrtenschule »Christianeum«, einem Zentrum der protestantisch-norddeutschen Aufklärung. So wurde er, wie es scheint, Mitglied der Anfang 1792 in Hamburg gegründeten und als »Demokratennest« verteufelten christlich-jüdischen Freimaurerloge »Einigkeit und Toleranz«. Außerdem trat er in Altona einem ebenfalls im Ruf der »Jakobinerei« stehenden »kantischen Klub« bei, wo er einem Zeugnis aus dem Jahr 1795 nach als »sehr scharfsinniger Denker« den Vorsitz führte, abwechselnd mit dem Dichter Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, dessen düsteres Trauerspiel »Ugolino« 1768 den Auftakt zur »In-Tyrannos«-Dramatik des Sturm und Drang gegeben hatte. Seit 1792 wirkte der junge Jude als Hauptmitarbeiter des liberalen Hamburger Publizisten Johann Wilhelm von Archenholtz in dessen Zeitschrift 71

»Minerva«. Vor allem für dieses vielgelesene politische Journal und für andere von Archenholtz veranstaltete Publikationen übersetzte Pappenheimer zahlreiche französische Revolutionsdokumente. Auch am Hamburger »Historischen Journal« des radikal-demokratischen Heinrich Würzer arbeitete er 1794 mit3. Pappenheimers rege publizistische Tätigkeit wurde im Winter 1795/96 durch eine Reise unterbrochen, die er als Sozius von Julius nach Paris unternahm, um mit der französischen Regierung über Pferdelieferungen für die Armee zu verhandeln. Versehen mit einem Schreiben des französischen Gesandten in Hamburg Reinhard, der ihn als »aufgeklärten Mann sowie als Freund der Republik und gründlichen Kenner der kantischen Philosophie« empfahl, trat Pappenheimer in Beziehung zum prominenten Revolutionär Sieyes, mit dem er in Briefkontakt bleiben sollte4. Als 1796 der Hamburgische Handelsmagnat Heinrich Georg Sieveking vom Senat seiner Stadt mit einer wichtigen Mission beim französischen Direktorium beauftragt wurde, fungierte Pappenheimer, der als Freund dessen volles Vertrauen genoß, als aktiver Mittelsmann zwischen Paris und Hamburg 5 . Nachdem Sieveking seine Mission erfolgreich beendet hatte, blieb Pappenheimer als dessen Geschäftsagent und politischer Informant in Paris, wo er, wie aus seinen Briefen hervorgeht 6 , sich Zugang zu führenden Politikern, wie etwa dem Außenminister Talleyrand, zu verschaffen wußte und überhaupt »in den allerhöchsten Connexionen (stand)«. So berichtet sein intimer Freund, der ihn in Paris beherbergte, der ehemalige Kieler Professor und Schriftsteller Karl Friedrich Cramer, der, als Revolutionsfreund aus Holstein verbannt, in seinem Pariser Exil eine Buchhandlung errichtet hatte7. Im Januar 1798 publizierte Pappenheimer bei ihm eine französisch abgefaßte Schrift, die die mißliche »Lage des Handels und der Finanzen in England« analysierte8. Der seit November 1797 in Paris weilende Wilhelm von Humboldt urteilte darüber günstig', und es erschien sofort eine Übersetzung ins Deutsche in Archenholz' »Minerva«10. Bis 1800 reiste Pappenheimer viel zwischen Paris, Berlin und Hamburg. Sein Wunsch, französischer Staatsbürger zu werden und in den diplomatischen Dienst der Republik zu treten, erfüllte sich trotz seiner diesbezüglichen Bemühungen bei Talleyrand und Sieyes nicht". Pappenheimer wurde in Hamburg Mitglied der »Philanthropischen Gesellschaft«, die in Kontakt mit der französischen Gesandtschaft stand, und er nahm seine Beziehungen zu den Altonaer Demokraten wieder auf, insbesondere zu dem Arzt Johann Christoph Unzer, mit dem er im Frühjahr 1798 die Revolutionsideen in Holstein propagierte 12 . Auch trat er der damals in Hamburg von Juden gegründeten, »dem Genuß geselliger Freuden und erlaubter Vergnügungen« gewidmeten »Ressource« bei, einem Verein, der Bildung und Wohltätigkeit zum Ziel hatte". Anfang 1800 war er wieder in Paris, wo er sich mit einem Minister »über die Wiederherstellung des guten Einvernehmens (der Stadt Hamburg) mit der französischen Regierung« unterhielt14. 72

Einen entscheidenden Wendepunkt bildete das Jahr 1802, in dem Pappenheimer Handlungsbevollmächtigter der Mannheimer Bankiers und Salzpächter Schmalz und Seligmann wurde. Während der vermögende Schmalz Christ war, zählte der von der Gunst des Kurfürsten von Bayern getragene Jude Aron Elias Seligmann (1747-1824), der in Leimen (Rheinpfalz) einen Palast bewohnte und 1799/1801 zum alleinigen bayerischen Armeelieferanten aufgestiegen war, zu den finanzkräftigsten Hoffaktoren in Deutschland 15 . Er schätzte Pappenheimer, der seine Interessen in Paris tüchtig vertrat16, so sehr, daß er ihm 1802 seine Tochter Fanni (1774—1854) zur Frau gab17. Das gesellige Pariser Haus des jungen Ehepaars wurde ein beliebter deutscher Treffpunkt 18 . In dieser Zeit lernte Pappenheimer Friedrich Schlegel, der seit Juli 1802 mit Dorothea Mendelssohn in Paris lebte, kennen. Schlegel bezeichnete ihn als »einen angenehmen, feinen Mann, der Sinn für geistige Bildung hat«". 1803 zog Pappenheimer nach München, wohin sein Schwiegervater auf Aufforderung des neuen Kurfürsten Max IV. Joseph übersiedelt war und, als Oberhoffaktor seinem Fürsten immer unentbehrlicher, 1814 zum Freiherrn von Eichthal geadelt wurde. Da nicht nur Eichthal und seine Kinder, sondern auch seine »Töchtermänner« die vollen staatsbürgerlichen Rechte erhielten20, wurde auch Pappenheimer als seinem Schwiegersohn das höchste Privileg in Bayern zuteil, das Juden damals erlangen konnten. Pappenheimer erwarb sich rasch das Vertrauen seines Herrschers. Am 29. April 1817 wurde ihm für seine Verdienste als Heereslieferant während der napoleonischen Kriege der »Grad eines baierischen Edeln« mit Namen und Wappen des erloschenen Geschlechts Kerstorf verliehen21, nachdem er am 1. April mit seiner Frau zum Katholizismus übergetreten war. Er nahm die Vornamen Heinrich Sigmund Friederich an, die seinen hebräischen ähnlich waren22. Vorausgegangen war 1815 die Taufe seiner drei Söhne und vier Töchter 23 . Unter seinem neuen Namen publizierte Pappenheimer 1822 eine Schrift »Über die Klagen der Zeit, nebst einigen Bemerkungen über das Bankprojekt in Baiern«, die ebenso wie sein Versuch, journalistisch für die Cottasche »Allgemeine Zeitung« tätig zu werden24, sein fortdauerndes Interesse am ökonomisch- politischen Geschehen bekundete. Obwohl Pappenheimer sein Wirkungsfeld in Süddeutschland gefunden hatte, hielt er seine Beziehungen zu Norddeutschland aufrecht. Mit seinem Altonaer Freund Gerstenberg führte er noch 1805/06 einen umfangreichen Briefwechsel, insbesondere über die jüdische Religion25. 1807 begrüßte er in München den Studenten Karl Sieveking als »den Sohn seines besten Freundes«26. Auch der Kontakt zu seinem Bruder Seligmann Pappenheimer (1767-1844), einem »Großbürger von Hamburg«, der »umfassende Geschäfte ... mit Erfahrung, Ehrenhaftigkeit und Glück« führte und sich 1829 nach München zurückzog, riß nicht ab27. Auf Pappenheimers Weg zur Assimilation, den die Heirat dreier seiner Töchter mit Söhnen angesehener adliger Geschlechter - darunter der Aretins28 - spektakulär dokumentiert, begegnen ihm berühmte Persönlichkei73

ten, wie der Philosoph Schelling, der im Winter 1807/08 in Pappenheimers Münchner Wohnung zog und die »Gefälligkeit« dieses »wohlunterrichteten Mannes« pries29. Auch mit dem seit 1805 in München lebenden Anatomen Samuel Thomas von Sömmering wurde Pappenheimer bekannt30, ebenso mit dem 1806 zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften berufenen Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi31. Schelling vertraute Pappenheimer in solchem Maße, daß er ihn im Januar 1808 beauftragte, August Wilhelm Schlegel, der Mitte Dezember 1807 mit Frau von Stal eine Woche in München verbracht hatte, ein aus der Kgl. Bayerischen Bibliothek entliehenes kostbares Manuskript des Nibelungenlieds zur »Collationierung« nach Wien zu überbringen 32 . Wahrscheinlich hatte damals Pappenheimer, der noch für lange Jahre Bankgeschäfte für den Schlegelkreis besorgte 33 , Gelegenheit, die berühmte Feindin Napoleons flüchtig kennenzulernen. Bis zum Ende seines Lebens war der »Großhändler und Banquier« Pappenheimer viel auf Reisen. Noch Anfang 1832 war er in Paris, von wo aus Heinrich Heine, der wohl 1827/28 in München mit ihm bekannt geworden war34, an Cotta schrieb: »Herr v. Kersdorf aus München ist hier und wütet gegen seine Tochter, welche St. Simonistin werden will oder schon ist«35. Nach seiner Rückkehr nach München, wo er standesgemäß am Maximiliansplatz im vornehmen »Kreuzviertel« wohnte 36 , starb der schlesische Rabbinersohn, der Gutsbesitzer von Andechs geworden war, in der Nacht des 2. Juli 183237.

Anmerkungen 1 Ruiz, Alain: Auf dem Wege zur Emanzipation. Der ideologische Werdegang des aufgeklärten »Gelehrten jüdischer Nation« H. S. Pappenheimer (1769-1832) bis zur Französischen Revolution, in: Aufklärung und Judenemanzipation, Tel-Aviv 1980, S. 183223. 2 Pappenheimers Schüler war der nachmalige Armenarzt Nikolaus Heinrich Julius (17831862), der sich als philanthropischer »Vater der Gefängniskunde« einen Namen machte, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 14, S. 686 ff. 3 Ruiz, Alain: Leben und politische Publizistik H. S. Pappenheimers in Hamburg zur Zeit der Französischen Revolution, in: Jb. des Instituts für dt. Geschichte, XII, TelAviv, 1983, S. 129-187. 4 Archives nationales Paris, 284 AP 12/12 und 284 AP 13/3. 5 Sieveking, Heinrich: Georg Heinrich Sieve-

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king. Lebensbild eines Hamburgischen Kaufmanns aus dem Zeitalter der Französischen Revolution, Berlin 1913, S. 171-269, passim; s. Anm. 26. Staatsarchiv Hamburg, 622-1, Familie Sieveking: Nachlaß G. H. Sieveking. Ebd., Cramer an Sieveking, Paris, 1. Dezember 1797; über Pappenheimers Beziehungen zu Cramer s. Ruiz, Alain: Le destin franco-allemand de Karl Friedrich Cramer (1752-1807). Habilitationsschrift, Universite Paris III, 1979, (Ms), Bd. 2, S. 491 f., 568; s. Anm. 16. Sur la situation politique et financiere de l'Angleterre, Paris 1798. Leitzmann, A. (Hg.): Wilhelm von H u m boldt: Tagebücher, 2 Bde., Berlin 19161918, Bd. 1, S. 396. Minerva (1798), Bd. 1, S. 527-538; Bd. 2, S. 131-160. S. Anm. 4.

12 Grab, Walter: Demokratische Strömungen in H a m b u r g und Schleswig-Holstein zur Zeit der ersten französischen Republik, H a m b u r g 1966, S. 208, 214 f., 220. 13 Kopitzsch, Franklin: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in H a m b u r g und Altona, Teil 2, H a m b u r g 1982, S. 581 f. 14 StA H a m b u r g , Senat CI. VII, Nr. X, 1800, S. 53b. 15 Schnee, Heinrich: Die Hoffinanz und der moderne Staat, Bd. 4, Berlin 1963, S. 213241; ders.: Die Nobilitierung der ersten Hoffaktoren. Z u r Geschichte des H o f j u d e n tums in Deutschland, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 43 (1961), S. 62-99. 16 Conseil d'Etat. Section des finances. Petition pour Schmalz et Seeligman, fermiers des salines de Philipshalle, Carlshalle et Theodorshalle, situees dans les departelnents de Rhin-et-Moselle et du M o n t - T o n nerre. De r i m p r i m e r i e de Ch. Fr. Cramer ..., ο. J. Unterschrift: Η. S. Pappenheimer, fonde de pouvoirs de la Societe Schmalz et Seeligman, S. 22. 17 Schnee, S. 233, w o irrtümlicherweise Hirsch Salomon als Pappenheimers Vornamen genannt werden, s. A n m . 21. 18 Reichardt, Johann Friedrich: Vertraute Briefe aus Paris, geschrieben in den Jahren 1802 und 1803, Bd. 3, 2. verb. Aufl., H a m burg 1805, S. 65. 19 Körner, J. (Hg.): Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, 3 Bde., Neuausgabe, Bern 1958, Bd. 1, S. 495, Bd. 3, S. 289. 20 Schnee, S. 229. 21 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Adelsmatrikel, Adel Κ 10, Act. Nr. 5493. Die Eintragung erfolgte am 13. Mai 1817; vgl. Schnee, S. 233; s. A n m . 17. 22 BayHStA, Adelsmatrikel, Adel Κ 10, Beiakt, Taufzeugnis, w o Pappenheimer als »Banquier« bezeichnet wird. Seine Gattin Fanni tauschte ihren Vornamen gegen Franziska Luise u m . 23 Ebd., Taufzeugnis und Adelsdiplom; Stadtarchiv München, Polizeimeldebögen, Serie 1/161; Semi-Gotha, 1913, S. 715 f.; Pappenheimers Kinder waren: Felix (1803-1839),

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Friedrich Ferdinand (1804-1880), Friederike (1805-?), Maria Josefa (1806-1891), Henriette (1807-?), Ludwig (1811-1836) und Eleonore (1813-1853). Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlaß Cotta, H. S. von Kerstorf an Cotta, München, 10. Mai 1827. Wagner, Albert Malte: Gerstenberg und der Sturm und Drang, 2 Bde., Heidelberg 1920/ 24, Bd. 1, S. 179 f. Sieveking, Heinrich: Karl Sieveking 17871847. Lebensbild eines Hamburgischen Diplomaten aus dem Zeitalter der R o m a n tik, H a m b u r g 1923, S. 82. Neuer Nekrolog der Deutschen, 22. Jg., 1844, 1. Teil, 1846, S. 253. BayHStA, Adelsmatrikel, Adel Κ 10, Beiakt. Maria heiratete 1828 den Kgl. K ä m m e rer Karl Albert Maria Freiherrn von Aretin, Friederike Nikolaus Ludwig Planat de la Faye, »gentilhomme de la C o u r du due de Leuchtenberg, Eskadronschef in Französischen Diensten, Ritter des bay. Civil-Verdienstordens«, Henriette den H a u p t m a n n Alexander Baron von Könitz aus uradcligem Geschlecht; vgl. Semi-Gotha, S. 715 f. Körner, Bd. 1, S. 495; Bd. 3, S. 289. Stadt- und Universitätsbibliothek Frankf u r t / M . , Nachlaß Sömmering, Tagebücher (laut freundlicher Mitteilung von Herrn Dr. D u m o n t , Mainz). Ebd., fol. 30. Körner, Bd. 1, S. 495; Bd. 3, S. 289. Ebd., Bd. 1, S. 434; Bd. 2, S. 447; Bd. 3, S. 453. Heine hielt sich von Mitte O k t o b e r 1827 bis August 1828 und nach seiner Italienreise im Dezember d. J. in München auf; vgl. Mende, Fritz: Heinrich Heine. Chronik seines Lebens und Werkes, Berlin 1970, S. 64-69, 72. Heine. Säkularausgabe, Bd. 21, Briefe 18311841. Bearbeitet von Fritz H. Eisner, Berlin/ Paris 1970, S. 29. StadtA München, Polizeimeldebögen, Serie 1/161. Erzbischöfl. Ordinariatsarchiv München, Sterbe- und Begräbnisbuch U n s . Lieben Frau, Bd. 8, fol. 34.

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5 Rabbiner Samson Wolf Rosenfeld, aus: Eckstein, Adolf: Festschrift zur E i n w e i h u n g der neuen Synagoge in B a m b e r g , B a m b e r g 1910, nach S. 88 [Reprint B a m b e r g 1985].

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Falk Wiesemann

Samson Wolf Rosenfeld (1780-1862), Rabbiner in der Emanzipationszeit

In der Phase des Heraustretens aus dem sozialkulturellen Ghetto gewann unter den bayerischen Rabbinern eine Persönlichkeit Profil, die im Verlauf ihres öffentlichen Wirkens im Zentrum der bewegten innerjüdischen Auseinandersetzungen zwischen aufklärerischer Reformbewegung und traditionsgebundener Strenggläubigkeit (Orthodoxie) stand und gleichzeitig als einer der eifrigsten Verfechter der Gleichstellung in Bayern hervortrat: Samson Wolf Rosenfeld, Rabbiner zunächst in Uehlfeld, dann Stadt- und Distriktsrabbiner in Bamberg. Erwachsen aus dem sozialen Umfeld des glaubenskonservativen fränkischen Landjudentums, schlug er zunächst den Weg der damals üblichen Rabbinerausbildung ein, öffnete sich aber im Gegensatz zu den meisten anderen bayerischen Rabbinern seiner Generation rasch den humanitären Aufklärungsideen seiner Zeit und fand dadurch Anschluß an die gewandelten Vorstellungen von einer »zeitgemäßen« Gestaltung jüdischer Religionsausübung und an die politischen Bestrebungen zur Revision des bayerischen Judenedikts von 1813. Sein Vater Hirsch L o w Rosenfeld (1745-1822) war Vieh- und Güterhändler im mittelfränkischen Markt Uehlfeld und zugleich als der wohlhabendste Jude am Ort Vorsteher (Barnos) der 245 Personen zählenden (1811/12) Synagogengemeinde 1 . Die Mutter Sara stammte aus dem nahegelegenen Baiersdorf, wo ihr Großvater David Dispeck und auch ihr Vater Samson Selke als Oberrabbiner für das Markgräflich-Bayreuther Unterland amtierten. Als sechstes von zehn Kindern kam Samson Wolf im Januar 1780 (am 26. Teweth 5540 nach der jüdischen Zeitrechnung) in Uehlfeld zur Welt2. Nach dem Besuch des Cheder, der traditionellen Religionsschule für Kleinkinder, nach einer ersten Einführung in den Talmud in Baiersdorf und nach der Unterrichtung durch einen Hauslehrer kam er mit 13 Jahren auf die Jeschiva (Talmud-Schule) in Fürth. Nach zweieinhalb Jahren wieder zurück in Uehlfeld, befaßte er sich im Selbststudium intensiv mit dem Talmud und der rabbinischen Literatur sowie mit den Werken von Moses Mendelssohn und anderen Philosophen; darüber hinaus eignete er sich ein für einen angehenden Rabbiner damals erstaunliches und durchaus unübliches, umfangreiches Maß an weltlichem Wissen an. Im Alter von 20 Jahren erhielt er in Fürth die Rabbinerapprobation und später nochmals von Oberrabbiner Hillel Sontheimer in Aschaffenburg. 77

Nachdem ihn im Jahr 1808 seine Heimatgemeinde Uehlfeld zum Rabbiner ohne regelmäßiges Gehalt gewählt hatte, führte er sogleich erste Reformen im Gottesdienst ein. So hielt er als erster Rabbiner in Bayern Predigten in deutscher Sprache. Vor allem aber widmete er sich den Plänen für den 1818 eingeweihten Synagogenneubau in Uehlfeld. Dieser war, nach einem Bericht des Kulmbacher Unterhaltungsblattes, »sehr symetrisch, einfach, nicht ohne Geschmack, wahrhaft gefällig ausgeführt. Sie hat viele Nachahmung von christlichen Kirchen; wozu besonders . . . die in Reihen rechts und links angebrachten schönen Betbänke, der Altar mit den Geboten etc. zu sehen« 3 . Die Synagoge entsprach in ihrer Anlage und Ausstattung den zeitgenössischen Vorstellungen der Gottesdienstreformer von der Würde und Klarheit des Synagogenbaus, der sich vorteilhaft von den alten »unordentlichen« Gotteshäusern abheben sollte. Mit Stolz betonte Rosenfeld in einer Schrift über die Einweihungsfeierlichkeiten, daß »diese Synagoge unter die schönsten und zweckmäßigsten in Deutschland gezählt werden« könne 4 . Zur Verteidigung der Juden gegen ungerechtfertigte Angriffe äußerte sich Rosenfeld erstmals 1817 öffentlich in der Zeitschrift »Journal von und für Deutschland«. Zwei Jahre später griff er mit einer »Denkschrift an die Hohe Stände-Versammlung des Königreichs Baiern, die Lage der Israeliten und ihre bürgerliche Verbesserung betreffend« (München 1819) in die Debatte über eine Revision des bayerischen Judenedikts ein, die kurz nach dem Inkrafttreten der Verfassung für das Königreich eingesetzt hatte. Rosenfeld ging weitgehend konform mit dem obrigkeitlichen »Erziehungs«-Konzept einer »bürgerlichen Verbesserung« der Juden: »So wäre denn das erste und hauptsächlichste Bedingniß zur völligen Zivilisation dieser Volksklasse: I. Wenn auch nicht die Einräumung der vollen Bürgerrechte, doch wenigstens, die Einräumung jener, deren Entziehung ihn der Verachtung, dem Spotte und dem Hohne preisgeben und der Veredlung sowohl, als der nützlichen Wirksamkeit im Wege stehen. . . . Sodann II. wiedme man seiner Religion mehr Achtung und Aufmerksamkeit; denn immer bleibt diese, ächt gelernt, die mächtigste Stütze selbst der geselligen und bürgerlichen Tugenden. Endlich aber III. handhabe man das bereits begonnene Werk der bürgerlichen Bildung und Erziehung, und setze es in Verbindung mit einem geregelten Religions-Unterricht . . . Nach Vollendung dieser Grundlage, also nach dem Austritt aus der Schule, beginne man mit der Ausbildung der Thatkräfte und leite sie mit dem Stabe der Milde zu nützlichen Zielen« 5 . Wenige Tage nachdem seine Denkschrift erschienen war, wies Rosenfeld in einer Broschüre im Auftrag der Münchener Kultusgemeinde - in einem schärferen Ton als es seinem maßvollen und zurückhaltenden Naturell entsprach - einen vom Bürgermeister und christlichen Kaufleuten der Landeshauptstadt gegen den jüdischen Hausierhandel gerichteten Antrag zurück, 6 und war damit in die Reihen der Wortführer der jüdischen Emanzipationsbestrebungen in Bayern aufgestiegen. Es folgte im Jahr 1822, nachdem die Revision des Edikts von Regierungsseite 78

als »noch nicht zeitgemäß« zurückgestellt w o r d e n war, ein » M e m o i r e an die h o h e S t ä n d e - V e r s a m m l u n g des Königreichs Baiern; über verschied'ne gegen die J u d e n g e m a c h t e Anträge. N e b s t W ü n s c h e n u n d Bitten« ( M ü n c h e n 1822). Hierin setzte sich Rosenfeld, unter anderem unter B e r u f u n g auf Moses Mendelssohn, mit den V o r w ü r f e n gegen den jüdischen Handel, mit d e m religiösen »Haß u n d Verfolgungsgeist« u n d den moralischen u n d rechtlichen D i s k r i m i n i e r u n g e n der J u d e n auseinander u n d trat »als Basis ihrer Veredlung u n d v o l l k o m m e n e n Civilisation« 7 f ü r erweiterte Rechte seiner Glaubensgenossen ein. D e m o r t h o d o x e n Rabbinatskollegium (Beth-Din) in F ü r t h gingen die N e u e r u n g e n , die der Uehlfelder Rabbiner eingeführt hatte, u n d dessen E n g a g e m e n t in der E m a n z i p a t i o n s f r a g e entschieden zu weit. In der Einleitung zur »Denkschrift an die H o h e Stände-Versammlung« von 1819 hatte sich im Hinblick auf die gewaltsame U n t e r d r ü c k u n g religiöser G e s i n n u n g e n in der Vergangenheit ein Passus b e f u n d e n , in d e m es hieß, m a n h a b e im Zeitalter religiöser D u l d u n g eingesehen,»daß solche gewaltsame Eingriffe in die Gesinn u n g e n der Menschen, den echten Lehren j e d e r Religion a m meisten z u w i d e r seyen, u n d daß, wie überall in d e m g r o ß e n Plane der S c h ö p f u n g , auch in Absicht auf Religiosität: Manchfaltigkeit Z w e c k der Allmacht sey« 8 . A u f g r u n d dieser Ä u ß e r u n g , die offenbar als Bekenntnis zu einer philosophischen Universalreligion gedeutet w u r d e , belegte der Fürther B e t h - D i n Rosenfeld mit d e m Bann, das heißt, er w u r d e f ü r u n w ü r d i g erklärt, sein A m t als Rabbiner weiter auszuüben, was j e d o c h die B a m b e r g e r K u l t u s g e m e i n d e nicht daran hinderte, ihn 1825 zu ihrem geistigen O b e r h a u p t zu wählen. N o c h vor d e m Weggang aus Uehlfeld absolvierte Rosenfeld vor einem akademischen G r e m i u m in B a y r e u t h die im Edikt vorgeschriebene wissenschaftliche P r ü f u n g , u m die Voraussetzungen f ü r die Ü b e r n a h m e eines ordentlichen Rabbinats zu erfüllen. Was Rosenfeld in Uehlfeld b e g o n n e n hatte, setzte er innerhalb der B a m b e r ger K u l t u s g e m e i n d e »als Organisator, Neugestalter u n d M i t b e g r ü n d e r ihrer religiösen Anstalten u n d E i n r i c h t u n g e n « ' fort. Z u e r s t erarbeitete er eine f ü r viele Jahrzehnte tragfähige G e m e i n d e o r d n u n g . U n t e r a n d e r e m versuchte er m i t der direkten Wahl der Repräsentanten, einen b e h u t s a m e n Wandel der h e r g e brachten Führungsverhältnisse der G e m e i n d e zu erreichen. In der bald darauf fertiggestellten S y n a g o g e n o r d n u n g f ü r B a m b e r g b e w e g t e er sich, was die äußere F o r m des Gottesdienstes u n d der religiös b e s t i m m t e n Lebenspraxis anging, »im Fahrwasser der entschiedenen Reform«. 1 0 So f ü h r t e er, u m n u r einige Beispiele zu nennen, in seiner G e m e i n d e f ü r K n a b e n u n d M ä d c h e n die K o n f i r m a t i o n ein," die deutsche Sprache fand v e r m e h r t E i n g a n g in den Gottesdienst, das Trauungszeremoniell w u r d e neugestaltet, als u n z e i t g e m ä ß e m p f u n d e n e , aufgeklärtem E m p f i n d e n widersprechende Gebräuche w u r d e n abgeschafft, etwa die V e r w e n d u n g kabbalistischer A m u l e t t e f ü r W ö c h n e r i n n e n oder das Anlegen von Sterbekleidern (mit A u s n a h m e des Vorsängers) in der Synagoge an J o m Kippur, d e m jüdischen Versöhnungstag. A u ß e r d e m ersann

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Rosenfeld eine Vorrichtung zur Speisung der rituellen Tauchbäder ausschließlich mit Regenwasser, um die meist sehr unhygienischen Zustände in den herkömmlichen Kellerquellenbädern zu beseitigen. 12 Im Jahr 1835 wagte Rosenfeld, unterstützt von seinem Schwiegersohn Dr.Josef Klein, die Herausgabe einer eigenen, in Dinkelsbühl gedruckten Zeitung: »Das Füllhorn. Ein Zeitblatt zunächst für und über Israeliten« mit dem M o t t o »Gerechtigkeit — Wahrheit - Friede«. Neben Predigten und Beiträgen zu Fragen des Ritus und des Religionsunterrichts wurden in dem Blatt Erlasse der bayerischen Staatsbehörden, Nachrichten aus Bayern, den übrigen deutschen Staaten und dem Ausland aufgenommen, ferner Rezensionen von Neuerscheinungen und erbauliche Gelegenheitsgedichte, unter anderem von Henriette Ottenheimer. Die Zeitung brachte es zwar nur auf zwei Jahrgänge, immerhin gebührt ihr aber das Verdienst, die erste wöchentlich erscheinende jüdische Zeitung in Deutschland gewesen zu sein. In dem religiösen Richtungsstreit seiner Zeit verfolgte Rosenfeld stets einen mittleren, gemäßigten Kurs - »langsam und bedächtigt, aber vorwärts« 13 . Die Orthodoxie nahm ihn aufgrund seiner profunden Kenntnisse des Talmud und der rabbinischen Überlieferung auffallend von der Kritik aus. Den radikalen Reformern, wie dem Rabbiner von Burgkunstadt, Leopold Stein, galt er als konservativ in religiösen Grundsatzfragen - mit reformistischem Anstrich. 14 Die Reformer fanden ihn aber immer auf ihrer Seite, wenn es um die Modernisierung des Kultus ging. So zum Beispiel bei den Verhandlungen der oberfränkischen Kreissynode des Jahres 1836, als er die Streichung aller messianischen Stellen in den Synagogengebeten befürwortete, die nicht eine rein geistige Interpretation zuließen. 15 Von Rosenfelds naiv-rationalistischer, zwischen Tradition und Fortschritt die Waage haltender Frömmigkeit zeugt seine Bearbeitung von Heinrich Zschokkes »Stunden der Andacht« für ein jüdisches Lesepublikum, die zwei Auflagen erlebte und deren erstes Heft sogar ins Hebräische übersetzt wurde. 16 Ungedruckt blieben ein »Katechismus der israelitischen Religion für den Schulunterricht« und »Pflichtgebete für das israelitische Frauengeschlecht«. 17 Unter Rosenfelds geistiger Führung unternahm die Bamberger Kultusgemeinde zahlreiche Vorstöße zugunsten der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Bayern. 18 Aus seiner Feder stammten mehrere von Bamberg aus an die beiden Kammern des Landtags gerichtete Denkschriften und Petitionen, und häufig hielt er sich als Delegierter Bambergs in München auf, um dort mit Vertretern der größeren Kultusgemeinden die gemeinsamen Schritte abzusprechen und um dann bei den Staatsbehörden oder in Audienzen beim Monarchen vorstellig zu werden. Mit der Einberufung der israelitischen Kreissynoden (1835/36) erweckte die Staatsregierung den Eindruck, als wolle sie nun endlich ihr Versprechen einer grundlegenden Revision des Edikts von 1813 einlösen. Trotz aller Vertröstungen, Rückschläge und enttäuschten Hoffnungen setzte Rosenfeld immer Vertrauen in die Ernsthaftigkeit des staatlichen Emanzipationswillens: »Die so

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weise, als gerechte bayrische Staatsregierung wird sicher, nachdem sie die religiösen Verhältnisse ihrer israelitischen Unterthanen geordnet und unter eine angemessene Verfassung gebracht haben wird, ihr Augenmerk auch auf ihre politischen Verhältnisse richten, um mit dem Maaße ihrer Pflichten auch das Maaß ihrer Rechte in Einklang zu bringen. Diesem sehen die Israeliten getrost entgegen, und freuen sich schon im Voraus, mit ihren christlichen Brüdern in Eintracht und Liebe die Bahn des getreuen redlichen Bürgers wandeln zu können.« 19 Doch im Münchener Ministerium bahnte sich im Lauf des Jahres 1837 eine katholisch- reaktionäre Wende an, die einer liberalen Behandlung der staatsbürgerlichen Forderungen der Juden alles andere als günstig war. An eine volle Emanzipation durch einen einzigen Akt war nun kaum mehr zu denken, eher noch an »Erleichterung des Druckes und mildere Behandlungsweise« 20 . Dennoch ließ Rosenfeld sich nicht entmutigen und schrieb 1843 wieder eine Eingabe an die Ständekammer. Als sich der Landtag drei Jahre später erneut mit den Verhältnissen der Juden befaßte und wiederum eine »zeitgemäße« Änderung des Edikts in Aussicht stellte, gab Rosenfeld eine weitere Denkschrift zum Druck, in der er gegen die der Verfassung widersprechende Ungleichbehandlung der Juden vor Gericht argumentierte. 21 Eine umfangreiche Gegenschrift des Bamberger Theologieprofessors G. Riegler ließ Rosenfeld unerwidert. Riegler hatte die »Verderbtheit des Mosaismus« nachzuweisen versucht und den Staat zur Bekehrung der Juden aufgerufen. Die Eidesleistung der Juden, so behauptete er, sei das wesentliche Hindernis für die jüdische Emanzipation: »Sollen wir Christen etwa als Majorität in Bayern wegen einer ganz unbedeutenden Minorität der Juden unser ächt christliches Princip aufgeben?«. 22 Reformrabbiner Joseph Aub (Bayreuth) sprach sich sehr anerkennend darüber aus, »daß Herr Rosenfeld noch immer nicht ermüdet ist im heiligen Kampfe für Recht und Wahrheit«, und der ebenfalls der Reform anhängende Rabbiner von Redwitz, Moses Gutmann, meinte, der Verfasser der Denkschrift von 1846 habe »allen Justizbehörden des Königreichs den Fehdehandschuh hingeworfen und sie der fortwährenden Verfassungsverletzung bezüchtigt.« 23 Doch auch dieser Vorstoß war nicht von Erfolg gekrönt, ebensowenig wie Rosenfelds letzte Denkschrift (1847), deren Inhalt sich auf die Verteidigung der jüdischen Religion gegen Angriffe der Judengegner beschränkte und für die jüdische Religionsgemeinschaft, die ja nur als Privatkirchengeseilschaft anerkannt war, einen öffentlich-rechtlichen Status forderte. 24 Wegen eines Augenleidens, das schließlich zur Erblindung führte, zog sich Rosenfeld in der Folgezeit von der aktiven Politik zurück. Sein Schwiegersohn fungierte bereits seit einiger Zeit als Rabbinats-Substitut in Bamberg. Rosenfeld durfte aber noch erleben, wie im Jahr 1861 die Matrikelbestimmungen des Edikts durch Landtagsbeschluß aufgehoben und damit das bedrückendste Hindernis für die räumliche Mobilität und die soziale wie ökonomische Entfaltung der Juden in Bayern beseitigt wurde. Er starb am 12. Mai 1862 in 81

Bamberg, wo er 36 Jahre lang Rabbiner gewesen war. Während die orthodoxe Presse nur in einem einzigen Satz lapidar meldete, Rabbiner Rosenfeld sei »mit Tod abgegangen« 25 , fühlte sich das glaubensliberale bayerische Judentum seinem Andenken als eines bedeutenden Erneuerers des jüdischen Kultus und beredten Anwalts der jüdischen Gemeinschaft verpflichtet.

Anmerkungen 1 Judenmatrikel Uehlfeld 1815, Staatsarchiv (StA) Nürnberg, Kdl Tit. Judensachen Nr. 45. 2 Angaben zur Biographie Rosenfelds im folgenden vor allem nach Klein, J[osef|: Rabbiner Samson Wolf Rosenfeld, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 12 (1863), S. 201-214; Krämer, Simon: R. Samson Wolf Rosenfeld, weiland Rabbiner zu Bamberg, in: Achawa. Jahrbuch für 1866-5626, S. 15-33; Eckstein, A[dolf]: Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Bamberg, Bamberg (1910), S. 55-99. Über das Geburtsjahr gibt es bei diesen unterschiedliche und widersprüchliche Auffassungen, doch dürfte das von Rosenfelds Schwiegersohn Josef Klein (S. 202) genannte Jahr 1780 richtig sein. 3 Rosenfeld, Samson Wolf: Die Israelitische Tempelhalle oder die neue Synagoge in Mkt. Uhlfeld, ihre Entstehung, Einrichtung und Einweihung, nebst den dabei gehaltenen Reden, o.O. 1819, S. 9-11. 4 Rosenfeld, Tempelhalle, S. 13. Heute ist in dem ehemaligen Synagogengebäude, von dem nur noch die grobe Bausubstanz existiert, ein landwirtschaftliches Warenlager untergebracht. 5 Rosenfeld, Denkschrift (1819), S. 18. 6 [Rosenfeld, Samson Wolf]: An eine hohe Stände-Versammlung des Königsreichs Baiern. Beleuchtung der von dem Bürgermeister und Ritter Herrn von Utzschneider und vielen anderen Kaufleuten bestätigten Anträge in Betreff des Hausir- und sogenannten unberechtigten Handels der Juden. Von einem Menschenfreunde im Namen vieler Hausirer, München 1819.

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7 So Rosenfeld in seinem Bewerbungsschreiben für das Bamberger Rabbinat 1825, abgedr. bei Eckstein, Festschrift, S. 57-59. 8 Rosenfeld, Denkschrift (1819), S. 4. 9 Eckstein, Festschrift, S. 62. 10 Eckstein, Festschrift, S. 74. 11 Rosenfeld, S[amson] W[olf]: Die Konfirmation, in: Das Füllhorn 2 (1836), Sp. 401-406. 12 Rosenfeld, S[amson] W[olf): Der Brauch der Frauenbäder. Über den Gebrauch des Regenwassers und der Wannen bei den Frauenbädern, in: Literaturblatt des Orients 1845, Sp. 389-392. 13 Eckstein, Festschrift, S. 75. 14 Krämer, Simon: Zur Geschichte der Juden in Bayern (Die jüngsten fünfzig Jahre), in: Achawa. Jahrbuch für 1825-5625, S. 117 f. (Anmerkung von Leopold Stein). 15 Krämer, Geschichte, S. 128 f. (Anmerkung von Leopold Stein). 16 Rosenfeld, Samson Wolf: Stunden der Andacht für Israeliten zur Beförderung religiösen Lebens und häuslicher Gottesverehrung, Dinkelsbühl 1833 - 1834 (2. verb. Aufl., Dinkelsbühl 1857); Bendetsohn, Menachem Magnus: Higgajon la-ittim, Wilna 1856. 17 Eckstein, Festschrift, S. 83 f.; dort auch eine Auflistung der selbständig erschienenen Publikationen Rosenfelds. 18 Vgl. Eckstein, A[dolf|: Die Emanzipationsbestrebungen in Bamberg, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 54 (1910), S. 257-267, 474-480. 19 R[osenfel]d, [Samson Wolf]: Zur Tagesgeschichte, in: Das Füllhorn 2 (1836), Sp. 47 f.; s.a. die bei Eckstein, A[dolf|: Der Kampf der Juden um ihre Emanzipation in Bayern,

Fürth 1905, S. 59-62 abgedruckte Denkschrift Rosenfelds von 1837. 20 Eckstein, Festschrift, S. 91. 21 Rosenfeld, Samson Wolf: An die hohe Stände-Versammlung des Königreichs Bayern. Gehorsamste Beschwerde, B a m b e r g 1846. 22 Riegler, G.: Jesus der Messias und der J u daismus. Eine historisch-exegetisch-dogmatische Abhandlung. Hervorgerufen durch ein Beschwerde-Schriftlein des Rab-

biners Rosenfeld zu B a m b e r g an die StändeVersammlung, B a m b e r g 1846 (Zitat S. 160). 23 Sinai. Ein Wochenblatt fur die religiösen und bürgerlichen Angelegenheiten Israels 1 (1846), S. 105 f., S. 120-122. 24 Eckstein, Festschrift, S. 96 f.; dazu Eckstein, Kampf, S. 85-89. 25 Der Israelit v. 28.5.1862, S. 175.

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Franziska Jungmann-Stadler

Bernhard von Eichthal (1784-1830), »Bürgerpflicht und wohltätiger Sinn«

»Edel sei der Mensch,/Hilfreich und gut;/Unermüdet schaff er/Das Nützliche, Rechte«. Dieses berühmte Goethe-Zitat ist einem zeitgenössischen Nachruf auf Bernhard von Eichthal vorangestellt. Es sollte das Leben und Wirken eines Menschen charakterisieren, der sich der Aufgabe verschrieben hatte, das Gemeinwohl zu heben 1 . Bernhard von Eichthal war das siebte von zehn Kindern des jüdischen Oberhoffaktors Aaron Elias Seligmann, des späteren bayerischen Hofbankiers Aaron Elias von Eichthal, und seiner Frau Hintele (dann Henriette) Levi. Er wurde am 16. September 1784 in Leimen bei Heidelberg geboren. Er erhielt zunächst Privatunterricht und besuchte dann die öffentliche Schule in Mannheim. 1801 siedelte die Familie nach München über. Bernhard wurde durch Hauslehrer auf den Besuch der Universität vorbereitet. Im gleichen Jahr wie Kronprinz Ludwig, 1804, bezog er die Universität Göttingen, die damals berühmteste Alma Mater Deutschlands 2 . Bernhard ist zwar nicht in der unmittelbaren Umgebung des Kronprinzen nachzuweisen, die Wahl des Studienortes zeigt aber doch, daß der Vater Wert auf die bestmögliche Ausbildung des Sohnes legte. 1806 erwarb er den Doktorgrad in Philosophie3. 1807 und 1808 studierte er Rechts- und Staatswissenschaften in Heidelberg 4 . Wieder zu Hause, setzte er privat das Studium der Kameralwissenschaft fort. Außerdem beschäftigte er sich mit naturwissenschaftlichen, insbesondere mathematischen Problemen. Im Nachruf ist vermerkt, daß er regelmäßig Mathematik trieb und Unterricht erteilte, um sich Geläufigkeit in der Anwendung der Mathematik zu erhalten. Aus dieser vielfältigen und gründlichen Ausbildung läßt sich schließen, daß wohl der Wunsch des Vaters nach bestmöglicher beruflicher Qualifikation mit den Neigungen des Sohnes zusammentraf. Nach seiner Universitätszeit bereitete sich Bernhard Seligmann, »dem Wunsch seines Vaters gemäß«, wie es im Nachruf heißt, auf den praktischen Staatsdienst vor. 1799 hatten Aaron Elias sowie seine Kinder und Schwiegersöhne das Bürgerrecht verliehen bekommen 5 . Die Zulassung zum Staatsdienst erfolgte aber auf Weisung des Königs, der damit ein Versprechen an Aaron Elias einlöste. Der Kandidat hatte sich den seit 1809 gültigen Vorschriften für die Zulassung zum höheren Staatsdienst zu unterwerfen 6 . Bernhard Seligmann bereitete sich 1810/11 im Rentamt Ottobeuren und bei 85

der Finanzdirektion des Regenkreises auf den Staatskonkurs im Kameralfach vor, den er 1811 glänzend bestand. Er wurde zum Ratsakzessisten ernannt. Ende des Jahres kam er bei König Max um die Erlaubnis für einen eineinhalbjährigen Paris-Aufenthalt ein, um bei der französischen Finanzadministration zu arbeiten. Er wurde noch vor der Abreise auf Wunsch des Vaters zum Finanzrat ernannt, allerdings ohne Besoldung. Bis Oktober 1813 blieb er in Paris, wo sein Bruder Louis (Ludwig) als Bankier etabliert war. 1813 ist er erstmals im Staatshandbuch unter den Finanzräten des Isar-Kreises aufgeführt 7 . 1815 erhielt er, inzwischen am 10.12.1814 mit dem Vater unter dem Namen »von Eichthal« in den Freiherrenstand erhoben und im Juni 1816 in Frauenberg zum katholischen Glauben übergetreten, die Anstellung als wirklicher Finanzrat (Regierungsrat). Anläßlich einer Hungersnot 1816 und 1817 wurde Bernhard von Eichthal in die Kommission berufen, mit der die Regierung die Not zu lindern und zu steuern suchte. Für sein Bemühen und für den Einsatz eigener Mittel erhielt er eine persönliche Anerkennung des Königs ausgesprochen. Im Kreise seiner Kollegen hatte er kein ganz einfaches Leben. Als 1818 beispielsweise einer der Finanzräte äußerte, der Jude Mayer, ein Schwager Bernhard von Eichthals, habe den Staat um einige tausend Gulden betrogen, forderte ihn Eichthal zum Duell. Das Präsidium schritt ein und Eichthal erhielt eine Rüge. In der Begründung heißt es: «... was soll aus einer kollegialen Beratung werden, wenn ein Individium wie Eichthal im Rate sitzt, welcher bei seinen ausgebreiteten Verbindungen, seiner Familie und deren oft das Finanz Aerar berührenden Geschäfte die freie Stimme des Kollegiums hemmt ...« 8 . Er wurde zunächst von den Ratssitzungen ausgeschlossen. Über seine weitere berufliche Verwendung gibt es keine Quellen. 1817 und 1822 ersuchte er um jeweils zweimonatigen Urlaub wegen Krankheit. Im übrigen scheint er ein gewissenhafter, fleißiger Beamter gewesen zu sein. Es wirft aber ein bezeichnendes Licht auf seine berufliche Stellung, daß er sofort nach dem Tod des Vaters das Gesuch um Entlassung einreichte, die auch gewährt wurde. Den Titel Regierungsrat durfte er beibehalten. 1817 erhielt Bernhard von Eichthal von seinem Vater den Auftrag, das vom Malteserorden erworbene Gut Ebersberg zu verwalten'. Damit wurden seine Interessen auf ein Gebiet gelenkt, das ihn zeit seines Lebens nicht mehr loslassen sollte. Mit der gewohnten Gründlichkeit erlernte er die Landwirtschaft, und zwar theoretisch wie praktisch, um bald Verbesserungen im landwirtschaftlichen Bereich zu planen. 1824, nach dem Tod des Vaters, ging das Gut Ebersberg in seinen Besitz über. Seit Anfang der zwanziger Jahre beabsichtigte er, eine Studienreise zu unternehmen, die ihm Kenntnisse über die Landwirtschaft in anderen Gegenden Europas bringen sollte. Er wollte sein Gut Ebersberg zu einem Mustergut ausbauen, als Vorbild für die U m g e b u n g . Für ihn stand der erzieherische Aspekt, nicht die Verbesserung der eigenen Wirtschaft im Vordergrund. Bernhard von Eichthal ging davon aus, daß der Staat nur die großen Richtlinien 86

vorgeben könne, die Ausführung jedoch den Bürgern überlassen müsse. Auf diese Weise wollte er das Seine zur »Hebung der Landeskultur« beitragen. Als Reisebegleiter gewann Bernhard von Eichthal den Oberfinanzrat Julius Ritter von Yelin 10 , der sich mit Mechanik und Fabrikwesen beschäftigte. Das Akademiemitglied von Yelin gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Polytechnischen Vereins, dessen Mitglied Nr. 155 Bernhard von Eichthal geworden war". 1825 traten Bernhard von Eichthal und Julius von Yelin ihre Studienreise an, die sie zunächst über Württemberg an den Rhein, dann nach Holland und England und schließlich nach Schottland führte. In Schottland starb von Yelin 1826. Er wurde in Edinburg neben dem Philosophen David Hume begraben. Die schottische Landwirtschaft schien Eichthal aufgrund der geographischen Voraussetzungen auf das bayerische Alpenvorland übertragbar. Er sammelte alles erhältliche Schrifttum, vor allem eine selten vollständige Sammlung der Schriften des »Board o f Agriculture«, dazu Modelle von Maschinen. Mit zwei schottischen Landwirtschaftsexperten, die er angeworben hatte, kehrte er nach Ebersberg zurück. Das Gut Ebersberg wurde im Anschluß an die schottische Reise sein Experimentierfeld. Er führte Versuche und Verbesserungen durch, und die positiven Ergebnisse ließen nicht lange auf sich warten. In den Listen des Generalkomitees des landwirtschaftlichen Vereins ist vermerkt, daß er bei den Oktoberfesten 1827, 1828 und 1829 mit ersten Preisen bedacht wurde 12 . Von den naturwissenschaftlich-technischen Interessen Eichthals zeugen auch einschlägige Veröffentlichungen 13 , j a sogar eine Patentanmeldung über die Fabrikation von mineralisiertem Holz 14 . Eine seiner wichtigsten Aktivitäten im Bereich der Technik stellt der Plan der Errichtung einer Gasbeleuchtungsanstalt in der Residenz von München dar, an dem auch Leo von Klenze beteiligt war15. Als Grundlage für die Gasbeleuchtungsanstalt richtete Eichthal den Steinkohlebergbau in der Gegend von Benediktbeuren ein. Ende der zwanziger Jahre plante er abermals eine Studienreise. Er wollte das Gewerbewesen in der Toskana studieren. Ausgehend von dem vielgelesenen Rechenschaftsbericht des Großherzogs Leopold von Toskana »Governo della Toscana« aus der Zeit um 1780 beabsichtigte er, die Wirkung dieser Grundsätze auf den Getreidehandel, die Gewerbefreiheit, den Handel mit Lebensmitteln in den Städten etc. zu prüfen und die Erfahrungen aus nunmehr fünfzigjähriger Anwendung in Bayern bekanntzumachen. A m 14. März 1830 verließ er München in Richtung Rom. Er hatte sich einer Reisegesellschaft angeschlossen, die aus dem Bildhauer Bertel Thorvaldsen und dem Maler Peter Heß bestand 16 . Am 9. Mai 1830 starb Eichthal unerwartet in R o m im Alter von 46 Jahren 17 . Im Nachruf heißt es über ihn: »Allein das Bild seines schönen Lebens, einer so unbedingten Hingebung für öffentliche gemeinnützige Zwecke, so treu erfüllter Bürgerpflicht bleibt uns zurück; und wenn auch die irdischen Überreste des Verewigten in fremdem Boden ruhen, so lebt doch sein Andenken fort in den Herzen seiner zahlreichen Freunde, in der dankbaren Erinnnerung der vielen 87

Notleidenden, welche sein wohltätiger Sinn im Stillen unterstützte, und das Vaterland betrauert den Verlust eines seiner würdigsten B ü r g e r « . 1838 ließ Sulpice Boissere im Auftrag der Familie Eichthal in R o m einen Grabstein für Bernhard von Eichthal errichten 18 . Eine von Bertel T h o r v a l d sen geschaffene Büste, von der bislang a n g e n o m m e n wurde, sie stelle den Vater Aaron Elias von Eichthal d a r " , muß wohl Bernhard von Eichthal z u g e o r d net werden. D i e Zuschreibung auf den Vater Bernhards geht auf die U n t e r s u chung von Else Kai Sass 2 0 zurück, die davon ausging, daß der Dargestellte Aaron Elias von Eichthal sein müsse, da die B ü s t e j a nach einer Totenmaske gearbeitet worden sei. Z u m Zeitpunkt seiner Entstehung 1831 k o m m e nur Aaron Elias in Frage, der 1824 gestorben war. Sass kannte nur vier lebende Söhne, den fünften, in R o m gestorbenen Bernhard von Eichthal ließ sie unberücksichtigt. D i e Entstehung der B ü s t e nur ein Jahr nach dem T o d von Bernhard von Eichthal s o w i e die Tatsache, daß dieser mit d e m Künstler z u s a m m e n nach R o m gereist und befreundet war, läßt den Schluß zu, daß Thorvaldsens B ü s t e Bernhard von Eichthal darstellt.

Anmerkungen 1 Soweit nicht anders vermerkt, liegen die Angaben aus dem zeitgenössischen Nachruf zugrunde: Neuer Nekrolog der Deutschen, hg. v. B . F. Voigt, B d 8/1, Ilmenau 1832, S. 411-16. Die Personalakte über seine Zeit im Staatsdienst liegt vor, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), M F 44 207; Genealogische Übersicht über die Familie, in: Genealogisches Handbuch des in Bayern immatrikulierten Adels, Bd. 4, Neustadt/ Aisch 1953, S. 115-125. 2 Die Matrikel der Georg-August Universität zu Göttingen 1734-1837, Hildesheim, Leipzig 1937, S. 443: Nr. 17 zum Jahr 1804: »Bernhard Seeligmann, Bayern, philos., (Vater:) Hof-Banquier in München«. 3 Vgl. Personalakte, B a y H S t A , M F 44 207. 4 Die Matrikel der Universität Heidelberg, 4. T., von 1704-1807, Heidelberg 1903, S. 399: 1. Mai 1806, Nr. 99: »Bernhard Seeligmann aus München, studirt Staatswirthschaft, sein Vater ist Banquier in München, studirte in Göttingen«. 5 Verleihungsurkunde abgedruckt bei Schnee, Heinrich: Die Familie SeligmannEichthal als Hoffinanziers an süddeutschen Fürstenhöfen, in: Z B L G 25 (1962), S. 200201.

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6 B a y H S t A , M F 44 207, auch für das Folgende. 7 H o f - und Staats-Handbuch des Königreichs Bayern 1813, München 1813, S. 285: Bernard Seligmann. 8 Personalakte B a y H S t A , M F 44 207 Nr. 15. 9 Das Gut Ebersberg wurde durch den Malteserorden wahrscheinlich zunächst an Ignaz Mayer, den Schwiegersohn des Aron Elias, veräußert, über dessen Tochter Julia es in die Familie Eichthal gekommen sein dürfte. 10 Z u Julius Ritter von Yelin vgl. Geist und Gestalt. Verz. d. Mitgl. d. Bayer. Akad. d. Wiss. 1759-1984, Erg. B d . Τ. 1, München 1984, S. 158; Schärl, Walter: Die Z u s a m mensetzung der bayerischen Beamtenschaft von 1806 bis 1918, in: Münchner Historische Studien, Abt. Bayer. Gesch. 1., Kallmünz 1955, S. 182 f.; Lebensläufe aus Franken, hg. v. Anton Chroust, Bd. 2, Würzburg 1922, S. 512 ff. 11 B a y H S t A , M H 9170. 12 Hinweis aus dem Nekrolog. 13 Beispielsweise schrieb er » Ü b e r die Bereitung der Knochen-Gallerte in München durch Anwendung großer Dampfkessel von einer neuen Construktion«, in: Beilage zum K g l . Kreis-Intelligenzblatt Nr. X V I ,

8 S., 1 Taf; oder der 2. Jahresbericht des polytechnischen Vereins, 1818, bringt auf S. 6 folgenden Hinweis: »Durch die gründlichen Untersuchungen, welche Frhr. v. Eichthal und Frhr. v. Godin, sowie auch Hr. J . A. D - l über Brodtariffe im K u n s t - und Gewerbeblatt bekannt gemacht haben, ist diese Zeitschrift für alle Polizey-Beamten, welche Gründlichkeit lieben, unentbehrlich geworden«. 14 B a y H S t A , M I n n 14 267 v. 8. Juli 1828. 15 Auch erwähnt bei Boissere, Sulpice: Tagebücher, B d . 2, Darmstadt 1981, S. 170 zum Jahr 1827. 16 Die Zusammensetzung dieser Reisegesellschaft ist eindeutig belegt bei Boissere, S. 459: »Thorwaldsen reist mit Regierungsrat Eichthal und Peter H e ß « . 17 Sterbedatum und Sterbeort sind eingetragen in der Adelsmatrikel: B a y H S t A , Adels-

matrikel Freiherrn Ε 6 Beiakt; Hinweis auch in den Tagebüchern Boisseres, B d . 2, S. 481: »Regierungsrat Eichthal in R o m ganz plötzlich gestorben!«. 18 Boissere, Sulpice: Tagebücher, B d . Darmstadt 1983, S. 307, 315, 326, 335.

3,

19 Kopenhagen, Thorvaldsen M u s e u m , Kat. Nr. A 243; Zuschreibung zuletzt im Katalog der Wittelsbacherausstellung B d . III/2, München 1980, Nr. 1017, S. 542. 2 0 Sass, Else Kai: Thorvaldsens Porträtbuster, B d . 2, Kopenhagen 1963, S. 266-271 (mit Angabe der älteren Literatur). Sass ist aufgefallen, daß die Totenmaske wie auch die Büste ein noch jugendliches Gesicht zeigen, das kaum mit dem Alter des mit 76 Jahren gestorbenen Aron Elias vereinbar sei. Trotzdem schrieb sie die Büste dem alten Aaron Elias zu, da sie die wirklichen Familienverhältnisse der Eichthals nicht kannte.

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Max Direktor

Benjamin Berliner (1784-1838), Lehrer in Harburg

»Ich Benjamin Berliner bin im Jahre 1784 zu Roth bey Nürnberg gebohren. Bis in mein 12tes Jahr erhielt ich in meinem Vaterstädtchen meine erste Bildung. Dan genos ich 2Jahre lang den Unterricht des damaligen Oberrabiners Cohn zu Schnattach im Landgerichte Lauff. Hierauf studirte ich 2 Jahre in Fürth. Schon frühzeitig widmete ich mich, nachdem ich die nötigen Köntniße mir erworben zu haben glaubte, dem Unterrichte der jüdischen Jugend und hielt mich als Privatlehrer 2 Jahre in Burghaslach und 8 Jahre zu Mergentheim auf. N u n nachdem mich die Vorsehung hierher gefuhrt hat, werde ich mich, wenn ich die allergnädigste Erlaubnis dazu erhalte, bestreben, gleichfalls als Privatlehrer durch meinen Unterricht der Jugend nützlich zu werden. Ich werde in der hebräischen und deutschen Sprache, im Lesen und Schreiben derselbigen, im Rechnen, in der Geographie, in der isralitischen Religion und biblischen Geschichte die Jugend auf eine ihrer Fassungskraft angemessenen Art zu unterweisen suchen. Harburg den 21 ten Januar 1811 «*. Dieser kurze Lebenslauf entstand im Zusammenhang mit Berliners Gesuch, ansässig werden zu dürfen. Bereits ein halbes Jahr vorher hatte Seligman Gumperle von Harburg ein Schutzaufnahmegesuch für seinen zukünftigen Schwiegersohn Benjamin Berliner gestellt. Die Vorsteher der jüdischen Gemeinde gaben dabei zu Protokoll: Die dortige Judengemeinde habe immer drei Schulmeister gehabt, doch seien zwei im Alter schon sehr vorgerückt und hätten wenig Kenntnisse, der dritte sei weggezogen. Sie hätten sich viele Mühe gegeben, einen tüchtigen Lehrer zu bekommen, doch alle Bemühungen seien vergeblich gewesen, bis endlich Benjamin Berliner als ein geschickter Mann empfohlen worden sei, der jedoch ihren Antrag nur unter der Bedingung angenommen habe, daß er sich hier für immer häuslich niederlassen könne, besonders da er Gelegenheit gefunden habe, sich vorteilhaft zu verheiraten. Die Judenschaft unterstütze daher sein Gesuch und gebe einem Verheirateten den Vorzug, weil ein Lediger nur so lange bleibe, bis er einen anderen »stabilen Ort« gefunden habe; der häufige Wechsel aber sei nachteilig für den Unterricht der Kinder. Am 6. Juli berichtete das Generalcommissariat des Oberdonaukreises, Berliner habe sich zur Aufnahme qualifiziert, da er die Erlaubnis zur Verheiratung erhalten habe, sobald Schutz und Ansitz in Harburg bewilligt sein würden. Er habe außerdem ein Vermögen von 300 Gulden, und seine Braut erhalte 700 91

Gulden. Nur ein Umstand stehe entgegen, nämlich daß nach der allerhöchsten Verordnung vor Abgang einer Judenfamilie eine neue nicht aufgenommen werden solle. Das Generalcommissariat befürworte jedoch eine Ausnahme, allerdings unter der Bedingung, daß Berliner sich einer Prüfung durch den Distriktsschulinspektor unterziehe 2 . Diese Prüfung fiel sehr vorteilhaft aus: »Ich kann ihm das rühmlichste Zeugniß ertheilen«, befand der Distriktsschulinspektor. »Er lieset nicht nur, wie von ihm zu erwarten war, mit großer Fertigkeit hebräisch, sondern auch ganz fehlerlos deutsch, mit Anstand, ohne Anstoß, in einem guten nicht singenden Ton und mit genauer Beobachtung der Interpunction. Viele christliche Schullehrer sind in diesem Stüke weit hinter ihm zurück« 3 . Nach dieser letzten Hürde erhielt Berliner die Erlaubnis zur Ansässigmachung und Verehelichung sowie zur Erteilung von Privatunterricht. Berliners Erwartungen, sich seinen Lebensunterhalt als Privatlehrer verdienen zu können, erfüllten sich nicht. Bereits im Jahr 1815 stellte er einen Antrag auf Befreiung vom jährlichen Herbergsgeld, da das Erträgnis seiner Tätigkeit ganz unbedeutend sei4. Z u m gleichen Ergebnis kam der Distriktsschulinspektor. »Berliner«, so berichtete er im August 1816, »hat nur einige Kinder zu besorgen. ... Er ist deßwegen genöthigt, sich, um sich fortzubringen, wieder auf den Handel zu legen«. Es seien außer Berliner noch fünfjüdische Privatlehrer tätig. Ihre Besoldung sei unbestimmt, der häufige Lehrerwechsel wirke sich sehr nachteilig aus, die Kinder armer Familien, die nicht imstande seien, das gewöhnlich sehr hohe Unterrichtsgeld aufzubringen, würden vernachlässigt. Eine eigene »deutsche Schule« könne von der jüdischen Gemeinde leicht zustandegebracht werden 5 . Der jüdischen Gemeinde wurde aufgrund dieses Berichts eröffnet, ihre Kinder entweder in die christliche Schule zu schicken oder eine eigene Schule zu errichten. Die Auseinandersetzungen darüber dauerten einige Jahre. Die jüdische Gemeinde erklärte, sie wolle ihre Kinder in die christliche Schule schicken, die christliche Gemeinde wies dieses Ansuchen jedoch zurück, weil kein Platz vorhanden und die Lehrer ohnehin schon überlastet seien. So wurde 1821 von der jüdischen Gemeinde eine eigene Schule für die zu diesem Zeitpunkt 31 schulpflichtigen Knaben und Mädchen gegründet. Benjamin Berliner wurde als Lehrer angestellt. Er erhielt ein jährliches Gehalt von 300 Gulden, also nur das im Judenedikt von 1813 festgesetzte Mindestgehalt. Die Bezahlung des Lehrers wurde von der jüdischen Schulkasse aufgebracht, in die für jedes schulpflichtige Kind pro Woche 3 Kreuzer einzuzahlen waren. Außerdem wurden bestimmte Abgaben auf verkauftes Fleisch erhoben, sowie Beiträge bei Geburten, Hochzeiten und aus dem Heiratsgut festgesetzt 6 . Berliners Ehe war kinderreich. Bis zum Jahr 1829 sind neun Geburten nachgewiesen, und zwar in den Jahren 1812, 1813, 1817, 1818, 1819, 1822, 1826, 1827, 1829. Die genaue Zahl bleibt im dunkeln, da die Israelitischen Standesregister von Harburg in diesem Zeitraum lückenhaft sind7. Der Kinderreichtum brachte nicht zuletzt große Wohnungsprobleme für die 92

Familie mit sich. Im Juni 1829 überschrieben die Erben des Hoffaktors Hechinger in Harburg der jüdischen Gemeinde ein dreistöckiges Wohnhaus mit einem kleinen Garten als Stiftung 8 . Das Gebäude sollte als Schul- und Armenhaus genutzt werden, und zwar das untere Stockwerk mit zwei Räumen für den öffentlichen Schul- und Religionsunterricht, das zweite und dritte diente der unentgeltlichen Aufnahme verarmter jüdischer Familien. »Es war nicht so leicht«, stellte das Herrschaftsgericht Harburg fest, »solche unterzubringen, da nicht leicht ein Christ sie aufnahm und daher häufig eine Not entstand, der nur mit Mühe abgeholfen werden konnte« 9 . Berliners Familie scheint zu diesem Kreis der Bedürftigen gehört zu haben, denn die jüdische Gemeinde überließ ihr das Schulhaus als Wohnung. Bei einer Schulvisitation im Jahr 1838 wurde festgestellt, daß auch der Schächter im Schulhaus wohnt und die Wohnung des Schullehrers dadurch so beengt ist, daß dieser mit seiner zahlreichen Familie kaum Platz hat10. Im Juni 1838, Berliner war jetzt 54 Jahre alt, kaufte er ein nahe der Schule gelegenes Haus. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, berücksichtigt man sein niedriges Einkommen. Die Kontraktenprotokolle des Herrschaftsgerichts Harburg geben jedoch näheren Aufschluß. Verkäufer war sein Schwiegervater, der Kaufpreis betrug 2500 Gulden. Über 1600 Gulden wurden dadurch abgegolten, daß Berliner Verbindlichkeiten seines Schwiegervaters übernahm. Dieser bedingte sich außerdem ein unentgeltliches Wohnrecht für sich und eine weitere Tochter aus11. A m 2. August 1838 starb der Religions- und Elementarlehrer Benjamin Berliner an Nervenfieber 12 . Er hinterließ seine Frau mit acht unversorgten Kindern. Mit der jüdischen Gemeinde war hinsichtlich seines Ablebens nichts vereinbart worden. Die Witwe erhielt lediglich vom Schullehrerverein der Regierung von Mittelfranken jährlich 76 Gulden. Bereits einen Monat nach Berliners Tod bat die Kultusgemeinde Harburg daher um Aufnahme des Schuldienstpräparanden Juda Low Berliner, des ältesten Sohnes, in das Schullehrerseminar zu Bamberg und um Freihaltung der Schullehrerstelle in Harburg, damit er diese später übernehmen könne. Das Gesuch um die Freihaltung wurde abgelehnt; außerdem wurde befunden, daß das Schullehrerseminar in Bamberg nicht geeignet sei. Zur Aufnahmeprüfung beim zuständigen Schullehrerseminar in Dillingen erschien Juda Low Berliner nicht. Er wolle sich nicht mehr dem Schulfach widmen, sondern zur Kaufmannschaft übergehen, heißt es nüchtern in einem Protokoll des Herrschaftsgerichts 13 .

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Anmerkungen 1 Staatsarchiv Neuburg a. d. Donau ( S t A N D ) , Regierung 3902 I. 2 S t A N D , Herrschaftsgericht Harburg 606. 3 S t A N D , Regierung 3902 I. 4 S t A N D , Herrschaftsgericht Harburg 606. 5 S t A N D , Regierung 4548. 6 S t A N D , Bezirksamt Donauwörth, Alte Serie 314. 7 S t A N D , Bezirksamt Donauwörth, Neue Serie 6019. 8 S t A N D , Herrschaftsgericht Harburg, K o n traktenprotokolle 1829, 2. Juni 1829; Rent-

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9 10 11 12 13

amt Donauwörth 703, III, Hausnummer 118. S t A N D , Bezirksamt Donauwörth, Neue Serie 1906. S t A N D , Bezirksamt Donauwörth, Alte Serie 314. S t A N D , Herrschaftsgericht Harburg, K o n traktenprotokolle 1838, 5. Juni 1838. S t A N D , Bezirksamt Donauwörth, Alte Serie 2208. S t A N D , Bezirksamt Donauwörth, Alte Serie 314.

Rainer Braun

Die Offiziere Isidor und Maximilian Marx (1789-1862 und 1842-1916)

Mit Isidor Marx und seinem Sohn Maximilian 1 werden zwei bayerische Staatsbürger jüdischen Glaubens vorgestellt, die zu den wenigen gehören, denen es gelang, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Das mag auf den ersten Blick als nichts Außergewöhnliches erscheinen, zumal seit dem KantonsReglement vom 7. Januar 1805 in Bayern auch für Juden Wehrpflicht bestand. Allerdings wurde es nicht ungern gesehen, wenn sie vom angebotenen Recht auf Freikauf Gebrauch machten 2 . Es gab jedoch im Königreich kein bayerisches oder Bundesgesetz und nach der Reichsgründung kein Reichsgesetz, das jüdischen Bewerbern den Eintritt in das Offizierskorps verwehrt hätte. In der Praxis begegnete man dem jüdischen Offiziersbewerber sowohl in der preußisch-deutschen als auch in der Bayerischen Armee ablehnend, und zwar im A m t wie im privaten Kreis des Offizierkorps. Gründe dafür waren die traditionellen Vorurteile, etwa vom »unbürgerlichen Geist der Juden«, wie es die Landschaft in Baiern in der Diskussion um das Kantons-Reglement 1804 formulierte 3 . Die rechtliche Gleichstellung der Juden änderte an dieser Haltung wenig. Noch 1907 waren sich der Bayerische Militärbevollmächtige in Berlin, Generalmajor Ludwig Freiherr von Gebsattel, und der preußische Kriegsminister General Karl von Einem über den »schädlichen Einfluß des jüdischen Elements« im Offizierkorps einig 4 . Es gelang nur insgesamt sechs jüdischen Bewerbern in den rund hundert Jahren zwischen den Befreiungskriegen und dem Ersten Weltkrieg als aktive Offiziere in der Bayerischen Armee zu dienen. Der letzte jüdische Offizier schied 1906 aus5. Dagegen weisen 1910 die Ranglisten der österreichisch-ungarischen Armee 2179 jüdische Offiziere, darunter einen Feldmarschall, auf; in der französischen Armee dienten im gleichen Jahr 720, in der italienischen 500. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, daß auch Isidor Marx und seinem Sohn Maximilian die großen Karrieren versagt blieben. Immerhin schlossen beide mit nachträglich und ehrenhalber verliehenen (charakterisierten) Majorsrängen ab. Dies spricht für deren Pflichterfüllung ebenso wie für Zielstrebigkeit und Selbstbewußtsein. Isidor Marx wurde am 24. November 1789 im damals brandenburgansbachischen Treuchtlingen geboren, als Sohn eines jüdischen Handelsmannes. 1809 umfaßte Treuchtlingen 160 Wohngebäude, darunter etwa 35 jüdische Häuser und eine Synagoge 6 . Isidor Marx trat als Handlungsgehilfe in das 95

Geschäft des gleichnamigen, mit ihm jedoch nicht verwandten Marx in München ein, wo er - nach eigenen Angaben - gut verdiente. Zu diesen »Kenntnisse(n) im Handelsfache«, wie er seinen Beruf bei militärischen Stellen bezeichnete, kamen als besondere Fähigkeiten »Reiten« und »ziemliche Vorkenntnisse in Mathematik«. Im Auftrag des Handelshauses Marx hielt er sich im Frühjahr 1813 in Salzburg auf, wo er vom Aufgebot für die Mobile Legion erfuhr, die als Reservearmee zur Verteidigung Bayerns gegen Napoleon aufgestellt wurde. Am 10. März trat er freiwillig als Korporal in das 4.Nationale Feldbataillon in Salzburg ein, aus Liebe zum Vaterland und aus Neigung zum Militärdienst, wie er in späteren Gesuchen betonte. Noch am 25. Juni desselben Jahres erhielt er die Anstellung als Unterleutnant. Er war damals 24 Jahre alt, seine Körpergröße wird mit 6 Schuh (= 1,75m) angegeben. Derartige Blitzstarts in die Offizierslaufbahn waren nur zu Zeiten akuter Kriegsgefahr möglich. Noch in den Revolutionsjahren 1848/49 hat die Armee, um den Bedarf an Offizieren zu decken, Zivilisten als (Unter-) Leutnants in die Kompanien eingereiht 7 . Sie wurden vorerst auf Widerruf angestellt, ohne Patent und damit ohne jeden Anspruch. Vor allem mangelte es ihnen an einer soliden Ausbildung. Auch Isidor Marx wurden in seiner ersten Beurteilung vom Juni 1814 zwar guter Körperbau, vollkommene Gesundheit, Eignung auch zum Felddienst, Fleiß und »gute Aufführung«, aber nur mittelmäßige militärische Kenntnisse bescheinigt. Immerhin bestätigte man ihm »Ambition«, so daß er es verdiene, für das Patent vorgemerkt zu werden. Da in der Mobilen Legion, also in der Reserve, keine Karriere zu erwarten war, bemühte er sich bereits 1813 und erneut im folgenden Jahr vergeblich um Versetzung zur Linie, zu den aktiven Infanterie-Regimentern. Erst im Dezember 1816 gelang dies mit der Eingliederung seines Bataillons zum 2. Infanterieregiment in Würzburg. Inzwischen hatte er am Frankreichfeldzug des Jahres 1815 teilgenommen, wofür er 1817 das übliche Armeedenkzeichen erhielt. Andere Lorbeeren waren nicht zu erwerben. U m das begehrte Offizierspatent bewarb er sich 1819 und zweimal 1822 vergeblich. Der Grund für die Ablehnung waren zwei schlechte Beurteilungen des Würzburger Regimentskommandeurs, die offensichtlich von persönlichen Abneigungen bestimmt waren. So scheute sich Oberst Hoffnaaß 8 1819 nicht, Marx Eifer und nahezu jede Fähigkeit abzusprechen und unter »Gemütseigenschaften und Leidenschaften« die Bemerkung zu notieren: »witzig nach Judenart«. Auch versäumte er nicht, abschließend festzustellen: »... hat keinen regen Eifer: findet nur die Stelle als Offizier besser als die eines Handelskommis, das (!) er bei dem Juden Marx zuvor war«. In gleicher Weise glaubte er, die Sitten- und Fähigkeitsliste 1822 mit dem Hinweis zusammenfassen zu müssen: »Israelit, war vorher Handlungsdiener, respektive wenig für jetzt und die Zukunft«. Erst als im Sommer 1822 das Regimentskommando wechselte, erfuhr Marx vom neuen Kommandeur, Oberstleutnant Obermayr', eine objektive Beurteilung. Daß er mittlerweile »finster und melancholisch« wirkte, kann nicht verwundern. Ein Jahr später, am 3. September 1823, hatte er endlich 96

das Offizierspatent in Händen. Er war damit einziger Jude im aktiven Offizierskorps. Nach 10 Dienstjahren war er mit 34 Jahren nunmehr zu alt, um an ein Avancement seiner Karriere denken zu können. In der Tat folgten nur noch wenige Beförderungen: am 20. November 1829 zum Oberleutnant, am 10. September 1840 zum Hauptmann II. Klasse, am 18. Oktober 1844 zum Hauptmann I. Klasse. Dazwischen liegen zahlreiche Versetzungen, zum Teil auf eigenen Wunsch, die ihn von Würzburg über Augsburg, Nürnberg, in die Pfalz und zurück nach Aschaffenburg führten, wo er offenbar Respekt und Achtung von Untergebenen, Kameraden und Vorgesetzten gewinnen konnte; jedenfalls geben die Akten nichts Gegenteiliges zu erkennen. Dennoch ersparte ihm sein tadelloses Verhalten eine weitere konfessionsbedingte Zurücksetzung nicht: 1842 beschloß König Ludwig I., die seit langem bestehende Anordnung, Juden von richterlichen Funktionen im Staate fernzuhalten, auch auf den Militärdienst zu übertragen 10 . Isidor Marx sah sich dadurch von heute auf morgen von allen Kriegsgerichtssitzungen, Kommissionssprüchen und Verhören ausgeschlossen. Er war damit in seiner Offiziersehre, wie er es in seiner Beschwerde vom 30. März 1843 ausdrückte, tief gekränkt. Obwohl Regiment und übergeordnetes Armee-Divisions-Kommando die königliche Verfugung verteidigten und die Beschwerde für unstatthaft erklären wollten, gab das Kriegsministerium Marx recht und beantragte beim König für ihn, einen gleichfalls betroffenen Bataillons-Arzt und einen Rechnungsaktuar - zu diesem Zeitpunkt die drei einzigen Juden in verantwortlichen Stellungen in der Armee - die Zurücknahme der Entscheidung, was Ludwig am 10. Mai 1843 genehmigte. Die restliche Dienstzeit Isidor Marx' kann in Kürze dargestellt werden. 1847 meldete er sich felddienstuntauglich. Wegen Seh-, Gehör- und Gedächtnisschwäche wurde ihm Dauerinvalidität bescheinigt; mit Jahresende trat er in Pension. Dieser Vorgang war eine gängige Möglichkeit, sich unliebsamer Armeeangehöriger zu entledigen. Am 18. Oktober 1851 bewilligte König Max II. das Throngesuch um Verleihung des Majors-Charakters, das vom Kriegsministerium unterstützt worden war, weil Marx sich »während seiner Dienstzeit als eifriger, gesitteter, pflicht- und gesinnungstreuer Offizier gezeigt« habe. Am 22. April starb er in München, wo er seit seiner Verabschiedung gelebt hatte. Dort hatte er im März 1841, 52jährig, Henriette Marx geheiratet, die 29jährige Tochter des jüdischen Großhändlers und dänischen Kommerzienrates, Eduard Marx (1768-1854)", der seit 1826 bayerischer Hofjuwelier war. Eduard Marx stammte ebenfalls aus Treuchtlingen; möglicherweise ist er identisch mit dem Händler, bei dem Isidor 1813 in Stellung gewesen war12. Der Ehe mit Henriette entstammen zwei Söhne: Maximilian, der in die Fußstapfen des Vaters treten sollte, und Siegfried, Doktor der Rechte (18431911), königlicher Advokat und Rechtsanwalt mit dem Titel »Justizrat«13. Maximilian Marx wurde am 10. Juni 1842 in München geboren. Da die Versetzungswünsche des Vaters nach München nie erfüllt worden waren, auch das Gesuch des Großvaters Eduard Marx nicht, der 1841 sogar für alle 97

Umzugsgebühren aufkommen wollte, um Tochter und Schwiegersohn in seiner Nähe zu haben, folgte die Familie dem Vater an die Standorte in der Pfalz und nach Aschaffenburg, bis sie 1847 nach München zurückkehren konnten. Dort besuchte Maximilian Marx das Gymnasium und drei Jahre lang das Polytechnikum. Offenbar wollte der Vater, daß auch der Sohn frühzeitig die Offizierslaufbahn einschlage. Isidor Marx beantragte 1855, als Maximilian das vorgeschriebene Alter von 13 Jahren erreicht hatte, die Aufnahme seines Sohnes in das Kadettenkorps, der christlich geprägten Internatsschule für angehende Offiziere 14 . Der Antrag wurde trotz der Erklärung des Vaters, für den Religionsunterricht des Knaben selbst zu sorgen, abgelehnt. Überraschenderweise scheiterte das Vorhaben nicht am Einspruch der Militärverwaltung, die durchaus bereit gewesen wäre, Änderungen der bestehenden Hausordnung einzuführen, damit der »junge Israelite im Cadetten-Corps in jeder Beziehung den Vorschriften seines Glaubens und seiner Kirche nachleben könne« 15 . Dagegen hatte sich jedoch der vom Kadettenkorpskommando um Stellungnahme ersuchte Rabbiner Hirsch Aub von München ausgesprochen, der die Erziehung eines jüdischen Zöglings im christlichen Kadettenkorps fur unmöglich erklärte. Erst 1873 gelang es dem jüdischen Rechtsanwalt Henle aus München, seinen Sohn Heinrich als ersten Juden im Kadettenkorps unterzubringen, nachdem mittlerweile das Rabbinat einen toleranteren Standpunkt einnahm 16 . 1864 wurde Maximilian von der Konskription erfaßt und aufgrund seiner technischen Studien dem Genieregiment zugewiesen; er wurde aber wie viele seines Jahrganges nicht eingezogen, sondern unmontiert-assentiert, also ohne Ausrüstung und unausgebildet, zurückgestellt. Er nutzte die gewonnene Zeit, um in der österreichischen Bergakademie in Leoben seine Kenntnisse zu vervollkommnen. Seine Einberufung am 8. Mai 1866 erfolgte im Vorfeld des Deutschen Krieges von 1866; noch im Juni wurde er zum Unterleutnant mit Patent ernannt. Wie sein Vater begann er die Militärlaufbahn im Alter von 24 Jahren, wie bei diesem stand der Beginn seiner militärischen Laufbahn in Zusammenhang mit Kriegszeiten. Von den insgesamt sechs Juden im aktiven bayerischen Offizierskorps traten vier zu Zeiten akuten Bedarfs in die Armee ein: 1813, 1848, 1866 und 1870. Keinem von ihnen gelang während der Dienstzeit der Sprung zum Stabsoffizier, was auf eine systematische Ausgrenzung von Juden aus höheren Chargen schließen läßt17. Auch Maximilians Laufbahn endete mit dem Dienstgrad eines Hauptmanns, den er am 15.Juli 1882 erhielt. A m 26. Februar 1886 wurde er, ohne darum nachgesucht zu haben, aus Gesundheitsgründen verabschiedet: er sei »ungewöhnlich gealtert«. Immerhin wurde er noch 1904 vom Kriegsministerium »wegen Rückenmarksdarre, verbunden mit gastritischen Krisen«, erlitten im Feldzug 1870/71, nachträglich zum Kriegsinvaliden erklärt, was eine monatliche Pensionserhöhung von 100 Mark bedeutete. 1911 erhielt auch er, wie schon sein Vater, den begehrten Charakter als Major verliehen.

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Die Akten lassen den Grund für das Ende seiner Karriere ahnen. Bis 1886 hatte er als vollkommen gesund und felddiensttauglich, wenngleich schmächtig gegolten. Man bestätigte ihm wiederholt einen offenen, verträglichen, bescheidenen und willigen Charakter, gute Umgangsformen und Bildung - er sprach französisch und englisch Diensteifer, Fleiß und Pflichtgefühl. Allerdings war er ein schlechter Reiter, der mehrmals erfolglos in die Reitschule kommandiert werden mußte. Die Beförderung zum Premier-(Ober-)Leutnant hatte sich deswegen verzögert; sie erfolgte am 7. April 1876 erst, nachdem das Kriegsministerium festgestellt hatte, daß der Mangel an Reitfähigkeit bei sonstiger Befähigung im Ingenieurkorps kein Hinderungsgrund sei. Ab 1877 häufte sich massivere Kritik: N u n vermißte man die körperlichen Fähigkeiten zu einem »strammen Truppenoffizier«, er sei »geistig und körperlich nicht elastisch genug«, es mangle ihm an Gewandtheit und Sicherheit zur selbständigen Fertigung größerer Arbeiten. Der Eindruck, daß mit diesen Argumenten lediglich eine unerwünschte Karriere rechtzeitig verhindert werden sollte, verstärkt sich, wenn man den Strafbuchauszug liest. Sechs harmlose Bestrafungen sind dort zwischen 1871 und 1885 vorgetragen, vom mündlichen Verweis bis zum Zimmerarrest, wegen Unterlassung einer dienstlichen Meldung oder nicht rechtzeitiger Erledigung eines Auftrages, »wodurch die Vorlage eines Berichts um einen Tag verzögert wurde«. Der eigentliche Grund für die Zurückstellung und die frühzeitige Pensionierung war seine Religionszugehörigkeit. Dies wurde allerdings von keinem seiner Vorgesetzten in Ingolstadt, Nürnberg, Ansbach, Germersheim, Würzburg, Speyer und München ausgesprochen. Maximilian Marx wurde ganz offensichtlich ein Opfer des schärferen antisemitischen Kurses, der nach der Reichsgründung 1870 von Berlin aus auch auf die Bayerische Armee übergriff18 - und trotz des Gesetzes über die Gleichstellung der Konfessionen vom 3.Juli 1869, das in Bayern am 22. April 1871 Gültigkeit bekam". Maximilian Marx starb unverheiratet in München am 12. Februar 1916. Er hatte noch miterleben können, wie seine Glaubensgenossen - nun auch wieder in Offiziersrängen willkommen - in den Ersten Weltkrieg zogen. Nicht mehr erlebt hatte er die denunzierende Umfrage des Preußischen Kriegsministeriums vom 1.Dezember 1916, die feststellen sollte, wieviele jüdische Wehrpflichtige vom Militärdienst befreit, außerhalb der Front eingesetzt seien oder nicht am Krieg teilnehmen würden 20 . Aus Bayern wurden 9659, das sind rund 19% aller in Bayern ansässigen Juden im Ersten Weltkrieg eingezogen; 9,5% hatten sich freiwillig gemeldet, fast 12% der jüdischen Soldaten aus Bayern sind gefallen21.

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Anmerkungen 1 Sofern nichts anderes angegeben, entstammen die Einzelheiten beider Lebensläufe den militärischen Personalakten, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Abt. IV Kriegsarchiv (ΚΑ), O P 82063 (Isidor Marx), O P 8232 (Maximilian Marx); vgl. dazu auch die Kurzbiographien bei Eckstein, Α.: Haben die Juden in Bayern ein Heimatrecht?, Berlin 1928, S. 34 (Maximilian M.); Rumschöttel, Hermann: Das bayerische Offizierskorps 1866-1914, Berlin 1973, S. 246 f. (Isidor und Maximilian M.). 2 Churbaier. Regierungsblatt 1805, Sp. 246270, hier § 3, Sp. 248. 3 Braun, Rainer: Juden in der Armee, in: Bayern und seine Armee, hg. v. d. Generaldirektion der Staatl. Archive Bayerns, M ü n chen 1987 (Ausstellungskataloge Nr. 21), S. 47-54, hier S. 47. 4 Braun, S.52f. 5 Dazu und zum folgenden Rumschöttel, S. 245. 6 Hofmann, Hanns Hubert: GunzenhausenWeißenburg, München 1960, (Hist. Atlas von Bayern, Teil Franken, Heft 8), S. 169. 7 Calliess, Jörg: Militär in der Krise. Die bayerische Armee in der Revolution 1848/ 49, Boppard 1976, S. 142, Anm. 350. 8 Ferdinand Hoffnaaß (1769-1844), zuletzt Generalleutnant, KA, O P 78737. 9 Joseph Obermayr (1777-1831), als Oberstleutnant ausgeschieden, KA, O P 80687. 10 Dazu und zum folgenden KA, MKr 10791, Prod. 7-8. 11 Nach freundlicher Auskunft des Stadtar-

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chivs München vom 7.1.1988 aus den Einwohnermeldebögen. Immerhin wird Eduard Marx im Regierungs-Blatt für das Königreich Bayern 1815, Sp. 328 bereits als Handelsmann in München genannt. Nach freundlicher Auskunft des Stadtarchivs München vom 7.1.1988 aus den Einwohnermeldebögen. Vgl. dazu Aichner, Ernst (Hg.): Das Bayerische Kadettenkorps 1756-1920, Ingolstadt 1981 (Veröffentl. d. Bayer. Armeemuseums Bd. 3), S. 12. Dazu und zum folgenden ΚΑ, A VII 68, Fasz. IX, Prod. 59-60. KA, MKr 4776, Prod. 117, 120, 121; zu Heinrich Henle, dessen Offiziersernennung schließlich 1880 konfessionsbedingt an der Abneigung des 1. Schweren-Reiter-Regiments scheiterte, vgl. KA, O P 70900. Rumschöttel, S. 247. Das zeigte sich insbesondere bei der Behandlung jüdischer Reserve-Offiziers-Bewerber, vgl. Rumschöttel, S. 250-253. Gesetzblatt fur das Königreich Bayern, Beilage, enthaltend das Reichsgesetz vom 22. April 1871 und die hierdurch im Königreich Bayern eingeführten Gesetze des vormaligen Norddeutschen Bundes, München 1871, S. 32f. Deutsche jüdische Soldaten 1914-1945, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Ausst. Kat., Freiburg 1981, S. 26, (Abdruck). Eckstein, S. 78.

Uwe Puschner

Moritz Gottlieb Saphir (1795-1858), »Vomkunstrichterstuhlherabdieleutevernichtenwoller«

Heute weitgehend in Vergessenheit geraten, zählte Moritz Gottlieb Saphir im vormärzlichen Berlin, München und Wien zu den umstrittensten wie populärsten Journalisten. Seinen Freunden und Bewunderern galt er als »Meister des journalistischen Skandals« und als »Großmeister des Humors«; man verglich ihn mit Jean Paul, Alexandre Dumas und Shakespeare. Seine Gegner und Kritiker sahen in ihm den »Schriftsteller der Worttortur«, den »Escamoteur [= Taschenspieler] der Buchstaben«, den »Virtuosen der Phrase« oder wie Johann Nestroy den »lächerlichen Vomkunstrichterstuhlherabdieleutevernichtenwoller« 1 . Moritz Gottlieb Saphir selbst charakterisierte sich 1845 in der für ihn typischen ironisch-bissigen, aber auch von übersteigertem Selbstbewußtsein gezeichneten Manier mit den Sätzen: »Vom Schicksal zum Juden bestimmt, von den Eltern zum Handelsmann, von der Erziehung zum Dorfrabbiner, von den Verhältnissen zum armen Teufel, von dem Zufall zu seinem Fangball, bin ich jetzt trotz diesen Bestimmungen so ein ehrlicher und aufrichtiger Christ, wie nur ein ehrlicher und aufrichtiger Christ sein kann; Eigenthümer eines mittellosen Intendanzraths-Titels, bürgerlicher befugter Redacteur der Stadt Wien und aller umliegenden Ortschaften, lebenslänglicher Prätendent des Titels 'Deutscher Humorist', geistreicher Schriftsteller von Gnaden einiger befreundeter Blätter, H o f = und Leibvorleser verschiedener Wohlthätigkeitsanstalten, populärer Volkscharakter ohne gefährliche Folgen, Besitzer vieler Anhänger, die mir nichts ins Knopfloch stecken können, Inhaber eines steuerfreien Renommees mit dem dazu gehörigen Gottesacker, mit Ernten im weiten Feld, Ordensmitglied mehrerer Capitel aus dem Buche der Leiden der wahrheitsliebenden Familien, ungelehrtes Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaftsspiele, redlicher Patriot ohne Aushängeschild und freiheitsliebender Mensch ohne politische Lieder mit messingenen Schrauben, Lohnkutscher= Adjunct des deutschen in Koth steckenden Thespiskarren, vulgo Recensent, hinterlassener Wittiber der nach langem Leiden an der Federlähmung verstorbenen Bezirkskritik, lustiger Ritter mehrerer traurig umherliegender Wahrheiten .. ,«2. Moritz (Moishe/Moses) Gottlieb Saphir wurde am 8. Februar 1795 in LovasBerny, einem Dorf im Stuhlweißenburger Komitat, geboren. Sein Vater, ein jüdischer Kaufmann, besaß, wie Saphir in seiner Autobiographie erzählt, 101

»ungewöhnliche Kenntnisse und war wegen seiner hohen Redlichkeit und Charakterlauterkeit allgemein sehr geachtet und geschätzt«. Nach dem frühen Tod der von ihm als »sanft, f r o m m und duldsam« geschilderten Mutter, dem U m z u g nach O f e n , der Wiederverheiratung des Vaters und einem kurzen Aufenthalt bei seinem Onkel in Preßburg kam Saphir 1806 nach Prag. Die ungewöhnlichen Geistesanlagen, insbesondere die »talmudische Gelehrsamkeit«, die bei seinem »damaligen Alter als Wunder angestaunt wurde«, hatten den Vater bewogen, den Elfjährigen an der Prager Jeschiwa ausbilden zu lassen. Seine rasche Auffassungsgabe, Lernbegier und ein unerschöpflicher Wissensdurst trugen ihm nicht nur die B e w u n d e r u n g und Anerkennung seiner Lehrer ein, sondern entfachten in dem heranwachsenden Autodidakten auch die Sehnsucht nach neuen (Bildungs-)Horizonten. Neben seinen intensiven religiösen Studien erwarb er sich umfangreiche Kenntnisse zunächst in der deutschen, lateinischen und französischen, später auch in der griechischen, italienischen und englischen Sprache und Literatur und betrieb zudem historische, geographische und philosophische Studien: »Kurz, ich stopfte von j e d e m Gericht der table d'hote des Wissens so viel in mich hinein als nur möglich« 3 . Die Rückkehr in das väterliche Haus 1814 und der Eintritt in dessen Handelsgeschäfte blieben nur eine Episode; Saphir glaubte, seiner B e s t i m m u n g z u m Schriftsteller folgen zu müssen. Den »Poetischen Erstlingen« (Pest 1821) folgten Gedichte und Kritiken in der Pester Zeitschrift »Pannonia«, zu deren Hauptmitarbeitern Saphir avancierte. Nach Auseinandersetzungen mit den allgewaltigen Parnassim der Altofener Gemeinde, die er in der Schnoke »Der falsche Kaschtan« (1820) verlacht hatte 4 , genötigt und durch wohlwollende Kritiken ermutigt, ging er 1822 nach Wien, absolvierte dort die »publizistische Schule« 5 in Bäuerles »Theaterzeitung« und war als Mitarbeiter verschiedener Wiener und deutscher literarisch-belletristischer Blätter tätig. 1825 verließ er Wien wieder - möglicherweise, u m Unannehmlichkeiten zu entgehen, die ihm durch mehrere satirische Aufsätze drohten. Nach einer ausgedehnten Reise durch Süddeutschland ließ sich Saphir in Berlin nieder, w o m i t »die Scandalperiode seines Daseins« ihren Anfang nahm 6 . Ein in der Spenerschen Zeitung abgedrucktes Gedicht, in d e m er die gefeierte Sopranistin Henriette Sontag verspottete, machte Saphir z u m Tagesgespräch. Mit der von ihm seit 1826 herausgegebenen »Berliner Schnellpost«, dem ein Jahr später gegründeten »Berliner Courier« - mit dem er die aktuelle Nachtkritik von Theateraufführungen in Berlin einführte - und dem 1827 und 1828 erscheinenden »Berliner Theateralmanach« befestigte er, der »sensationslüsterne Journalist« 7 , seinen durch Skandale und Skandälchen erworbenen, etwas zweifelhaften R u h m . Wie später in München und Wien resultierte der ungeheure Publikumserfolg des »ebenso ränkevollen als dreisten Journalisten« 8 — so Minister von Schenkmann 1827 - vornehmlich aus seinen mit beißendem Spott und boshafter Satire durchsetzten Theaterkritiken und Rezensionen. Die angegriffenen Künstler und Bühnendichter reagierten zunächst mit Beschwerden bei König Wilhelm III., der Saphir wohlgesonnen war; schließ-

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lieh ließen sie 1828 eine gegen ihren »Herausforderer« gerichtete Erklärung in Berliner Zeitungen einrücken. Saphir nahm den Fehdehandschuh auf und antwortete mit der mehrfach aufgelegten Flugschrift »Der getötete und dennoch lebende M. G. Saphir oder 13 Bühnendichter und ein Taschenspieler gegen einen einzelnen Redakteur«. Zusehends wurde die Stimmung gegen ihn gereizter, Börne wagte ihn nur noch heimlich zu besuchen; auch Hegel, der Saphir eigentlich gewogen war, hatte ihn vorsichtshalber bereits 1826 aus seiner abendlichen Gesprächsrunde ausgeschlossen. Als ihm der Stuttgarter Verleger Friedrich Gottlob Franckh in dieser Situation das Angebot unterbreitete, für ihn in München tätig zu werden, nutzte Saphir diese Chance, Berlin zu verlassen nicht zuletzt auch, um den gegen ihn eingeleiteten Beleidigungsklagen zu entgehen. Im Dezember 1829 übersiedelte er in die bayerische Hauptstadt, wo damals noch ein zensurpolitisch günstigeres Klima herrschte. Am 2. Januar 1830 erschien die erste N u m m e r des Unterhaltungsblattes »Der Bazar fur München und Baiern«. Und schon wenige Wochen später war Saphirs Name wieder in aller Munde. Ende Februar wußte der preußische Gesandte in München nach Berlin zu berichten, daß Saphir mit seinem »Bazar« in München bereits 'den Ton angebe': »Da er mit seiner spitzen Feder meistens nur das Theater und öffentliche Institutionen angreift, wobei er Personen von Rang verschont, ist er in der Gesellschaft ziemlich beliebt«9. Wie bereits in Berlin, widmete sich Saphir auch in München vor allem der Theaterkritik, in deren Mittelpunkt nun das Hoftheater stand: »Die hiesigen Schauspieler«, schrieb er am 19. Februar 1830 im »Bazar«, »sind von jeher gewohnt gewesen, nur gelobhudelt zu werden. Die Kritiker schmarozten bei ihnen, bekamen Freibilette und lobhudelten nach Bequemlichkeit. Mit der Theaterflihrung und Regie war es auch nicht besser. Die ganze Stadt sah den Verfall des Theaters, aber die käufliche und feigherzige Kritik lobhudelte, 600 Freibilette klatschten und das gebildete Publikum that was alle gebildete Publikümer thuen, es schweigt oder sagt unter sich: das Theater wird doch gar zu schlecht! Nun kam ich hieher und enthüllte offen die Mängel des Theaters, die Linkheit der Leitung, die Faulheit der Regie, die Ledernheit des Repertoirs, und die Vernachlässigung so mancher Pflicht, die ein Theater gegen das gebildete Publikum und die Abonnenten hat. Natürlich hieß das in ein Wespennest stechen ...«. Während der gefeierte Hofschauspieler und Regisseur Ferdinand Eßlair Saphirs scharfe Angriffe zum Anlaß nahm, beim König vergebens - um seine »Quieszierung« nachzusuchen, beschwor der Maler Jakob Friedrich Hahn, der während des Faschings mehrfach »des Saphirs etwas bösartige carricaturähnliche Figur, kennbar für jedermann«, dargestellt hatte10, einen Skandal herauf. Unter den anfeuernden Zurufen des Hofrats Klebe, dem Redakteur der »Flora«, verprügelte er auf offener Straße Saphir, der ihn im »Bazar« als »freiherrlichen Haushahn« des Hoftheaters verspottet hatte11. Während Hahn und Klebe aus den fuhrenden gesellig-literarischen Vereinen ausgeschlossen wurden, avancierte Saphir nun zum Liebling des 103

Münchner Publikums. Der »Bazar« gewann so viele Abonnenten, »daß mehrere andere Redakteure bereits den heroischen Entschluß gefaßt haben sollen, sich aus Subskription durchprügeln zu lassen, um ein künstliches Steigen der Aktien ihrer Journale zu bewirken«, heißt es am 12. März 1830 im »Hesperus«. Selbst die vornehmste Münchener Gesellschaft, das »Museum«, bemühte sich um Saphir und lud ihn zu einem - im selben Jahr noch im Druck erschienenen — Vorlesungszyklus ein, der nach dem Urteil Eduard von Schenks zwar »witzig, aber ohne allen gediegenen Gehalt« war12. Da Saphir, obgleich er mehrfach behördlich verwarnt wurde, auch weiterhin nicht von seinen »heftigen Angriffen gegen die Theater=Intendanz« abließ", verfugte Ludwig I. schließlich am 6. November 1830 persönlich Saphirs Ausweisung: »Sie [ = Eduard von Schenk] lassen morgen früh Saphir eröffnen, daß er binnen drei Tage München und binnen drei folgenden Tage das Königreich zu verlassen habe. Ludwig« 1 4 . Vergebens waren Saphirs und seines Verlegers Bemühungen, den König zur Zurücknahme des Ausweisungsbefehls zu bewegen; am 20. November verließ Saphir sein Schwabinger Domizil »Moritzruh« in Richtung Frankreich. Die wenigen Monate, die Saphir in Paris verbrachte, verliefen ruhig und ohne Skandale. Er verkehrte mit Heine - dem er sich gleichrangig empfand — und Börne, hielt Vorträge in den Salons und vor dem König. Obwohl - wie Börne im Januar 1831 bemerkte - »sein Anfang . . . nicht schlecht« war15, da die Pariser Presse von Saphirs Ausweisung aus Bayern ausführlich berichtet hatte, blieb sein Wirkungskreis beschränkt. Er bemühte sich daher um die Genehmigung zur Rückkehr nach München und erhielt sie; am 26. Juni 1831 verfugte Ludwig I.: »Wir haben dem Schriftsteller Saphir die Erlaubnis, sich in Augsburg aufhalten zu dürfen, bewilligt. Wir gestatten nun auch demselben, sich in Unserer Hauptstadt München begeben zu dürfen, behalten Uns jedoch ausdrücklich vor, auch anders verfügen zu können« 16 . Seit Anfang August gab Saphir den »Deutschen Horizont« heraus, »ein humoristisches Sofa- und Toilettenblatt für Zeit, Leben und sittliche Bildung«. Saphir scheint geläutert, scheint auf den neuen, antiliberalen Kurs des Königs einzuschwenken. D e m »Horizont« stellt er - in Abwandlung eines Schillerschen Epigramms über Religion - als Motto voran: »Zu welcher Politik ich mich bekenne? Zu keiner, warum? Aus Politik«. Das heißt jedoch nicht, daß Saphir unpolitisch war: Neben Wirths »Deutscher Tribüne« gilt Saphirs »Horizont« als führendes 'Polenorgan'; gleichzeitig stand er aber auch in Metternichs Sold, denunzierte diesem mißliebige, oppositionelle Publizisten wie Johann Georg August Wirth und versicherte dem österreichischen Gesandten in München, er werde »schriftstellerisch thätig im Sinne E. D". [Metternichs] zu wirken suchen«. » U n d sobald es sich darum handelt«, berichtet Graf Spiegel weiter, »mit der kräftigen Waffe des Lächerlichmachens oder des Witzes verschiedener Art und solchartiger Bekämpfung dem Prinzip des Bösen entgegenzutreten, so wird seine überlegene Feder wohl durchgehends den Sieg erringen« 17 . Aber Saphir war »vorsichtiger geworden« 18 . 104

Im Januar 1832 trat er, um seiner Karriere willen, zum Protestantismus über, was ihm in Berlin noch verweigert worden war; die Taufe änderte jedoch nichts an seinem Engagement für die vollständige Emanzipation der Juden. Im darauffolgenden Monat ernannte ihn Ludwig I. zum Hoftheaterintendanzrat; mit dem »hochtrabenden Titel« war aber »keinerlei Einfluß . . . verbunden«". Neben seinem vielfältigen literarischen Schaffen in dieser Zeit gab Saphir seit 1833 wiederum den vorwiegend der Theaterkritik gewidmeten »Bazar« heraus und von Januar bis Juni 1834, vom Innenministerium dazu beauftragt, zwei regierungskonforme Blätter, den »Bayerischen Beobachter« und das »Münchner Conversationsblatt«. Damit endete Saphirs journalistische Tätigkeit in München; die letzte N u m m e r des »Conversationsblattes« meldete lapidar, daß Saphir, das »Stadtoriginal« 20 - wie Georg Josef Wolf ihn später nicht zu unrecht titulierte - , in »Familienangelegenheiten« abgereist sei. Der Weggang war endgültig; 1836 beschied Ludwig I. Saphirs Bitte um Rückkehr mit einem kategorischen Nein: »Das Visa soll Saphir zu verweigern die Weisung erteilt werden« 21 . Saphir kehrte nach Wien zurück und wurde wiederum Mitarbeiter an Adolf Bäuerles »Theaterzeitung«. Erst 1837 wurde ihm die Erlaubnis zur Herausgabe eines eigenen Blattes, »Der Humorist«, erteilt. Trotz großen Publikumserfolges machte Saphir sich auch in Wien durch »ungerechtfertigte Literatur- und Kunstkritiken« wie durch »sein Eintreten für das Regime und nicht zuletzt [durch] seine Bestechlichkeit« unbeliebt 22 . »Saphir war nur unparteiisch in bezug auf Meteor-Steine, weil es zu diesen keine Relation gab«, erinnert sich Friedrich Hebbel 1860 an Saphirs Wirken in Wien23. Grillparzer und vor allem der von Saphir heftig befehdete Nestroy verabscheuten, ja haßten ihn. Seine Bestechlichkeit veranlaßte den liberal-oppositionellen Dramatiker Eduard von Bauernfeld, Saphir in dem Lustspiel »Der historische Salon« erbarmungslos bloßzustellen; und Hans von Bülow berichtet 1853 seiner Mutter über einen Verriß der Schauspielerin Marie Bayer-Bürck durch Saphir: »Sie hat ihn [nämlich] weder mit Geld noch mit Complimenten bezahlt« 24 . Der Maler Josef Danhauser, wiederholt von Saphir im »Humoristen« angegriffen, rächte sich 1841 mit der sarkastischen Karikatur »Hundekomödie«. U n d doch, Saphir spielte im Wien vor 1848 eine bedeutsame Rolle; er war eine »Wiener Institution« 25 . Insbesondere seine meist wohltätigen Zwecken dienenden »Akademien« - humoristische Vorlesungen und deklamatorische Abende erfreuten sich großer Beliebtheit; Hebbel notierte einmal nach einem fröhlichen Abend bei Saphir, an dem dieser »in seinem besten Humor« gesprüht hatte: »Ein paar Geschichten zum Totlachen für mich; 70 Trauerspiele wert« 26 . Nach 1848 sank Saphirs Stern. In den Märztagen der Revolution war er als Vorreiter der Pressefreiheit zwar noch zum Präses des Wiener Schriftstellervereins gewählt worden, entsagte aber nach Hebbels Intervention bereits nach 48 Stunden dieser Würde, verließ die Stadt, übersiedelte nach Baden bei Wien und kehrte erst zurück, nachdem sich die Lage beruhigt hatte. Mit dem seit 1850 erscheinenden »Humoristisch-satyrischen Volks-Kalender« gelang Saphir 106

nochmals ein großer Wurf, zumindest was die Auflagenhöhe von 16000 bis 20000 Exemplaren betrifft. 1853 bzw. 1855 unternahm er erneut Reisen nach Brüssel und Paris; 64jährig starb Moritz Gottlieb Saphir am 5. September 1858 in Baden bei Wien. Wie zu Lebzeiten blieb auch nach seinem Tod seine literarische Bedeutung umstritten; die Literaturgeschichte sah und sieht ihn als Randerscheinung. Er besaß »ein seltenes Talent für witzige Wortspiele, war aber im übrigen ein ganz seichter Kopf«27 - so der Tenor des Urteils über Saphir, sieht man von der geradezu panegyrischen Würdigung Heinrich von Levitschniggs einmal ab. Andererseits erfreute sich Saphirs Oeuvre auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit, was zahlreiche Neuauflagen und eine mehrfach aufgelegte, 26 Bände umfassende Ausgabe seiner Schriften beweisen. Obgleich Saphirs (Nach-)Ruhm vornehmlich auf seinem pointierten Unterhaltungsjournalismus sowie den humoristischen Vorlesungen beruhte, trat er u. a. auch - mit wechselhaftem Erfolg — als Novellist und Lyriker hervor, wobei die erstmals 1847 erschienene Sammlung »Wilde Rosen« besondere Erwähnung finden muß. Im Vordergrund stand jedoch der mit Wortspielen und -witzen unterhaltende »gemüthliche Bösewicht« 28 , wie er sich selbst titulierte, der »Spaßmacher, wie ihn sich das enttäuschte, von der Verantwortung im Großen ausgeschlossene Bürgertum der Biedermeierzeit wünschte« 29 . Aber Saphir war nicht nur der mit Worten jonglierende »Witzbold«30. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich der exzentrische Journalist — trotz aller persönlichen Schwächen - als scharfsinniger Kritiker der biedermeierlichen Gesellschaft, die er mit Witz und Humor, mit Klatsch, Spott und Ironie unterhielt und karikierte.

Anmerkungen 1 Belege in der Reihenfolge: zit. bei Dirrigl, Michael: L u d w i g I. K ö n i g von Bayern 1825-1848, M ü n c h e n 1980, S. 756; Levitschnigg, Heinrich Ritter von: M . G. Saphir, in: A l b u m österreichischer Dichter, N. F. Wien 1858, S. 410 - 422, hier S. 410; Schaden, A d o l p h von: Gelehrtes M ü n c h e n im Jahre 1834, M ü n c h e n 1834, S. 91-99, hier S. 98 f. (Jean Paul); Levitschnigg, S. 419 (Dumas); zit. bei Müller, I r m g a r d : Saphir in M ü n chen. Eine U n t e r s u c h u n g über das E i n d r i n gen und den Einfluß jüdischer Journalisten in das M ü n c h e n e r Pressewesen 1825-1835, Diss. M ü n c h e n 1940 (antisemitisch, aber reich an Quellen), S. 13 (Shakespeare); Heinrich Laube zit. im Artikel »Saphir«, in: Wurzbach, C o n s t a n t von: Biographisches

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Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, T. 28, Wien 1874, S. 213-232, hier S. 227; Karl Goedeke zit. bei Müller, S. 14; Johann N e stroy zit. bei Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, Bd. 3, Stuttgart 1980, S. 204. Zit. bei Levitschnigg, S. 411. Saphir, Moritz G.: Meine M e m o i r e n , in: ders., Schriften, Bd. 23, Brünn, Wien, Leipzig o. J., S. 21 f., 35, 42, 57. Hierzu Bato, Y o m t o v L u d w i g : M o r i t z Gottlieb Saphir 1795 - 1858, in: Bulletin Leo Baeck Institute Nr. 5 (1958), S. 27-33, hier S. 28 f., u n d Saphir als Synagogendichter, in: Judaica 2 (1935), S. 16-19. Sengle, Bd. 2, Stuttgart 1972, S. 75.

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Wurzbach, S. 216. Sengle, Bd. 2, S. 75. Zit. bei Müller, S. 5. Chroust, Anton (Bearb.): Gesandtschaftsberichte aus München 1814-1848, Abt. III, Bd. 2, München 1950, S. 154: »Comme il n'attaque ordinairement avec sa plume caustique que le theatre et les institutions publique, en menageant les personnes de rang, il est assez goute par la societe«. Chroust, Abt. II, Bd. 2, München 1941, S. 258. Bazar Nr. 47 v. 25.2.1830. Spindler, Max (Hg.): Briefwechsel zwischen Ludwig I. von Bayern und Eduard von Schenk, München 1930, S. 130. Schaden, S. 97. Zit. bei Müller, S. 39. Börne, Ludwig: Briefe aus Paris, Wiesbaden 1986, S. 107. Zit. bei Müller, S. 46. Chroust, Abt. II, Bd. 1, S. 378. Chroust, Abt. III, Bd. 1, S. 236 f. Barthel, Manfred: Mutterwitz und Vatermörder. Moritz Gottlieb Saphir und seine Zeit, in: ders. (Bearb.): Moritz Gottlieb Saphir, Mieder und Leier. Gedankenblitze aus dem Biedermeier, Ölten, Freiburg i. Breisgau 1978, S. 166-179, hier S. 176. Wolf, Georg Josef (Hg.): Ein Jahrhundert München, 1800-1900, München 21921, S. 135.

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21 Zit. bei Müller, S. 12. 22 Bisanz, Hans: Biedermeier und Zensur, in: Bürgersinn und Aufbegehren. Biedermeier und Vormärz in Wien 1815-1848, Wien 1987, S. 620-622, hier S. 621. 23 Hebbel, Friedrich: Tagebücher 1848-1863, Bd. 3, München 1984, S. 272. 24 Bülow, Hans von: Briefe und Schriften, hg. v. Marie von Bülow, Bd. 2, Leipzig 1895, S. 24. 25 Toury, Jacob: Moritz Saphir und Karl Beck — zwei vormärzliche Literaten Österreichs, in: Grab, Walter/Schoeps, Julius H. (Hgg.): Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848, Stuttgart, Bonn 1983 (=Studien zur Geistesgeschichte, Bd. 3), S. 138-156, hier S. 142. 26 Hebbel, S. 132. 27 Artikel »Saphir«, in: Meyers Großes Konv e r s a t i o n s l e x i k o n , Bd. 17, Leipzig, Wien 1909, S. 596. 28 Zit. bei Kahn, Lothar: Moritz Gottlieb Saphir, in: Yearbook Leo Baeck Institute 20 (1975), S. 247-257, hier S. 252. 29 Sengle, Bd. 2, S. 76. 30 Houben, Η. H.: Der ewige Zensor. Längsund Querschnitte durch die Geschichte der Buch- und Theaterzensur, Nachdruck Kronberg/Taunus 1978, S. 79.

Hendrikje Kilian

Rabbiner Hirsch Aub (1796-1875) und Familie

»Seit dem Anfang des Jahres 1826 bei der hiesigen israelitischen Kultusgemeinde als Rabbiner angestellt,... ist es mir gelungen die Zufriedenheit der mir vorgesetzten Stellen Eurer königlichen Majestät so wie die Achtung, das Vertrauen, und die Liebe meiner Gemeinde mir zu erwerben«'. Mit diesen Worten charakterisierte der Münchner Rabbiner Hirsch Aub im Jahr 1840 seine Amtsführung. Hirsch Aub, der von allen Münchner Rabbinern des 19. Jahrhunderts sein Amt am längsten ausübte, stammte aus Mittelfranken. Er wurde am 10. Januar 1796 in Baiersdorf geboren 2 , seine Ausbildung erhielt er an der Talmudhochschule in Prag und an der Universität, der er im Studienjahr 1826/27 als Student der philosophischen Fakultät angehörte 3 . Die seit dem Erlaß des Judenedikts 1813 vorgeschriebene Rabbinerprüfung legte Aub vor der Regierung des Obermainkreises ab4. 1825 bewarben sich vierzehn Rabbinatskandidaten um die Nachfolge des 1824 verstorbenen Rabbiners Hesekiel Hessel. Die Gemeinde entschied sich für Hirsch Aub, der am 17. Dezember 1825 einen Probevortrag in deutscher und hebräischer Sprache gehalten hatte. Er begann seine Tätigkeit zu Beginn des Jahres 1826, die Bestätigung seiner Anstellung durch die Regierung des Isarkreises erfolgte jedoch erst am 6. Mai 1828s. Zu den ersten Amtshandlungen Hirsch Aubs gehörte die Einweihung der neuerbauten Synagoge. Beim Eröffnungsgottesdienst, der am 21. April 1826 festlich begangen wurde, hielt er die Ansprache 6 . Die Errichtung der Synagoge geschah in einer Zeit, in der die Form des jüdischen Gottesdienstes bedeutenden Wandlungen unterworfen war. Die Entstehung der jüdischen Reformbewegung, die u.a. deutsche Gebete sowie Orgelmusik und Chorgesang in den Gottesdienst einfuhren wollte, zog in vielen Gemeinden eine Polarisierung der Mitglieder nach sich, die in einigen Fällen sogar zur Trennung der Reformanhänger von den orthodoxen Gemeindemitgliedern führte. Hirsch Aub nahm innerhalb dieser Auseinandersetzungen eine vermittelnde Position ein. Zwar lehnte er die meisten Forderungen der Reformer ab, doch zeigte er sich einigen von der Reformbewegung angeregten Neuerungen gegenüber durchaus aufgeschlossen. So gehörte er zu den Initiatoren der 1832 erfolgten Chorgründung 7 . Seine Einstellung zur Reform beschreibt er folgendermaßen: »Höchstens könnte mir von manchem Moder109

nen und Neuerungssüchtigen zum Vorwurfe gemacht werden, daß ich den umwälzenden und zerstörenden Grundsätzen nicht zugetan war und bin. In meiner Synagoge ist der herkömmliche alte Ritus noch ganz beibehalten; nichts destoweniger ist aber zugleich die äußere Form durch anständiges Benehmen, durch geordneten Vortrag und Gesang wie nicht minder durch Chorgesänge und Predigt verschönert und verbessert« 8 . Trotz der in diesen Worten spürbaren Distanz zu den wesentlichen Forderungen der Reformbewegung verfolgte Hirsch Aub auch in den folgenden Jahren deren Entwicklung mit Interesse. Ebenso wie andere bayerische Rabbiner hatte er sich zur Teilnahme an der ersten 1844 in Braunschweig stattfindenden Rabbinerversammlung angemeldet 9 . Er wurde jedoch kein Anhänger der Reformbewegung, sondern blieb seiner neutralen Auffassung treu. Dieser Haltung ihres Rabbiners verdankt die Münchner Gemeinde ihre im Gegensatz zu anderen Gemeinden lange gewahrte Einheit. Eine entschiedenere Position innerhalb der religiösen Auseinandersetzungen nahm dagegen ein anderes Mitglied der Familie Aub ein: Hirsch Aubs Vetter Joseph, der ebenfalls den Beruf des Rabbiners gewählt hatte. Joseph Aub unterstützte die Reformbewegung, deren Inhalte er in gemäßigter Form vertrat. Er gehörte zu den Mitarbeitern der von Abraham Geiger herausgegebenen »Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie«. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Joseph Aub durch seine 1862 veröffentlichte »Grundlage zu einem wissenschaftlichen Unterricht in der mosaischen Religion« bekannt. Nach zwanzigjähriger Tätigkeit im Dienst der Gemeinde Bayreuth wurde er 1850 Rabbiner in Mainz, 1866 übernahm Joseph Aub das Rabbineramt in Berlin10. Im Gegensatz zu seinem Vetter Joseph arbeitete Hirsch Aub nur in einer einzigen Gemeinde, an deren Leben er regen Anteil nahm. Aub war der Initiator mehrerer Vereinsgründungen. So berichtet die »Allgemeine Zeitung des Judentums«, daß er in den dreißiger Jahren einen Leseverein ins Leben gerufen habe". Einige Jahre später regte Aub die Gründung eines jüdischen Aussteuervereins an. Er engagierte sich jedoch nicht nur für die Mitglieder seiner eigenen Gemeinde, sondern betätigte sich auch im »Unterstützungsverein für israelitische Ackerbau- und Handwerkslehrlinge in Bayern«, dessen langjähriger Vorsitzender er war12. Zu den wichtigsten innergemeindlichen Aufgaben Aubs gehörte die Beaufsichtigung des Religionsunterrichts. Darüber hinaus erteilte er in den Jahren 1859 bis 1867 auch den Religionsunterricht für die jüdischen Schüler des Wilhelmsgymnasiums 13 . Für seine langjährige Tätigkeit in der Münchner Kultusgemeinde wurde Hirsch Aub anläßlich seines vierzigsten Dienstjubiläums am 19. Dezember 1865 das Ritterkreuz I. Klasse des Verdienstordens vom hl. Michael verliehen14. Fünf Jahre später, am 16. Dezember 1870, trat Aub auf eigenen Wunsch in den Ruhestand. Er hatte sich jedoch bereit erklärt, die Aufgaben des Rabbiners bis zur Wahl seines Nachfolgers weiterhin wahrzunehmen 15 . Daher legte er erst am 25. Mai 1871 in der Synagoge sein Amt nieder. Am selben 110

Tag erfolgte die Amtseinführung seines Nachfolgers, Dr. Joseph Perles16. Vier Jahre nach seinem Rücktritt starb Hirsch Aub am 2. Juni 1875 in Nürnberg. Die Trauerfeier in der Münchner Synagoge fand am 4. Juni 1875 statt17. Über das Schicksal der Ehefrau und der acht Kinder Hirsch Aubs lassen sich den Quellen nur wenig Angaben entnehmen. Therese Aub, die ihren Mann noch vor dessen Amtsantritt in München geheiratet hatte, starb im Alter von 71 Jahren am 25. Dezember 186418. Der älteste Sohn Simon, 1823 in Baiersdorf geboren, ging den für zahlreiche bayerische Juden im 19. Jahrhundert typischen Weg: Er wanderte nach Nordamerika aus. Die Trauregister der Münchner Gemeinde verzeichnen ihn im August 1853 als »Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika«". In München blieb dagegen eine der Töchter des Ehepaares Aub: Hanna Aub, die den Lehrer Abraham Wolfsheimer geheiratet hatte, lebte bis zu ihrem Tod am 18. April 1894 in der bayerischen Hauptstadt20. Sechs Jahre nach seiner Schwester starb mit Max Aub eine Persönlichkeit, die sich sehr engagiert für die Geschicke der jüdischen Gemeinde Münchens eingesetzt hatte. Ein Jahr vor dem Tod Hirsch Aubs, 1874, war Max Aub zum Vorstand der Kultusadministration gewählt worden21. Er wurde am 2. Januar 1828 in München geboren 22 und verbrachte seine Schulzeit am Wilhelmsgymnasium 23 . 1847 immatrikulierte er sich als Philosophiestudent an der Universität München 24 , 1863 trat der Jurist seine erste Advokatenstelle in Uffenheim an25. Sechs Jahre später wurde Max Aub auf eine am Bezirksgericht München links der Isar freigewordene Advokatenstelle versetzt26. Noch im selben Jahr wurde er - als erster Münchner Jude - in das Gremium der Gemeindebevollmächtigten gewählt 27 , dem er auch in den folgenden Jahren angehörte. Im Gegensatz zu seinem Vater nahm Max Aub innerhalb der jüdischen Gemeinde eindeutig Partei: Er war ein entschiedener Anhänger der Reformbewegung. Die in den siebziger Jahren vorgenommene Neugestaltung des Gottesdienstes geht im wesentlichen auf seine Anregungen zurück28. Max Aub führte die Geschäfte der Kultusadministration vier Jahre, 1878 legte er sein Amt nieder29. Er starb am 27. Mai 1901 im München. Fünfundzwanzig Jahre später starb mit Ludwig Aub, dem Sohn Max Aubs, die wohl am schwierigsten einzuordnende Persönlichkeit der Familie Aub. Ludwig Aub, der am 4. August 1862 in München geboren wurde 30 , war zunächst als Buchhändler und Antiquar, später auch als Schriftsteller tätig. Bekannt aber wurde er vor allem durch seine Tätigkeit als Graphologe, dessen Dienste sowohl von Künstlern als auch von Ärzten in Anspruch genommen wurden 31 . Ebenso wie sein Vater und Großvater lebte Ludwig Aub bis zu seinem Tod am 25. November 1926 in München 32 . Die Lebensläufe von Hirsch, Max und Ludwig Aub zeigen beispielhaft, welch großen Veränderungen die religiösen Auffassungen der deutschen Juden unterworfen waren. Hatte Hirsch Aub versucht, zwischen der traditionellen Position und den Reformern zu vermitteln, so unterstützte sein Sohn Max bedingungslos die Forderungen der Reformbewegung. Im Leben Ludwig 111

Aubs dagegen spielten die Belange der jüdischen Gemeinde nur noch eine untergeordnete Rolle.

Anmerkungen 1 Gesuch Hirsch Aubs vom 22.6.1840, Staatsarchiv München (StA), RA Fasz. 2091, Nr. 33883. 2 Baerwald, Leo/Ludwig Feuchtwanger (Hgg.): 50 Jahre Hauptsynagoge München 1887-1937, S. 20. 3 Baerwald, S. 20; Freninger, Franz Xaver: Matrikelbuch der Universität IngolstadtLandshut-München, München 1872, S. 170. 4 Baerwald, S. 20. 5 Baerwald, S. 20; StA München, Polizeidirektion 4587. 6 »Feierliche Einweihung der Synagoge in München den 21. April 1826«, München 1826, Abschnitt IV. 7 Zur Entstehung des Münchner Synagogenchores vgl. StA München, RA Fasz. 2090, Nr. 33874. 8 StA München, RA Fasz. 2091, N r 33883. 9 Allgemeine Zeitung des Judenthums. Ein unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse, hg. v. Ludwig Philippson, Leipzig 1837-1922 (im folgenden AZJ). Die Anmeldung Hirsch Aubs zur Rabbinerversammlung wurde der Ausgabe vom 6.5.1844, 8. Jg., No. 19, S. 257 entnommen. 10 Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in fünf Bänden, begr. v. Georg Herlitz u. Bruno Kirschner, Berlin 1927-1930, Bd. 1, S. 559. 11 AZJ v. 2.11.1837, 1. Jg., No. 92, S. 368. 12 AZJ v. 19.4.1864, 28. Jg., No. 17, S. 795. 13 Jahresbericht vom k. Wilhelmsgymnasium

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zu München, bekannt gemacht bei der öffentlichen Preisverteilung am Schlüsse des Schuljahres, München 1859-1872. Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Ordensakten 12949. AZJ v. 21.6.1870, 34. Jg., No. 25, S. 499.· Chronik der Stadt München, Eintragung vom 25.5.1871, S. 942 f. Chronik der Stadt München, Eintragung vom 4.6.1875, S. 554 f. BayHStA, Jüdische Standesregister 15. BayHStA, Jüdische Standesregister 6. BayHStA, Jüdische Standesregister 16. Baerwald, S. 45. BayHStA, Jüdische Standesregister 1. Leitschuh, Max (Bearb.): Die Matrikeln der Oberklassen des Wilhelmsgymnasiums in München, Bd. 4, München 1976, S. 38. Freninger, S. 292. BayHStA, MInn 33886. BayHStA, MInn 33886. Chronik der Stadt München, Eintragung vom 9.12.1869, S. 652. Baerwald, S. 45 f. Baerwald, S. 45. BayHStA, Jüdische Standesregister 3. Die Persönlichkeit Ludwig Aubs wird geschildert in einem mit dem Titel »Menschenwitterung« überschriebenen Artikel von Bernhard Diebold, der am 21.11.1926 in der »Frankfurter Zeitung« erschien. BayHStA, Jüdische Standesregister 15.

Max Direktor

Hirsch Kutz (1802-?), Buchbinder in Mönchsdeggingen

Hirsch Kutz wurde im Jahr 1802 als Sohn des Güterhändlers Meier Kutz in Mönchsdeggingen, am Rande des Rieses, geboren 1 . In Mönchsdeggingen waren im Jahr 1813 54 jüdische Familien ansässig, die sich fast ausschließlich von Handel ernährten 2 . Das Leben des Hirsch Kutz sollte geprägt sein von den Paragraphen 12 und 13 des »Edikts über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreich Baiern« aus dem Jahr 1813, in denen festgelegt wurde, daß die »Zahl der Judenfamilien an Orten, so sie dermal bestehen«, in der Regel nicht vermehrt werden dürfe, eine Ansässigmachung über die festgelegte Zahl der jüdischen Familien hinaus der »allerhöchsten Stelle« vorbehalten bleiben müsse und nur unter gewissen Voraussetzungen, z . B . bei Ergreifung eines ordentlichen Handwerks, genehmigt werden dürfe 3 . Hirsch Kutz besuchte die Werktags- und Sabbathschule. Im Alter von 14 Jahren trat er eine Lehre bei Buchbindermeister Christoph Betz in Bissingen, nur etwa eineinhalb Fußstunden von seinem Heimatort entfernt, an. Seine Lehrzeit betrug drei Jahre, sie ging also 1819 zu Ende 4 . Wo er in den nächsten Jahren arbeitete, ist nicht bekannt. Im Jahr 1824 sollte er seiner Militärpflicht genügen, wurde aber aufgrund seines Augenschadens für untauglich erklärt 5 . Im September des gleichen Jahres begann er seine Wanderschaft und arbeitete sieben Monate - vermutlich bei seinem Lehrherrn - in Bissingen. Dort war er auch zu Beginn des Jahres 1826 für sechs Wochen tätig. Im Jahr 1827 legte er in Dillingen die Meisterprüfung ab. 1832 stellte er zum erstenmal den Antrag auf Ansässigmachung und Verleihung einer Buchbinderkonzession in Mönchsdeggingen. Dieser Antrag wurde jedoch abgelehnt, da Kutz die vorgeschriebene Wanderzeit von drei Jahren noch nicht erfüllt habe 6 . Auch ein Antrag auf Dispensation von der Wanderschaft aufgrund körperlicher Unfähigkeit wurde abgelehnt 7 . Hirsch Kutz holte die noch erforderliche Zeit nach und arbeitete ein Jahr in Dillingen, etwa ein Jahr in Höchstädt und vier Monate in Lauingen. Im August 1835 stellte er erneut den Antrag auf Ansässigmachung und Verleihung der Buchbinderkonzession unter Vorlage des Zeugnisses der Stadt Dillingen über die erfolgte Meisterprüfung aus dem Jahr 1827. Das Herrschaftsgericht Harburg lehntejedoch den Antrag ab mit der Begründung, das Zeugnis stamme aus einer Zeit, als er die Wanderschaft noch nicht zurückgelegt habe 113

und sei daher als nichtig anzusehen. Hirsch Kutz erklärte sich bereit, die Prüfung nachzuholen, bestand sie allerdings vor der Prüfungskommission in Nördlingen nicht. Im November 1835 kaufte Hirsch Kutz ein Haus mit Wurz- und Krautgarten sowie Gemeindenutzungsrecht für 375 Gulden. Im Januar 1837 bat er, sein Gesuch erneuern zu dürfen; er habe sich zu perfektionieren gesucht, in Höchstädt gearbeitet und dann vor der Gewerbeprüfungskomission die wiederholte Prüfung bestanden. Sein Gesuch lautete auf Ansässigmachung auf das erkaufte Haus und Erteilung der Buchbinderkonzession. Weiter erklärte er, das Haus sei mit keinen Schulden belastet, sein Vater stelle ihm ein Vermögen von 600 Gulden zur Verfügung, außerdem beabsichtige er, derzeit noch nicht zu heiraten. Zwar sei in Deggingen keine Matrikel offen, dagegen aber spreche das Edikt vom Jahre 1813 dahin zu seinen Gunsten, daß es ordentlichen bürgerlichen Gewerben die Ansässigmachung auch über und außer der Matrikel gestatte. Das Gesuch wurde nun der Gemeinde Mönchsdeggingen vorgelegt. Diese erklärte, daß sich Hirsch Kutz als Buchbinder leicht ernähren könne, daß es der Gemeinde nicht schädlich sei, ihm diese Konzession zu verleihen, ob er allerdings eine Familie damit ernähren könne, könne man nicht beurteilen. Der jüdische Armenpflegschaftsrat Schloß sich im wesentlichen dem Gutachten der Gemeinde an. Das Herrschaftsgericht eröffnete dem Bewerber daraufhin, daß ihm die Buchbinderkonzession und die Erlaubnis zur Ansässigmachung »vorbehaltlich allerhöchster Genehmigung« erteilt worden sei. Zur Begründung wird angeführt, daß Hirsch Kutz bereits 35 Jahre alt sei und an den Augen leide, weshalb er in Städten kaum Arbeit als Geselle finden könne und somit wenig Gelegenheit finden würde, sich höher auszubilden. Im Gerichtsbezirk sei nur ein Buchbinder tätig, und in einer größeren Judengemeinde würde Hirsch Kutz auch Arbeit finden. Die weitere Verweigerung der nachgesuchten Konzession würde den Antragsteller zwingen, zu dem sogenannten schädlichen Handel der Juden zurückzukehren. Die fürstliche Standesherrschaft Öttingen-Wallerstein wandte jedoch ein, daß durch die Verleihung der Gewerbekonzession der Titel der Ansässigmachung begründet werde und somit die Erlaubnis zur Verehelichung gesetzlich nicht verweigert werden könne: »Indessen ist jede Gewerbs Concession in der Voraussetzung gesetzlich bedüngt, daß dieselbe den Unterhalt einer Familie begründe, dieses ist aber nach den Erklärungen der Gemeinde und des Armenpflegschaftsrathes bei der von Hirsch Kutz nachgesuchten Buchbinder Concession der Fall nicht«. Das Gesuch wurde deshalb abgewiesen. Ein halbes Jahr später legte Hirsch Kutz vor Gericht einen Ehevertrag vor und erbat die Erlaubnis zu Ansässigmachung, Verehelichung und Gewerbekonzession. Aus dem Vertrag geht hervor, daß beide Ehepartner jeweils 600 Gulden mit in die Ehe bringen wollten; nun hatten auch die Gemeinde und der Armenpflegschaftsrat keine Einwände mehr, auch das Herrschaftsgericht und 114

der fürstliche Standesherr Öttingen-Wallerstein stimmten zu, wiederum »vorbehaltlich der allerhöchsten Genehmigung«. Den Weg bis hierher hätten auch christliche Bewerber in ähnlicher Weise zurücklegen müssen, wobei jedoch anzumerken ist, daß vielen bereits ein Vermögen von weniger als 600 Gulden zur Ansässigmachung, Verehelichung und Konzessionserteilung ausgereicht hätte. Aufgrund der Tatsache aber, daß keine Matrikelnummer frei war, mußte die Entscheidung nun der Regierung von Schwaben und Neuburg vorgelegt werden. Diese lehnte im Mai 1838 »Im Namen Seiner Majestät des Königs von Bayern« das Gesuch ab, weil ein ausreichender Nahrungsstand nicht gewährleistet sei. Hirsch Kutz gab sich mit dieser Entscheidung nicht zufrieden. Bereits vier Monate später brachte er vor, er habe sich u m die Aufbesserung seines Nahrungsstandes bemüht, indem er von seinem Bruder Marx Kutz, der in Mönchsdeggingen Landbau betrieb, insgesamt zwei Morgen Ackerland für 350 Gulden erkauft habe. Sein Bruder habe zugleich die Verbindlichkeit übernommen, diese Güter unentgeltlich zu bestellen, was er leicht tun könne, da er einen eigenen Anspann besitze. Im April 1839 erklärte die Regierung, daß es bei der abweislichen Entscheidung zu verbleiben habe, da Hirsch Kutz zwar einen Teil seines Kapitals für Grundstückskäufe verwendet habe, sich dadurch seine Vermögensverhältnisse insgesamt aber nicht verändert hätten. Inzwischen war auch Weisung an das Herrschaftsgericht ergangen, Bericht zu erstatten, ob dieser Güterhandel erlaubt sei, d. h., ob nicht Marx Kutz sich auf einem nachgewiesenen Grundbesitz ansässig gemacht habe, welcher ja nun geschmälert wäre. Das Herrschaftsgericht legte daraufhin ein Protokoll vor, daß Marx Kutz in der Folgezeit wieder Güter aufgekauft habe, und zwar mehr, als er seinem Bruder überlassen habe. Auch als Hirsch Kutz im November 1840 anbot, die Väter beider Eheleute seien bereit, das Heiratsgut jeweils um 300 Gulden zu erhöhen, so daß ein Vermögen von 1800 Gulden bestehe, lehnte die Regierung sein Ansuchen ab. Hirsch Kutz wandte sich daraufhin an einen Advokaten in Dillingen, doch auch dessen »allerunterthänigste Bitte« stimmte die Regierung nicht um. Erst im Jahr 1851 gelang es Hirsch Kutz, die begehrte Matrikelnummer zu erhalten, und zwar von Lazarus Murr, der in Mönchsdeggingen eine Schnittund SpezereiWarenhandlung besaß. Er legte eine Erklärung über die Abtretung dieser N u m m e r vor. Damit konnte die »K. Gerichts- und Polizeibehörde«, die nach Aufhebung der standesherrlichen Gerichtsbarkeit im Jahr 1848 aus dem Herrschaftsgericht Harburg entstanden war, die Ansässigmachung und Konzession auch ohne Zustimmung der Regierung erteilen8. Die Heiratspläne des Hirsch Kutz hatten sich inzwischen zerschlagen. Ein Jahr später heiratete er im Alter von 50 Jahren Vögelin Döblitz, Tochter eines Handelsmanns von Schopfloch, die ihm 900 Gulden mit in die Ehe brachte'. N u n werden Hinweise auf Hirsch Kutz spärlicher. Vieles ist j a nur dadurch erhalten, daß sich sein Wunsch, ein bürgerliches Gewerbe auszuüben, worin er sich durch das Judenedikt von 1813 bestärkt sah, über so lange Zeit hingezogen 115

hat. Seine Ehe blieb kinderlos 10 , seine Frau starb im Jahr 1859 an Wassersucht". Bereits ein halbes Jahr später heiratete er Regine Clevi, Tochter eines Handelsmanns aus Roth, die ebenfalls 600 Gulden mit in die Ehe brachte12. Im Jahr 1879 löste sich die Israelitische Kultusgemeinde Mönchsdeggingen auf. Schon in den sechziger Jahren hatte eine Abwanderungsbewegung eingesetzt: »Ganze Sippen wanderten in die nächsten Städte und Großstädte ab oder zogen noch weiter in die Vereinigten Staaten. In dieser Entwicklung ist die Judengemeinde Mönchsdeggingen ein durchaus typisches Beispiel einer jüdischen Landgemeinde der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bayern. Gründe für diese Abwanderungsbewegung waren die neuen und verbesserten Vermarktungsmöglichkeiten in Handel und Gewerbe« 13 . Auch Hirsch Kutz verließ seinen Heimatort, zog nach Nördlingen und verkaufte im Jahr 1880 sein Haus in Mönchsdeggingen 1 4 . Ein letzter Hinweis auf ihn findet sich im Gräberverzeichnis von Mönchsdeggingen, in dem seine erste Frau erwähnt wird: »Vögele Kutz, Ehefrau des Hirsch Kutz« und daneben in anderen Schriftzügen: »Buchbinder (blind), genannt der blinde Hirschl« 15 .

Anmerkungen 1 Staatsarchiv Neuburg an der Donau ( S t A N D ) , Herrschaftsgericht Harburg 360. 2 S t A N D , Regierung 3902 IV. 3 Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1813, S. 921. 4 S t A N D , Herrschaftsgericht Harburg 360. 5 S t A N D , Herrschaftsgericht Harburg 682. 6 S t A N D , Herrschaftsgericht Harburg 360. 7 S t A N D , Herrschaftsgericht Harburg 682. 8 S t A N D , Herrschaftsgericht Harburg 360. Die Verweigerung der Ansässigmachung und Gewerbekonzession durch die Regierung zeigt zumindest ein starres Festhalten am sogenannten Matrikelparagraphen. Inwieweit politische Motive sich in dieser Hinsicht im Laufe der Jahrzehnte veränder-

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ten, müßte in einer eigenen Untersuchung geklärt werden. S t A N D , Herrschaftsgericht Harburg 361. S t A N D , Landgericht ä.O. Nördlingen, A n sässigmachungs- und Verehelichungsakten K/458. S t A N D , Bezirksamt Nördlingen 1930. S. Anm. 10. Illian, Martina: Judengemeinde u n d j u d e n friedhof von Mönchsdeggingen, in: Rieser Kulturtage, Dokumentation, B d . VI/1, 1986, Nördlingen 1987, S. 342. Staatsarchiv München, Notariat Nördlingen 2, Jahrgang 1880, Nr. 253. S t A N D , Israelitische Standesregister 44.

Wilhelm Füßl

Friedrich Julius Stahl (1802-1861). Vom bayerischen Juden zum preußischen Konservativen

Persönlichkeit und Werk Friedrich Julius Stahls sind in der Beurteilung der Zeitgenossen wie der Forschung mit sehr unterschiedlichen Einschätzungen verbunden, die in vielen Fällen von vorschnellen Zuweisungen geprägt sind. Einordnungen Stahls als »Reaktionär« oder »konvertierten Juden« haben eine differenzierte Betrachtung seiner wissenschaftlichen, publizistischen und politischen Bedeutung häufig verhindert. Stahl war bereits zu Lebzeiten heftig umstritten. Für seinen einstigen Lehrer Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling war Stahl ein »sophistisch jüdelnder Schwätzer«1. Selbst frühere Anhänger distanzierten sich schon bald nach seinem Tod von ihm. Symptomatisch dafür darf das Urteil des späteren Reichskanzlers Bismarck gelten, der anläßlich des Erfurter Unionsparlamentes im Jahr 1850 von dem »geliebten Stahl«2 gesprochen hatte, während er schon einige Jahre später in ihm nur den getauften Juden sah3. Die widersprüchlichen Einschätzungen scheinen durch Stahls Lebensweg zusätzlich genährt zu werden. Aufgewachsen im Haus seines Großvaters Abraham Uhlfelder, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde in München war, gab der 17-jährige Julius Jolson unter dem Einfluß des Philologen Friedrich Thiersch seinen jüdischen Glauben auf und trat 1819 zur evangelisch-lutherischen Konfession über. Dieser Glaubenswechsel, der einer tiefen inneren Überzeugung entsprang, wurde fur Jolson, der bei seiner Taufe den Namen Stahl angenommen hatte, für sein gesamtes späteres Leben prägend. Während seines Studiums der Jurisprudenz in Würzburg, Heidelberg und Erlangen engagierte sich Stahl in der Burschenschaft; er wurde deswegen der Universität verwiesen und konnte seine Studien erst, nachdem einem Gnadengesuch stattgegeben wurde, abschließen. Dem ehemaligen Burschenschaftler wurde im Jahr 1830 die Redaktion der offiziösen Zeitung »Der Thron- und Volksfreund« übertragen, die König Ludwig I. persönlich angeregt hatte. Derselbe König, der noch 1831 eine Eingabe Stahls um ein regelmäßiges Gehalt mit den Worten: »Kann derselbe als Privatdocent nicht seinen Unterhalt erwerben, so mag er eine andere Laufbahn einschlagen«4 abgeschmettert hatte, berief Stahl 1832 zum Professor in Würzburg und zwei Jahre später nach Erlangen. Als Abgeordneter dieser Universität am Landtag 1837 traf Stahl erneut der Bannstrahl Ludwigs I., der fälschlicherweise Stahls Kritik am Budget als liberalen Angriff auf seine monarchischen Rechte interpretierte. 117

Stahl wurde der Lehre des Staatsrechts enthoben und mit dem als minder wichtig angesehenen Zivilrecht betraut. Diese Zurückstufung und die latente Gefahr, sein Amt als Hochschullehrer endgültig zu verlieren, waren ausschlaggebend dafür, daß Stahl 1840 an die Universität in Berlin wechselte. In Preußen stieg Friedrich Julius Stahl zu einem der gefeiertsten und angefeindetsten Professoren und Politiker seiner Zeit auf. Seine Vorlesungen galten als gesellschaftliche Ereignisse, die nicht nur von Studenten, sondern auch von Beamten, Politikern, Militärs und Ministern besucht wurden. Innerhalb der Universität genoß Stahl großes Ansehen, wenngleich ihn seine strikte Ablehnung der Lehren Hegels in häufigen Konflikt zur Studentenschaft treten ließ. Im Sinne einer universalen Geisteshaltung beschränkte Stahl seine Wirksamkeit nicht nur auf die Universität, sondern forderte und praktizierte ein engagiertes Auftreten in Staat und Kirche. Als Mitglied der preußischen Generalsynode 1846 sowie als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1848 bis 1861 zeigte er sich als lutherisch-konfessioneller Kirchenpolitiker5. Größere Bedeutung allerdings gewann Stahl in der Politik. Als Abgeordneter in der preußischen Ersten K a m m e r bzw. als auf Lebenszeit berufenes Mitglied des Herrenhauses von 1849 bis 1861 sowie als Parlamentarier im Erfurter Unionsparlament von 1850 etablierte sich Friedrich Julius Stahl als anerkannter Parteiführer der rechten Konservativen. Dabei formulierte er in seinen Vorlesungen, programmatischen Schriften und Artikeln für die konservative »Neue Preußische Zeitung«, die sogenannte »Kreuzzeitung«, die Grundpositionen des preußischen Konservatismus 6 ; er erwies sich als geschickter Organisator seiner Partei in Wahlkämpfen und im Parlament und galt als geschätzter Ansprechpartner König Friedrich Wilhelms IV. und seiner Regierung 7 . Bis zu seinem Tod am 10. August 1861 beherrschte Stahl die von ihm geführte Partei und Fraktion; allerdings ist unübersehbar, daß sein Einfluß und der seiner Fraktion seit Beginn der »Neuen Ära« im Jahr 1858 deutlich abgenommen hatten. Stahls Aufstieg zum konservativen Parteiführer in Preußen erscheint auf dem Hintergrund seines früheren Engagements in der Burschenschaftsbewegung und seiner »liberalen« Kritik am bayerischen Landtag von 1837 als Anachronismus 8 . U m diese »Widersprüchlichkeit« im Werdegang Stahls aufzulösen, ist ein kurzer Blick auf sein theoretisches Schaffen notwendig. Stahls Hauptwerk ist ohne Zweifel sein in mehreren Auflagen erschienenes Buch »Die Philosophie des Rechts« 9 , das die Grundlage seines theoretischen Denkens wie seines praktisch-politischen Handelns bildete. Während sich Stahl im ersten Band kritisch mit den rechtsphilosophischen Systemen von Piaton bis Savigny auseinandersetzt, entwirft er im zweiten Band seine Staatsrechtslehre. Sie ist geprägt von einem expliziten Bekenntnis zum Christentum, aus dem er seine Forderungen für den christlichen Staat ableitet. Diese beinhalten die Anerkennung einer göttlichen Ordnung und einer darauf aufbauenden weltlichen Staatsform, die Stahl am besten in einer konstitutionellen Monarchie verwirklicht sieht. Deren kontinuierliche Weiterentwicklung im Gegensatz zu revolu118

tionärcn Veränderungen ist das P r o g r a m m Stahls. Durch seine Differenzierung zwischen dem monarchischen und dem parlamentarischen Prinzip 10 , die in dieser Form auch von den Liberalen anerkannt wurde, durch seine ausdrückliche Forderung nach einer verfassungsrechtlich verankerten Repräsentation des Volkes, garantierten Freiheitsrechten und der Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz hebt er sich von den altständisch denkenden Theoretikern Haller, Gentz oder Jarcke entschieden ab. Auch wenn Stahl den Monarchen in das Z e n t r u m der politischen Entscheidung stellt, bedeutet das keineswegs die H i n w e n d u n g zu einem überholten Absolutismus des Fürsten. Stahl wollte »nicht Reaktion oder Restauration, sondern konservative Reform«". Entsprechend dieser Intention hatte sich Stahl im bayerischen Landtag von 1837 nicht aus liberalen Prinzipien heraus gegen den König gewandt, sondern bereits damals k ä m p f t e er für seine Interpretation des monarchischen Prinzips, das eine Willkür des Herrschers ausschloß. Für dieses Verständnis konnte er später in zähem Ringen, besonders mit Ernst Ludwig v. Gerlach, dem Magdeburger Juristen, die preußischen Konservativen gewinnen. Damit ermöglichte Stahl ihren Ü b e r g a n g zur konstitutionellen Doktrin und die Integration der konservativen Partei in die Verfassungskonzeptionen des preußischen Staates und des späteren deutschen Reiches. Dies ist Stahls bleibendes Verdienst. Eine abschließende B e m e r k u n g soll Stahls Verhältnis zu seinem früheren Glauben gelten 12 . Im Z u s a m m e n h a n g mit den Verhandlungen des Vereinigten Landtags in Preußen, der sich mit der Lage der Juden beschäftigte, ergriff Stahl in einer kleinen Schrift 13 das Wort. Er geht darin v o m christlichen Charakter der europäischen Staaten aus, der sich in der H a n d h a b u n g christlicher Prinzipien in Gesetzgebung, Verwaltung, Eherecht, Volkserziehung und im Verhältnis zur christlichen Kirche zeige14. Stahls oberstes Gesetz ist, diesen konstatierten christlichen Charakter des Staates gegen alle Einflüsse zu schützen. Aus diesem G r u n d lehnt er fur Nicht-Christen, denen er lediglich die bürgerlichen Rechte und Religionsfreiheit zugesteht, das Zugeständnis politischer Rechte ab. Als geborener J u d e sieht Stahl zwar die Emanzipationswünsche der Juden, doch räumt er den Anforderungen des christlichen Staates Priorität ein. Nicht ihre Glaubenszugehörigkeit ist demnach das Hindernis für die Emanzipation der Juden, sondern das Christentum als Staatsreligion 15 . Stahl argumentiert dabei, daß ein streng im mosaischen Denken verhaftetes J u d e n t u m die Assimilation ebensowenig wünschen könne wie der christliche Staat; allerdings zeige sich, daß in Deutschland dieses »ächte Judenthum« 1 6 kaum mehr existiere, vielmehr der weitaus größte Teil der Juden an »germanischer Wissenschaft und Kunst und Lebenssitte« 17 partizipiere. Für dieses »Reformjudenthum«, das »kein J u d e n t h u m mehr ist«18, bestehe künftig keine Grundlage mehr. Der größte Teil werde schließlich zum Christentum übertreten. Diese Aussage belegt, daß Stahl nicht einer scheinbaren Emanzipation der Juden das Wort redet, sondern daß er glaubt, daß die Juden allmählich 119

ihre angestammte Religion aufgeben und sich dadurch in den christlichen Staat integrieren würden.

Anmerkungen 1 Zitiert in: Hollerbach, Alexander: Der Rechtsgedanke bei Schelling. Quellenstudien zu seiner Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt 1957 (Philosophische Abhandlungen, Bd. 13), S. 11, Anm. 7. 2 Bismarck, Otto v.: Die gesammelten Werke, Bd. XIV/1, Berlin 1933, S. 157. 3 Vgl. Bismarck, Bd. XIV/2, S. 645. 4 Signat Ludwigs I. vom 7.1.1831; Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) M ü n chen, MInn 23589. 5 Vgl. Nabrings, Arie: Friedrich Julius Stahl. Rechtsphilosophie und Kirchenpolitik, Bielefeld 1983 (Unio und Confessio, Bd. 9), S. 115-213. 6 Vgl. Stahl, Friedrich Julius: Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. Neunundzwanzig akademische Vorlesungen, Berlin 1863; ders.: Die Revolution und die constitutionelle Monarchie. Eine Reihe ineinandergreifender Abhandlungen, Berlin 1848. 7 Zur politischen Wirksamkeit Stahls vgl. Füßl, Wilhelm: Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802-1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis, Göttingen 1988 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 33). 8 Vgl. Wiegand, Christian: Über Friedrich Julius Stahl (1802-1861). Recht, Staat, Kir-

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che, Paderborn 1981 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge, Bd. 35), S. 34 f. 9 Stahl, Friedrich Julius: Die Philosophie des Rechts, 3 Bde., Neudruck, Darmstadt 1963 (identisch mit der 3. Ausgabe 1854-1856). 10 Vgl. Stahl, Friedrich Julius: Das monarchische Princip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Heidelberg 1845. 11 Grosser, Dieter: Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls, KölnOpladen 1963 (Staat und Politik, Bd. 3), S. 18. 12 Zu Stahls Verhältnis zum Judentum vgl. Schoeps, Hans-Joachim: Friedrich Julius Stahl und das Judentum, in: Lamm, Hans (Hg.): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München, München, Wien 1982, S. 151155. 13 Vgl. Stahl, Friedrich Julius: Der christliche Staat und sein Verhältnis zu Deismus und Judenthum. Eine durch die Verhandlungen des Vereinigten Landtags hervorgerufene Abhandlung, Berlin 1847. 14 Vgl. Stahl, Staat, S. 50. 15 Vgl. Schoeps, S. 153. 16 Stahl, Staat, S. 43. 17 Stahl, Staat, S. 44. 18 Stahl, Staat, S. 54.

Falk Wiesemann

Simon Krämer (1808-1887), ein jüdischer Dorfschullehrer in Mittelfranken

Bei der Durchsetzung des modernen Rechts- und Verfassungsstaats im 19. Jahrhundert stand die ausgeprägte sozial-kulturelle Sondergruppenexistenz der Juden den Integrationsabsichten und der damit verknüpften Tendenz zur Homogenisierung besonders hinderlich entgegen. Das in Bayern praktizierte Emanzipationskonzept basierte auf der Vorstellung, daß die Juden unter staatlicher Kontrolle erst »erzogen« werden müßten, bevor sie mit vollen Rechten in den Verband der Staatsbürger aufgenommen werden könnten. Doch dazu schien es unumgänglich, ihre in sozialer Isolation entwickelten autonomen Lebensformen aufzubrechen, die durchdrungen waren von der Observanz ihres Religionsgesetzes und ihren religiösen Gebräuchen. Neben dem Erwerbsverhalten waren deshalb der Gottesdienst und das Erziehungswesen die wichtigsten Gebiete, auf denen die »Verbesserung« und »Veredelung« der Juden geleistet werden sollten. Als erste Maßnahme wurde die Schulpflicht für jüdische Kinder eingeführt und das gesamte Schulwesen der Juden unter staatliche Aufsicht gestellt. Die allgemeinen Lehrpläne wurden für den Elementarunterricht verbindlich, der nur noch durch staatlich geprüfte und anerkannte Lehrer erteilt werden durfte. Ab 1828 wurde der Prüfungsnachweis auch für die Religionslehrer obligatorisch. Aufgrund des Edikts von 1813 konnten eigene jüdische Elementarschulen eingerichtet werden. Außerdem wurde ein Mindestgehalt für Elementarschullehrer und Religionslehrer festgelegt, das jedoch, wie alle übrigen Aufwendungen für den Schulbetrieb, von den Kultusgemeinden ausschließlich aus eigenen Mitteln aufgebracht werden mußte.' Zahlreiche Kultusgemeinden sträubten sich gegen die Errichtung eigener Schulen, obwohl sie dazu von den Staatsbehörden - nicht zuletzt wegen des vielerorts spürbar gewordenen Widerstands von christlicher Seite gegen die Aufnahme von jüdischen Kindern in die allgemeinen Schulen - gedrängt wurden. Insbesondere in den ärmeren, glaubenskonservativen Landgemeinden glaubte man die Prinzipien des alten jüdischen Unterrichtswesens noch am ehesten im Religionsunterricht gewährleistet und sah keine Notwendigkeit, sich die hohen Kosten für eine separate Elementarschule aufzubürden. Im bayerischen Rezatkreis (dem späteren Regierungsbezirk Mittelfranken) gab es im Jahr 1840 55 jüdische Schulen. In 39 von ihnen wurde nur Religionsunterricht erteilt, in einer ausschließlich Elementarunterricht und in 121

den übrigen fünfzehn beides. 2 Die meisten dieser Schulen waren unmittelbar nach 1828 entstanden, so auch die in Altenmuhr (Bezirksamt Günzenhausen), wo u m diese Zeit etwa 250 überwiegend vom Vieh- und Warenhandel lebende Juden wohnten. Die Kinder waren etwa seit dem Jahr 1811 in die allgemeine Schule geschickt worden, den Religionsunterricht besorgte ein Religionslehrer —bis zu dem Augenblick, als die Behörden auf eine Eingabe von zwei Familienvätern die Altenmuhrer Juden zur Errichtung einer eigenen Schule anhielten. Die Kultusvorstandschaft sah aber die A u f n a h m e eines eigenen Elementarschullehrers für »ganz überflüssig« an und bat, »uns von der Last, eine Schulstelle zu errichten, geneigtest zu überheben«. Durch Z w a n g von oben w u r d e die Schulstelle dennoch eingerichtet, wodurch das Verhältnis der Gemeinde zu ihrer Schule von Anfang an belastet war. 3 N u r widerwillig Schloß sie 1831 den ersten Vertrag mit einem Lehrer für den Elementar- und Religionsunterricht, dem damals 23jährigen, aus Schnaittach stammenden Simon Krämer (geboren am 20. April 1808). Krämer entsprach aufgrund seiner Ausbildung dem staatlicherseits gewünschten modernen Lehrertypus. Er hatte ab 1826 das Lehrerbildungsseminar in Altdorf besucht und nach zweieinhalb Jahren die Anstellungsprüfung bestanden, war dann ein Jahr lang geprüfter Hauslehrer in Treuchtlingen gewesen und hatte ab O k t o b e r 1829 in Windsbach Religionsunterricht erteilt. 4 Als Krämer in Altenmuhr seine Stelle antreten wollte, gab es sogleich Ärger wegen der Behausung, die die Gemeinde für ihn als Wohnung vorgesehen hatte. In dem Schulhaus befanden sich: »1.) eine Schulstube 21 Schuh lang und 14 breit und 2.) zunächst an derselben eine K a m m e r 10 Schuh lang und 14 breit, zu welcher der Eingang durch die Schulstube geht, 3.) eine Wohnstube 14 Schuh lang und 16 breit, 4.) eine Küche 5.) ein Boden ohne Abtheilung, mit einem äußerst flachen, nur einfach gedeckten, daher vor Wind und Wetter schlecht schützenden Dache«. Dies, so w u r d e Krämer von der Lokalschulinspektion bestätigt, sei »keine anständige Wohnung für Schullehrer«. Erst nachdem die Miete von 50 auf 20 Gulden reduziert worden war, zog Krämer in das Schulhaus ein, in dem er zunächst mit seiner zwei Jahre jüngeren Frau und später auch mit den zahlreichen Kindern, die ihm in Altenmuhr geboren wurden, Platz finden mußte. 5 Innerhalb kurzer Zeit steigerte sich die Ablehnung des Lehrers durch die Kultusgemeinde so sehr, daß sich sogar der örtliche Pfarrverweser bei den Behörden für ihn verwendete: »In dem hiesigen O r t e herrscht die traurigste, bitterste Entzweiung der Judenschaft gegen ihren Religions- und Elementarlehrer Krämer, welche bereits auf einen solchen Grad der Bosheit gestiegen ist, daß demselben nicht nur unlängst bei Nacht mehrere Fenster ganz zerschlagen wurden, sondern er auch in diesem Augenblicke gemeinsam mit der Lokalinspektion eine Klage wegen grober Verletzung seiner amtlichen Ehre, und eine 122

Bitte u m Schutz gegen die Gefahren, welche seinem ganzen Frieden, seiner ganzen Wirksamkeit und selbst vielleicht seinem Leben drohen, an das königl. Landgericht] Günzenhausen einreichen muß«. Als wichtigste Gründe für die feindselige Einstellung der Gemeinde wurden angeführt, daß Krämer den Religionsunterricht vernachlässige (»als Religionsunterricht aber verlangen die Juden, wozu der Lehrer sich nicht versteht, nichts weiter, als das Einüben der Kinder zum Mitschreien in der Synagoge und bei den sonstigen sogenannten Gebeten, worin die Kinder zu wenig Fertigkeit hätten«), weiter daß er die Kinder das Judendeutsch weder lesen noch schreiben lehre und daß er die Bibel und Gebetbücher »mit rein deutscher Übersetzung« im Unterricht verwenden wolle. 6 Die tieferen Ursachen fur das Zerwürfnis lagen sicher in den unterschiedlichen Auffassungen von der Aufgabe des Schulunterrichts. W ä h rend die Gemeinde von ihrem Lehrer in erster Linie die Einübung der Kinder in den tradierten Gebets- und Synagogenritus erwartete, rückte Krämer die staatsbürgerlichen Erziehungsziele in den Vordergrund. Dies w u r d e bei der Auseinandersetzung u m den Stellenwert des Hebräischen im Unterricht und grundsätzlich u m die Verwendung des sogenannten Judendeutschen besonders deutlich. Das von der Sprachwissenschaft auch als »Westjiddisch« bezeichnete Judendeutsch benutzten die Juden bei der internen Kommunikation als Umgangssprache, und sie bedienten sich seiner schriftlich in Form einer aus der hebräischen Quadratschrift abgeleiteten Kursive. Es w u r d e aber auch als Literatursprache verwendet, vor allem bei der Übersetzung religiöser Texte. Nichtjuden ebenso wie den jüdischen Reformern galt das Judendeutsch als sichtbares Zeichen der kulturellen Ghettosituation. In dem Maße, wie die Juden es zugunsten des Deutschen aufgaben, w u r d e der Grad ihrer »bürgerlichen Verbesserung« und staatspolitischen Zuverlässigkeit eingeschätzt. In einer Eingabe an die Kreisregierung plädierten die drei jüdischen Elementar- und Religionslehrer im Bezirk Günzenhausen (Simon Epstein in Günzenhausen, David Schweizer in Cronheim und Simon Krämer) dafür, den U n t e r richt nicht in Hebräisch, sondern in deutscher Sprache zu erteilen, die Bibel in einer deutschen Übersetzung zu lesen und zu erklären, ferner auch die allgemeinen Unterrichtsgegenstände als religiöse Bildungsmittel zu benützen. Insgesamt n e h m e der Hebräisch-Unterricht einen zu breiten Raum ein, und die »jüdische Briefschrift« fordere nur »die Isolierung und äußere Unterscheidung der Juden«. Der Gunzenhausener Bezirksrabbiner Boeheim hielt dagegen die Kenntnis der judendeutschen Kursive für notwendig, eine Auffassung, die von den glaubensliberalen Rabbinern Isaak Löwi (Fürth) und H. Selz (Uehlfeld) bestritten wurde, vor allem habe - so Löwi - die alte Briefschrift stets »Mißtrauen und Vorurteile« erzeugt. Die Behörden folgten dieser Ansicht und verfugten, daß das jüdisch-deutsche Schreiben nicht zu den Unterrichtsgegenständen gehöre. 7 Der Cronheimer Lehrer David Schweizer, ein aufgeklärter Mitstreiter Krämers für die Emanzipation und die »Läuterung« der jüdischen Religions-

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ausübung, beklagte sich bei den Behörden darüber, daß der HebräischUnterricht fast die Hälfte der schulischen Unterweisung einnehme, und trat deshalb für eine Verlängerung der Schulzeit ein, »wenn anders die hohe Aufgabe, deutsche von germanischem Bürgersinne durchdrungene Staatskinder für das Vaterland zu erziehen, gelöst werden soll.«8 Es bedeutete zweifellos eine Aufwertung ihres Standes, daß die Lehrer bei den israelitischen Kreissynoden des Jahres 1836, die unter anderem als Vorstufe zu einer Vereinheitlichung des Kultuswesens gedacht waren, an den Beratungen mit den Rabbinern und Gemeindedeputierten teilnehmen durften, wenn auch nur die Hälfte von ihnen auf Kosten der Gemeinden entsandt war und die anderen Fahrt und Aufenthalt aus eigener Tasche bezahlen mußten. 9 Die Lehrer stimmten dort in der Regel mit den reformwilligen Kräften. 10 Die von der mittelfränkischen Kreissynode erarbeitete Muster-Synagogenordnung wurde von der Regierung genehmigt und sollte nun in den einzelnen Gemeinden eingeführt werden. 11 Als Simon Krämer daranging, ihr in Altenmuhr Geltung zu verschaffen, hatte er wiederum die meisten Gemeindemitglieder und sogar Rabbiner Boeheim gegen sich. Der Kultusvorstand weigerte sich, festangebrachte Synagogenstände installieren zu lassen, mußte aber, da Krämer nicht locker ließ, die Umbauten schließlich doch vornehmen lassen. Im Gegenzug erhielt Krämer keinen regulären Platz in der Synagoge zugeteilt, und es bedurfte eines Gerichtsbeschlusses, bevor der Lehrer den ihm zustehenden Synagogenstand einnehmen konnte.12 Nach dem Kurswechsel in der bayerischen Staatsbürokratie Ende 1837 bekam die Orthodoxie im innerjüdischen Richtungsstreit regierungsamtliche Unterstützung. Die strenggläubigen Rabbiner nutzten nun ihr Recht zur Gestaltung der Lehrpläne, um im Religionsunterricht die traditionellen Erziehungsinhalte wieder stärker hervortreten zu lassen. Ende 1840 legte der Schwabacher Rabbiner Abraham Wechsler einen entsprechenden Entwurf vor, von dem Simon Krämer vermutete, daß er aus der Feder des kurz zuvor ernannten Würzburger Rabbiners Seligmann Baer Bamberger stammte, der sich rasch als führende Autorität der Orthodoxie in Bayern profilierte. Nach Krämer zielte der Plan im wesentlichen darauf ab, »die Kinder, außer im Elementarunterricht, noch in wöchentlichen 22 Stunden in Religion, Thalmud, Raschi, jüdisch-deutsch Schreiben etc. zu unterrichten, mit einem Worte, den Religionsschulen die alte jammervolle Form wiederzugeben«. Trotz Einwendungen und Protesten der Lehrer wurde der Lehrplan in der vorgelegten Form, lediglich mit der Abänderung, daß der Religionsunterricht statt in 22 nur in 17 Wochenstunden erteilt werden sollte, im Bezirksrabbinat Schwabach versuchsweise eingeführt." Obwohl die Rabbiner die ihnen zugeteilten Landgemeinden nur selten besuchten, hatten sie einem von Krämer während der mittelfränkischen Kreissynode eingebrachten Antrag der Lehrer, am Sabbat und an den Feiertagen in den Filial-Synagogen religiöse Vorträge in deutscher Sprache halten zu dürfen, abgelehnt. In Oberfranken hingegen, wo die Reformkräfte ein Überge124

wicht hatten, beschlossen die Rabbiner einstimmig, die Lehrer diese Vorträge halten zu lassen.14 Bei aller Kritik an den Traditionalisten, die jede Neuerung als Ausdruck von Irreligiosität werteten, wollte sich Krämer durchaus »auf eine neue Weise den Rabbinern unterordnen«. 15 Als Vorbild eines in Glaubenstreue wurzelnden und dennoch »zeitgemäßen Verbesserungen« gegenüber aufgeschlossenen Rabbiners galt ihm Samson Wolf Rosenfeld in Bamberg. Tief beeindruckt von einer persönlichen Begegnung im Jahr 1851,16 veröffentlichte er nach dessen Tod eine biographische Würdigung Rosenfelds.17 Aus der dörflichen Enge seines bescheidenen Lehrerdaseins heraus suchte Simon Krämer durch rege journalistische und literarische Aktivität Anschluß an die fuhrenden Kräfte der jüdischen Reformbewegung. Zwischen 1839 und 1841 schrieb er Beiträge für die »Israelitischen Annalen« und war dann langjähriger Korrespondent der von Ludwig Philippson herausgegebenen »Allgemeinen Zeitung des Judenthums«. Unter der Rubrik »Aus Mittelfranken« berichtete er vor allem über die Schul- und Rabbinatsverhältnisse seiner Region, über die inneren Zustände in den Gemeinden und über den Stand der Emanzipation in Bayern. Angeregt und ermutigt durch einen Aufsatz in Abraham Geigers »Wissenschaftlicher Zeitschrift für jüdische Theologie«, in dem das dringende Bedürfnis nach literarischen »Volksbildungsmitteln« ausgesprochen worden war, schrieb Krämer eine Reihe von Erzählwerken: als erstes »Die Schicksale der Familie Hoch. Ein Lesebuch zunächst für das jüdische Volk und seine reifere Jugend« (Dinkelsbühl 1839), es folgten »Hofagent Maier, der Jude des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Volksschrift für Israeliten« (Nördlingen 1844) und »Bilder aus dem jüdischen Volksleben« (Altenmuhr 1845), dann »Jüdische Erzählungen« (Nürnberg 1851) und schließlich »Israelitische Erzählungen« (Fürth 1862). Er verstand seine Arbeiten als »Bausteine zu unserer Volksliteratur«18. Sie richteten sich in erster Linie an eine jugendliche Leserschaft, deren Bindungen an das Judentum er durch die sozialkulturellen Auflösungsund Assimilierungstendenzen seiner Zeit höchst gefährdet sah: »So lange nun der Jude nur mit dem Juden umging; so lange man alle Religionsgebräuche blos nachahmte, wie man sie vom Vater oder Großvater vor sich gesehen hatte; so lange ein äußrer Feind keine, oder doch höchst selten einen Angriff auf literarischen Wege versuchte: so lange bestand auch, wenn gleich mit innrer Ertödtung des Geistes, die Anhänglichkeit an der Väter Weise unverkümmert und unverrückt fort. Seitdem aber der Unterricht in der Religion ein lebendiger geworden, seitdem jeder Israelit, er mag einen Stand wählen, welchen er wolle, mit christlicher Lehre und christlichem Leben vielfach in Berührung kommt; seitdem das Lästige vieler unsrer Satzungen und das Drückende unsrer politischen Stellung männiglich gefühlt wird; seitdem endlich Einzelne sowohl, als ganze Gesellschaften sich berufen wähnen, Bekehrungsversuche, namentlich an unsre reifere Jugend zu machen; seitdem droht unsrer Religion große und unabsehbare Gefahr, und es ist hohe Zeit, das Volk darauf aufmerksam zu 125

machen, ihm Waffen zur Notwehr in die Hand zu geben und es für seinen Glauben und vornehmlich für den Glauben an den Einzigen so zu begeistern, daß es ihm alle irdischen Vortheile willig z u m O p f e r bringt« 19 . Die Romane und Erzählungen Krämers sind im dörflich-kleinstädtischen Milieu seiner fränkischen Heimat angesiedelt. N u r vereinzelt bedient er sich des historischen Genres, u m sein literatur-pädagogisches Konzept wirksam werden zu lassen. Meist handelt es sich u m den Typus der realistischen D o r f - und Ghettogeschichte, in der die Veränderungen, Bedrohungen und zeitnahen Konflikte innerjüdischer Lebenswirklichkeit den Erzählungsabläufen unterlegt sind. Krämers persönlicher Erfahrungshorizont seines Engagements für die »zeitgemäße« Anpassung der Juden auf ihrem Weg v o m Ghetto in die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft und vor allem der spezifisch jüdische »Conflikt der Lehre mit dem Leben« 20 prägen die literarischen Leitfiguren so etwa Hofagent Maier, »der sich germanischer Bildung anschließt, ohne in seinen Gefühlen, seinen Hauseinrichtungen, seinem Leben oder Wirken den Standpunkt eines Israeliten aufzugeben« 21 , oder den Buchhändler H o s m a n n in der Erzählung »Die sieben Begegnungen am siebzehnten Tamus«: »Wir wollen im Glauben Juden, in aller andern Beziehung aber Deutsche sein«22. Krämer selbst hatte seinen insgesamt elf Kindern fast ausnahmslos deutsche Vornamen gegeben. Eines hieß sogar »Gabriel Riesser« nach einem der Wortführer im K a m p f u m die jüdische Emanzipation. 2 3

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J ü d i s c h e s S c h u l h a u s in A l t c n m u h r .

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In den Zeitungen der jüdischen Reform wurden Krämers literarische Arbeiten nicht zuletzt wegen ihrer pädagogischen Nützlichkeit sehr gelobt. Ein Rezensent schrieb sogar, sie seien »mehr als alle Kasualpredigten geeignet, den jüdischen Leser für seinen Stamm und seine Religion zu begeistern und wirken praktisch mehr für wahre Emanzipation, als viele Emanzipationsschriften u. dgl.«24. Sie wurden auch in die von der »Allgemeinen Zeitung des Judenthums« empfohlenen Lektürelisten für jüdische Vereins- und Schulbibliotheken aufgenommen. 25 Die Anerkennung, die Krämer innerhalb seiner Dorfgemeinde versagt blieb, erhielt er zum einen als »jüdischer Volksschriftsteller«, zum andern durch die Schulbehörden, die ihm wiederholt bescheinigten, ein »sehr fähiger und eifriger Lehrer« zu sein. Die jüdische Schule in Altenmuhr war nach Auffassung der Schulinspektion »stets eine der besten Volksschulen« im Bezirk Günzenhausen.26 Daß Krämer zum stellvertretenden Vorsitzenden der allgemeinen Distrikts-Lehrerversammlung gewählt wurde, war eine Auszeichnung, die Juden sicher nicht häufig zuteil wurde. 27 Im Alter von 46Jahren wurde Krämer »von einem Augenübel heimgesucht« und mußte deshalb mehrere Kuraufenthalte nehmen. Als ein Herzleiden aufgrund einer »Anlage zur Fettsucht« hinzukam, stellte er, wohl auch zermürbt durch die ständigen Querelen mit der Kultusgemeinde, den Antrag auf Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand, dem im Jahr 1866 stattgegeben wurde. 28 Kurz bevor Krämer Altenmuhr verließ, verfaßte er noch einen zeitgeschichtlichen Beitrag über die Juden in Bayern29 sowie das bereits erwähnte Lebensbild Samson Wolf Rosenfelds. Von Nürnberg aus, wo er seinen Lebensabend verbrachte - er starb dort am 27. August 1887 - , schrieb er gewissermaßen als Vermächtnis an die christliche Lehrerschaft: »Es wäre, meine ich, eine, meiner christlichen Amtsbrüder würdige Aufgabe, wenn sie in ihren Schulen den so tief liegenden Keimen des Judenhasses die Lebenskraft abschnitten, was sie am ehesten im Stande wären und zwar nicht sowohl der Juden wegen, die wahrlich besser sind als ihr Ruf, wohl aber der Christen wegen; denn aus dieser Saat schießt sofort ein Giftbaum hervor, wodurch also das christliche Volk geschädigt und in allen seinen Beziehungen zum Ganzen demoralisiert wird«30.

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Anmerkungen 1 Vgl. Prestcl, Claudia: Jüdisches Schul- und Erziehungs wesen in Bayern 1804-1933. Tradition und Modernismus im Zeitalter der Emanzipation, München 1989 (im Druck). 2 Kfrämer, Simon]: Über das israel. Schulwesen im mittelfränkischen Kreise Baierns, in: Israelitische Annalen 1840, S. 101-103. 3 Jung, Wilfried: Die Juden in Altenmuhr, in: Alt-Gunzenhausen, H. 44 (1988), S. 133-212 (S. 156-164). Herrn Jung, Altenmuhr danke ich sehr, daß er mir die Einsicht in einschlägige Akten des Evang.-Luth. Pfarramts Altenmuhr ermöglicht hat. 4 Staatsarchiv (StA) Nürnberg, Kdl Abg. 1932 Tit. XIII Nr. 857/1 und II, Kdl Abg. 1952 Tit. XIII Nr. 1307, Kdl Abg. 1968 Tit. XIII Nr. 2333; Archiv des Evang.-Luth. Pfarramts Altenmuhr, Nr. 3 (Personalbeurteilung 1837). 5 Archiv des Evang.-Luth. Pfarramts Altenmuhr, Nr. 1 (A 207); vgl. Jung, S. 159 f. 6 Archiv des Evang.-Luth. Pfarramts Altenmuhr, Nr. 1 (A 207); vgl. Jung, S. 161 f. Zusammen mit dem jüdischen Lehrer in Baiersdorf, Julius Heinrich Dessauer, gab Krämer ein Allgemeines deutsches Gebetbuch fur die häusliche Andacht der Israeliten, Quedlinburg 1844, heraus. 7 StA Nürnberg, Kdl Abg. 1952 Tit. XIII Nr. 1295. 8 StA Nürnberg, Kdl Abg. 1932 Tit. XIII Nr. 857/11; zu David Schweizer, der mit seiner Kultusgemeinde ähnliche Kämpfe wie Krämer durchzustehen hatte, vgl. Ried, Karl: Cronheim ein ehemaliger Adelssitz, Eichstätt 1935, S. 502-514. 9 K[rämer, Simon], in: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie (1837), S. 311. 10 Krämer, Simon: Zur Geschichte der Juden in Bayern (Die jüngsten fünfzig Jahre), in: Achawa. Jahrbuch für 1865-5625, S. 128 f. 11 Synagogen-Ordnung für die israelitischen

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Cult-Gemeinden in Mittelfranken im Königreich Bayern, Ansbach 1838. 12 Jung, S. 181-183. 13 Kfrämer, Simon]: Aktenmäßige Darstellung einiger neuern Verhandlungen in Bayern, in: Israelitische Annalen (1841), S. 188 f., 198 f. 14 K[rämer, Simon]: Beleuchtung des Antrags der Religionslehrer des Rezatkreises, in: Das Füllhorn (1836), Sp. 213 f , 228 f , 235-238. 15 Krämer, Beleuchtung, Sp. 237. 16 Allgemeine Zeitung des Judenthums (1851), S. 543-545. 17 Krämer, Simon: R. Samson Wolf Rosenfeld, weiland Rabbiner zu Bamberg, in: Achawa. Jahrbuch für 1866-5626, S. 15-33. 18 Krämer, Bilder aus dem jüdischen Volksleben, S. IV. 19 Krämer, Schicksale der Familie Hoch, S. VII f. 20 Krämer, Jüdische Erzählungen, S. 121. 21 Krämer, Hofagent Maier, S. III. 22 Krämer, Jüdische Erzählungen, S. 34. 23 Jung, S. 162 f. 24 Allgemeine Zeitung des Judenthums (1851), S. 346. 25 Horch, Hans Otto: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der »Allgemeinen Zeitung des Judentums« (1837-1922), Frankfurt 1985, S. 161163. 26 StA Nürnberg, Kdl Abg. 1932 Tit. XIII Nr. 857/11, Kdl Abg. 1968 Tit. XIII Nr. 2333. 27 Vgl. Archiv des Evang.-Luth. Pfarramts Altenmuhr, Nr. 6 (Visitationsberichte der Lokal-Schulinspektion 1837 - 1866); Allgemeine Zeitung des Judenthums (1864), S. 530. 28 StA Nürnberg, Kdl Abg. 1968 Tit. XIII Nr. 2333. 29 Krämer, Zur Geschichte, S. 110-154. 30 Eine goldene Hochzeit, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums (1882), S. 381.

Ilse Sponsel

David Morgenstern (1814-1882), der erstejüdische Landtagsabgeordnete in Bayern

Mit dem Einzug der ersten jüdischen Abgeordneten in den Bayerischen Landtag wurde auch die Eidesformel für die Parlamentarier dahingehend abgeändert, daß jetzt »der Eid nach Tit. VII 25 und Tit. X 8 der Verfassungsurkunde () bei Angehörigen nichtchristlicher Konfessionen mit Hinweglassung des Beisatzes: 'und sein heiliges Evangelium' geleistet werden (kann)1. David Morgenstern, der erstejüdische Landtagsabgeordnete in Bayern, leistete am 5. Februar 1849 in der 4. Sitzung der Landtags-Session 1849, 1. Wahlperiode, seinen Eid, nachdem einen Tag zuvor seine Wahl von der AbgeordnetenKammer nach längerer Debatte einstimmig als gültig anerkannt worden war2. Zur Diskussion um die Gültigkeit der Wahl war es aufgrund einer Wahlreklamation von David Morgenstern gekommen, in der es um die Richtigkeit der Stimmauszählung ging. In einem Diskussionsbeitrag wurde allerdings gemutmaßt, daß im Glaubensbekenntnis des David Morgenstern der eigentliche Grund für die Debatte um die Rechtmäßigkeit seiner Wahl läge3. Aber die Zurückweisung dieser Vermutung erfolgte umgehend, so daß der Abgeordnete Gelbert am Schluß der Debatte es für zweckmäßig erachtete, »wenn Herrn Dr. Morgenstern durch das Ministerium oder durch das Präsidium der Kammer unmittelbar Nachricht gegeben würde von dem Resultate der heutigen Verhandlung, so daß er so schnell als möglich in die Kammer eintreten kann«4. Diese Nachricht bestätigte David Morgenstern am 4. Februar 1849.5 Als er am 5. Februar 1849 im Bayerischen Landtag in München an seiner ersten Sitzung teilnahm, war er knapp 35 Jahre alt, als Konzipient in der Kanzlei Dr. Grünsfeld in Fürth tätig. Er war verheiratet mit Regina6 geb. Adlerstein aus Bamberg, Vater zweier Kinder - insgesamt gingen aus der Ehe fünfzehn Kinder hervor. Geboren wurde David Morgenstern am 7. März 1814 im 630 Einwohner zählenden Dorf Büchenbach bei Erlangen. Über seine frühe Kindheit und seine Familie liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Es kann angenommen werden, daß die Familie Morgenstern zu den 70 Juden gehörte, die 1813 in Büchenbach ansässig waren. 7 Seit 1820 hat David Morgenstern vermutlich die Schule in Büchenbach besucht. 1826 ist er in Fürth nachgewiesen, wo er eine Ausbildung als Kaufmann anstrebte. Nach drei Jahren änderte er diesen Plan und erlernte ab Herbst 1829 in Erlangen die lateinische und später die griechische Sprache8, um im Herbst 1830 in die Kgl. Studien-Anstalt 129

Erlangen (heute Gymnasium Fridericianum) aufgenommen zu werden. Im Herbst 1834 erhielt er sein Absolutorium. 9 Am 24. Oktober 1834 schrieb sich David Morgenstern an der Erlanger Universität als Student der Jurisprudenz ein, bestand im Herbst 1835 die vorgeschriebene philosophische Prüfung und wechselte an die Universität Würzburg, um dort seine rechtswissenschaftlichen Studien fortzusetzen. 10 Im Jahr 1838 beteiligte er sich an einem Duell und mußte sein Studium deshalb unterbrechen. Nach zweijähriger Dimissionüber David Morgensterns Aufenthaltsort in dieser Zeit ist nichts bekannt kehrte er Ostern 1840 an die Erlanger Universität zurück, »wo er im Oktober 1840 seine theoretische Prüfung bestand«.11 Nach dem Praktikum am Landgericht Erlangen und am Kreis- und Stadtgericht Erlangen war er in der Kanzlei des Advokaten Körte in Gräfenberg tätig, wo er sich zum »öffentlichen Anwaldt« bilden wollte.12 Mit dem Eintritt als Konzipient in die Anwaltskanzlei Burkart I. in Bamberg am 1. Juni 1844 endet das »Curriculum vitae« des David Morgenstern, ohne daß der Name Nikolaus Titus aus Bamberg erwähnt worden wäre, von dem Reichold13 annimmt, daß er Morgensterns politischer »Lehrvater« gewesen sei. Rechtsanwalt Dr. Titus (1806-1874), Mitbegründer der Burschenschaft »Germania«, deren Mitglied auch David Morgenstern war, wurde 1848 der Abgeordnete Bambergs in der Frankfurter Nationalversammlung, wo er zur äußersten Linken zählte. Man kann annehmen, daß - entgegen der Kurzbiographien von Schwammberger 14 und Reichold - David Morgenstern in den Jahren 1844 bis 1848 in der Kanzlei von Titus tätig war, ehe er 1848 als Konzipient in die Anwaltskanzlei von Dr. Grünsfeld in Fürth eintrat. Wie aus der Promotionsurkunde ersichtlich ist, wurde David Morgenstern am 11. Mai 1846 mit einer mit »maxima cum laude« bewerteten Prüfung und der Dissertation »Über die juridischen Verhältnisse des in Bayern bestehenden Vereins zur Unterstützung des Canzleipersonals« zum Doktor beider Rechte promoviert. 15 Mit der Übersiedlung nach Fürth setzte Morgensterns aktive politische Tätigkeit ein. Hilfreich wird für ihn dabei auch die bereits gefestigte Stellung seines jüngeren Bruders Joseph Pfeifer Morgenstern gewesen sein, der 1854 gemeinsam mit seinem Neffen Moritz Frankenthal, dem Sohn eines Fürther Spiegelfabrikanten, eine der 22 Wiesentmühlen in Forchheim erworben hatte,16 die sie zur Folienschlägerei umbauten. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bayerischen Landtag sollte diese Firma zur Existenzgrundlage David Morgensterns werden. 17 Die Wahl zum Bayerischen Landtag, für den David Morgenstern zum ersten Mal kandidierte, fand am 7. November 1848 statt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Landtag noch so zusammengesetzt, wie es die Verfassungsurkunde von 1818 festgelegt hatte. Offiziell als »Ständeversammlung« bezeichnet, gliederte er sich in zwei Kammern, und zwar in die Kammer der Reichsräte und in die Kammer der Abgeordneten. Auch im neuen Landtag gab es noch keine Parteien im heutigen Sinn; mit »Partei« wurde nur ein lockerer Zusammenhalt Gleichgesinnter bezeichnet.18 130

A m 18. Oktober 1849 begann in der Kammer der Abgeordneten eine Debatte zur Verbesserung der rechtlichen Lage der Volksschullehrer. 19 A m Rande entzündete sich dabei ein Disput über das Verhältnis von Schule und Kirche, da in Artikel 1 des neuen Gesetzes von »wirklichen Schullehrern« die Rede ist, eine Bestimmung, die der behandelnde Ausschuß auf die Lehrer an öffentlichen deutschen Schulen eingeschränkt hatte. David Morgenstern bemängelte, daß durch diese Definition die israelitischen Religionslehrer und die Lehrer an jüdischen Gemeinden ausgeschlossen würden. Der Vorstoß Morgensterns hatte schließlich Erfolg. Artikel 1 wurde in der ursprünglichen Form mit dem Hinweis auf das Edikt von 1813 angenommen. 2 0 Eine weitere wichtige Diskussion jüdischer Belange ging nach fünftägiger »Redeschlacht« am 14. Dezember 1849 zu Ende. Die turbulente Beratung bezog sich auf einen Gesetzentwurf, »die politischen und bürgerlichen Rechte der Israelitischen Glaubensgenossen betreffend«. Mit 91 zu 40 Stimmen wurde dieser Gesetzentwurf befürwortet, 21 dagegen scheiterte die volle Gleichstellung der Juden in der Kammer der Reichsräte. 22 David Morgenstern befleißigte sich im Zusammenhang mit der sogenannten Judenfrage einer klugen Zurückhaltung, »wenn es ihm auch an Interesse und warmer Anteilnahme ebenso wenig fehlte als an dem guten Willen, die Lager seiner Glaubensgenossen auf legislativem Wege zu verbessern ,..« 2 3 . David Morgenstern hat sich als Parlamentarier des Wahlkreises Nürnberg nicht nur mit Glaubensfragen befaßt. Er machte sich oft zum Fürsprecher spezifischer Probleme seines Wahlkreises: So beteiligte er sich z.B. an der Beratung über den Gesetzentwurf zum Bau einer Eisenbahn von Nürnberg nach Regensburg, über den Antrag des mittelfränkischen Brandversicherungskomitees auf Abänderung der revidierten Brandversicherungsordnung, über die Beschwerde gegen das Stadtkommissariat Nürnberg wegen Verfassungsverletzung, und er wirkte schließlich auch an der Beratung mit über den Gesetzentwurf, die Erwerbung des Ludwig-Donau-Main-Kanals betreffend (Art. 1), der am 17. Januar 1852 mit 67 zu 64 Stimmen angenommen wurde. 24 Bis 1855 blieb David Morgenstern Parlamentarier, und er erwies sich dabei als engagierter Verteidiger des allgemeinen Wahlrechts. Als im Januar 1855 im Parlament der Versuch unternommen wurde, mit Bildung einer Zweiten Kammer anstelle des allgemeinen Wahlrechts ein ständisch gegliedertes Repräsentativsystem einzuführen, wandte sich Morgenstern vehement gegen diesen Angriff auf das allgemeine Wahlrecht, das eine der wichtigsten Errungenschaften der Revolution von 1848/49 darstellte. Der Entwurf sah auch vor, Juden vom Wahlrecht wieder auszuschließen. In Morgenstern »erwachte . . . nicht nur der Achtundvierziger, sondern auch der Jude, und damals hielt er seine beste Rede ...« 2 5 . A m 18. Januar 1855 wurde der Gesetzentwurf, »die Bildung der II. Kammer betreffend«, abgelehnt. Im Januar 1855 ließ sich Morgenstern beurlauben, um sich in Nürnberg mit seinem neuen Arbeitsplatz vertraut zu machen, dem Nürnberger Bankhaus des Magistratsrates Mayer Cohn. Wegen seiner radikalen Gesinnung gegenüber 131

der Regierung war David Morgenstern die Zulassung als selbständiger Rechtsanwalt verwehrt worden. Der ehemalige Ministerpräsident Ludwig von der Pfordten hatte ihm das unzweideutig erklärt.26 Morgenstern sah sich deshalb gezwungen, seine parlamentarische Karriere aufzugeben, um fur seine rasch anwachsende Familie ein regelmäßiges Einkommen zu sichern. Zudem wollte er seiner Familie seine monatelange Abwesenheit von Zuhause nicht mehr zumuten. Mit seinem Eintritt als Konzipient bei Cohn in Nürnberg ist wohl auch die Übersiedlung seiner Familie nach Nürnberg verbunden, denn sie wird ausdrücklich bei Ziemlich 27 als eine von 21 zu dieser Zeit in Nürnberg ansässigen jüdischen Familien erwähnt; es muß jedoch angenommen werden, daß David Morgenstern selbst nur mit polizeilicher Erlaubnis in Nürnberg wohnte. Im Februar 1858 suchte er »um den temporaeren Aufenthalt mit meiner Familie« in Fürth nach28. Der Grund der Ansiedlung ist aktenkundig belegt. Er wurde Teilhaber der von seinem Bruder Joseph Pfeifer Morgenstern 1854 begründeten Forchheimer Folienfabrik. 29 Von 1859 bis zu seinem Tod 1882 wurde David Morgenstern im Adreßbuch der Stadt Fürth aufgeführt, zuerst als Untermieter im Haus 281 b, aber schon als Teilhaber der Forchheimer Folienfabrik. 30 1861 übernahm David Morgenstern die Fabrik in eigener Regie. Das Firmenschild, das den abgeänderten Besitzverhältnissen Rechnung trug, lautete von da ab: »Dr. David Morgenstern, Spiegelglas- und Folienfabrik, offene Handelsgesellschaft zu Fürth«. »David Morgenstern wandte sich dem Ausbau der Folienproduktion zu, und auf diesem Gebiet erwies er sich, obwohl von Haus aus Jurist, als ein umsichtiger Fabrikkaufmann und zugleich rühriger Förderer aller schöpferischen Kräfte im Betrieb. Unter seiner Leitung entfalteten die Könner aus dem Kreis der Belegschaft eine Aktivität, die dem Unternehmen mit zahlreichen technischen Fortschritten frühzeitig die ersten nennenswerten geschäftlichen Erfolge bescherte. Als David Morgenstern 1882 die Augen Schloß, hinterließ er seinen beiden Söhnen ein Unternehmen, das seine Fabrikate nicht nur in Deutschland absetzte, sondern auch weit über die deutschen Grenzen in alle Welt hinausschickte ...« 31 . Was diese Darstellung in der Festschrift zum 100. Firmenjubiläum der »Folienfabrik Forchheim GmbH« 1954 mit der Überschrift »In neuen Händen« und mit dem Text »Eine neue Ära brach für die Firma an« bemäntelte, war die im September 1938 durchgeführte »Arisierung«. 32 Auch nachdem David Morgenstern seine parlamentarische Laufbahn aufgegeben hatte, blieb er politisch aktiv. Er war Mitglied des Fürther Lesevereins, dem vor allem das politisch interessierte Bildungsbürgertum angehörte. Unter seiner Führung wurde 1865 der Fürther Volksverein, den er 1849 gegründet hatte, wieder ins Leben gerufen. 1850 war dieser radikal-demokratische Volksverein, dessen Vorsitz Morgenstern innehatte, verboten worden. 33 Im August 1869 nahm er am »Allgemeinen Deutschen sozial-demokratischen Arbeiterkongreß« in Eisenach als Delegierter des Volksvereins Fürth teil. 132

Zu den Teilnehmern gehörten auch August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die Gründer der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« (SDAP). 34 In Versammlungen zur Wahl der Gemeindebevollmächtigten trat David Morgenstern 1869 häufig als Redner auf, da er sich in Fürth um einen Sitz im Gemeindeparlament bewarb. Die Auszählung der Stimmen am 1. Dezember 1869 ergab das drittbeste Wahlergebnis für David Morgenstern. Im Alter von 55 Jahren zog er in das Kollegium der Gemeindebevollmächtigten ein, wo er bis 1878 vertreten blieb. Im März 1878 stellte er beim Stadtmagistrat Fürth den Antrag, »wegen des zurückgelegten 60. Lebensjahres« 35 aus dem Kollegium der Gemeindebevollmächtigten austreten zu dürfen. Seinem Gesuch wurde am 19. März 1878 entsprochen. Aber nicht nur in der politischen Arena betätigte sich David Morgenstern. 1867 wurde er zum ersten Vorsitzenden des Fürther Handelsrates gewählt. 36 Im Alter von knapp 69 Jahren starb David Morgenstern am 2. November 1882 in Fürth, betrauert von seiner Witwe und den 13 noch lebenden Kindern, von denen die jüngste Tochter Anna gerade 11 Jahre alt war.37 Von seinen politischen Freunden verehrt und von seinen politischen Gegnern geachtet, fand das Begräbnis David Morgensterns auf dem Israelitischen Friedhof in Fürth im Beisein einer großen Trauergemeinde statt, wie die Zeitungen zu berichten wußten: »Das Leichenbegängniß des Herrn Dr. Morgenstern gestaltete sich zu einer großartigen Ovation, welche beredtes Zeugniß davon gab, in. welchem Ansehen der Dahingeschiedene in allen Kreisen der Bevölkerung hiesiger Stadt stand. Die Mitglieder der königlichen und städtischen Behörden und Collegien waren in dem unabsehbaren Leichenconducte . . . ebenso gut vertreten, wie der schlichte Arbeiter, der dem Kämpfer für Freiheit und Recht, dem Biedermanne, der seine politischen Grundsätze auch auf das praktische Gebiet, auf das gewerbliche Leben zu übertragen bestrebt war, das ehrende Geleite zur Ruhestätte gab ...« 3 8 . Das Grab David Morgensterns fiel, wie viele andere auch auf diesem Friedhof, während des Zweiten Weltkrieges der Anlage eines Löschwasserteiches zum Opfer. 39 Der noch erhaltene Grabstein trägt die Inschrift: » D e m Andenken unseres lieben Gatten und Vaters, des Herrn Dr. jur. David Morgenstern, geb. 7. März 1814, gest. 2. November 1882«.

Anmerkungen 1 Stadtarchiv (StadtA) Erlangen: Beilage X V I I , Gesetz, die Wahl der Landtagsabgeordneten betr., Artikel IV, S. 82. 2 Süßheim, M a x : Die parlamentarische T h ä tigkeit Dr. jur. David Morgenstern's, 1899, S. 8.

3 Bayerischer Landtag, Landtagsamt, ArchivD II: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der bayerischen K a m m e r der Abgeordneten. Dritte öffentliche Sitzung, München, 3. Februar 1849, Nr. 3, Bd. 1, S. 4.

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4 Bayerischer Landtag, Landtagsamt, ArchivD II: Stenographischer Bericht, S. 6. 5 StadtA Fürth, Fach 71a/289. 6 StadtA Fürth: Einzelbogen zum Verzeichnis der Gemeindebürger in der Stadtgemeinde Fürth: Morgenstern, Regine. 7 Letsch, Hannelore: Die Emanzipation der Juden im Erlanger Raum. Zulassungsarbeit zum Staatsexamen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 1979, S. 36. 8 Archiv der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg: Promotionsakte David M o r g e n stern, Fase. 312. 9 Archiv des G y m n a s i u m s Fridericianum Erlangen: Jahresbericht von der königl. Studienanstalt zu Erlangen, 28. August 1838. 10 Archiv der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Promotionsakte David M o r g e n stern (Curriculum vitae). 11 Ebd. 12 E b d . 13 Reichold, Hartmut: Dr. David M o r g e n stern — Juden in der Burschenschaft des Vormärz, in: Nachrichten für den jüdischen Bürger Fürths, September 1983. 14 Schwammberger, Adolf: Fürth von Α — Ζ , Fürth 1968, S. 264. 15 Promotionsakte David Morgenstern. 16 100 Jahre Folienfabrik Forchheim G m b H , 1854 - 1954, Festschrift, S. 7. 17 100 Jahre Folienfabrik, S. 7. 18 Kirzl, Gernot: Staat und Kirche im Bayerischen Landtag zur Zeit M a x II. (1848 1864), in: Miscellanae Bavarica Monacensia, Heft 50, S. 13. 19 Kirzl, S. 125. 20 Kirzl, S. 126. 21 Kirzl, S. 146. 22 Kirzl, S. 157. 23 Eckstein, S. 19. 24 Süßheim, S. 30 ff. 25 Eckstein, S. 20. 26 Eckstein, S. 21. 27 Ziemlich, Eberhard: Die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg - Gedenkschrift aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Synagoge, Nürnberg 1900, S. 7 ff. 28 StadtA Fürth, Fach 17a/289. 29 Ebd.

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30 StadtA Fürth, Adreßbuch der Stadt Fürth 1859. 31 100 Jahre Folienfabrik, S. 8. 32 Die beiden in den Firmenakten 1954 erwähnten Söhne waren das 12. (Friedrich) und 14. Kind (Heinrich) des David M o r g e n stern. Heinrich, 1869 in Fürth geboren, als »Einjähriger« vom 1. April 1888 bis 1. April 1889 beim 14. Infanterie-Regiment gedient, mit Reisepaß-Vermerken für England, Irland, Schottland, Italien und Amerika versehen, Fabrikbesitzer, Freimaurer und königlicher Kommerzienrat, Inhaber des » K ö n i g Ludwig-Kreuzes« (7. Januar 1916), Träger der »Roten Halbmond-Medaille« in Silber (1. Oktober 1916), Inhaber des Großherzoglichen Aldenburg'schen Friedrich-AugustKreuzcs II. Klasse am rot-blauen Bande (April 1917), Inhaber des »Verdienstordens v o m Hl. Michael IV. Klasse mit der Krone« (1. Januar 1918), diesem Heinrich M o r g e n stern wurde am 28. N o v e m b e r 1940 gemeinsam mit seiner Ehefrau Bertha, die im Dezember 1916 mit dem » K ö n i g - L u d w i g Kreuz« ausgezeichnet worden war (StadtA Fürth, Einzelbogen zum Verzeichnis der Gemeindebürger in der Stadtgemeinde Fürth, Morgenstern, Heinrich), und dem am 20. März 1913 in Fürth geborenen Sohn Werner Heinz die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit und ihre Ausbürgerung mitgeteilt (StadtA Fürth, Fach 81a Μ 1014). 33 Schwammberger, S. 264, S. 282 f. 34 Archiv der sozialen Demokratie B o n n - B a d Godesberg, Protokoll über die Verhandlungen des Allgemeinen Deutschen Sozial- demokratischen Arbeiterkongresses zu Eisenach am 7., 8. und 9.8.1869, S. 80; vgl. auch Habermann, Joerk: Sozialdemokraten in Deutschland, in: Bilddokumentation Sozialdemokratie, Bonn 1976, S. 14. 35 StadtA Fürth, Fach 131/16. 36 Fronmüller sen., Chronik der Stadt Fürth, Fürth 1887, S. 790. 37 Todesanzeige in: Fürther Tagblatt v. 2.11.1882, Nr. 260. 38 Fürther Tagblatt v. 7.11.1882, Nr. 264; vgl. auch Fürther Tagblatt v. 3.11.1882, Nr. 261; Fürther Bürger-Zeitung v. 7.11.1882. 39 Mündliche Auskunft von Herrn Hartmut Reichold.

Reinhard Η. Seitz

Nathan Michael Ries / Michael Reese (1815-1878), ein amerikanischer Pionier aus Hainsfarth

Nahe den westlichen Randhöhen des Rieskessels, nur wenige Kilometer von der Ries-Metropole, der einstigen Freien Reichsstadt Nördlingen entfernt, liegt der Markt Wallerstein1, seit dem Spätmittelalter Sitz einer Linie der Grafen (seit 1774 Fürsten) von (Dettingen.2 Der Ort hat bis heute seinen Residenzcharakter bewahrt. Daß aber Wallerstein seit dem Spätmittelalter auch Sitz einer kleinen, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts stark gewachsenen jüdischen Gemeinde war3, läßt sich im äußeren Erscheinungsbild nicht mehr erkennen: Es findet sich nirgends mehr ein Hinweis auf die Judengasse (heute: Felsenstraße); auf dem Platz der einstigen Synagoge, die nach dem Novemberpogrom von 1938 zeitweise als Kino diente - mit der Filmwand an der Toranische - , steht heute ein dem alten Gebäude im Stil angepaßtes Bankinstitut. Erhalten geblieben ist nur der östlich in Richtung Ries-Ebene, jenseits der Bahnlinie gelegene Judenfriedhof. 4 Hier fällt schon von weitem ein Grab auf, das nicht nur alle anderen überragt, sondern sich durch seine fast großstädtisch-reiche Gestaltung abhebt: Auf einem mächtigen mannshohen Steinsockel ruht ein Steinsarkophag, sechs Säulen tragen einen wuchtigen Deckel, die dazwischen gesetzten Felder der beiden Längsseiten zeigen Girlanden, an der westlichen Stirnseite erkennt man eine hebräische, auf der östlichen eine deutsche Inschrift 5 , durch diese Anordnung der Inschriften zugleich ein Gestaltungsmoment dieses Wallersteiner Friedhofs aufnehmend. Man mag bezweifeln, ob diese pompöse Grabgestaltung im Sinne des hier Bestatteten war oder ob sie nicht etwa nur einem gutgemeinten Willen der NachlaßVerwalter entsprang, liegt hier doch ein Toter, der unter einem fast krankhaft zu nennenden Sparsamkeitstrieb gelitten hatte, den es schmerzte, fünf Cents für eine Straßenbahnfahrt auszugeben oder einen Vierteldollar für ein Mittagessen. Das Grab birgt nämlich die sterbliche Hülle von Nathan Michael Ries bzw. Michael Reese, einem amerikanischen Multimillionär. 6 Nathan Michael Ries stammte allerdings nicht aus Wallerstein, sondern aus dem benachbarten Hainsfarth, einem Dorf am Ortsrand des Rieskessels, halbwegs zwischen der Stadt Oettingen - der alten Hauptresidenz der Oeningen - und der einst oettingischen Landesgrenze zur Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach. Wie in Wallerstein, so saßen auch in Hainsfarth seit dem 15. Jahrhundert Landjuden als Hintersassen der Wallersteiner (bzw. Spielberger) Linie der Grafen von Oettingen, die hier gleichfalls den Judenschutz ausübten. 135

Auch diese Judengemeinde wuchs seit der Mitte des 17. Jahrhunderts stetig, sie verfügte über eine eigene Synagoge und einen Friedhof beim Ort. 7 In Hainsfarth besaß der Urgroßvater Moses Salomon ein aus Stein gebautes und mit Platten gedecktes, zweigeschossiges Haus mit Fachwerkgiebel. Zu Ende des 18. Jahrhunderts teilte er es in zwei Halbhäuser: Jeder der beiden Söhne, David Moses und Joseph Moses, erhielt ein Stockwerk (später bezeichnet mit den Hausnummern 13 und 14, heute Jurastraße 1). Beim Anteil des Joseph Moses befand sich noch ein »Anbäulein, all wo eine Wohnung und eine Stallung darinnen ist«8. Joseph Moses (Moyses), der Großvater von Nathan Michael Ries, war schon etwa acht bis zehn Jahre verheiratet, als er im Jahre 1790 seinen Hausanteil übernahm; im Haupthaus gehörten dazu eine Wohnung mit drei Zimmern (eines mit einem Alkoven) und eine Küche mit dem damals üblichen deutschen Kamin, dem Rauchfang.'Joseph Moses lebte offenbar vom Geldverleih. Als er am 30. Mai 1821 in Hainsfarth starb, hinterließ er nach dem Verlassenschaftsinventar zwar nur ein Barvermögen von 61Ά Gulden, besaß aber an ausstehenden Aktiva 6433 Gulden. Aus dem Inventar ergibt sich auch, daß er nicht nur Geld verliehen hat, sondern selbst auch bei anderen - sowohl Juden wie Christen, ja sogar bei der Heiligenpflege zu Alerheim - Geld aufgenommen hatte (843 Gulden an Kapitalien, Zinsen und Fristen). Einige der in einem Handelsbuch eingetragenen und in gerichtlichen wie außergerichtlichen Urkunden festgehaltenen Fristen und Forderungen waren allerdings »inexigibel« und »illiquid«. Joseph Moses hatte vier Töchter (Ella, verheiratet mit dem Hainsfarther Schutzjuden Salomon Johl Flesch; Sprinz, verheiratet mit dem Schutzjuden Salomon Seligmann Bachmann im benachbarten Steinhart; die ledig gebliebene Hanna; Jette, verheiratet mit dem königlich-württembergischen Schutzjuden Lippmann Joseph in Pflaumloch, zwischen Nördlingen und Bopfingen gelegen) und den Sohn Mendel Joseph. 10 (Emanuel = ) Mendel Joseph, der Vater von Nathan Michael Ries, Schloß im Jahr 1807 einen Heiratsvertrag mit Gala Lazarus aus Hainsfarth. In dem Vertrag versprach der Vater Joseph Moses dem Sohn ein Heiratsgut von 900 Gulden und eine standesgemäße Ausstaffierung. Das junge Ehepaar sollte die ersten acht Jahre freie Wohnung in seinem Hause haben sowie im ersten Jahr 50 Gulden Kostgeld und Mehl frei zur Verfügung erhalten. Nach dem Tod des Vaters sollten das halbe Wohnhaus und die beiden Sitzbänke in der Hainsfarther Synagoge (Männer- und Weiberschule), dazu die »zehen Geboth« und die heiligen Gewänder und Geräte an den Sohn übergehen, jedoch sollte dieser jetzt schon den halben Sitz »auf der Schulbank« (der Synagoge) bekommen. Auch wollte der Vater auf seine Kosten für den Sohn den Judenschutz auf Hainsfarth erwerben. Die Braut Gala Lazarus, Tochter des Lazarus Moses Low aus Hainsfarth, brachte neben ihrer Aussteuer 1250 Gulden mit in die Ehe. Der Brautvater versprach, für die üblichen Bräutigamsgeschenke aufzukommen. Die Hochzeit selbst sollte ein Jahr später vollzogen werden." Die Ansässigmachung von (Emanuel) Mendel Joseph fiel in eine Zeit des 136

Umbruchs, als durch die Rheinischen Bundesakte von 1806 auch die Fürstentümer Oettingen an das Königreich Bayern übergegangen waren. Das Recht des Judenschutzes blieb zwar zunächst noch beim Fürsten von Oettingen, jedoch konnte das Königreich Bayern, das sich für seine übergeordneten Behörden die letzte Genehmigung vorbehielt, Einfluß auf Ansässigmachungen nehmen. Die restriktive Handhabung der Zuzugserlaubnis wurde dann bekanntlich durch das Judenedikt vom Juni 1813 festgeschrieben. Mit der Einführung der Judenmatrikel war die Ansässigmachung jetzt an eine Matrikelstelle gebunden.12 Die Einführung der Matrikel hatte zur Folge, daß Juden Familiennamen annahmen. Bis zu diesem Zeitpunkt können wir etwa bei der Familie des Nathan Michael Ries die Namensfolge nach dem jüdischen Rechtsbrauch verfolgen: (Emanuel) Mendel Joseph - J o s e p h Moses - Moses Salomon. Mit der Immatrikulierung nahm die Familie den Namen Ries an: nicht nur Mendel Joseph und Joseph Moses, sondern auch der Onkel David Moses. Bei der Festlegung von Familiennamen erscheinen häufig Herkunftsnamen nach jenen Orten, auf die sich die Familien zurückführten. Was in unserem Falle allerdings »Ries« bedeutet, ist unklar. Man könnte an »Riese« denken, was einen abschätzigen Beigeschmack haben könnte. Es könnte aber auch sein, daß hier bewußt der Landschaftsname »Ries« Verwendung fand, um die Herkunft der Familie aus dem Ries zu dokumentieren: In eigenhändigen Unterschriften erscheint der N a m e als »Ries« und auch die jüngere amerikanische Schreibweise »Reese« deutet in diese Richtung. Mendel Joseph Ries war Handelsjude und vor allem im Güter- und Immobilienhandel tätig, wobei er zeitweise mit Nathan Moses Obermayr aus Hainsfarth in Geschäftsverbindung stand. Das halbe Haus seines Vaters hat Mendel Joseph Ries übrigens nach dessen Tod im Jahr 1821 übernommen." Aus der Ehe mit Gala Lazarus ging bis 1826 eine größere Zahl von Kindern hervor, von denen sechs ein höheres Alter erlangten: Eleonora, Nathan Michael, Samuel, Marianna, Johanna und Jette. Die erste Frau von Mendel Joseph Ries starb am 19. November 1831 im Alter von 44 Jahren. Bei der Festsetzung des mütterlichen Erbes bekam jedes Kind 200 Gulden. 14 Der Witwer Mendel Joseph Ries heiratete nochmals im Januar 1834 die damals schon 45 Jahre alte Reiz Engländer aus Hainsfarth 15 , aus welcher Ehe die Töchter Dolz ( = Therese) und Lena stammen. Der am 11. Juni 1815 geborene älteste Sohn Nathan Michael Ries erlernte den Beruf eines Gerbers. Diese Berufswahl war erst mit dem Edikt von 1813 möglich, das Juden den Zugang zum zünftischen Handwerk eröffnet hatte. Doch scheint Ries frühzeitig erkannt zu haben, daß ihn dieses Edikt andererseits durch seine Niederlassungsbeschränkungen einengte. Er wagte deshalb als erster seiner Familie den Sprung über das große Wasser und soll schon als 18jähriger nach Baltimore/Maryland gekommen sein." Er arbeitete zunächst in seinem erlernten Gerberberuf, betrieb dann zwei Jahre lang Hausierhandel, gründete eine Importfirma in N e w York, mit der er jedoch 1842 sein gesamtes Vermögen verlor. Er begann darauf erneut als Hausierer in 137

Virginia, erst zu Fuß, dann mit einem Pferdewagen, und eröffnete schließlich Läden und ein Auktionshaus. Nathan Michael Ries, der sich in den Vereinigten Staaten von Amerika Michael Ries bzw. zuletzt auch Reese nannte, blieb nicht lange an der Ostküste. Er zog weiter in das Minnesota-Territorium im heutigen Mittleren Westen, damals jedoch »Frontier«, also Grenzgebiet zum Wilden Westen. Hier wandte er sich dem Grundstückshandel zu, erwarb Grund und Boden im Gebiet beidseits des Mississippi, auf dem damals die Doppelstadt Minneapolis/St. Paul entstand. Doch auch hier hielt es ihn nicht lange. Als 1850 in Sacramento, im damals jüngsten amerikanischen Staat California, die ersten Goldfunde gemacht wurden, die Zehntausende in das Land lockten, erkannte Michael Ries die Gelegenheit, die sich einem Mann mit seinem geschäftlichen Spürsinn und Weitblick, aber auch nötigem Kapital und Sparsamkeit bot. Mit 120 000 Dollar, dem Erlös aus seinen Grundstücksverkäufen im Minnesota-Territorium, kam er im Sommer 1850 in San Francisco an. Er investierte in Grundbesitz, tat sich zeitweise mit dem Bankier Schweizer Herkunft Berri zusammen, erwarb schließlich dessen Anteile und legte so den Grundstock zu noch größerem Besitz." In der Zwischenzeit waren wohl auch alle seine Geschwister nach Amerika ausgewandert. Sein Bruder Samuel ist um 1853 in Richmond nachgewiesen. Die Schwestern machten sich in Chicago/Illinois ansässig; sie heirateten deutsch-stämmige Juden: Ella verheiratete sich mit Immanuel Frank, Mariam mit Jacob Fuller, Hanna mit dem Bankier Jacob Rosenberg und Henriette mit Levi Rosenfeld. 18 Beim Tod des Vaters Mendel Joseph Ries, der am 7. Mai 1853 in Hainsfarth im Alter von 72 Jahren starb, lebte auch schon dessen Tochter (Dolz = ) Therese bei ihren Halbschwestern in Chicago; später heiratete sie einen Juden namens Weinmann. N u r die jüngste Tochter Lena wanderte erst später nach Chicago aus und heiratete dort einen Juden namens Cohn. 19 Michael Ries (Reese) hingegen blieb - wie offenbar auch sein Bruder Samuel - ledig, und der Kontakt zu seinen Geschwistern riß nie ab. Michael Reese galt als exzentrischer Millionär. Er pflegte meist zu Fuß mit einem Butterbrot in der Papiertüte zur Börse zu kommen. Von sich selbst sagte er: »Meine Liebe zum Geld ist ein Leiden. Meine Sucht, es zusammenzusparen und es zu horten, ist irrational, und ich weiß das . . . Mein Vergnügen an der Anhäufung von Besitz ist pathologisch, aber ich habe das seit der Zeit, als ich in Virginia zu Fuß hausierte, und fühle es bis auf den heutigen Tag. Es ist eine Art von Krankheit, und sie ist unheilbar. Aber es ist so gut eine Art von Verrücktheit wie jede andere, und auf irgendeine Art ist die ganze Welt verrückt«. Aber nicht zuletzt durch diese Sparsamkeit hatte er es zum zweitgrößten Grundbesitzer San Franciscos gebracht. Im Jahr 1873 zeigte er sich gegenüber der Öffentlichkeit erstmals als Wohltäter. Der »Chronicle« brachte die Schlagzeile: »Michael Reese schnürt seinen Geldbeutel auf!«. Hintergrund war, daß damals der deutsch-amerikanische Staatswissenschaftler Francis Lieber (1800-1872) - seit 1835 Professor in 138

Columbia bzw. New York, der Begründer der Politikwissenschaft in den USA - gestorben war. Seine Bibliothek wurde der jungen, 1868 begründeten University of California in Berkeley angeboten. Als Reese erfuhr, daß für den Ankauf dieser Bibliothek nur 1250 Dollar gezeichnet worden waren, spendete er den geforderten Betrag von 2000 Dollar.20 Von Amerika aus hat Michael Reese mehrmals Deutschland besucht. So war er Mitte Oktober 1876 in Hamburg, um dort seine wenige Monate alte Tochter Alma Michaela aufzusuchen. Reeses Heiratsplan mit deren Mutter, einer aus der Schweiz stammenden Amerikanerin, zerschlug sich; er ging nach San Francisco zurück. 21 Bevor Reese zu einer neuen Reise nach Deutschland aufbrach, traf er am 14. März 187822 weitgehende letztwillige Verfügungen über das riesige Vermögen 23 , das er während dreißig Jahren in seiner neuen Heimat Amerika gebildet hatte. Ende April 1878 war er erneut in Hamburg bei den Pflegeeltern seiner Tochter, die das Kind später adoptierten. 24 Ende Juli 1878 hielt sich Reese in Stuttgart auf und unternahm von dort aus am 1. August eine Bahnfahrt nach Nördlingen. 25 Wohl mit dem Stellwagen reiste er weiter nach Wallerstein. Was ihn zu dieser Reise bewog, wissen wir nicht sicher. Die Lokalpresse meinte, er habe das Grab seiner Mutter auf dem Wallersteiner Friedhof besucht und bauschte dies zu einer Legende auf, die im Kern zutreffen könnte, im einzelnen aber angezweifelt werden darf: »Man erzählt sich, er sei, als er vor etlichen Tagen das Grab seiner in Wallerstein ruhenden Mutter aufsuchte, um das Trinkgeld des Friedhofwärters zu ersparen, durch das Umfassungsgesträuch ein- und ausgeschlüpft, und dabei von demselben gesehen und aufgefordert worden, mit ihm zum Cultusvorstand zu gehen. Wenige Schritte aber von dessen Wohnung entfernt traf ihn ein Herzschlag, der seinem Leben auf der Straße ein Ende machte«26. Tatsache ist, daß Michael Reese in »Wallerstein, Judengasse, auf freier Straße, vor dem Haus Nro. 188« am 2. August 1878 einem Herz- oder Gehirnschlag erlag.27 Auffallend ist nun aber, daß der isrealitische Kultusvorstand Wolf Wolf von Wallerstein feststellte, daß der Verstorbene »auch nicht die geringste Angehörigkeit an hiesigem [Begräbnisplatz] besessen habe«28, und eine solche hätte er wohl gehabt, wäre seine Mutter Gala in Wallerstein bestattet gewesen. Dies ist auch insofern nicht naheliegend, als sie aus Hainsfarth stammte, wo sie aufgewachsen, verheiratet war und auch gestorben ist. Auffallend ist zudem, daß sein Name nicht korrekt geschrieben ist - die ersten Zeugnisse lauten auf »Rieser«, und der Bader verrechnete insgesamt neun Totenscheine, davon sechs verschriebene, weil man Namen und persönliche Daten von Reese nicht recht wußte. 2 ' Am 4. August 1878 wurde Michael Reese auf dem Wallersteiner jüdischen Friedhof zur letzten Ruhe bestattet. Über seinem Grab wurde etwas später das gewaltige Grabmonument aufgetürmt, direkt neben dem wesentlich schlichteren Grabstein für seine Mutter, »die biedere Frau Gala Rieß aus Hainsfarth«. In seinem Testament hatte Michael Reese zunächst seine Verwandten 139

bedacht. Jede seiner drei Schwestern - Elise, Henriette und Hanna - sollte 100000 Dollar bekommen, die drei Töchter (Hanna Goldsmith in New York, Carrie [Carry] Manheimer in Minneapolis und Rosa Rothschild in Chicago) seiner verstorbenen Schwester Mary Fuller je 50 000 Dollar, ebenso die beiden Halbschwestern (Dolz =) Therese und Lena. Auch die Kinder seiner Schwester Elise Frank wurden bedacht: Joseph und H. L. Frank mit je 30 000 Dollar, Nancy Frank und Mina Friedlander (mit ihren Kindern) mit je 25 000 Dollar sowie weitere ihm nahestehende Personen, wie die Witwe Regina des H. Goodman in New York (Nachkommen der Hainsfarther Judenfamilie Gutmann?), der Sohn Charles eines Dr. John N. Eckel, die Frau Caroline des Leopold Greeneberg in San Francisco und sein dortiger Mitarbeiter Leonhardt Weglehmer. Man vermißt die Nennung des Bruders Samuel Reese, der zwischen 1853 und 1878 wohl unverheiratet verstorben ist. Auffallend ist auch, daß Michael Reese seine Tochter nicht im Testament aufführt. 30 Zahlreich sind seine Legate zugunsten karitativer Einrichtungen in San Francisco (Pacific Hebrew Orphan Asylum and Home Society; Saint Luke's Hospital; Eureka Benevolent Society; German Hospital) wie in New York (Mount Sinai Hospital; Hebrew Orphan Asylum). Über weitere Beträge sollten Bekannte und Verwandte im karitativen Sinne verfugen können. So vermachte er der ihm freundschaftlich verbundenen Mrs. R. C.Johnson in San Francisco, die die Annahme eines persönlichen Legats ausgeschlagen hatte, 30000 Dollar für ein Altersheim, »regardless of creed«, also ohne Ansehen der Religion seiner Bewohner, und für ein Findelheim und eine Entbindungsanstalt in San Francisco. Seine Neffen H. L. und Joseph Frank bekamen 50000 Dollar für ein Waisenhaus in Cleveland und andere karitative Einrichtungen in Chicago. Über ein Legat von 200 000 Dollar konnten sein Schwager Jacob Rosenberg und seine Schwester Henriette Rosenfeld, offensichtlich die Lieblingsschwester von Michael Reese, verfügen. Sie begründeten damit das beim Chicagoer Stadtbrand von 1871 zerstörte jüdische Krankenhaus von neuem, das nach seinem Wohltäter »Michael Reese Hospital« heißt. An dieses Legat war auch die Bedingung geknüpft, Vettern und Basen in Bayern und anderen Landen im Falle von Not und Armut zu unterstützen sowie karitativen Einrichtungen - »regardless of creed« - in seinem Geburtsort Hainsfarth etwas zukommen zu lassen. Diese Vermächtnisse machten insgesamt einen Betrag von 390 000 Dollar aus.31 Weitere 50 000 Dollar bestimmte Michael Reese für jene Institution, der er die »Lieber Library« gestiftet hatte: An der University of California sollte eine nach Reese benannte Bibliothek, die »Reese Library«, eingerichtet und unterhalten werden. 32 In Chicago und San Francisco ist der Name Michael Reese unvergessen, in seiner Rieser Heimat, auf die wohl seine Namengebung zurückzuführen ist, erinnert man sich dagegen kaum an ihn. Sein ziemlich unverändert überkommenes Geburtshaus in Hainsfarth läßt deutlich die beengten Verhältnisse, aus denen Nathan Michael Ries stammte, erkennen; sein Grabmonument in Wallerstein dagegen stellt vor Augen, wozu er es durch Fleiß und Sparsamkeit 140

und Glück gebracht hatte. U n d es paßt auch in das Bild Michael Reeses, wonach die ganze Welt auf irgendeine Art verrückt sei, wenn man sieht, daß er es zwar im »fernen Westen« - wie es in der Grabinschrift heißt - zu Vermögen und Reichtum gebracht hatte, aber nur 15 km von seinem Geburtsort entfernt vom Tod ereilt werden sollte - mit einem »Retourbillet« in der Tasche.

Anmerkungen 1 Vgl. Grünen wald, Elisabeth: Zur Geschichte von B u r g und Markt Wallerstein, in: Nordschwaben 6 (1978), S. 2-9; Grünenwald, E[lisabeth]/Frei, H[ans]: Schloß und Markt Wallerstein, in: Archäologische Wanderungen im Ries ( = Führer zu archäologischen Denkmälern; Schwaben, Bd. 2), Stuttgart, Aalen 1979, S. 159-161. 2 Vgl. Kudorfer, Dieter: Nördlingen ( = Historischer Atlas von Bayern; Teil Schwaben, H. 8), München 1974; Kudorfer, Dieter: Die Grafschaft Oettingen. Territorialer Bestand und innerer Aufbau (um 1140 bis 1806) ( = Historischer Atlas von Bayern; Teil Schwaben, Reihe II, H. 3), München 1985. 3 Vgl. Müller, L[udwig]: Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Riess, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und N e u b u r g 26 (1899), S. 81-182. 4 Vgl. Wallersteiner Kalender auf das Jahr 1983 [hg. v o m Fürstlichen Brauhaus Wallerstein. Gestaltung und Text: Volker v. Volckamer], Wallerstein 1982, Blatt Januar. 5 Vgl. Wallersteiner Kalender, Blatt Oktober. 6 Der N a m e Michael Reese findet sich nicht im Dictionary o f American Biography, N e w York 1946, wohl aber in: T h e Encyclopedia Americana. International Edition, B d . 23, N e w York 1973, S. 297; ferner in: EncyclopaediaJudaica (engl.), B d . M.Jerusalem 1971, Sp. 18; eine erste deutsche Biographie, bearbeitet von Volker v. Volckamer, erschien in: Wallersteiner Kalender, Blatt Oktober/Rückseite. 7 Vgl. Müller, bes. S. 178; ferner: Germania Judaica III, S. 495; Die heutige S y n a g o g e in Hainsfarth wurde 1857 geplant, 1858/59 erbaut und am 24.8.1860 eingeweiht. Eine Abbildung findet sich in: Wallersteiner K a lender, Blatt Juni/Rückseite.

8 Staatsarchiv Neuburg a. d. Donau ( S t A N D ) , Kat. Oettingen 67, Fassionen 11 und 12. 9 S t A N D , Bpl. Nördlingen 236/1898. 10 S t A N D , Stadt- und Herrschaftsgericht Oettingen 1155. 11 Kopie des Vertrags in: S t A N D , Stadt- und Herrschaftsgericht Oettingen 1155. 12 Vgl. Schwarz, Stefan: Die Juden in Bayern im Wandel der Zeiten, München 1963, S. 127-211. 13 S t A N D , Adel: v. Oettingen 1135 (Verbriefungsprotokoll Justizamt Oettingen jenseits der Wörnitz 1821/22), S. 59 (1822 März 6). 14 S t A N D , Adel: v. Oettingen 1218 (Eheprotokoll Stadt- und Herrschaftsgericht Oettingen 1833/35), Vertrag 12 (1834 Januar 17). 15 Wallersteiner Kalender, Blatt O k t . / R ü c k seite (Beitrag von Volker v. Volckamer). 16 So die Angabe bei Volckamer; die Edition: Passenger Arrivals at the Port o f Baltimore 1820-1834, Baltimore 1982, nennt Nathan Michael Ries nicht. Die Ausführungen über Michael Ries/Michael Reese folgen bis zum Jahre 1872 weitgehend der Darstellung von Volckamer. 17 Angabe nach: The Encyclopedia Americana, B d . 23, S. 297. 18 Angaben nach den Erb verzichten (1853 Juni 15 Chicago sowie 1853 Juli 6 Richmond) in: S t A N D , Hypotheken- und Grundbücher Oettingen, Beilagen zu den Hypothekenprotokollen Hainsfarth, Bd. 4, lfd. Nr. 386 (eingebunden zwischen lfd. Nr. 388 und 390!). 19 Angabe nach dem Nachlaßakt von Mendel Joseph Ries: S t A N D , Landgericht ä. O. Oettingen 247. Aus diesem Akt stammt auch die Angabe über die Zusammenarbeit von Mendel Joseph Ries mit Obermayr. 20 Vgl. Phillips, Audrey Ε.: Guide to Special

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Collections. University of California, Berkeley, Library, Metuchen 1973, S. 82; Stadtman, Verne Α.: The University of California 1868-1968, New York [u.a.] 1968, S. 109; Peterson, Kenneth G.: The University of California Library at Berkeley 1900-1945, Berkeley [u.a.] 1970, S. 23. 21 Angabe nach dem Nachlaßakt von Michael Reese: StAND, Stadt- und Landgericht Nördlingen, V. V. 162/1878, Prod. 37. 22 Nachlaßakt Michael Reese, Prod. 16. 23 Die Angaben in der Literatur schwanken. In dem Protokoll des Probate Court of the County of San Mateo, State of California, vom 15. August 1878 wird dieses geschätzt auf 1,5 Millionen Dollar an Immobilien (in County of San Mateo, City and County of San Francisco, County of Alameda) und auf 4 Millionen Dollar an Obligationen, Schuldscheinen, Kontrakten, Wechseln und Vorräten. Diese Angaben bestätigt auch Joseph Rosenberg aus San Francisco, einer der drei von Michael Reese eingesetzten Testamentsvollstrecker, vor Gericht am 5. September 1878. Diese Angaben nach: Nachlaßakt Michael Reese, Prod. 16 (englisches Original) bzw. 17 (deutsche Übersetzung).

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24 Nachlaßakt Michael Reese, Prod. 37. 25 Nachlaßakt Michael Reese, Prod. 4. 26 Zit. nach Wallersteiner Kalender, Blatt O k tober/Rückseite. 27 Nachlaßakt Michael Reese, Prod. 1; Angabe über Todesart nach dem Totenschein: StAND, Israelitische Standesregister 38, S. 86. 28 Nachlaßakt Michael Reese, Prod. 10. 29 Nachlaßakt Michael Reese, Prod. 11/Beleg 2.

30 Angaben über die Legate nach dem Testament: Nachlaßakt Michael Reese, Prod. 16. 31 Ebd. 32 Die »Reese Library of the University of California« besteht heute noch als Fond innerhalb der University of California Library at Berkeley und erhält laufend Z u wachs aus den Zinsen des von Reese im Jahre 1878 legierten Kapitals. Vgl. The Centennial Record of the University of California, zusammengestellt u. hg. von Verne A. Stadtman u. d. Centennial Publications Staff, 1968, S. 390; Peterson, Kenneth G.: The University of California Library at Berkeley 1900-1945, Berkeley [u.a.] 1970, S. 7.

Christa Habrich

Koppel (Jakob) Herz (1816-1871), Mediziner und »ordentlicher Universitätsprofessor«

Koppel Herz wurde am 2. Februar 1816 als ältester Sohn von elf Kindern des Samson Herz 1 und dessen Ehefrau Rosalia, geb. Rindskopf in Bayreuth geboren. 2 Die Änderung seines Vornamens in Jakob erscheint erstmals im Zusammenhang mit seiner Promotion im Jahr 1839; von Herz selbst wird sie erst nach 1841 gebraucht. Ursprünglich aus Wien stammend, hatten sich seine Vorfahren nach der dort im Jahr 1670 erfolgten Ausweisung der Juden zunächst in Fürth angesiedelt und waren im 18. Jahrhundert unter markgräflich-bayreuthischem Schutz als Hofjuden in Baiersdorf zu Ansehen und Einfluß gekommen. 3 Samson Herz, ein wohlhabender Kaufmann, der u.a. mit dem Dichter Jean Paul befreundet war, erzog seine Kinder zu strenger Religiosität und bot ihnen eine umfassende Bildung. Selbst unter den erschwerten wirtschaftlichen Bedingungen, die sich nach dem plötzlichen Verlust des stattlichen Vermögens für die Familie ergaben und die für Jakob eine entbehrungsreichejugendzeit brachten, konnte dieser das Gymnasium in Bayreuth besuchen, das er 1835 als Klassenprimus absolvierte.4 Gründlich vorgebildet, immatrikulierte er sich am 2.11.1835 in Erlangen im Fach Medizin, dessen allgemeinen Teil er am 31.10.1836 mit der Übertrittsprüfung zum Spezialstudium abschloß. 5 Theodor Kolde mißt dem angeblichen Ausnahmefall, daß sich Jakob Herz - ungeachtet des markgräflichen Privilegs gegen die Ansiedlung von Juden - in Erlangen habe niederlassen dürfen, besondere Bedeutung bei6 - eine Erwägung, die sich bis in die jüngste Literatur hält;7 es wird dabei aber übersehen, daß Erlangen zu dieser Zeit bereits durchaus jüdische Einwohner - auch unter den Studenten8 - aufwies. Herz, gewissenhaft und fleißig, erhielt von allen Professoren, deren Vorlesungen er im Laufe seines vierjährigen Studiums besuchte, ausgezeichnete Beurteilungen.' Die Studienzeit war von Entbehrungen und Schwierigkeiten geprägt, zumal Herz bestrebt war, die jüdischen Speisegesetze streng einzuhalten und sein Essen von Bruck oder Fürth kommen ließ. Einer seiner Professoren, der Zoologe Rudolph Wagner, half seiner Notlage ab, indem er ihm eine Freistelle im Konvikt für Studenten der evangelischen Theologie eine einzigartige Ausnahme - verschaffte. 10 Herz' besonderes Interesse galt der Anatomie, die von Gottfried Fleischmann gelehrt wurde, und der Chirurgie, in die ihn Michael Jäger und Georg Friedrich Louis Stromeyer einführten. 143

Von ihnen erfuhr Herz die größte Förderung und Prägung für seinen weiteren Berufsweg. Nach Abschluß des Studiums gab man im August 1839 seinem Antrag auf Zulassung zur Doktorprüfung statt, sofern das noch ausstehende Sittenzeugnis »ebenso vorteilhaft ausfällt, als die übrigen Zeugnisse« 11 . Am 16. November 1839 wurde ihm die Doktorwürde für Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe verliehen.12 Das Thema seiner Inauguraldissertation, die ungedruckt blieb", deutet bereits sein späteres Spezialgebiet an, in dem er Hervorragendes leisten sollte: »Beiträge zur Lehre von den Verkrümmungen des Fusses«. In der operativen Orthopädie, die Herz 1839 und 1840 zunächst als Privatassistent von Stromeyer 14 , von 1841 bis 1847 als Assistent am »Chirurgischen und Augenkranken-Clinicum« 15 praktizierte, erwarb er sich bald einen guten Ruf als Operateur von Klumpfüßen. 16 Kranke von nah und fern kamen nach Erlangen, um sich von Herz behandeln zu lassen.17 Neben dieser praktischen Tätigkeit übernahm er, nachdem Stromeyer einem Ruf nach München gefolgt war, bereits 1841 Unterrichtsaufgaben an der Universität.18 Diese Lehrverpflichtungen, denen sich Herz mit besonderem Einsatz widmete, haben ihn wahrscheinlich veranlaßt, seine ursprüngliche Absicht, sich als Arzt in seiner Heimatstadt Bayreuth niederzulassen", aufzugeben. Nach dem Universitätsabsolutorium am 25.10.1841 legte Herz vor dem Medicinal-Comit in Bamberg die Staatsprüfung ab. Vom 28. Oktober bis 3. November 1841 beantwortete er in einer Proberelation fünf schriftliche Fragen aus verschiedenen medizinischen Disziplinen; er bestand die Prüfung mit der einstimmigen Beurteilung »Eminens«, der »ersten Note«. 20 Bei der Vereidigung des jungen Arztes wurde - offensichtlich mit Rücksicht auf seine jüdische Religionszugehörigkeit — die Schlußformel abgeändert: In der üblichen Wendung, »so wahr mir Gott helfe, und sein heiliges Evangelium« 21 wurde »Evangelium« durch »Wort« ersetzt. Am 4. Januar 1842 erhielt Jakob Herz die Approbation. 22 Auch unter Stromeyers Nachfolger an der Chirurgischen Klinik, Johann Ferdinand Heyfelder, der als besonders schwierig galt23, arbeitete Herz als Assistent. Er erwarb sich die Wertschätzung des neuen Ordinarius, der später bekundete, nie einen gewissenhafteren und kenntnisreicheren Assistenten als Herz gehabt zu haben.24 Nach der Versetzung Heyfelders in den vorzeitigen Ruhestand wurde Herz 1854 interimistischer Leiter der Klinik; Lehrstuhlnachfolger konnte er als Jude nicht werden. 25 Neben seiner chirurgischen Tätigkeit in Praxis und Lehre galt sein besonderes Interesse anatomischen Studien. Sein ehemaliger Lehrer Fleischmann, Direktor der Anatomie, bemühte sich daher 1847, ihn als Prosektor für sein Institut zu gewinnen. Möglichen Einwänden begegnete er mit dem Hinweis, daß das jüdische Glaubensbekenntnis in diesem Amt viel weniger hinderlich sei als etwa in der Funktion eines chirurgischen Assistenten, die Herz seit Jahren mit Auszeichnung ausübe.26 Am 2.11.1847 wurde Herz die Stelle des Prosektors an der anatomischen Anstalt mit einem Jahresgehalt von 300 Gulden 144

übertragen. 27 Damit war für ihn eine wichtige Voraussetzung geschaffen, Chirurgie und Anatomie zu verbinden und seinem Ziel, diese beiden Disziplinen zu vereinigen, näherzukommen. 28 Die Stationen seiner weiteren akademischen Laufbahn, die durch sein konsequentes Festhalten am jüdischen Glauben beeinträchtigt war, seien nur kurz skizziert: 1854 stellte Herz nach 13-jähriger Lehrtätigkeit einen Antrag auf Habilitation, dem jedoch mit dem Hinweis auf die dafür prinzipielle Voraussetzung der christlichen Religionszugehörigkeit nicht entsprochen wurde. Als Kompromiß und im Interesse des Lehrbetriebs der Universität erlaubte man ihm jedoch, weiterhin Vorlesungen zu halten und diese im »Lectionskatalog« öffentlich anzukündigen. 29 Später, als Fakultät und Senat beantragten, »eine Ausnahme von dem Prinzip christlicher Konfession« zu machen30 und Herz zum außerordentlichen Professor zu berufen, war von den Kontroversen der medizinischen Fakultät um Herz, der es »verschmähe« zu konvertieren, nichts mehr zu spüren.31 Am 4. Juni 1862 wurde er zunächst zum Honorarprofessor, am 3. März 1863 - unter Beibehaltung seiner Prosektorstelle - zum außerordentlichen Professor ernannt, wobei ihm nicht das volle Gehalt, sondern lediglich 600 Gulden im Jahr bezahlt wurden. 32 Erst 1869 berief ihn Ludwig II. auf Antrag von Friedrich Albert (von) Zenker" zum Ordinarius mit einem Jahresgehalt von 1500 Gulden mit der Verpflichtung, seine Funktion als Prosektor unentgeltlich fortzuführen. 34 Herz ist damit der erste ordentliche Universitätsprofessor jüdischer Religion in Bayern. Jakob Herz war ein sehr beliebter Hochschullehrer 35 und gesuchter Arzt, der ganz in seinem Beruf, der ihm Berufung war, aufging. Er gönnte sich keine Mußestunden, nur aus zwingenden Gründen ging er auf Reisen: so im Jahr 1849 nach Wien, um die neuesten Entwicklungen der medizinischen Wissenschaften zu studieren. 1855 besuchte er in Paris seinen todkranken Bruder. Nach einer schweren septischen Erkrankung, die er sich 1842 bei einer Obduktion zugezogen hatte, suchte Herz 1863 Erholung in Reichenhall. Nach den Strapazen der Verwundetenpflege im Krieg von 1870/71 hielt er sich in Schliersee auf.36 Doch die frühzeitig verbrauchten Kräfte regenerierten sich nicht mehr. Jakob Herz starb am 27. September 1871. Seine Lebensleistung läßt sich in einige Schwerpunkte gliedern: Der wissenschaftlich produktivsten Zeit37 zwischen 1839 und 1851 folgte eine Phase intensiver Lehrtätigkeit und ausgedehnter Praxis, wobei sein Einsatz für die Verwundetenpflege in den Kriegen von 1866 und 1870/71 beispielhaft war: Er selbst führte 1870 einen Sanitätszug aus Frankreich nach Erlangen zurück.38 Das besondere wissenschaftliche Interesse von Herz galt der Klärung anatomischer Zusammenhänge von pathologischen Befunden, die ihm in der chirurgischen Praxis begegneten. Hier sind zahlreiche Vorträge zu diesem Thema in der Erlanger »Physikalisch-Medizinischen Sozietät« - neben der Universität seine wissenschaftliche Heimat 39 - zu nennen. Seine Arbeiten über Knorpelgeschwülste40 zeigen ihn sowohl als Operateur als auch als Forscher auf der Höhe der Wissenschaft seiner Zeit. So zögerte die »Sozietät« nicht, seine 145

lateinisch verfaßte Abhandlung »De Enchondromate« zum 100jährigen Bestehen der Universität als Festgabe gedruckt vorzulegen. 41 Mit diesem Beitrag weist sich Herz als Gelehrter jener modernen Wissenschaftlergeneration in der Gefolgschaft von Johannes Müller aus, die den zellulären Strukturen bei der Erklärung von Tumorbildungen besonderes Augenmerk schenkte.42 Herz untersuchte nach allen Operationen, deren genauen Verlauf er beschreibt, die Tumoren makroskopisch, mikroskopisch und chemisch, um auf Grund der histologischen Befunde die Differenzialdiagnose der Geschwülste zu verbessern und Aufschluß für die Prognose zu erhalten.43 Für die mikroskopischen Zeichnungen, die er als Lithographien beifügte, arbeitete Herz mit dem Zoologen Karl Theodor von Siebold zusammen 44 . Einen Tumor bearbeitete er gemeinsam mit dem Anatomen Julius Vogel 45 . Diese Publikation fand große Anerkennung und brachte Herz die Mitgliedschaft in mehreren gelehrten Gesellschaften ein46. Auch in späteren Jahren befaßte er sich eingehend mit Enchondromen und trug die Krankengeschichten jeweils in der »Sozietät« vor.47 Einen Eindruck von dem breiten Spektrum seiner ärztlichen Tätigkeit vermitteln nicht nur seine Diskussionsbeiträge 48 , sondern auch Berichte zu arbeitsmedizinischen 49 , anatomischen 50 und therapeutischen51 Fragen. Herz, der funfjahre Bibliothekar der »Physikalisch-Medizinischen Sozietät« war 52 und den ersten gedruckten Katalog der umfangreichen Bestände herausgab 53 , informierte diese Vereinigung auch über die sensationellen Experimente mit Äthernarkosen 54 . An der chirurgischen Klinik hatten Heyfelder und Herz als erste in Deutschland am 24.1.1847 Operationen unter Ätheranästhesie durchgeführt. 55 Diese bahnbrechende Methode, die es erlaubte, schmerzhafte Eingriffe schonend für den Patienten durchzuführen, machte Herz einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. 56 Er gehörte auch zu den ersten Ärzten, die Chloroform-Narkosen erprobten. 57 Jakob Herz besaß einen untrüglichen Sinn für neue, zukunftsweisende Entwicklungen in der Medizin. Er informierte sich über alle Neuerungen, die den Patienten dienlich sein konnten und zögerte nicht, sie anzuwenden. Schon in der Proberelation von 1841 bewies er beispielsweise genaue Kenntnisse von den neuesten Methoden des Blasensteinschnitts nach Kern. 58 Bei seinem Aufenthalt in Wien 1849 nutzte Herz jede Gelegenheit, von den Vertretern der angesehenen »Zweiten Wiener Schule« zu lernen59, und »Skoda, Hyrtl, Langer, Dumreicher rühmten ihn als einen sehr bescheidenen, kenntnißreichen und eifrigen Mann, Rokitansky erinnerte sich noch Jahre nachher an den kleinen und doch so tüchtigen Mann mit seiner Wißbegierde... « ω . Aus Wien brachte Herz u. a. auch die wichtige neue Erkenntnis über die Ursache des Kindbettfiebers mit, die Ignaz Semmelweis aufgezeigt hatte.61 Lange bevor die revolutionierenden Thesen von Semmelweis publiziert 62 und allgemein anerkannt wurden, hatte Jakob Herz deren Bedeutung erkannt. 1850 legte Herz eine gründliche pathologisch-anatomische Arbeit über Mißbildungen an den Extremitäten vor. Er widmete sie als Festschrift seinem 146

Lehrer Gottfried Fleischmann zum 50jährigen Doktorjubiläum. Auch in diesem Beitrag stellte Herz das ärztliche über das rein wissenschaftliche Interesse: »Wenn solche Fälle mehr als Belege für eine gehemmte Entwicklung oder als anatomische Raritäten Interesse erregen, so hoffe ich ... zu zeigen, daß sie auch für Diagnose und Behandlung dem Arzte wichtig werden können«63. Sein anatomisches Können war auch bei Sektionen gefordert, an deren wissenschaftlicher Auswertung er mitwirkte. 64 Die Lebensleistung von Jakob Herz erschöpft sich keineswegs in seinen medizinischen Arbeiten, sein Wirken besaß nicht allein für die Universität Bedeutung, sondern in besonderer Weise für die Stadt, in der er lebte und für deren Bürger er sich verantwortlich fühlte. Ilse Sponsel hat seinen Einsatz für Kranke und Arme, sein Leben in tätiger Nächstenliebe wiederholt in Erinnerung gerufen. 65 Sein erster Biograph schilderte Herz als einen liebenswürdigen, musischen, hilfsbereiten, anspruchslosen und humorvollen Menschen, der sein »geräuschloses, aber thätiges Leben« uneigennützig in den Dienst seiner Mitmenschen stellte.66 Der Philanthrop Herz war jedoch auch ein homo politicus, der seine rhetorische Begabung für Recht und Freiheit, für die deutsche Einheit und für Bayern einsetzte. 1863/64 trat er dem »Verein für Schleswig-Holstein« bei67; ab 1866 wurde er aktives Mitglied der »Deutschen Fortschrittspartei«68, für die er im Wahlkampf 1869 patriotische Reden in Erlangen und Fürth hielt.69 Erfolgreich bewarb er sich um einen Sitz im Erlanger Gemeindeparlament, dem er als Gemeindebevollmächtigter von 1869 bis zu seinem Tod angehörte. 70 Die Anerkennung seiner staatsbürgerlichen Verdienste bedurfte jedoch nicht erst des politischen Engagements: Für seinen ärztlichen Einsatz im Krieg von 1866 wurde ihm das Ritterkreuz der Ersten Klasse des Ordens vom hl. Michael verliehen,71 1867 überreichte ihm der 1. Bürgermeister die Ehrenbürgerurkunde von Erlangen 72 , das Königreich Bayern zeichnete Herz für seinen freiwilligen Sanitätsdienst im Krieg gegen Frankreich mit dem Verdienstkreuz für das Jahr 1871 aus.73 Auch die Feierlichkeiten nach seinem frühen Tod wurden zu einer Demonstration der Beliebtheit und des Ansehens, das der Arzt in seiner Stadt und in ganz Bayern genossen hatte, und des Geistes der Toleranz, den er Zeit seines Lebens gefordert hatte.74 Für die jüdische Gemeinde, zu der Herz trotz aller Hindernisse, die dies im privaten und beruflichen Leben für ihn bedeutete, treu gestanden hatte, wurde er zu einer Symbolgestalt der Hoffnung. 75 Schon kurz nach der Beisetzung von Herz sammelte man Spenden für die Errichtung eines Denkmals, mit dessen Gestaltung - einer überlebensgroßen Bronzestatue - der Wiener Bildhauer Caspar von Zumbusch beauftragt wurde. Die feierliche Enthüllung, bei der Alois Ritter von Brinz, Ordinarius für Jurisprudenz in München, die Festrede hielt76, fand am 5. Mai 1875 auf dem Erlanger Holzmarkt statt. Es war das erste Denkmal für einen jüdischen Bürger in Deutschland. 77 Familienangehörige und Freunde gründeten eine Stiftung 147

für Medizinstudenten, die, unabhängig von der Religion der Stipendiaten, von 1876 bis 1923 Gelder an »würdige Studirende« vergab. 78 Dem Gedenken an Jakob Herz verpflichtete sich auch eine 1921 in Nürnberg gegründete Loge, die sich nicht nur seinen Namen gab, sondern in ihren Statuten u.a. festlegte, »die Not der Armen und Dürftigen zu lindern, Kranke zu besuchen und zu pflegen ...«. Außerdem trugen die Mitglieder dafür Sorge, daß das Grab von Herz auf dem israelitischen Friedhof von Baiersdorf in würdigem Zustand erhalten wurde. 79 Wenngleich man während der Zeit des Nationalsozialismus versuchte, die Erinnerung an Jakob Herz auszulöschen - Zerstörung des Denkmals, Auflösung der Herz-Stiftung, Aufhebung der Jakob-Herz-Loge - so blieb doch das Andenken an den Erlanger Arzt im Bewußtsein der Bürger seiner Stadt erhalten. Ein neuer Gedenkstein, eine Erinnerungstafel am Wohnhaus sind die äußeren Zeichen dafür.80 Ein Memento besonderer Art findet sich in den Lebenserinnerungen von Stromeyer, der über Herz schreibt: »Friede sei seiner Asche, er war ein trefflicher Mensch, dem ich wenige an die Seite stellen kann, edel und liebevoll, als Arzt gründlich und bescheiden, unermüdlich in Erfüllung seiner Pflichten. Ich habe sein Andenken dadurch geehrt, daß ich nie ein hartes Wort über seine Glaubensgenossen aussprechen konnte« 81 .

Anmerkungen 1 Laut Eintrag i m Kataster »Herzberg«, Stadtarchiv (StadtA) Bayreuth, Kataster über die israelitischen Glaubensgenossen in der Stadt Bayreuth. Stand 1843. 2 A n o n y m verfaßte Biographie, die allen späteren Biographen als Quelle dient, im folgenden zitiert als »Lebensbeschreibung« in: Doctor Jacob Herz. Zur Erinnerung fur seine Freunde, Erlangen 1871, S. 5-28, hier: S. 5 f. 3 Eckstein, Adolf: Geschichte der Juden im Markgrafentum Bayreuth, Bayreuth 1907, S. 64-59. 4 Lebensbeschreibung, S. 6-8. 5 Universitätsarchiv (UnivA) Erlangen, Nr. 140 »Acten des Königl. Medicinal-Comites zu Bamberg, die Probe-Relation des Med. Dr. Koppel Herz aus Baireuth betr.«. 6 Kolde, Theodor: Die Universität Erlangen unter dem Hause Wittelsbach 1810-1910, Erlangen, Leipzig 1910, S. 356.

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7 Sponsel, Ilse: Drei L e b e n s b i l d e r - J ü d i s c h e Schicksale in unserer Stadt, Jakob Herz, in: Das neue Erlangen, Heft 45 (1978), S. 3308 f. Auf die Arbeiten von Ilse Sponsel, der ich viele wertvolle Hinweise verdanke, greifen die meisten späteren Autoren zurück. 8 Wagner, Karl: Register zur Matrikel der Universität Erlangen 1743-1843, München, Leipzig 1918, S. 2, 49, 93, 245. Der auf S. 49 genannte, 1841 immatrikulierte M a y e r Brandis war der Sohn eines Vorbeters am israelitischen Gymnasium in Erlangen. 9 U n i v A Erlangen, Nr. 140. 10 Lebensbeschreibung, S. 8. 11 U n i v A Erlangen, Τ. I, Pos. 9, Nr. 28, Med. Fak 1838/39, Protokoll vom 18.8.1839. 12 U n i v A Erlangen, Nr. 140. 13 U n i v A Erlangen, derzeit nicht auffindbar. 14 U n i v A Erlangen, Nr. 140, Zeugnis von Stromeyer. 15 Simmer, Hans H.: Denkmal für ein Denk-

mal. Zur Erinnerung an den jüdischen Arzt, Chirurgen und Anatomen Jakob Herz (1816-1871) in Erlangen, in: Medizinhistorisches Journal 22 (1987), S. 271-276, hier: S. 272. Der gleiche Aufsatz wurde veröffentlicht in: Uni-Kurier der Friedrich-Alexander-Universität Erlangcn-Nürnberg, Nr. 49, Juli 1983, S. 5 f. 16 Stromeyer, Georg Friedrich Louis: Erinnerungen eines deutschen Arztes, B d . 2, Hannover 1875, S. 135 f. 17 Lebensbeschreibung, S. 9 f. 18 Lebensbeschreibung, S. 11. 19 U n i v A Erlangen, Nr. 140. Auf die Frage der Prüfungskommission am 28.10.1841, w o er sich ansässig zu machen gedenke, gibt Herz zu Protokoll: »in seiner Vaterstadt Baireuth«. 20 U n i v A Erlangen, Nr. 140. 21 U n i v A Erlangen, »Acten des königl. Medicinal-Comites zu B a m b e r g die Proberelation des Med. Dr. Johann Pfeiffer . . . betr.«, 24.7.1837. 22 U n i v A Erlangen, Nr. 140. 23 Simmer, S. 272. 24 Lebensbeschreibung, S. 10. 25 Simmer, S. 272. 26 Simmer, S. 272. 27 U n i v A Erlangen, Th. II, Pos. 1, Nr. 37; Th.I, Pos. 3 a, Nr. 405, Personallisten Nr. 60. 28 Lebensbeschreibung, S. 13. 29 Lebensbeschreibung, S. 16. 30 Simmer, S. 273 f. 31 Lebensbeschreibung, S. 20: Die Unterstützung des Antrags durch die gesamte U n i versität und die bayerische Presse zeigt eine deutliche Wende der politischen Verhältnisse. 32 U n i v A Erlangen, Th. II, Pos. 1, Nr. 37. 33 Simmer, S. 275. 34 U n i v A Erlangen, Th. II, Pos. 1, Nr. 37. 35 Lebensbeschreibung, S. 11. 36 Lebensbeschreibung, S. 18. 37 Eine Personalbibliographie zu Herz ist sehr lückenhaft; Kovacsics, Heinrich: Personalbibliographien der Lehrer der Heilkunde der Universität Erlangen 1792-1900, Diss, med., Erlangen 1967, S. 69 f. 38 Lebensbeschreibung, S. 22 f. 39 Noether, M a x : Geschichte der Physikalisch-Medizinischen Sozietät zu Erlangen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens 18081908, in: Festschrift der Physikalisch-Medi-

zinischen Sozietät zu Erlangen zur Feier ihres 100-jährigen Bestehens am 27. Juni 1908, Erlangen 1908, S. 25, 45, 50; Weisser, Ursula: Die Geburt der Physico-medica aus dem Geist der Leopoldina? Sitzungsber. Physikal-Med. Societät Erlangen, N. F. 2 (1986), S. 72 f., 79-83. 40 Carl Christian Schmidt's Jahrbücher der inund ausländischen gesammten Medicin, Bd. 41 (1844), S. 140 (im folgenden zitiert als »Schmidt's Jahrbücher«); Weisser, S. 73. 41 Herz, Jakob: D e Enchondromate, Erlangen 1843. 42 Diepgen, Paul: Geschichte der Medizin, Bd. 2, 2, Berlin 1955, S. 105-112. 43 Herz, D e Enchondromate, S. 15: » Q u o r u m tumorum diagnosin saepe difficillimam esse intelligitur, imprimis si ossa iis extenduntur; atque priusquam tumor dissectus vel etiam microsopii ope indagatus est, nonnunquam diagnosis certa esse nequit«. 44 Herz, D e Enchondromate, S. 15. 45 Vogel, Julius; Pathologische Anatomie des menschlichen Körpers, in: Samuel T h o m a s von S ö m m e r i n g : Vom Baue des menschlichen Körpers, Bd. 8, 1. Abt., Leipzig 1845, S. 194 f., 198. Vogel, Julius: Erläuterungstafeln zur pathologischen Histologie, Leipzig 1843, S. 50 f.; Tab. X , fig. 9. 46 Lebensbeschreibung, S. 10. 47 Schmidt's Jahrbücher, Bd. 57 (1848), S. 280. Herz nahm 1846 die Biopsie eines Enchondroms vor. 48 Schmidt's Jahrbücher, B d . 52 (1846), S. 142 f. 49 Heyfelder und Herz tragen im Jahr 1845 klinisch-chirurgische Beobachtungen bei Kieferresektionen nach Phosphorvergiftungen in der Nürnberger Phosphorzündholzfabrik vor; Weisser, S. 79 f. Herz berichtet 1850 über Krankheitsfälle in den Wiener Zündholzfabriken; Schmidt's Jahrbücher, Bd. 67 (1850), S. 144. 50 Schmidt's Jahrbücher, B d . 63 (1849), S. 382 f. 51 Schmidt's Jahrbücher, Bd. 59 (1848), S. 269271. 52 Noether, S. 25. 53 Katalog der Bibliothek der physikalischmedicinischen Societät zu Erlangen, Erlangen 1849. 54 Weisser, S. 80; Schmidt's Jahrbücher, Bd. 57 (1848), S. 280: In der Sitzung v o m 1. Februar 1847 teilt Herz »die Beobachtungen mit,

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welche in der chirurg. Klinik über Schwefelätherinhalation gemacht wurden«. Zinganell, Klaus: Geschichte der Inhalationsnarkose, in: Anaesthesie - historisch gesehen, Berlin, Heidelberg 1987, S. 4-20, hier: S. 6. Von einem Arzte: Schwefeläther. Versuche in der chirurgischen Klinik zu Erlangen, in: Allgemeine Zeitung (1847), Beil. zu Nr. 37, S. 290 f. Schmidt's Jahrbücher, Bd. 59 (1848), S. 270 f. U n i v A Erlangen, Nr. 140; Kern, Vinzenz von: Die Steinbeschwerden der Harnblase, ihre verwandten Übel und der Blasensteinschnitt, bei beiden Geschlechtern, Wien 1828. Lesky, Erna: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert, Graz, Köln 1965. Lebensbeschreibung, S. 13. Weisser, S. 81-83; Schmidt's Jahrbücher, Bd. 67 (1850), S. 144. Die erste Veröffentlichung erfolgte 1858 in ungarischer Sprache, in deutsch erst drei Jahre später: Semmelweis, Ignaz: Die Ätiologie, der B e g r i f f und die Prophylaxe des Kindbettfiebers, Pest, Wien, Leipzig 1861. Herz, Jakob: Ueber den Mangel des Wadenbeins, Erlangen 1850, S. 5. Dittrich, Franz/Gerlach, Joseph/Herz, Jakob: Anatomische Beobachtungen und physiologische Versuche an den Leichen von zwei Hingerichteten, in: Vierteljahresschrift für die praktische Heilkunde (Prag), B d . 31 (1851), S. 65-81.

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65 Sponsel, Lebensbilder; Sponsel, Ilse: Menschen in Erlangen lobten ihn als Helfer und Wohltäter, in: Erlanger Nachrichten, Nr. 103 v. 5.5.1983. 66 Lebensbeschreibung, S. 5, 11-12, 15. 67 Lebensbeschreibung, S. 23. 68 Lebensbeschreibung, S. 23 f. 69 Erlanger Tagblatt v. 14.4.1869; Erlanger Tagblatt v. 13.11.1869. 70 StadtA Erlangen, Protokolle des GemeindeCollegiums der Stadt Erlangen 1862-1878. 71 Sponsel, Lebensbilder, S. 3308; Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Ordensakten Nr. 15094. 72 StadtA Erlangen, G. Α. II 706. 73 Sponsel, Lebensbilder, S. 3309. 74 Lebensbeschreibung, S. 27. 75 Stein, Leopold: Dr. Jakob Herz, ein Mann nach dem Herzen Gottes, Frankfurt 1871. 76 Brinz, Alois von: Festrede bei der Enthüllung des Herzdenkmals zu Erlangen am 5. Mai 1875, Erlangen 1875. 77 Ü b e r Entstehung, Einweihungsfeierlichkeiten und das weitere Schicksal des Denkmals s. Sponsel, Ilse: Zur feierlichen Enthüllung des Herzdenkmals am 5. Mai 1875 - die Ü b e r g a b e des Jakob-Herz-Denkmals am 5. Mai 1983, in: D a s neue Erlangen, Heft 62 (1983), S. 48-51. 78 StadtA Erlangen, 596. A. 249. I.; Simmer, S. 276. 79 Staatsarchiv Nürnberg, A G Nürnberg, A g b . 1975, Nr. 9, S. 1, 21. 80 Sponsel, Enthüllung, S. 50 f.; Simmer, S. 276.' 81 Stromeyer, S. 137.

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Fricdrich Julius Stahl, Lithographic.

10 Jakob Herz, Fotografie.

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David Morgenstern, Fotografie.

Heinrich Porges, Fotografie von Joseph Albert, M ü n c h e n , u m 1865.

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Henry Marx

Michael Hahn (1830-1886), Gouverneur von Louisiana

Wie so viele nach 1835 in die Vereinigten Staaten gekommenen deutschen Juden stammte auch Michael Hahn aus der bayerischen Rheinpfalz. Klingenmünster, wo er am 24. November 1830 zur Welt kam, war und ist eine kleine Gemeinde, wenige Kilometer nordöstlich von Bergzabern gelegen und zu dem gleichnamigen Landkreis gehörig. Die Zahl der dort lebenden Juden wird für das Jahr 1823 mit 43 angegeben (Arnold); der durchschnittlichen Kinderzahl entsprechend wären dies höchstens acht bis zehn Familien gewesen. Das Ungewöhnliche an der Auswanderungsgeschichte der Hahns ist die Tatsache, daß das Familienoberhaupt schon gestorben war, als seine Witwe Margarete das Wagnis unternahm, mit fünf unmündigen Kindern im Jahr 1839 in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Wir wissen nicht, was sie dazu bewog, auch nicht, ob Verwandte oder andere Klingenmünsterer schon vorher die beschwerliche Reise unternommen hatten. Die vaterlose Familie kam in N e w York an, zog aber bald nach N e w Orleans weiter - warum gerade dorthin und ob, was wahrscheinlich ist, statt einer gefahrvollen Überlandreise ein Schiff benutzt wurde, ist unbekannt. N e w Orleans war damals das Ziel zahlreicher deutscher Einwanderer; die erste deutschsprachige Zeitung wurde dort 1842 gegründet: »Der Deutsche Courier«, herausgegeben von dem bayerischen Juden Joseph Cohn und von Alfred Schücking. Es gab um diese Zeit auch bereits ein deutsches Viertel in der Stadt, von dem keine Spur erhalten geblieben ist. Die Hahns waren kaum ein Jahr an ihrem Bestimmungsort - damals dem Einfallstor in den Süden der Vereinigten Staaten als die Mutter an Gelbfieber starb. Wer sich der Kinder annahm und wie sie sich durchschlugen, entzieht sich ebenfalls unserer Kenntnis. Von dem elfjährigen Michael ist bekannt, daß er nach dem Besuch der Grundschule eine »High School« erfolgreich absolvierte und anschließend bei einem der bekanntesten Anwälte von N e w Orleans, dem ebenfalls aus Deutschland eingewanderten Dr. Christian Roselius, »in die Lehre« ging. (Es war um jene Zeit üblich, daß junge Leute in Amerika sich auf den Juristenberuf bei einem Anwalt vorbereiteten, ohne eine Universität besucht zu haben, wie dies beispielsweise auch bei dem späteren Präsidenten Abraham Lincoln der Fall war.) Nachdem sich Michael Hahn die juristischen Grundkenntnisse auf diese Weise angeeignet hatte, besuchte er einige Jura-Vorlesungen an der University 153

of Louisiana (heute Tulane University in N e w Orleans) und Schloß sein Studium mit 21 Jahren ab. Seinen Lebensunterhalt während des Studiums bestritt er durch Arbeit in einer Immobilienfirma und gelegentliche Zeitungsartikel für die örtliche Presse. Der junge Rechtsanwalt, zugleich auch »Notary Public«, ein dem deutschen Notar nicht vergleichbarer Urkundsbeamter, machte offenbar rasch von sich reden, denn schon ein Jahr nach seiner Niederlassung wurde er zum Mitglied der Schulbehörde von New Orleans gewählt; einige Jahre später rückte er in die Präsidentschaft dieses wichtigen Amtes auf, das die Kontrolle über das gesamte, wenngleich damals noch recht rudimentäre Schulwesen der Stadt ausübte. Zu dieser Zeit, in den fünfziger Jahren, war das beherrschende Thema in den Vereinigten Staaten die Frage der Sklaverei, die zu einer Spaltung der Nordund Südstaaten führte. Auf welcher Seite Louisiana mit seinen großen Zuckerplantagen stand, wurde nicht einen Augenblick in Frage gestellt; seiner ganzen Struktur nach war es ein Staat, der ohne die Ausbeutung der schwarzen Sklavenarbeiter sich vor der Notwendigkeit gesehen hätte, seine Wirtschaft von Grund auf zu reformieren. In dieser Epoche vor dem Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs wurde Michael Hahn, der der Demokratischen Partei angehörte, zu einem erbitterten Gegner der Sklaverei. Er galt als Anhänger von Stephen Douglas, der 1860 im K a m p f um die Präsidentschaft gegen Lincoln antrat und knapp unterlag. Nicht ganz drei Monate nach der Wahl löste Louisiana seine Bande zu den Vereinigten Staaten und Schloß sich nach kurzer Unabhängigkeit im März 1861 der Konföderation der Südstaaten an. Hahn, der u m diese Zeit sein Notarspatent erneuern mußte, verweigerte den Eid auf die Konföderation und unterstützte offen die von Lincoln ergriffenen Kriegsmaßnahmen. Diese führten u.a. dazu, daß New Orleans bereits Mitte Juli von den Unions-Streitkräften unter Admiral David Farragut besetzt wurde. Michael Hahn war einer der ersten, der sich der Militärregierung zur Verfügung stellte, aber es sollte noch geraume Zeit vergehen, ehe eine Zivilverwaltung wiederhergestellt war. Hahn, der eine »Free State Party« gegründet hatte, wurde im Dezember 1862 in einem der beiden Kongreßdistrikte Louisianas zum Abgeordneten gewählt, aber über seine Tätigkeit ist so gut wie nichts bekannt. Anfang 1864 kaufte er die Tageszeitung »Daily True Delta« in New Orleans und führte sie als Organ der Republikanischen Partei. Lincoln autorisierte die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung für Louisiana im gleichen Jahr, um wieder eine Zivilgewalt im Staat zu etablieren, und Hahn war es, der zum Gouverneur gewählt wurde. Ihm oblag es nun, den Wiederaufbau des durch den Bürgerkrieg schwer geschädigten Staates in die Wege zu leiten, wobei er sich an die von Washington ausgegebenen Richtlinien für die Eingliederung der Schwarzen in die Gesellschaft halten mußte. Kaum hatte er mit dieser Aufgabe begonnen, wurde er zum Senator gewählt; obwohl er den Gouverneursposten aufgab, trat er seine parlamentarische Tätigkeit nie an. 154

Warum er nicht nach Washington ging, ist nur zu vermuten. Lincoln war inzwischen einem Attentat zum Opfer gefallen; sein Nachfolger, der bisherige Vizepräsident Andrew Johnson, geriet in eine folgenreiche Kontroverse mit dem Kongreß, da er das Tempo der Wiederaufbaumaßnahmen im Süden, die sogenannte »Reconstruction«, zu bremsen suchte, die eine Bevorzugung der Schwarzen bedeutet hätte, von denen er annahm, daß sie für die Übernahme der Regierung noch nicht vorbereitet seien. Gegen die zahlreichen Gesetzesvorlagen legte Johnson sein Veto ein, und ebenso automatisch wurde er vom Kongreß mit Zweidrittelmehrheiten überstimmt. Dieser gesetzgeberische Konflikt führte zur ersten Anklageerhebung gegen einen Präsidenten durch das Abgeordnetenhaus und zu einem anschließenden Prozeß durch den Senat, der mit einem Freispruch Johnsons endete. Möglicherweise wollte Hahn nicht in diese Auseinandersetzung hineingezogen werden, weil er trotz seiner strikten Ablehnung der Sklaverei nicht für die rigiden Lösungsvorschläge des Kongresses eintrat, aber auch Johnsons Obstruktionskurs nicht guthieß. In New Orleans und in anderen Teilen Louisianas kam es infolge der Radikalisierung immer wieder zu Unruhen zwischen Weißen und Schwarzen, aber auch zwischen Weißen und Weißen. Bei einer dieser Auseinandersetzungen 1866 in New Orleans wurde Hahn - ob als Teilnehmer oder unbeteiligter Zuschauer, ist nicht bekannt - durch einen Revolverschuß schwer verletzt, der ihn fur den Rest seines Lebens zum Invaliden machte. Seine politische Laufbahn schien zu Ende zu sein; er zog sich einige Jahre später, nachdem er die Zeitung »Daily True Delta« verkauft hatte, in das östlich von New Orleans gelegene St. Charles Parish zurück, um sich zunächst ganz dem Betrieb einer Zuckerplantage zu widmen. Aber trotz seiner körperlichen Behinderung blieb Michael Hahn nicht untätig: Er gründete, unterhalb des großen Lake Pontchartrain, einen Ort am Mississippi, dem er den Namen Hahnville gab (heute ein Städtchen mit knapp 3000 Einwohnern). Er rief dort eine Zeitung ins Leben, den »St. Charles Herald«, den er bis an sein Lebensende leitete. Vier Jahre lang, von 1867-71, war er auch Chefredakteur des »New Orleans Republican«, damals eine der angesehensten Zeitungen der Stadt. Im Jahr 1872 kehrte er ins öffentliche Leben zurück, als er in die Untere Kammer des Staatsparlaments von Louisiana gewählt wurde; eine Zeitlang war er Sprecher des Parlaments. Im Jahr 1879 wurde er von Präsident Rutherford B. Hayes zum Bundesdistriktsrichter für den 26. Distrikt ernannt; diesen hohen Posten bekleidete er bis 1885. Hahn gab das Richteramt auf, das er bis an sein Lebensende hätte behalten können, nachdem er im November 1884 zum zweiten Mal zum Abgeordneten in den Kongreß gewählt wurde. Als er im darauffolgendenjahr sein Amt antrat, waren genau 20 Jahre vergangen, seitdem er aus dem Kongreß ausgeschieden war. In einem an sich von den Demokraten beherrschten Wahlbezirk wurde der Republikaner Hahn mit 3000 Stimmen Mehrheit gewählt. Wiederum endete sein Mandat nach nur knapp einem Jahr: Am 15. März 1886 wurde er in seiner wie es heißt — bescheidenen Wohnung in Washington tot aufgefunden, 155

offensichtlich das Opfer eines Herzschlags. Mit nur 55 Jahren war das ereignisreiche Leben dieses Mannes zu Ende. Seine sterblichen Überreste wurden im Metairie-Friedhof in N e w Orleans beigesetzt. Da bisher die Biographie des vielseitigen Politikers nicht aufgearbeitet wurde, nicht einmal eine längere biographische Abhandlung vorliegt, ist über Hahns Privatleben nur wenig bekannt. Wir wissen nicht einmal, ob er verheiratet war, ob er Kinder hatte, ob er an seinem Judentum festhielt oder sich taufen ließ. Wertungen seines Charakters sind nur spärlich erhalten; sie gehen kaum über Klischees hinaus, wenn ihm etwa attestiert wird, daß er ein Mann von »ungewöhnlichen Fähigkeiten« war, der sich »nie vor Opposition fürchtete« (Faust), oder »dessen Integrität anerkannt« wurde und der »seinen Grundsätzen treu blieb«. U n d da er immer nur kurze Zeit seine verschiedenen Ämter bekleidete, hatte er kaum Gelegenheit, ihnen seinen persönlichen Stempel aufzudrücken, so daß seine Tätigkeit auch nie eine ausreichende Würdigung fand. Wesentlichen Einfluß auf die Geschichte seines Landes zu nehmen, war ihm nicht vergönnt. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß es nur ganz wenige Amerikaner gegeben hat, die allen drei Staatsgewalten, der Legislative, der Exekutive und der Justiz, angehörten und auch Erfahrungen in der Kommunalverwaltung sammeln konnten. Soweit feststellbar, ist Michael Hahn jedenfalls der einzige Einwanderer, der es zu solch einer Reihe von Ämtern gebracht hat - und dies in einem relativ kurzen Leben.

Literatur Arnold, Hermann: Juden in der Pfalz, Landau 1986. Faust, Albert Bernhardt: T h e German Element in the United States, N e w York 21927. Dictionary o f American Biography, N e w York 1932.

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Who Was Who in America, Chicago 1963. Wittke, Carl: We Who Built America. The Saga o f the Immigrant, N e w York Ί948.

Robert Münster

Heinrich Porges (1837-1900), Dirigent und Chorleiter

Trotz der Angriffe Richard Wagners gegen das Judentum zählten gerade zu den engsten Mitarbeitern und Freunden des Komponisten mehrere namhafte jüdische Musiker. Neben Hermann Levi, Karl Tausig, Joseph Rubinstein, Leopold Damrosch und Angelo Neumann gehörte dazu auch der am 25. November 1837 in Prag geborene Heinrich Porges. Als Sohn begüterter Eltern studierte er Philosophie und Rechtswissenschaften an der Universität Prag, nahm aber schon früh u.a. bei Coelestin Müller (Klavier) und Joseph Leopold Zvonar (Kontrapunkt) Musikunterricht. Schließlich Schloß er sich um 1858, mit dem Ziel Klaviervirtuose zu werden, ganz der Neudeutschen Richtung der Musik an, die in ihm einen ihrer überzeugtesten Vorkämpfer gewinnen sollte. Im elterlichen Haus hatte er Franz Liszt (1856), Hans von Bülow (1859) und Peter Cornelius (1860) kennengelernt. 1858 veranlaßte er, daß Liszt eingeladen wurde, in Prag seine »DanteeSymphonie zu dirigieren. 1861 war er dem Komponisten, als dessen unehelicher Sohn er gelegentlich - kaum zu Recht - bezeichnet wird, bei der Drucklegung der »Faust«-Symphonie, wahrscheinlich beim Korrekturlesen, behilflich. U m diese Zeit, von 1859 bis 1862, war er auch als Prager Mitarbeiter der »Neuen Zeitschrift für Musik« tätig. In seiner ersten Konzertkritik vom 7. Januar 1859 besprach er u.a. Wagners »Faust«-Ouvertüre. Heinrichs jüngerer Bruder Fritz lebte als Arzt in Wien und hatte dort Richard Wagner und seinen Kreis kennengelernt. Aus diesem kam von Cornelius und Tausig die Idee zu einem Wagner-Konzert in Prag. Heinrich Porges schrieb daraufhin an Wagner und machte ihm den Vorschlag, an der Prager Universität ein Wohltätigkeitskonzert für arme Mediziner zu dirigieren. Als Wagner eine finanzielle Garantie verlangte, organisierte Porges eine Subskription und ging darin selbst mit gutem Beispiel voran. Die drei Konzerte, die Wagner im Februar 1863 dirigierte, ergaben ein Defizit von nur 5 Gulden. In »Mein Leben« (II, S. 726) schrieb Wagner über den jungen Musiker, der sich auch an der Einstudierung der Gesangspartien beteiligt hatte: »Der junge Porges, ein entschiedener Parteigänger für Liszt und mich, gefiel mir sowohl persönlich als durch seinen mir bewiesenen Eifer sehr gut«. Im gleichen Jahr erhielt Porges den Antrag, Pianist bei Fürst Friedrich Wilhelm Konstantin Hohenzollern-Hechingen in Löwenberg zu werden, und er war als solcher offenbar auch kurze Zeit tätig. Inwieweit die durch Richard 157

Batka mitgeteilte Überlieferung zutrifft, Porges hätte sich 1863 von seinen Eltern getrennt, weil sie Wagner bei einem Besuch nicht mit genügend Ehrerbietung begegnet seien, und er habe Prag mit diesem heimlich verlassen, steht dahin. Jedenfalls verlegte Porges seinen Wohnsitz 1863 nach Wien, wo er Musiklehrer und weiterhin auch Mitarbeiter der »Neuen Zeitschrift für Musik« war. Für Wagner, dem er ein Konzert im November 1863 in Löwenberg vermittelte, war damals »in Wien in üblen Zeiten nur er [Porges] der einzige, an den ich mich wenden konnte« (Wagner an Porges, 25.6.72). Nach der überraschenden Berufung Wagners nach München durch Ludwig II. im Mai 1864, bot Wagner Porges noch im gleichen Monat an, für 400 Gulden Gehalt sein Sekretär zu werden. Dieser lehnte vorerst ab, kam aber im kommenden Jahr auf der Hochzeitsreise mit seiner ebenfalls in Prag geborenen Frau Wilhelmine zur Uraufführung von »Tristan und Isolde«. Seine hochgewachsene Gestalt ist auf dem Gruppenbild der Getreuen Wagners festgehalten, das am 17. Mai 1865 beim Hoffotografen Joseph Albert entstand. Porges blieb auf Wagners Veranlassung in München. Er sollte an der Musikschule, deren Eröffnung für den 1. Oktober geplant war, Klavierunterricht erteilen und Vorlesungen über Ästhetik halten sowie eine projektierte neue Zeitschrift redigieren. Als die Verwirklichung dieser Pläne auf sich warten ließ und Wagner München am 10. Dezember 1865 verlassen mußte, kehrte Porges, der ohne festes Einkommen war, um die Jahrhundertwende nach Wien zurück. Dort war er u.a. an der Kopie der Originalpartitur der »Walküre« beteiligt. Wagner setzte seine Bemühungen fort, Porges eine sichere Position zu verschaffen. Im September 1866 bot er ihm die Stellung eines Intendanten oder künstlerischen Geschäftsführers bei der noch für Nürnberg geplanten Uraufführung der »Meistersinger« an. Spätestens seit Juli 1866 war Porges wieder in München. Er betätigte sich als Privatlehrer und schrieb für Ludwig II. eine von diesem begeistert aufgenommene Einführung zu »Tristan und Isolde«, als »ersten umfassenden Versuch... den psychologischen Entwicklungsgang und die ethische Grundlage des Werks zu erfassen« (Brief an Ludwig II., 27.6.1867). In der Folge entstanden Aufsätze über die »Meistersinger« (1868) und über »Lohengrin« (1869). Für ein Vierteljahr war Porges Redakteur bei der ab 24. September 1867 erscheinenden »Süddeutschen Presse«, deren künstlerisches Feuilleton den Ideen Wagners offenstehen sollte. Wagner veröffentlichte hier seine Artikelserie »Deutsche Kunst und deutsche Politik«, die, kulturpolitisch getarnt, die bayerische Politik kritisierte und deshalb mit Folge 13 am 19. Dezember 1867 eingestellt werden mußte. Am 14. Oktober 1868 schrieb Wagner an Ludwig II., er lege ihm nochmals das Schicksal von Heinrich Porges ans Herz: »Ich habe nun zweimal Unglück mit ihm gehabt, zu seiner Berufung nach München beigetragen, ohne ihm endlich den geeigneten Wirkungskreis anweisen lassen zu können. Er versteht und kennt mich und meine wahrhaftesten Intentionen am Besten, ja fast einzig: eben deshalb steht er einsam, und keiner der Routinemenschen weiß, was mit ihm anzufangen. Doch ist meine wahre Meinung, daß die Schule durchaus 158

unvollständig ist, wenn nicht gerade Porges eine bedeutende Wirksamkeit zugewiesen wird. Dies genüge!«. Porges erhielt denn auch eine Stelle als Klavierlehrer an der unter Hans von Bülow im Herbst neueröffneten Musikschule, war aber allem Anschein nach nur ein Studienjahr lang bis zu Bülows Weggang dort tätig. Bülow hatte es abgelehnt, die gegen den Willen Wagners von Ludwig II. für 1869 befohlene Uraufführung des »Rheingold« zu dirigieren. Als der König 1870 auch die »Walküre« aufgeführt sehen wollte, sollte Porges die Uraufführung dirigieren, doch dieser lehnte in Übereinstimmung mit Wagner ab. Die Einsetzung Franz Wüllners als Opernkapellmeister mag dann Porges - mit Wagners Einverständnis - bewogen haben, bei der Hoftheaterintendanz den Antrag zu stellen, ihn »mit der Direktion eines Theiles der musikalischen Dramen Wagners betrauen zu wollen«. Der König gab Anweisung, das Gesuch »nach Tunlichkeit« zu berücksichtigen und verlieh Porges am 19. Dezember 1870 den Titel eines »Kgl. Musikdirektors extra statum«. Dirigate von Meyerbeers »Robert der Teufel« und Wagners »Lohengrin« erwiesen jedoch die mangelnde Theatererfahrung von Porges, dem empfohlen wurde, sich an einer auswärtigen Bühne die entsprechende Routine zu erwerben. Fortan war er nicht mehr an der Hofoper tätig. Weil Cornelius aus seiner begründeten Meinung kein Hehl machte, Porges sei kein geborener Dirigent, aber ein hervorragender Schriftsteller, kam es 1873 zum Bruch der langjährigen Freundschaft. Das Dirigieren blieb Porges' unglückliche Liebe, doch nun trat die Chorarbeit, die ihm weit mehr lag, in den Vordergrund. 1885 gründete er den privaten »Porges'schen Chorverein« ohne eigentlichen Vereinsstatus und trat mit diesem, von kleinen Konzerten bis zu großen Aufführungen mit Orchester fortschreitend, alljährlich an die Öffentlichkeit. Persönliche Opfer nicht scheuend, setzte er sich für Zeitgenossen wie Anton Bruckner, Peter Cornelius oder Richard Strauss ein, doch sein bleibendes Verdienst liegt darin, Werke von Hector Berlioz, vor allem aber von Franz Liszt in München bekanntgemacht zu haben. So brachte er von Berlioz u. a. 1889 das »Te Deum« als deutsche Erstaufführung, 1891 »Fausts Verdammnis« und 1900 »Romeo und Julia«, von Liszt u.a. 1890 die »Graner Festmesse« und das mehrmals aufgeführte Oratorium »Christus«. Sein Enthusiasmus, sein künstlerischer Ernst, aber auch die Leistungen seines Chores machten die Aufführungen zu vielbeachteten Ereignissen des Münchner Konzertlebens, wenn auch junge Musiker wie Ludwig Thuille, Friedrich Rösch oder Hermann Bischoff nicht mit Kritik an diesem Repräsentanten einer fur sie schon vergangenen Zeit sparten. In seiner sehr polemischen Schrift »Musik-ästhetische Streitfragen« (München 1897, S. 124 f.) spricht Rösch, ohne Porges mit Namen zu nennen, von dessen »erheiternd unbeholfenen Dirigierrevolutionen« und den Aufführungen, die trotz einer vorzüglichen Sängerschaft nur einem höheren Dilettantismus genügt hätten. Bayreuth hat Heinrich Porges viel zu danken. 1876 war er einer der Assistenten Wagners bei der Uraufführung des »Ring des Nibelungen« gewesen. Von 1882 bis 1897 wirkte er als Solorepetitor oder Chorleiter und studierte 159

u. a. den Chor der Blumenmädchen im »Parsifal« ein, was ihm von Wagner den Spitznamen »Blumenvater« eintrug. Von bleibender Bedeutung sind seine Schriften zu Werk und Wirken Richard Wagners. Von den Bayreuther Bühnenproben 1876 hat Porges auf Wagners Wunsch detailliert die Anweisungen des Komponisten zu Werk und Wiedergabe festgehalten und sie in einen umfassenden geistigen Zusammenhang gestellt. Auch zum »Parsifal« 1882 ist in einem Klavierauszug eine genaue Niederschrift der Bemerkungen Wagners zu den Klavier-, Szenen- und Orchesterproben erhalten. Richard Wagner, der die Schriften von Porges nach Liszts Zeugnis »sehr ausnahmsweise anerkannte« (Brief an Julius Schubert, 4.5.74), und dessen Familie war Heinrich Porges in unverbrüchlicher Treue verbunden. A m 15. Mai 1898 schrieb er an Richard Batka über Wagner: »Solche dämonische Persönlichkeiten können nicht nach gemeinem Maßstab beurteilt werden. Sie sind Egoisten im großen Stile, müssen dies sein, da sie sonst ihre Mission nicht erfüllen können«. 1883 war Porges einer der Sargträger bei der Beisetzung Wagners. Dessen Kunst war ihm - wie Siegfried Wagner es ausgedrückt hat - Glaubenssache, die Musik Franz Liszts aber Herzenssache, für deren Durchsetzung er bahnbrechend gewirkt hat. Innerhalb der bisher quellenmäßig nicht erfaßten und kaum gewürdigten schriftstellerischen Tätigkeit von Porges nehmen die Konzertkritiken einen breiten Raum ein. Bald zwei Jahrzehnte, von 1882 bis 1900, betreute er, nach den Worten von Oskar Merz, ein Kämpfer für Hoheit, Reinheit und Heiligkeit der Kunst, das Ressort für Konzertkritik der »Münchner Neuesten Nachrichten«. Viele aufstrebende Talente, aber auch anerkannte Komponisten wie Anton Bruckner, Gustav Mahler oder Hugo Wolf verdankten ihm Förderung. Nur zu Johannes Brahms gewann er kein Verhältnis. Richard Braungart berichtet, daß sich Porges konsequent weigerte, ein Konzert zu besuchen, in welchem ein Werk von Brahms auf dem Programm stand. So ist die Vernachlässigung dieses Komponisten im Münchner Musikleben bis 1900 nicht zuletzt auch ihm zuzuschreiben. Als Komponist hinterließ Porges drei Druckwerke: »Sieben [schöne, stimmungsvolle] Lieder« (München: Schmid 1888), den Chor »Über allen Gipfeln ist Ruh« (Leipzig: Fritsch 1892) und eine »Elegie für Klavier« (München: Schmid 1901). Porges starb am 18. November 1900, einen Tag nachdem er in der Generalprobe seiner vierten Einstudierung des »Christus« von Liszt einen schweren Herzanfall erlitten hatte. Der zum evangelischen Glauben Übergetretene fand seine letzte Ruhestätte im Münchner Ostfriedhof. Siegfried Wagner und der Hoftheaterintendant Ernst von Possart hielten die Grabreden. Porges war ein selbstloser Idealist im besten Sinne des Wortes, von vornehmer Gesinnung und umfassender Bildung. Einerseits milde, still in sich gekehrt, war er aber auch streitbar und glühender Leidenschaft fähig, wenn er für seine Überzeugung eintrat. »Offen, ehrlich und rückhaltlos sprach er sein abgeklärtes Urteil aus. Nie machte er ein Hehl aus seiner Überzeugung. Aber mit dieser männlichen Bekenntnisfreudigkeit seiner Ideale verband er eine

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Vornehmheit der Gesinnung und der Form, die jede persönliche Verletzung mied und nur der Sache galt«, so würdigte ihn Redakteur Trefz von den »Münchner Neuesten Nachrichten« in seiner Grabrede. »Er suchte nur immer das Schöne und Beseligende in unserer heiligen Kunst«, erinnerte sich Siegfried Wagner, »das oft Häßliche ihres geschäftlichen Betriebs hat ihn wohl verstimmen, aber nicht seinen reinen Zielen wankend machen können«. Seine Tochter Elsa Porges-Bernstein, eine angesehene Schriftstellerin ihrer Zeit, setzte ihrem Vater in ihrem Werk ein Denkmal, in dem sie zum einen den großen Einfluß des Vaters auf ihr eigenes Werk würdigte und zum anderen dessen Problematik als Künstler wiederholt thematisierte. Die wichtigsten Schriften von Heinrich Porges zu Richard Wagner Beiträge zur Erkenntnis von Richard Wagners Kunstschaffen. Die G r u n d i d e e des Ringes des N i b e l u n g e n , des Tristan u n d der Meistersinger. Das Vorspiel der Meistersinger, in: Musikalisches Wochenblatt 2 (1871), S. 433-437, 468-470 und 481-485; Die A u f f ü h r u n g von Beethovens neunter S y m p h o n i e unter Richard Wagner in Bayreuth, Leipzig 1872; Das Wesen des Tragischen u n d Richard Wagners Tristan und Isolde, in: Musikalisches Wochenblatt 3 (1873), S. 625-626, 673-674, 735-737, 767-769 u n d 799-801; Das Bühnenfestspiel in Bayreuth, eine Studie über Wagners Ring des N i b e l u n g e n , M ü n c h e n 1876, 2 1877; Die B ü h n e n p r o b e n zu den Bayreuther Festspielen des Jahres 1876, C h e m n i t z , (später) Leipzig 1881-1896; Tristan u n d Isolde, hg. v. H a n s von Wolzogen, Leipzig 1906; Richard Wagners P r o b e n b e m e r k u n g e n zu Regie und Musik des Parsifal 1882 nach den Klavierauszügen von Heinrich Porges u n d Julius Kniese, in: D o k u m e n t e zur E n t s t e h u n g u n d ersten A u f f u h r u n g des Bühenweihfestspiels Parsifal, hg. v. Martin Geck und E g o n Voss, Mainz 1970, S. 165 ff. (Richard Wagner. Sämtliche Werke. 30). Literatur Batka, Richard: Kranz, G e s a m m e l t e Blätter über Musik, Leipzig 1903, S. 159-182; ders.: Wagners erstes Konzert in Prag, in: Deutsche Arbeit 8 (1908/09), S. 375-382 und 9 (1909/10), S. 153-156; Braungart, Richard: Freund Reger, E r i n n e r u n g e n , Berlin 1949; Cornelius, Carl Maria: Peter Cornelius, Regensburg 1928 (Deutsche Musik 45.46); Gleibs, Y v o n n e : J u d e n im kulturellen u n d wissenschaftlichen Leben M ü n c h e n s in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, M ü n c h e n 1981, S. 160-168 (Miscellanea Bavarica Monacensia 76); A(rthur) H(ahn): Heinrich Porges, in: N e u e Musikzeitung 21 (1900), S. 296 f.; Heuberger, Richard: Heinrich Porges, in: Biographisches Jahrbuch und Deutscher N e u k o l o g 5 (1903), S. 159-182; Jugendstil-Musik? M ü n c h n e r Musikleben 1890-1918, Red. v. Robert Münster, Wiesbaden 1987 (Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge 40); Franz Liszt in seinen Briefen, hg. v. Hans Rudolf j u n g , Berlin 1987, S. 241; L u d w i g II. und Richard Wagner, Briefwechsel, bearb. v. O t t o Strobel, Bde. 1-5, Karlsruhe 1936-1939; Merz, Oskar: Heinrich Porges, in: M ü n c h n e r Neueste Nachrichten v. 20.11.1900; Münster, Robert: König L u d w i g II. u n d die Musik, Rosenheim 1980, S. 111-117; Bei Richard Wagner in Triebschen. Aus Tagebuchblättern von Heinrich Porges, in: Süddeutsche M o n a t s h e f t e 30 (1933), S. 305-311; Stemplinger, E d u a r d : Richard Wagner in M ü n c h e n 1864-1870, M ü n c h e n 1933, S. 137-140; Wagner, C o s i m a : Die Tagebücher, 2 Bde., M ü n c h e n 1976; dies.: Das zweite Leben, hg. v. Dietrich Mack, M ü n c h e n 1980; Wagner, Richard: Briefe, ausgew. u. erl. von Wilhelm A l t m a n n , Bd. 2., Leipzig 1925; ders.: Mein Leben, 2 Bde., M ü n c h e n 1869; Wagner, Siegfried: An Heinrich Porges' Grabe, in: Bayreuther Blätter 24 (1901), S. 2 f.; Bayerisches Hauptstaatsarchiv M ü n c h e n , Staatstheater 1001 (kgl. Musikdirektor 1870 f.).

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H e r m a n n Levi, Fotografie, 1883.

Ina Ulrike Paul

Hermann Levi (1839-1900), der erste »Parsifal«-Dirigent

»Wundervoll haben Sie dirigiert, Levi, ganz wundervoll!«. »Ja, ich wußte doch auch, daß Sie hinter mir sitzen. Ich kann mein Allerbestes eigentlich nur thun, wenn mindestens Einer da ist, der zu hören weiß«. »So geht's mir nicht, das Kunstwerk ist doch immer da, und ich bin da: für uns Beide thue ich schon mein Bestes.« In diesem markanten Wortwechsel 1 nach einer von Hermann Levi dirigierten Ehrenvorstellung des »Barbiers von Bagdad« für Hans von Bülow scheinen zwei bedeutende Wagner-Dirigenten ihrer Zeit ihre Selbsteinschätzung formelhaft darzubieten: Bülows herausfordernd vorgetragenem Selbstbewußtsein (er hielt Levi im übrigen für einen »vorzüglichen Dirigenten« 2 ), stehen Hermann Levis große Bescheidenheit und sein Hang gegenüber, die eigenen Erfolge unter Hinweis auf deren Abhängigkeit von Werk und Leistungen großer musikalischer Vorbilder zu relativieren, wie dies in besonderer Weise auf seine Beziehung zu Wagner zutraf. Der »berufene 'Parsifal'-Dirigent« 4 , einer der herausragenden deutschen Musiker des letzten Jahrhunderts, lebte in der Erinnerung seiner Zeitgenossen als umfassend gebildeter, kultivierter kleiner Herr mit edel geschnittenen Gesichtszügen (die Franz von Lenbach Modell für ein Christusbild waren5), dessen »feuriges Temperament« von analytischem Verstand gezügelt wurde, dessen »hinreissende Liebenswürdigkeit« und Großzügigkeit seine Mitmenschen bezauberten 6 . Seine Autorität in musikalischen Fragen war ebenso unbestritten wie seine fundierten literarischen Kenntnisse, vor allem der Werke Goethes; als »freigeistiger Mensch« 7 in religiösen Dingen von »merkwürdiger Objektivität« 8 , sah er sich gerade seiner jüdischen Glaubenszugehörigkeit wegen häufigen Anfeindungen, (besonders von Seiten der WagnerAnhängerschaft) ausgesetzt. Zu seinem Freundeskreis zählten bedeutende Künstler und Literaten wie Franz von Lenbach, Hans von Mares, Arnold Böcklin, Anselm Feuerbach, der Bildhauer Adolf von Hildebrand, der Kunstmäzen Carl Fiedler, der Kunstkritiker Alfred von Mensi-Klarbach, der Literaturhistoriker Michael Bernays, der Literatur-Nobelpreisträger und überzeugte Wagner-Gegner Paul Heyse, der Satiriker und Illustrator Wilhelm Busch, der Theaterintendant Ernst von Possart wie auch viele der großen Musiker seiner Zeit. Ein sechsjähriges musikalisches »Wunderkind«, gab der am 7. November 1839 geborene Hermann Levi 1844 sein erstes Klavierkonzert in seiner Vater163

Stadt Gießen; die so früh offenbare musikalische Begabung des Knaben wurde in seinen Mannheimer Gymnasialjahren (1852-1855) durch Hofkapellmeister Vinzenz Lachner, der Levi Musikunterricht erteilte, weiter gefördert. Dieser väterliche Freund und tatkräftige Mentor unterstützte Levi auch in seinem Entschluß, nicht Medizin - wie seine Eltern, der hessische Landesrabbiner Dr. Benedikt Levi und seine Frau Henriette, es wünschten - , sondern Musik zu studieren. 1855 begann Levi sein Studium am Leipziger Konservatorium unter der Leitung von Ignaz Moschele bei Julius Rietz, Moritz Hauptmann und Karl Reinecke; seine Lehrer — so Lachner 1860 in einem Empfehlungsschreiben' gaben ihm das Zeugnis »des begabtesten und hoffnungsvollsten Schülers des ganzen Konservatoriums«. Zunächst konzentrierte er sich auf Kompositionslehre, entschied sich aber bald für die Dirigentenlaufbahn. Während seines dreijährigen Studienaufenthaltes gründete Levi mit Freunden einen Verein, der Robert Schumanns Musik zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen und sie »popularisieren« sollte; in diesem Sinne sprach sich Levi etwa seinem Freund Lachner gegenüber Ende 1857 so nachdrücklich aus, daß sich dieser gegen den Verdacht einer »prinzpiellen Abneigung gegen Schumann« mit dem Hinweis verteidigte, daß ihn Schumanns »tiefer Geist« zwar von jeher »angezogen« habe, ihm aber dessen Erscheinungsform in vielen Schumannschen Kompositionen nicht gefalle. Einige »empfindungsstarke« 1 0 Liedkompositionen Levis und sein in Paris entstandenes Klavierkonzert op. 1 a-moll zeigen ihn stark von Schumann beeinflußt. Nach einem Studienjahr in Paris (1858/59) fand Levi im September 1860 seine erste Anstellung als Kapellmeister in Saarbrücken; im Juni des darauffolgenden Jahres wurde er auf Empfehlung seines Lehrers Lachner zunächst Vertreter, dann Nachfolger des erkrankten Musikdirektors Louis Hetsch als 2. Kapellmeister in Mannheim. Da Lachner ihm nicht nur das zu seiner Aufgabe gehörende »Einstudieren des Chors, Dirigieren der Operetten, Possen p.p.«", sondern auch bald »mit Vergnügen das Groß- und Kleinvieh des Opernstalles« überließ, konnte Levi in Mannheim die Grundlage seiner glänzenden Dirigentenlaufbahn legen. Hier stellte er auch als Klaviervirtuose seine eigenen Kompositionen mit großem Beifall vor; ihre »geringe Lebensfähigkeit« wurde später auf Levis überragende Propagandatätigkeit für Wagner und seine damit mehr reproduktive Wirksamkeit zurückgeführt 12 . Noch im gleichen Jahr 1861 wurde dem erst 22jährigen Dirigenten die vakante Stelle des 1. Kapellmeisters der deutschen (Saison-)Oper Rotterdam übertragen; von Anfang an hatte Levi »überraschenden Erfolg« 1 3 bei Orchester, Ensemble und Publikum zu verzeichnen und erregte vor allem durch seine Aufführung von Wagners »Lohengrin« Aufmerksamkeit". Eine der bedeutendsten Theatergrößen seiner Zeit, der Karlsruher Hoftheaterdirektor Eduard Devrient, der Levi im Mai 1863 auf einer Reise »zur Completierung des Personals« 15 kennengelernt hatte, berief den jungen, »wagemutigen« 1 6 Kapellmeister 1864 als Nachfolger von Joseph Strauß nach Karlsruhe. Seine enge Zusammenarbeit mit Devrient, die Gunst des 164

engagierten, an M u s i k u n d K u n s t interessierten G r o ß h e r z o g s Friedrich I. u n d vor allem seine h e r a u s r a g e n d e B e g a b u n g ließen Levi bald den gleichrangigen, aber dienstälteren D i r i g e n t e n W i l h e l m K a l l i w o d a ü b e r f l ü g e l n " . N a c h k u r z e r Z e i t w u r d e n Levi die K o m p e t e n z e n eines p r i m u s inter pares e i n g e r ä u m t , was der » g u t m ü t h i g e u n d brave« Kalliwoda 1 8 , der seinen u m so viel j ü n g e r e n u n d talentierteren Kollegen schätzte, neidlos h i n n a h m . Als erste O p e r dirigierte Levi in K a r l s r u h e d e n » L o h e n g r i n « , der als weitere W a g n e r - O p e r 1869 die »rühmlich« 1 9 a u f g e n o m m e n e n »Meistersinger v o n N ü r n b e r g « f o l g t e n . U n t e r d e m E i n f l u ß D e v r i e n t s , dessen Vorliebe d e m klassischen Repertoire galt, übersetzte Levi die ersten, vor allem italienischen u n d französischen O p e r n l i b r e t t i . Verdienstvoll ist auch seine W i e d e r h e r s t e l l u n g der Rezitative v o n Rossinis »Der B a r b i e r v o n Sevilla«, m i t der er die u r s p r ü n g l i c h e Fassung des Werkes der d e u t s c h e n B ü h n e w i e d e r z u g ä n g l i c h m a c h t e . Levi f ü h r t e d a r ü b e r hinaus die K o m p o s i t i o n e n seines Freundes J o h a n nes B r a h m s vor K a r l s r u h e r P u b l i k u m erfolgreich auP°; i m S o m m e r 1861, n o c h als R o t t e r d a m e r Kapellmeister, hatte Levi die B e k a n n t s c h a f t des scheuen u n d etwas eigenwilligen B r a h m s gesucht, w i e ü b e r h a u p t sein reges Interesse an der zeitgenössischen M u s i k meist auch die Person des K o m p o n i s t e n einbezog. D r e i Jahre später, n a c h einer e r n e u t e n B e g e g n u n g beider i m H a u s e Clara S c h u m a n n s in B a d e n - B a d e n , w u r d e der F r e u n d s c h a f t s b u n d geschlossen, zu d e m auch der K a r l s r u h e r K u p f e r s t e c h e r u n d B i o g r a p h A n s e l m Feuerbachs, Julius Allgeyer, g e h ö r t e ; ein bis 1878 w ä h r e n d e r geistreicher Briefwechsel e n t s p a n n sich z w i s c h e n ihnen, der Z e u g n i s v o n der Innigkeit u n d P r o d u k t i v i t ä t dieses Verhältnisses ablegt, u n d nicht zuletzt die Einstellung beider zu den » Z u k ü n s t l e r n « , d e n » Z u k u n f t s m u s i k e r n « Liszt u n d Wagner verdeutlicht. D i e anfänglich h ö c h s t skeptische u n d v o n B r a h m s o f t ins Positive korrigierte H a l t u n g Levis Wagner g e g e n ü b e r w i c h g e g e n E n d e der 60er Jahre zunächst t i e f e m Respekt 21 ; w ä h r e n d sich Levi n a c h u n d n a c h zu k r i t i k l o s e m , j a k r i t i k u n f ä h i g e m E n t h u s i a s m u s f ü r Wagners Persönlichkeit u n d seine M u s i k e n t f l a m m t e , erkaltete seine B e z i e h u n g zu B r a h m s bis z u m - auf beiden Seiten schmerzlich e m p f u n d e n e n - B r u c h ihrer F r e u n d s c h a f t . A u s d e m s e l b e n G r u n d brach der b e f r e u n d e t e K o m p o n i s t u n d Kapellmeister F e r d i n a n d Hiller, der Levi bei der B e r u f u n g n a c h K a r l s r u h e tätig u n t e r s t ü t z t hatte 22 , 1878 m i t Levi. A u c h sein treuer F ö r d e r e r Vinzenz Lachner w a r nicht gewillt, den »Cultus« des »verirrten« Levi f ü r den v o n Lachner zutiefst verabscheuten »neuen Meister« zu ertragen 2 3 ; in e i n e m b e w e g e n d e n A b schiedsbrief sagte er sich 1880 v o n seinem e h e m a l i g e n Schüler los. O b w o h l Levi n o c h 1869 eine B e r u f u n g nach W i e n - freilich nicht auf eine erste Kapellmeister-Stelle 2 4 - u n t e r H i n w e i s auf seine »hiesige, so selbständige u n d m i r in vieler H i n s i c h t so s y m p a t h i s c h e Stelle« 25 , ablehnte, b r a c h t e schon das nächste Jahr entscheidende V e r ä n d e r u n g e n . E d u a r d D e v r i e n t , an den er einige seiner K a r r i e r e h o f f n u n g e n g e k n ü p f t hatte, trat 1870 z u r ü c k ; der b e f ü r c h t e t e n »Adels- u n d U n t e r r o c k s Wirtschaft« wollte Levi sich nicht zur V e r f ü g u n g stellen.

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Im April 1870 wandte sich der Intendant des Münchner Hoftheaters, Carl Freiherr von Perfall, auf der bis dahin vergeblichen Suche nach einem Dirigenten für die von Wagner wegen der ungenügenden Vorbereitung abgelehnten, vom König dennoch befohlenen Erstaufführung der »Walküre« an Levi. Dieser vergewisserte sich Wagners Ansicht - und sagte ab26. Die Verpflichtung für diese Opernaufführungen (»Walküre« und »Rheingold«) war übrigens noch mit dem »Antrag definitiver Uebernahme der Kapellmeisterstelle« in München verknüpft worden; gerade auf letztere wollte Levi aber wegen der »unklaren«, »unsicheren« Münchner Konstellation zwischen dem »schwankenden König und dem ewig drohenden Jupiter tonans in Luzern27, dessen Freundschaft und Feindschaft gleich unheilbringend zu sein scheinen«28, nicht eingehen. Erst zwei Jahre später akzeptierte er das erneuerte Münchner Angebot; die Freude über die nach schwierigen Verhandlungen erreichten »glänzenden Bedingungen« äußerte er in Briefen an seinen Vater und an Brahms29. Im Herbst 1872 trat Hermann Levi die Hofkapellmeisterstelle in München an, wo er in den nächsten beiden Jahrzehnten internationales Renomme als Opern- und Konzertdirigent erwarb. Im Oktober 1872 stellte sich Levi mit einer Aufführung von Mozarts »Zauberflöte« dem Münchner Publikum vor: »Der Erfolg des Abends war entscheidend; Publikum, Presse und nicht zuletzt die mitwirkenden Kräfte vereinigten sich in einmütiger, hellster Begeisterung« 30 . Nach einer ebenso gelungenen Vorstellung der »Meistersinger« begann der »Kalliwoda Münchens«, Franz Wüllner, dessen Stärken mehr bei der Chordirektion und auf dem Gebiet der Kirchenmusik lagen, um seine Stellung zu fürchten. Der Kampf um die »Hegemonie in Theater und Konzertsaal«31 wurde mit der von Perfall warm befürworteten Berufung Wüllners zum Musikdirektor in Dresden (1876) entschieden; Levi stand jetzt unangefochten an der Spitze des Münchner Musiklebens. Er dirigierte die Oper, die Akademiekonzerte im Odeon - deren außerordentliches Niveau, was Programmgestaltung und musikalische Qualität betraf, allgemein gelobt wurde 32 - , und er leitete die »Musikalische Akademie« (1877-1898). Gastspielreisen führten ihn nach Spanien33 und Frankreich. Zeitgenossen Levis stimmen darin überein, daß er »kein Schaudirigent und Pultvirtuose« 34 gewesen sei, sondern das Orchester wie die Bühne durch »kleine, scharfe, aber äußerst charakteristische Gebärden« 35 beherrscht habe; als Operndirigent habe Levi als »Regisseur am Dirigentenpult« gewirkt und sei der »schauspielerisch mitfühlende Träger des musikalischen Dramas« gewesen. Ein weiteres auffallendes »Dirigentenmerkmal« 36 waren seine »vieldisputierten«, weil stimmungsabhängigen Tempi - seine Interpretationen wurden mit dem Spiel der großen Schauspielerin Eleonora Duse verglichen. In dem von Levi dirigierten ausgewogenen musikalischen Programm, dessen Zusammenstellung er maßgeblich beeinflußte, waren die verschiedensten, auch von ihm weniger geschätzten Richtungen vertreten. Zwar galt seine ausgesprochene Vorliebe Mozart, Brahms, Wagner und Bruckner, doch dirigierte er mit 166

gleichem künstlerischen Engagement und »nachfühlendem Esprit«" O p e r n und Konzerte mit Werken moderner französischer sowie italienischer, skandinavischer und russischer Komponisten; in Erstaufführungen stellte Levi den M ü n c h n e r n etwa »Benvenuto Cellini« und »Les Troyens« von Hector Berlioz vor. Neben den deutschen Klassikern, denen Levi auch Brahms zurechnete, umfaßte sein Repertoire heute weniger bekannte Komponisten wie Ignatz Brüll, Friedrich Gernsheim, H e r m a n n Goetz, Karl Goldmark, Alexander Ritter, daneben damals noch nicht allgemein anerkannte wie Engelbert H u m perdinck oder Peter Cornelius - in berühmten U r a u f f ü h r u n g e n dirigierte Levi dessen »Barbier von Bagdad« und den »Cid«. Große Bedeutung erlangte auch die 1878 von ihm einstudierte und dirigierte U r a u f f ü h r u n g der »RingeTetralogie Richard Wagners. Überhaupt müssen seine Interpretationen Wagnerscher O p e r n , auch in den Separatvorstellungen fur König Ludwig II., faszinierend gewesen sein. König Ludwig II. und nicht, wie früher allgemein verbreitet, Wagners Hochachtung vor dem Talent seines »Freundes« verdankte Levi seine Wahl z u m Dirigenten der U r a u f f ü h r u n g des »Parsifal«: Gegen Wagners »Bedenken«38, einen Juden sein »allerchristlichstes Werk« dirigieren zu lassen, stand König Ludwigs unbestechliche Toleranz in Glaubensfragen und sein Wille, das Hofopernorchester nur mit dessen Leiter für die U r a u f f ü h r u n g in Bayreuth zur Verfügung zu stellen. Mit Ausnahme des Jahres 1880 dirigierte Levi bis 1894 jede »Parsifal«-Aufführung und blieb bis über Wagners Tod hinaus der auch von Cosima Wagner anerkannte bedeutendste Dirigent dieses Werkes. Einer der interessantesten Aspekte von Levis Leben scheint sein vielschichtiges und spannungsreiches Verhältnis zu seinem Idol Richard Wagner, dessen Frau Cosima und dem Bayreuther Kreis zu sein. Levi verehrte Wagners Musik ebenso wie seine Persönlichkeit; er konstatierte Wagners Fehler und Schwächen weitgehend ohne Kritik und gestand ihm angesichts seines genialen Werks das Recht zu, »über andere Menschen hinwegzusehen« ja sogar Wagners antisemitisches Pamphlet, »Das J u d e n t u m in der Musik«, fand er verteidigender Worte für würdig. Nach Wagners Tod 1883 arbeiteten Levi, einer der ältesten Anhänger und »Major Domus«, und die »Herrin von Bayreuth« intensiv und eng zusammen, sowohl was die Festspiel-Aufführungen wie auch den von Levi generös geforderten Stipendienfonds, die »Bayreuther Stylschule«, und die Förderung der Wagnerschen Interessen in M ü n c h e n anging. Als künstlerische Autorität von Cosima Wagner gewürdigt, w u r d e die Tiefe und Qualität ihres zuzeiten beinahe freundschaftlichen Verhältnisses zu Levi durch dessen J u d e n t u m geprägt. Cosima Wagner und Levi hätten aneinander gelitten, einander aber auch ertragen und getragen, schreibt Dietrich Mack 3 ' - ein Leiden, das vor allem aus Cosimas vehementem Antisemitismus und dessen kränkenden Auswirkungen für Levi erwuchs. Die Bayreuther stereotypen Anschauungen von der »Kluft« zwischen Juden und »Germanen«, der sogenannten »Tragik« und dem »unlösbaren Rätsel« von Levis Leben, faßte

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der Rassentheoretiker Houston Stewart Chamberlain in einem auf Wunsch Cosimas verfaßten Nachruf auf Levi 40 zusammen. O b hier, wie Peter Gay meint, ein »klassischer Fall« von »jüdischem Selbsthaß« vorliegt, oder ob sich Levi unter Wagners Einfluß zum »jüdischen Antisemiten« (Hartmut Zelinsky) entwickelte, bleibe dahingestellt. Fest steht aber, daß Levis sensible Künstlerpersönlichkeit einem so vehementen Druck wie dem der Bayreuther U m g e bung erst in den 90er Jahren Widerstand entgegenzusetzen vermochte 41 . Levi unterstützte während seiner Tätigkeit in München bereitwillig noch unbekannte Komponisten moderner Musik, etwa Richard Strauss, der ihm die Anfänge seiner Karriere zu verdanken hat. Levi dirigierte die Uraufführung der (ungedruckten) d-moll Sinfonie op.69 (1881) wie auch die ihm von Strauss gewidmete Konzertouvertüre c-moll op.80; er stellte damit den 17jährigen Strauss als Orchesterkomponisten in München vor; durch seine Empfehlung erhielt Strauss fünf Jahre später die Stelle des 3. Kapellmeisters. Ein anderer berühmter Komponist, Anton Bruckner, der auf Levis Anraten weitreichende Änderungen an seiner 8. Sinfonie vorgenommen hatte, würdigte den Münchner Dirigenten 1886 in einer Rede vor der Liedertafel »Frohsinn« in Linz als seinen zweiten musikalischen »Vormund«, der »mit aller Energie alles mögliche getan« habe, um seine Werke zur Aufführung zu bringen - »und der Erfolg war ganz ausserordentlich, wie es gewöhnlich nicht der Fall ist« 42 . Levi war auch der Dirigent der denkwürdigen Uraufführung der 7. Sinfonie gewesen, durch die Bruckner »seinen Siegeszug durch die Welt« antreten konnte43. Gemeinsam mit dem Münchner Intendanten Ernst von Possart (seit 1896 Nachfolger Perfalls) leitete Levi eine Mozart-Renaissance ein; als Levis »höchstes Verdienst, neben seiner Wiedergabe der Werke Wagners« 44 im Rahmen der Festspiele, gilt die Aufführung der musikalisch und textkritisch von ihm revidierten Originalfassungen der Opern »Don Giovanni«, »Figaros Hochzeit« und »Cosi fan tutte« 45 . Seine »takt- und kenntnisreiche Arbeit« 46 ist zwar nach den heute gültigen Maßstäben der Musikwissenschaft nicht frei von Eigenmächtigkeiten - etwa Umkompositionen - , wird aber als »zu ihrer Zeit revolutionäre Abkehr vom 'alten Opernschlendrian'« 47 durch die Wiederherstellung des eigentlichen Mozart-Stils, vor allem der Rezitative, gewürdigt; die Bearbeitung behielt bis in die 30er Jahre unseres Jahrhunderts Gültigkeit. Seit 1886 verschlechterte sich Levis Gesundheitszustand; zunehmend »empfindlich und kränklich«, gab Levi, der ohnehin schon fast die gesamte Tätigkeit am Dirigentenpult Franz von Fischer und Richard Strauss (ab 1894) überlassen hatte, 1896 nach mehreren Urlaubsbewilligungen seine Stellung aus Gesundheitsrücksichten endgültig auf". Mit seiner Frau Mary 49 , der Witwe seines langjährigen Freundes Carl Fiedler, übersiedelte er in das von Adolf von Hildebrand errichtete Schloß Riedberg bei Partenkirchen - »ein Zuwachs an höchster Kultur in unserem Hochlandswinkel« 50 , erinnert sich dreißig Jahre später der Schriftsteller Walther Siegfried. Ungeachtet seines labilen Gesundheitszustandes arbeitete Levi unermüdlich: Neben den Übersetzungen der 168

vorerwähnten Mozart-Opern und der Edition eines Heftes eigener Lieder bereitete der »unermüdliche Goethe-Forscher« 51 , die Veröffentlichung von zwei Bänden »Gedanken aus Goethes Werken« vor, die nach seinem Tod (am 13. Mai 1900) erschienen.

Anmerkungen Dieser Beitrag entstand unabhängig und in Unkenntnis des Aufsatzes von Herrn Dr. Hartmut Zelinsky, »Hermann Levi, ein jüdischer Wagnerianer«, in: Treml, Manfred/Kirmeier, Josef (Hgg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze, München 1988. 1 Bülow, Hans v.: Briefe und Schriften, hg. v. Marie v. Bülow, B d . 7, Leipzig 1908, S. 97. Ü b e r das Gespräch, das am 12.4.1887 stattgefunden haben soll, berichtet Helene R a f f in: J u g e n d 11 (1903). 2 B ü l o w an Hans v. Bronsart (München, 27.6.1879), in: Bülow, Briefe und Schriften, B d . 5, Leipzig 1904, S. 580f. 3 Vgl. das hervorragende Psychogramm Levis von Gay, Peter: Freud, Jews and other Germans, Masters and Victims in Modernist Culture, N e w York 1978, K a p IV: Hermann Levi, Α Study in Service and SelfHatred; s.a. Hartmut Zelinskys engagierte Dokumentation »Der Tod als Gralsgebiet«, Hermann Levi und Bayreuth, 5 Teile, in: FonoForum 7-11 (1985). 4 Bayreuther Blätter 22 (1899), S. 277; Schmidt, Leopold (Hg.): Johannes Brahms im Briefwechsel mit Hermann Levi, Friedrich Gernsheim sowie den Familien Hecht und Fellinger, Berlin 1910, S. 6, bezeichnet Levi »als Nachdichter des Werkes am B a y reuther Pult«. 5 »Sein schöner K o p f mit den wunderbaren Augen war ausgesprochen jüdisch und doch so neutestamentlich, daß ihn Lenbach einmal als Modell für ein Jesusbild benützt hat«. Weingartner, Felix: Lebenserinnerungen, 2 Bde., Zürich, Leipzig 2 1928, hier: Bd. 1, S. 245. 6 Possart, Ernst von: Hermann Levi, Erinnerungen, München 1901, S. 36. 7 Weingartner, Bd. 1, S. 264. 8 Mensi-Klarbach, Alfred von: Alt-Münchner Theatererinnerungen, München [1923], S. 88.

9 Empfehlungsschreiben Lachners für Levi an den Frankfurter Cäcilienverein, 24.4.1860, in: Walter, Friedrich (Hg.): Briefe Vinzenz Lachners an Hermann Levi, Mannheim 1931, S. 8. 10 Schaal, Richard: Art. Hermann Levi, in: Musik in Geschichte und Gegenwart 8, Sp. 680ff., hier: Sp. 682. 11 Walter, S. 11. 12 Bücken, Ernst: München als Musikstadt, Leipzig [1922] ( = Die Musik, H. 7/8), S. 68. 13 Possart, S. 23. 14 Fellinger, Imogen: Hermann Levi, in: Neue Deutsche Biographie 15, S. 369 f., hier: S. 369. 15 Sietz, Reinhard (Hg.): Aus Ferdinand Hillers Briefwechsel, Bd. VI: Briefwechsel mit B . Auerbach, H. Levi, Ε. Pasqu, J . Stockhausen und N.W. Gade, Beiträge zu einer Biographie Ferdinand Hillers, Köln 1968, S. 80. 16 Possart, S. 23. 17 Beide wurden am 10. Juni 1865 gleichzeitig v o m Großherzog zu Hofkapellmeistern ernannt. 18 Sietz, S. 92f. (Briefe von Ida Lessing v. 9.3. und 4.12.1864). 19 Wagner an Levi, Luzern 29.4.1870, hier zit. nach: Schmidt, S. 57. C o s i m a Wagner vermerkte am 7.2.1869 in ihrem Tagebuch, daß Levi seinen Erfolg Wagner nach Tribschen »gemeldet« hätte, vgl. C o s i m a Wagner, Die Tagebücher, hg. u. k o m m . v. Martin Gregor-Dellin u. Dietrich Mack, Bd. 1 (18691877), München, Zürich 1976, S. 51 (zit. als: C W 1). 20 Etwa das »Deutsche Requiem«, das »Triumphlied«, »Schicksalslied« (Fcllinger, S. 396) und die Alt-Rhapsodie op. 53. 21 Levi schrieb seinem Vater, den er sehr verehrte, am 30.8.1875 aus Bayreuth, wo er an den Festspielvorbereitungen teilnahm, er sei

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»auf großen Umwegen und nach vielen inneren Kämpfen Wagnerianer« geworden und schränkte dies »Wagnerianer« — »ein dummes Wort« - noch dahingehend ein, er sei natürlich kein Radikaler und gehöre nach wie vor nicht zur Clique. Bayreuther Festspiele 1959, »Parsifal«-Programm, S. 6f. Die erste persönliche Begegnung zwischen Levi und Wagner fand im Dezember 1871 in Mannheim statt; Cosima Wagner charakterisierte das Ergebnis dieses schicksalhaften Treffens so: »In Mannheim haben wir einen jüdischen Mann erobert, Kapellmeister Levi aus Karlsruhe, nicht unbedeutender Mensch«; Moulin-Eckardt, Richard Graf du: Cosima Wagner, Ein Lebens- und Charakterbild, 2 Bde., Zürich, München, Berlin 1929/1931, hier Bd. 1, S. 593. Sietz, S. 80f. Abschiedsbrief Lachners v. 3.1.1880, Walter, S. 35-38. »Eine sub- oder coordinirte Stellung halte ich auf die Dauer nicht aus«, gestand er Brahms in seinem Brief vom 19.4.1869 und fährt fort: »Ob ich das Zeug dazu habe, ist eine Frage, die ich nicht untersuchen kann«; Schmidt, S. 43. Levi an Brahms, 19.4.1869; Schmidt, S. 43. Vgl. dazu die Tagebucheintragungen Cosima Wagners zwischen 28.4. und 15.5.1870: am 15.5. traf Levis »anständiger Brief« — die Meldung der Münchner Absage - ein; CW 1, S. 225-230. Richard Wagner, der im Dezember 1865 München verlassen hatte, nahm 1868 seinen Wohnsitz in Triebschen bei Luzern. Levi an Brahms, 3.5.1870, Schmidt, S. 58. Levi an Brahms, 7.4.1872, Schmidt, S. 105108. Possart, S. 30. Possart, S. 33. Uhde-Bernays, Hermann: Im Lichte der Freiheit, Erinnerungen aus den Jahren 1880 bis 1914, München [1963], S. 101, spricht von dem »gleichmäßig hohen Niveau« der Solisten und des Opernorchesters; zur Programmgestaltung ders., S. 103; s.a. Gleibs, Yvonne: Juden im kulturellen und wissenschaftlichen Leben Münchens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München 1981 (= M B M H. 76), S. 148. Cosima Wagner kommentiert Levis Rückkehr aus Spanien, wo er »in die Grandezza eingetreten« und von der Königin durch

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allerlei Gunstbeweise ausgezeichnet worden sei, in einem Brief an Fürst HohenloheLangenburg mit der bösartigen Bemerkung, Levi kehre nun »mit einem Stern an der Brust (nicht mehr in holder Ferne!)« zurück - »... und ein armer Teufel von Christ kann sehen, wo er bleibt!«; Hohenlohe-Langenburg, Fürst Ernst v. (Hg.): Briefwechsel zwischen Cosima Wagner und Fürst Ernst zu Hohenlohe-Langenburg, Stuttgart [1937], S. 97. Mensi-Klarbach, Alfred v.: Alt-Münchner Theater-Erinnerungen, 24 Bildnisse aus der Glanzzeit der Münchner Hofbühnen, M ü n chen [1923], S. 91. Weingartner, Bd. 1, S. 235f. Schaal, Sp. 681; Duse-Vergleich: Siegfried, Walther: Aus dem Bilderbuch eines Lebens, 2 Tie., Zürich, Leipzig 1926/1929, Τ. 1, S. 235. Mensi-Klarbach, S. 91. Seit 1880 erwog Wagner mehrmals ernsthaft, Levi taufen zu lassen, ein Ansinnen, das der Dirigent — wohl nicht nur in Rücksicht auf seinen Vater — auf eine Weise ablehnte, die Wagner zu keinem neuen Versuch ermutigte. Levi hat wohl häufiger mit seinen Freunden über eine Konversion zum Katholizismus nachgedacht (vgl. Gay, S. 202), trat aber erst, als es wegen seiner bevorstehenden Hochzeit mit der evangelischen Mary Fiedler unumgänglich wurde, aus der jüdischen Gemeinde aus, jedoch ohne zu konvertieren. Mack, Dietrich (Hg.): Cosima Wagner, Das zweite Leben, Briefe und Aufzeichnungen 1883-1930, München, Zürich 1980, S. 17. Chamberlain, Houston Stewart: Richard Wagners Briefe an Hermann Levi, in: Bayreuther Blätter 24 (1901), S. 13-42. Cosima Wagner hatte ihrem Schwiegersohn am 22.6.1900 diese Aufgabe angetragen; am 28.6.1900 - Chamberlain hatte inzwischen sein Einverständnis erklärt - charakterisiert sie in einem in seiner Kälte bemerkenswerten Brief in vier Punkten Levis Wesen, wobei sie »I. Seine hohe geistige Kultur« würdigt, die ihn befähigte, Wagners Gesammelte Schriften »zu fassen«, »II. Seine Gewissenhaftigkeit in praktischen Dingen« (gemeint ist die Festspielorganisation etc.), »III. Seine Generosität« in Bezug auf die finanzielle Unterstützung des Stipendienfonds und »IV. Seine Erfassung des Gedan-

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kens der Schule« hervorhebt. Pretzsch,Paul (Hg.): C o s i m a Wagner und H o u s t o n Stewart C h a m b e r l a i n im Briefwechsel 18881908, Leipzig 1934, S. 596-606. Levi an C o s i m a Wagner, 3.9.1891, M a c k , S. 806f. Graeflinger, Franz: A n t o n Bruckner, Bausteine zu seiner Lebensgeschichte, M ü n c h e n 1911, S. 49. U r a u f f ü h r u n g am 10.3.1885 in M ü n c h e n ; Bücken, S. 45. Mensi-Klarbach, S. 91. Devrient hatte die gleichen O p e r n zwischen 1847 und 1860 einer Bearbeitung u n t e r z o gen; vgl. den tendenziös antisemitischen S c h ü n e m a n n , G e o r g : M o z a r t in deutscher Ü b e r s e t z u n g , in: J a h r b u c h der Musikbiblio-

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thek Peters für 1940, J g . 47, Leipzig 1941, S. 65. Mensi-Klarbach, S. 91. Die von Levi revidierten Fassungen erschienen 1899 bei Breitkopf & Härtel. Schaal, Sp. 681. U h d e - B e r n a y s , S. 141. Levi hatte seine langjährige Freundin M a r y Fiedler (1854-1911), eine Tochter des Kunsthistorikers Julius Meyer, im Jahr nach d e m Tod ihres ersten Mannes 1896 geheiratet; die glühende Wagnerianerin vertiefte ihre Freundschaft zu C o s i m a Wagner nach Levis T o d zu einem engen Vertrauensverhältnis.

50 Siegfried, Bd. 2, S. 196. 51 Mensi-Klarbach, S. 90.

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RudolfEndres

Familie Bing, Fabrikanten in Nürnberg

Die Familie Bing, die wahrscheinlich aus Bingen über Frankfurt nach Franken gekommen war, war in Nürnberg mit zwei herausragenden Linien vertreten, die jedoch wirtschaftlich völlig getrennte Wege gingen und auch gesellschaftlich-familiär kaum Kontakt miteinander pflegten. Z u m einen waren es die Begründer der »Nürnberger Metallwarenfabrik Gebrüder Bing«, Ignaz und Adolf Bing, und zum anderen war es die Hopfengroßhändlerfamilie Berthold Bing, des engen Freundes und Vertrauten Rudolf Diesels, des Erfinders des Diesel-Motors. Der Firmengründer Ignaz Bing' war ein ausgesprochener Selfmademan. A m 29. Januar 1840 als zweiter Sohn des Färbermeisters Salomon Bing in Memmelsdorf im Itzgrund geboren, verlor er bereits mit sieben Jahren seine Mutter Babette Tuchmann, die aus Ühlfeld stammte. Der Vater siedelte, nachdem er sich wieder verheiratet hatte, 1853 nach Günzenhausen um, wo er sich in dem wesentlich einträglicheren Hopfenhandel betätigte. Mit 14 Jahren kam Ignaz nach Ansbach in ein kaufmännisches Lehrinstitut, in dem er auch praktische Erfahrungen erwarb, da dem Institut ein kleines Handelsgeschäft angegliedert war. Bereits nach einem Jahr verließ er das Handelslehrinstitut als C o m m i s mit einem Zeugnis des Ansbacher Magistrats. Er vertiefte seine Kenntnisse als Volontär bei der Bank J . E. Westheimber. Weitere Erfahrungen sammelte er in Fürth bei der Firma Berneis, »Mercerie«, und danach in ähnlichen Geschäften in Aschaffenburg, Wallerstein und schließlich nochmals in Fürth. So lernte er als Käufer und Verkäufer alle Möglichkeiten des Kleinhandels in Stadt und Land kennen, vor allem auch in Form der Heimarbeit und des Hausierhandels. Mit 24 Jahren schied Ignaz Bing aus dem Geschäft seines Vaters in Günzenhausen aus und gründete mit seinem Bruder Adolf ein Engrosgeschäft für Garn-, Band- und Kurzwaren. Doch bald verlegten die beiden Brüder das Engrosgeschäft nach Nürnberg, dem größten Handelsplatz im Königreich Bayern. 1865 mieteten sie einen kleinen Laden in der Karolinenstraße und nahmen Metall- und Galanteriewaren in ihr Verkaufsangebot auf. Einen spürbaren Aufschwung nahm das Geschäft 1866 durch die einquartierten preußischen und mecklenburgischen Soldaten, die sich mit Galanteriewaren, Zigarrenspitzen, Pfeifen und anderen Kleinwaren eindeckten. Bereits drei Jahre später mußten die Gebrüder Bing einen größeren Laden 173

anmieten, und gleichzeitig wurde das Sortiment auf Metallwaren spezialisiert. Das nötige Kapital kam durch die Heirat des jüngeren Bruders Adolf in die Firma. Einen neuerlichen Aufschwung erlebte die Firma nach dem Krieg 1870/ 71. Die allgemeine Wirtschaftskrise nach 1873 fingen die Gebrüder Bing dadurch auf, daß sie sich auf den Verkauf der neuen Gewichte und Maße spezialisierten, die im Deutschen Kaiserreich eingeführt wurden und nun vor allem in Süddeutschland gefragt waren. Bei der Fertigung der neuen Metermaße und Gewichte stützten sich die Gebrüder Bing auf die gut entwickelte Nürnberger Heimindustrie. 1875 kam es zum Geschäftsabschluß mit der Neufeld'schen Fabrik bei Kassel, die für Monopollieferungen für Bayern gewonnen wurde, was den Erwerb neuer Geschäftsräume in Nürnberg notwendig machte. Der außergewöhnliche Geschäftssinn von Ignaz Bing zeigt sich auch darin, daß er den Vertrieb einer billigen Petroleumlampe übernahm, die als Massenartikel von den Nürnberger Heimwerkern hergestellt wurde. Öffentliche Anerkennung fand die Firma Bing auf der großen Landesausstellung für Gewerbe und Industrie 1882, an deren Vorbereitung Ignaz Bing als Mitglied des Verwaltungsrates des Gewerbemuseums selbst beteiligt war. Die Firma Bing erhielt für ihre Produkte die Goldene Staatsmedaille verliehen. Inzwischen war die ursprüngliche Großhandelsfirma dazu übergegangen, ihre Handelsware selbst herzustellen, nachdem 1879 die Firma Neufeld das bisherige Verkaufsmonopol gekündigt hatte und die Nürnberger Heimindustrie den Bedarf nicht mehr decken konnten. Deshalb errichteten die Gebrüder Bing die Firma »Nürnberger Metallwarenfabrik Gebrüder Bing«, eine kleine Blechwarenfabrik in Nürnberg, zur Herstellung von Küchengeräten, Blechspielwaren und anderen Blech- und Lackierwaren 2 . Entscheidend fur den unternehmerischen Schritt in die eigene Fabrikation war Ignaz Bing, während sein Bruder Adolf sich vor dem Risiko scheute und als Teilhaber fast völlig in den Hintergrund trat. Ignaz Bing baute nun die erste Bing'sche Fabrik in der Scheurlstraße und übernahm die Leitung des Unternehmens. Bald entstanden weitere Werke in der Blumenstraße und in Gleishammer, in Grünhain in Sachsen wurde eine Fabrik für Emaillespielwaren errichtet. Dabei blieben aber, neben der eigenen Fabrikation, die Verbindungen zu den Nürnberg-Fürther Spielwarenherstellern weiterhin bestehen, deren Produkte mitvertrieben wurden. Der Kundenkreis hatte sich inzwischen über den süddeutschen Raum ausgeweitet, und von Hamburg, Bremen, Berlin und Lübeck aus wurden die Kollektionen durch die besonders geschulten »Bing-Kaufleute« ins Ausland exportiert. Die farbigen Kataloge in englischer, französischer und italienischer Sprache der Firma Bing boten nun neben Gebrauchsgegenständen aus Blech, Spielwaren und Eisenkurzwaren auch Artikel aus Holz an. Diese Massengüter für den Alltag fanden Absatz in Mittel- und Südamerika, in den englischen Kolonien und in Südafrika. Auf der Weltausstellung in Chicago 1892 wurden die umfangreichen Kollektionen der Firma Bing gezeigt und auf der Weltausstellung in Paris 1900 erregte die Firma mit einer Elite-Kollektion großes Aufsehen. Mit nur wenigen Ausstellungsgegenständen aus der opti174

sehen, mechanischen, physikalischen und Blechspielwarenproduktion nahm die Firma in der Spielwarenherstellung nun den ersten Platz ein. Das Unternehmen hatte Weltruf und die ganze Welt war Absatzgebiet geworden. Das alte Sprichwort »Nürnberger Tand geht durch alle Land« wurde durch Ignaz Bing neu belebt. Nach diesen Erfolgen erweiterte Ignaz Bing in den letzten Vorkriegsjahren das Angebot und nahm auch Badeöfen und Badeartikel in die Fabrikation auf. In vielen Großstädten ließ er Musterzimmer einrichten, in denen die Gesamtsortimente des Unternehmens zur Schau gestellt wurden, bis dann der Erste Weltkrieg die Entwicklung unterbrach. Die überseeischen Absatzgebiete gingen verloren und die Filialen im Ausland wurden beschlagnahmt. Die Firma Bing stellte sich auf Kriegsprodukte um. Sie lieferte nun Helme, Feldflaschen, Militärkochgeschirre und Tornister, aber auch Wurfgranaten und Zünder. Infolge der steigenden Nachfrage waren beträchtliche Betriebsvergrößerungen notwendig, und die Zahl der Arbeiter stieg von fast 4000 auf rund 60003. Weitsichtig begann Ignaz Bing sich in den letzten beiden Kriegsjahren wieder auf Friedensproduktion einzurichten. So erwarb er eine Puppenfabrik und gründete eine Handelsgesellschaft, die erzgebirgische Spielwaren erwarb und weiterverkaufte. Auch der Vertrieb von Küchenwaren und Haushaltsgegenständen wurde neu organisiert. Großen Aufschwung erlebte nach dem Krieg die Produktion von emaillierten Küchenwaren und von Blech- und Lackierwaren in Grünhain, sowie in Nürnberg die Produktion von Eisschränken, Büro-, Luxusartikeln, Bijouterie- und Holzwaren für Küche und Haus. Durch den Erwerb neuer Firmen und ihre Anschlüsse als Tochtergesellschaften entwikkelte sich die Aktiengesellschaft zu einem nur schwer überschaubaren Konzern, in dem 1923 fast 16000 Menschen Beschäftigung fanden. 4 Das erfolgreiche Wirken von Ignaz Bing fand entsprechende öffentliche Anerkennung. 1891 beim 25jährigen Geschäftsjubiläum wurde er zum Kommerzienrat ernannt und erhielt die Silberne Bürgermedaille der Stadt Nürnberg verliehen. Zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 1910 wurde er mit dem Titel eines Geheimen Kommerzienrats ausgezeichnet. Neben seinem hohen Einsatz für die Firma fand IgnaZ Bing auch noch Zeit für öffentliche Aufgaben und persönliche Neigungen. So war er in der »Deutschen Anthroplogischen Gesellschaft« tätig, und im Verein »Merkur« hielt er Vorträge über die kaufmännische Lehrlingsausbildung. Politisch hielt er sich zurück, doch war er eingeschriebenes Mitglied der nationalliberalen Partei und als deren Vertreter Mitglied des Magistrats. Erholung suchte und fand der erfolgreiche Unternehmer in der Natur in der Fränkischen Schweiz. Als leidenschaftlicher Naturforscher entdeckte und erschloß er die nach ihm benannte »Bing-Höhle« bei Streitberg. Streitberg dankte ihm, wie auch Grünhain, mit der Ernennung zum Ehrenbürger. Nach langer Krankheit starb Ignaz Bing am 25. März 1918 im Alter von 78 Jahren. Unter großer Anteilnahme der Belegschaft der Bingwerke, der Vertreter der Stadt und der Industrie- und Handelswelt wurde er zu Grabe getragen.5 175

Ein entfernter Vetter von Ignaz Bing war der Hopfengroßhändler Berthold Bing (1847-1915). Der Urgroßvater von Berthold Bing war der bekannte Raw Abraham Bing (1752-1841), Oberrabbiner für das Großherzogtum Würzburg. 6 1814 zog Abraham Bing nach Würzburg, wo aus seiner Schule zahlreiche hervorragende Vertreter der modernen Orthodoxie hervorgingen.7 Seine beiden Söhne heirateten nach Scheinfeld. Beer Abraham Bing betätigte sich als Schriftsteller, während seine Frau einen Spezerei- und Manufakturwarenladen führte. Neben mehreren Schriften religiösen Inhalts hat sich auch eine sentimentale Komödie »Obed und Thürza« erhalten, die in deutscher und hebräischer Sprache abgefaßt ist. Er verstarb früh und hinterließ drei oder vier Söhne, von denen der jüngste, Bernhard Bing, sich dem Hopfenhandel zuwandte. Der Hopfenhandel war fast ausschließlich in jüdischen Händen und konzentrierte sich vor allem auf Nürnberg, das zum Stapelplatz des deutschen und böhmischen Hopfens und zur Schaltstelle des Exports nach Übersee wurde. Großen Aufschwung nahm der Hopfenhandel mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes in den 40er und 50er Jahren. So siedelte auch die Familie Bing Anfang der 60er Jahre von Scheinfeld nach Nürnberg über. Der junge Berthold Bing hatte seine Lehrjahre in Straßburg und Paris verbracht, wo er die französische Sprache und Lebensart perfekt lernte und lebenslang beibehielt. Da das Hopfengeschäft ein Saisongeschäft war, ließ es in den freien Monaten genügend Zeit für öffentliche Aufgaben und private Neigungen. So gehörte Berthold Bing als Vertreter des aufstrebenden jüdischen Bürgertums und des linken Liberalismus seit 1892 der Mittelfränkischen Handelskammer in Nürnberg und später auch dem Gemeindeparlament an. Er war ein eifriges Mitglied der Freimaurer- und der Odd-Fellow-Loge. Weiterhin gehörte er dem bayerischen Eisenbahnrat an, einem beratenden Gremium, das großen Einfluß auf die Auswahl und Projektierung neuer Strecken hatte. Als liberaler Jude nahm er am jüdischen Gemeindeleben in Nürnberg nicht teil, wenn er auch formell nicht aus der Gemeinde austrat. 8 Zu den Merkwürdigkeiten im Leben des Hopfengroßhändlers Berthold Bing gehört seine Rolle, die er bei der Umsetzung der genialen Erfindung Rudolf Diesels in die technisch-wirtschaftliche Realität spielte. Wann und bei welcher Gelegenheit die Verbindung zwischen beiden Männern zustandekam, ist unbekannt. Als Mitglied der Handelskammer galt Bings besonderes Interesse neben der Eisenbahn dem Kanalverein, dessen Ziel der Kanalbau zwischen Main und Donau war. Aus diesem Kanal sollte Öl auf Tankschiffen aus Rußland in das nordbayerische Industriezentrum gebracht werden, wo man nach einem effektiveren Einsatz fur die überholte Dampfmaschine suchte.9 Man wußte von den Experimenten Rudolf Diesels in Augsburg, die jedoch nicht mehr finanziert werden konnten. In dieser schwierigen Situation stellte 1897 Berthold Bing eine Verbindung zwischen dem Erfinder und Adolphus Busch in St. Louis her, dem wohl größten Bierbrauer Amerikas, der zu Bings Geschäftspartnern und Freunden gehörte. Busch war bereit, eine Million Mark 176

in die Entwicklung des Diesel-Motors zu investieren, wobei Berthold Bing eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen der Verträge zwischen Diesel und Busch spielte.10 Bing war auch als Vermittler nach Petersburg tätig, wo Emanuel Nobel die Patente Diesels erwarb; auch am Zustandekommen der Lizenzverträge mit England und Schweden war er beteiligt. 1898 wurde in München die »Allgemeine Gesellschaft für Diesel-Motoren« gegründet, zu deren Gründungsmitgliedern und Hauptaktionären Berthold Bing gehörte. Berthold Bing starb 1915 in Nürnberg. Er hatte sich noch in den letzten Monaten seines Lebens, trotz schwerer Krankheit, um die Organisation der Lebensmittelversorgung der Nürnberger Bevölkerung im ersten Kriegsjahr große Verdienste erworben, die dies jedoch bald vergessen hatte. Sein Sohn Rudolf (1876-1963), als Anwalt aufs engste mit dem politischen und wirtschaftlichen Leben Nürnbergs verflochten, vertrat nach 1933 in Nürnberg die zionistischen Interessen und mußte nach dem Novemberpogrom 1938 nach Israel auswandern. Seine Schwester Anna, verheiratete Löwengart, hatte sich schon in den zwanziger Jahren der zionistischen Bewegung angeschlossen und war 1933 nach Haifa ausgewandert.

Anmerkungen 1 Vgl. Endres, Rudolf: Ignaz Bing. Industrieller, in: Berühmte Nürnberger aus neun Jahrhunderten, hg. v. Christoph von Imhoff, Nürnberg 1984, S. 308 f; Hiplert, Hanns: Ignaz Bing, in: Nürnberger Gestalten aus neun Jahrhunderten, Nürnberg 1950, S. 202-207; Müller, Arnd: Geschichte der Juden in Nürnberg 1146-1945, N ü r n berg 1968 (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, Bd. 12), S. 178 f. 2 Lebermann, Kurt: Die Konzentration der Bingwerke Nürnberg, Leipzig, Erlangen 1924, S. 4 ff. 3 Lebermann, S. 14-17.

4 Lebermann, S. 17-19 und S. 117-120. 5 Endres, S. 309. 6 Vgl. Loewengart, Stefan: Aus der Geschichte der Familie Bing, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts Nr. 59 (1981), S. 29-54. 7 Loewengart, S. 38 ff. 8 Bing, Berthold: Der Petroleumhandel und der Ludwigskanal, Deutsch-Österreichisch-Ungarischer Verband für BinnenschifTahrt, Berlin 1898. 9 Diesel, Eugen: Rudolf Diesel. Der Mensch, das Werk, das Schicksal, Hamburg 1937, S. 287. 10 Loewengart, S. 51-53.

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M a x Noether, Fotografie.

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Oscar Straus, Fotografie.

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E m m y Noether, Fotografie, u m 1907.

Michael Segre

Max und E m m y Noether (1844-1921 und 1882-1935), Mathematiker

In der Wissenschaftsgeschichte kommt es nicht selten vor, daß ganze Familien wichtige Beiträge zur Wissenschaft leisten, wie dies z.B. bei der deutschjüdischen Familie Noether in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall war. Max Noether war ein führender Mathematiker; seine älteste Tochter Emmy Amalie gilt als die bis dahin größte Mathematikerin; sein Sohn Alfred, 1883 geboren, war Chemiker, und sein Sohn Fritz, 1884 geboren, war ein hervorragender Vertreter der angewandten Mathematik, dessen Sohn Gottfried ebenfalls Mathematiker wurde. Der Großvater von Max Noether, Elias Samuel, lebte in Bruchsal. Als nach der Napoleonischen Zeit den Juden immer mehr Bürgerrechte zugestanden wurden, nahm er den Namen Nöther an, der später »Noether« geschrieben wurde. Joseph und Hermann Nöther, zwei von Elias Samuels neun Söhnen, gründeten in Mannheim eine gutgehende Eisengroßhandlung. Hermann Noethers Sohn Max wurde in Mannheim geboren, wo er auch seine Jugend verbrachte. Max Noether besuchte dort bis zu seiner Erkrankung an Kinderlähmung im Alter von vierzehn Jahren die Schule. Bedingt durch seine Krankheit, die zu einer dauernden Behinderung an einem Bein führte, mußte er nun seine schulische Ausbildung durch Privatunterricht ersetzen. Er studierte von 1865 bis 1866 an der Sternwarte von Mannheim Astronomie. Zwischen 1866 und 1869 setzte er diese Studien in Gießen, Göttingen und Heidelberg fort; 1868 promovierte er in Naturwissenschaften in Heidelberg. Max Noether lebte und arbeitete in einer Zeit, in der die Mathematik in Deutschland auf einem Höhepunkt stand. Zu Beginn des Jahrhunderts war die Mathematik richtungsweisend von Gauß beeinflußt worden. Später traten andere Persönlichkeiten hervor, wie Jacobi in Königsberg, der erste große jüdische Mathematiker in Deutschland, Weierstraß in Berlin und, gegen Ende des Jahrhunderts, Hilbert in Göttingen. Max Noether wurde zu einem fuhrenden Mathematiker auf dem Gebiet der algebraischen Geometrie. Das Jahrzehnt zwischen 1869 und 1879 war wahrscheinlich das wichtigste in seiner Forschertätigkeit. 1870 habilitierte er sich in Heidelberg mit einer Arbeit »Über Flächen, welche Scharen rationaler Kurven besitzen«. 1873 fand er den Beweis für den Satz, der heute in der algebraischen Geometrie als »Noetherscher Fundamentalsatz« bezeichnet wird. Ein Jahr später wurde er Extraordinarius in Göttingen. In dieser Zeit wurde die Universität Erlangen zu einem wichtigen Zentrum 179

der mathematischen Forschung. Sie verdankte das vor allem zwei führenden Mathematikern, die dort arbeiteten: Christian von Staudt, der von 1835 bis zu seinem Tod 1867 in Heidelberg wirkte, und Felix Klein, der zwischen 1872 und 1875 in Erlangen lebte. Beide hatten mit ihren Studien in dem Bereich, auf dem Noether arbeitete, Pionierarbeit geleistet, und 1872 legte Klein das sogenannte »Erlanger Programm« vor, in dem er darauf hinwies, daß die verschiedenen Geometrien als Invariantentheorie der zugehörigen Transformationsgruppen aufzufassen sind. Bevor Klein Erlangen verließ, um nach München zu gehen, stellte er sicher, daß Paul Albert Gordan und Max Noether - beide Juden - als seine Nachfolger nach Erlangen berufen wurden. Gordan kam 1874 nach Erlangen, und ein Jahr später wurde Noether dort zum Extraordinarius ernannt. Max Noether blieb bis zu seinem Tod in Erlangen. Er gründete eine Familie und erreichte hier den Gipfel seiner Laufbahn. 1880 heiratete er Ida Amalia Kaufmann aus Köln, aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. 1888 wurde er Ordinarius. Gegen Ende des Jahrhunderts, als Italien das Zentrum der algebraischen Geometrie wurde, führten einige bedeutende italienische Mathematiker das Werk von Max Noether weiter. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte sich Max Noether auch mit Wissenschaftsgeschichte und erarbeitete einen Index zu Leonardo da Vincis »Codice Atlantico«. 1919 wurde er emeritiert. Er starb zwei Jahre später in Erlangen 1 . Max Noethers Tochter E m m y sollte noch berühmter als ihr Vater werden. Sie ist nicht nur als große Mathematikerin bekannt, sondern auch als eine der ersten deutschen Frauen, die eine Universität besuchte und die sich eine Ausbildung erkämpfte, die Frauen bisher verschlossen gewesen war. E m m y Noether verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Erlangen, wo sie die Höhere Töchterschule besuchte. Sic wollte ursprünglich nicht Mathematikerin werden, sondern legte 1900, im Alter von achtzehn Jahren, das bayerische Staatsexamen für Französisch- und Englischlehrer ab. Erst später entschloß sie sich zu einem Studium an der Universität Erlangen - eine Entscheidung, die sicher Mut erforderte, da für Frauen ein Universitätsstudium sehr unüblich war. Professoren weigerten sich oft, Frauen zu unterrichten, und nur sehr selten wurde es ihnen gestattet, Universitätsprüfungen abzulegen (im Wintersemester 1900 waren unter den 986 Erlanger Studenten nur zwei Frauen). Hinzu kam, daß das Studienfach Mathematik für eine Frau besonders ungewöhnlich war. 1903 ging E m m y Noether nach Göttingen, um ihr Mathematikstudium fortzusetzen. Als Frau konnte sie nur als Gasthörerin an den Vorlesungen teilnehmen. Ein Jahr später, nachdem es in Erlangen Frauen gestattet worden war, sich zu immatrikulieren, kehrte sie dorthin zurück. Sie bereitete eine Doktorarbeit über die Invariantentheorie bei Gordan vor, der außer ihr keine Doktoranden betreute. 1907 wurde sie »summa cum laude« promoviert. In den Jahren von 1908 bis 1915 arbeitete E m m y Noether ohne Bezahlung am mathematischen Institut der Universität Erlangen. Gelegentlich vertrat sie ihren Vater in Lehrveranstaltungen. 180

1911 war der Mathematiker Ernst Fischer nach Erlangen gekommen. Er übte einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des abstrakten mathematischen Denkens von E m m y Noether aus. Die Invariantentheorie w u r d e auch von Hilbert untersucht, dessen Ansatz abstrakter war als der von E m m y Noethers Doktorvater Gordan. U n t e r Fischers Leitung w u r d e sie eine Anhängerin von Hilberts Ansatz. Hilbert lud sie 1915 nach Göttingen ein, u m - in seinem N a m e n — Vorlesungen zu halten 2 . Sie blieb dort achtzehn Jahre lang. Trotz Hilberts Unterstützung konnte sich E m m y Noether als Frau nicht habilitieren. Das war ihr erst nach dem Krieg (1919) möglich, dank der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. 1922 erhielt sie die ehrenamtliche Stellung einer nichtbeamteten außerordentlichen Professorin in G ö t tingen. Später bezog sie ein kleines Gehalt aus einem Lehrauftrag in Algebra. In E m m y Noethers Zeit galt Göttingen in der Welt als der Mittelpunkt der mathematischen Forschung. Die Universität hatte eine ansehnliche Reihe von Mathematikern zu bieten: An vorderster Stelle standen Hilbert und der jüdische Mathematiker Richard Courant, der 1922 Klein als Vorstand des mathematischen Instituts ablöste. Ihnen folgten E m m y Noether für die Algebra, der jüdische Mathematiker E d m u n d Landau für die Zahlentheorie und H e r m a n n Weyl fur die Relativitätstheorie. E m m y Noethers wichtigster Beitrag zur Mathematik lag im Bereich der abstrakten Algebra. Während die frühere Algebra vor allem das Ergebnis algebraischer Operationen (Addition, Multiplikation usw.) betrachtete, untersucht die abstrakte Algebra deren formale Eigenschaften - wie Assoziativität, Kommutativität und Distributivität - und behandelt verschiedene Typen algebraischer Systeme, die besondere Eigenschaften besitzen, nach denen sie als Gruppen, Ringe oder Ideale bezeichnet werden. E m m y Noether entwickelte die abstrakte axiomatische »Idealtheorie« zwischen 1920 und 1926 und untersuchte die Eigenschaften nicht-kommutativer Algebra, besonders die der nichtkommutativen Ringe. Ihr mathematisches Werk war für die Physik von großem Nutzen, vor allem für die allgemeine Relativitätstheorie und die Physik der Elementarteilchen. Sie veröffentlichte insgesamt vierundvierzig Schriften 3 . E m m y Noether lehrte zwischen 1928 und 1929 auch in Moskau und im S o m m e r 1930 in Frankfurt. E m m y Noethers Persönlichkeit w u r d e von H e r m a n n Weyl wie folgt beschrieben: »Sie hatte eine kräftige Statur und eine laute Stimme (...) ein rauhes und einfaches Wesen, aber ihr Herz hatte sie auf dem rechten Fleck«. Sie war freundlich und humorvoll, »warm wie ein Laib Brot: von ihr ging eine umfassende, beruhigende und vitale W ä r m e aus« 4 . In Göttingen w u r d e von ihr manchmal als von »dem Noether« gesprochen - auch in respektvoller Anerkennung ihrer kreativen Denkkraft, die man traditionell nur Männern, also »dem Noether« zuordnete. Sie zog eine Generation von erstklassigen Mathematikern heran, die man die »Noetherjungen« nannte 5 . Im April 1933, nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, w u r d e E m m y Noether, die am 29.12.1920 zum evangelischen Glauben

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konvertiert war6, entlassen - zusammen mit Courant und anderen jüdischen Professoren aus Göttingen. Hermann Weyl ersetzte Courant als Vorstand des mathematischen Instituts, und durch seine Bemühungen erhielt Emmy Noether eine Stelle am Bryn Mawr College in Pennsylvania mit einem Jahresgehalt von 3000 Dollar. Sie reiste im Oktober 1933 in die USA, wo sie auch am Institute for Advanced Studies in Princeton las. Auch E m m y Noethers Bruder Fritz, der an den technischen Hochschulen in Karlsruhe und Breslau gelehrt hatte, wurde 1934 gezwungen, sein Amt niederzulegen; er emigrierte nach Tomsk in Sibirien. Emmy Noether kam im Sommer 1934 ein letztes Mal nach Deutschland. Sie besuchte Hamburg und Göttingen, wo sie aber nur noch wenige Bekannte traf. Als ausländische Wissenschaftlerin auf Studienreise durfte sie die Bibliothek nicht benutzen. Es gibt eine berühmte Anekdote, nach der der nationalsozialistische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, auf einem Bankett in Göttingen Hilbert fragte, ob es wahr sei, daß das mathematische Institut durch die Amtsenthebung seiner jüdischen Mitglieder und ihrer Freunde sehr gelitten habe. Hilbert antwortete: »Jelitten? Dat hat nich jelitten, Herr Minister. Dat jibt es doch janich mehr!« 7 . E m m y Noethers Entlassung war zweifellos ein großer Verlust für Göttingen. In die USA zurückgekehrt, starb Emmy Noether 1935 unerwartet an Komplikationen nach einer Tumoroperation.

Anmerkungen Für die Ü b e r s e t z u n g meines Beitrags aus d e m Englischen danke ich H e r r n Gerhard Brey, München. 1 Ein N a c h r u f auf M a x N o e t h e r mit einem Abriß seines Lebens u n d Werks w u r d e von den drei italienischen M a t h e m a t i k e r n G. Castelnuovo, F. Enriques und F. Scvcri, die sein mathematisches Werk fortsetzten, verfaßt u n d mit einem Schriftenverzeichnis von E m m y N o e t h e r veröffentlicht in: M a thematische Annalen 93 (1924), S. 161-181. D e r vorliegende Artikel stützt sich auch auf die Biographien von M a x u n d E m m y N o e t her von Edna Ε. K r a m e r in: Gillispie, C h a r les C o u l s t o n (Hg.): Dictionary of Scientific Biography, Bd. 10, 1974, S. 137-141. 2 Die A n k ü n d i g u n g von E m m y N o e t h e r s Seminar in Göttingen von 1916 bis 1917 lautete: »Mathematisch-physikalisches Seminar. Invariantentheorie: Prof. Hilbert mit U n t e r s t ü t z u n g von Frl. Dr. E. Noether, M o n t a g s 4-6, gratis.«

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3 In seinem N a c h r u f auf E m m y N o e t h e r gibt H e r m a n n Weyl einen Abriß von ihrem Leben u n d Werk, in: Scripta Mathematica 3 (1935), S. 201-220. Anläßlich des 100. Geburtstags von E m m y N o e t h e r ist auch ein Buch erschienen, das einen Überblick über ihr Leben und Werk gibt: Brewer, James W./Smith, M a r t h a K. (Hgg.): E m m y Noether. Α Tribute to H e r Life and Work, N e w York, Basel 1981. In diesem Band findet sich auch eine Bibliographie der Werke von E m m y N o e t her (S. 175- 177). 4 Weyl, S. 219; B r e w e r / S m i t h , S. 5. 5 B r e w e r / S m i t h , S. 39-46. 6 Familienblatt beim E i n w o h n e r m e l d e a m t Erlangen; freundlicher Hinweis von Frau Ilse Sponsel, Erlangen. 7 Die A n e k d o t e findet sich bei Fraenkel, A b raham Α.: Lebenskreise. Aus den E r i n n e r u n g e n eines jüdischen Mathematikers, Stuttgart 1967, S. 159.

Henry Marx

Oscar Salomon Straus (1850-1931), amerikanischer Diplomat und Politiker

Oscar Salomon Straus kam am 23. Dezember 1850 als jüngstes von vier Kindern des damals 41jährigen Lazarus Straus und seiner 23jährigen Frau Sara, einer Kusine seines Vaters, im rheinpfälzischen Otterberg, nördlich von Kaiserslautern, zur Welt. Er war erst anderthalb Jahre alt, als sein Vater, ein Getreidehändler, nach Amerika auswanderte. Wirtschaftliche Gründe dürften dafür weniger maßgebend gewesen sein als das politische Klima, das Lazarus Straus, der an der Revolution von 1848 teilgenommen hatte, wenig behagte. So beschloß er, nach Amerika zu fahren, wohin in den Jahren zuvor schon Bekannte aus Nachbardörfern und Geschäftsfreunde gegangen waren. Seine Familie ließ er zunächst noch zurück. In Philadelphia traf Straus mit einigen seiner pfälzischen Bekannten zusammen, die sich inzwischen bereits etabliert hatten. Sie rieten ihm, nach dem Süden zu gehen, und er wählte Oglethorpe in Georgia (der O r t trug den N a m e n des englischen Unterhausmitglieds James Oglethorpe, der die Kolonie im 18. Jahrhundert gegründet hatte), von w o aus er, wie viele der deutsch-jüdischen Einwanderer jener Zeit, als Hausierer seine Existenz begründete. Auf einer seiner Reisen entdeckte er den O r t Talbotton, der ihm so gut gefiel, daß er dort seine Zelte aufschlug; bald betrieb er mit einem Partner einen Laden und konnte nun seine Familie nachkommen lassen. In seinem Memoirenband »Under Four Administrations« hat Oscar Straus 70 Jahre später die Reise der Familie beschrieben: Zunächst ging es per Kutsche nach Kaiserslautern, in Begleitung des mütterlichen Großvaters Salomon Straus hoch zu Roß. Von Kaiserslautern führte der Weg per Eisenbahn - man schrieb das Jahr 1 8 5 4 - bis zur französischen Grenzstation Forbach, am nächsten Tag ebenfalls per Z u g nach Paris und von dort nach Le Havre, von w o sie die Jungfernfahrt des Dampfers St. Louis mitmachten, der am 12. September 1854 in N e w York dockte. Vater Straus begrüßt seine Familie - den 9jährigen Isidor, die 7/yährige Hermine, den 6jährigen Nathan, den 3!^jährigen Oscar und die Mutter freudig. In Talbotton waren sie die einzige jüdische Familie, fanden aber überall sehr freundliche Aufnahme. Die drei Buben und das Mädchen wurden sofort eingeschult, Oscar erst etwas später. Da es keine öffentlichen Schulen gab, mußten sie eine Privatschule besuchen. Auch in dem größeren C o l u m b u s , wohin die Familie 1863, in der Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges, zog, gab es noch keine öffentliche Schule.

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Nach Kriegsende ging die Familie nach N e w York; Isidor, der Älteste, hatte inzwischen als Einkäufer Georgias in Europa viel Geld verdient und sorgte dafür, daß Oscar erst die Columbia Grammar School, von 1867 an das Columbia College und 1871 die Columbia Law School besuchen konnte. Zwei Jahre später bestand Oscar Straus das Anwaltsexamen, wurde in eine der großen Anwaltsfirmen N e w Yorks aufgenommen, machte sich aber bald mit einem Partner selbständig. Aus gesundheitlichen Gründen gab er 1881 seinen Beruf auf, um in die von seinem Vater gegründete Firma L. Straus & Sons einzutreten, die Porzellan und Glaswaren herstellte sowie importierte. 1884 beteiligte sich Oscar Straus erstmals aktiv an einer Präsidentschaftskampagne und unterstützte den Demokraten Grover Cleveland, der auch gewählt wurde. 1887 wurde er von Cleveland zum Gesandten in der Türkei mit Sitz in Konstantinopel ernannt. Er unternahm Reisen nach Ägypten, Palästina und Syrien und unterstützte vor allem das amerikanische Robert College in der türkischen Hauptstadt. In den Streitfragen zwischen dem Eisenbahnbauer Baron Moritz Hirsch und dem türkischen Sultan wurde Oscar Straus zum Schiedsrichter ernannt; und er besprach erstmals mit dem Baron Wege und Mittel, wie den russischen Juden angesichts der zunehmenden Pogrome geholfen werden könne. Nach der Niederlage Clevelands 1888 schied er aus dem diplomatischen Dienst aus. Als Mitglied eines Komitees jedoch, dem auch die N e w Yorker Bankiers Jesse Seligman und Jacob H. Schiff angehörten, schilderte er Clevelands Nachfolger, Benjamin Harrison, die traurigen Lebensumstände der verfolgten russischen Juden. Harrison ernannte eine Kommission zur Untersuchung der Lage, ihr Bericht ging in eine Botschaft des Präsidenten an den Kongreß ein, und vorübergehend besserte sich die Lage der Juden. Im Jahr 1896 setzte sich Straus für die Wahl des Republikaners William McKinley zum Präsidenten ein, und nachdem dieser die Wahl gewann, wurde Straus 1897 ein zweites Mal zum Gesandten in der Türkei ernannt. Seiner Intervention beim Sultan gelang es, einen drohenden Aufstand der Mohammedaner auf den Philippinen zu verhindern, die als Folge des amerikanisch-spanischen Krieges von den Vereinigten Staaten besetzt worden waren. 1899 lernte er Theodor Herzl in Wien kennen und riet diesem, direkt mit dem Sultan zu verhandeln, um die Einwanderung russischer Juden nach Palästina zu ermöglichen. Eine der ersten Maßnahmen von Theodore Roosevelt, der McKinley im Präsidentenamt folgte, war die Ernennung von Oscar Straus zum amerikanischen Mitglied des Internationalen Schiedsgerichtshofs in Den Haag, dem er mit Unterbrechungen bis kurz vor seinem Tod angehörte. 1906 ernannte Roosevelt Oscar Straus zum ersten jüdischen Mitglied eines amerikanischen Kabinetts. Er tat es mit den folgenden Worten: »Ich habe eine sehr hohe Meinung von Ihrer Urteilskraft und Ihren Fähigkeiten. U n d ich möchte es auch aus persönlichen Gründen. Aber auch noch aus einem anderen Grund: Ich will Rußland und einigen anderen Ländern zeigen, was wir in diesem Land von 184

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Geburtshaus von Oscar Salomon Straus in O t t e r b e r g , Fotografie.

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Der amerikanische Präsident H; Fotografie.

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Juden halten«. A m 17. Dezember übernahm Straus das Handels- und Arbeitsministerium. Nach dem Amtsantritt Präsident Tafts 1909 w u r d e er zum dritten Mal nach Istanbul geschickt, n u n m e h r als Botschafter. Inzwischen hatte dort ein neuer Sultan die Zügel in die Hand g e n o m m e n , und das Land machte zumindest Anstalten, sich in Richtung auf eine Demokratie hin zu bewegen. 1912 bewarb sich Straus u m das A m t des Gouverneurs von N e w York auf der Liste der Progressiven, die sich mit Roosevelt von den Republikanern abgespalten hatten. Roosevelt, der wieder für die Präsidentschaft kandidierte, und Straus wurden geschlagen, aber überraschenderweise erhielt Straus in N e w York mehr Stimmen als Theodore Roosevelt. Lange Reisen nach Nordafrika und Europa füllten die Jahre 1913 und 1914 aus, in deren Verlauf Straus mit vielen Politikern zusammentraf. Es war daher naheliegend, daß Präsident Woodrow Wilson Straus aufforderte, ihm bei den Friedensverhandlungen nach Ende des Ersten Weltkriegs zu helfen, den von ihm und seinen beiden Vorgängern Taft und Roosevelt propagierten Völkerbund zu verwirklichen. Straus' B e m ü h u n g e n ist es zuzuschreiben, daß die Idee des Völkerbundes als eine Art Verpflichtung in den Versailler Vertrag aufgen o m m e n wurde; der Beitritt der Vereinigten Staaten scheiterte an einigen republikanischen Senatoren. Während der Tage in Paris im Jahr 1919 hatte Straus auch zahlreiche Z u s a m m e n k ü n f t e mit Persönlichkeiten, denen die Interessen der Juden am Herzen lagen, zumal es nach der Erklärung des englischen Außenministers Arthur Balfour so aussah, als w ü r d e in Palästina bald eine Heimstätte für die verfolgten Juden entstehen. Vertreter des »Jewish Welfare Board« und des »Joint Distribution Committee«, die damals in Paris Pläne erarbeiteten zur Gestaltung der politischen Z u k u n f t der Juden, fanden volle Unterstützung durch Straus. Während einer solchen Z u s a m m e n k u n f t in seinem Privatquartier in Paris w u r d e der Pogrom in Pinsk bekannt, und Straus war der erste, der einen energischen Protest bei der polnischen Regierung verlangte. Im Juni 1919 kehrte Straus nach Amerika zurück und tat sein Möglichstes, u m den Beitritt der Vereinigten Staaten zum Völkerbund zu erreichen, was ihm jedoch angesichts der sich verbreitenden isolationistischen S t i m m u n g im Kongreß nicht gelang. So endete er seine Memoiren mit der lapidaren Feststellung: »Ich m u ß ganz einfach darüber nachdenken, wieviel klüger die alliierten Mächte und Amerika in der Führung des Krieges als beim Abschluß eines Friedens waren. Im Kriege gingen sie schließlich mit vereinter Stärke vor und siegten; bei den Friedensbedingungen wichen sie wieder erheblich voneinander ab. Die Männer, die die Friedensbedingungen formulierten, ordneten die Weltpolitik der Innenpolitik unter. . . . Den führenden Männern der Entente gebricht es noch an wirtschaftlicher Klugheit oder, was d e m gleichkommt, an Mut, u m ihre Außenpolitik den Richtlinien der Weltwirtschaft anzupassen. Mein eigenes Land, das seine Zusammenarbeit verweigert, handelt genauso schuldhaft. Das Ergebnis ist Spannung und Verwirrung in den Beziehungen

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der Nationen«. Diese Worte sind so aktuell, daß sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg hätten geschrieben werden können. Die letzten Lebensjahre von Oscar Straus waren durch Krankheiten und eine schwere Operation überschattet. Er schränkte seine öffentliche Tätigkeit mehr und mehr ein, hielt nur gelegentlich noch Reden über T h e m e n , die ihm besonders am Herzen lagen. 1925 übernahm er den Vorsitz eines »Komitees zur Begrüßung ausländischer Gäste« bei der Ausstellung zum 150jährigen Bestehen der Vereinigten Staaten in Philadelphia. A m 23. Dezember 1925 konnte er seinen 75. Geburtstag im Kreis seiner Familie und von Freunden feiern, am 3. Mai 1926 starb er. Knapp drei Jahre nach seinem Tod nahmen die beiden K a m m e r n des Kongresses einstimmig eine Resolution an, wonach in Washington ein D e n k mal zur E h r u n g von Oscar S. Straus errichtet werden sollte. Eine »Oscar S. Straus Memorial Association« w u r d e ins Leben gerufen, die durch Veranstaltungen aller Art und durch Veröffentlichungen an der Verwirklichung des Denkmals arbeitete. Aber nahezu zwei Jahrzehnte vergingen, ehe es auf einem Platz errichtet wurde, der von den neuen Gebäuden des Handels- und Arbeitsministeriums und der Bundespost eingerahmt wurde. Mit einer kurzen Rede nahm Präsident Harry S. Truman am 26. O k t o b e r 1947 das Denkmal in die O b h u t der Vereinigten Staaten. Der Sohn des Geehrten, Roger W. Straus, dessen Frau und seine Tochter Aline Hockstader mit ihrem M a n n sowie andere Ehrengäste nahmen an der schlichten Feier teil. Bei dieser Gelegenheit gedachte Dr. Cyrus Adler des Verstorbenen mit den folgenden Worten: »Kein Jude in Amerika hat ein so volles und reiches öffentliches Leben geführt wie Oscar Straus und natürlicherweise spielte es sich zu einem guten Teil in der größeren Welt ab. Aber er gehörte nicht zu jenen, die zu irgendeiner Zeit meinten, ihre öffentliche Laufbahn erfordere eine Abkehr von den jüdischen Traditionen. Er war ein treues Mitglied der Synagoge, der seine Familie angehörte; er nahm aktiven Anteil an der Verwaltung einer der bedeutendsten jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen in N e w York, des H e b r e w O r p h a n Asylum. Er zeigte Interesse an der American Jewish Historical Society, deren Präsident er seit ihrer G r ü n d u n g im Jahre 1892 bis 1898 war und widmete Zeit, Gedanken und aktive Arbeit ihrer Entwicklung. Er war Treuhänder und Mitglied des Publikationskomitees der Jewish Publication Society of America, Mitglied des Exekutivkomitees des American Jewish C o m m i t t e e und einer der Direktoren des Dropsie College for Hebrew and Cognate Learning ...«. Man darf hinzufügen, daß nur wenige Juden, und sicherlich kein eingewanderter deutscher Jude, so viele hohe politische, diplomatische und juristische Ä m t e r in Amerika bekleidet hat. Auf ihre Art kaum weniger bedeutend waren seine beiden älteren, ebenfalls in O t t e r b e r g geborenen Brüder. Isidor, geboren am 6. Februar 1845, und Nathan, geboren am 31. Januar 1848, waren in der von ihrem Vater gegründeten Firma L. Straus & Sons tätig, die in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein kleines Kurzwarengeschäft von R. H. Macy kaufte, das sie zu einem der 187

größten amerikanischen Warenhauskonzerne ausbauten. Das New Yorker Kaufhaus Macy's hat noch heute die größte Verkaufsfläche aller amerikanischen Kaufhäuser. 1894-96 war Isidor Straus demokratischer Abgeordneter im Kongreß; er war zeit seines Lebens ein großer Förderer des »Jewish Theological Seminary«, eines New Yorker Rabbinerseminars. Isidor Straus und seine Frau Ida fanden den Tod beim Untergang der »Titanic« am 15. April 1912. Nathan Straus war eine zeitlang Park- und Gesundheitskommissar der Stadt New York, unterstützte zahlreiche Tuberkuloseheime und Wohlfahrtseinrichtungen im damaligen Palästina, vor allem Kinderkliniken. Er starb 1931. Quellen Arnold, Hermann: Juden in der Pfalz, Landau 1986. Hellmann, Georg S. (Hg.): The Oscar S. Straus

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Memorial Association, N e w York, 1949. Straus, Oscar S.: Under Four Administrations, Boston, N e w York 1922.

Nathan, Oscar und Isidor Straus, Fotografie, vor 1912.

WolfWeigand

Henry Simonsfeld (1852-1913), Historiker in München

»So weil ich denn zum ersten Mal/Als Gast in Eurem Kreise,/Und laut ertöne also gleich/Mein Lied zu Eurem Preise!/Habt Dank Ihr Herren lobesam, daß Ihr mich aufgenommen/ In Eu're Schar und daß ich so/An's Ziel noch konnte kommen -/ An's Ziel, so lang, so heiß ersehnt,/Die Sehnsucht all'der Zeiten:/ Zu sitzen in der Götter Rat, die Geschäfte mit zu leiten...« 1 . Diese Verse hatte der Münchner Historiker Henry Simonsfeld der philosophischen Fakultät der Universität München zu ihrem Fakultätssouper am 1. Januar 1913 gewidmet, um ihr für die Verleihung von Titel und Rang eines ordentlichen Professors zu danken. Nach gut 35jähriger Tätigkeit an der Universität, davon alleine 20 Jahre als Privatdozent, war er am 29. Februar 1912 zum Ordinarius ernannt worden. Henry Simonsfeld hatte die Absicht, das Gedicht selbst vorzutragen, jedoch das Magenleiden, worüber er in den gereimten Dankesworten noch scherzte, hatte sich so verschlimmert, daß eine Operation nötig wurde. Der ärztliche Eingriff konnte keine Besserung herbeiführen. A m 5. April 1913 starb Henry Simonsfeld in der Diakonissenanstalt zu München, ohne das Ziel seiner Träume verwirklicht zu haben, nämlich die Geschäfte der Fakultät tatkräftig mitzubestimmen, denn in seinem letzten Lebensjahr war er schon von Krankheiten gezeichnet. Henry Simonsfeld wurde am 15. Oktober 1852 in Mexiko-Stadt als Sohn eines Großkaufmanns geboren. Er war, wie er in seinem Lebenslauf aus dem Jahr 1878 vermerkte, »mosaischer Konfession« 2 . Weiterhin teilte er mit, daß er »zu Ottensoos in Mittelfranken (heimatberechtigt war), dem Heimatort seiner Eltern, wo er nach dem frühen Tode seines Vaters seine Kindheit verlebt hat« 3 . Von seinem 6. bis zu seinem 17. Lebensjahr besuchte er das k. humanistische Gymnasium in Nürnberg. Ab November 1870 widmete er sich an der Universität München historisch-philologischen Studien unter der Leitung Wilhelm Giesebrechts. Im Studienjahr 1872/73 setzte er in Göttingen unter Georg Waitz seine universitäre Ausbildung fort, bevor er, an die Münchner Universität zurückgekehrt, im Dezember 1873 die Hauptprüfung aus den philologischen- historischen Fächern mit gutem Erfolg und im Oktober 1876 das Spezialexamen aus der Geschichte mit sehr gutem Erfolg ablegte. Zwischen den Examen war er 1873 bis 1876 als »Klaßverweser« an verschiedenen Schulen tätig gewesen, so von Mai bis August 1874 am K. Realgymnasium in Nürnberg, von November 1874 bis März 1875 am K. 189

Realgymnasium und von Juli bis August 1877 am K. Ludwigsgymnasium in München. Im Juli 1876 erwarb er zudem aufgrund einer Abhandlung über »Andreas Dandolo und seine Geschichtswerke« 4 den Doktorgrad »summa cum laude«. Die Materialien für diese Arbeit hatte er auf einer längeren Studienreise nach Italien gesammelt, die ihm mit Hilfe eines Stipendiums König Ludwigs II. ermöglicht worden war. Im Oktober 1877 trat er nach Ableistung einer Prüfung aus dem Bibliotheksfach in die Dienste der K. Hofund Staatsbibliothek. Bereits ein Jahr später legte er seine Habilitationsschrift über das »Chronicon Altinate« 5 vor, die ebenso wie seine Doktorarbeit und zahlreiche Aufsätze, die er zwischenzeitlich veröffentlicht hatte, der italienischen Geschichte gewidmet war. Überhaupt bildeten Darstellungen und Quelleneditionen zur italienischen Geschichte, und hier besonders zur Geschichte Venedigs, einen Schwerpunkt seiner Arbeit. Sein Hauptwerk veröffentlichte er 1887 über die Geschichte des »Fondaco dei Tedeschi« 6 , in dem er Entwicklung der deutsch-venezianischen Handelsbeziehungen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert darlegte. Seit 1878 war er 20 Jahre lang auf drei Arbeitsgebieten tätig: als Privatdozent - also als Lehrer an der Universität ohne feste Bezahlung - , als Beamter an der Staatsbibliothek und als Forscher. Trotz der Belastung durch universitäre Verpflichtungen, wie die Abhaltung von Vorlesungen und Übungen und dem Dienst an der Staatsbibliothek veröffentlichte er unermüdlich - nicht nur auf seinem Spezialgebiet, sondern auch zur bayerischen Landesgeschichte. Aufgrund seiner Forschungen über den »Bucintoro« 7 , das Prunkschiff Herzog Wilhelms V. auf dem Starnbergersee, wurde ein Modell im Deutschen Museum angefertigt 8 . Henry Simonsfeld war ein rastloser Arbeiter, der neben wissenschaftlicher Spezialliteratur eine große Anzahl von populär gehaltenen Beiträgen insbesondere für die »Münchner Neuesten Nachrichten« schrieb. Diese bildeten auch das Forum für sein Engagement zugunsten der Kolonialpolitik. Sein letzter großer Aufsatz in dieser Zeitung - bereits auf dem Krankenlager verfaßt - stellte die Tätigkeit der Abteilung München der Deutschen Kolonialgesellschaft vor'. Auch mit Vorträgen und Broschüren warb er für Schaffung und Ausweitung deutscher Kolonien. Im Vorwort zu Henry Simonsfelds Darstellung über »Die Deutschen als Kolonisatoren in der Geschichte« 10 führte der Münchner Jurist Franz von Holtzendorff aus, daß die Lektüre dieses Buchs »nicht nur anregend und belehrend wirken, sondern möglicherweise auch praktischen Nutzen auf politischem Gebiet stiften können (wird), . . . wenn sie die Überzeugung bestärkte, daß die neuere im deutschen Volksgeiste hervortretende kolonialpolitische Strömung kein Werk künstlicher Agitationen darstellt, sondern aus denselben, lange Zeit verdeckt gebliebenen Quellen hervorging, aus denen die Idee des neuen deutschen Kaiserreichs ihre mittelalterliche Weihe bezog«". Trotz seiner regen und durchaus gediegenen wissenschaftlichen Arbeit gelang es Henry Simonsfeld nicht, eine ordentliche Professur zu erhalten, die allein ihn in den Stand gesetzt hätte, sowohl zu forschen als auch seine

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Vorstellungen von wissenschaftlicher Lehre an der Universität zu verwirklichen. »Simonsfeld m u ß t e sich 20 Jahre lang als Privatdozent abquälen; eine Anstellung an der Staatsbibliothek sicherte sein äußeres Dasein« 12 , so beschrieb Walter Goetz die berufliche Situation seines Lehrers. Aus der Rückschau bewertete Henry Simonsfeld selbst seine Arbeit an der Bibliothek positiver als sein Schüler, aber nicht ohne resignativen U n t e r t o n : «...ich weiß recht wohl, was ich der Tätigkeit auf der Bibliothek alles zu danken habe: neben der materiellen Grundlage einen gewissen Sinn, möchte ich sagen, für O r d n u n g und Sauberkeit im wissenschaftlichen Arbeiten, reiche bibliographische Kenntnisse und die Möglichkeit rascher Orientierung in der einschlägigen Literatur fur meine wissenschaftlichen Arbeiten, und meine Lehrtätigkeit. Als ich 1898 die Bibliothek verließ, geschah es schweren, tief bewegten Herzens, und auch danach ist ja mein Einvernehmen mit der Anstalt... ein gutes geblieben« 13 . Der Bibliotheksdienst bildete die Grundlage für seine wissenschaftliche Arbeiten, seine berufliche Erfüllung bedeutete er nicht. Für einen größeren Erfolg an der Universität scheinen ihm zudem wichtige Voraussetzungen gefehlt zu haben, denn »seine Vorlesungen entbehrten sowohl des Scharfsinnes wie des Schwunges - es war zumeist ein nüchternes Vortragen der Anschauungen anderer Forscher« 14 . Was Henry Simonsfeld vor anderen Universitätslehrern jener Zeit aber auszeichnete, nämlich Studienanfängern eine gute E i n f u h rung in Quellenkritik und in wissenschaftlichen Streitfragen zu geben, konnte nicht seinem beruflichen Fortkommen an der Universität dienen; denn diese für die akademische Lehre wichtigen Veranstaltungen ließen nicht zu, daß er sich eine unanfechtbare Position in der Wissenschaft und einen größeren Bekanntheitsgrad verschaffte, die ihm den Ruf an eine Universität gebracht hätten. Die E r n e n n u n g zum außerordentlichen Professor für Geschichte und historische Hilfswissenschaften im Jahr 1898 an der Universität M ü n c h e n war eine späte und in seinen Augen nur unzureichende Beförderung. Immerhin: »man ging gern zu seinen Ü b u n g e n in den 4. Stock des ehemaligen Cafe de l'Opera in der Maximilianstraße, denn hier war eine Aussprache wie unter Gleichberechtigten, und die Fragen des Neulings fanden eine stets wohlwollende Bewertung, und das die Ü b u n g e n am Semesterende regelmäßig abschließende Abendessen w u r d e als ein fester Bestandteil dieser wissenschaftlichen Tätigkeit betrachtet«15. O b w o h l er in Italien für seine wissenschaftlichen Arbeiten, von denen die wichtigsten bald nach ihrem Erscheinen ins Italienische übersetzt wurden, manche Auszeichnung erfuhr 16 , war sein Schaffen in Deutschland umstritten; vor allem w u r d e ihm vorgeworfen, daß er zu verschiedenartige T h e m e n bearbeite, daß er also kein strenger Spezialist sei17. Sein weitgestecktes Arbeitsfeld war freilich eine Folge seiner Tätigkeit an der Staatsbibliothek, die eine Spezialisierung nicht erlaubte, und seines eigenen weitgespannten Interesses. Insbesondere seine Bearbeitung der Geschichte »Friedrich Rotbarts« 18 in den Jahrbüchern des Deutschen Reichs w u r d e teilweise scharf angegriffen 19 . Ü b e r diese herbe Kritik verbittert, versuchte er seine Beförderung zum ordentlichen Professor, auf die er nun ein Anrecht zu haben

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glaubte 20 , mit allen i h m zur V e r f ü g u n g s t e h e n d e n M i t t e l n d u r c h z u s e t z e n . In einem Brief an den Rechthistoriker Karl von A m i r a schrieb er dazu: »Sehr g e e h r t e r H e r r O b e r k o l l e g e ! Z u N e u j a h r g a b es w i e d e r eine Anzahl v o n B e f ö r d e r u n g e n v o n P r i v a t d o z e n t e n zu a u ß e r o r d e n t l i c h e n Professoren Titel u n d R a n g : da d r ä n g t sich m i r u n w i l l k ü r l i c h die Frage auf: Ei, w a r u m n i m m t d e n n der Senat diesen g e g e n ü b e r einen a n d e r e n S t a n d p u n k t ein, als g e g e n ü b e r a u ß e r o r d e n t l i c h e n Professoren, d e n e n die Fakultät Titel u n d R a n g eines O r d i n a r i u s verleihen will. Wo bleibt d e n n da das Prinzip? Ich selbst w ä r e j a , w i e ich o f f e n gesagt habe, d a m i t nicht z u f r i e d e n . Was ich erstrebe, ist Titel R a n g und Recht ( H e r v o r h e b u n g d. Verf.) D e n n ich glaube darauf ein e b e n s o gutes A n r e c h t zu besitzen, w i e m a n c h e r m e i n e r Oberkollegen« 2 1 . H e n r y S i m o n s feld glaubte die G r ü n d e f ü r die V e r w e i g e r u n g einer B e f ö r d e r u n g zu k e n n e n , n ä m l i c h , daß er kein »Genie« sei, daß er auf d e m Gebiet der Paläographie - der S c h r i f t e n k u n d e - nichts geleistet habe, daß sein Fach, die geschichtlichen H i l f s w i s s e n s c h a f t e n n u r eine u n t e r g e o r d n e t e Rolle spielten, u n d daß sein A n s i n n e n ü b e r h a u p t d e m B e s t r e b e n entgegenstehe, die Z a h l der O r d i n a r i e n nicht zu v e r m e h r e n . D e m b e g e g n e t e er v o r allem m i t d e m A r g u m e n t , daß seines Erachtens »es ü b r i g e n s bei der Frage der B e f ö r d e r u n g zu e i n e m O r d i n a r i a t d o c h vor allem auf die Tätigkeit an der U n i v e r s i t ä t a n k o m m e n (sollte), u n d da glaube ich es getrost mit m a n c h e m O b e r k o l l e g e n a u f n e h m e n zu k ö n n e n . Wenigstens haben m i r viele Z u h ö r e r i m m e r w i e d e r v e r s i c h e r t . . . w i e viel sie bei mir, n a m e n t l i c h auch in m e i n e n 'historischen Ü b u n g e n ' gelernt h a b e n , die ich seit m e h r als 30 J a h r e n . . . leite. Ja ich d a r f sagen, d a ß ich lange Z e i t ü b e r h a u p t der einzige war, der solche historischen Ü b u n g e n hier leitete. N e b e n d e m Giesebrechtschen Seminar g a b es Jahre lang keine anderen als die m e i n i g e n . Alle die j ü n g e r e n Kollegen u n d viele a u s w ä r t s (heute O b e r k o l l e g e n ) w i e Fester, Preuss, G o e t z sind d u r c h m e i n e Schule h i n d u r c h g e g a n g e n : eine offizielle A n e r k e n n u n g hat das freilich nie g e f u n d e n , weil ich davon auch nie viel A u f h e b e n s g e m a c h t habe« 22 . M ü h s a m u n d n u r gegen die g r ö ß t e n W i d e r s t ä n d e i m Senat k o n n t e H e n r y S i m o n s f e l d es erreichen, daß er 1912 z u m o r d e n t l i c h e n P r o f e s s o r der Geschichte e r n a n n t w u r d e , w a r d o c h sein Verhalten, sich selbst f ü r seine B e f ö r d e r u n g d u r c h Appelle bei Kollegen u n d Fakultät zu engagieren, in den A u g e n einiger Professoren h ö c h s t suspekt. Für j e n e galt n ä m l i c h der G r u n d s a t z , »daß j e m a n d , der selber Schritte u n t e r n i m m t , u m an der U n i v e r s i t ä t f ü r sich eine B e f ö r d e r u n g d u r c h z u s e t z t e n , d a m i t sich u n m ö g l i c h macht...« 2 3 . Dieses im Senat der U n i v e r s i t ä t M ü n c h e n h e r r s c h e n d e S t a n d e s d e n k e n hat sicherlich h e m m e n d auf die B e r u f u n g H e n r y S i m o n s f e l d s g e w i r k t . Vergleicht m a n d a r ü b e r hinaus seine berufliche L a u f b a h n m i t der des j ü d i s c h e n H i s t o r i k e r s J a k o b Karo, der 19 Jahre als P r i v a t d o z e n t u n d a u ß e r o r d e n t l i c h e r P r o f e s s o r an verschiedenen U n i v e r s i t ä t e n lehrte, d a n n liegt die V e r m u t u n g nahe 24 , daß sich die » s c h w e r w i e g e n d e Bedenken« 2 5 des Senats nicht zuletzt aus einer negativen V o r e i n g e n o m m e n h e i t g e g e n ü b e r der j ü d i s c h e n H e r k u n f t H e n r y Simonsfelds 2 6 speisten oder, w i e es sein Schüler Walter G o e t z f o r m u l i e r t e :

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»Als J u d e und bei nicht allzu hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen hatte Simonsfeld in München einen schweren Stand« 2 7 .

Anmerkungen 1 Universitätsarchiv München ( U A M ) Ε II 335a, Z u m 11. Januar 1913. 2 U A M Ε II 683, Lebenslauf Henry Simonsfelds v o m 22. Mai 1878. 3 U A M Ε II 683, Lebenslauf. 4 Simonsfeld, Henry:Andreas Dandolo und seine Geschichtswerke, München 1876. 5 Simonsfeld, Henry: Venetianische Studien, München 1878, 1. Das Chronikon Altinate. 6 Simonsfeld, Henry: Der Fondaco dei Tcdeschi in Venedig und die deutsch - venetianischen Handelsbeziehungen, 2 Bde., Stuttgart 1887. 7 Simonsfeld, Henry: Der Bucintoro auf dem Starnbergersee, B a m b e r g 1890; vgl. dazu auch Riezler, Siegmund Freiherr von, Geschichte Baierns, Bd. 7, 1651 - 1704, N D Aalen 1964, S. 102 f. 8 U A M Ε II 683, Nachruf auf Henry Simonsfeld, Ausschnitt aus den Münchner Neuesten Nachrichten. 9 Ebd. 10 Simonsfeld, Henry: Die Deutschen als C o lonisatoren in der Geschichte mit einem Vorwort von Franz von Holtzendorff, H a m b u r g 1885. 11 Holtzendorff, Franz von: Vorwort zu Henry Simonsfeld: Die Deutschen als Colonisatoren in der Geschichte, H a m b u r g 1885. 12 Goetz, Walter: Die Baierische Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, in; H Z 138 (1928), S. 255-313, hier: S. 306 f.; vgl. auch Goetz, Walter: Aus dem Leben eines deutschen Historikers, in:Goetz, Walter: Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze, Köln, Graz 1957, S. 1-87, hier; S. 4f. 13 Bayerische Staatsbibliothek, Schnorriana, Brief von Henry Simonsfeld an Hans Schnorr von Carolsfeld v o m 17. Oktober 1912.

14 Goetz, Walter: Geschichtsschreibung, S. 307. 15 Goetz, Walter: Geschichtsschreibung, S. 307. 16 Vgl. hierzu Grauert, Hermann über Henry Simonsfeld, in: Chronik der L u d w i g - M a x i milians-Universität München für das Jahr 1912/1913, S. 1-16, hier S. 11; vgl. hierzu auch U A M Ε II 683, hier befindet sich das Manuskript Grauerts mit einigen interessanten Abweichungen von der gedruckten Fassung. 17 Grauert, Hermann: Chronik, S. 15. 18 Simonsfeld, Henry: Jahrbücher des Deutschen Reiches Unter Friedrich I., Bd. I, 1152-1158, Leipzig 1908. 19 Grauert, Hermann: Chronik, S. 15. 20 Bayerische Staatsbibliothek, Amiraiana I, Brief von Henry Simonsfeld an Karl von Amira vom 3. Januar 1910. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 U A M Ε II 683, Sondervotum der Professoren Paul, Lötz, Seeliger und Döderlein im Senat. 24 S o vor allem Weber, Wolfgang: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaften 1800 1970, Frankfurt, Bern, N e w York 1984, S. 92. 25 U A M Ε II 683, so der Senat über die Beförderung Simonsfelds zum ordentlichen Professor am 6. Mai 1909. 26 Spätestens seit seiner Heirat im Jahre 1894 war Henry Simonsfeld zum Protestantismus übergetreten. Vgl. hierzu: Evang. Kirchenregisteramt München, Trauregister 1883 - Dezember 1896; seine Taufe ließ sich in München nicht nachweisen. 27 Goetz, Walter: Leben, S. 5.

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Emil Guggenheimer, Fotografie.

WolfWeigand

Emil Guggenheimer (1860-1925), Geheimer Justizrat

»Chrysam und Taufe verloren! Unser verehrter Freund, Herr Landgerichtsrath Guggenheimer, der seinerzeit im Menageprozeß gegen die Münchener Post als Staatsanwalt fungierte, hat einen empfindlichen Verlust erlitten. Sein trautes Ehegespons, eine Tochter des Kammersängers Nachbaur, ist nämlich vorige Woche mit einem Kaufmanne aus Hamburg durchgebrannt. Der Landgerichtsrath soll, wie man hört, die Erwählte seines Herzens, der zu liebe er sich dereinst in den Schoß der katholischen Kirche hat aufnehmen lassen, nicht gerade i m m e r nach den Worten des Dichters behandelt haben: K o m m ' den Frauen zart entgegen!« 1 . Dieser Artikel aus dem Jahr 1901 war gegen den damals 41jährigen Landgerichtsrat Dr.jur. Emil Guggenheimer gerichtet. Wie in diesem kurzen Bericht ließ das sozialdemokratische Presseorgan, die »Münchener Post«, kaum eine Gelegenheit aus, gegen einen Sproß aus der Familie Guggenheimer zu polemisieren. Die Guggenheimer zählten zu den hochgeachteten jüdischen bürgerlichen Familien in M ü n c h e n : Emil Guggenheimers Vater Joseph hatte zusammen mit seinen Brüdern Moritz und Eduard am 1.Januar 1872 das Bank- und Commissionsgeschäft »Guggenheimer und Co« gegründet, das am 1. Juli 1892 von der Bayerischen Vereinsbank ü b e r n o m m e n wurde. Insbesondere Emil Guggenheimers Onkel Moritz hatte zum guten Namen, den die Familie damals genoß, wesentlich beigetragen, denn er erwarb sich - wie es in einem Nachruf hieß - hervorragende Verdienste »als Mitglied der städtischen Kollegien, als Mitglied und Präsident der oberbayerischen Handels- und Gewerbekammer, als Handelsrichter, als Mitbegründer des Münchner H a n delsvereins, als langjähriges, werkthätiges Ausschußmitglied der israelitischen Kultusgemeinde und als Aufsichtsrath verschiedener angesehener Korporationen« 2 . Mit dem N a m e n Moritz Guggenheimers war die D u r c h f ü h r u n g der für M ü n c h e n so wichtigen B a u m a ß n a h m e n unter dem Oberbaurat Arnold Ritter von Zenetti, »der ausführenden Hand« des Hygienikers M a x von Pettenkofer, verbunden, wie die Erbauung des Schlacht- und Viehhofs, die Einrichtung von Wasserversorgung und Kanalisation, die Errichtung einer Pferdebahn oder die Erbauung von Musterschulhäusern 3 . Der »Banquierssohn« Emil Guggenheimer w u r d e am 21. Januar 1860 in München geboren. Im Dezember 1885 legte er nach juristischen Studien in Würzburg, Leipzig und München die zweite P r ü f u n g für den höheren Justizund Verwaltungsdienst ab. Er war, wie es im amtlichen Begleitschreiben zu

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seinem Gesuch auf Anstellung als dritter Staatsanwalt hieß, »Israelit, trat aber zur katholischen Religion über, bevor er... die Tochter des K. Kammersängers Nachbaur dahier heiratete« 4 . Bevor er in den Staatsdienst eintrat, war er einige Zeit als Rechtspraktikant und Stellvertreter des Rechtsanwalts Graf Arco Valley tätig. In der Beurteilung seines Gesuchs wurde bestätigt, daß »der Gesuchsteller... nach jeder Richtung tüchtig und gebildet [ist. Er] hat guten mündlichen Vortrag und erfreut [sich] des besten Leumunds« 5 . Das Gesuch wurde befürwortet und der geprüfte Rechtspraktikant und Anwaltskonzipient zum dritten Staatsanwalt am Landgericht München I mit einem jährlichen Gehalt von 2.280 Mark ernannt 6 . A m 22. November 1887 wurde der 27jährige - mittlerweile Vater eines Kindes - zum Amtsrichter am Amtsgericht München befördert 7 . Er hatte sich nämlich in seiner Eigenschaft als Staatsanwalt als ein »hervorragend begabter, unterrichteter, pflichteifriger und gewissenhafter Arbeiter... (bewährt)« 8 . In seiner Beurteilung hieß es weiterhin: »nach Konkursnote und Qualifikation steht er schon seit längerem an der Reihe zur Beförderung, allein seine Familienverhältnisse sowie der Umstand, daß er ein von den Rechtscandidaten gesuchter Repetitor ist, legten ihm den dringenden Wunsch nahe, seine Beförderung nur an einem Amtsgerichte in München anzustreben« 9 . In den folgenden Jahren entwickelte sich seine Karriere problemlos. 1894 wurde er zweiter Staatsanwalt am Landgericht München 1,1896 Landgerichtsrat am Landgericht München I, ab 16. November 1899 Vorsitzender der II. K a m m e r für Handelssachen am Landgericht München I10. Seine Beurteilungen waren durchweg hervorragend. 1902 wurde ihm beispielsweise in Übereinstimmung mit allen früheren gutachterlichen Äußerungen bestätigt, daß er »mit einer hervorragenden Begabung allseitiges, gründliches Wissen und eine außerordentliche Geschäftsgewandheit verbindet. Es war demzufolge die frühere Qualifikation aufrecht zu erhalten wobei nur zu bemerken ist, daß ihm seiner Zeit im mündlichen Vortrag die Note der außergewöhnlichen Auszeichnung durch I. Staatsanwalt erteilt wurde. Er eignet sich fur den staatsanwaltlichen Dienst ebenso wie für die Stelle eines Rates beim Oberlandesgerichte mit Schwurgerichtssitz oder eines Landgerichtsdirektors« 1 '. D e m 41jährigen standen mit dieser Beurteilung die Tore zu einer außerordentlichen Karriere im Justizdienst offen. Die guten beruflichen Aussichten wurden allerdings durch den Umstand getrübt, daß seine Ehe, aus der drei Söhne hervorgegangen waren - ein vierter Sohn war im Alter von 6 Monaten gestorben - am 18. März 1901 geschieden worden war. Was auch immer die Ursache für das Zerwürfnis zwischen den Eheleuten gewesen war, das K. Landgericht I, das mit der Scheidungssache befaßt war, wies die Schuld am Scheitern der Ehe der Frau Emil Guggenheimers zu. An den Präsidenten des Oberlandesgerichts München konnte demzufolge berichtet werden, daß, »wie aus dem in Abschrift beiliegenden Urteil entnommen werde wolle, sich in dem Ehescheidungsprozesse Vorkommnisse, welche die Würdigkeit des Rathes Dr. Guggenheimer in Frage stellen könnte, nicht zu Tage getreten (sind)« 12 . Wenn auch sein dienstliches Fortkommen aufgrund des Richterspruchs im 196

Scheidungsprozeß keine Beeinträchtigung fand, so litt sein gesellschaftliches Ansehen unter der Affare, zumal die »Münchener Post« den Prozeßverlauf bösartig kommentierte: »Wie unlängst berichtet, hat Herr Landgerichtsrath Guggenheimer dadurch einen großen Verlust erlitten, daß seine Gemahlin, der zu Liebe er vor Jahren zur Alleinseligmachenden übergetreten ist, das Weite suchte. Wie uns von zuverlässiger Seite mitgetheilt wird, hat Herr Landgerichtsrath gegen seine Gemahlin Klage auf Ehescheidung gestellt, ..,« 13 . Ebenso wie in dem bereits erwähnten Artikel der M ü n c h n e r Tageszeitung wurden Emil Guggenheimer die Konversion z u m Katholizismus und Verfehlungen gegenüber seiner Frau vorgeworfen. Letzteres geschah in einer Weise, daß sich der Leser sein Bild über die angeblichen Zustände im Hause G u g g e n heimer bunt ausmalen konnte, insbesondere dadurch, daß die »'unfreundliche' - u m keine andere Bezeichnung zu gebrauchen - Behandlung« 1 4 der Frau Emil Guggenheimers durch ihren Ehegefährten herausgehoben wurde. Eindreiviertel Jahre später bot sich der »Münchener Post« erneut Gelegenheit, den Landgerichtsrat anzugreifen. U n t e r der Überschrift »Oh welche Wendung!« erschien am 6. O k t o b e r 1902 eine Meldung, in der - ohne N a m e n n e n n u n g von einem höheren Richterbeamten gesprochen wurde, »der einst als Staatsanwalt unsere Gesellschaft eifrig vor Sittenlosigkeit und U m s t u r z hütete und für Ehe, Eigenthum, Religion und Autorität manche trefflichen Reden gehalten h a t , . . . (und) obwohl seit einiger Zeit f r o m m e r Christ, dem Bösen ein wenig ins Garn gegangen (ist). Die stattliche Ehegefährtin einer anderen bekannten Staatsstütze w u r d e ihm theuer und inniger zugethan, als ihrem rechtmäßigen Gatten angenehm erschien. Als nun gar der Herr Konsul den früheren Anwalt des Staates in einer allzu zärtlichen Unterhaltung mit seiner besseren Hälfte ertappte, kam es z u m Duell«ls. Aufgrund dieses Artikels w u r d e »gegen den Landgerichtsrat Emil Guggenheimer und den Kgl. belgischen Generalkonsul Ludwig S t e u b . . . ein strafrechtliches Verfahren wegen Vergehens des Zweikampfs aus 205 Stf.G.B. eingeleitet« 16 und die Vermutung, die in dem eben genannten Artikel der »Münchener Post« geäußert wurde, traf ein, nämlich, daß man einen »interessanten Ehescheidungsprozeß« und »die bayerische Gerechtigkeit« einen treuen Diener verlieren sehen werde: »Einen treuen Diener, der namentlich der sozialdemokratischen Presse mehr wie einmal ihre Z u c h t - und Sittenlosigkeit vorgehalten und dagegen die fleckenlose Moral des j u n g - und allchristlichen O r d n u n g s b ü r g e r t h u m s zum H i m m e l gepriesen hat« 17 . Aufgrund der Tatsache, daß sich Emil Guggenheimer am 4. O k t o b e r 1902 mit dem belgischen Generalkonsul Ludwig Steub ein Pistolenduell auf 50 Schritt Distanz und zweimaligen Kugelwechsel geliefert hatte, das allerdings ohne Verletzte ablief, w u r d e er durch rechtskräftiges Urteil der IV. Strafkammer des K. Landgerichts München V v o m 12.Januar 1903 zu einer Festungshaft von vier Monaten verurteilt. Das Urteil sowie der Verlauf des Duells fanden weiterhin ihren Niederschlag in der Berichterstattung der »Münchener Post«, die unter der Überschrift »Zwei Helden« 18 darlegte, daß unter den genannten Bedingungen der Zweikampf unblutig verlaufen

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m u ß t e , w a s sich s t r a f m i n d e r n d a u s g e w i r k t habe, ebenso w i e die Tatsache, daß beide D u e l l a n t e n »unter d e m D r u c k e konventioneller Rücksichten« 1 9 h a n d e l t e n . S t r a f e r s c h w e r e n d f ü r E m i l G u g g e n h e i m e r w a r freilich, daß er das D u e l l veranlaßt u n d sich als Richter ü b e r die m a ß g e b e n d e n B e s t i m m u n g e n des Strafgesetzbuches h i n w e g g e s e t z t hatte - Steub w u r d e n u r zu drei M o n a t e n F e s t u n g s h a f t verurteilt. Von der » M ü n c h e n e r Post« w i e v o n der » M ü n c h e n e r Zeitung« 2 0 w u r d e E m i l G u g g e n h e i m e r i n s b e s o n d e r e n e g a t i v angerechnet, daß er nach der U r t e i l s v e r k ü n d u n g »so rasch als m ö g l i c h v o n der A n k l a g e b a n k (verschwand), u m in der H a n d e l s k a m m e r als Vorsitzender des H o h e n G e r i c h t s hofes zu fungieren« 2 1 . Dieses Verhalten, in d e m nach der A n s i c h t der D i s z i p l i n a r k a m m e r bei d e m K. O b e r l a n d e s g e r i c h t »eine m i t der W ü r d e eines Richters s c h w e r vereinbarliche G e r i n g s c h ä t z u n g des e r g a n g e n e n Urteils liegt« 22 , seine Verurteilung u n d sein »Liebesverhältnis«, das er »seit F r ü h j a h r 1902 mit der i n z w i s c h e n r e c h t s k r ä f t i g geschiedenen Gattin des i h m f r ü h e r b e f r e u n d e t e n D u e l l g e g n e r s a n g e k n ü p f t hat« 23 , f ü h r t e n zu e i n e m Disziplin a r v e r f a h r e n . D a s Verfahren w u r d e allerdings eingestellt, da er a m 8. M a i 1903 u m seine E n t l a s s u n g aus d e m Staatsdienst u n t e r Verzicht »auf Titel u n d Funktionszeichen s o w i e auf G e h a l t s - u n d Ruhegehaltsanspruch« 2 4 n a c h suchte, w a s i h m mit der kgl. E n t s c h l i e ß u n g v o m 1. J u n i 1903 z u g e s t a n d e n wurde 2 5 . D i e gegen ihn a u s g e s p r o c h e n e Strafe v e r b ü ß t e er z u m g r o ß e n Teil in der Festung O b e r h a u s in Passau. Es blieb i h m j e d o c h aus gesundheitlichen w i e beruflichen G r ü n d e n erspart, die g e s a m t e Strafe abzusitzen 2 6 . Z u m 1. J u n i 1903 w a r er n ä m l i c h als S y n d i k u s in die M a s c h i n e n f a b r i k A u g s b u r g N ü r n b e r g A G ( M A N ) e i n g e t r e t e n . Eine längere A b w e s e n h e i t v o n A u g s b u r g hätte seine b e r u f l i c h e Stellung ü b e r die M a ß e n belastet, z u m a l er m i t seinem Verzicht auf A m t u n d W ü r d e n u n d der V e r b ü ß u n g eines g r o ß e n Teils der Strafe schon erhebliche S ü h n e geleistet hatte. N e b e n der b e r u f l i c h e n k a m es auch zu einer privaten V e r ä n d e r u n g , d e n n i m S o m m e r 1903 heiratete er die geschiedene E h e f r a u des belgischen Generalkonsuls Steub. I n s b e s o n d e r e auf den b e r u f l i c h e n Wechsel folgte eine h e f t i g e antisemistische Attacke des Siglschen »Vaterlands«. D o r t w u r d e g e g e n die M e l d u n g e n anderer Z e i t u n g e n polemisiert, daß E m i l G u g g e n h e i m e r sein E n t l a s s u n g s g e s u c h aus d e m Justizdienst deshalb gestellt habe, u m die Stelle eines S y n d i k u s u n d Rechtsbeistandes bei M A N zu ü b e r n e h m e n : » W a r u m eine solche N a c h r i c h t m i t Posaunen v e r k ü n d e n ? Wenn ein jüdischer Landgerichtsrath ausscheidet, erfährt die andere J u d e n s c h a f t es d u r c h die amtlichen Nachrichten u n d w e n n eine industrielle U n t e r n e h m u n g eine d u r c h Glanz des N a m e n s o d e r intakter V e r g a n g e n h e i t w e r t h v o l l e Persönlichkeit acquiriert hat, so erläßt sie ein Circular f ü r ihre G e s c h ä f t s f r e u n d e . G. ist nicht g e g a n g e n , u m die Stelle eines S y n d i k u s i r g e n d w o zu übernehmen, s o n d e r n er hat das E n d e einer h ö c h s t peinlichen Disciplinaruntersuchung w i d e r i h n nicht a b w a r t e n wollen« 2 7 . D i e »Berichterstattung« gipfelte m i t der r h e t o r i s c h e n Frage, o b d e n n nicht g e n u g J u d e n in den besseren Stellen unserer [!] A k t i e n g e sellschaften seien, u n d Schloß m i t der B e m e r k u n g : »Interessant ist jedenfalls die

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Art und Weise, wie ein Israelii den anderen herausreißt. Noch interessanter ist aber, daß dem Juden gestattet wurde, sich durch freiwilligen Austritt einer event. Strafe zu entziehen. O b man auch mit einem 'Goi' so zart umgegangen wäre?« 28 . A n w ü r f e dieser Art schadeten Emil Guggenheimer in seinem neuen Tätigkeitsfeld offensichtlich wenig. 1904 w u r d e er z u m stellvertretenden Direktor des U n t e r n e h m e n s berufen, 1907 zum Vorstandsmitglied ernannt. A m 1. Dezember 1916 siedelte er nach Berlin über, u m die Interessen der Gesamtfirma M A N AG besser wahren zu können. Vom Juli 1910 bis vor Kriegsausbruch war er zudem als französischer Konsul in Augsburg tätig, w u r d e am 7. Januar 1914 z u m bayerischen Kommerzienrat ernannt und bekam am 14. Dezember 1923 von der bayerischen Regierung den Titel eines Geheimen Justizrates verliehen 29 . U m die letztgenannte Auszeichnung hatte er sich lange bemüht, damit er sich für die Interessen der bayerischen Industrie besser einsetzen könne. Er schrieb am 28.Juli 1918 an den Staatsminister des kgl. Hauses und des Äußeren von Dandl: »An sich m u ß ich ja unter lauter auf mich herabblickenden Geheimräten tätig sein - vor wenigen Tagen w u r d e auch noch dem Geschäftsführer des Zentralverbandes Deutscher Industrieller und des Kriegsausschusses, dem im Verhältnis zu mir viel jüngeren Herrn Regierungsrat Dr. Schweighoffer, der Titel eines Geheimen Regierungsrat verliehen. - Der Geschäftsführer also des Verbandes mit dem ich so außerordentlich viel zu tun habe und in dem ich gerade auch im Interesse der bayerischen Industrie stets wieder tätig sein muß, führt den Titel eines 'Geheimrats', während ich mich ihm gegenüber mit dem sicher viel minder gewerteten begnügen muß« 30 . Als Vorstandsmitglied der M A N und als tätiges Mitglied des Zentralverbandes Deutscher Industrieller gehörte Emil Guggenheimer zu den Verfechtern eines harten Kurses gegenüber der Arbeiterbewegung 3 1 , etwa dadurch, daß von der Betriebsleitung gelenkte, nicht sozialistische Organisationen 3 2 geschaffen wurden. Sein Vorgehen gegen einen Angestellten, der sich dem »Bund der technisch-industriellen Beamten« angeschlossen hatte, begründete er damit, daß der »Bund« sozialdemokratische Tendenzen verfolge: »Als solche faßte er die 'Standesforderungen' des Vereins auf, die sich auf die Einführung des Achtstundentags, Verbot der Sonntagsarbeit, Abschaffung der Konkurrenzklausel, staatliche Pensionsversicherungen, Anteil am Nutzen der Patente und obligatorische Beamtenausschüsse in den Betrieben bezogen« 33 . Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs w u r d e Guggenheimer zum Vorsitzenden der Unterkommission für die Rückgabe von Maschinen und Material an Belgien und Nordfrankreich ernannt 34 . Vom 15.Januar 1920 bis z u m 23. Dezember 1921 bekleidete er die Stelle eines Präsidenten der Reichsrücklieferungs-Kommission. Zugleich n a h m er die Geschäfte eines Reichskommissars zur Ausführung von Aufbauarbeiten in den zerstörten Gebieten ehrenamtlich wahr. Vom 23.Juli 1920 bis zum 12. Januar 1922 war er zudem als Kommissar der Reichsregierung bei der Ausführung des Friedensvertrags beim vorläufigen Reichswirtschaftsamt tätig.

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Hochgeachtet starb Guggenheimer 65jährig am 27.Juni 1925 in Berlin an einem Herzleiden. Auch nach seinem Tod wurden die antisemitischen Angriffe gegen ihn fortgesetzt. 1929 erschien sein Bild mit der Unterschrift »Deutscher Industrieführer« in der »Rassenkunde des jüdischen Volkes« von Hans F.K. Günther, die der J.F. Lehmanns-Verlag herausgegeben hatte, um als Beispiel eines »Vorderasiaten« 35 zu dienen, das die Minderwertigkeit von »Juden« mit vorgeblich wissenschaftlichen Mitteln belegen sollte. Daß sich Emil Guggenheimer vom Judentum losgesagt hatte, glaubten die Rassenideologen jener Zeit vernachlässigen zu können.

Anmerkungen 1 Bayerisches Hauptstaatsarchiv ( B a y H S t A ) , MJu 19288, Ausschnitt aus der Münchener Post v o m 1.1.1901. 2 Historisches Archiv der Bayerischen Vereinsbank, Ausschnitt aus den Münchner Neuesten Nachrichten vom 29.7.1902. 3 Historisches Archiv der Bayerischen Vereinsbank, Ausschnitt aus den Münchncr Neuesten Nachrichten v o m 27.7.1902. 4 B a y H S t A , M J u 19288, amtliches Schreiben v o m 27.5.1886. 5 Ebd. 6 B a y H S t A , M J u 19288, amtliches Schreiben v o m 8.8.1886. 7 B a y H S t A , MJu 19288, amtliches Schreiben v o m 21.11.1887. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 B a y H S t A , M J u 19288, Qualifikationsbogen, Dezember 1901. 11 Ebd. 12 B a y H S t A , MJu 19288, amtliches Schreiben v o m 2.5.1901. 13 B a y H S t A , MJu 19288, Ausschnitt aus der Münchener Post vom 31.1.1901. 14 Ebd. 15 B a y H S t A , M J u 19288, amtliches Schreiben v o m 29.10.1902. 16 B a y H S t A , M J u 19288, Ausschnitt aus der Münchener Post v o m 6.10.1902. 17 B a y H S t A , M J u 19288, Ausschnitt aus der Münchener Post v o m 31.1.1903. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 B a y H S t A , M J u 19288, Ausschnitt aus der Münchener Post v o m 14.1.1903.

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21 B a y H S t A , MJu 19288, Ausschnitt aus der Münchener Post v o m 13.1.1903. 22 B a y H S t A , MJu 19288, amtliches Schreiben v o m 30.1.1903. 23 Ebd. 24 B a y H S t A , M J u 19288, Schreiben G u g g e n heimers v o m 8.5.1903. 25 B a y H S t A , MJu 19288, Abschrift Nr. 22. 26 Der amtliche Schriftverkehr und die Gesuche Guggenheimers um Strafverschonung ebenso wie die Begnadigungsakten zum Fall Steub befinden sich in der Personalakte Guggenheimers. 27 B a y H S t A , MJu 19288, Das Bayerische Vaterland (35) Nr. 117 v o m 24.5.1903. 28 Ebd.; zur Berichterstattung des Bayerischen Vaterlandes vgl. ebd. (35) Nr. 187 vom 21.8.1903. 29 Zu den Ernennungen und Ehrungen G u g genheimers vgl. B a y H S t A , MWi 3712. 30 Ebd.; Brief Emil Guggenheimers an Otto von Dandl v o m 28.7. 1918. Bevor der Titel an Guggenheimer verliehen wurde, fragte die zuständige Behörde freilich beim K . Bay. Justizministerium nach, ob frühere Vorgänge, die zum Ausscheiden G u g g e n heimers aus dem Justizdienst gefuhrt hatten, seine gesellschaftliche Stellung beeinträchtigt hätten. Vgl. hierzu B a y H S t A , MJu 19288, amtliches Schreiben v o m 24.11.1913 an das K. Bay. Staatsministerium d. Justiz. 31 Fischer, Ilse: Industrialisierung, sozialer Konflikt und politische Willensbildung in der Stadtgemeinde. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte Augsburgs 1840-1914, Augsburg 1977 ( = Abhandlungen zur Geschichte

der Stadt A u g s b u r g Bd. 24), mit w e i t e r f u h renden A n g a b e n , bes. S. 301, A n m . 47. 32 Ebd., S. 303ff. 33 Ebd., S. 321 ff. 34 Historisches Archiv der M A N Aktiengesellschaft Augsburg, N a c h r u f für Emil G u g g e n h e i m e r von H a n s Endres, aus N a c h -

laß R. Buz, M a p p e 272. Im weiteren der Darstellung von Endres folgend; vgl. hierzu auch Z o r n , Wolf: Bayerns Geschichte im 20. Jahrhundert: Von der Monarchie z u m B u n desland, M ü n c h e n 1986, S. 214 u n d 237. 35 H a n s F. K. Günther, M ü n c h e n 1929, S. 32 A b b . N r . 29.

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Franz Menges

Max Littmann (1862-1931), Architekt

Als das Münchener Prinzregen ten theater nach einem zwanzigjährigen Dornröschenschlaf teilweise renoviert und im Januar 1988 wieder eröffnet wurde, gedachte man auch Max Littmanns, des bedeutenden Theaterarchitekten, der das Stadtbild Münchens um die Jahrhundertwende entscheidend mitgeprägt hat. Littmann 1 stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts lutherisch hatte taufen lassen. Konfessionsfragen interessierten ihn wenig. Ohne seine jüdische Herkunft leugnen zu wollen, fühlte er sich in erster Linie als Deutscher. Er wurde am 3. Januar 1862 als Sohn des Kaufmanns Bernhard Littmann (1829-1894, aus Oschatz) und dessen Frau Emilie, geb. Heinig, in Chemnitz (jetzt Karl-Marx-Stadt) geboren. Nach dem Besuch der Gewerbeakademie seiner Vaterstadt studierte er an der T H Dresden Architektur, unter anderem bei Karl Robert Weißbach. 1885 ging Max Littmann nach München, wo er Aufnahme im Kreis des Bayerischen Kunstgewerbevereins um Friedrich von Thiersch und Gabriel von Seidl fand. Studienreisen führten ihn nach Italien und Frankreich. 1888 machte sich Max Littmann in München selbständig. Das ernorme Wachstum der Stadt konfrontierte den jungen Architekten mit Fragen sozialer und hygienischer Art. Der Fortschritt von Wissenschaft und Technik machte nicht nur geeignete Neubauten nötig, sondern eröffnete der Baukunst auch neue, rationellere Möglichkeiten. Das zu Reichtum gelangte Bürgertum stellte hohe Anforderungen an den Wohnkomfort; Wirtschaft und Staat legten Wert auf Funktionalität wie auf Repräsentation. Von großem Einfühlungsvermögen in Wesen, Zweck und Aufgabe des jeweiligen Baues, bemühte sich Littmann stets um eine gemäße, schon in der Bauforderung enthaltene Lösung. Durchaus Kind seiner Zeit, bevorzugte er Anleihen aus dem heiteren süddeutschen Barock, bei repräsentativen Gebäuden aus dem monumentaleren Klassizismus. Allen seinen Schöpfungen gemeinsam sind die klare Disposition, die sorgfältige Raumgestaltung und besonders das Bemühen, bei der Erfüllung der technischen Erfordernisse auf dem neuesten Stand zu sein. 1888 gewann Max Littmann den Wettbewerb für einen Hallenbau anläßlich des Deutschen Turnfestes 1889 in München. 1890/91 erregte er mit einer neobarocken Wohnhausgruppe an der Steinsdorfstraße Aufsehen, indem er die damals übliche geschlossene Hofbebauung zur Straße (und zur Isar) hin öffnete und damit gesündere Wohnverhältnisse schuf. 203

A m 25. November 1891 heiratete Max Littmann die einzige Tochter, die 1871 geborene Ida, aus Jacob Heilmanns erster Ehe mit der Münchener Kaufmannstochter Ida Rosipal (1850-1879). Jacob Heilmann 2 , der 1871 ein Baugeschäft in München gegründet hatte, profitierte von dem enormen B a u b o o m jener Zeit. Max Littmann wurde als Mitinhaber und Leiter der Entwurfsabteilung in die Firma aufgenommen, die am 2. März 1892 in die offene Handelsgesellschaft »Heilmann & Littmann« umgewandelt wurde (am 30. April 1897 in eine GmbH). Nachdem zu Heilmann, dem Unternehmer, nun der Architekt und Künstler hinzugetreten war, florierte das Baugeschäft mehr denn je. 1903 gründete »Heilmann & Littmann« mit der Firma »Wayß & Freytag« die »Eisenbeton-Gesellschaft« 3 . Max Littmann zog sich 1906 aus der Firma »Heilmann & Littmann«, die unter dem Namen »Heilit + Woerner« bis heute besteht, zurück, um sich seinen vielfältigen Aufgaben als Architekt mehr widmen zu können. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Littmann durch seinen Neubau des Münchener Hofbräuhauses 1896/97 bekannt. In seiner malerischen Auffassung von Renaissance wurde das vielbesungene Hofbräuhaus zu einem Wahrzeichen Münchens, zum berühmtesten Gasthof der Welt. Ebenfalls am Platzl errichtete Littmann das Kaffeehaus »Orlando di Lasso« (1898/99) mit fein gegliederter, aufstrebender Renaissancefassade und das Corpshaus für die »Rhenopalatia«. Er baute den Gasthof » Z u m Schlicker« (1897) im Tal sowie den mächtigen Mathäserbräu-Saal an der Bayerstraße (1899/1900, 1944 zerstört) und erneuerte die Pschorrbräu-Hallen an der Neuhauser Straße (1896)4. Im Rahmen seines weitgefächerten Schaffens, das nur den Sakralbau ausschließt, verdienen Littmanns Bauten für die Medizinische Fakultät der Münchener Universität Beachtung. 1895 entstand an der Goethestraße das Zentral-Taubstummeninstitut, 1902 bis 1904 diesem gegenüber in weitläufiger Hufeisenform die Psychiatrische Klinik. Littmanns Anatomiegebäude an der Pettenkoferstraße (19051908) gilt dank seiner durchdachten Konzeption und seiner Eisenbetonkonstruktion als Pionierleistung: Den Kern bildet der lichtdurchflutete, durch zwei Stockwerke reichende Präpariersaal mit seinen an den runden Mittelbau anschließenden fünf offenen Apsiden. Hatte Littmann außen bisher Putz — bisweilen versetzt mit Werksteinen - bevorzugt, so wählte er jetzt den unkaschierten Eisenbetonbau und faßte die dadurch entstehenden markanten Formen unter der Dominanten einer flachen Kuppel zusammen. Mit der Anatomie schuf er eines der frühesten Musterbeispiele für die Ästhetik des Eisenbetonbaues. Gleichzeitig mit dem Anatomiegebäude wurden die großen Warenhäuser Hermann Tietz und Oberpollinger, das Geschäftshaus der »Münchner Neuesten Nachrichten«, die Dresdner Bank und wenig später die Preußische Gesandtschaft mit der Schackgalerie entworfen und gebaut. Der » D o m h o f « (1898), ein Geschäfts- und Bürohaus an der Kaufingerstraße, unterschied sich noch kaum von den damals üblichen Formen des Bauens. Beim Geschäftshaus »Franz Fischer & Sohn« (jetzt Cafe »Feldherrnhalle«) in der Theatinerstraße galt 204

es, innerhalb der barock bewegten, gleichsam modellierten Fassade das große Schaufenster zur Geltung zu bringen. In den monumentalen Warenhäusern, als deren Vorbilder jene in Paris und Berlin dienten, waren die - fast nicht mehr erhaltenen - Grundrißlösungen zukunftsweisend. Der ovale Lichthof des Warenhauses »Hermann Tietz« (1904/05, jetzt »Hertie«) war bis zur teilweisen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg im Jugendstil dekoriert. Das Äußere wirkt, zumal die Eisenbetonkonstruktion gemäß einer Auflage der Baukommission mit Muschelkalk hatte verkleidet werden müssen, behäbig-spießig. Das Kaufhaus »Oberpollinger« (1904/05) ist demgegenüber besser proportioniert und gegliedert. Es fügt sich mit seinen drei steilen Giebeln relativ harmonisch in die U m g e b u n g ein. Ähnlich verhält es sich bei dem Verlagsgebäude der »Münchner Neuesten Nachrichten« (1905/06, jetzt »Süddeutscher Verlag«) in der Sendlinger Straße, dessen repräsentativer Charakter durch die Architekturplas t i k j u l i u s Seidlers noch unterstrichen wird. 1926 bis 1929 trat nach Littmanns Plänen ein Druckereigebäude hinzu. Das viergeschossige Gebäude der Dresdner Bank (1906/07) am Promenadeplatz w u r d e in Donaukalkstein ausgeführt ein klassizistischer Repräsentationsbau von vornehmer Zurückhaltung. Auch die - nicht mehr erhaltenen Innenräume und der marmorverkleidete Lichthof waren von Littmann entworfen worden 5 . Das Gebäude der DiscontoGesellschaft (1922/23) an der städtebaulich exponierten Stelle zwischen Wittelsbacher Palais und Palais Eichthal ist mit seinen klassizistischen Formen ein Beispiel des akademischen Historismus, wie er in den zwanziger Jahren eigentlich nicht mehr üblich war 6 . Beim Bau der Preußischen Gesandtschaft (jetzt Bayerische Staatskanzlei) mit angeschlossener Schack-Galerie kam Littmann seinem kaiserlichen Auftraggeber und dessen Repräsentationsbedürfnis weit entgegen. Das Palais w u r d e als »kaiserliches Insiegel« (Wilhelm II.), als »Fanfarenstoß« empfunden 7 . Littmanns Erweiterungsbauten des Weimarer Schlosses und sein E n t w u r f für den - nicht mehr ausgeführten - Wiederaufbau des Schlosses in Schwerin seien hier nur erwähnt. In den von Littmann errichteten Privathäusern spiegelt sich das Selbstbewußtsein des reichen Bürgertums wider. Nicht selten hat der Typ des Kavaliershauses Pate gestanden. Für sich selbst baute Littmann ein schlichtes Wohnhaus in der Linprunstraße 57 (1895) und den repräsentativen »Lindenhof« (1902/03) in der Höchlstraße 3 sowie ein romantisches Landhaus auf der PrinzLudwigshöhe (1900) und das Haus »Bocksberg« (1924/25) bei Bichl im Loisachtal. Die ausschließliche Verwendung von echten Materialien sollte Gediegenheit vermitteln. Littman entwarf auch die Innenräume, die er mit Gemälden alter Meister (meist Kopien) reich ausstattete 8 . Z u r modernen Malerei und zur modernen Architektur, die nach dem Ersten Weltkrieg viel Experimentierfreude zeigte, gewann er keinen rechten Z u g a n g . Franz von Stuck ließ sich nach eigenen E n t w ü r f e n von »Heilmann & Littmann« eine Villa in der Prinzregentenstraße (1897/98) erbauen'. Hier wie bei den von der Firma errichteten Villenkolonien in Gern und Feldafing sowie auf der PrinzLudwigshöhe war Littmann nur beratend tätig. 205

Das Kurhaus mit dem großen Saal für Konzerte und Theater in Bad Reichenhall, noch vor der Jahrhundertwende entstanden, verrät die Formensprache des im Rupertiwinkel beheimateten Barock. Die Architektur des Kurmittelhauses (1927/28) ist schlichter und überläßt den Dekor den Bildhauern Heinrich Düll und Georg Pezold sowie dem Maler Julius Diez. Für die therapeutisch- technischen Anlagen fand Littmann vorbildliche Lösungen. In Bad Kissingen bot sich die Anlehnung an den Klassizismus mit Rücksicht auf die bestehenden Gebäude aus der Zeit Ludwigs I. an. Mit diesem Stil glaubte Littmann den hohen Ansprüchen eines vornehmen Weltbades am ehesten gerecht werden zu können. 1904/05 entstand das Kgl. Theater 10 , 1910 bis 1913 die Wandelhalle, das Kurhaus (der »Regentenbau« mit Schmuckhof) und der Maxbrunnen. Auch das Kissinger Bade- und Kurmittelhaus (1926/27) sowie das Kurhaus (1921/22) und das Strandbad (1924) in Bad Schachen sind Schöpfungen Littmanns. Seine größten Leistungen erbrachte Littmann indes auf dem Gebiet des Theaterbaues". Ein Theater war für ihn ein Zweckbau, der - außen und innen - alle Erwartungen zu erfüllen habe, die Schauspieler (bzw. Sänger) und Publikum an ihn stellen. Er beschäftigte sich mit dem antiken Theater und mit den Schöpfungen Karl Friedrich Schinkels und Gottfried Sempers. Die Entwurfsskizzen Schinkels für den U m b a u des alten Berliner Nationaltheaters erschienen ihm wie eine Offenbarung, verwiesen sie doch bereits auf die Vorzüge des Amphitheaters, das die Gleichheit aller vor dem Kunstwerk betont, während das Rangtheater auch eine gesellschaftliche Rangeinteilung vornehme. Max Littmann studierte O t t o Brückwalds Bayreuther Festspielhaus (1876) und O t t o Marchs Wormser Volkstheater. Er diskutierte mit Raphael Löwenfeld über das Volkstheater und mit Karl Lautenschläger über b ü h n e n technische Fragen. Ausgangspunkt seiner Planungen bildete stets das Proszenium; von diesem Kern aus entwickelte er den Zuschauerraum und die Bühne. An den Bau des Prinzregententheaters (1900-01) 12 in München knüpften sich hohe Erwartungen. Einerseits sollte ein neues Stadtviertel einen bestimmenden Mittelpunkt erhalten, andrerseits lebte die Erinnerung an das in der N ä h e von Ludwig II. geplante, von Gottfried Semper entworfene Festspielhaus für die A u f f ü h r u n g von Richard Wagners O p e r n fort. Darüber hinaus sollte das Haus nicht nur der Oper, sondern auch dem Schauspiel dienen. Ausgehend v o m Proszenium entwickelte Littmann den versenkten, abdeckbaren O r c h e stergraben, ein ansteigendes Amphitheater mit 1106 Plätzen und das große Bühnenhaus, das Karl Lautenschläger, der Maschinerie-Direktor des Kgl. Hoftheaters, mit der modernsten Technik ausstattete. Die pompejanischen Malereien im Zuschauerraum, im Königssalon und in den Foyers w u r d e n nach E n t w ü r f e n Julius Mössels und Karl Selzers ausgeführt. Die Außenwirkung beruht auf den geglückten Proportionen; Zitate aus dem Klassizismus und dem Jugendstil bleiben verhalten. Den Giebel der Vorhalle schmücken Statuen Heinrich Waders, die vier Musen »Musik«, »Gesang«, »Tragödie« und »Komödie« darstellend. A m 21. August 1901 w u r d e das Haus mit Richard

Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg« eröffnet - der Beginn der Münchener Festspiele. A m 6. September 1963 senkte sich der Vorhang mit Richard Strauss' »Rosenkavalier«. Gertrud Proebst (1892-1980)", Littmanns einzige Tochter, bestimmte ihr Erbe von 2,7 Mill. D M testamentarisch für die Restaurierung des Prinzregententheaters, das - mit einer »ShakespeareBühne« - seit Januar 1988 wieder bespielt wird. Für das Hoftheater in Weimar (1906-1908) 14 bot sich die Form des Rangtheaters an, u m die Logen des großherzoglichen Hofes gebührend hervorheben zu können. Littmann baute in Weimar erstmals ein »variables Proszenium« ein, eine eigene Erfindung, die die Notwendigkeiten des Schauspiels (bei versenktem, abgedeckten Orchestergraben) ebenso berücksichtigt wie jene der Oper. B e r ü h m t geworden ist die klassizistische Fassade, vor der Ritschels Goethe-Schiller-Denkmal steht. Für die deutsche Geschichte erlangte das Weimarer Theater denkwürdige Bedeutung als Tagungsstätte der Nationalvers a m m l u n g 1919. In Posen war Littmann mit einer »nationalen Mission« betraut, sollte er doch inmitten einer weitgehend slawischen U m w e l t der deutschen Kultur einen »Tempel« errichten. Er wählte für das Stadttheater (1909/10)15 den klassizistischen Stil, da dieser am stärksten an Goethe und Schiller, die Nationalhelden deutscher Kultur, erinnere, und den Typ des Rangtheaters, da Kaiserlogen eingebaut werden sollten. Die Kgl. Theater in Stuttgart (1909-1912) 16 , durch einen Verwaltungstrakt miteinander verbunden, gelten als Littmanns Hauptwerk. Max Reinhardt hat sie als »das schönste Theater der Welt« bezeichnet. Das Parkett des Großen Hauses ist als Amphitheater gestaltet; darüber sind drei Ränge angeordnet, von denen der erste die große Galaloge des Hofes umschließt. Julius Mössel malte die Kuppel mit Sternbildern aus. Im Innern v o m farblichen Dreiklang GrauSilber-Gelb bestimmt, wirkt das Große Haus (mit 1450 Plätzen) feierlich, monumental. Das Kleine Haus mit 857 Plätzen in Parkett und zwei Rängen vermittelte durch das w a r m e Rotbraun des Kirschbaumholzes und das Grün der Brokatbespannungen und des Vorhangs einen intimen Eindruck. Nachdem es im September 1944 zerstört worden war, w u r d e es 1959 bis 1962 von Hans Volkart in m o d e r n e m Stil wieder aufgebaut. Die »Modernisierung« im Innern des Großen Hauses ist inzwischen wieder beseitigt worden. 1910 gewann Littmann den ersten Preis für eine neue O p e r in Berlin. Als Ersatz für die Kroll- O p e r sollte sie die Pariser O p e r an Größe übertreffen. Der Erste Weltkrieg vereitelte die Ausführung der gigantischen Pläne. Auch jene für ein Stadttheater in Krefeld (1913/14) konnten wegen des Kriegs und der darauf folgenden Notzeit nicht verwirklicht werden. Die Stadttheater in Bozen (1913-1918) und Münster (1915-1920) sowie das Landestheater in Neustrelitz (1926-1928) 17 konnten hingegen - unter O p f e r n - errichtet werden. Das Münchener Schauspielhaus (1900/01)18, in das 1926 die K a m m e r spiele einziehen sollten, ist wegen Platzmangels - es w u r d e in einen Hinterhof an der Maximilianstraße gebaut - ein Rangtheater geworden. Die berühmte 207

Innenausstattung stammt von Richard Riemerschmid; Littmann konnte sich ganz den tektonischen und technischen Aufgaben widmen. A m 19. April 1901 wurde das Haus, das vor allem das Theater des Naturalismus pflegen wollte, mit Hermann Sudermanns »Johannes« eröffnet. Das Münchener Schauspielhaus diente Littmann beim Bau des Stadttheaters in Hildesheim (1908/09)", eines Saals mit Parkett und zwei Rängen, als Vorbild. Das Schiller-Theater in Charlottenburg (1905/06) 20 stellte eine Pionierleistung Littmanns dar: Nach einem Opern-Festspielhaus und einem Schauspielhaus schuf er nun ein Volkstheater, in dem er die Ideen Raphael Löwenfelds mit seinen eigenen verbinden und realisieren konnte. Ein Volkstheater konnte seiner Meinung nach nur ein Amphitheater sein, in dem er durch die Gleichberechtigung der Sitze das demokratische Prinzip verkörpert sah. Da weit über tausend Plätze vorgesehen waren, mußte über dem rückwärtigen Teil des großen Amphitheaters ein weiteres Amphitheater gebaut werden. Das 1943 zerstörte Haus wurde 1948 bis 1951 in modernem Stil wieder aufgebaut. 1904 kaufte die Stadt München die Theresienhöhe als Messegelände. Hier sollte eine völlig neuartige Ausstellungsform mit Dauerbauten verwirklicht werden. Die Gesamtplanung lag bei Wilhelm Bertsch, die einzelnen Bauten wurden an M a x Littmann, Emanuel von Seidl, Paul Pfann, Richard Riemerschmid und die Gebrüder Rank vergeben. 1907/08 schuf Littmann hier das Künstlertheater 21 als architektonischen Rahmen für die Realisierung der damaligen Theater- Reformideen. Noch mehr als bisher wurde das Proszenium Ausgangs- und Mittelpunkt der Gesamtanlage - eines Amphitheaters mit einer sogenannten Reliefbühne (im radikalen Gegensatz zur Guckkastenbühne). Da die Bühne keine Ausdehnung nach hinten zuließ, kam dem gemalten Bühnenbild große Bedeutung zu (Fritz Erler, Wilhelm Diez, Ernst Stern). Seitlich wurde die Bühne von zwei »Türmen« abgeschlossen, die der Installation der Beleuchtung dienten; sie wurden aber auch - etwa mit Fenstern und Türen versehen — als Kulisse in das Bühnengeschehen einbezogen. Im Rahmen der Ausstellung »München 1908«, anläßlich der 750. Wiederkehr der Stadtgründung, wurde das Haus am 17. Mai 1908 mit Goethes »Faust I« eröffnet. Berühmte Inszenierungen, unter anderem von Max Reinhardt, gingen in die deutsche Theatergeschichte ein. 1944 wurde das Künstlertheater zerstört. Littmanns letzte Pläne galten einem Monumentalbau in Athen, der einen Konzertsaal, ein Amphitheater und ein Konservatorium für Musikstudenten hätte aufnehmen sollen. Ähnlich wie beim Berliner Opernprojekt fällt ein Hang ins Gigantisch-Monumentale auf, der an die offizielle Architektur totalitärer Regime erinnert. Ist dies dort jedoch bewußtes Gestaltungselement, so war es bei M a x Littmann Ausdruck versiegender Gestaltungskraft nach vielen Jahren fruchtbaren Schaffens. A m 20. September 1931 ist M a x Littmann hoch geehrt 22 in München gestorben.

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Anmerkungen 1 Der Nachlaß befindet sich im Theatermuseum München und in der Architektursammlung der T U München. Michel, Wilhelm: Max Littmann, in: Bühne und Welt 13/1 (1910/11), S. 105-116; Platz, Gustav Adolf: Die Baukunst der neuesten Zeit, Berlin 1927; Wolf, Georg Jacob: Max Littmann, 1862-1931 (München 1931, mit 130 Abbildungen); Eiselen, Fritz: Dem Andenken Max Littmanns, in: Deutsche Bauzeitung 66, Nr. 9 v. 24.2.1932, S. 180. Wegener, Wilhelm: Die Reformation der Schaubühne. Eine technisch-dramaturgische Interpretation der Theaterbauten des Münchner Architekten Max Littmann und ihre Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Schaubühne, Diss. München 1956; Habel, Heinrich u.a.: Münchener Fassaden. Bürgerhäuser des Historismus und des Jugendstils, München 1974; Gasser, Manuel (Hg.): München um 1900, Berlin 1977; Schaul, Bernd-Peter: Das Prinzregententheater in München und die Reform des Theaterbaus um 1900, Max Littmann als Theaterarchitekt, München 1987 (37. Arbeitsheft des Bayer. Landesamtes für Denkmalspflege). 2 Heilmann (1846-1927) war Sohn eines Bauern und Glasers in Geiselbach (Spessart). 1880 heiratete er in zweiter Ehe Josephine Hierl (1860-1926), Tochter eines Dachauer Bierbrauers; aus der Ehe gingen zwei Söhne und fünf Töchter hervor. Der älteste Sohn, Albert (1886), trat 1909 als Teilhaber und Geschäftsführer in die Firma ein, die 1910 2500 Angestellte beschäftigte; 1917 heiratete Albert die einzige Tochter Franz von Stucks, Mary. Wolf, Georg Jacob: Ing. J. Heilmann und das Baugeschäft Heilmann und Littmann. Ein Rückblick auf vierzig Jahre Arbeit, München 1911; Heilmann, Jacob: Lebenserinnerungen, München 1921. 3 U.a. wurden der Kuppelbau des Armeemuseums, das Malzsilo der Löwenbrauerei, die Kuppel des Warenhauses Hermann Tietz und die Isarbrücke bei Grünwald errichtet. 4 Münchener bürgerliche Baukunst der Gegenwart. Eine Auswahl von charakteristischen öffentlichen und privaten Neubauten. Mit einem Vorwort von Dr. R. Streiter, München 1898-1909, Nachdruck München 1985, bes. Abt. IV (1901) u. Abt. VI (1903). 5 Münchener bürgerliche Baukunst, Abt.

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VIII b (1909). Sie wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Der Neubau der Disconto-Gesellschaft in München, in: Deutsche Bauzeitung 1928, S. 153-158; Stölzl, Christoph (Hg.): Die Zwanziger Jahre in München. Ausstellungskatalog München (Stadtmuseum) 1979. Wolf, Georg Jacob: Max Littmann, 18621931, München 1931, S. 21. Münchener bürgerliche Baukunst, Abt. II (1899), Abt. VIII b (1909), Abt. X (1904) auch zu den Villen in der Maria-TheresiaStraße 4 (1896/97) und in der Möhlstraße 3 (1901-02, Kustermann, jetzt ital. Generalkonsulat). Schmoll gen. Eisenwerth, J.A.: Idee und Gestalt der Stuckvilla, in: Franz von Stuck. Die Stuck-Villa zu ihrer Wiedereröffnung am 9. März 1968 (Ausstellungskatalog), München 1968, S. 6-16. Das Kgl. Theater ist - im Hinblick auf das gehobene Publikum - ein Rangtheater, das barocke Motive aufgreift; Littmann, Max: Das Kgl. Theater in Bad Kissingen, M ü n chen 1905; Memminger, Anton: Kissingen, Geschichte der Stadt und des Bades, Würzburg 1923; Winkler, Kurt: Bad Kissingen, in: Kurstädte in Deutschland, hg. v. Rolf Bothe, Berlin 1984, S. 361-384. Behrens, Peter: Feste des Lebens und der Kunst, Leipzig 1900; Craig, Edward Gordon: Die Kunst des Theaters, Berlin, Leipzig 1905; Wegener; Wagner, Hans: 200 Jahre Münchner Theaterchronik, 1750-1950, München 1958; Bablet, Denis: Esthetique generale du decor de theatre de 1870 ä 1914, Paris 1965; Schaul. »Der deutschen Kunst« gewidmet. Littmann, Max: Das Prinzregententheater in München, München 1901; Braun, Alex: Das Prinzregenten-Theater in München, M ü n chen 1901; Biermann, Franz Benedikt: Die Pläne für eine Reform des Theaterbaues bei Karl Friedrich Schinkel und Gottfried Semper, Berlin 1928; Köwer, Karl (Bearb.): Das Prinzregenten-Theater 1901-1983, M ü n chen 1983; Seidel, Karl-Jürgen: Festschrift zur Wiedereröffnung des Prirtzregententheaters in München am 9. Januar 1988, München 1988; Schaul. Sie heiratete 1916 Dr. Max Proebst (1882-

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1968). Ihre beiden Söhne - Kurt (1893-1901) und Walter (1899-1900) - starben im Kindesalter. 14 Littmann, Max: Das Großherzogliche H o f theater in Weimar, München 1908. Das »Deutsche Nationaltheater« (seit 1919) wurde nach der Zerstörung im Februar 1945 am 8.8.1948 wieder eröffnet. 15 Lux, Josef August: D a s Stadttheater in Posen, München 1910; Knudsen, Hans: Die Entwicklung des Theaters in Posen bis zum Jahre 1919, in: Geschichte der Stadt Posen, 1953, S. 155-168. 16 Littmann, M a x : Die K g l . Hoftheater in Stuttgart, Darmstadt 1912; Waidelich, J ü r gen: Vom Stuttgarter Hoftheater zum Württembergischen Staatstheater, Diss. München 1957; Festschrift der Württembergischen Staatstheater Stuttgart anläßlich der Eröffnung des Kleinen Hauses am 5. Oktober 1962, Stuttgart 1962; Weiß-Vossenkuhl, Dorothea: Das Opernhaus in Stuttgart von M a x Littmann (1910-1912), Stuttgart 1983; Dornberger, Michael (Hg.): Der Neubau des K g l . Hoftheaters in Stuttgart, Filderstadt 1984 (eingeleitet v. Norbert Bongartz); Die Oper in Stuttgart 1987. 75 Jahre Littmann-Bau, Stuttgart 1987. 17 Strey, Waltraud: Wettbewerb fur den N e u bau eines K g l . Opernhauses in Berlin für Wilhelm II., Diss. Berlin 1981; Festschrift zur Feier der Eröffnung des Stadttheaters Krefeld, Krefeld 1952; Schneider, Elmar: Das Bozener Stadttheater im Bahnhofspark, in: Stadt im U m b r u c h , Jahrbuch des Südtiroler Kulturinstituts, Bd. 8, Bozen 1973, S. 393-409; Littmann, M a x : Das Landestheater in Neustrelitz, München 1928. 18 Littmann, M a x : D a s Münchner Schauspielhaus, München 1901; Schaumberg, G e o r g : Das Münchener Schauspielhaus, in: Bühne und Welt 9/1 (1906/07), S. 219-226; Petzet, Wolfgang: Die Münchener Kammerspiele 1911-1972, München 1973; Hartl, Rainer: Aufbruch zur Moderne. Naturalistisches Theater in München, München 1976; Nerdinger Winfried (Hg.): Richard Riemerschmid, München 1982. 19 Littmann, M a x : Das Stadttheater in Hildesheim, München 1909. 20 Littmann, M a x : Entstehungsgeschichte des deutschen Amphitheaters, in: Die Volksunterhaltung 7, Nr. 2 v. März 1905 (hg. v. R. Löwenfeld); ders.: Das Charlottenburger

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Schillertheater, München 1907 (Einleitung v. R. Löwenfeld); ders.: Künstlerische Fragen der Schaubühne, München 1907; M o ritz, Eduard: Das antike Theater und die modernen Bestrebungen im Theaterbau, Berlin 1910; Biermann; Ritter, H.: Theater in Berlin, Berlin 1962; Zivier, G.: SchillerTheater, Schloßpark-Theater Berlin, Berlin 1963; Braulich, Heinrich: Die Volksbühne. Theater und Politik in der deutschen Volksbühnenbewegung, Berlin 1976. 21 Fuchs, G e o r g : Die Schaubühne der Z u kunft, Berlin, Leipzig 1905; ders.: Aus der Vorgeschichte des Künstlertheaters, in: Der Spiegel 1 (1908), S. 141-150; ders.: Die Ziele des Münchener Künstlertheaters, in: Münchener Künstler-Theater, Ausstellungskatalog, München 1908; ders.: Sturm und Drang in München u m die Jahrhundertwende, München 1936; Masorp, Paul: Weshalb brauchen wir die Reformbühne?, München 1907; Littmann, M a x : D a s Münchner Künstlertheater, München 1908; Schaumberg, Georg: M a x Reinhardt und das M ü n chener Künstlertheater, in: Bühne und Welt 11/2 (1908/09), S. 936-938; Moritz; Erler, Fritz: La reforme scenique au Theatre des Artistes de Munich, in: Mercure de France v. 1.2.1910, S. 449-460; Ball, H u g o : Das Münchener Künstlertheater, in: Phöbus 1/2 v. Mai 1914, S. 68-75; Grohmann, Walter: D a s Münchner Künstlertheater in der B e wegung der Szenen- und Theaterreformen, Berlin 1935; Wegener; Bablet; Hartl; Jelavich, Peter: Theatre in Munich 1890-1914. Α Study in the Social Origins o f Modernist Culture, Diss. Princeton 1982; ders.: M u nich and Theatrical Modernism. Politics, Playwriting and Performance 1890-1914, C a m b r i d g e (Mass.), London 1985. 22 Ernennungen: Geheimer Hofrat, K g l . Professor; Auszeichnungen: Silberne Medaille (Paris 1900), Goldene Medaille der Weltausstellung St. Louis (1904), Große Goldene Medaille der Internationalen Kunstausstellung München (1913); Orden: Ritterkreuz I. Kl. des Ordens Heinrichs des Löwen, Verdienstorden v o m Hl. Michael III. Kl., Roter Adler-Orden IV. Kl., Preuß. Kronen-Orden II. Kl., Bayer. Ehrenkreuz, Eiserne K r o ne II. Kl.; Mitgliedschaften: Deutscher Architekten- und Ingenieur-Verein, B u n d Deutscher Architekten, Münchener Künstler-Genossenschaft, Allgemeine Deutsche Kunstgenossenschaft, Reichsverband bildender Künstler Deutschlands, Institute o f Architects o f U . S . A .

Renate Heuer

Carry Brachvogel (1864-1942), Schriftstellerin

Kaum eine andere Schriftstellerin, die seit dem Beginn unseres Jahrhunderts bekannt wurde, ist mit Angaben über ihr Leben so zurückhaltend gewesen wie Carry Brachvogel. Außer den spärlichen Daten, die Kürschners Deutscher Literaturkalender enthält, in dem sie von 1902 bis 1934 aufgeführt ist, gibt es von dieser Autorin, deren Bibliographie zwischen 1895 und 1933 immerhin vierzig eigene Titel und fünf Übersetzungen ausweist, keine autobiographischen Angaben. Auch als sie bereits 'die Brachvogel' genannt wurde, gingen die biographischen Bemerkungen, die ihre Rezensenten gelegentlich ihren Kritiken einfügen, nirgends über das hinaus, was die Schriftstellerin selbst bekanntgemacht hat. 1 Aus genealogischen Recherchen 2 haben sich einige Anhaltspunkte gewinnen lassen, die es erlauben, mindestens einen Umriß ihres Lebens nachzuzeichnen: Carry Brachvogel wurde als Tochter des jüdischen Kaufmanns Heinrich Hellmann und der Zerlina Hellmann, geb. Karl, am 16. Juni 1864 in München geboren. Sie heiratete den katholischen Schriftsteller und Redakteur Wolfgang Josef Emil Brachvogel, einen Neffen des erfolgreichen Unterhaltungsschriftstellers Albert Emil Brachvogel. 3 Am 29. Mai 1889 wurde der Sohn Heinz geboren, 1892 starb ihr Mann; den Angaben über sie selbst wird fortan hinzugefugt »verwitwet«. Schon diese wenigen Daten lassen Spannungen vermuten, unter denen die Jüdin gestanden haben muß, die sich entschloß, einen Katholiken zu heiraten, ohne sich selbst taufen zu lassen. Doch scheint Carry Brachvogel ihre jüdische Herkunft nicht als Makel empfunden zu haben, wie manche anderen ihrer Generation, denn 'die Judenfrage' wird in ihren Büchern nicht ausgespart; wenn sie auch nicht ihr vordringlichstes Thema ist, wird sie doch immer wieder aufgegriffen. So muß man wohl ein kurzes Vorwort zu einem ihrer Bücher 4 , das 1905 verfaßt wurde, als Information wichtig nehmen, denn es gibt dem Interpreten den Hinweis, wie die Autorin zu wirken wünschte: »Ein Vorwort schreiben ist ein mißlich Ding. Vom Künstler sollen seine Werke erzählen, nicht seine Erläuterungen u. Verschwiegenheit gegen unsren eignen Menschen scheint mir das erste Gebot aller Diskretion. Feine Ohren hören übrigens doch aus Werk und Künstler den Menschen heraus...« 5 . Betrachtet man das Gesamtwerk, die Romane, Novellen, historischen Darstellungen, die Aufsätze, Vorträge und Feuilletons nicht nur als künstlerische Formungen, sondern auch als wichtigste Aussagen der Autorin über sich selbst, wird ein Mensch hinter 211

diesen Lebens- und Weltentwürfen der Bücher sichtbar: eine vielseitig gebildete und interessierte Frau, die ohne Tendenz schreibt und doch voller Entschiedenheit die Rolle der Frau in der Gesellschaft umzugestalten sucht. Carry Brachvogel verfügte über eine Vielfalt sprachlicher Mittel: Sie konnte realistisch gestalten, wußte den bayerischen Dialekt in Schilderungen des bäuerlichen Milieus ebenso geschickt als Stilmittel einzusetzen wie sie den Unterhaltungston der Münchener Boheme in ihren psychologischen Studien aus der Theaterwelt traf. Die Klischees in Sprache und Gestaltung der gängigen Trivialliteratur ihrer Zeit deckte sie in witzigen Parodien auf. Vor allem dem realitätsfremden Frauenbild, dessen Entstehung sie der deutschen Klassik anlastet und das sie in der »Gartenlaubenpoesie« der deutschen Familienblätter ihrer Zeit unmodifiziert weitertradiert sieht, gilt ihre treffende Ironie. »Das Frauenschicksal jenseit der Hochzeitsnacht schien keinen Menschen zu interessieren, ja, es schien überhaupt nicht vorhanden« 6 . Carry Brachvogel wollte ändern und bessern, sie wollte zeitgemäß schreiben und aktuelle Fragen behandeln, und die neu zu gestaltende Beziehung zwischen Mann und Frau wurde für sie das wichtigste Problem. Aus den ersten Veröffentlichungen läßt sich geradezu ein Index bevorzugter Themen ermitteln, die immer wieder aufgegriffen und variiert werden, um neue Lösungsmöglichkeiten zu erproben. Die Autorin debütierte 1895 im renommierten S. Fischer Verlag mit »Alltagsmenschen« 7 , einem Roman, der eine Durchschnittsehe vorführt, in der die junge Frau sich bemüht, die traditionell vorgegebene Frauenrolle zu erfüllen, aber - in ihren hochgespannten Erwartungen schnell enttäuscht - aus Langeweile eine Beziehung zu einem anderen Mann anknüpft, die ebenso enttäuschend wieder endet. Der Ehebruch, den sie ihrem Mann eingesteht, bleibt nicht ohne Folgen, sie »darf« dennoch bei ihrem Mann bleiben und sieht ein ödes, unerfülltes Leben vor sich, das sich weiterschleppen wird, ohne durch die Mutterschaft die verheißene große Lebenserfüllung zu finden. Diese Geschichte wird ohne jede moralische Stellungnahme erzählt. Und gerade durch diesen Kunstgriff gelingt es Carry Brachvogel, die Werte und Lebensziele, die den jungen Frauen ihrer Zeit und ihrer bürgerlichen Schicht immer noch eingeprägt wurden, in ihrer Scheinhaftigkeit und Verlogenheit zu entlarven. Fast wie tragische Notwendigkeit wirkt die Lösung, welche die Schriftstellerin für die Schilderung in der Titelgeschichte ihres zweiten Buches, »Der Erntetag« 8 , fand, in der sie die Konstellation einer zweckgebundenen Partnerschaft in bäuerliches Milieu verlegt. Hier vegetiert und schuftet eine Bäuerin in einer dumpfen Ehe für das bloße Überleben der Familie. Sie glaubt ihrem Mann die vorgetäuschte Armut. Als der eigene Sohn, der wie das ärmste Tagelöhnerkind aufgezogen worden ist, den Vater als schwerreichen, pathologischen Geizhals demaskiert, bringt die Frau ihn - mit archaischer Zwangsläufigkeit - um. Neben dieser gewichtigen, künstlerisch eindrucksvollen Novelle bildet die letzte des Bandes, »Eine schreckliche Spukgeschichte« 9 , ein erstaunliches 212

Gegengewicht und läßt die breite Skala des Talents erkennen, über das Carry Brachvogel verfugte. Ihr Protagonist ist ein j u n g e r Schriftsteller, der leichthin aus Sprachklischees seine Figuren zusammensetzt. Als sie sich ihm im Traum verlebendigen und seine Traumfuhrerin, eine graue betuliche alte Dame, sich ihm als 'das deutsche Familienblatt' vorstellt, m u ß er erkennen, auf welchem pseudoliterarischen Niveau er sich befindet. Das Unterhaltungsbedürfnis der damaligen Zeit wird auf diese Weise witzig und gekonnt parodiert. Gegen leichtfertige Schreiberlinge und den literarischen Protekionismus, der ihnen Einfluß verschafft, ist Carry Brachvogel i m m e r streitbar angegangen. Eines ihrer Feuilletons, »Wie wird man Schriftsteller« 10 , verrät das Engagement, mit dem sie selbst aus ihrem künstlerischen Talent ihren Beruf gemacht hat. »Der Weg zum literarischen Erfolg ist sehr lang, sehr steil und in seinen Anfängen mit viel Mißerfolgen und äußerst wenig Geld gepflastert. Wer sein Ziel erreichen will, darf sich nicht nur auf sein bißehen Begabung verlassen, m u ß rastlos, zäh und flink nicht nur am Schreibtisch, sondern auch an sich selbst arbeiten (...). U n d er soll sich schämen zu glauben, daß man an schmierigen Stammtischen ersitzen kann, was nur die stete, bewußte und heiße Arbeit erreichen und auf die Dauer festzuhalten vermag«". Daß sie selbst nicht nur sehr intensiv an sich gearbeitet, sondern sich auch gründliche historische Kenntnisse erworben hat, die ihren folgenden Büchern zugutekamen, ihren Geschichtsdeutungen ein exaktes, faktenreiches Fundament geben, läßt sich aus der Legendensammlung »Die Wiedererstandenen« erkennen. In einer dieser fünf »Cäsaren-Legenden« mit d e m saloppen Titel »Götter a.D.«, der der Darstellungsform des Teegeplauders entspricht, zu dem sich die zweitausend Jahre alte Messalina mit dem gleichaltrigen Ahasver in einem Pariser Boudoir trifft, greift Carry Brachvogel erstmals ein jüdisches T h e m a auf und gibt dem bekannten Vorwurf eine so eigenartige Deutung, daß diese Legende wohl eine eigene Studie verdiente. Aus den Erzählungen Ahasvers, der sich an die Stationen seines langen Leidensweges erinnert, wird die Geschichte des j ü d i schen Volkes sichtbar gemacht. »Nicht nur ich, auch alle Lebenden meines Stammes hießen Ahasver, denn sie alle waren meinem Samen entsprossen. D a r u m mußten sie gleich mir wandern - wandern — Wandern von Sonnenaufgang bis Sonnenniedergang. Wandern von Schwelle zu Schwelle der Jahrhunderte . . . Unsere Augen brannten, unsere Kniee zitterten vor Müdigkeit, Blasen und Wunden trugen wir an den Füßen. Qualvoller noch als unser Wandern war unsere Rast. U m seines Todes willen gehaßt, verachtet, verhöhnt, angespieen, hockten wir ängstlich in den finstersten Schlupfwinkel Eurer Städte. Von Eurer Sonne, Eurer Freude, Eurer Kraft, Eurem Recht gehörte uns nichts - nichts! Holzstoß und Folterkammer - so hieß unser Recht! (...) Dann zogen wir weiter, sehnsuchtsvoll der Heimat entgegen, die uns verheißen« 12 . Der Leidensund Entbehrungsgeschichte der Juden wird als Folie die Geschichte der Göttermacht, der Prunksucht, Lasterhaftigkeit und Verschwendungssucht der heidnischen und der 'allerchristlichsten' Herrscher unterlegt, in der Messalina sich als Buhlerin und Mätresse, als machtbesessene Giftmischerin und Verfol-

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gerin der J u d e n i m m e r neu verkörpert. O b w o h l inzwischen zu seiner Religion bekehrt, geht sie zur Kirche n u r in p o m p h a f t e m A u f z u g , »Spott im Herzen, d o c h A n d a c h t im Gesicht«, w ä h r e n d »goldstarrende Pfaffen« 1 3 sie begleiten u n d das Zeremoniell des C h r i s t e n t u m s z u m Anlaß neuer Prachtentfaltung n e h m e n . D e r christlichen Legende v o m »ewigen Juden« ist d a m i t eine D e u t u n g a b g e w o n n e n , die der j ü d i s c h e n Religion, die i m Gegensatz zur christlichen das Leben ihrer A n h ä n g e r verantwortlich prägte, Überlegenheit zuspricht. »Allmählich begann mir's da a u f z u d ä m m e r n « , läßt die Autorin Ahasver sagen, »daß soviel Fruchtbarkeit u n d Lebenswille d o c h w o h l ein Ziel verfolgen müsse trotz seines Fluchs. Wenn m a n so alt ist, wie ich, lernt m a n auf der D i n g e G r u n d sehen 14 .« M i t ihrem nächsten R o m a n »Die g r o ß e Pagode« e r o b e f t e sich C a r r y Brachvogel das Theatermilieu; sie schildert den Versuch zweier Schauspielerinnen, g r o ß e Karriere zu machen. Auch in diesem B u c h spielen J u d e n als K u n s t m ä z e n e oder Schriftsteller eine Rolle, aber i m M i t t e l p u n k t stehen das Leben, der Aufstieg u n d das Scheitern der beiden Frauen. U m die ' m o d e r n e ' Frau geht es C a r r y Brachvogel vor allem: » M o d e r n sein heißt f ü r die Frau ja nicht etwa n u r einen Beruf haben, p r o m o v i e r e n oder an Wahltagen einen Stimmzettel abgeben wollen, nein m o d e r n sein heißt f u r die Frau, ihr Leben nicht ausschließlich auf die Liebe festlegen, heißt, d e m M a n n e nicht die Gewalt zu binden u n d zu lösen zugestehen. M o d e r n sein heißt f ü r die Frau ein eigenes Gesetz in der Brust tragen, dessen E r f ü l l u n g ihr vielleicht nicht banales Glück, g e w i ß aber das höchste Glück der E r d e n k i n d e r g e w ä h r t : die Persönlichkeit« 15 . D a ß es m o d e r n e Frauen in diesem Sinn zu allen Zeiten gegeben hat, sagte C a r r y Brachvogel in einem Vortrag. Sie selbst schreibt auch i m m e r wieder historische Romane, in denen sie g r o ß e Herrscherinnen ebenso wie Künstlerinnen, B ü r g e r t ö c h t e r u n d Bäuerinnen ihrer G e g e n w a r t , Schauspielerinnen in der Theaterwelt schildert. Alle diese Bereiche ermöglichen es, das Leben der Frau in i m m e r neuen Konstellationen auf seine Erfulltheit, seinen Sinn zu erproben u n d zu schildern. D a ß C a r r y Brachvogel »Im Weiß-Blauen Land« d a h e i m ist, daß es »nicht viele« gibt, die dieses Land u n d seine B e w o h n e r so von G r u n d auf kennen wie die Verfasserin«, bestätigt ihr ein Rezensent des gleichnamigen Buches. 1 6 U n d sie selbst bekennt ihre unerschütterliche »Baierntreue«, als sie einer S a m m l u n g von Erzählungen n o c h einmal ein handschriftliches faksimiliertes V o r w o r t voranstellt u n d ausspricht, was sie ihrer H e i m a t s t a d t verdankt: »Mein Leben ist äußerlich so einfach gewesen, daß es k a u m verlohnt, darüber zu berichten. Es hat sich ganz u n d gar in meiner Geburtsstadt M ü n c h e n abgespielt, in dieser farbigen, von K u n s t überfluteten Stadt, deren H u m o r voll A n m u t ist u n d die es versteht, Gegensätze lächelnd zu versöhnen« 1 7 . D e r Gegensatz zwischen Einheimischen u n d J u d e n , der 1933 aufbrach, blieb j e d o c h u n v e r s ö h n t . Z u n e h m e n d w u r d e C a r r y Brachvogel verdrängt, aus der Literatur, aus d e m Beruf, den sie so m u t i g ausgeübt hatte, endlich aus der Stadt M ü n c h e n selbst. Wir wissen nicht, wie sie das Jahrzehnt der V e r f e m u n g 214

überstanden hat, wir wissen aber, daß Carry Brachvogels Bruder, der abgesetzte Universitätsprofessor Siegmund Hellmann 18 zuletzt bei ihr lebte, in der Wohnung Herzogstraße 55/1., die die Schriftstellerin fast drei Jahrzehnte bewohnt hat. Aus dieser Wohnung wurden die Geschwister, die am Ende der Verfolgungszeit zusammengerückt waren, am 22.7.1942 deportiert. In dem zynischen Amtsdeutsch der damaligen Zeit hieß das: »mit unbekanntem Reiseziel abgemeldet«. Das Ziel war das Deportationslager Theresienstadt. Und der Bericht einer gleichfalls am 22.7.1942 deportierten Münchner Autorin19 überliefert, wie es auf diesem Transport zuging: »Vom Lager Milbertshofen aus, wo man uns eine Nacht festgehalten und unser Gepäck um die Hälfte seines Gewichts erleichtert hatte, fuhr uns ein geschlossener Möbelwagen zur Bahn. Auf einem Nebengleis wurden wir verladen. Aus den umliegenden Häusern richteten sich Ferngläser auf uns. Der Zug fuhr ab. Wer von uns würde München je Wiedersehen? (...) Andern Tags kamen wir in Bauschowitz (Tschechoslowakei) an. Es rieselte vom Himmel und im Schlamm, unterm Regen lagen Alte und Kranke - noch vom Transport, der vor uns von irgendwoher gekommen war - und warteten, daß man sie holte. Wir gingen zu Fuß nach Theresienstadt. (...) Nachdem man unser Handgepäck ausgeraubt hatte, wurden wir durch den Ort geführt. Unbegreiflich! Wo war das Altersheim, das Wohnheim, von dem man uns gesprochen hatte? Wo waren die sauberen Häuser, wo jeder sein eigenes wohl eingerichtetes Zimmer haben sollte? Durch die offenen Türen sah man Lumpengestalten am Fußboden oder auf Holzgestellen liegen. (...) Man brachte uns ins Quartier. Aber hier konnte man doch nicht leben! Es war ein Schuppen in einem Hinterhof. Im Hof kochte ein hügelhoher, übelriechender Komposthaufen in der glühenden Mittagssonne. Im Schuppen war nichts. Kein Möbelstück, kein Ofen, kein Herd - nur der Fußboden, das Dach und die Fetzen, die von den Wänden hingen. Hier begann unser Dasein im Lager20.« Die achtundsiebzigjährige Carry Brachvogel hat dieses Dasein im Lager nicht lange ertragen. Sie starb am 20. November 1942.21

Anmerkungen 1 In vierundzwanzig Rezensionen, die ausgewertet werden konnten, heißt es überall nur »die M ü n c h e n e r Schriftstellerin«, »die bekannte M ü n c h e n e r Schriftstellerin«. Dr. Ella Mensch nennt sie sogar gedankenlos »die mit Isarwasser getaufte Schriftstellerin« (in: Hannoversches Tageblatt v. 26.8.1923.) 2 Das Standesamt M ü n c h e n I und das Stadtarchiv (StadtA) M ü n c h e n haben die Arbeiten

des Archivs Bibliographia Judaica stets großzügig mit A u s k ü n f t e n unterstützt; dafür sei auch an dieser Stelle nochmals gedankt. Alle hier veröffentlichten genealogischen Daten u n d die Deportationsdaten s t a m m e n aus diesen Quellen. 3 Albert Emil Brachvogel (1824-1878) ist besonders durch seinen R o m a n »Friedemann Bach« (1858) bekannt g e w o r d e n .

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4 Ihr Dichter und andere Novellen, Berlin, Eisenach, Leipzig o.J. [1906] = Kürschners Bücherschatz, Nr. 487. 5 Vorwort, signiert: Carry Brachvogcl [München 12.7.05], 6 Brachvogel, Carry: Hebbel und die moderne Frau. Vortrag München 1912, S. 9 f. 7 Brachvogel, Carry: Alltagsmenschen. Roman, Berlin 1895. 8 Brachvogel, Carry: Erntetag und Anderes. Novellen, Berlin 1897. 9 Brachvogel, Erntetag, S. 207-224. 10 Brachvogel, Carry: Gesammelte Feuilletons, München, Leipzig 1913. 11 Brachvogel, Carry: Wie wird man Schriftsteller, in: Gesammelte Feuilletons, S. 80. 12 Brachvogel, Carry: Die Wiedererstandenen. Cäsaren-Legenden, Berlin 1900, S. 116. 13 Brachvogel, Die Wiedererstandenen, S. 113.

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14 Brachvogel, Die Wiedererstandenen, S. 118. 15 Brachvogel, Hebbel, S. 11 f 16 Schede, Kurt in: Kölner Zeitung v. 17.3.1925. 17 Brachvogel, Carry: Autobiographie (handschriftl. faksimiliert, als Vorwort zu: Das Grammophon, Berlin, Leipzig 1920). 18 Auskunft Stadt Α München; Nekrolog von H. Heimpel in: Siegmund Hellmann. Ausgewählte Abhandlungen. Darmstadt 1961, S. 393 f. (Carry Brachvogel wird darin jedoch nicht erwähnt). 19 Spies, Gerty: Drei Jahre Theresienstadt, München 1984. 20 Spies, S. 34 ff. 21 Das genaue Todesdatum wurde aus der Kartei der Jüdischen Gemeinde Prag ermittelt. Die kurze Notiz in Aufbau, Bd. XII, Nr. 40, S. 16 vom 4.10.1946 gibt falsche Daten an.

Ursula Wiedenmann

Elsa Porges-Bernstein (1866-1949), Schriftstellerin

Die Schriftstellerin Elsa Porges-Bernstein wurde am 28. Oktober 1866 als Tochter des Musikschriftstellers und Musikers Heinrich Porges und seiner Frau Wilhelmine in Wien geboren. In den Jahren 1893 bis 1910 veröffentlichte sie zahlreiche Dramen, Gedichte und Erzählungen. Bekannt wurde sie vor allem durch ihr 1895 erschienenes Märchenspiel »Die Königskinder«, das, 1897 von Engelbert Humperdinck vertont, noch heute zum Repertoire der Opernhäuser gehört. Nach 1910 ließ ihre literarische Produktion nach; ihr zuletzt veröffentlichtes Werk ist die 1928/29 erschienene Novelle »Erlebnis«. Die bis 1910 publizierten und aufgeführten Werke Elsa Porges-Bernsteins wurden in der zeitgenössischen Kritik vielfach diskutiert, ihre frühen Schauspiele sogar im Vergleich mit denen Gerhart Hauptmanns 1 . Zu ihren Lebzeiten galt sie als Persönlichkeit des literarischen Lebens, und ihr Name findet sich häufig in älteren Literaturgeschichten 2 . Nach langer Zeit der Vergessenheit wird heute dem Werk Elsa Porges-Bernsteins vor allem im Zuge der feministischen Literaturgeschichtsschreibung wieder Beachtung geschenkt 3 . Hervorgehoben wird vor allem ihre Bedeutung als Bühnenautorin in einer Zeit, in der es nur wenige Frauen wagten, mit Dramen an die Öffentlichkeit zu treten, sondern sich in der Mehrzahl auf die ihnen traditionell zugewiesenen Formen der Prosa und Lyrik beschränkten. Elsa Porges-Bernsteins Eltern stammten aus Prag, »die Familie der Mutter nach unverbürgter Überlieferung aus Spanien«4. Der Vater Heinrich (25.11.1837-17.11.1900), Sohn jüdischer Eltern, hatte in Prag zunächst Philosophie studiert, war aber damals bereits als Wegbereiter und Verfechter der musikalischen Avantgarde journalistisch hervorgetreten. Dem musikalischen Schaffen Richard Wagners galt sein besonderes Interesse; so wurde auch die auf das Jahr 1863 zu datierende persönliche Freundschaft mit Wagner bestimmend für sein Leben und Werk. Nachwirkungen der für Heinrich Porges nahezu sprichwörtlich gewordenen Wagnerverehrung - er wurde der »Johannes des Wagnertums« genannt 5 - finden sich auch in Elsa Porges-Bernsteins dramatischem Werk. 1864 schlug Heinrich Porges ein an ihn gerichtetes Angebot Wagners aus, ihm als dessen Privatsekretär nach München zu folgen 6 ; vielmehr übersiedelte er nach Wien, wo 1866 die Tochter Elsa geboren wurde 7 . Der Umzug der Familie nach München erfolgte 1866/ 678. Nach Elsa Porges-Bernsteins Auskunft hatte ihr Vater eine Berufung 217

durch Ludwig II. als Kapellmeister nach München angenommen'. Auf die Vermittlung Hans von Bülows hin erhielt Porges eine Anstellung an der königlichen Musikschule, deren Leitung er 1871 übernahm. Auch in München setzte Heinrich Porges seine verdienstvollen Bemühungen um die Verbreitung zeitgenössischer Musik fort, nicht nur als Publizist, sondern auch als Dirigent10. Das Haus der Familie Porges wurde, wie schon in Prag, bald zu einem Mittelpunkt des kulturellen Lebens der Stadt. Entscheidende Anregungen und Prägungen erhielt Elsa Porges-Bernstein in der künstlerischen und geselligen Atmosphäre des Elternhauses. Es stellte nicht nur den Entfaltungsraum für ihre eigenen Neigungen dar, sondern bot ihr auch im Unterschied zur damals meist mangelhaften Mädchenerziehung 11 eine gründliche Bildung, zunächst in Form von Privatunterricht, danach im renommierten Neumeyerschen Institut. Schon früh versuchte sich Elsa Porges-Bernstein literarisch mit Gedichten und Theaterstücken, die im elterlichen Haus zur Aufführung gebracht wurden. »Eines dieser Stücke, 'Ein Frühlingsspiel', wurde in den Jugendblättern von Isabella Braun gedruckt, und ich verdiente meine ersten zehn Mark«12. Elsa Porges-Bemsteins späteres Werk verarbeitet als biographische Elemente zahlreiche Erfahrungen und Erlebnisse des Elternhauses. Zur Leitfigur ihrer Entwicklung wurde ihr der Vater: «... als Erkenner, geistiger Überwinder und ganz Erdunbedürftiger, glücklich nur in der reinen Sphäre der Idee, war mein Vater das tiefinnerlich für mich Entscheidende« 13 . Als Siebzehnjährige entschloß sich Elsa Porges-Bernstein, Bühnenkünstlerin zu werden. Sie verließ das Elternhaus und ging als Schauspielerin 1883 nach Magdeburg, 1884 wurde sie ans Hoftheater in Braunschweig engagiert14. Ein Augenleiden, das in der zweiten Lebenshälfte zur völligen Erblindung führen sollte, zwang sie schon drei Jahre später, den eingeschlagenen beruflichen Weg zu verlassen und nach München zurückzukehren. Im Haus der Eltern verbrachte sie die Jahre bis zu ihrer Heirat (1890) mit dem ihr seit mehreren Jahren befreundeten, damals bereits über München hinaus bekannten Rechtsanwalt Max Bernstein (12.5.1854 — 8.3.1925). Bernstein entstammte einer altbayerischen jüdischen Familie in Fürth; 1881 hatte er sich in München als Rechtsanwalt niedergelassen und war bald aufgrund seiner außerordentlichen rednerischen Fähigkeiten zu hohem Ansehen gelangt. Darüberhinaus war Bernstein schriftstellerisch tätig; von größerer Bedeutung als seine gefälligen, in Münchner Lokalkolorit gehaltenen Lustspiele sind seine Theaterkritiken, die er von 1883 bis 1899 für die »Münchner Neuesten Nachrichten« verfaßte15. In ihnen war er schon früh für die Werke moderner Autoren eingetreten, besonders für die des damals weitgehend unbekannten Norwegers Henrik Ibsen, deren Verbreitung richtungweisende Folgen für die zeitgenössische Literaturproduktion hatte. Ein frühes Drama Elsa Porges-Bernsteins wurde, nachdem sie Ibsens dramatische Werke kennengelernt hatte, nicht mehr vollendet16. Ihre ersten veröffentlichten Dramen sind stark von Ibsen beeinflußt, und nicht zuletzt verweist das von ihr gewählte Pseudonym Ernst Rosmer, unter dem sie den Großteil ihres literarischen Schaffens an die 218

Öffentlichkeit brachte, auf eine nahezu kulthafte Ibsen-Verehrung. Johannes Rosmer, der Protagonist des 1887 uraufgeführten und im selben Jahr in Deutschland erstaufgefiihrten Schauspiels »Rosmersholm« von Henrik Ibsen, verkörpert den der Menschlichkeit verpflichteten, nach seiner Individualität suchenden 'Überwinder' überkommener Traditionen. Von diesem humanistischen Denken ist, wie Aussagen der Zeitgenossen dokumentieren, Elsa PorgesBernsteins Leben und Werk getragen". 1893 trat die Autorin mit ihrem Erstlingswerk »Wir Drei«, einem Drama in fünf Akten, an die Öffentlichkeit 18 . »Wir Drei«, im Verlag Albert & Co. in München verlegt, gelangte aber nie zur Aufführung, denn »seine Wirkung war selbst im Bekanntenkreise der Dichterin die eines literarischen Skandals«". Als skandalös wurde sicher weniger die leidenschaftliche Beziehung zwischen dem mit seiner einfachen, jungen Frau Agnes unglücklich verheirateten Schriftsteller Richard Ebner und der radikal modernen Dichterin Sascha Korff betrachtet, als vielmehr die unverhüllt diskutierten Anschauungen über Liebe und moderne Literatur, sowie vor allem die offenkundige Charakterisierung der Protagonisten nach Personen aus dem Bekanntenkreis. Die programmatischen Äußerungen Sascha Korffs über literarisches Schaffen erscheinen - wie Wiener schreibt20 - identisch mit denen der Autorin. Sascha Korff fordert Unmittelbarkeit im Gegensatz zu dem von ihr verpönten Leben und Dichten aus Gelehrsamkeit, »aus zweiter Hand«, wie sie es Richard Ebner vorwirft 21 . Die in den Gesprächen entworfene Utopie einer Erfüllung der Individualität scheitert; Sascha Korff entsagt ihrer Neigung zu Ebner, der, inzwischen von seiner Frau geschieden, erst nach dem Tod des gemeinsamen Kindes als ein zur Dichtung unfähiger, gebrochener Mann zu Agnes zurückkehrt. Als gleichermaßen unfähig, sich traditionellen Rollenmustern tatsächlich zu entziehen, erweisen sich die Figuren des Schauspiels »Dämmerung«, das 1893 im Verlag S. Fischer verlegt und im selben Jahr uraufgeführt wurde 22 . Rollenmuster und Konflikte, wie sie in »Wir Drei« angelegt sind, wiederholen sich. Qer dem Vorbild Heinrich Porges' nachgezeichnete Dirigent und Wagnerianer Heinrich Ritter verzichtet schließlich auf eine Ehe mit der intelligenten und fähigen Augenärztin Sabine Graef seiner verwöhnten, augenleidenden Tochter Isolde wegen. Der Konflikt der Eltern zwischen persönlicher Lebensgestaltung und Pflichterfüllung den Kindern gegenüber wird sich in späteren Dramen Elsa PorgesBernsteins wiederholen, wenn auch aus der Perspektive der Mutter, die sich sowohl in »Mutter Maria« (1900) als auch in »Maria Arndt« (1908) ebenfalls für die Kinder und gegen das eigene Leben entscheidet. Maria Arndt, die Protagonistin des gleichnamigen Stücks, beendet diesen Konflikt durch Selbstmord. In keinem der nach »Dämmerung« entstandenen Schauspiele sind die weiblichen Figuren mit Zügen der 'modernen Frau' ausgestattet, die in der Figurengestaltung Elsa Porges-Bernsteins mit Sabine Graef nach Sascha Korff bereits ihren Höhepunkt erreicht hat23. In ihrem folgenden 1896 veröffentlichten Gegenwartsstück »Te deum« sind 219

offenbar Erfahrungen des Elternhauses aus der frühen Münchncr Zeit verarbeitet. Der Dirigent, leidenschaftlicher Verehrer und Erbe des Werkes von Hector Berlioz, Peter Krön, ist bemüht, in einer »deutschen Musikstadt«, mit einem von ihm gegründeten Chor in privater Initiative Berlioz' »Te deum« aufzuführen. Als Vorlage mag die deutsche Erstaufführung von Berlioz' »Te deum« 1889 unter Heinrich Porges gedient haben. Kunst wird als ein immer wiederkehrender Themenbereich der Werke Elsa Porges-Bernsteins aufgegriffen, so Musik in »Te deum« oder in »Dämmerung«, Dichtung in »Wir Drei« oder bildende Kunst in »Maria Arndt« und in »Johannes Herkner« (1904). Eine Abwendung von Zeitstücken vollzog Elsa Porges-Bernstein zuerst mit ihrem »deutschen Märchen in drei Akten«, »Königskinder«. Die WagnerVerehrung Heinrich Porges' übte auf die Entstehung des Werkes großen Einfluß aus. Versuche in der Form der historischen Tragödie stellen dagegen die Trauerspiele »Themistokles« (1897), »Nausikaa« (1906) und »Achill« (1910) dar. Die zeitgenössische Kritik nahm diese Griechendramen einheitlich negativ auf, wenn auch mit unterschiedlichsten Argumenten. Alfred Kerr kritisierte, daß Porges-Bernstein versucht habe, »die sinnliche Welt des Hellenentums gewissermaßen naturalistisch« 24 begreifen zu wollen. Theodor Lessing bezweifelte, daß eine Frau grundsätzlich fähig sei, einen derartigen Stoff zu bewältigen; er hielt den »Themistokles« wenn auch nicht für aufführbar, so immerhin für ein Lesedrama 25 . Von den nach 1910 entstandenen dramatischen Werken, die bei Wiener erwähnt werden, scheinen die wenigsten noch erhalten zu sein26. Elsa Porges-Bernsteins Prosawerk umfaßt mehrere Novellen und Erzählungen. »Gesammelte Erzählungen« erschienen 1894 unter dem Titel »Madonna«. Ihre Gedichte sind verstreut in zahlreichen Zeitungen und Journalen publiziert 27 . Zweifelsohne ist aber ihr dramatisches Werk von weitaus höherem Rang als diese Arbeiten. Mit der schriftstellerischen Produktivität Elsa Porges-Bernsteins in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende ging die Pflege einer literarischen Geselligkeit im Hause des Ehepaars Bernstein einher. Max und Elsa Bernstein gehörten auch wichtigen Münchner literarischen Vereinigungen an; sie förderten das Engagement des »Akademisch-Dramatischen Vereins« für die moderne Dramatik und die »Litterarische Gesellschaft«, die Lesungen zeitgenössischer Autoren veranstaltete. Nach der Auflösung der »Litterarischen Gesellschaft« traten die Bernsteins ihrer Nachfolgeorganisation, dem »Goethe-Bund« bei, und wandten sich damit wie viele andere gegen Zensurverschärfung 28 . Berühmtheit bis heute erlangten die Sonntag-Nachmittagsgesellschaften, die im Hause der Bernsteins in der Briennerstraße 8a abgehalten wurden. Dort kamen Dichter, Schriftsteller und Musiker zu einer Salongesellschaft zusammen, die man, wie Ernst Petzold schreibt, »mit den berühmten Salons der Literatur und Musikgeschichte vergleichen darf« 29 . Zu den Freunden und Gästen des Hauses zählten neben vielen anderen Persönlichkeiten der in der Kanzlei Bernsteins angestellte Rechtspraktikant Ludwig Thoma, Maximilian Harden, Ludwig Ganghofer, Georg Queri, Erich Mühsam, Frank Wedekind,

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Michael Georg Conrad und das Ehepaar Pringsheim. Die Tochter Katja charakterisiert die Gesellschaften folgendermaßen: »Es war ein kultivierter, intellektueller Salon, den Elsa Bernstein führte«. In ihren Lebenserinnerungen berichtet sie weiter, daß sie Thomas Mann eigentlich in der Briennerstraße bei Bernsteins kennengelernt habe, und sie unterläßt es nicht, auf die Beteiligung Elsa Porges-Bernsteins am Zustandekommen dieser Bekanntschaft hinzuweisen30. Daß auch Theodor Fontane in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts noch im Haus der Bernsteins verkehrte, dokumentiert ein Brief Thomas Manns: »Den alten Fontane in den 90er Jahren habe ich nicht mehr gekannt. Ich hätte ihn wohl in München treffen können, im Hause des Verteidigers Bernstein, aber damals verkehrte ich noch nicht dort, ich war zu jung« 31 . Als einer der prominentesten Dichter hielt Rainer Maria Rilke Lesungen seiner Gedichte bei Bernsteins. Z u m Freundeskreis gehörte auch der Leiter der »Freien Bühne« Berlin, Otto Brahm. Auf ihn gehen vermutlich die Verbindungen zum Verlag S. Fischer zurück, in dem mit Ausnahme von »Wir Drei« die Dramen Elsa Porges-Bernsteins verlegt wurden, wie auch die Bekanntschaft mit Gerhart Hauptmann. Neben den bildenden Künstlern Franz von Stuck und Olaf Gulbransson verkehrten im Haus der Bernsteins aus dem Bereich des Münchner Musiklebens Bruno Walter, Hans Pfitzner, Hermann Levi, Richard Strauss und Hans Knappertsbusch. Elsa Porges-Bernstein brachte drei Kinder zur Welt; die 1894 geborene Tochter Eva wurde Konzertgeigerin und heiratete 1918 Klaus Hauptmann, einen Sohn Gerhart Hauptmanns aus erster Ehe. Die 1896 geborene Tochter starb wenige Monate nach ihrer Geburt. Der Sohn Hans Heinrich, geboren 1898, ergriff den Beruf des Vaters und wurde Rechtsanwalt. Im Jahr 1925 starb Max Bernstein. Nach seinem Tod führte Elsa Porges-Bernstein, deren Augenleiden sich mehr und mehr verschlimmerte, ihren Salon - unterstützt von ihrer Schwester Gabriele - weiter; sie widmete sich nach wie vor besonders der Förderung junger Talente32. Auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten blieb Elsa Porges-Bernstein in München. Der Kreis der Gäste und Freunde wurde zunehmend kleiner, viele mußten Deutschland verlassen, jedoch blieb der Kontakt zu ihnen noch lange Zeit schriftlich aufrechterhalten; das Salongespräch über Literatur wurde nun in Briefen fortgesetzt. Vor allem ihre Briefe an Franz von Wesendonck dokumentieren Elsa Porges-Bernsteins fortwährende Auseinandersetzung mit Literatur; sie sind aber auch ein erschütterndes Zeugnis ihrer letzten Jahre in München unter der nationalsozialistischen Regierung. »Dem Gefühl der Rechtlosigkeit, dem Gefühl der Willkür ausgesetzt zu sein, daran muß ich mich erst gewöhnen«33, schrieb sie 1939 an Franz von Wesendonck. Im selben Jahr mußte sie mit ihrer Schwester die Wohnung in der Briennerstraße verlassen, sie zog in die Barerstraße. Der Versuch Winifred Wagners, ihr einen weiteren Umzug zu ersparen, scheint gescheitert zu sein34. Bis 1942 lebte sie in einer kleinen Wohnung in der Schellingstraße. Im gleichen Jahr wurde sie nach einem kurzen Aufenthalt im Konzentrationslager Dachau in das Konzentrationslager There222

sienstadt gebracht35. Ihre Schwester Gabriele starb dort nach wenigen Wochen. Elsa Porges-Bernstein überlebte das Grauen. Sie starb nur wenige Jahre später 1949 bei ihrer Tochter Eva in Hamburg. Die Schriftstellerin Gerty Spies erinnert sich an ihre Begegnung mit Elsa Porges-Bernstein im Konzentrationslager und an den Abschied von ihr 1945: »Und Mut war es, den Frau Elsa zu geben verstand. Kein Wort von ihrer eigenen Person, von ihren Erfolgen und Werken in der Vergangenheit. ... Als ich Abschied von ihr nahm - es war nach unsrer Befreiung im Juni '45 - , fesselte mich unser letztes Gespräch weit über meine verfügbare Zeit hinaus und erleuchtete mir noch einmal die tiefe Religiosität dieser bis ins letzte wahrhaftigen Seele. Ihr Abschiedswort bezog sich auf mein künftiges Schaffen: Und - schreiben Sie nur, wenn es Ihnen auf den Nägeln brennt! denn das wird gut!«36.

Anmerkungen 1 Lessing, Theodor: Zwei Münchner Dichterinnen. Ernst Rosmer und Helene Böhlau, in: Die Gesellschaft 13 (1898), S. 16-28, hier S. 26, 28.

2 Vgl. Soergel, Albert: Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte, Leipzig 2 1912, S. 359-361. 3 Vgl. Giesing, Michaela: Theater als verweigerter Raum. Dramatikerinnen der Jahrhundertwende in deutschsprachigen Ländern, in: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann, Stuttgart 1985, S. 240-259. 4 Geistiges und künstlerisches München in Selbstbiographien, hg. v. Wilhelm Zils, München 1913, S. 24. 5 Wiener, Kurt: Die Dramen Elsa Bernsteins (Ernst Rosmer), Diss., Wien 1923, S. 1. 6 Richard Wagner an Freunde und Zeitgenossen, hg. v. Erich Kloss, Leipzig 21909, Brief Nr. 194 vom 28.5.1864, S. 403. 7 Elsa Bernstein selbst gibt ihr Geburtsjahr mit 1867 an; vgl. Geistiges und künstlerisches München, S. 24. 8 Zu den unterschiedlichen Angaben zum Jahr der Übersiedlung nach München vgl. Gleibs, Yvonne: Juden im kulturellen und wissenschaftlichen Leben Münchens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, M ü n chen 1981 (Miscellanaea Bavarica Monacensia 76), S. 161; Baker's Biographical Dictio-

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nary of Musicians, completely revised by N. Slonimsky with 1971 Supplement, New York, London 1971, S. 1267. Geistiges und künstlerisches München, S. 24. 1886 gründete Porges den »Porges'schen Gesangsverein«; Konzertkritiken verfaßte er flir die »Süddeutsche Presse« und die »Münchner Neuesten Nachrichten«, vgl. Baker, S. 1267. Vgl. den Artikel »Mädchenbildung und Frauenstudium« in: Weiland, Daniela: Geschichte der Frauenemanzipation, Düsseldorf 1983, S. 166-171. Geistiges und künstlerisches München, S. 24. Zit. nach Wiener, S. 2. Wiener, S. 4. Leyen, Friedrich von der: Max Bernstein, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 135-136. Wiener, S. 5. Vgl. Wesendonck, Franz von: Wenn die Krebse auf den Bergen pfeifen. Briefe der Frau Elsa an den Soldaten Franz. Mittenwald 21977, S. 185-246. Spies, Gerty: Erinnerungen an Elsa Bernstein, in: Lamm, Hans (Hg.): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München, München 1982, S. 359361. Wiener datiert das Erscheinen von »Wir Drei« auf das Jahr 1892; vgl. Wiener, S. 6. Wiener, S. 6.

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20 Vgl. Wiener, S. 15. 21 Ernst Rosmcr: Wir Drei. Fünf Akte, M ü n chen 1893, S. 38. 22 Die U r a u f f ü h r u n g fand a m 30. M ä r z durch die »Freie Bühne« Berlin statt; der Berliner A u f f ü h r u n g folgte 1897 eine weitere in M ü n c h e n durch den » A k a d c m i s c h - D r a m a tischen Verein«. 23 Vgl.Giesing, S. 255. 24 Kerr, Alfred: Die Welt im D r a m a I, Berlin 1917, S. 303f. 25 Lessing, S. 26. 26 D a r u n t e r zählen die Schauspiele »Ehe« (ca. 1914), »Schicksal« (1919) u n d »Requiem« (1932); als ebenfalls verschollen dürfen die bei Wiener a n g e f ü h r t e n D r a m e n »Dagny« und »Die Freundinnen« (1910) gelten; vgl. Wiener, S.8f. 27 Eine nach neuestem Forschungsstand als vollständig zu bezeichnende Bibliographie der Werke Elsa Bernsteins findet sich in: Inzinger, Valeria: Ernst R o s m c r (Pseudon y m für Elsa Bernstein) Leben und Werk, Magisterarbeit, Regensburg 1985.

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28 Vgl. Meyer, Michael: Theaterzensur in M ü n c h e n 1900-1918, M ü n c h e n 1928 (Miscellanaea Bavarica Monacensia 111), S. 17. 29 Penzoldt, Ernst: Elsa Bernstein, in: S ü d deutsche Z e i t u n g 9.8.1949, S. 4. 30 M a n n , Katja: Meine ungeschriebenen M e moiren, hg. v. Elisabeth Plessen u. Michael M a n n , Frankfurt 1976, S. 23. 31 M a n n , T h o m a s : Briefe 1948-1955 und Nachlese, hg. v. Erika M a n n . Brief an H e n ry Η . H . Remak v o m 21.7.1954, S. 351. 32 Penzoldt, Ernst: Frau Elsa, in: ders.: Causerien, Frankfurt 1962, S. 119-221, hier S. 220. 33 Wesendonck, S. 192. 34 Wesendonck, S. 195 f. 35 Göttler, Hans: D e r Salon M a x u n d Elsa Bernstein. Literatur u n d Geselligkeit im alten M ü n c h e n , in: Baycrland, H e f t 4, D e z e m b e r 1987, S. 55. 36 Spies, S. 360 f. Frau G e r t y Spies sei an dieser Stelle herzlichst f ü r ihre freundlichen Ausk ü n f t e gedankt.

Franz Menges

Edgar Jaffe (1866-1921), Nationalökonom und Finanzminister im Kabinett Kurt Eisner

Edgar Jaffe 1 wurde am 14. Mai 1866 als Sohn des Kaufmanns Isaac Joseph Jaffe (1806-1890) und der Charlotte Rosa Beer (1833-1888) in Hamburg geboren. Die weitverzweigte Familie 2 läßt sich auf den Talmudisten Mordechai ben Abraham Jaffe (f 1612) zurückfuhren, der in Grodno, Lublin, Prag und Posen als Rabbiner gewirkt hat und als Verfasser des zehnteiligen »Lebusch Malchut« bekannt geworden ist. Einen Namen machten sich Mitglieder der Familie im 16. und 17. Jahrhundert als Drucker in Lublin. Zu den zahlreichen Rabbinern in der Familie zählte auch Edgars Urgroßvater Mordechai (1740-1813). Dessen Sohn Joseph Marcus (1765-1841) und die Enkel Isaac Joseph und Daniel Joseph (1809-1871) brachten es in Hamburg als Kaufleute zu großem Reichtum. Isaac Joseph, Edgars Vater, der unter anderem das jüdische Mädchenwaisenhaus in Hamburg gestiftet hatte, war in erster Ehe mit Pauline Goldschmidt (1819-1854), einer Tochter des Hamburger Kaufmanns Selig David Goldschmidt (1789-1866) und der Jette Warburg, verheiratet gewesen. Aus dieser Ehe stammte Ludwig (1845-1923), anders als sein Halbbruder Edgar ein überaus tüchtiger Geschäftsmann, der in Hamburg und Moskau große Handelshäuser unterhielt. Ludwigs Tochter Vera heiratete den Hamburger Kaufmann Friedrich Falk, in zweiter Ehe den preußischen Landtagsabgeordneten Wilhelm Spickernagel. Ludwigs Sohn George trat als Physiker hervor 3 . Daniel Joseph, Edgars Onkel, gründete in Belfast eine Leinenfabrik, die von seinen Söhnen Joseph John (1843-1931) und Otto (1846-1929) geleitet wurde. Ersterer wurde Präsident der Handelskammer in Belfast, letzterer (1900 geadelt) gar Bürgermeister von Belfast. Dessen Sohn Arthur (1880—1954) wiederum erwarb sich auf dem Gebiet des internationalen Rechts hohes Ansehen. Edgar Jaffe besuchte die Elementarschule in Hamburg und das Realgymnasium in Gotha bis zur Obersekunda. Mit siebzehn Jahren trat er auf Wunsch des Vaters eine kaufmännische Lehre in einem Hamburger Handelshaus an, die er mit Volontariaten bei Firmen in Frankreich und Spanien abschloß. 1888 übernahm er als Juniorpartner ein von seinem Vater gegründetes Textilexportgeschäft in Manchester. Seine intensive Beschäftigung mit dem englischen Geschäfts- und Bankwesen sollte später seinem wissenschaftlichen Hauptwerk »Das englische Bankwesen« 4 zugute kommen. Dank einer großen Erbschaft nach dem Tod seiner Eltern finanziell unabhängig, gab Edgar Jaffe 1898 225

den ungeliebten Kaufmannsberuf auf und widmete sich in Berlin philosophischen, historischen und vor allem nationalökonomischen Studien. Zu seinen akademischen Lehrern gehörten Gustav Schmoller, Max Sering und Adolph Wagner. 1901 wurde er in Heidelberg mit einer nationalökonomischen Dissertation über Arbeitsteilung im englischen Bankwesen zum Dr. phil. promoviert. Drei Jahre später habilitierte er sich. Als Privatdozent und - seit 1909 - als außerordentlicher Professor versah er nicht nur seinen offiziellen Lehrauftrag (Geld- und Kreditwesen), sondern las auch über Sozialpolitik und Sozialismus. A m 19. November 1902 heiratete Jaffe in Karlsruhe die promovierte Nationalökonomin Elisabeth Freiin Praetorius von Richthofen (1874-1973), die Tochter des Geheimen Bau- und Regierungsrats Friedrich Freiherr Praetorius von Richthofen und der Anna Marquier 5 . Kurz zuvor hatte er sich taufen lassen. Aus der Ehe gingen die Söhne Friedrich (1903) und Hans (1909) hervor sowie die Tochter Marianne, die den Heidelberger Soziologen und Zeitungswissenschaftler Hans von Eckardt (1890-1957) heiratete. Friedrich, mit einer Tochter des Münchener Musikwissenschaftlers Walter Riezler (1878-1965) vermählt, änderte seinen Namen nach seiner Emigration in die U S A in »FredericJeffrey«; er war Präsident der National Cinc Co., N e w York, und Vizepräsident der International Metals and Minerals Ltd. Auch Hans wanderte in die U S A aus; er wurde Direktor der Clevite C o . in Cleveland. 1904 erwarb Jaffe Heinrich Brauns »Archiv für Gesetzgebung und Statistik«. Er führte es als »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« gemeinsam mit Werner Sombart, Max Weber und Robert Michels weiter; Emil Lederer fungierte zeitweilig als Redaktionssekretär. Hatte sich das Braunsche Archiv bevorzugt der Arbeiterfrage gewidmet, wollte Jaffe das Spektrum — »in engem Kontakt mit den Nachbardisziplinen, der allgemeinen Staatslehre, der Rechtsphilosopie« und der Soziologie - auf »die historische und theoretische Erkenntnis der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung« und auf die »ökonomischen Bedingtheiten der Kulturerscheinungen« ausweiten (Geleitwort zum 1. Band). In kurzer Zeit wurde das »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« zur bedeutendsten deutschsprachigen Fachzeitschrift auf ihrem Gebiet. Nachdem er mit Eberhard Gothein am Aufbau der Handelshochschule Mannheim mitgewirkt hatte, nahm Edgar Jaffe 1910 einen Ruf als Professor an die neugegründete Handelshochschule in München an; daneben las er auch an der Universität. Zu Beginn des Weltkriegs war Jaffe als Sachverständiger für Bankfragen beim Zivilgouvernement in Brüssel tätig, wo er gute Kontakte zu belgischen Finanz- und Wirtschaftskreisen knüpfte 6 . Die Entwicklung der Wirtschaft unter den Bedingungen des Krieges rückte nun immer mehr in den Mittelpunkt von Jaffes Interesse 7 : Erstmals seien in einem Krieg »die finanziellen und die rein wirtschaftlichen Kämpfe von fast ebenso großer Bedeutung wie die militärischen« 8 . Das bisherige wirtschaftspolitische System des freien Spiels der Kräfte müsse ersetzt werden durch ein System der Gemeinwirtschaft, einer Alternative zu Kommunismus und Staatssozialismus. »Nicht mehr Unternehmer und Arbeiter im alten Sinne,

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nicht mehr Herren und Knechte, sondern wie im Heeresdienst mit der Waffe so auch im Volksdienst der Wirtschaft lediglich Führende und Geführte, die alle einen gleichen Anspruch auf Selbstachtung erhalten durch das hohe Ziel, dem sie gemeinsam dienen: Wirtschaftsdienst als Staatsdienst und Volksdienst, das ist die moralische Grundlage der neuen Ordnung« 9 . Mit seinen - teils utopischen, teils widersprüchlichen - Forderungen einer korporativen Gesellschaft und einer gemeinwirtschaftlichcn O r d n u n g näherte sich Jaffe, der eigentlich bestrebt war, zwischen Werner Sombart, Max Weber und Karl Marx zu vermitteln, den Vorstellungen seines Lehrers Adolph Wagner. Anfang 1915 riefen Jaffe und der ehemalige bayerische Handelsminister Heinrich von Frauendorfer in München einen Diskussions-Zirkel ins Leben, dem Vertreter des öffentlichen Lebens aus allen politischen Lagern angehörten, und in dem in vierzehntägigem Turnus aktuelle Gegenwartsprobleme erörtert wurden 1 0 . Die Diskussionen in diesem Zirkel veranlaßten Frauendorfer und Jaffe, seit dem April 1916 eine politische Wochenschrift herauszugeben, die »Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung«. Im ersten Heft erinnerte Jaffe an den »Geist von 1914«, an das Gemeinschaftsgefühl bei Kriegsausbruch, und warb für seine Lieblingsidee: die »Einordnungjedes Einzelnen in den Dienst der Gesamtheit«. In Kenntnis der sich zusehends verschlechternden wirtschaftlichen Lage trat Jaffe i m m e r deutlicher für eine rasche Beendigung des Krieges ein. Dezidiert sozialistische und republikanische Äußerungen ließ er jedoch erst kurz vor Ausbruch der Revolution verlauten. N u n trat er sogar als Versammlungsredner auf und beteiligte sich an den Friedenskundgebungen der Unabhängigen Sozialistischen Partei Deutschlands (USPD) in München. Hatte er früher eher linksliberale und sozialdemokratische Positionen vertreten, ergriff er nun Partei für Kurt Eisner. Dieser bestellte ihn nach Ausrufung der Republik am 8. N o v e m b e r 1918 zum bayerischen Finanzminister. Erich M ü h s a m bezeichnete Jaffe als den »weitaus fähigsten Kopf des Kabinetts Eisner« 11 , übersah jedoch, daß es diesem allzu sehr an Machtwillen und Durchsetzungsvermögen mangelte, als daß er angesichts der politischen Turbulenzen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten jener Tage die Politik nachhaltig hätte mitgestalten können. Schon während des Krieges hatte sich Jaffe Gedanken über die Finanzund Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit gemacht 12 . Er war überzeugt, daß »die rein wirtschaftlich-finanziellen Verhältnisse für die Z u k u n f t fast aller am Kriege beteiligten Staaten wichtiger sein werden als die politisch-territorialen Verschiebungen« 13 . Setzte er sich während des Krieges noch für »die Vorteile einheitlicher Finanzgebarung« 14 ein, so wandelte er sich als Finanzminister zum Föderalisten. Er sah in der zentralistischen Verfügungsgewalt über die Finanzen eine gefährliche Erweiterung des politischen H a n d lungsspielraums 15 . Im Finanzprogramm, das die Reichsregierung am 31. Dezember 1918 veröffentlichte, blieben der Finanzausgleich zwischen dem Reich und den Ländern sowie die Frage der Steuerverwaltung zwar ausgeklammert, da die Grundzüge des staatsrechtlichen Neubaues des Reichs noch nicht 227

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E d g a r JafK, Fotografie, 1918.

feststanden, doch ließ sich bereits erkennen, daß eine Kompetenzverlagerung zugunsten des Reichs angestrebt wurde. Jaffe lehnte daher das Finanzprogramm in einem Schreiben vom ö.Januar 1919 an Staatssekretär Eugen Schiffer ab und schloß sich einem entsprechenden Protest des sächsischen Finanzministers an. A m gleichen Tag übermittelte er dem stellvertretenden Bevollmächtigten Bayerns in Berlin, Wilhelm von Wolf, für die Ministerbesprechung am 10./11. Januar 1919 in Berlin folgende Instruktion 16 : 1. Veröffentlichungen der R e i c h s r e g i e r u n g von der T r a g w e i t e des P r o g r a m m s v o m 31.12.1918 o h n e V o r w i s s e n der B u n d e s r e g i e r u n g e n sind abzulehnen. 2. » D e r Föderativcharakter des Reichs m u ß nicht n u r g e w a h r t , sondern weiter ausgebaut w e r d e n . Der Bestand der B u n d e s s t a a t e n h ä n g t davon ab, daß den B u n d e s s t a a t e n nicht noch die letzten selbständigen E i n n a h m e q u e l l e n , das Gebiet der direkten Steuern, v o m Reiche w e g g e n o m m e n w e r d e n . Diese letzte S i c h e r u n g des Bestandes der B u n d e s s t a a t e n m u ß v e r f a s s u n g s m ä ß i g Festlegung f i n d e n « . 3. A u f d e m Gebiet der indirekten Steuern kann d e m Reich e n t g e g e n g e k o m m e n w e r d e n ; aber » u n m ö g l i c h w ä r e ein Verzicht a u f die b a y e r i s c h e S o n d e r b e s t e u e r u n g des B i e r e s « . 4. Eine R e i c h s c i n k o m m e n s t e u e r s o w i e eine einheitliche E i n k o m m e n s s t e u e r g e s e t z g e b u n g sind abzulehnen.

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5. An der Vermögensteuer könnte das Reich u . U . beteiligt werden. 6. Das Reich sollte fortlaufend den Zuwachs an Vermögen und Einkommen besteuern, den Kriegsgewinn stärker erfassen, eine spezielle Vermögensteuer einführen, die Erbschaftsteuer ausbauen, Luxusgegenstände mit hohen indirekten Steuern, besonders mit Zöllen, belegen und die Umsatzsteuer reformieren. 7. Vor den Beschlüssen der Nationalversammlung dürfen keine Rcichssteuern verfugt werden. 8. »An der Vorbereitung der Vorlagen an die Deutsche Nationalversammlung will Bayern beteiligt s e i n . . . Mit einer Unitarisierung auf irgendwelchem Gebiet kann sich Bayern nicht einverstanden erklären«. 9. Die Beschlüsse der Nationalversammlung über die Gestaltung des Reichs bedürfen der Z u s t i m m u n g der einzelstaatlichen Volksvertretungen. 10. »Jedenfalls kann Bayern keiner Regelung sich fügen, die Bayern die finanzielle Selbständigkeit nimmt und die Bayern auf bloße Zuweisungen oder Zuschläge zu Reichseinnahmen verweist. Die Besteuerung des Einkommens muß den Bundesstaaten unter allen Umständen bleiben; auf die Sonderbesteuerung des Bieres kann Bayern nicht verzichten. Wie bereits bemerkt, muß die Sicherheit der finanziellen Selbständigkeit der Bundesstaaten in der Reichsverfassung, und zwar nicht nur in allgemeinen Umrissen, ausdrücklich festgelegt werden«.

In dieser Instruktion sind bereits die G r u n d z ü g e der bayerischen Politik fixiert, wie sie fortan in den finanzpolitischen Auseinandersetzungen mit d e m Reich ihre Gültigkeit behielten. Entsprechend d e m fortschreitenden Autoritätsverlust Kurt Eisners n a h m auch Jaffes politischer Einfluß ab. Bei den Wahlen zur bayerischen und zur deutschen N a t i o n a l v e r s a m m l u n g a m 12. bzw. 19. Januar 1919 kandidierte E d g a r J a f f e mit denkbar geringem E r f o l g fur die U S P D . Als Eisner a m 21. Februar 1919 ermordet wurde, stand Jaffes politische Karriere zur D i s p o s i tion. Er konnte weder mit der Unterstützung durch die bayerische S P D rechnen, deren Führer Erhard Auer er als eigentlichen Urheber des Attentats auf Eisner verdächtigte 1 7 , noch konnte er letztlich auf die von ihm geforderten Räte bauen. Z w a r hatte sich gegen ihn als Ministerkandidat (für das Interimskabinett Martin Segitz) auf d e m Rätekongreß v o m 1. M ä r z 1919 keine S t i m m e erhoben. »Aber er war J u d e und galt als Radikaler« 1 8 ; daher sei er, so vermutete Erich M ü h s a m , im Laufe des M o n a t s M ä r z von den Räten fallengelassen worden. Als der Landtag am 17. M ä r z Johannes H o f f m a n n z u m neuen Ministerpräsidenten wählte, übergab J a f f e die Leitung des Finanzministeriums an den parteilosen Staatsrat Paul von Merkel und z o g sich gänzlich aus d e m politischen Leben zurück. Nach einem N e r v e n z u s a m m e n b r u c h starb E d g a r J a f f e a m 29. April 1921 in einem Sanatorium in Ebenhausen bei München. Anmerkungen 1 Eckhardt, Hans v., in: Deutsches B i o g r a phisches Jahrbuch, Bd. 3, Das Jahr 1921, Berlin, Leipzig 1927, S. 160-162; Jaeger, Hans, in: Neue Deutsche Biographie ( N D B ) , B d . 10, Berlin 1974, S. 290 f.; Krüger, Dieter: Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983 (eine wissenschaftliche Biographie Edgar Jaffes fehlt).

2 Encyclopaedia Judaica, Bd. 8, Berlin 1931, Sp. 767-776. Encyclopaedia Judaica, B d . 9, Jerusalem 1971, Sp. 1258-1267. Die Herkunft aus einer bedeutenden Familie war fur die Entwicklung und das spätere Wirken Edgar Jaffes von Wichtigkeit, so daß die Nennung einer Reihe naher Verwandter gerechtfertigt erscheint.

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3 1880-1965, s. N D B 10, 1974. 4 Berlin 1904, 21910; vgl. auch: Das englisch-amerikanische und das französische Bankwesen, in: Grundriß der Sozialökonomik, V. Abt., II. Teil Bankwesen, bearb. v. G. v. Schulze-Gaevernitz u. E. Jaffe, T ü b i n gen 1915, S. 191-231. 5 Nach Edgar Jaffes Tod wurde seine Witwe Mitarbeiterin und Lebensgefährtin Alfred Webers. Elisabeths Schwester Frieda (18791956), die in erster Ehe mit dem C a m b r i d ger Professor Ernest Weckley, in zweiter Ehe mit dem englischen Schriftsteller David Henry Lawrence, in dritter Ehe mit dem italienischen Maler und Keramiker Angelo Ravagli verheiratet war, trat als Schriftstellerin hervor. 6 Die Zahlungsbilanz und die internationalen finanziellen Beziehungen Belgiens, in: Der Beifried 2/4 (1915). Auch nachdem Jaffe wieder nach München zurückgekehrt war, wurde er von der Obersten Heeresleitung gelegentlich mit Missionen im Ausland betraut, so in der Schweiz, wo er mit dem amerikanischen Vermittler Davis Herron in Verbindung trat. Im November 1918 stellte er in der Frage des Kriegsschuldeingeständnisses die Verbindung zwischen Eisner und Herron her. 7 So im 40. Band des »Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«, den er gleichzeitig unter dem Titel »Krieg und Wirtschaft. Kriegshefte des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« erscheinen ließ; vgl. auch: Volkswirtschaft und Krieg, Tübingen 1915. Weltmarkts-Wirtschaft oder geschlossene National-Wirtschaft?, in: Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung 1/3 v. 30.3.1916, S. 146-148; Kriegsentschädigung oder Vermögensabgabe, ebd. 2/15 v. 14.4.1917, S. 382-386; Kriegskostendekkung, ebd. 2/17 v. 28.4.1917, S. 425-431; Die wirschaftliche Zukunft der Mittelmächte, ebd. 3/2 v. 12.1.1918, S. 28-31. 8 Die treibende Kraft in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 40 (1915), S. 3-29, hier S. 28. 9 Die »Militarisierung« unseres Wirtschaftslebens. Prinzipielle Änderungen der Wirtschaft durch den Krieg, ebd., S. 511-547, hier S. 543. 10 Müller, Karl Alexander von: Mars und Ve-

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nus. Erinnerungen 1914-1919, Stuttgart 1954, S. 66ff. 11 M ü h s a m , Erich: Von Eisner bis Levin. Die Entstehung der bayerischen Raeterepublik, Berlin 1929, S. 22; vgl. auch: Ein Jahr bayerische Revolution im Bild, München 1919; Schmölze, Gerhard (Hg.): Revolution und Räterepublik in München 1918/19 in Augenzeugenberichten. Mit einem Vorwort von Eberhard Kolb, Düsseldorf 1969; T ö p ner, Kurt: Gelehrte Politiker und politisierende Gelehrte. Die Revolution von 1918 im Urteil deutscher Hochschullehrer, Göttingen 1970; Mosse, Werner E. (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923, Tübingen 1971; Eisner, Freya: Kurt Eisner. Die Politik des libertären Sozialismus, Frankfurt 1979; Mertens, Ursula: Die Rätebewegung in Bayern (1918/19), Diss. Erlangen 1984; Die Regierung Eisner 1918/19. Ministerratsprotokolle und D o k u mente, eingeleitet u. bearb. v. Franz J . B a u er. Unter Verwendung der Vorarbeiten von Dieter Albrecht, Düsseldorf 1987. 12 Jaffe, Edgar: Grundsätzliches zur Rcichsfinanzreform, in: Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung 1/4 v. 6.4.1916, S. 203207. Die kommende Reichsfinanzreform, ebd. 2/50 v. 15.12.1917, S. 1147-1151, Nr. 51 v. 22.12.1917, S. 1175-1177, Nr. 52 v. 29.12.1917, S. 1191-1195 (in erweiterter Form: Grundsätzliches zur Frage: Kricgskostendeckung und Steuerreform, in: Schriften des Vereins für Sozial-Politik B d . 156/11, 1917, sowie als eigene Schrift: Die Finanzund Steueraufgaben im neuen Deutschland, München, Leipzig 1919); Jaffe fordert hier eine staatliche Festsetzung von Mindestlöhnen und Höchstpreisen als Grundlage eines neuen Wirtschaftssystems. 13 Jaffe, Edgar: Die Finanz- und Steueraufgaben im neuen Deutschland, 1919, S. 5. 14 Ebd., S. 35 15 Menges, Franz: Reichsreform und Finanzpolitik. Die Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit Bayerns auf finanzpolitischem Wege in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 1971. 16 Ebd., S. 141. 17 Die Attentate im bayerischen Landtag. Der Prozeß gegen Alois Lindner und Genossen vor dem Volksgericht München, München 1919, S. 74 f. 18 Mühsam, S. 36.

Uwe Müller

Salomon Stein (1866-1938), Distriktsrabbiner von Schweinfurt

Salomon Stein wurde am 27. März 1866 in Nordheim v. d. Rhön (Bezirksamt Mellrichstadt) als Sohn des Viehhändlers Jacob Stein und dessen Ehefrau Caroline geb. Strauss geboren. 1 Nach dem Besuch der Volksschule trat er am 1. Oktober 1876 in die zweite Lateinklasse der Kgl. Studienanstalt Schweinfurt (heute Celtis-Gymnasium) ein. Nach Ablegung der Reifeprüfung - das Zeugnis vom 8. August 1884 weist ihn als sehr guten Schüler aus - begann Stein mit dem Wintersemester 1884/85 ein breit angelegtes Studium in den geisteswissenschaftlichen Fächern an der Universität Würzburg, im Sommersemester 1886 wechselte er an die Universität Berlin. Legte Stein in Würzburg den Schwerpunkt neben der Geschichte vor allem auf die klassische und germanistische Philologie, so betrieb er in Berlin orientalistische Studien (Syrisch, Arabisch) und widmete sich der Philosophie und Pädagogik. Als bedeutendste unter Steins akademischen Lehrern sind zu nennen in Würzburg Matthias Lexer (Geschichte der deutschen Literatur seit Opitz), in Berlin Wilhelm Dilthey (Geschichte und System der Pädagogik, Logik und Erkenntnistheorie) und Georg Simmel (Über den Pessimismus). Im Februar 1888 wurde Stein von der Universität Leipzig zum Dr. phil. promoviert. Seine Dissertation »Das Verbum der Mischnahsprache« erschien noch im gleichen Jahr im Druck und fand als beachtlicher Beitrag zur Grammatik des Neuhebräischen die Zustimmung der Fachwelt. Parallel zum Universitätsstudium betrieb Stein zielstrebig die Ausbildung zum Rabbiner. Schon in Würzburg studierte er die hebräischen und talmudischen Disziplinen unter Anleitung eines Lehrers vom Israelitischen Lehrerseminar, in Berlin besuchte er das — 1873 gegründete und von Israel Hildesheimer 2 geleitete — renommierte orthodoxe Rabbiner-Seminar, wo er neben den theologischen auch Vorlesungen in jüdischer Geschichte und Literatur sowie in Geographie Palästinas hörte. Mit Zeugnis vom 1. April 1890 wurde Stein aufgrund seines mit »Sehr gut« bestandenen Abgangsexamens als befähigt zur Übernahme eines Rabbinates erklärt. Schon seit November 1888 hatte er als Lehrer in der ebenfalls von Israel Hildesheimer geleiteten Religionsschule gewirkt. Noch im Mai 1890 wurde der Rabbinatskandidat Stein von der israelitischen Kultusverwaltung Schweinfurt als Verweser des durch den Tod des seit 1840 amtierenden Distriktrabbiners Meier Lebrecht (f 18. Mai 1890) verwaisten 231

Distrikts vorgeschlagen, wogegen die Kgl. Regierung von Unterfranken und Aschaffenburg in Würzburg, Kammer des Innern, allerdings Einspruch erhob, da der Dispens des Kgl. Staatsministeriums des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten von der Prüfung für das Rabbinatsamt in Bayern noch ausstand, der dann am 26. Juni 1890 erteilt wurde. 3 Der zwischenzeitlich von der Regierung in Würzburg als Verweser bestellte Distriktsrabbiner von Burgebrach, Dr. Werner, konnte am 30. Juni durch Stein abgelöst werden. Schon am 18. Juni hatte sich Stein offiziell um die Nachfolge Lebrechts beworben, da die Distriktsrabbinatsstelle in Schweinfurt unter dem Datum des 7. Juni 1890 durch den Stadtmagistrat überregional ausgeschrieben worden war (Die Laubhütte. Israelitisches Familienblatt, Regensburg; Allgemeine Zeitung des Judenthums. Ein unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse, B o n n ; Israelit und Jeschurun. Zeitschrift zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule. Centrai-Organ für das orthodoxe Judentum, Mainz; Augsburger Abendzeitung; Deutscher Reichsanzeiger, Berlin). In der Ausschreibung wurde explizit daraufhingewiesen, daß nur »gründlich gebildete Rabbinatskandidaten« mit nachgewiesenem »tadellosen Lebenswandel« in Betracht kämen, die die gesetzlichen Vorbedingungen erfüllten, wie sie im Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern vom 10. April 1813, § 27 und in der diesbezüglichen Entschließung des Staatsministeriums für Kirchen- und Schulangelegenheiten vom 12. November 1866 niedergelegt waren. 4 Neben Stein bewarben sich 14 weitere Kandidaten aus allen Teilen des Reiches. 5 Die Wahl selbst wurde auf der Grundlage der Entschließung des Kgl. Staatsministeriums des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten vom 25. August 1869 6 am 21. August 1890 durchgeführt. 7 Im Sitzungszimmer des Gemeindekollegiums der Stadt Schweinfurt gaben von 408 Stimmberechtigten aus den 25 Kultusgemeinden des Distrikts in Gegenwart des als Wahlkommissär fungierenden Rechtskundigen Magistratsrates Dittmann 276 ihre Stimmen ab. Da - abgesehen von einem ungültigen Stimmzettel - 275 Stimmen auf Stein entfielen, kann davon ausgegangen werden, daß schon vor dem Wahlgang innerhalb der Gemeinden eine definitive Entscheidung zugunsten Steins gefallen war. Nach der Bestätigung der Wahl durch die Würzburger Regierung am 26. August 1890 konnte schließlich am 11. September unter der Leitung des Installationskommissärs Dittmann im Raum der Israelitischen Kultusgemeinde die feierliche Amtseinführung Steins vollzogen werden, in deren Mittelpunkt der Eid auf den König, die Gesetze und die Verfassung stand, den Stein in dreifacher Eigenschaft als bayerischer Staatsbürger, als öffentlicher Beamter und als Rabbiner zu leisten hatte. 8 Neben der Betreuung der 25 jüdischen Kultusgemeinden des Distrikts — Altenschönbach, Arnstein, Bonnland, Ebelsbach, Euerbach, Obereuerheim, Frankenwinheim, Geldersheim, Gochsheim, Gerolzhofen (einschl. Brünnau seit 20.10.1889), Haßfurt, Lülsfeld, Niederwerrn, Obbach, Prichsenstadt, Schonungen, Schwanfeld, Schwebheim, Schweinfurt, Theilheim, Traustadt,

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Werneck, Westheim, Wonfurt, Zeil - oblag dem Distriktsrabbiner Dr. Salom o n Stein der Religionsunterricht an den Schweinfurter Mittelschulen (Realschule, heute A l e x a n d e r - v o n - H u m b o l d t - G y m n a s i u m ; Gymnasium, heute Celtis-Gymnasium; Städt. höhere Mädchenschule, heute O l y m p i a - M o r a t a Gymnasium). 9 O b w o h l Stein, der, im Gegensatz zu seinem liberalen Vorgänger Meier Lebrecht, dessen Neuerungen (Orgelspiel, Konfirmation, gemischter Synagogenchor) 10 er abschaffte, zur orthodoxen Richtung zu zählen ist und mancherlei Differenzen mit dem Vorstand der Schweinfurter Gemeinde hatte der Versuch einer neuen Synagogenordnung, die diejenige Lebrechts von 1841 ablösen sollte, scheiterte" - , galt er doch bald - wie es einer seiner Schüler, Willy Adler, formulierte - in der Synagoge wie beim Religionsunterricht als »unumschränkter Herrscher«, 12 als »anerkannter Führer der Ge13 meinde« . Bei der G r ü n d u n g des »Verbandes Bayerischer Israelitischer Gemeinden« trat Stein schließlich 1920/21 gemeinsam mit dem Gemeindevorstand Justizrat Dr. H o m m e l als Vermittler zwischen Liberalen und O r t h o d o x e n , zwischen Stadt und Land, zwischen Kleingemeinden und Großgemeinden auf. Als Vorstand wirkte Stein im innerhalb des Verbandes gebildeten »Bund Gesetzestreuer Israelitischer Gemeinden Bayerns«, dessen Landestagungen 1928 und 1931 in Schweinfurt stattfanden. In der Bayerischen Rabbinerkonferenz bekleidete Stein das A m t des zweiten Vorsitzenden. 14 Der zunehmende Antisemitismus der 20er Jahre erfüllte den glühenden deutschen Patrioten mit Sorge. Stein, der beim Kriegsausbruch 1914 von tiefer »Angst u m des deutschen Vaterlandes Schicksal« 15 bewegt worden war, der unermüdlich bei jeder neuen Kriegsanleihe seine Gemeindemitglieder »auf die Erfüllung der vaterländischen Pflicht dringlich hingewiesen« 16 hatte, dessen »patriotische Festgottesdienste bei allen ihren Anlässen zu erhebenden Ovationen für das Vaterland und seinen Herrscher« 17 sich manifestiert hatten, m u ß t e erleben, wie die Antisemiten ihre »gewissenlose Hetze« 18 wie in den »finstersten Zeiten des Mittelalters« 1 ' betrieben, so Stein in seiner letzten historiographischen Publikation aus dem Jahr 1930, in der er ausfuhrlich auf die v o m »Stürmer« und v o m mainfränkischen Gauleiter Dr. O t t o Hellmuth inszenierte »Ritualmord«-Hysterie anläßlich der E r m o r d u n g eines Knaben in Manau im Jahr 1929 eingeht. 20 Neben seinen theologischen Veröffentlichungen hat Stein eine Reihe von wichtigen Arbeiten zur Geschichte der Schweinfurter Juden vorgelegt, 21 die bis heute nicht überholt sind. Er wirkte mit bei der G r ü n d u n g des »Vereins für jüdische Geschichte und Kultur« (1898), dessen Ziel es war, »eine richtige Kenntnis und Würdigung der jüdischen Geschichte und Literatur anzubahnen« 22 und bei der G r ü n d u n g des »Historischen Vereins Schweinfurt« (1909). Nach altersbedingter Niederlegung seiner Ä m t e r übersiedelte Stein im Frühjahr 1934 nach Frankfurt am Main. N u r sein Tod am 14. Juni 1938 bewahrte ihn vor Deportation und E r m o r d u n g . 233

Anmerkungen 1 Die Angaben zu Elternhaus, Schul-, Studienzeit und Dissertation Steins stammen aus seinen Bewerbungsunterlagen um die Stelle des Distriktsrabbiners von Schweinfurt (HR X - B - l - 4 5 e ) . 2 Z u Hildesheimer s. Encyclopaedia Judaica, Bd. 8, Sp. 4 7 6 f f 3 Alle Angaben zur Wiederbesetzung des D i striktsrabbinats Schweinfurt aus H R X - B l-45a. 4 K g l . Baierisches Regierungsblatt 1813, S. 922ff.; Ministerialblatt für Kirchen- und Schulangelegenheiten im Königreich B a y ern 1866, S. 339 f. 5 Bewerbungsschreiben in H R X - B - l - 4 5 e . 6 K g l . Bayerisches Kreis-Amtsblatt von Unterfranken und Aschaffenburg 1869, S. 1442 ff. 7 Wahlprotokoll in H R X - B - l - 4 5 a ; die Akten zum Wahlmodus und die Beilagen in H R X B-l-45b,c,d. 8 Vgl. Bericht im Schweinfurter Tagblatt, 1890 IX 12. 9 Nach Adler, S. 39. 10 Stein 1914, S. 24 ff. 11 Stein 1914, S. 32 ff. 12 Adler, S. 59. 13 Adler, S. 14. 14 Vgl. Stein 1930, S. 32ff.; Flade, S. 155; Ophir/Wiesemann, S. 399. 15 Stein 1930, S. 8. 16 Stein 1930, S. 11. 17 Stein 1914, S. 34. 18 Stein 1930, S. 63. 19 Stein 1930, S. 62. 20 Vgl. dazu Flade, S. 330 ff. 21 Vgl. Literaturverzeichnis. 22 Stein 1914, S. 71.

Quellen und Literatur Stadtarchiv Schweinfurt, Hauptregistratur ( = HR) X-B-l-45a-e. Schweinfurter Tagblatt, 35. J g . (1890).

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Adler, Willy: Meine J u g e n d in Schweinfurt. Erinnerungen eines ehemaligen jüdischen Mitbürgers an seine Heimatstadt Schweinfurt aus den Jahren 1904 bis 1934, Schweinfurt 1987 ( = Miscellanea Suinfurtensia historica, Veröffentlichungen des Historischen Vereins Schweinfurt, Sonderreihe Heft 12). Ophir, Baruch Z./Wiesemann, Falk: Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918-1945. Geschichte und Zerstörung, München, Wien 1979. Encyclopaedia Judaica, B d . 8, Jerusalem 1971. Flade, Roland: Juden in Würzburg 1918-1933, Würzburg 1985 ( = Mainfränische Studien Bd. 34). Stein, Salomon: Das Verbum der Mischnahsprache (Diss. phil. Leipzig), Berlin 1888. Stein, Salomon: Geschichte der Juden in Schweinfurt. Zwei Vorträge gehalten im Verein für jüdische Geschichte und Literatur zu Schweinfurt, Frankfurt am Main 1899. Stein, Salomon: Zur Geschichte der Juden in Schweinfurt, in: Blaetter für Jüdische Geschichte und Literatur, hg. v. L. Löwenstein, März 1902 ( = Beilage zu Nr. 23 des »Israelite in Mainz). Stein, Salomon: Zur Geschichte der Juden in Schweinfurt und dem Vogteidorf Gochsheim. Eine actenmässige Darstellung, in: Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft, J g . IV, Frankfurt a. Main 1906 (auch separat: Frankfurt a. Main 1907). Stein, Salomon: Zur Geschichte der Austreibung der Juden aus Schweinfurt, in: Archiv für Stadt und Bezirksamt Schweinfurt, 4.Jg. (1906), S. 107-109. Stein, Salomon: Eine wichtige Urkunde, in: Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft, J g . I X , Frankfurt a. Main 1912, S.307. Stein, Salomon: Die israelitische Kultusgemeinde zu Schweinfurt a. Main seit ihrer N e u begründung 1864-1914. Eine Jubiläumsschrift, Schweinfurt 1914. Stein, Salomon: Gottesdienstliche Vorträge in den Kriegswochen 1914, Frankfurt a. M . 1915. Stein, Salomon: Gottesdienstliche Vorträge aus dem Kriegsjahr 1915, Frankfurt a . M . 1915. Stein, Salomon: Die jüdische Kultusgemeinde in Stadt- und Landbezirk Haßfurt, Jubiläumsausgabe 1928 des Haßfurter Tagblatts. Stein, Salomon: Die isr. Kultusgemeinde Schweinfurt. II. Teil 1914-1930. Eine Jubil ä u m s w i d m u n g beim Ablauf des 40. Dienstjahres von Bezirksrabbiner Dr. Salomon Stein, Würzburg 1930.

Alexander Neumeyer

Alfred Neumeyer (1867-1944), Richter und Vorsitzender des Verbandes Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern bis 1941

Im Laufe des vorigen Jahrhunderts wurden die Beschränkungen des Wohngebietes und der Berufstätigkeit für Juden gelockert und 1861 in Bayern aufgehoben. So konnte mein Großvater, Leopold Neumeyer, der 1828 in O b e r d o r f bei Bopfingen geboren war, zusammen mit zwei Teilhabern ein Engros-Geschäft für Stoffe begründen und sich damit in den Sechziger Jahren in München niederlassen. Er begann auf einem kleinen Pferdewagen seine Ware zu vertreiben. Daraus entwickelte sich ein stattliches U n t e r n e h m e n , das in München in der Stadtmitte ein großes Geschäftsgebäude mit Wohnungen für die beiden Teilhaber erwerben konnte. Hier w u r d e mein Vater Alfred N e u m e y e r am 17. Februar 1867 geboren. Seine Eltern sorgten für eine gute Schulbildung. Nach Absolvierung des Maximiliansgymnasiums studierte er Jura. Als Referendar war er an Gerichten und in einem Bezirksamt tätig. A m 1. O k t o b e r 1893 trat er seine erste Stelle bei der Staatsanwaltschaft in Kempten an. Von dort aus kam er als 3. Staatsanwalt ans Landgericht in Landshut. Mein Vater betrachtete seine fünfjährige Tätigkeit in diesen kleineren Städten als sehr wertvoll, weil sie ihn viel in Berührung mit der Bevölkerung und auch mit anderen Kreisen der Beamtenschaft brachte. 1898 w u r d e er nach München versetzt, zuerst als Amtsrichter, dann als 2. Staatsanwalt und zuletzt als Landgerichtsrat. 1910 w u r d e er als erster Staatsanwalt an das Oberlandesgericht in Augsburg berufen. Rückblickend bezeichnete mein Vater seine Arbeit dort als H ö h e p u n k t seiner beruflichen Laufbahn. Seine Aufgaben waren - obwohl oft mehr verwaltungstechnischer als juristischer Art - vielseitig und mit großer Selbstständigkeit und Verantwortung verbunden. Besonders schwierig war das A m t in der Kriegszeit und vor allem nach dem U m s t u r z im Jahre 1918. Nach dem Sturz der Räteregierung w u r d e mein Vater Oberlandesgerichtsrat in München. Aus familiären Gründen war er über die Versetzung erfreut, da in München sein 90jähriger Vater und die meisten seiner Verwandten und seiner Freunde lebten. Die höchste Stufe in seiner Laufbahn erreichte er, als er 1929 zum Rat am bayerischen Obersten Landgericht befördert wurde. Seine Tätigkeit fand ihren jähen Abschluß, als er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 gezwungen wurde, vorzeitig seinen Ruhestand anzutreten. Mit Leib und Seele war mein Vater seinem Beruf ergeben. Das biblische Gebot »Jage, jage dem Recht nach!« war sein Leitsatz. Dabei ging es ihm nicht 235

nur um die juristischen Fragen, sondern auch um die Lösung der menschlichen und sozialen Probleme, die damit zusammenhingen. Schwierige Fälle beschäftigten ihn oft Tag und Nacht. Er erzählte davon in der Familie und erweckte damit auch in mir das Interesse, eine ähnliche Laufbahn einzuschlagen. So sehr mein Vater sein Richteramt liebte, beschränkte er sich nicht darauf. Er fand immer noch Zeit und Kraft für seine vielseitigen anderen Interessen. A m wichtigsten dabei war ihm seine ehrenamtliche Tätigkeit für die jüdische Gemeinschaft. Vorbild war sein sehr fortschrittlicher Onkel Hermann Müller, der in den Achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in München gewesen war. Die rechtliche Stellung der jüdischen Gemeinden in Bayern war durch ein königliches Dekret aus dem Jahr 1813 geregelt, dessen Inhalt jedoch nicht mehr den Forderungen der Zeit entsprach. Mein Vater wurde deshalb veranlaßt, eine ausfuhrliche Denkschrift zu verfassen über die staatsrechtliche Stellung der Juden in Bayern, die Vorschläge zu einer neuen gesetzlichen Regelung enthalten sollte. Bei der Ausarbeitung der Denkschrift wurde er von den amtlichen Stellen unterstützt. Die Denkschrift erschien 1913 im Druck und fand viel Beachtung. Aber durch den Ausbruch des Weltkrieges wurde die praktische Durchführung seiner Vorschläge verhindert. Nach Kriegsende und dem Umsturz war die Neuregelung umso dringender geworden, die mein Vater nun voller Energie vorzubereiten begann. Sie sollte vor allem durch den Zusammenschluß aller jüdischen Gemeinden in Bayern erreicht werden, die bisher keine feste Organisation hatten. Es gelang meinem Vater, die verschiedenen Auffassungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft über diese Frage zu vereinigen. Nach sorgfältiger Vorbereitung trat am 20. April 1920 in Nürnberg eine Versammlung von Vertretern der Gemeinden zusammen und beschloß unter allgemeinen Beifall die Gründung des Verbandes israelitischer Kultusgemeinden in Bayern. Die Gründung dieses Verbandes, nach dessen Vorbild bald in Preußen und anderen Ländern ähnliche Verbände errichtet wurden, war ein Wendepunkt in der Geschichte der Juden in Bayern. Die einzelnen, bisher isolierten Gemeinden hatten durch diese Organisation eine ganz andere Stellung als früher. Wichtig war vor allem, daß die Steuern nun von Staats wegen eingezogen wurden. Das verschaffte den Gemeinden eine sichere finanzielle Grundlage. Damit konnten sie ihren Aufgaben besser nachkommen, wie vor allem der Unterhaltung der Synagogen und Friedhöfe, Anstellung von Rabbinern, Lehrern und anderen Kultusbeamten, Förderung des religiösen und kulturellen Lebens und der sozialen Fürsorge. Mein Vater stand an der Spitze dieses Verbandes und gleichzeitig der größten Gemeinde in München bis zu seiner Auswanderung Anfang 1941. Sein Ansehen war so groß, daß trotz mancher sachlichen Meinungsverschiedenheit nie persönliche Opposition gegen ihn aufkam. Mit seiner ausgleichenden und liebenswürdigen, wenn notwendig aber energischen Persönlichkeit verstand er es, alle Gegensätze zu überwinden. Das galt besonders auch für die Gemeinde in München, die damals rund 10.000 Seelen zählte. Er sorgte für alle Richtungen in 236

gleicher Weise, ob es die streng orthodoxen Mitglieder waren oder die erst aus dem Osten eingewanderten Juden, die von alteingesessenen Juden manchmal nicht ganz akzeptiert wurden. Die großen Gemeinden in den Städten konnten eher fiir sich selbst sorgen, als die hunderte über das Land zerstreuten kleinen Gemeinden, die ihre religiösen Institutionen oft kaum aufrecht zu erhalten vermochten. Für sie war der Landesverband die wichtigste Stütze. Mit dem Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung hatten sie mehr als in den Städten unter Schikanen der Behörden und antisemitischen Angriffen zu leiden. Vor der Machtergreifung Hitlers konnte mein Vater durch seine ausgezeichneten Verbindungen mit den obersten Behörden meist wirksame Hilfe leisten. Für ihn waren diese Aufgaben neben seiner richterlichen Tätigkeit eine nicht geringe Arbeitsbelastung, die er aber immer mit seiner großen Tatkraft gerne auf sich nahm. Es darf auch gesagt werden, daß seine Vorgesetzten im Justizdienst Verständnis für seine außeramtliche Tätigkeit hatten und darauf möglichst Rücksicht nahmen. All dies änderte sich mit dem Aufstieg Hitlers zur Herrschaft im Jahre 1933. Zwar war mein Vater nun frei von seiner richterlichen Tätigkeit und konnte seine ganze Kraft den Angelegenheiten derjüdischen Gemeinschaft widmen. Es ist hier nicht der Ort, die feindlichen Maßnahmen, Verfolgungen und Demütigungen zu schildern, denen Juden damals ausgesetzt waren. Gerade bei den Alteingesessenen, die sich stets als gute Deutsche gefühlt hatten, war die Bestürzung und die seelische Not besonders groß. Mein Vater und seine Mitarbeiter bemühten sich, den einzelnen zu helfen, aber sie hatten keinen Einfluß mehr auf die Maßnahmen der Behörden. Mein Vater konnte nicht verhindern, daß im Juni 1938 die große Synagoge in München abgerissen wurde. Die ganze Gemeinde war über diese Maßnahme bestürzt und erschüttert. Diese behördliche Willkür war nur ein Vorspiel für noch Schlimmeres. Als nach dem Novemberpogrom 1938 alle männlichen Juden ins Konzentrationslager verschleppt wurden, die übrigen Synagogen und die Verwaltungsgebäude der Gemeinde verwüstet wurden, war unsere Privatwohnung zeitweise der einzige Ort, an den sich die Menschen in ihrer Not wenden konnten. Da mein Vater über 70Jahre alt war, wurde er nicht ins Konzentrationslager gebracht. Er hatte nun fast allein die schwierigen Verhandlungen mit den Behörden und der Partei zu fuhren. So sehr mein Vater in Beruf und Verbandstätigkeit engagiert war, fand er doch immer Zeit, sich seiner Familie, seinen Freunden und seinen vielseitigen Interessen zu widmen. Er liebte die Natur, machte Ausflüge oder Spaziergänge, fuhr an Sonntagen mit seiner Familie mit der Eisenbahn in die U m g e b u n g von München, von wo aus man mehrstündige Fußwanderungen unternahm. Für mich waren diese Wanderungen immer ein Erlebnis, nicht nur durch die Eindrücke der Schönheit der Landschaft, sondern fast noch mehr durch die Gespräche, die mein Vater mit mir führte und in denen er mir seine Gedanken und seine Lebensweisheit vermittelte. Vor dem Ersten Weltkrieg machten meine Eltern große Reisen in Deutschland und in die umliegenden Länder. Die 237

Reiseplanung übernahm mein Vater stets selbst. Der Krieg und die nachfolgenden schweren Zeiten machten diesen großen Reisen ein Ende. Dafür verlegten meine Eltern den gesamten Haushalt vom ersten bis zum letzten Tag der großen Ferien auf einen schön gelegenen Bauernhof am Tegernsee. Der Besitzer dieses Gutes war Wilhelm Merck, der beste Freund meines Vaters. Er spielte eine führende Rolle im wirtschaftlichen und öffentlichen Leben und war jahrelang Reichstagsabgeordneter. Durch ihn knüpfte unsere Familie u.a. eine Freundschaft mit dem Physiker und Nobelpreisträger Max Planck an, die sich auch in schwersten Zeiten bewährte. Anfang 1941 mußten meine Eltern zwei Wochen in Berlin bis zum Abgang des organisierten »JudenTransportes« warten, der sie im verschlossenen Eisenbahnwagen durch das besetzte Frankreich nach Spanien in die Freiheit bringen sollte. Der Aufenthalt in der verdunkelten, von Luftangriffen heimgesuchten, fremden Stadt war alles andere als angenehm. Die Überraschung meiner Eltern war groß, als eines Tages in ihr Zimmer im 4. Stock eines kleinen Hotels der 83-jährige Max Planck, damals Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, kam, um ihnen eine gute Reise zu wünschen. In diesem dunkelsten Zeitpunkt im Leben meiner Eltern war dieser Besuch eines ersten Vertreters der deutschen Wissenschaft ein kleiner Lichtblick. Vielseitig war auch die Lektüre meines Vaters. Er liebte die Bibel, las gerne Plato, Sophokles und Maimonides, Goethe und Kant, geschichtliche Bücher. An schöner Literatur bevorzugte er Novellen, zu Romanen fehlte ihm die Zeit. An verregneten Sonntagen besuchte er gerne Museen; er wußte über fast jedes Bild in der Alten Pinakothek etwas zu erzählen. Auch an Musik hatte er Interesse, und er spielte selbst Klavier. Mein Vater war ein Mann von Welt und Geselligkeit, der einen großen Freundeskreis in allen Teilen der Gesellschaft hatte. Er fugte sich leicht in jeden Kreis ein und führte gerne die Unterhaltung. Als Vertreter der jüdischen Gemeinschaft wurde er oft zu Empfängen beim Ministerpräsidenten oder anderen offiziellen Persönlichkeiten eingeladen. Er verstand es, bei solchen Gelegenheiten Verbindungen anzuknüpfen oder zu vertiefen, die ihm bei der Vertretung der jüdischen Gemeinschaft von Wert waren. Trotz seiner Stellung blieb er immer ein Mann des Volkes. Der Hochmut mancher Akademiker war ihm völlig fremd. Mit derselben Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit unterhielt er sich mit dem Minister, mit dem Prinzen aus dem königlichen Haus, mit dem Rektor der Universität wie mit dem Gerichtsdiener im Justizpalast, mit dem benachbarten Bauern am Tegernsee oder mit dem Hirtenbub, dem er auf seinen Spaziergängen begegnete. In religiösen Fragen war er von den liberalen Anschauungen des ausgehenden Jahrhunderts geprägt. Er legte kein Gewicht auf die jüdischen Ritual Vorschriften, aber er war durchdrungen von den Grundsätzen der jüdischen Religion, die für sein Leben und Tun bestimmend waren. In Diskussionen mit seinen vielen christlichen Freunden vertrat er mit Stolz die Werte des jüdischen Glaubens. Auch wenn seine Laufbahn bis zum Beginn der Hitlerherrschaft von Erfolg 238

begleitet war, blieb ihm schweres persönliches Leid nicht erspart. N o c h vor Antritt seiner ersten Stelllung bei der Staatsanwaltschaft in Kempten 1893 verheiratete er sich mit Elise Lebrecht aus U l m , der Tochter eines angesehenen Lederfabrikanten. Die beiden Ehegatten ergänzten sich in vollkommener Weise. Meine Mutter war schüchtern und zurückhaltend, ohne die umfassende Bildung ihres Mannes. Aber sie war klug und verständig, zeigte viel menschliches Interesse, war sozial tätig, insbesondere in der Fürsorge für notleidende Mütter. Sie beriet meinen Vater in vielen Dingen und stand ihm zur Seite. Von den vier Kindern starben drei frühzeitig unter tragischen U m s t ä n d e n . Der erste Sohn, feinsinnig, aufgeschlossen und vielseitig, fühlte sich von engstirnigen Lehrern bedrückt; er nahm sich nach der Lektüre von Goethes »Die Leiden des j u n g e n Werther« mit 17 Jahren das Leben. Die Tochter starb im Alter von 29 Jahren nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Mein Zwillingsbruder kam mit 12 Jahren durch einen Unfall u m s Leben. So blieb ich als einziger N a c h k o m m e zurück. Meine Eltern trugen schwer an diesem Schicksal, ohne sich von dem Leid erdrücken zu lassen. Sie blieben trotz allem tatkräftig, u m anderen Menschen zu helfen. Sie w u ß t e n nicht, was ihnen in ihrem Alter bevorstehen sollte. Immer fühlten sie sich ganz als Deutsche, nie hatten sie Zweifel an ihrer Zugehörigkeit z u m deutschen Volk. Mit vollem Herzen liebten sie ihre Heimat. Mehr noch als von den äußeren M a ß n a h m e n wurden sie 1933 seelisch getroffen, ihr ganzes Weltbild w u r d e zerbrochen. Es war zwar gut, daß meine Eltern durch intensive Arbeit für die jüdische Gemeinschaft ihre Zeit ausfüllen konnten, aber dies konnte den tiefen Schmerz nicht lindern über all das, was ihnen g e n o m m e n wurde. Als meine Frau und ich 1938 als Landwirte nach Argentinien auswandern konnten, lag meinen Eltern jeder Gedanke daran fern, uns eines Tages nachzufolgen. Z w a r w u ß t e man, daß ihr Leben im »Neuen Deutschland« nicht leicht sein würde, aber wir alle nahmen an, daß selbst die Nationalsozialisten die alten Juden in ihrer Heimat in Ruhe sterben lassen würden. Mein Vater war auch überzeugt, daß er seine Gemeinde gerade in ihrer schweren Bedrängnis nicht verlassen durfte. Nachdem wir zwei Jahre in Argentinien waren, konnten wir unseren Eltern die Einwanderungserlaubnis verschaffen. Ende des Jahres 1940 w u r d e n meine Eltern von dem Konsul verständigt, daß sie nach Argentinien einwandern könnten. Sie standen vor einer schweren Entscheidung. Inzwischen hatte die Massendeportation der deutschen Juden nach Osten begonnen. Z w a r ahnte man noch nicht, welches Schicksal ihnen dort bevorstand, aber meine Eltern wußten, daß meine Mutter bei ihrem schwachen Gesundheitszustand den Strapazen nicht mehr gewachsen sein würde. Es war ihnen klar, daß sie unter solchen U m s t ä n d e n nicht mehr anderen würden helfen können, sondern selbst anderen zur Last fallen würden. So entschloß sich mein Vater, die Reste seiner Gemeinde zu verlassen. Er sah keinen Sinn darin, sich einer verlorenen Sache nutzlos zu opfern. Auch in dieser Lage wollte er vorwärts sehen, zur Z u k u n f t seiner Familie in Argentinien.

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Nach einer schweren Reise, mitten im Krieg, kamen sie in unsere 800 km nördlich von Buenos Aires gelegene Siedlung, in einem noch unerschlossenen Gebiet Argentiniens. Zur 30 km entfernten Bahnstation gab es eine bei Regen nicht befahrbare Straße; die einzige Verbindung waren dann Karren mit zwei großen Rädern, denen acht Pferde oder Ochsen vorgespannt wurden. Die Fahrt dauerte acht Stunden und länger. Unser aus gebrannten Ziegeln sehr einfach erbautes Haus hatte drei kleine Zimmer ohne Zwischcntüren. Wir beide wohnten darin mit vier jungen Flüchtlingen, die mit uns aus Deutschland gekommen waren. Fast gleichzeitig mit meinen Eltern waren auch meine Schwiegereltern und die Mutter einer unserer Mitarbeiter gekommen. So mußten wir jetzt zusätzlich fünf alte Menschen unterbringen. Wir hatten kein Geld, um das Haus zu erweitern oder wesentlich zu verbessern. Mit Mühe bauten wir die offene Veranda zu, verwandelten die kleine Küche in ein Schlafzimmer. Auch sonst waren die Bedingungen sehr primitiv: keine Elektrizität, kein Gas, keine sanitären Anlagen, Wasser mußte eimerweise vom Ziehbrunnen im H o f herbeigeschafft werden. Uns Jungen, die wir ohnehin die meiste Zeit mit unserer Arbeit beschäftigt waren, machten diese häuslichen Schwierigkeiten nicht soviel aus. Aber für Menschen im vorgerückten Alter war es nicht leicht, auf die selbstverständlichen Bequemlichkeiten der neuen Zeit zu verzichten. Mit viel gutem Willen fügten sie sich in diese schweren Bedingungen ein und versuchten mit ihren schwachen Kräften, uns behilflich zu sein. Mein Vater trieb das im Göpel eingespannte Pferd an, um das Wasser für das Vieh zu pumpen oder er legte die Maiskolben in die handbetriebene Dreschmaschine ein. Er beschäftigte sich außerdem mit der kleinen Gemeinde in unserer Siedlung. Nie kam ein Wort der Klage über die Lippen meiner Eltern. Sie freuten sich über die zwei kleinen Enkel, die inzwischen zur Welt gekommen waren. Oft sprachen sie davon, wie glücklich sie sein können, daß sie in ihren alten Tagen noch den Wiederaufbau unserer Familie mit eigenen Augen sehen durften. N u r die Sorge u m die in Deutschland zurückgebliebenen Verwandten und Freunde bedrückte sie. Es war gut für sie, daß der ganze U m f a n g des Judenmordes erst nach dem Kriegsende bekannt wurde, als sie schon nicht mehr am Leben waren. Meine Mutter hatte sehr unter dem schweren Klima zu leiden. Kurz nach der Goldenen Hochzeit, die im November 1943 von der ganzen Siedlung mit Speis und Trank, Gesang und einer Aufführung der »Philemon und Baucis«-Szene aus Goethes »Faust« begangen wurde, wurde meine Mutter hinfällig; sie starb trotz der liebevollen Pflege durch meinen Vater bald. Schon kurz nach seiner Ankunft hatten wir meinen Vater angeregt, seine Erinnerungen zu schreiben. Er ging erst zögernd daran, seine tägliche Beschäftigung war ihm wichtiger. Aber nach dem Tod meiner Mutter begann er voller Energie mit der Niederschrift. Die uns befreundete Frau des Lehrer übernahm es, den von ihm in Kurzschrift geschriebenen Entwurf nach seinem Diktat in die Maschine zu übertragen. Aber dazu mußte mein Vater in das 4 km entfernte Zentrum mit dem Pferdewagen fahren, der die Milch beförderte. Mehrmals 240

rieten wir ihm, bei schlechtem Wetter oder schlechter Fahrverbindung, zu Hause zu bleiben, da es nicht darauf ankomme, einmal zu versäumen. Er erwiderte mit Strenge: »Es kann wohl darauf ankommen«. Er sollte recht behalten. Am Vortag unseres Chanukahfestes kam die Lehrerin zu uns, und mit großer Anstrengung diktierte mein Vater ihr 4 Stunden lang die letzten Seiten. Am Abend nach dem feierlichen Anzünden der Festlichter überreichte er uns das fertige Werk. Als ob er damit sein letztes Lebensziel erreicht hätte, begann am nächsten Morgen der Verfall. Er konnte noch unter den von uns gepflanzten Bäumen vor unserem Haus liegen und sich am Spiel der Enkel freuen. Er bestellte die Mitglieder seines Gemeindevorstandes und verabschiedete sich von ihnen. Am letzten Abend der Festwoche ließ er sich auf sein Bett ein Buch mit Bildern von Michelangelo legen. Friedlich schlief er am frühen Morgen des 19. Dezember 1944 ein. Am selben Tag wurde er auf unserem kleinen Friedhof begraben. Auf seinen Grabstein sind die Worte aus Jeremias (22,15) eingemeißelt: »Er übte Recht und Gerechtigkeit, da war es ihm wohl, er sprach Recht dem Armen und Elenden, darum erging es ihm gut. Heißt nicht das, mich erkennen? ist des Ewigen Spruch«. Der letzte Abschnitt in seinen Erinnerungen, niedergeschrieben nach seinem Diktat am 11. Dezember 1944, acht Tage vor seinem Tod, lautet: »So hat eine gütige Hand mich bis hierher geleitet. Ich hatte eine glückliche Jugend, es war mein Beruf, im Strome des Lebens Recht und Gerechtigkeit zu suchen. Im Rhythmus des Seins haben Wellenberg und Wellental mich getragen, es ward mir die Kraft, aufzubauen und niederzulegen im Dienste ewiger Gedanken. Das Schicksal hat mir die Herzen der Menschen geneigt gemacht, mich im Sturme heil zum Neuen Heim geführt und mich durch Kinder und Enkel in die Zukunft reichen lassen. Die Frau ward mir zuteil, die mich zur Vollkommenheit des Seins gebracht. Im Gedanken an sie beende ich diese Erinnerungen mit dem Bekenntnis der Schrift, daß stark wie der Tod ist die Liebe«.

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R a b b i n e r S a l o n i o n Stein, F o t o g r a f i e .

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T h o m a s T h e o d o r Heine, Fotografie, 1932.

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Alfred N e i i m e y e r , F o t o g r a f i e .

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K u r t Eisner, F o t o g r a f i e von G e r n i a i n e K n o l l , 1919.

Franz Menges

Thomas Theodor Heine (1867-1948), Karikaturist und Zeichner

David (Thomas) Theodor Heine wurde am 28.2.1867 in Leipzig geboren. Sein Vater Isaac Heine aus Gandersheim (1831—1917) war Chemiker; er besaß die Leipziger Gummiwarenfabrik »Julius Marx, Heine & C o « . Seine Mutter Esther Hesse (1837-1908) war eine Fabrikantentochter aus Manchester, deren Eltern David Hesse und Clara Jacobs aus Bamberg stammten. Die Familie Heine stand dem national-liberalen Lager nahe; sie zählt zu den akkulturierten jüdischen Familien ihrer Zeit. So verwundert es nicht, daß der 22jährige David Theodor Heine der evangelischen Kirche beitrat und seinen ersten Vornamen in »Thomas« tauschte. Als Künstler interessierte er sich später nicht für jüdische Themen und selbst als verfolgter »Nicht-Arier« entwickelte er kein eigentliches jüdisches Bewußtsein. Heine besuchte die Thomasschule seiner Vaterstadt; er zeichnete sich besonders im Deutsch- und Zeichenunterricht aus. Als die »Leipziger pikanten Blätter« Zeichnungen des Untersekundaners veröffentlichten, wurde er 1884 der Schule verwiesen 1 . Heine ging 1885 an die Kunstakademie nach Düsseldorf, »damals noch eine ganz kleine Stadt, angefüllt mit Malern und Beamten« (Randbemerkungen), Peter Janssen und Eduard von Gebhardt waren seine - ungeliebten - Lehrer. 1887 hielt er sich für einige Monate in München auf, um sich 1889 endgültig in dieser Stadt niederzulassen. Er malte in impressionistischem Stil Landschaften (bei Dachau) und Porträts - mit einem Hang zur Idylle, gelegentlich auch schon zur Satire und grotesken Übersteigerung. 1898 unternahm er Studienreisen nach Frankreich, Italien und England. Seit 1893 lieferte Heine amüsante, harmlose Zeichnungen für die »Fliegenden Blätter«, seit 1895 auch für den »Pan«. 1918 steuerte er zum »Lumpenspiegel«, der im Verlag der »Lustigen Blätter« in Berlin erschien, 300 Karikaturen bei. Entscheidend wurde für ihn indes die Begegnung mit dem Verleger Albert Langen. Heine wandte sich nun, weitgehend dem Jugendstil folgend, der graphischen Gestaltung von Bucheinbänden zu2. Seine Buchtitel sowie Vignetten und Buchillustrationen verraten den Einfluß Aubrey Beardsleys 3 . Seine erste Buchillustration (Pierre d'Aubecq, Die Barrisons, 1897) zählt zu den schönsten des Jugendstils 4 . Neben Heinrich Vogeler und Marcus Behmer finden wir ihn als Typographen und Mitarbeiter der Zeitschrift »Insel«, die u.a. Heines Illustrationen zu H u g o von Hofmannsthals »Der Kaiser und die Hexe« veröffentlichte, des »Pan« und der »Jugend«. Er zeichnete 243

Reklameplakate für Ausstellungen 5 und für Firmen, entwarf Prospektumschläge und Stoffmuster. Sein berühmtes Plakat für »Die elf Scharfrichter« (1903) wurde den Plakaten eines Toulouse-Lautrec ebenbürtig zur Seite gestellt 6 . In Kotzebues »Deutschen Kleinstädtern« versuchte er sich 1908 als Bühnenbildner. Im Mittelpunkt seines Schaffens standen jedoch die Zeichnungen für den von ihm mit Albert Langen 1896 gegründeten »Simplicissimus«, für den eine Reihe hervorragender Schriftsteller und Künstler arbeiteten. Unter den Literaten begegnen Namen wie Hermann Hesse, Heinrich und Thomas Mann, Frank Wedekind, Ludwig Thoma, Jakob Wassermann und Rainer Maria Rilke, unter den Zeichnern waren Bruno Paul, Eduard Thöny, Rudolf Wilke, Olaf Gulbransson, Max Slevogt und Käthe Kollwitz. D e m Zeichner und Karikaturisten Thomas Theodor Heine, der von der Gründung bis zum Frühjahr 1933 an der Wochenschrift mitarbeitete, kommt in diesem Kreis eine herausragende Rolle zu. Der »Simplicissimus«, nach dem Vorbild des Pariser »Gil blas illustre« ursprünglich weniger als politisch-satirisches Blatt denn als literarische Illustrierte konzipiert, bot ihm jenen Spielraum, in dem sich sein kraftvolles zeichnerisches Talent entfalten konnte. In Heine fand die Zeit einen mutigen Kritiker, der ihr in intelligenten Karikaturen den Spiegel vorhielt. Der Einband für die Eröffnungsnummer stammt von Heine: Der Teufel liest, während er ein Mädchen entführt, Zeitung. Der Teufel, dem er durch den kleinen, bösen K o p f und den tierisch- plumpen, sich nach unten verdickenden Körper eine einprägsame Anatomie verlieh, sollte eine immer wiederkehrende Figur in seinem satirischen Werk werden. Zeichnete Heine anfänglich noch in historisierend-biedermeierlicher Art, so öffnete er sich bald den sozialen Problemen der Zeit. Von dem thematischen und ideellen Wandel abgesehen, fällt auf, daß Heine schon mit der Gründung der Zeitschrift seinen persönlichen Stil fand, den er beibehalten sollte. Erstaunlich ist auch die Vielseitigkeit seines zeichnerischen Schaffens sowie das breite thematische Spektrum, das von sonniger Heiterkeit bis zu beängstigender Bosheit reicht. Im 5. Heft des »Simplicissimus« erscheint erstmals die zähnefletschende rote Bulldogge, die sich von der Kette gerissen hat; sie wurde zum Wappentier der Zeitschrift. Seit dem 3. Jahrgang bestimmte die politische Karikatur den Charakter des »Simplicissimus«. Weniger witzelnd als mit ätzender Schärfe stellte Heine nun die doppelte Moral, die geistlos-stumpfe Genußkultur und die Spießeridylle des Bürgertums bloß - etwa in den »Bildern aus dem Familienleben«, die 1896-1909 im »Simplicissimus« erschienen. Als einziger Zeichner der Zeitschrift schrieb er regelmäßig auch den die graphische Aussage verstärkenden Begleittext. Zielscheibe seines bissig-aggressiven Humors waren vor allem die Vertreter jener starren Ordnung, in der sich für ihn das obrigkeitsstaatliche Denken der Wilhelminischen Ära manifestierte: Kaiser und Kanzler, Offiziere und Korpsstudenten, Lehrer, Pfarrer und Gendarmen. U n d doch konnte Heine eine gewisse Sympathie zum Philistertum nicht verbergen, wie umgekehrt

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gerade die von ihm Angegriffenen zu den treuesten Abonnenten des »Simplicissimus« gehörten. Als sich die Zeitschrift 1898 anläßlich der Palästinareise Kaiser Wilhelms II. über dessen romantische Kreuzfahrerpose lustig machte, kam es zum Eklat: Heine hatte den prunksüchtigen, großsprecherischen Kaiser in einer Zeichnung (Barbarossa mit Gottfried von Boullion), Frank Wedekind in einem Gedicht (»Im Heiligen Land«) verhöhnt. Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte am Druckort Leipzig das Heft und stellte Langen, Heine und Wedekind unter Anklage. Heine w u r d e am 19.12.1898 wegen Majestätsbeleidigung zu sechs Monaten Haft verurteilt, die er seit dem 29.3.1899 auf der Festung Königstein bei Dresden absitzen mußte. Zeitweise verbrachte er die Haft zusammen mit Frank Wedekind; dieser »hatte dort nur die Bibel lesen dürfen und dadurch etwas gelitten. Jeden Abend hielt er mir Vorträge über die Erotik in der Heiligen Schrift« (Randbemerkungen). Das Gnadengesuch, das die Kollegen des »Simplicissimus« an den sächsischen König gerichtet hatten, und das von so namhaften Künstlern wie M a x Klinger und Franz von Lenbach unterzeichnet worden war, hatte keinen Erfolg. Kurz vor Haftantritt brachte der »Simplicissimus« eine Darstellung Heines »Wie ich meine nächste Zeichnung machen werde«: Der Künstler zeichnet, an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt und v o m Staatsanwalt sowie von Polizisten bewacht, die zähnefletschende Bulldogge, das Markenzeichen des »Simplicissimus«. Die Legende lautet: »Ernst ist das Leben, heiter die Kunst!«. Die Affäre machte Heine und den »Simplicissimus« noch populärer; die Auflage stieg von 26000 auf über 55000. Nach der Haftentlassung eröffnete Heine im »Simplicissimus« die Serie »Durchs dunkelste Deutschland«, die er bis 1910 fortsetzte - noch schärfer in der sozialkritischen Tendenz, sarkastisch die D u m m h e i t und Grausamkeit der Herrschenden entlarvend. 1904/05 erschienen die »Bilder aus dem deutschen Pastorenleben«, 1903-1911 die »Galerie berühmter Zeitgenossen«. Im Februar 1906 forderten die Mitarbeiter des »Simplicissimus« unter Heines Führung von Langen eine Mitbeteiligung, andernfalls sie ein eigenes Blatt »Till Eulenspiegel« gründen wollten. Der »Simplicissimus« w u r d e in eine G m b H umgewandelt; Langen behielt knapp die Hälfte, jeder Mitarbeiter erhielt jeweils einen, Heine und Ludwig T h o m a je zwei Anteile. 1909 starben Albert Langen, Ferdinand von Reznicek und Rudolf Wilke - ein schwerer Schlag für den »Simplicissimus«, auf dessen Titelseite Heine seither setzen ließ: »Begründet von Albert Langen und T h o m a s T h e o d o r Heine«. Die Wahlen z u m Reichstag und zum bayerischen Landtag 1907 stimmten Heine optimistisch, hatten doch die fortschrittlichen Kräfte Boden gewonnen. Er gründete ein von ihm allein bestrittenes Blatt »Der grüne Mops«, dessen erste N u m m e r er unter das Leitthema stellte: »Das Wieder-Erwachen des Liberalismus«. »Der M o p s ist das Sinnbild des liberalen deutschen N o r m a l b ü r gers, der jahrelang, behäbig gealtert, dahinschnarchte. Hurra! N u n ist er plötzlich verjüngt aus der Wahlurne gestiegen!«. Da das Blatt jedoch nicht die erhoffte Resonanz fand, w u r d e es nicht fortgeführt.

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Es fehlte nicht an Ehrungen für Thomas Theodor Heine: 1904 eröffnete Hermann Ess wein im Piper Verlag die Reihe »Moderne Illustratoren« mit einer Monographie über den Künsticr. 1909 fand in München eine Ausstellung mit Werken Heines statt. Am 27.10.1922 wurde er ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin; am 9.12.1933 sollte ihm freilich die Mitgliedschaft wegen seiner Abstammung abgesprochen werden. 1926 beteiligte sich Heine an der Internationalen Kunstausstellung in Dresden, im folgenden Jahr an der Herbstausstellung der Preußischen Akademie der Künste. Anläßlich seines 60. Geburtstags zeigte die Münchener Neue Secession, der er seit 1919 angehörte, einen Überblick über Heines Werk; Emil Preetorius hielt die Eröffnungsrede 7 . Die Akademie der Bildenden Künste zu Dresden ernannte ihn zum Ehrenmitglied. Aufschlußreich für die politische Haltung Thomas Theodor Heines ist seine Reaktion auf die politischen Ereignisse 1914, 1918 und 1933. In der ersten Redaktionssitzung nach der Kriegserklärung 1914 schlug Chefredakteur Ludwig T h o m a vor, das Erscheinen der Zeitschrift einzustellen, da ein oppositionelles Blatt während eines Defensivkrieges seine Berechtigung verloren habe. Heine widersprach energisch und konnte sich schließlich mit seiner Ansicht durchsetzen: Jetzt komme eine große Zeit für den »Simplicissimus«, der sich vorbehaltlos zum Patriotismus bekennen und die Kriegspolitik der Reichsregierung unterstützen müsse; die Leser seien ohnehin der ewigen Leutnants- und Junkerwitze überdrüssig geworden. Durch diesen Kurswechsel verscherzte man sich allerdings viele Sympathien. Die große Zeit des »Simplicissimus« war 1914 vorüber, die rote Bulldogge hatte - zumindest für die Dauer des Weltkrieges - ihre Zähne verloren. Den politischen Umwälzungen 1918 stand Thomas Theodor Heine distanziert gegenüber. In seinen »Randbemerkungen« berichtet er von »den grausigen Ereignissen der Revolutionszeit, als die roten Horden unsere Redaktion stürmten und brüllend die Herausgabe aller Maschinen und Druckmaterialien verlangten... Sie begnügten sich mit einer Flasche guten alten Kirschwassers und entfernten sich, nachdem sie alle vorhandenen Zigarren geraucht hatten«. Trotz seines sozialkritischen Engagements fand Heine letztlich keinen Zugang zur Arbeiterklasse, sondern blieb ein national-liberaler Konservativer. Obwohl er z . B . in seiner Malerei vom Impressionismus beeinflußt war, unterzeichnete er 1911 den sog. Vinnschen Protest gegen die angebliche Bevorzugung französischer Impressionisten bei der Ankaufpolitik deutscher Museen. Auch in seiner Kunst zeigen sich Gegensätze zwischen den Zeichnungen realistisch-kulturkritischer Art (Bilder aus dem Familienleben, Des deutschen Michels Bilderbuch,1921) und den farbigen, flüssig-linearen Blättern symbolhafter Darstellung, in denen Heine Elemente des Jugendstils bisweilen mit Biedermeier-Reminiszenzen parodistisch verbindet. Wilhelm Hausenstein 8 hat wohl recht, wenn er die Vielseitigkeit in der Kunst Heines aus dem Widerspruch zwischen konservativer Haltung und oppositionellem Geist zu erklären versucht.

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In der Nachkriegszeit geriet der »Simplicissimus« infolge von Inflation und Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten. Heine n a h m durch Oswald Spenglers Vermittlung Kontakt zu Stinnes auf, der sich für den Kauf des Blattes interessierte. H e r m a n n Sinsheimer, der T h o m a s T h e o d o r Heine als »nihilistischen Spießer« und Opportunisten bezeichnete 9 , konnte als Chefredakteur (seit 1924) die wirtschaftlichen Schwierigkeiten meistern. Ihm folgten 1929 Franz Schoenberner, ein Gefährte Heines im K a m p f gegen den erstarkenden Nationalsozialismus 10 , sowie 1933 Wilhelm Schulz und Anton Rath, 1934 Karl Arnold. Nachdem die Nationalsozialisten auch in Bayern die Macht ü b e r n o m m e n hatten, drang die SA in der Nacht v o m 12. auf den 13. März 1933 in die Redaktionsräume des »Simplicissimus« ein, u m belastendes Material sicherzustellen; Schoenberner m u ß t e fliehen. Der fränkische Gauleiter Julius Streicher rief die Zeichner des »Simplicissimus« im M ü n c h n e r Hotel »Königshof« zusammen, u m die Gleichschaltung des Blattes in die Wege zu leiten". T h o m a s T h e o d o r Heine erhielt ein Jahr, Karl Arnold ein halbes Jahr Berufsverbot; sie galten - neben Schoenberner — zu Recht als die entschiedensten Gegner des Nationalsozialismus innerhalb der Redaktion. Heine w u r d e zudem vorgeworfen, seine Kollegen zu nazifeindlichen Äußerungen verfuhrt zu haben. N u r widerstrebend ließ Heine, den Ernst der Lage verkennend, sich im April 1933 zur Flucht überreden; sie führte ihn über Berlin nach Prag 12 . Im August 1935 ging er nach Brünn, wo er bei den Architekten O t a und Moriz Eisler A u f n a h m e fand und sich häufig mit Oskar Maria Graf traf. Er arbeitete an der literarischen Monatsschrift »Die Sammlung« mit, die Klaus Mann bis 1935 in A m s t e r d a m herausgab, vor allem auch am »Prager Tagblatt« und an der »Prager Presse«, später an der Brünner »Lidove Noviny«. An der KarikaturenAusstellung 1934 im Prager Künstlerverein Mänes, die besonders durch die Arbeiten von George Grosz und John Heartfield zu einer antifaschistischen Demonstration wurde, war er mit 27 Blättern beteiligt. Mit Kritik an den Nationalsozialisten hielt sich Heine zurück. Er wollte seine Frau und seine Tochter, die zurückgeblieben waren, nicht in Gefahr bringen; zudem hoffte er lange Zeit auf eine Möglichkeit der Rückkehr. Nach dem »Anschluß« des Sudetenlands an das Deutsche Reich flüchtete Heine Ende N o v e m b e r 1938 mit Hilfe des Nansen-Ausschusses über Kopenhagen nach Oslo. Ragnvald Blix, ein ehemaliger Mitarbeiter des »Simplicissimus«, sowie M a x Tau und dessen Frau standen ihm zur Seite". Heine malte wieder Landschaften und Porträts und lieferte Zeichnungen für die »Göteborger Handels- och Sjöfarts-Tidning«. Im April 1940 richtete die Gestapo ihre Dienststelle in dem von Heine bewohnten Haus ein. M a n verbot ihm, für Zeitungen zu zeichnen und »entartet« zu malen; schließlich m u ß t e er sein Atelier räumen. Im Dezember 1942 floh Heine mit Hilfe des schwedischen Ministers Günther nach Stockholm, w o Elly Petersen und der Maler Lindahl für ihn sorgten". Er fertigte Karikaturen für den »Söndagsnisse-Strix«, das »Svenska Morgonbladet« und das »Svenska Dagbladet«, in denen er den 247

Nationalsozialismus rückhaltlos anprangerte, zumal er keine Rücksicht mehr auf Frau und Tochter zu nehmen brauchte - sie waren 1939 bzw. 1942 gestorben - , und an eine Rückkehr nach Deutschland nicht mehr zu denken war. 1947 nahm Heine die schwedische Staatsbürgerschaft an. 1945 erschien in Stockholm Heines bereits 1941 entstandener Roman »Ich warte auf Wunder«, eine ironische Auseinandersetzung mit dem Bürgertum. Der Roman trägt deutlich autobiographische Züge, obwohl der Autor dies im Vorwort bestreitet. Als Heine 1946 in Deutschland irrtümlicherweise totgesagt wurde, antwortete er mit dem »Brief aus dem Jenseits« 15 . Im selben Jahr erschien in Braunschweig seine illustrierte Märchensammlung »Seltsames geschieht«. In der Vorbemerkung schreibt Heine: »Eine Frage ist, ob nicht alles, was in der realen Welt vorgeht, ebenso sinnlos ist wie unsere Träume und erst zu vernünftigen Tatsachen gestaltet wird, wenn wir es wahrgenommen und durch das Gehirn in logische Geschehnisse umgearbeitet haben, eine Arbeit, die bei vielen Vorgängen der letzten Jahre nur schwer gelingen mochte. Sie bleiben wüste, sinnlose Träume, bis nach geraumer Zeit die Erinnerung an sie so verblaßt ist, daß sie von Historikern zu Märchen benutzt werden können, die man Weltgeschichte nennt«. Heine bedient sich hier der Märchenform, um seiner Umwelt - besonders den Herrschenden und den Bürokraten - den Spiegel ihrer Anmaßung vorzuhalten. Anläßlich seines 80. Geburtstags wurde Heine durch eine Ausstellung seiner Werke im Schwedischen Nationalmuseum geehrt. Wenig später, am 26. Januar 1948, starb er in Stockholm. Sein Nachlaß befindet sich in der Städtischen Galerie München 16 .

Anmerkungen 1 »Gedrucktes zu veröffentlichen, war auf der Schule ein Schwerverbrechen. Vor dem Lehrerkonsilium verglich mich der Rektor in schwungvoller Rede mit Catilina. E r fühlte sich als Leipziger Cicero und vertrieb mich aus seinem Reich« ( T h o m a s T h e o d o r Heine: Randbemerkungen zu meinem L e ben, in: U h u 3 (1926/27)). 2 Z u Werken von Prevost, Hamsun, Holitscher, Bahr, B i e r b a u m . E r e n t w a r f auch U m s c h l ä g e fur die Verlage S. Fischer, Hans von Weber und den Insel Verlag; Tillmann, Curt: Broschur- und Schutzumschlagentwürfe von T h . T h . Heine, in: Imprimatur N F 5 (1967), S. 6 4 f f . weist 157 E n t w ü r f e nach.

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3 Bie, O s c a r : T h o m a s T h e o d o r Heine als Illustrator, in: Wieland 3, H. 3 (1917), S. 9 f.; Poppenberg, Felix: B u c h s c h m u c k von T.T. Heine, in: Zeitschrift f. Bücherfreunde 1, H . 5 (1897), S. 2 6 4 f f ; Salzmann, K . H . : T h o mas T h e o d o r Heine, der Karikaturist, Buchkünstler und Gebrauchsgraphiker, in: F o r m und Technik 5 (1954), S. 209-211; ders.: In m e m o r i a m T h o m a s T h e o d o r H e i ne, in: Aufbau 4 (1948), S. 249-253. V g l . außerdem: Corinth, Lovis: T h o m a s T h e o dor Heine und M ü n c h e n s Künstlerleben am Ende des vorigen Jahrhunderts, in: Kunst und Künstler 4 (1905/06), S. 143-156; G r o ß mann, Rudolf: ebd. 2 4 (1924/25), S. 149156; Roth, E u g e n : Simplicissimus, H a n n o -

ver 1954; Lang, Lothar: Thomas Theodor Heine, München 1970; Kluge, Manfred: Das kleine Th.Th. Heine-Buch, München 1972; Simplicissimus, Ausstellungskatalog (Haus der Kunst), München 1977; Stüwe, Elisabeth: Der »Simplicissimus«-Karikaturist Thomas Theodor Heine als Maler, Frankfurt 1978; Allen, Ann Taylor: Satire and Society in Wilhelmine Germany, Kladderadatsch & Simplicissimus 1890-1914, Kentucky 1984. 4 Außerdem: Wilhelm Heinses Sämtliche Werke, Leipzig 1903; Hebbel, Friedrich: Judith, 1908; Mann, Thomas: Waelsungenblut, 1921 (Neuaufl. 1976); Blei, Franz: Großes Bestiarium der modernen Literatur, 1922; Schnellpfeffer, Jakobus (C.G. Maassen): Die Gedichte eines Gefühllosen, 1923; Deffner, Georg: Erbtante Germania und ihre enthüllten Liebhaber, 1925. 5 Berliner Secession 1905 und 1913. Der 1892 gegründeten Münchener Secession gehörte Heine nur kurze Zeit an; vgl. Secession, Europäische Kunst um die Jahrhundertwende, Ausstellungskatalog (Haus der Kunst) München 1964. 6 Hölscher, Eberhard: Der Zeichner Thomas Theodor Heine, Freiburg 1955; ders.: Die Persönlichkeit Th.Th. Heines, in: Hans Lamm (Hg.): Von Juden in München, M ü n chen 1958, S. 141 f.; ders.: Th. Th. Heine und das Buch, in: Imprimatur N F 5 (1967), S. 56 ff.

7 Gedruckt in: Kunst u. Künstler 25 (1926/ 27), S. 291-296. 8 Hausenstein, Wilhelm: Die bildende Kunst der Gegenwart, Stuttgart 31923; ders.: Der Simplicissimus, München 1932. 9 Sinsheimer, Hermann: Gelebt im Paradies, Erinnerungen und Begegnungen, München 1953. 10 Schoenberner, Franz: Bekenntnisse eines europäischen Intellektuellen, Icking 1964. 11 Erklärung der Redaktion v. 16.4.1933. Drei Jahre später wurde die SimplicissimusG m b H aufgelöst; Knorr & Hirth (München) übernahm das Blatt, dessen letzte N u m m e r am 13.9.1944 erschien. 12 Soukupov, Vera/Star, Dagmar: Thomas Theodor Heine als Emigrant in der Tschechoslowakei, in: Bildende Kunst 10 (1962), S. 605-610. 13 Tau, Max: Ein Flüchtling findet sein Land, Hamburg 1964; Müssener, Helmut: Die deutschsprachige Emigration in Schweden nach 1933, Diss., Uppsala 1971; Nelson, Otto M.: Th. Th. Heine, His Expatriate Correspondence, in: Library Chronicle 8 (1974), S. 41-47. 14 Petersen, Elly: Thomas Theodor Heine zum 80. Geburtstag, in: Das Kunstwerk 1 (1946/ 47), S. 72. 15 In: Heute 1, Nr. 17 (1946), S. 15-17. 16 Gedächtnisausstellung Thomas Theodor Heine, 1867-1948, Braunschweig 1949; Thomas Theodor Heine, Aus dem Nachlaß, Ausstellungskatalog, München (Städtische Galerie) 1960.

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Helmut Hanko

Kurt Eisner (1867-1919), Bayerischer Ministerpräsident

»Ein bayerisches Staatsoberhaupt, das Jude, Preuße und überzeugter Sozialist zugleich war, ist unvereinbar mit dem Geschichtsbild v o m königstreuen Bayernvolk...« 1 . Dies kennzeichnet die Schwierigkeiten der historischen Einordnung des ersten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner, der kein Glaubensjude und auch kein linientreuer Sozialist, dafür aber ein überzeugter Gegner Preußens gewesen ist. Kurt Eisner, am 14. Mai 1867 in Berlin geboren, entstammte einem gutbürgerlichen deutsch-jüdischen Elternhaus. Der Vater E m m a n u e l Eisner, Sohn eines Branntweinhauspächters im mährischen Studenic, war als j u n g e r Mann nach Berlin g e k o m m e n und hatte eine »Militair-Effecten-Fabrik« gegründet, deren geschäftlicher Erfolg ihm das Prädikat eines »Hoflieferanten Seiner Majestät des Kaisers und Königs von Preußen« eintrug. Die Mutter war eine jüdische Kaufmannstochter aus dem ostpreußischen Rastenburg, nach der Beschreibung Wilhelm Hausensteins eine »artige, stille, freundliche, geordnete Bürgerin« 2 . Während der Vater vermutlich der Berliner jüdischen Kultusgemeinde angehörte, ist für Kurt Eisner eine solche Verbindung nicht nachzuweisen. »Man kann sich von der alten Religion lösen, aber keine neue bilden« 3 , notierte er zu seiner eigenen Glaubenssituation, die der vieler jüdischer Intellektueller seiner Zeit glich. Er bewunderte das Bekenntnis seines Lehrers H e r m a n n C o h e n zum J u d e n t u m , doch in Eisners Argumenten und Bekenntnissen zur »Religion des Sozialismus« finden sich kaum jüdische, dafür aber sehr viele christliche Elemente. Im Herbst 1875 trat Kurt Eisner in das angesehene Askanische Gymnasium ein und blieb dort auch, nachdem der Vater 1877 sein Geschäft hatte verkaufen müssen und bei dem neuen Eigentümer als Angestellter arbeitete. 1886 begann Kurt Eisner das Studium der Philosophie und Germanistik an der Berliner Universität, doch zwangen ihn seine beengten finanziellen Verhältnisse, es während der Vorarbeiten zu seiner Dissertation Ende 1889 abzubrechen. In seiner Marburger Zeit besuchte er die Vorlesungen des dort lehrenden Neukantianers H e r m a n n C o h e n und beschäftigte sich intensiv mit dessen These einer Wesensverwandtschaft zwischen der Ethik Kants und dem Sozialismus. Der Versuch Cohens, seinen Schüler zur Promotion und Habilitation zu bewegen, schlug fehl. Eisner fühlte sich wohl weniger zur wissenschaftlichen Arbeit hingezogen als zum politischen Journalismus, obwohl er bereits in seinem 1892

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in Leipzig erschienenen Buch »Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft« durchaus die Fähigkeit zur theoretischen Auseinandersetzung mit philosophischen Problemen bewiesen hatte. Seine journalistische Laufbahn begann Eisner 1890 als Berichterstatter für Reichs- und Landtagssitzungen im Berliner Depeschenbureau »Herold«. Ende 1891 w u r d e er Nachtredakteur bei der »Frankfurter Zeitung«, die ihn allerdings schon im April 1893 wegen seiner Arbeiten für andere Zeitungen (häufig unter Pseudonymen) wieder entließ. In M a r b u r g fand er als politischer Redakteur der den Sozialdemokraten nahestehenden »Hessischen Landeszeitung« ein umfassendes Tätigkeitsfeld: Seine Leitartikel, denen hohe journalistische Qualität bescheinigt wurde, beschäftigten sich mit außenpolitischen Fragen ebenso wie mit der Verteidigung des Föderalismus gegen den übermächtigen Einfluß Preußens im Deutschen Reich. Gleichzeitig schrieb Eisner für die Berliner Zeitschrift »Die Kritik. Wochenschau des öffentlichen Lebens« in loser Folge seine »Provinzialbriefe«. Im Januar 1897 erschien hier unter dem Titel »Ein undiplomatischer Neujahrsempfang« eine scharfe Kritik an Kaiser Wilhelm IL, die ihm eine neunmonatige Gefängnisstrafe wegen Majestätsbeleidigung eintrug. Nach Eisners Entlassung aus der Haftanstalt Plötzensee holte ihn Wilhelm Liebknecht, Chefredakteur des sozialdemokratischen »Vorwärts«, im Herbst 1898 als primus inter pares des zehnköpfigen Redaktionskollegiums nach Berlin. D o r t geriet er in den heftigen Richtungsstreit innerhalb der SPD zwischen den »Radikalen« u m August Bebel und Karl Kautsky und den »Revisionisten«, die - nach dem Vorbild des von Eisner sehr geschätzten französischen Sozialisten Jean Jaures - eine parlamentarische Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften anstrebten. Seine Vermittlungsversuche brachten Eisner »in eine gefährliche Isolation innerhalb der Partei« 4 . Kautsky nannte schließlich die »Vorwärts«-Redaktion einen »Krebsschaden« 5 , worauf Eisner Ende 1905 von seinem Posten zurücktrat. Es blieb eine tiefgehende Abneigung gegen die Berliner Parteiführung. D a f ü r fand er Zeit, neben einer Biographie Wilhelm Liebknechts ein Buch über Preußen im Zeitalter der Französischen Revolution zu schreiben: »Das Ende des Reiches«, 1907 in Berlin erschienen, wies ihn als »Talent der sozialistischen Geschichtsschreibung« aus. 1907 ging Kurt Eisner nach N ü r n b e r g zur »Fränkischen Tagespost«. Die von Georg von Vollmar in klarem Gegensatz zu Bebel geführte bayerische SPD schien ihm ein seinen politischen Vorstellungen adäquateres Betätigungsfeld zu bieten: Auf d e m Landesparteitag 1908 in M ü n c h e n bezeichnete er »die alte Mainlinie als einen politischen Abgrund« und trat »für ein gemeinsames Vorgehen der süddeutschen Sozialdemokraten gegen die sozialpolitische Rückständigkeit Preußens ein« 6 . Er hatte jedoch auch weiterhin keinen wirklichen Rückhalt in der Parteihierarchie. Z u d e m mißfiel den N ü r n b e r g e r Sozialdemokraten die starke Betonung der Außenpolitik in Eisners journalistischer Arbeit; auf ihr Drängen hin beendete er 1910 seine dortige Tätigkeit. So kam Eisner, »ein kleiner M a n n mit schütterem hellbraunen Haar und einer 252

Brille mit Eisenrahmen, der Berliner Akzent sprach« 7 , aber inzwischen die bayerische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, 1910 als Schriftsteller nach München. Als freier Mitarbeiter der sozialdemokratischen »Münchener Post«, Theaterkritiker und Verfasser des beliebten »Arbeiterfeuilletons« wurde er in der Münchener Öffentlichkeit bekannt. Seine Tätigkeit als parlamentarischer Berichterstatter verschaffte ihm Kenntnisse der politischen Entwicklungen, die seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit der Sozialdemokratie mit dem liberalen Bürgertum bestärkten. In die Führung der bayerischen Sozialdemokratie war er jedoch nicht eingebunden. Mit dem Weggang aus Berlin hatte Eisner auch seine bürgerliche Existenz aufgegeben: Seine Frau Liesbeth, die er 1892 geheiratet hatte, blieb mit fünf Kindern zurück. Da sie in eine Scheidung nicht einwilligte, lebte Eisner in München mit der Sozialistin Else Belli bis zur Eheschließung 1918 »in freier Gewissensehe verbunden« 8 in einem kleinen Haus nahe dem Waldfriedhof, auch geographisch am Rande der Stadt. Bei Kriegsausbruch 1914 glaubte Eisner, ein »überzeugter Anhänger des Grundsatzes der Vaterlandsverteidigung im Falle eines Verteidigungskrieges« 9 , zunächst an einen russischen Angriff, kam aber bald zu dem Schluß, daß der Krieg durch das Deutsche Reich mit verursacht worden sei. Im pazifistischen »Bund Neues Vaterland« begann er eine konsequente Agitation gegen die deutsche Kriegspolitik, die ihn abermals in Gegensatz zur sozialdemokratischen Parteiführung brachte und auch von einer weiteren Mitarbeit am politischen Teil der »Münchener Post« ausschloß. Dennoch trat er dafür ein, die Linie der S P D durch eine innerparteiliche Opposition zu beeinflussen - auch noch auf der Tagung der sozialistischen Oppositionsgruppen im April 1917 in Gotha, wo mit der Gründung der »Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschands« (USP) die Spaltung vollzogen wurde. Eisner baute zwar die Münchner Ortsgruppe der U S P mit auf, weigerte sich aber, deren Vorsitz zu übernehmen, und blieb weiterhin ohne Parteiamt. In regelmäßigen Diskussionsabenden suchte er vor allem die von ihm als besonders dringlich angesehene Jugendarbeit zu aktivieren. So scharte er einen kleinen Kreis überzeugter Anhänger um sich und wurde nicht nur der »Chefideologe der Münchener Unabhängigen« 1 0 , sondern auch Leitfigur einer über die U S P hinausgehenden Friedensbewegung. Die trotz der Friedensresolution der Reichstagsmehrheit vom Juli 1917 weiter betriebene Annexionspolitik der Obersten Heeresleitung zeigte für Eisner faktische Machtverhältnisse auf, die mit parlamentarischen Aktionen nicht zu verändern waren. Er war der geistige Führer der Januarstreiks 1918 in München, trat bei Massenversammlungen als Hauptredner erfolgreich gegen die Versuche der »Mehrheitssozialistischen Partei« (MSP) auf, die Streiks zu verhindern, und redete offen von der notwendigen Revolution zur Beseitigung von Monarchie und Militarismus. A m 31. Januar 1918 wurde Eisner zusammen mit anderen Streikführern verhaftet. Der Rücktritt Vollmars von seinen Ämtern im August 1918 machte

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im Rcichstagswahlkreis München II eine Nachwahl erforderlich, für die Eisner von der U S P als Kandidat nominiert wurde. Das Reichsgericht in Leipzig verfugte gegen den Widerstand der bayerischen Behörden seine Entlassung aus der Untersuchungshaft. Er kam am 14. O k t o b e r 1918 frei und nahm sofort den Wahlkampf mit seinem Gegenkandidaten Auer auf. Eisner forderte eine grundlegende politische Veränderung, wenn notwendig auch durch eine Revolution. Dabei deutete er schon an, daß Deutschland, u m zu einem Frieden zu k o m m e n , seine Mitschuld am Krieg eingestehen müsse. Angesichts der Bedrohung der bayerischen Südgrenze durch den Z u s a m menbruch Österreichs, der hoffnungslosen Lage an der deutschen Westfront und der katastrophalen Ernährungssituation Anfang N o v e m b e r rief Eisner dazu auf, »wenn nicht anders, so durch Gewalt eine Volksregierung zu schaffen, die sofort Frieden schließe, damit das bayerische Volk nicht vernichtet werde«". Die bayerische Regierung erwies sich als hilflos; Auer und die von ihm geführte M S P glaubten, durch gemeinsame Aktionen könne die U S P an radikalen Maßnahmen gehindert werden. Das Ergebnis der Friedensdemonstration am 7. N o v e m b e r 1918 erwies, daß dies ein Trugschluß war: Während Auer zu einer Schlußkundgebung z u m Friedensengel zog, rief Kurt Eisner die Revolution aus. Tags darauf wählte ihn der »Provisorische Nationalrat« z u m Ministerpräsidenten und Minister für Auswärtige Angelegenheiten des Volksstaates Bayern. Erhard Auer w u r d e Innenminister. Beide Männer verfolgten höchst unterschiedliche Ziele: Eisner konnte seine gewaltlose Politik der Verständigung und Versöhnung nicht ohne die vorhandenen Instrumentarien umsetzen - und diese, insbesondere die fast unangetastet bleibende Staatsverwaltung, waren nur zur Zusammenarbeit mit der M S P und besonders mit Auer bereit. Dieser wiederum wollte die revolutionäre Strömung kanalisieren und seinen Vorstellungen einer evolutionären Veränderung des Staates dienstbar machen. Damit war der Idealist Eisner als Politiker zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Während im Ministerrat die sachlichen und persönlichen Differenzen kaum verhehlt zutagetraten, scharte sich die extreme Linke, von Eisner enttäuscht, u m den Anarchisten Erich M ü h s a m und den Spartakisten M a x Levien und forderte die Fortsetzung der Revolution. Auch die Vorstellung Eisners, durch ein Miteinander von Parlament und Räten eine »Demokratisierung der Gesellschaft von unten nach oben« 12 bewirken zu können, ging nicht auf. Die M S P suchte die politischen Kompetenzen der Arbeiter- und Soldatenräte einzudämmen, Eisner aber ließ ihre Kompetenzen weitgehend Undefiniert. Der Versuch, über den Nachweis der Schuld Deutschlands am Krieg die Versöhnungsbereitschaft der Entente bei den Friedensverhandlungen zu fördern, diskreditierte Eisner vollends: Die gekürzte Veröffentlichung von D o k u menten sowie seine Rede auf d e m Internationalen Sozialistenkongreß in Bern im Februar 1919 brachten ihm den Vorwurf ein, die deutsche Sache verraten zu haben. Auch seine konsequente Ablehnung des deutschen Einheitsstaates und sein Widerstand gegen den Verfassungsentwurf von H u g o Preuß w u r d e nicht

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als »Föderalismus« gewürdigt, sondern als »Partikularismus« kritisiert. So hatten die Wahlen z u m Bayerischen Landtag im Januar 1919 auch ein für Eisner und die U S P katastrophales Ergebnis. Als Eisner sich - nach einigem Zögern am 21. Februar 1919 auf den Weg in den Landtag begab, u m als Konsequenz seiner Wahlniederlage seinen Rücktritt als bayerischer Ministerpräsident zu erklären, w u r d e er von dem Leutnant Anton Graf Arco-Valley ermordet. Die zahlreichen Nachrufe würdigten Eisners Idealismus; seine Ideen aber wurden mit ihm zu Grabe getragen.

Anmerkungen 1 Wiesemann, Falk: K u r t Eisner. Studie zu seiner politischen Biographie, in: Bosl, Karl (Hg.): Bayern i m U m b r u c h . Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf u n d ihre Folgen, M ü n c h e n 1969, S. 387. Z u r Biographie K u r t Eisners ferner: Bauer, Franz J.: Die Regierung Eisner 1918/ 19. Ministerratsprotokolle u n d D o k u m e n te, Düsseldorf 1987; Eisner, Freya: Kurt Eisner. Die Politik des libertären Sozialism u s , Frankfurt 1979; Eisner, Kurt: G e s a m melte Schriften, 2 Bde., Berlin 1919; ders.: Mein Gefängnistagebuch, in: Die M e n s c h heit 15 (1928), Nr. 3 bis 9; Mitchell, Allan: Revolution in Bayern 1918/1919; Die Eisner-Regierung und die Räterepublik, M ü n chen 1967; Schade, Franz: K u r t Eisner u n d

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

die bayerische Sozialdemokratie, H a n n o v e r 1961; Schmölze, Renate u. Gerhard (Hgg.): K u r t Eisner. Die halbe Macht den Räten. Ausgewählte Aufsätze und Reden, Köln 1969. Hausenstein, Wilhelm: E r i n n e r u n g an Eisner, in: D e r N e u e M e r k u r 3, 1 (1919), S. 63. Schmölze, S. 45. Wiesemann, S. 390. Mitchell, S. 45. Wiesemann, S. 393. Mitchell, S. 48. Schmölze, S. 50. Zit. nach Wiesemann, S. 395. Wiesemann, S. 400. Zit. nach Wiesemann, S. 405. Wiesemann, S. 418.

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Heinrich von Bonhorst

Karl Neumeyer (1869-1941), Jurist

Der Jurist Karl Neumeyer zählte zu den hervorragenden Rechtsgelehrten, die durch große Begabung und unermüdlichen Fleiß der Forschung eigene Wege gewiesen haben. Sein bedeutendstes Werk ist das fünfbändige »Internationale Verwaltungsrecht«, in dem er seine Gedanken und Erkenntnisse in umfassender Weise niedergelegt hat. Karl Neumeyer wurde am 19. September 1869 in München als zweites Kind von Leopold Neumeyer (1828-1921) und seiner Gattin Fanny geb. Müller (1843-1890) geboren. Sein Vater war Kaufmann und kam 1861 aus dem Nördlinger Ries nach München, wo er ein Handelsgeschäft zusammen mit Josef Eichhorn und seinem Schwager Hermann Müller gründete. Karl Neumeyer besuchte drei Jahre die Volksschule und anschließend das Maximiliansgymnasium. Als sich Karl mit farbentragenden Klassenkameraden im elterlichen Haus traf, wurde er 1887 aus dem Gymnasium dimittiert. Sein Abitur legte er in Passau mit großem Erfolg ab. Bei der Berufswahl wurde zunächst der Eintritt in das elterliche Geschäft erwogen. Dazu konnte er sich jedoch nicht entschließen und begann, wie schon zuvor sein Bruder Alfred, mit dem Jurastudium. Z u m Militär wurde er wegen »schwächlichen Körperbaus« nicht eingezogen. Zunächst studierte Karl Neumeyer vier Semester in München, wechselte dann nach Berlin und Genf für je ein Semester und kehrte die letzten zwei Semester nach München zurück. 1891 bestand er das erste juristische Staatsexamen mit Erfolg. Neben dem juristischen Studium beschäftigte er sich mit Sprachen, was ihm bei seiner späteren Tätigkeit von großem Nutzen war. Noch 1891 konnte er promovieren. An einer Preisaufgabe, die die Juristische Fakultät der königlichen Universität München mit dem Thema »Historische und dogmatische Darstellung des strafbaren Bankerotts« stellte, beteiligte sich Karl Neumeyer auf Anraten seines Bruders Alfred, und seine Arbeit wurde als beste ausgezeichnet. An das erste Examen und die Promotion Schloß sich eine dreijährige Tätigkeit als Rechtspraktikant an. Zwischen 1894 und 1900 arbeitete Neumeyer an seiner Habilitationsschrift über »Die gemeinrechtliche Entwickelung des internationalen Privat- und Strafrechts bis Bartolus«. 1901 konnte der erste Teil dieser Abhandlung, die sich mit der »Geltung der Stammesrechte in Italien« beschäftigte, als Habilitationsschrift eingereicht werden. Die Untersuchung geht der Frage nach, ob vor 257

Bartolus, der als Begründer des internationalen Privatrechts angesehen wird, Ansätze zu einem Kollisionsrecht existierten. Die Bibliotheken von Prag, Leipzig, Trier, Bamberg, Berlin stellten ihm Drucke, diejenigen von Venedig, Pisa, Florenz, Rom und Neapel außerdem Handschriften fur diese Arbeit zur Verfügung. »Und eine Flut von Wünschen« - so Neumeyer selbst — »hat sich über die beiden Münchener Bibliotheken und über die Königlich bayerische und Königlich italienische Regierung ergossen«, die ihm unter anderem die Benutzung der wichtigen Handschrift des Blasius de Morcono aus Neapel in München gestattete. Anhand einer sorgfältigen Analyse dieses Quellenmaterials beschreibt Neumeyer Fragestellungen, die sich in Fällen der Kollision von Landesrechten und persönlichen Rechten im italienischen Hochmittelalter ergeben. Der zweite Teil, »Die gemeinrechtliche Entwickelung bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts«, der 1916 erschien, nimmt zur herrschenden Praxis und den Schulen der Legisten und Kanonisten bis 1250 Stellung. Zwei im Jahr 1941 fertiggestellte Manuskripte sollten die Lücke bis zum Tod Bartolus schließen. Die Arbeit wurde auf Vorschlag der Gutachten von Lothar v. Seuffert und Karl v. Amira angenommen. Noch 1901 begann Neumeyer seine Tätigkeit als Privatdozent an der Universität München. Es wurde ihm die venia legendi für internationales Privat-, Straf-, Prozeß- und Verwaltungsrecht erteilt. Der Antrag auf Erteilung der venia legendi für Strafrecht wurde abgelehnt, da die Habilitationsschrift zum Strafrecht in keinem Bezug stand. Die venia legendi für Strafrecht erhielt Neumeyer dann 1903 aufgrund einer Abhandlung über »Die verbotene Handlung im internationalen Strafrecht«. Aus seinem privaten Leben ist zu berichten, daß in diese Zeit (1.4.1900) die Heirat mit Anna Hirschhorn (1879-1941) fällt, einer lebensfrohen Mannheimerin, die den stillen Gelehrten auf das Trefflichste ergänzte. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, Alfred (1901-1973) und Fritz (1905-1975). 1908 wurden Karl Neumeyer Titel und Rang eines außerordentlichen Professors verliehen. Seine Lehraufgabe waren die Fächer internationales Privat-, Straf- und Verwaltungsrecht, Vergleichung der modernen Rechte, allgemeine Rechtslehre und deutsches Kolonialrecht mit Eingeborenenrecht. 1910 erschien der erste Band des »Internationalen Verwaltungsrechts« (weitere erschienen 1922, 1926, 1930 und 1936). Unter internationalem Verwaltungsrecht, einem Nachbargebiet des internationalen Privatrechts, verstand Neumeyer nicht einen Zweig des Völkerrechts, der von dem Recht gemeinsamer Verwaltung innerhalb einer Staatengruppe oder innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft handelt, sondern die Lehre von den Grenzen, in denen das jeweilige innerstaatliche Verwaltungsrecht Geltung besitzt. So umfaßt das internationale Verwaltungsrecht die Rechtssätze eines autonomen Verbands gegenüber anderen Verbänden der gleichen Art und über den Einfluß, den die Verwaltung anderer Verbände auf diejenige des eigenen Verbands besitzt. Grundgedanke ist damit die Aufteilung der Zuständigkeiten und die Notwendigkeit, der eigenen Betätigung feste Grenzen zu setzen in der wechselseitigen Anerkennung verschiedener nebeneinander existierender Gemeinschaften. 258

1913 erhielt Neumeyer einen Ruf als ordentlicher Professor für internationales Recht und Völkerrecht an der Universität Zürich als Nachfolger von Professor Friedrich Meili. In München überlegte man, ob er durch Beförderung zum persönlichen Ordinarius gehalten werden könne. Dies wurde von der Fakultät abgelehnt. Man befürchtete, durch die Beförderung Neumeyers zum Ordinarius die Studenten zusätzlich zu belasten, das heißt, daß der Prüfungsstoff erweitert und dadurch an die Studenten erhöhte Anforderungen gestellt würden. Neumeyer lehnte jedoch überraschend den Ruf nach Zürich aus persönlichen Gründen ab, da er seinen alten Vater nicht allein lassen wollte. 1923 wurde Neumeyer zu Vorlesungen nach Den Haag eingeladen. Die Academie de Droit international veranstaltete dort jährlich Vorlesungen angesehener Professoren. Er hielt seine Vorlesung über »Les unions internationals«. Im gleichen Jahr wurde er zum Associe des Institut de Droit international ernannt, 1926 zum Mitglied. Ebenso wurden ihm 1926 Titel und Rang eines ordentlichen Professors verliehen. 1928 wurde Neumeyer, der inzwischen mit dem Titel eines Geheimen Justizrats ausgezeichnet worden war, zum Delegierten bei der 6. Konferenz für internationales Privatrecht ernannt. Er war Wortführer der deutschen Delegation und konnte, da er auch in den Redaktionsausschüssen mitwirkte, nachhaltig den Standpunkt der deutschen Delegation vertreten. Während der Konferenz wurde beschlossen, eine ständige Kommission für internationales Kaufrecht einzurichten. Neumeyer wurde dazu als Vertreter Deutschlands eingeladen. 1929 folgte im »Hinblick auf seine wissenschaftlichen Verdienste und das hohe Ansehen, das er in der wissenschaftlichen Welt genieße« die Ernennung zum ordentlichen Professor in etatmäßiger Stellung. 1931 wählte ihn die Fakultät zum Dekan, eine Auszeichnung, die ihn mit »tiefer Genugtuung« erfüllte. 1933 wurde die wissenschaftliche Arbeit Neumeyers durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten abrupt beendet. Mit Schreiben vom 24. Mai 1933 forderte das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus das Rektorat auf, Neumeyer zu einer schriftlichen Erklärung zu veranlassen, ob er arischer Abstammung sei. Bei Verneinung seien seine Vorlesungen einzustellen. Die Fakultät setzte sich für Neumeyer ein, es wurde ihm gestattet, im Sommersemester 1933 die angesetzte Vorlesung über Völkerrecht zu halten. Neumeyers Lehrveranstaltung wurde jedoch von den Studenten boykottiert. Die juristische Fachschaft, organisiert von der NSDAP, erklärte, daß kein nationaler deutscher Student länger die Vorlesungen Neumeyers anhören könne, da dieser Jude sei. Unter diesem Druck verfügte das Kultusministerium, die Vorlesung für Völkerrecht nicht stattfinden zu lassen. Neumeyer wurde in den einstweiligen Ruhestand versetzt und mit Vollendung des 65. Lebensjahres in den dauernden. Eine Entlassung aus dem Dienst war nicht möglich, da er bereits vor dem 1.8.1914 den Status eines Beamten gehabt hatte. 1935 wurde Neumeyer zum zweitenmal durch die Academie de Droit international eingeladen, in Den Haag Vorlesungen zu halten; dies führte zu einer Intervention des Auswärtigen Amtes und der Deutschen Gesandtschaft in 259

Den Haag verbunden mit dem Hinweis, daß nur noch geeignete »arische« Lehrkräfte einzuladen seien. Schweren Herzens zog Neumeyer im Mai 1935 seine Zusage zurück. Auf den Hinweis der Deutschen Gesandtschaft über die Persönlichkeit Neumeyers erwiderte die Academie de Droit international, daß das Kuratorium angenommen habe, Neumeyer sei Arier; es bat für die Zukunft um Benennung geeigneter Lehrkräfte. Die Versetzung in den Ruhestand konnte den Eifer Neumeyers in der wissenschaftlichen Tätigkeit nicht bremsen; seine umfangreiche Privatbibliothek ermöglichte ihm die Fortsetzung seiner Forschungen trotz des Verbots, öffentliche Bibliotheken zu benutzen. 1936 erschien in dem Schweizer Verlag für Recht und Gesellschaft der letzte Band des internationalen Verwaltungsrechts, in dem er seine Thesen überprüfen und bestätigen konnte. 1939 schien es, als ob die Bemühungen seiner Söhne Alfred und Fritz, ihre Eltern zum Auswandern zu bewegen, Erfolg haben sollten. Karl und Anna Neumeyer erhielten die Genehmigung, in die USA auszuwandern, entschieden sich aber, in Deutschland zu bleiben. Sie wollten niemandem zur Last fallen. Neumeyer vereinsamte zusehends, verlassen und gemieden von vielen der alten Bekannten. Wenige Freunde standen zu ihnen, so der Verleger Erich Auckenthaler, Professor Max Gutzwiller, die Familien Hohenemser, Rothenbücher, Burger. Im Frühjahr 1941 wanderte Neumeyers Bruder Alfred nach Argentinien aus. Die Eheleute Neumeyer mußten sich immer mehr einschränken, in ihr Haus wurden jüdische Mitbürger, die aus ihren Wohnungen vertrieben worden waren, einquartiert. Im April 1941 konnte Neumeyer trotz schwierigster Arbeitsbedingungen zwei Kapitel des dritten Abschnitts des internationalen Straf- und Privatrechts bis Bartolus fertigstellen. Sie tragen den Vermerk »Druckfertig 25.4.41«. Im Juni/Juli 1941 fuhren Karl und Anna Neumeyer noch einmal in Urlaub nach Sulzberg/Vorarlberg trotz des Verbots, den Wohnort zu verlassen. In der Stille und Abgeschiedenheit des Bregenzer Waldes reifte ihr Entschluß, aus dem Leben zu scheiden, denn sie wußten, daß sie ihr Haus verlassen mußten und die Deportation drohte. Karl und Anna Neumeyer bereiteten ihr Ende sorgfältig vor und schieden am 17. Juli 1941 aus dem Leben. Ihre letzte Ruhestätte fanden sie im jüdischen Friedhof in München. Freunde aus der jüdischen Gemeinde und als einziger Kollege Professor Rudolf Müller-Erzbach folgten dem Sarg. Nachrufe konnten nur im Ausland veröffentlicht werden. 1961 widmete die Juristische Fakultät Karl Neumeyer eine Gedenktafel mit folgendem Inhalt: »Geheimrat Professor Dr. Karl Neumeyer hat dieses Institut im Jahre 1916 mitbegründet. Sein Wirken war bahnbrechend für die Gesamtheit des internationalen Rechts. Die Barbarei des Unrechtsstaates hat ihn mit seiner Frau im Jahre 1941 in den Tod getrieben. Dieser Saal trägt seinen Namen ihm zu Ehren und zu steter Mahnung an schmachvolles Unrecht«.

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Quellen Personalakte N e u m e y e r , Karl, g e f ü h r t beim Bayer. Ministerium für U n t e r r i c h t und Kultus, jetzt im Bayer. Hauptstaatsarchiv, B a y H S t A M K 17878; Personalakte N e u m e y e r , Karl, g e f u h r t bei der Univeristät M ü n c h e n , jetzt im Universitätsarchiv, Sign. EIIN.

Literatur M o r g e n t h a u , Hans: Professor Karl N e u m e y e r , in: American Journal of international law, 1941. Wehberg, H a n s : Karl N e u m e y e r z u m Gedächtnis!, in: Die Friedenswarte, Zürich 1941. Gutzwiller, M a x : Karl N e u m e y e r , in: Annuaire de l'Institut de Droit international, Brüssel 1947. Karl N e u m e y e r s Persönlichkeit und Werk, in: Rabeis Zeitschrift für ausländisches u n d internationales Privatrecht 27 (1962). Ferid, M u r a d : Karl N e u m e y e r z u m 100. Geburtstag, in: Frankfurter Allgemeine Z e i t u n g v. 19.9.1969. Vogel, Klaus: Karl N e u m e y e r z u m Gedächtnis, in: Archiv des öffentlichen Rcchts, Bd. 95, 1970. N e u m e y e r , Alfred [Sohn von Karl N e u m e y e r ] : Lichter u n d Schatten, M ü n c h e n 1967. N e u m e y e r , Alfred [Bruder von Karl N e u m e y e r ] : E r i n n e r u n g e n , Avigdor 1944 (unveröffentlicht). Weber, Marianne: Lebenserinnerungen, B r e m e n 1948.

H a u p t w e r k e Karl N e u m e y e r s Historische und dogmatische Darstellung des strafbaren Bankerotts (Dissertation), M ü n c h e n 1891. Die gemeinrechtliche E n t w i c k e l u n g des internationalen Privat- und Strafrechts bis Bartolus. Erstes Stück: Die Geltung der Stammesrechte in Italien, M ü n c h e n 1901; Zweites Stück: Die gemeinrechtliche E n t w i c k e l u n g bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, M ü n c h e n , Berlin, Leipzig, 1916. Die verbotene H a n d l u n g im internationalen Strafrecht, Sonderdruck aus: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswisscnschaft, 23. Bd., 1902. Internationales Verwaltungsrecht, Innere Verwaltung I, M ü n c h e n , Berlin, 1910; Innere Verwalt u n g II, 2. Bd., M ü n c h e n , Berlin, 1922; Innere Verwaltung III, 3. Bd., 1. Abteilung, M ü n c h e n , Leipzig, Berlin, 1926. Innere Verwaltung III, 3. Bd., 2. Abteilung, M ü n c h e n , Berlin, Leipzig, 1930; 4. Bd., Allgemeiner Teil, Zürich, Leipzig, 1936. D e r Fall M u m m vor d e m gemischt deutsch-französischen Schiedsgericht (Sonderdruck aus: Rheinische Zeitschrift für Zivil- u n d Prozeßrecht), M a n n h e i m , Berlin, Leipzig, 1922. Internationales Privatrecht, Berlin, 1923. Les unions internationales, in: Revue de Droit International de sciences diplomatiques, politiques et sociales, Genf, 1924/1925. Das kanonische Recht u n d die Lehren der Kanonisten in ihrem Einfluß auf die E n t w i c k l u n g des internationalen Privatrechts (1250-1357), 1941, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, Bd. 33, 1965. Die geographische Ausbreitung der gemeinrechtlichen Lehren v o m internationalen Privatrecht (1250-1357), 1941, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, Bd. 33, 1965. D e r Beweis im internationalen Privatrecht, 1939, in: Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, Bd. 43, 1979.

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Karl Woltskoh], Fotografie.

Evamaria Brockhoff

Karl Wolfskehl (1869-1948), im Zeichen des »doppelten Antlitzes«*

»Die Familienlegende berichtet, daß wir von jener Gelehrtenfamilie Kalonymos abstammen, die Karl der Große, ..., selber bewog, von der toscanischen Lucca herüberzuziehen nach Mainz. Ich glaube solchen Überlieferungen« 1 . In seinen Briefen aus dem Exil betont der Dichter Karl Wolfskehl immer wieder die tiefe Verwurzelung seiner Familie mit Europa: »Ich habe den Rhein in mir, so wie das Mittelmeer .. ,« 2 . Der am 17. September 1869 in Darmstadt geborene Karl Wolfskehl entstammte einer gutsituierten jüdischen Bankiersfamilie. Sein Vater, Otto Wolfskehl, genoß als Stadtverordneter der nationalliberalen Partei und Vizepräsident der 2. Kammer des hessischen Landtags öffentliches Ansehen sowohl in seiner christlichen als auch in seiner jüdischen U m g e b u n g . Obwohl er nach dem frühen Tod seiner Frau mit einer Protestantin verheiratet war, blieb er Vorstand der jüdischen Gemeinde 3 . Karl Wolfskehl charakterisiert die Atmosphäre, in der er aufwuchs, mit der Trias »Weihnachtsbaum, Darmstadt und assimilatorische^) Elternhaus« 4 . Man »bemerkte die Darmstädter Juden nicht, wo man sie bemerkte, denn sie waren und 'behavten' sich ganz einfach wie jeder Darmstädter« 5 . Der Sohn des angesehenen Bankiers und Politikers studierte von 1887 bis 1891 in Gießen, Leipzig und Berlin Germanistik. In seiner Dissertation über germanische Werbungssagen 6 zeichnet sich sein Interesse für altdeutsche Dichtung und für Mythologie ab, das sein Leben lang bestehen sollte. Er gab zusammen mit dem Altphilologen Friedrich von der Leyen Urtext und Übersetzung alt- und mittelhochdeutscher Dichtungen heraus, u. a. das Hildebrandslied, das Wessobrunnergebet und Teile des Nibelungenliedes 7 . Die wichtigste Begegnung für den Dichter Karl Wolfskehl fand in München statt, wo er von 1893 bis 1895 und von 1898 bis zu seiner Emigration im Jahr 1933 lebte. Hier traf Wolfskehl mit Stefan George zusammen, dem er der »Treueste der Treuen« 8 , wie George selbst es ausdrückte, wurde. In Wolfskehls Münchner Wohnung in der Römerstraße stand das sog. Kugelzimmer stets als Quartier für den Meister bereit. In der Einschätzung seiner Dichtkunst wurde Wolfskehl oft als Epigone Georges abgetan. Dies trifft insofern nicht zu, als Wolfskehl in seiner Weltauffassung eher einen gegensätzlichen Standpunkt zu George einnahm: Bildet für George der Mensch in seiner schöpferischen Fähigkeit den Mittelpunkt, so setzt

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Wolfskehl diesem Anthropomorphismus das Element des chaotischen Kosmos entgegen. Auch in ihrer (Nach)wirkung unterscheiden sich die beiden Autoren. Wolfskehl scheint vor allem durch seine starke Persönlichkeit, seine suggestive Präsenz im Gespräch, in der Begegnung beindruckt zu haben: »... ein schöner Mensch, eine gepflegte Erscheinung, heiter und zugänglich, geistreich, witzig und doch auch ernst und tief...«'. Er bildete als »Zeus von Schwabing« den Mittelpunkt des von Franziska von Revcntlow in ihrem Schlüsselroman »Herrn Dames Aufzeichnungen« beschriebenen Kunst- und Kulturlebens im Münchner »Wahnmoching« 10 . Für die literarische und künstlerische Szene war Wolfskehl eine Art Gravitationszentrum. Dies zeigen zahlreiche persönliche Bekanntschaften, Freundschaften, Briefwechsel mit Ricarda Huch, Ina Seidel, Else Lasker-Schüler, Margarete Susmann, Rudolf Pannwitz, Oskar A. H. Schmitz, Albert Schweitzer, Walter Benjamin, Max Weber, Oswald Spengler, Lujo Brentano, Georg Simmel, Martin Buber, Leo Baeck, Alfred Kubin, Melchior Lechter, Sonja und Robert Delaunay, Gabriele Münter, Franz Marc, Wassilij Kandinsky. Nicht zuletzt war es die bibliophile Leidenschaft Wolfskehls, die einen Anziehungspunkt bildete. Seine Bibliothek wuchs auf 12.000 Bände an, darunter zahlreiche Volksbücher des 16. Jahrhunderts, Erst- und Frühausgaben barocker Literatur und der Romantik, daneben auch eine Kuriosasammlung, die Wallfahrtsheftchen, Erbauungsschriften, Jahrmarktstraktate, Erläuterungen zu Bilderbogen, Seidendrucke u.ä. versammelte". 1910 begründete er die Münchner Bibliophilen- Gesellschaft mit. Seine Entdeckerfreude auf dem Gebiet der Bibliophilie schlug sich auch in seiner Tätigkeit als literarischer Leiter der Rupprechtpresse, eines angesehenen Münchner Verlages, nieder. Unter seiner Ägide erschienen hier seit 1920 Werke, die seine Kennerschaft der Weltliteratur bezeugen. Persönliche Vorlieben spiegelt die Herausgabe der Werke Hölderlins, Novalis, Jean Pauls, Nietzsches, Bachofens, den entdeckt zu haben er besonders betonte; aber auch die zeitgenössische Literatur ist vertreten mit Hans Carossa, Hugo von Hofmannsthal und Oswald Spengler, für den sich Wolfskehl sehr einsetzte. Was seine literarische Produktion betrifft, so war Wolfskehl seit seiner Begegnung mit Stefan George regelmäßig in den »Blättern für die Kunst« mit Beiträgen vertreten. Als erstes selbständiges Werk erschien 1897 der Gedichtband »Ulais«, dem 1903 die George gewidmeten »Gesammelten Dichtungen« folgten sowie die dramatischen Dichtungen »Maskenzug« (1904) und »Saul« (1905). Daneben verfaßte Wolfskehl Rezensionen, Essays, Nachrufe, Reiseberichte für die Frankfurter Rundschau, die Münchner Neuesten Nachrichten, die Allgemeine Zeitung, Reclams Universum, die Jüdische Rundschau und andere Zeitungen und Zeitschriften. Von 1925 bis 1933 war er Mitglied des Pen-Clubs. Die oft kolportierte Annahme, Wolfskehl hätte sich erst durch die antisemitischen Restriktionen der Nationalsozialisten seines Judentums besonnen, wies er wiederholt von sich: »Meine Stellung zum Judentum, mein Bekenntnis zur Jüdischen Idee, zur Jüdischen Wirklichkeit ist so alt wie ich selbst«12. In 264

frühen Briefen an Friedrich Gundolf finden sich »immerhin und ncbbich« 13 vielfache Anspielungen; in den »Blättern für die Kunst« erregte die jüdische Thematik seines Gedichts »An den alten Wassern« einiges Aufsehen; Wolfskehl hielt Vorträge in der jüdischen Kultusgemeinde Münchens, er verfaßte die Einleitung zu dem von Martin Buber und Hans Kahn herausgegebenen Sammelband »Vom Judentum« 1 4 ; er beriet Buber und Rosenzweig bei deren Bibelübersetzung, rezensierte die umfangreiche Monographie über Jud Süß von Selma Stern 15 . Seit seiner Bekanntschaft mit T h e o d o r Herzl setzte er sich mit dem Zionismus auseinander: »Viel Lärm darin, Selbstgefälligkeit, Phrase und doch die Stimme der Tiefe . . . O b ich freilich dazu bin die Stimme zu reineren T ö n e n zu bringen, ob ich das soll, ob ichs kann?« 16 . Er begründete 1897 die zionistische O r t s g r u p p e München mit. 1903 n a h m er als Berichterstatter am sog. Uganda-Kongreß teil, der das Angebot der britischen Regierung, in Kenia Herzls »Judenstaat« zu etablieren, diskutierte. Aufschlußreich nicht nur für die Einschätzung dieses Projekts, sondern vor allem für das Europäertum und den philosophischen Umkreis Wolfskehls, ist der warnend-ironische K o m m e n t a r Gundolfs in diesem Z u s a m m e n h a n g : »... Von nun ab hat für Sie der Zionismus nur dann Sinn und Berechtigung wenn Sie arm und schmutzig den Schnappsack auf d e m Rücken von den Steinwürfen eines Europäischen Pöbels geschürft Ihre kümmerlichen Brotkrusten zusammenbetteln müssen . . . und froh sind wenn Sie von irgend einem Hirschbaron oder Lebaydy in Ostafrika, M p o p o , Sahara oder sonstwo angesiedelt werden mit 7000 presthaften Schnorrern. Das ganze Archiv Ihrer auf bütten und Japan gedruckten Ulaise mit Lechters Titelbild, Ihre Gesammelten Dichtungen mit Bierbaums feinsinnigen Worten darüber, Ihren Goethebrief nebst Locke, Ihre Bibliothek mit Einschluß der Taleinsamkeit Hölderlin Sophokles und vielen Widmungsexemplaren Europäischer Autoren von George bis Bachofen, Scheerbart, Ihren Axolotl Stryx Glaux, Schuler, Klages, Siderismus, Chtonik Kosmik all dies allzueuropäische müssen sie dann daheimlassen« 17 . Dies sollte sich auf schreckliche Weise bewahrheiten. A m M o r g e n nach dem Reichstagsbrand verließ Karl Wolfskehl seine Heimat. Seine Frau - er war seit 1898 mit der holländischen Dirigententochter Hanna de Haan verheiratet - und die Töchter Renate und Judith blieben, »rassisch u n - oder nur halbbedenklich, im Land« 18 . Bis zu seiner endgültigen Emigration nach Neuseeland lebte der Dichter in der Schweiz und vor allem in Florenz und Recco/Genua. Ebenso klarsichtig wie seine Reaktion auf den Reichstagsbrand war sein Verhalten nach dem Besuch Mussolinis, »des römischen Cäsar-Affen«, bei Hitler. Wolfskehls Italien, »die Mutter der Humanität«, sei »buchstäblich von einem Tag auf den andern drohend, bös und antijüdisch« 1 ' geworden. »Von Besserwissern verlacht..., beschloß (ich), so weit weg zu gehen, als dies überhaupt auf diesem Kleinplanet möglich ist«20. Karl Wolfskehl konnte seine Existenz in Neuseeland sichern durch den Verkauf seiner Bibliothek. Im Jahr 1937 hatte der U n t e r n e h m e r Salman Schocken,

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Mitbegründer des renommierten Berliner Schocken-Verlags für deutschjüdische und hebräische Literatur, Wolfskchl dafür eine bescheidene Leibrente ausgesetzt. Begleitet von seiner Freundin M a r g o t Ruben, die dem erblindenden Dichter nicht zuletzt als unermüdliche Schreibkraft für die rund 250 Briefe aus dem Exil zur Seite stand, wählte der Dichter dieses »tatsächlich von West wie Ost her europafernste Landstück« 21 zum Aufenthalt. Bedeutend ist diese letzte Phase eines ganz der (Dicht-)Kunst geweihten Lebens aufgrund der Schaffenskraft, die Wolfskehls wichtigste Werke erbringen sollte. Sein seit 1934 entstehendes »Lied an die Deutschen« gehört für ihn als »eine Art Lebenslied... zum Wichtigsten« 22 ; die Dichtung »Hiob oder die Vier Spiegel«, seine Vision v o m Wesen des Judentums 2 3 , sei das »Stärkste, was mir bis jetzt gelang« 24 . In seinem großen Brief »Absage an die Heimat« 25 wird H i o b zum Symbol für sein Leben, für jüdisches Schicksal: »Vom Tag ab, als das Schiff v o m Hafen Europas abstieß, hab ichs gewußt, gelebt, ausgesprochen, ausgeschluchzt, ausgesungen . . . dieses Zeichen, mehr als ein Bild, es ist der ewige Fug des Judenschicksals . . . seitdem bin ich, leb ich, erfahr ich Hiob« 26 . Die Frage der Rückkehr nach Deutschland spiegelt in vielen Nuancen den Kampf, die Zerrissenheit, die Bitternis eines Dichters, der sich vergessen weiß: »Ich m ü ß t e wirken wie der Deifi auf der Wurstelbühne, fremdartig und lächerlich zugleich...« 2 7 , »Dort völlig vergessen. Hier völlig vereinsamt« 28 , »Für München, für mein M ü n c h e n bin ich tot, verschollen, wahrscheinlich nie dagewesen« 29 . Mit Scharfblick verfolgt er (1946!) die »sonderbarsten WiedergutmachungsEiertänze im früheren Deutschland..., obwohl der eigentliche Beteuerungseifer, nie ein Nazi gewesen zu sein, eher abflaut, soweit ichs spüre« 30 . Bitten u m sog. Persilscheine hatten Wolfskehl veranlaßt, diese »Absage an die Heimat« zu verfassen; im Begleitbrief an Siegfried Guggenheim bricht sich Wolfskehls Bitterkeit Bahn: »Mehr, ..., nenne ich, der Jude, der deutsche Dichter Karl Wolfskehl, mich einen Bürger der Welt, einen Sohn unseres Planeten. Ich, der deutsche Dichter, den die Heimat verstieß... Diese Heimat hat, als ihr ein neues, in weitem U m f a n g willig aufgenommenes Gesetz erlassen war, den deutschen Dichter verbannt, z u m Landfremden, ja zum Urfeind gemacht, sein Wirken schändlich zerbrochen, sein Wort verschüttet...« 3 1 . Wie sehr Wolfskehls Werke als deutsche Dichtung eingeschätzt wurden, belegt eine Äußerung T h o m a s Manns zu Wolfskehls 1930 erschienener Essaysammlung »Bild und Gesetz«: Es sei dies ein »Haus- und Lesebuch für alle..., denen es ernst ist u m das Nationale, das Deutsche...« 3 2 . (Gegen Wolfskehls Ausschluß als Jude aus dem Münchner Rotary-Club, dessen Schriftführer er war, hatte das Mitglied T h o m a s M a n n nicht protestiert; zwei von Wolfskehl namentlich nicht bezeichnete Mitglieder hatten sich durch ihren Austritt mit ihm solidarisiert.) Seiner Frau teilte Wolfskehl über fehlende Kontakte nach Deutschland mit, daß er nichts tun wolle, diesen A b g r u n d zu überbrücken 33 . »Die Heimat 266

trieb mich weg, ja warf mich aus«34; dennoch gesteht er sich ein: »Meine Liebe [zur Heimat] besteht, U n d ein befristetes Wiedersehen wäre mir viel«35. Die Bürde des Exils, »jene drei reizenden Schwestern: Armut, Alter und Blindheit« 36 , trug Karl Wolfskehl mit der Einsicht in die Vergänglichkeit allen Daseins. Es sei keine Gewißheit mehr »in einer Zeit, in der man selbst das Wort 'Atempause' als einen Schreibfehler für 'Atompause' ansehen muss...« 3 7 . Seine Maxime im »Zeitalter der A t o m z e r t r ü m m e r u n g « ist das »omnia mea mecum porto« 38 , verbunden mit der Konzentration auf das Geistige, das dichterische Schaffen: »Was aber bleibt stiften die Dichter weiss und tröstet Hölderlin« 39 . Ablehnung und Sehnsucht nach dem »ewiglich verfluchten Zuchthaus Europa« 40 wechseln. A m 12. Juli 1946 nahm Wolfskehl die neuseeländische Staatsbürgerschaft an. Wie fremd ihm das Exil trotz aller Anerkennung und Dankbarkeit für den gebotenen Schutz blieb, belegt einer der letzten handschriftlichen Briefe des nahezu erblindeten Dichters an seine Nichte. Erschütternd straft dieses D o k u m e n t seine Selbstbeherrschung Lügen: »Charlotte, Liebe, wer kann h e r k o m m e n mich holen? Ich will, ich m u ß fort. Ich habe es nicht gut hier . . . Ich habe kein Geld. Aber ich will ja nur sterben. Bei Euch. Nicht in der furchtbaren Fremde . . . Ich bin schwach und allein. Aber ich will fort nur zu Euch. Handelt wenn Ihr liebt. Schreibt nicht hierher über diesen Brief, er w ü r d e mir ja vorgelesen. Es geht mir schlecht... Holt mich...« 4 1 . Noch im Januar 1946 rief Erwin Jaeckle in der Schweizer Zeitschrift »Die Tat« zu Geldspenden auf, u m den Dichter nach Europa holen zu können 42 . Karl Wolfskehl starb am 30. Juni 1948. Sein Grabstein trägt außer dem in Deutsch und Hebräisch abgefaßten N a m e n die Inschrift »Exul Poeta«.

Anmerkungen: * Wolfskehl, Karl, in: Frankfurter Z e i t u n g v o m 29.3.1931. Dieser Beitrag stützt sich vor allem auf den Briefwechsel des Dichters; vgl. Kluncker, Karlheinz (Hg.): Karl und H a n n a Wolfskehl. Briefwechsel mit Friedrich Gundolf. 1899-1904, A m s t e r d a m 1976 ( = C a s t r u m Peregrini 123-128); N i j l a n d Verwey, Mea (Hg.): Wolfskehl und Verwey. Die D o k u m e n t e ihrer Freundschaft, Heidelberg 1968; Ruben, M a r g o t (Hg.): Karl Wolfskehl. Z e h n Jahre Exil. Briefe aus N e u seeland. 1938-1948, Heidelberg, D a r m s t a d t 1959; Ruben, M a r g o t (Hg.): Karl Wolfskehl. Briefe und Aufsätze. M ü n c h e n 1925-1933, H a m b u r g 1966. Z u G u n d o l f s Werk vgl. Schlösser, M a n f r e d : Karl Wolfskehl. Eine Bibliographie, D a r m s t a d t 1971; Ruben, M a r g o t / B o c k , Claus Viktor (Hgg.): Karl

Wolfskehl. G e s a m m e l t e Werke, 2 Bde., H a m b u r g 1960; reichhaltiges D o k u m e n t a r material bei Schlösser, M a n f r e d (Hg.): Karl Wolfskehl, Leben und Werk in D o k u m e n t e n . 1869-1969, Ausst. Kat. d. Hessischen Landesu n d Hochschulbibliothek, D a r m s t a d t 1969; vgl. zuletzt Blasbcrg, Cornelia (Hg.): Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938-1948, 2 Bde., D a r m s t a d t 1988. 1 An Marie Luise Wolfskehl v. 29.9.1943, Ruben, Exil, S. 163. 2 A n Emil Prectorius v. 17.3.1947, Ruben, Exil, S. 364. 3 Schlösser, Leben u n d Werk, S. 145 f. 4 An Siegfried G u g g e n h e i m v. 24.12.1947, Rubcn, Exil, S. 364. 5 An Siegfried G u g g e n h e i m v. 26.2.1946, Ru-

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bcn, Exil, S. 248; nach Schlösser, Aust.Kat., S. 144 ff. Darmstadt 1893. Älteste Deutsche Dichtungen, übersetzt u. hg. v. Karl Wolfskehl und Friedrich von der Leyen, Leipzig 1909 ( = Inselband 432). Vgl. Usinger, Fritz: Nachwort, in: Ruben, Exil. Eduard, G e o r g : Erinnerungen an Karl Wolfskehl, Typoscript v. 12.1.1954, zit. nach Schlösser, Ausst.Kat., S. 71. Reventlow, Franziska von: Herrn D a m e s Aufzeichnungen, München 1913. Z u Wolfskehls Biicherleidenschaft vgl. den Artikel Bücher.Bücher.Bücher.Bücher, München 1931 (auch in: Ruben/Bock, B d . 2, S. 501 ff.). An Har Nechoschet v. 30.3.1943, Ruben, Exil, S. 151. An Friedrich Gundolf v. 15.4.1900, Klunkker, S. 71, Teil 1; vgl. etwa auch seinen Ausruf »Ja wenn nur Jeruschallajim nicht gar so schön klänge!« (an Gundolf v. 1.8.1899, Kluncker, Teil 1, S. 44). Wolfskehl, Karl: Das jüdische Geheimnis, in: Vom Judentum. Ein Sammelbuch, hg. v. Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig 1913, S. 3 f. Wolfskehl, Karl: Sultan und Wesir im Schwabenland, in: Frankfurter Zeitung v. 8.4.1930. An Friedrich Gundolf v. 14.6.1902, Klunkker, Teil 1, S. 167. Friedrich Gundolf an Karl Wolfskehl v. 17.6.1902, S. 189. An Bella F r o m m Welles ν. 31.1.1947, Ruben, Exil, S. 314. Ebd. An J . W. Schülein v. 2.8.1946, Ruben, Exil, S. 279. Ebd. An Margarete Pohl Collin ν. 23.1.1948, S. 259. An Siegfried Guggenheim v. 11.6.1945, Ruben, Exil, S. 204. An Leo Baeck v. 2.8.1946, Ruben, Exil, S. 204. An Kurt Maria Ferner v. 27.10.1946, Ru-

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ben, Exil, S. 196-186; dieser Brief wurde in mehreren Kopien an Freunde verschickt. Siegfried Guggenheimer gegenüber charakterisiert Wolfskehl Kurt Maria Ferner als ihm besonders nahestehenden Freund, der »nie, keinen Augenblick l a n g . . . sich (hat) verblenden lassen, keinen Augenblick lang war er verfallen, umnebelt. O b es mehr solche Festbleiber in der Mittelklasse gab, weiss ich nicht, mindestens den sonstigen Briefschreibcrn sexus masculini traue ich in dieser Beziehung nicht« (v. 27.10.1946, Ruben, Exil, S. 296 f.). 26 An Kurt Maria Ferner v. 27.10.1946, Ruben, Exil, S. 285. 27 An M a x i (?) v. 26.9.1947, Ruben, Exil, S. 350. 28 An Emil Preetorius v. 17.3.1947, Ruben, Exil, S. 323. 29 An Gertraud v. Helmstatt v. 1.11.1946, Ruben, Exil, S. 300. 30 An Margarete Pohl Collin ν. 31.10.1946, Ruben, Exil, S. 298. 31 An Siegried Guggenheim v. 27.10.1946, Ruben, Exil, S. 284. 32 Mann, T h o m a s in: Börsenblatt f. d. dt. Buchhandel v. 31.1.1931; über Wolfskehls Ausschluß aus dem Rotary-Club vgl. Schlösser, Ausst.Kat., S. 364 f. 33 An Hanna Wolfskehl v. 28.2.1946, Ruben, Exil, S. 251. 34 An L u d w i g Curtius v. 23.9.1946, Ruben, Exil, S. 35 An Gustav Heinrich Heyer v. 14.10.1946, Ruben, Exil, S. 294. 36 An Erich von Kahler v. 21.3.1946, Ruben, Exil, S. 257. 37 An E m m a Faber du Faur v. 23.8.1945, Ruben, Exil, S. 216. 38 An Edgar Salin v. 6.8.1945, Ruben, Exil, S. 213. 39 An E m m a Faber du Faur v. 23.8.1946, Ruben, Exil, S. 216; ebenso an Runhilt von den Steinen, undatiert, Ruben, Exil, S. 202. 40 An Eugen Mayer v. 7.9.1943, Ruben, Exil, S. 156. 41 Zit. nach L a m m , S. 358. 42 In: Die Tat v. 26.1.1948.

Roland Flade

Felix Freudenberger (1874-1927), sozialdemokratischer Bürgermeister und Pazifist

Am 8. August 1874 wurde in Heidingsfeld, eine halbe Wegstunde von Würzburg entfernt, Felix Freudenberger, der spätere Landtagsabgeordnete und »geistige Führer der Würzburger Arbeiterschaft« 1 geboren. Freudenberger war eines von elf Kindern eines Lehrers und verbrachte seine Jugend in bescheidensten Verhältnissen. Nachdem er in Würzburg die Gewerbe- und Realschule absolviert hatte, arbeitete er in Frankfurt a. M . , Würzburg, Witten und anderen Städten als Buchhandlungsgehilfe. In dieser Zeit schloß er sich der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung an, die sich für die Beseitigung der Diskriminierung von Juden einsetzten. 1899 ließ sich Freudenberger in Würzburg nieder, wo er sich im folgenden Jahr mit einer kleinen B u c h - und Schreibwarenhandlung in der Augustinerstraße 4 selbständig machte. Er heiratete die ebenfalls in Heidingsfeld geborene und aufgewachsene Metzgerstochter Rosa Frankenfelder; 1901 wurde die Tochter Sophie geboren 2 . Die S P D stellte den 33jährigen Kaufmann 1907 als Landtagskandidaten und im Jahr darauf als Kandidaten für den Stadtrat auf, in dessen zweite Kammer er 1912 als Gemeindebevollmächtigter gewählt wurde. Seit 1915 gehörte er der ersten Kammer, dem Magistrat, an. Auf seinem Meldebogen im Würzburger Einwohnermeldeamt ist handschriftlich mit roter Farbe »Sozialdemokrat« vermerkt 3 . Für den überzeugten Pazifisten Freudenberger bedeutete der Erste Weltkrieg einen tiefen Einschnitt. Als Buchhändler geriet er in Konflikt mit den wilhelminischen Behörden, als er das aus der Schweiz eingeschmuggelte Antikriegsbuch »Der Mensch ist gut« des Würzburger Schriftstellers Leonhard Frank vertrieb. Städtische Zensurbeamte beschlagnahmten 300 Exemplare des verbotenen Buches in seinem Geschäft 4 . Wohl unter dem Einfluß Freudenbergers nahmen S P D und Freie Gewerkschaften in der Domstadt eine zunehmend kritische Haltung zum Krieg ein. Während die SPD-Reichstagsfraktion weitere Kriegskredite bewilligte, forderte man in Würzburg schon 1915 nahezu einhellig das Ende der Kämpfe ohne Annexionen. Die Auseinandersetzung um die Kredite führte zur Spaltung der S P D und 1917 zur Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei ( U S P D ) . Als zur Debatte stand, die Würzburger Parteiorganisationen geschlossen in die U S P D zu überfuhren, plädierte Freudenberger dafür, auf dem linken Flügel der alten Partei zu verbleiben 5 . Während des Kriegs fand im Oktober

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1917 in Würzburg ein SPD-Reichsparteitag statt, »einer der denkwürdigsten und einer der deprimierendsten Parteitage der deutschen Sozialdemokratie«6. In seiner Eröffnungsrede sprach Freudenberger die Hoffnung aus, »daß in diesem wilden Chaos die Ideale der Menschlichkeit (und) die Forderung nach allgemeiner Abrüstung sich Geltung verschaffen« 7 . Nach einer erbitterten Debatte um die Kriegskredite stimmten 26 Delegierte für einen Antrag, der die SPD-Reichstagsfraktion darauf festlegen sollte, keine weiteren Geldmittel zu bewilligen, solange die Reichsleitung sich nicht zu einem Frieden ohne Gebietserwerbungen bekannte. Enttäuscht mußten Freudenberger und die übrigen »Abweichler« erleben, wie ihr Antrag mit 257 Gegenstimmen abgelehnt wurde 8 . Fast genau ein Jahr später brach im Novemberumsturz das politische System des Kaiserreichs zusammen. In Würzburg hatte Felix Freudenberger entscheidenden Anteil am Geschehen. Er setzte sich energisch dafür ein, daß ohne Blutvergießen die Ordnung möglichst schnell wiederhergestellt würde. Freudenbergers Name stand neben anderen unter den ersten Aufrufen des am 9. November gebildeten Arbeiter- und Soldatenrates, der binnen weniger Stunden die politische und militärische Macht in Würzburg übernahm. Eine Proklamation des Rates erschien am 11. November auf den ersten Seiten der vier Würzburger Tageszeitungen. »Humanität und Gerechtigkeit« sollten »der hehre Grundsatz der neuen Verwaltung sein und bleiben«, hieß es darin. »Jede Belästigung von Zivil- und Militärpersonen« sei strengstens verboten; der Arbeiter- und Soldatenrat verbürge sich »für strengste Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Schutz des Eigentums«'. In krassem Widerspruch zu diesen Prinzipien standen die Ziele des revolutionären Aktionsausschusses, der am 6. April 1919 in Würzburg nach dem Beispiel anderer bayerischer Städte eine Räterepublik ausrief. Über die Stadt wurde der Belagerungszustand verhängt, Residenz und Bahnhof wurden besetzt, die Presse unter Vorzensur gestellt. In der Nacht vom 8. auf den 9. April nahmen die Revolutionäre fünfzehn Geiseln, darunter Felix Freudenberger, der in den Wochen zuvor gegen sie Stellung bezogen hatte. Am 20. März 1919 hatte er ihnen als Diskussionsredner in einer kommunistischen Versammlung vorgeworfen, »mit Schlagworten« könnten »die Kommunisten wohl Stimmung machen, aber keine Politik leisten; jemandem den Revolver an die Kehle setzen, sei keine Politik«. Einen Tag vor seiner Verhaftung erklärte Freudenberger in einer SPD-Kundgebung, die »Diktatur der Räterepublik« bedeute »die Errichtung einer neuen Klassenherrschaft«. Zur Befreiung der Stadt von der spartakistischen Herrschaft organisierten SPD, Freie Gewerkschaften und bürgerliche Kräfte einen Generalstreik. Zusammen mit Arbeitern, Schülern und Studenten eroberten regierungstreue Truppen die Residenz zurück. Am 21. April 1919 wurde die Aufstellung eines Freikorps zur Niederschlagung der übrigen noch bestehenden bayerischen Räteregime beschlossen. Zwei Tage später fuhr Felix Freudenberger mit einem Militärkraftwagen durch die Dörfer der Umgebung und warb dort für den Beitritt10. 270

Trotz seines unbestreitbaren Einsatzes für die Aufrechterhaltung der O r d nung blieb Freudenberger für das konservative Würzburger Bürgertum die verhaßte Symbolfigur des Umsturzes vom November 1918. Als der Fraktionsvorsitzende der Rathaus-SPD am 24.Juni 1919 für eine Legislaturperiode zum ehrenamtlichen vierten Bürgermeister gewählt wurde, erschien dies, zumal er Jude war, vielen als Ungeheuerlichkeit. Zum Sprecher der Reaktion machte sich Wilhelm Adam, Privatschulbesitzer und Stadtrat der »Nationalen Rechten«: Freudenberger habe »die Revolution in Szene gesetzt«, erklärte er. Eine christliche Stadt wie Würzburg könne nicht dulden, daß der Angehörige einer Minderheitenkonfession Bürgermeister werde. So tief saßen diese Ressentiments, daß sich der liberale Oberbürgermeister Hans Löffler 1927 bei der Beerdigung Freudenbergers veranlaßt sah, auf die Vorwürfe einzugehen. Freudenberger habe in der Zeit des Umsturzes eine »bedeutende Rolle« gespielt, sagte er. »Von da an hat sich auf ihn ein Maß des Verkennens, des Mißverstehens, ja sogar des Hasses gehäuft, das ungerecht war. Freudenberger hat die Revolution nicht gemacht. Die Revolution war da; Freudenberger hat sie mit in die Hand genommen, um in die gärenden Massen Ordnung und Sicherheit zu bringen«". Dreimal wurde Felix Freudenberger fur die SPD in den Bayerischen Landtag gewählt, erstmals am 12. Januar 1919, letztmals am 6. April 1924. Er behielt den Sitz bis zu seinem Tod. Außerdem gehörte er dem Kreistag an und war Aufsichtsratsmitglied der Kreis-Elektrizitäts-Aktien- Gesellschaft. Im Verwaltungsrat der Volkshochschule trat Freudenberger ebenso hervor wie von 1917 bis 1920 in der Vorstandschaft der Gesellschaft für Literatur und Bühnenkunst. Auch in der Verwaltung der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg arbeitete er einige Monate lang mit. Am 9. November 1919 kooptierte ihn das jüdische Leitungsgremium als Mitglied12. Er gehörte der »liberalen« Fraktion an. Sein Rat war vor allem gefragt, als die private jüdische Volksschule in eine städtische Schule umgewandelt werden sollte13. Freudenberger wurde als Sozialist und Jude von der für Würzburg zuständigen Polizeistelle für Nordbayern in Bamberg und deren Nachfolger, dem Staatspolizeiamt Nürnberg-Fürth, genau überwacht. In hunderten von Berichten hat ein Spitzel seine Tätigkeit in Partei und Gewerkschaftsbewegung detailliert nachgezeichnet - aus dem Blickwinkel eines Beobachters, dem jede Aktivität Freudenbergers verdächtig und kritikwürdig erschien. Lange nach dem Tod Freudenbergers übernahm die Gestapo seine umfangreiche Akte, die heute im Staatsarchiv Würzburg aufbewahrt wird14. Felix Freudenberger war es unter anderem zu verdanken, daß SPD und Freie Gewerkschaften energisch gegen die seit 1919 in Unterfranken sich rasch ausbreitende antisemitische Bewegung kämpften. Besonders der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund mobilisierte von 1919 bis 1922 Tausende von Bürgern und überschwemmte auch die Stadt Würzburg mit Flugblättern und Klebezetteln. Nach der Ermordung des jüdischen Reichsaußenministers Walter Rathenau sprach Freudenberger im Juni 1922 bei einer großen Protestkundge271

bung. Z u m Schutz der Versammlungen vor Übergriffen der Völkischen wurde der Sozialdemokratische Ordnungsdienst geschaffen, aus dem später der Republikschutz-Verband Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold hervorging 15 . Am 15. Dezember 1927 starb Felix Freudenberger an einem Darmleiden in einem Sanatorium im Schwarzwald im Alter von 53 Jahren. In einem Nachruf bezeichnete ihn der in scharfer Kampfstellung zur SPD stehende »Würzburger General-Anzeiger« als Politiker, »den hohe Geistesgaben, ein praktischer Blick und ein hervorragendes Rednertalent« ausgezeichnet hätten, als »anständigen Menschen«, der »seine öffentliche Tätigkeit als Dienst am Volke uneigennützig und besonnen ausübte«16. Bei der Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof sprachen der mehrfache Reichskanzler Hermann Müller und der SPD-Reichstagsabgeordnete Hans Vogel, der später Vorsitzender der Exil-SPD wurde17.

Anmerkungen 1 Fränkischer Volksfreund, 19.12.1927, o. S. 2 Flade, Roland: Juden in Würzburg, 19181933, Würzburg 21986 (Mainfränkische Studien 34), S. 82-83. 3 Flade, Juden in Würzburg, S. 83. 4 Dettebacher, Werner: Würzburg - Ein Gang durch seine Vergangenheit, Würzburg 1974, S. 163. 5 Schäfer, Klaus: Die Organisation der Würzburger Arbeiterschaft Tm Ersten Weltkrieg 1914-1918, in: Loew, Hans Werner/Schönhoven, Klaus (Hgg.): Würzburgs Sozialdemokraten. Vom Arbeiterverein zur Sozialdemokratischen Volkspartei 1868- 1978, S. 43-44, 48. 6 Schönhoven, Klaus: Arbeiterschaft, Gewerkschaften und Sozialdemokratie in Würzburg 1848-1914, in: Loew/Schönhoven, S. 38. 7 Ansprache des Vorsitzenden des SPDKreisverbandes Würzburg, Hans Werner Loew, MdL, anläßlich der Gedenkfeier zur 60. Wiederkehr des Todestages von Felix Freudenberger, MdL, am 15.12.1987 auf dem jüdischen Friedhof in Würzburg, masch. Manuskript, S. 1. 8 Schäfer, S. 54. 9 Flade, Juden in Würzburg, S. 88-89. 10 Flade, Juden in Würzburg, S. 91-92.

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11 Flade, Roland: Die Würzburger Juden. Ihre Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Mit einem Beitrag von Ursula Gehring-Münzel, Würzburg 1987, S. 176; vgl. die gehässige Charakterisierung Freudenbergers als »Mitläufer« und »alter Kämpfer« bei Wencker-Wildberg, Friedrich: Würzburg um die Jahrhundertwende. Jugenderinnerungen, Würzburg 21963, S. 116120. 12 Flade, Juden in Würzburg, S. 83 f., 388. 13 Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem, WR 478, S. 270ff., S. 298-299, S. 333, S. 349-350. 14 Flade, Juden in Würzburg, S. 84; Staatsarchiv Würzburg, Gestapostelle Würzburg, Nr. 164. 15 Flade, Roland: »Es kann sein, daß wir eine Diktatur brauchen«. Rechtsradikalismus und Demokratiefeindschaft in der Weimarer Republik am Beispiel Würzburg, Würzburg 1983, S. 86-93; Flade, Juden in Würzburg, S. 294-297. 16 Flade, Juden in Würzburg, S. 84. 17 Ansprache, s. Anm. 7, S. 1. Freudenbergers Frau wurde im »Dritten Reich« in einem Vernichtungslager ermordet; seiner Tochter gelang die Flucht nach Großbritannien.

Fritz Armbruster

Julius Wolfgang Schuelein (1881-1970), Maler

» N a m e n s unserer Hochschule und im eigenen N a m e n übermittle ich Ihnen zur Vollendung Ihres 70. Lebensjahres die herzlichsten Glückwünsche. Sie sind Ihrer Vaterstadt unvergessen. Es ist mir eine Freude, Ihnen mitteilen zu k ö n n e n , daß unsere Hochschule Sie d u r c h Beschluß Ihres Kollegiums zu ihrem Ehrenmitglied ernannt hat.« 1

Julius Wolfgang Schuelein wurde am 28. Mai 1881 als Sohn der »gesicherten bürgerlichen« Eheleute Johanna (geb. Kraemer) und Josef Schuelein in der Sonnenstraße in München geboren. 2 Seit 1885, nach dem Freitod seines »tief depressiven« Vaters, wuchs er im Kreis der mütterlichen Familie auf. »Ich sah kaum andere Menschen, als die Familie meiner Mutter, ihre Eltern und Geschwister«, erinnert sich Schuelein in seiner 1967 erschienenen autobiographischen Skizze an seine Kindheit, seine Jugendjahre, die keine unglücklichen gewesen seien, obgleich er allzubald erfahren mußte, »daß es als Schönheitsfehler galt, Jude zu sein, und schmerzlich fühlte das empfindliche Kind, daß da ein feindliches Hemmnis auf seinem Lebensweg lag, das es in dem freien Gebrauch seiner Fähigkeiten hinderte, ganz unbegreiflicherweise und unverdientermaßen wie es ihm schien«. In seiner Kinder- und Jugendzeit prägten ihn vor allem Natureindrücke, die er aus der Münchner Voralpenlandschaft empfing, aber auch auf Reisen nach Italien, Belgien und in die Schweiz: »Als Kind stellte ich auf einer Ferienreise fest, daß ich nun schon 16 Seen gesehen hätte. Ich sammelte Seen wie andere Briefmarken. ... Von jeher hatte ich das Bedürfnis, nicht nur passiv zu sehen, sondern das Gesehene in irgendeiner Form auszudrücken, sei es Verse machend, Briefe oder Tagebücher schreibend, sei es - später vor allem zeichnend und malend. Dazu kommt, daß ich später die Natur als Anlaß für meine Bilder sah...«. Daneben beeinflußte Schuelein die Welt der Literatur, »den geliebten Büchern will ich einen Dankgesang singen, diesen meinen geliebten Freunden von der Jugend bis zum Alter«. Von der ersten Begegnung mit den bildenden Künsten berichtet er: »Noch ein Kind, sah ich in München die jährlichen Kunstausstellungen im Glaspalast«. Nach Abschluß des Gymnasiums, 1900, studierte Schuelein in München und Berlin Jura und legte nach vier Jahren sein Examen ab. Während seines Studiums hatte er auch philosophische (bei Lipps, Georg Simmel), nationalökonomische (bei Lujo Brentano) und kunsthistorische (bei Heinrich Wölfflin) Vorlesungen besucht. »Im Grunde genommen (aber) strebte ich immer danach 273

künstlerisch zu schaffen als Schriftsteller oder als Maler«. Von 1904 bis 1907 studierte Schuelein bei dem Gründungsmitglied der Neuen Sezession Hugo von Habermann (1849-1929)3, einem Schüler Pilotys, an der Hochschule der Bildenden Künste in München. Im Frühjahr und Herbst 1908 unternahm er Reisen nach Paris, die ihm - wie er in seinen Erinnerungen schrieb - das Wichtigste in seinem Leben gewesen seien: » ... wo mir, schon entschlossen für die Malerei, damals, zum erstenmal ein Gespür für das Verstehen des Wesens der Kunst aufdämmerte, wo ich zum erstenmal die Freiheit und die Sinnlichkeit der großen Impressionisten und Nachimpressionisten bewunderte«. In Paris Schloß er sich der Malschule La Palette in der Rue de Vale de Grace an, wo er Suzanne Carvallo, Tochter einer alteingesessenen sephardisch-französischen Familie, kennenlernte. Das Paar heiratete 1912 in München. Suzanne CarvalloSchuelein war eine bekannte Porträtmalerin. So bedankte sich z.B. Heinrich Mann in einem Brief vom 27. März 1921 an die Familie Schuelein für ein »wunderschönes, begeisterndes« Bild.4 Schuelein verstand sich mit seiner Frau - nach seiner eigenen Aussage - »mit einem Worte und ohne Worte über alle Dinge des Lebens«. Er beschrieb sie als »eine Frau, in der die schönsten, verschiedensten Gaben in seltener Harmonie vereinigt sind...« 5 . Schon im Sommer 1909 hatte Schuelein mit seinem Bild »Die Seine bei Anteuil« an der Internationalen Ausstellung im Glaspalast in München teilgenommen. 6 Über seine Ausstellung in der Galerie Heinemann urteilte die Kritik: »J. W. Schuelein zeigt sich viel zwiespältiger, als ich nach seinen früheren Ausstellungen geglaubt hätte. Ich habe ihn für viel frühreifer gehalten und bin nun sehr froh, daß bei ihm alles noch so offen und entwicklungsfähig ist«7. Vier Monate zuvor hatten ihn der Komponist Armin Haag, die Schriftsteller Wilhelm Michel, Richard Prevot, Maximilian Rohe und Hans Carossa, die Architekten Paul Ludwig Troost und August Zeh sowie die Malerin Maria Caspar-Filser und die Maler Paul Klee, Edwin Scharf, Adolf Fricke, Gustav Jagersbacher, Alfred Kubin, Max Oppenheimer und Carl Schwalbach in einem Schreiben vom 12.4.1912 aufgefordert, an der Gründung der Gruppe »Sema« teilzunehmen, die »sich nicht auf die Gemeinsamkeit des Berufes oder auf eine gemeinsame soziale oder wirtschaftliche Lage gründet, sondern auf die Gemeinsamkeit der Gedanken, der künstlerischen Weltanschauung, auf die Ubereinstimmung gegenüber prinzipiellen Fragen und Aufgaben, welche die Zeit und Kultur den Künsten stellen«8. In den »Münchner Neuesten Nachrichten« befand der Kritiker Ess wein zur ersten Ausstellung dieser neuen Gruppe über J.W. Schuelein: »Die Vorstadtszenerie gehört zu dem besten, das der sehr begabte Landschafter je geschaffen hat. Sie steht thurmhoch über allem, was die diesjährige Frühjahressezession von ihm zu zeigen hatte und bietet ein beweiskräftiges Zeugnis dafür, daß sich auch ohne die allgemeine impressionistische Schablone und ohne die gewaltsame Verzerrung doch noch ernste moderne Kunst schaffen läßt«'. In den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg gehörte Schuelein zu den gefragten und anerkannten jungen modernen Münchner Künstlern. Ausstellungen in den Galerien Caspari10, 274

Thannhauser und Heinemann 11 waren Ereignisse der Münchner Kulturszene. Als am 27. November 1913 die Münchner »Neue Sezession« entstand, gehörte Schuelein zu den Gründungsmitgliedern, deren führende Köpfe Albert Weißgerber, Heinz Braune und Wilhelm Hauenstein waren. In ihren ersten Ausstellungen präsentierte die Sezession unter vielen anderen Paul Klee, Alexei Jawlenski, Emil Nolde, Alexander Kanoldt, Hans Purrmann, Karl Hofer, Oskar Moll, Edwin Scharf, Adolf Schinnerer, Wilhelm Lehmbruck und Oskar Kokoschka. Der Chronist der Augsburger Postzeitung notierte am 7. Juli 1914: »Wer wissen will, was es mit den neuesten Kunstrichtungen aufsich hat, der muß die Ausstellung der Neuen Sezession sehen. In anderen Ausstellungen, namentlich der Sezession, begegnet man ja mancherlei Spuren der Modernen. Hier aber hat man sie alle schon beisammen, hier weiß man, daß man nicht mehr im Vorraum, sondern im Innersten der neuen Bewegung ist«, und zu J. W. Schuelein heißt es: »So ist Julius Wolfgang Schuelein durch eine nicht allzu beträchtliche aber konsequente Verstärkung der impressionistischen Mittel aus dem eigentlichen Impressionismus herausgekommen« 12 . Fritz Ostini beurteilte die Bilder Schueleins ebenfalls anerkennend: »Auch J.W. Schuelein ist noch energischer in der farbigen Behandlung seiner Landschaften geworden und namentlich das frische grüne Sommerbild sowie die kühle und farbig heitere Schneelandschaft sind zu rühmen« 13 . Anregung für sein künstlerisches Schaffen erhielt Schuelein auf ausgedehnten Reisen, die dem Künstler - wie schon in seiner Kindheit — zu zentralen Ereignissen seines Lebens wurden: »Die einen unterscheiden die Jahre nach den Frauen, die sie geliebt oder erobert haben, andere nach Familienereignissen, Tod und Geburten, Entwicklung der Kinder, andere nach Erfolgen und Mißerfolgen, andere nach vollbrachten Taten und Werken. So hat jedes Jahr meines Lebens seine Etiquette, seine unterscheidende Färbung von dem Ereignis einer Reise, von dem Erlebnis einer Stadt, einer Landschaft verbunden mit anderen Erlebnissen«". Die Landschaften, die Schuelein in seinen Zeichnungen, Aquarellen und Ölgemälden gestaltete, zeigte er in zahlreichen Ausstellungen, so beispielsweise in Porto Maurizio (Italien 1912)15, in Paris (1927)16, in Stockholm (1930)17, in Hannover (1928)18, in Stuttgart (1930)19. Künstlerischer Mittelpunkt aber war ihm seine Heimatstadt München. Hier war der Maler verwurzelt, »wo Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Intellektuelle, studierende Männer und Frauen aus ganz Deutschland und dem Ausland zu dauerndem oder vorübergehendem Aufenthalt zusammenkamen, hatte man Gelegenheit in den Cafes und Weinstuben der Boheme oder in privaten Kreisen den verschiedensten interessanten oder amüsanten Typen und auch grotesken Originalen zu begegnen. Künstler und Schriftsteller trafen sich an wöchentlichen Kegelbahn-Abenden, Bohemekreise hatten ihre besonderen Lebensgewohnheiten mit einer Art Geheimsprache. Lotte Pritzel, die Verfertigerin perverser Puppen, war eine Königin dieser Kreise; der harmlose Anarchist Erich Mühsam, bekannt wegen seiner Bonmots und Schüttelreime, sagte von 275

ihr: 'An Lottes Wegen sind alle gelegen'. Der Arme endete tragisch in den grausamen Händen der Nazis. Wir waren in persönlichen Beziehungen zu Heinrich und Thomas Mann, zu Jakob Wassermann und seiner zweiten Frau Martha Karlweiss, zu Arthur Schnitzler, zu Arnold Zweig, Wolfenstein, Efraim Frisch, Wedekind, Kasimir Edschmid etc. Die besten jüngeren Künstler waren in der Münchner Neuen Secession; mit vielen von ihnen traf man sich nachts in Weinstuben. Edwin Scharf, der Bildhauer, und Paul Klee standen uns nahe«20. Der Charme Münchens beeindruckte Schuelein zeit seines Lebens. Wolfskehl schreibt in einem Brief vom 2.8.1946 an den Künstler: »Ich weiß nicht, ... warum aus Ihren Erzählungen, Berichten, Anfragen so viel von unserem altgewohnten, nie vergessenen München herausduftet, in dem doch ein gutes Stück auch unseres heutigen Daseins immer noch atmet, gleichsam zu Hause ist. Aber es ist so«21. Briefe aus Schueleins Nachlaß u.a. an Thomas Mann22, von Wassily Kandinski 23 und Alfred Kubin 24 belegen die intensiven Kontakte Schueleins zu zeitgenössischen Künstlern. Schuelein verließ angesichts der nahenden Katastrophe 1930 München. Am 7. Januar 1930 hatte er dem Reichsverband Bildender Künstler Deutschlands e.V., Gau München, seinen Austritt mitgeteilt, er übersiedelte nach Berlin Westend, Frankenallee 23. Aber auch hier blieb er mit dem Antisemitismus konfrontiert, »der schon über seine Jugend Schatten geworfen hatte, eher er in bestialischen Wahnsinn ausartend ihn aus einer Heimat gerissen und von Land zu Land getrieben hatte; der seine Schwester und viele ihm nahestehenden Menschen mitleidslos gequält und ermordet hatte«25. Im Nachlaß des Künstlers findet sich auf einem Zeitungsartikel der Vossischen Zeitung Nr. 84 vom 25. März 1933 die Bleistiftnotiz: »Letzte Ausstellung in Deutschland«. Der Berichterstatter der Zeitung schrieb: »J. W. Schuelein gibt Kunde von seiner feinfühligen kultivierten Malerei, die Szenarien kleiner südlicher Küstenorte festzuhalten liebt. Straßen, Strand, Hafen, Leuchtturm, Kirche, Brandung, Höhen im Binnenland, das sind die Themata. Ein zarter grauer Ton herrscht vor, der den Ausschnitten eine delikate träumerische Wirklichkeit gibt«26. Eine Woche nach seiner letzten Ausstellung in Deutschland, am 1. April 1933, dem Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte und Einrichtungen, floh Schuelein mit seiner Frau und seiner 1916 geborenen Tochter Katharina, rasch entschlossen, aus dem »Deutschland Hitlers«: »Im Rauche der rheinischen Fabriken wehten Hakenkreuzfahnen. An der belgischen Grenze sah ich zum ersten und letztenmale die Mordgehilfen Hitlers. Sie kamen in unseren Zug, prüften unsere Pässe und riefen mich heraus... Sie hielten mich scheinbar für meinen Vetter Hermann Schuelein, den Direktor der großen Löwenbrauerei in München. Aber nachdem sie konstatieren mußten, daß ich nur ein Maler war, durfte ich in den abfahrenden Zug zurückkehren...« 27 . N u n lebte die Familie Schuelein sechs Jahre in Frankreich, unterstützt von der Familie Suzanne Carvallo-Schueleins. Der Künstler verfaßte, neben seiner intensiven Arbeit an seinen Bildern, eine Reihe kunsttheoretischer Manuskripte, so »Die 10 Gebote des Malers«, »Gespräche in Montauban«, »Goethe und Spinoza« und »Über die 276

Begriffsverwirrung in der neuen Kunsttheorie«. Schon in Berlin hatte er Artikel für das Berliner Tageblatt (»Der wiedererstandene A n t o n von Werner«, 1931) und die Zeitschrift »Kunst und Dekoration« (»Bilder im modernen Haus«, 1931 und »Richtung des künstlerischen Wollens«, 1932) geschrieben. 28 1935 stellte er im Museo de Tossa, Spanien, im gleichen Jahr in den Pariser Galerien Pittoresque und Galerie Guy Stein (auch 1936) aus. 1938 waren seine Werke in der Galerie Jean Racine zu sehen und 1939 beim XVI" Salon de Touleries 2 '. In Frankreich w u r d e er Mitglied der »Union des Artists Juifs«. 30 Z u seiner Ausstellung in Tel Aviv 1939 schrieb Karl Schwartz für die Zeitung »Haaretz« (20. 3. 1939): »Der N a m e Schuelein war bisher nicht bekannt. In Paris hat er einen guten K l a n g . . . Er ist einer der fleißigsten und unermüdlichsten Künstler mit einem stets heiteren und in sich gleichbleibenden Temperament, . . . Schuelein läßt uns - und das ist wohl das endgültige Kriterium dieser Kunst - bei seinen Bildern niemals an das Handwerkliche denken. Es wird zur Selbstverständlichkeit und ist so sehr Bestandteil des Kunstwerkes, daß wir ganz von dem C h a r m e der Darstellung, von den Klängen der T ö n e und dem Leuchten der Farben gefangen g e n o m m e n werden« 31 . Nachdem Schuelein mehrmals in französischen Konzentrationslagern inhaftiert war, gelang es ihm und seiner Familie 1941 über Montauban, Madrid, Lissabon aus der »Mausefalle« nach Amerika zu fliehen. Er w u r d e Bürger eines Landes, das ihm fremd blieb: »Amerika, das die Zahl vergöttert, die Menschen nach Ziffern ihres Einkommens bezeichnet.... Intelligenz und schöpferische Fähigkeiten und Leistungen werden mit Zahlen getestet und b e w e r t e t . . . Die Massenzivilisation strebt nach Vergnügen und Aufregung, nicht nach Freude und Kontemplation, nach Zerstreuung, nicht nach Konzentration. Man wünscht ein Einschläfern geistiger Tätigkeit, ein passives Ü b e r sich-Ergehenlassen von schnell wechselnden Eindrücken, im Cinema, am Radio, Television, beim Durchblättern der Magazine...« 3 2 . Schuelein Schloß sich der »Associated American Artist Inc.« an und stellte seit 1942 in N e w York aus, so in den Galerien Knoedler (1945)", Delius (1949, 1951), Schoenemann (1955), im M u s e u m in Pittsburgh sowie den Museen Syracuse und Witney M u s e u m of American Art. 34 Z u r Ausstellung in der Galerie Delius (1949) schrieb Willi Wolfradt im »Aufbau«: » O h n e j e d e s programmatisches Aufspielen und ohne modische Künste ist Schuelein, heute den Siebzig nicht mehr so fern, beharrlich seinen Weg gegangen, i m m e r geschätzt, doch kaum voll nach Verdienst beachtet. Kein auffälliger Neuerer, dem auf dem Jahrmarkt der Stiltricks der Zulauf gewiß wäre, aber ein voller Beschwörer des Landschaftlichen, seiner tönenden Geheimnisse und seiner gewordenen O r d nung .. .«35. Seit 1948 unternahm Schuelein wieder Reisen nach Europa, die ihm erneut Anregungen für sein künstlerisches Spätwerk gaben. 1951 verlieh ihm die Akademie der Künste in München den Titel eines Professors h.c. Mit dieser E r n e n n u n g ehrte sie eine Persönlichkeit, die bis 1930 zu den bekannten und geachteten M ü n c h n e r Künstlern gehört hatte. A m 25. N o v e m b e r 1970 starb 277

der Maler im Alter von 89 Jahren in New York. Drei Jahre später erinnerten Ausstellungen im Goethe-Haus in New York und im Lenbachhaus in München, die von Michael Petzet eingerichtet worden waren, an den verstorbenen Maler36, der sein Leben in seinen Erinnerungen so zusammenfaßte: »Wenn ich bedenke, daß ich von Natur aus zu Pessimismus und Depression neige, und daß ich in einer revolutionären Zeitepoche gelebt habe - so muß ich sagen: Trotz allem, es war ein buntes, heiteres, trauriges und köstliches Abenteuer«37.

Anmerkungen 1 Brief des Präsidenten der Hochschule der bildenden Künste Josef Henselmann vom 19. 11. 1951, Stadtbibliothek München, Handschriftensammlung (StBM, HS), Nachlaß Julius Wolfgang Schuelein (NL J.W.Sch.). 2 Schuelein, Julius Wolfgang: Heitere Hoffnungslosigkeit, autobiographische Skizze, Horn, Niederösterreich 1968, S. 10 ff. 3 Hugo von Habermann, Dillingen a.D. 1849-1929 München; v. Habermann ging in der Münchner Pagerie, einer Erziehungsanstalt für adlige Kinder, zur Schule, studierte Jura und leistete 1870 als Landwehroffizier Kriegsdienst. In Ingolstadt lernte er einige Münchner Maler kennen und begann selbst zu malen. 1873-79 studierte er an der Münchner Akademie bei Piloty. Er war Gründungsmitglied und seit 1904 erster Vorsitzender der Münchner Sezession. Seit 1904 lehrte er an der Münchner Akademie. Er war Ritter des bayerischen Maximiliansordens und Träger des Ordens »pour le merite« (vgl. Die Zwanziger Jahre, Ausstellungskatalog Stadtmuseum München, München 1978, S. 753). 4 Eine Kopie dieses Briefes von Heinrich Mann und eine weitere vom 28.8.1918 befindet sich in der StBM, HS, NL J. W. Sch. 5 Carvallo, Suzanne (1883-1972), Tochter sephardischer Juden, war in den 20er und 30er Jahren eine bekannte Porträtmalerin. Ihr Großvater besaß einen »dolomitenartige(n), menschenferne(n)« Landstrich in Katalonien, ein Indiz fur die Wohlhabenheit ihrer Familie. Bilder von Suzanne Carvallo hingen auch in der Wohnung von Thomas Mann in Prince Town und bei Heinrich

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Mann. In einem Brief v. 19.1.1940 erwähnt Thomas Mann ausdrücklich die Porträts, die sein »Eßzimmer schmücken«, StBM, HS, NL J.W. Sch. Mitteilung der Münchner Sezession, von Präsident Hugo von Habermann unterzeichnet, v. 29.5.1909 an den »Hochwohlgeborenen Herrn Maler Julius Wolfgang Schuelein, München«, StBM, HS, NLJ.W. Sch. Bericht in: Janus v. 1.7.1912, StBM, HS, NL J.W.Sch. Typographisch gestalteter, auf Bütten gedruckter Brief vom 12.4.1912, welcher die zugrundeliegende Absicht für die Gründung der Künstlervereinigung »Sema« beschreibt, StBM, HS, NLJ.W. Sch. E(sswein) in: Münchner Neueste Nachrichten v. April 1912, StBM, HS, NLJ.W. Sch. Schuelein stellte in dieser Austeilung zusammen mit Thomas Theodor Heine aus, StBM, HS, NLJ.W. Sch. Die Galerien Caspari Thannhauser und Heinemann, in denen Schuelein in München ausstellte, gehörten jüdischen Kunsthändlern. Sie waren ebenso wie die Galerien Fleischmann und Bernheimer ein wichtiger Faktor im Kulturleben Münchens; Schwarz, Karl, in: Lamm, Hans (Hg.): Vergangene Tage, München, Wien 1982, S. 294 f. Zeitungsausschnitt der Augsburger Postzeitung v. 7.7.1914; gezeichnet Dr. A. W., StBM, HS, NL J. W. Sch. Ostini, Fritz von, in: Münchner Neueste Nachrichten v. 8.7.1914; Bericht über die erste Ausstellung der »Neuen Münchner Sezession«, StBM, HS, NL J. W. Sch. Schuelein, Hoffnungslosigkeit, S. 32.

15 Bericht in: »Picconc« Nr. 741 v. 16.3.1912 über eine gemeinsame Ausstellung mit dem Wiener Maler F. A. Harta. Im gleichen Jahr stellt Schuelein noch einmal mit F. A. Harta aus in der Galerie Heinemann zusammen mit Prof. Julius Exter, Hans Eder und M a x Unold, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 16 Einladungskarte zur Vernissage der Galerie Thannhauser fur eine Ausstellung in M ü n chen und Paris, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 17 Brief des Direktors der Kunsthalle H a m burg Prof. Dr. E. Pauli v. 3.6.1930, in welchem er W. J . Schuelein »zu einer repräsentativen Ausstellung deutscher Kunst« in Stockholm einlädt, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 18 Q u i t t u n g des deutschen Künstlerbundes, ausgestellt am 17.2.1928 in Hannover, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 19 Q u i t t u n g des deutschen Künstlerbundes, ausgestellt am 28.5.1930 in Stuttgart, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 20 Schuelein, Hoffnungslosigkeit, S. 38ff. 21 Karl Wolfskehl an Schuelein v. 2.8.1946 (freundlicher Hinweis von Frau Evamaria Brockhoff), in: Ruben, Margot (Hg.): Karl Wolfskehl, Zehn Jahre Exil. Briefe aus N e u seeland. 1938-1948, Heidelberg, Darmstadt 1959, S. 278. 22 T h o m a s Mann an Schuelein v. 19.1.1940, Prince Town, T h o m a s Mann Archiv Z ü rich. 23 Kandinsky an Schuelein v. 2. Dez. 1913. In diesem Brief nimmt Kandinsky zur Situation der Münchner Kunstszene Stellung und verwendet sich für die Malerin Gabriele Münter und den Maler Albert Bloch, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 24 Alfred Kubin an Suzanne Schuelein v. 2.8.1919, kalligraphisch gestalteter Brief; Alfred Kubin an Schuelein v. 23.4.1922, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 25 Schuelein, Hoffnungslosigkeit, S. 42. 26 Bericht in: Vossische Zeitung Nr. 84; Schuelein zeigte seine Werke in den Räumen der Berliner Sezession gemeinsam mit Erich Büttner, Christoph Drexel, Herbert Fiedler, Heinrich Heuser und Wolf Röhricht. In diesem Artikel bezeichnet der Kritiker M . O. Schuelein als »Berliner Maler«, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 27 Schuelein, Hoffnungslosigkeit, S. 33.

28 Typoskripte, handschriftliche Aufzeichnungen sowie Belegexemplare, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 29 Belegt durch Einladungskarten, Prospekte, Briefe, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 30 Außer seiner Mitgliedschaft in der » U n i o n des Artists Juifs« war Schuelein nach seiner Flucht aus Deutschland auch Mitglied der »Four Arts Aid Society« und der »Prince T o w n Art Association«, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 31 Typoskript. Der Autor würdigt in seinem Text auch das Werk von Suzanne Schuelein und charakterisiert Schuelein »seinem Wesen, Denken und künsterlichen Empfinden nach« als »völligen Franzosen«. 32 Schuelein, Hoffnungslosigkeit, S. 56. 33 Bericht in: Aufbau, N e w York v. 25.5.1945. Im gleichen Bericht wird auch eine Ausstellung von Josef Scharl in der Galerie Nierendorf gewürdigt. Zu der Ausstellung in der Galerie Knoedler von Schuelein findet sich eine handschriftliche Aufzeichnung über Preise seiner Bilder, z.B. »Habor Landscape« (Öl) 1000 Dollar, » T h e Yellow Sail« (Öl) 500 Dollar, »Watercoulors« 125 Dollar, »Drawings« 95 Dollar. 34 Witney M u s e u m o f American Art, Brief der Direktorin Juliana Force (1949), in welchem sie Schuelein zu einem privaten Besuch einlädt. Im Zeitungsbericht des Aufbaus v. 25.5.1949 wird Schuelein wie folgt gewürdigt: »Schuelein reveals no percepible trace o f his Bavaria background, having been imbued with the Great French tradition during his long stay in Paris. His N e w England landscapes belong to the most satisfying exploitations o f the American seen by a foreign born Artist«, S t B M , H S , N L J . W. Sch. 35 Typoskript, 6.5.1949 für den »Aufbau«, N e w York, S t B M , H S , N L J . W . Sch. 36 Bericht in: Aufbau, N e w York v. 9.11.1973 über die Ausstellung von J.W. Schuelein im Lenbachhaus München und über die Feier zum Andenken an den Verstorbenen. Es sprachen der Kulturreferent Dr. Herbert Hohenemser und Prof. Werner J . Cahnmann. Diese Ausstellung wurde auch im Goetheinstitut N e w York gezeigt, S t B M , H S , N L J . W . Sch. 37 Schuelein, Hoffnungslosigkeit, S. 60.

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Felix F r e u d e n b e r g c r , F o t o g r a f i e .

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J u l i u s W. S c h u e l e i n , F o t o g r a f i e , aus: J u l i u s W. S c h u e l e i n . 1881-1970. A u s s t . K a t . , M ü n c h e n 1973, S. 4.

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N i k o d e m Caro, Fotografie.

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J a k o b W a s s e r m a n n , F o t o g r a f i e aus: J a k o b W a s s e r m a n n . A u s s t . K a t . , F ü r t h 1973.

Helmut Hilz

Nikodem Caro (1871-1935), Wissenschaftler und Industrieller

Der Erfinder der Kalkstickstoffsynthese und Mitbegründer der in Trostberg ansässigen »Bayerischen Stickstoffwerke« entstammte einer berühmten sephardischen Familie, die in Schlesien und Polen wohnhaft war und sich auf den Prager Oberrabbiner Abraham ben Avigdor Caro (gest. 1542) zurückführte 1 . Eher unwahrscheinlich ist jedoch eine Verwandtschaft der Familie mit dem Autor des »Schulchan Aruch«, Josef Caro (1488-1575), da dieser schon seit 1525 in Safed/Galiläa lebte2. Nichtsdestoweniger aber war die religiöse Tradition bei den Caros von größter Bedeutung, was die Tatsache zeigt, daß der Großvater Joseph Chajim Caro (1800-1894) und der Onkel Ezechiel Caro (1844-1915) bedeutende Rabbiner waren. Während jener als einer der ersten Rabbiner Polens in deutscher Sprache predigte, brachte es dieser bis zum Oberrabbiner von Lemberg, der bedeutendsten Gemeinde Galiziens3. Neben diesen Vorfahren Nikodem Caros sind aber vor allem noch Heinrich Caro (1834-1910), der bei der BASF wesentlich an'der Entwicklung der Teerfarbenindustrie beteiligt war4, sowie die Historiker Jakob Caro (1835-1904) und Georg Martin Caro (1867-1912) als berühmte Träger des Namens Caro zu nennen 5 . Als Nikodem Caro am 26. Mai 1871 im damals russischen Lodz als Sohn von Rosa (geb. Rubinstein) und Albert Caro geboren wurde, war sein Vater, der ebenfalls eine Rabbinerausbildung absolviert hatte6, dort als Kaufmann und deutscher Vizekonsul tätig7. Nach dem Abitur, das Caro 1888 an einem Lodzer Gymnasium ablegte8, wandte sich der erst Siebzehnjährige dem Studium der Natur- und Ingenieurwissenschaften an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg zu. Bereits 1891 konnte Caro den Grad eines Diplom-Chemikers erlangen, dem er 1892 den an der Universität Rostock erworbenen Doktortitel hinzufügte 9 . In den folgenden Jahren war Caro Assistent bei Prof. Pinner10 an der Tierärztlichen Hochschule in Berlin, 1895 eröffnete er ein eigenes chemisch-technisches Labor. Seine Forschungstätigkeit wandte sich nun Fragen der Acetylenchemie zu. Ziel der Untersuchungen war es, einen Weg zur großtechnischen Herstellung von Cyaniden zu finden, da diese zum Aufschließen und Ausscheiden von Gold aus Erz benötigt wurden 11 . Gemeinsam mit Prof. Frank12, mit dem ihn seine Arbeit zusammengeführt hatte, gelang es Caro 1896, Stickstoff an Carbid, ein Produkt aus Kohle und Kalk, zu binden. Zur weiteren Erforschung der 281

damit entdeckten Kalkstickstoffsynthese, deren Bedeutung für die Düngemittelindustrie noch nicht wahrgenommen worden war, wurde 1899 von der Deutschen Bank, Siemens & Halske, der D E G U S S A , sowie von den Chemikern Caro, Frank und Rothe die Cyanidgesellschaft gegründet 13 . Erst im Laufe der weiteren Experimente, die zum überwiegenden Teil in den Laboratorien von Siemens & Halske und der D E G U S S A durchgeführt wurden, ist die Düngemittelfunktion des Kalkstickstoffs 1901 klar erkannt worden". Neben der Kalkstickstoffsynthese, die als Frank-Caro-Verfahren bekannt wurde, widmete sich Caro in diesen Jahren Forschungen, die die Verwertung des Torfes fur die Elektrizitätsgewinnung vorsahen 15 . Caro bemühte sich im Rahmen der Cyanidgesellschaft insbesondere um die industrielle Verwertung des Kalkstickstoffverfahrens; er gehörte 1907 zu den Mitbegründern der »Bayerischen Stickstoffwerke« (BStW), die Trostberg als Standort wählten. Der Grund für die Ansiedlung in Südostbayern waren die noch ungenutzten Alz-Wasserkräfte, die die für die energieintensive Kalkstickstoffindustrie notwendigen großen Elektrizitätsmengen erzeugen konnten. In den Jahren 1909 bis 1911 bauten die B S t W deshalb an der mittleren Alz zwei Kanalkraftwerke, die mit einer Gesamtleistung von 9500 kW 16 vor dem Ersten Weltkrieg die größten Elektrizitätserzeuger Bayerns waren. Der gewonnene Strom sollte der Versorgung der, unter Caros Leitung, gleichzeitig errichteten Carbidfabrik in Schalchen und des Kalkstickstoffwerkes in Trostberg dienen, das 1913 eine Produktion von 20.0001 Kalkstickstoff aufwies 17 . Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges rückte der Kalkstickstoff, aufgrund der Möglichkeit ihn in die von den Munitions- und Pulverfabriken benötigte Salpetersäure umwandeln zu können 18 , in den Blickpunkt der mit der Kriegswirtschaft befaßten Stellen. Schon Ende Januar 1915 wurde daher in Berlin der Beschluß gefaßt, daß die B S t W unter Caros Führung zwei große Werke in Piesteritz bei Wittenberg und in Chorzow in Oberschlesien errichten sollten 19 . Erst als sich die Haber-Bosch-Synthese der B A S F durchsetzen konnte, verlangsamte sich der Ausbau der deutschen Kalkstickstoffindustrie. Nach der Fertigstellung von Piesteritz und Chorzow wandte sich Caro deshalb wieder vor allem der Erweiterung der südostbayerischen Anlagen zu. In den Jahren 1916 bis 1920 wurde von den B S t W ein großes Wasserkraftwerk, das Carowerk, mit 16.900 kW 20 Leistung und eine Carbidfabrik bei Hart/Alz errichtet. Die B S t W übertrugen 1920 das Eigentum an diesen zuletzt genannten Anlagen auf die »Bayerischen Kraftwerke« ( B K W ) , die 1922 vom Reich übernommen wurden 21 . Ebenso wie die B S t W aber stand dieses Unternehmen unter der Leitung von Caro, der auch im Vorstand der »Mitteldeutschen Stickstoffwerke« und des »Stickstoff-Syndikats« vertreten war und darüberhinaus 22 Aufsichtsratsposten bekleidete 22 . Neben seinem Engagement für die Kalkstickstoffindustrie, die die Entwicklung des südostbayerischen Chemiedreiecks einleitete, war Caro bemüht, den Wasserkraftausbau in Bayern zu fördern. Dies war darin begründet, daß allein

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die B K W 1927 einen Stromverbrauch von 447,1 Millionen kWh 23 hatten und deshalb eine ausreichende Energieversorgung als Grundlage für das weitere wirtschaftliche Gedeihen nötig war. Caro forderte energisch den Ausbau des unteren Inn, für den er 1929 einen Plan vorlegte, der die Erzeugung von jährlich 1200 Millionen k W h an diesem Flußabschnitt vorsah 24 . Doch blieben all diese Vorhaben wegen der einsetzenden Weltwirtschaftskrise in den nächsten Jahren unausgeführt. Caro war nicht nur die fuhrende Persönlichkeit der chemischen Industrie im rechtsrheinischen Bayern der zwanziger Jahre, sondern auch ein angesehener Wissenschaftler, was sich darin zeigt, daß er Mitglied des Kuratoriums der Chemisch-technischen Reichsanstalt und der Leningrader Akademie war. Als Träger zweier Ehrendoktortitel bekam er 1929 auch noch die Bunsenmedaille, die höchste Auszeichnung der deutschen Elektrochemiker, verliehen 25 . Z u diesen Ehrungen kamen die Titel eines Professors und Geheimen Regierungsrats, die seine überragende Bedeutung zusätzlich unterstreichen. Caro verheiratete sich in den neunziger Jahren mit Else Friedmann, deren Vater in Dresden Brauereibesitzer war. Ihre Tochter Vera heiratete u m 1920 den Sohn des böhmischen Braunkohlenindustriellen Petschek, mit dem Caro angeblich die Schaffung eines Braunkohlensyndikats plante 26 . Neben seinen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aktivitäten widmete sich Caro seiner Kunstsammlung, die Porzellan, Gemälde und Ost-Asiatica u m f a ß te27. Bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verließ Caro, der Ehrenbürger von achtzehn bayerischen Gemeinden war 28 , Deutschland und hielt sich in den folgenden Jahren in der Schweiz und Italien auf. Er starb am 27. Juni 1935 in Rom 29.

Anmerkungen 1 Waeser, Bruno: Nikodem Caro, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3, Berlin 1957, S. 152. 2 Geschichte des jüdischen Volkes, hg. v. Haim Hillel Ben-Sasson, Bd. 2, München 1979, S. 342. 3 EJ (dt), Bd. 5, Sp. 51 f. 4 Schuster, Curt: Heinrich Caro, in: Tradition 6 (1961), S. 49-64. 5 Jüdisches Lexikon, Bd. 1, Berlin 1927, Sp. 1274 f. 6 Wininger, S.: Große Jüdische National-Biographie, Bd. 1, Cernaufi 1925, S. 501. 7 Deutscher Wirtschaftsführer, bearb. v. Georg Wenzel, Hamburg 1929, Sp. 372.

8 Deutscher Wirtschaftsführer, Sp. 372. 9 Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft, Bd. 1, Berlin 1931, S. 261. 10 Adolf Pinner (1842-1909) war Professor für anorganische Chemie und von 1885 bis 1907 Direktor des deutschen Patentamts (EJ (engl), Bd. 5, Sp. 386). 11 Biographien bedeutender Techniker, Ingenieure und Technikwissenschaftler, hg. v. Gerhard Banse u. Siegfried Wollgast, Berlin (Ost) 1983, S. 339. 12 Adolf Frank (1834-1916) hatte sich seit 1861 als Düngemittelunternehmer betätigt und leistete einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der deutschen Kalkindustrie

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(Delhaes-Günther, Karl von: Kali in Deutschland, Köln, Wien 1974, S. 65 ff.). Siemens-Archiv, S A A 35/45 /LG 500, »Dr. Franks Cyangewinnung«; Haber, Ludwig Fritz, The Chemical Industry 1900-1930, Oxford 1971, S. 88. Dorn, Friedrich Wilhelm u.a.: Carbide und Kalkstickstoff, in: Chemische Technologie, hg. v. Karl Winnacker u. Leopold Küchler, Bd. 2, München, Wien 1982, S. 620. Zum 60. Geburtstag von N. Caro, in: Chemiker-Zeitung 55 (1931), S. 393. Südbayerische Chemie (Werkszeitung der Wacker-Chemie) Nr. 17 v. 5.3.1927. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA), MWi 2985, 6.8.1914. Großmann, Hermann: Stickstoffindustrie und Weltwirtschaft, Stuttgart 1926, S. 44. Ii., vi ISIA. MWi 2985, 31.1.1915. Die Wasserkraftwirtschaft Deutschlands, hg. v. Deutschen Wasserwirtschafts- und Wasserkraftsverband, Berlin 1930, S. 248. BayHStA, MWi 2937, 3.4.1922. Es handelte sich um folgende Unternehmen: AEG, AG fur ehem. Produkte vorm. Scheidemandel, Bamag-Meguin AG, Deutsche Bank, Deutsche Bierbrauerei AG, Deutsche Industriewerke AG, Diskonto-

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Gesellschaft, Donauwerke AG fur Kalkindustric, »Eintracht« Braunkohlenwerke und Brikettfabriken, Hannoversche Kolonisations- und Moorverwertungs AG, Innwerk AG, Kokswerke und Chem. Fabrik AG, Niederlausitzer Kohlenwerke, Niederschlesische Bergbau AG, Nitritfabrik AG, »Providentia« AG fur Braunkohlenindustrie, Rhein-Main-Donau AG, Rütgerswerke AG, Straßfurter Chem. Fabrik AG, Stettiner Chamotte-Fabrik AG, StickstoffLand-Gesellschaft mbH, VIAG, (Hamburgisches Welt- Wirtschafts-Archiv, Sonderdruck aus »Internationale Handelsbrücke«; Deutscher Wirtschaftsfuhrer Sp. 372; Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft S. 262). Die Wasserkraftwirtschaft Deutschlands, S. 240 ff BayHStA, MWi 2932, 2.7.1929. Deutscher Wirtschaftsführer, Sp. 372. Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 92 v. 1.4.1932. Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft, S. 262. Deutscher Wirtschaftsfuhrer, Sp. 372. Frankfurter Zeitung, Nr. 335 v. 4.7.1935.

Leibi Rosenberg

Jakob Wassermann (1873-1934). Vergebliches Tun - sein Weg als Deutscher und als Jude

Für R. K . »Warum vermag im Bösen ein Einzelner so viel, und im Guten ein Einzelner fast nichts?« 1

Jakob Wassermann wurde am 16. März 1873 in Fürth geboren. Die Fürther jüdische Gemeinde zählte zu den bedeutendsten jüdischen Gemeinden Deutschlands im 18. und 19.Jahrhundert. Sie galt unter Juden als gelehrt, fromm, vorbildlich. Die Wassermanns waren erst eine Generation zuvor zugezogen, der Vater aus Zirndorf, die Mutter aus Günzenhausen. Stolz konnte Jakob Wassermann darauf verweisen, daß seine »Vorfahren nachweisbar seit mindestens 500 Jahren in fränkischen Landen« lebten2. Der Familienmythos weiß von spanisch-jüdischen Vorfahren der Mutter, die väterlichen Vorfahren sind sagenhaft langlebig. Die Großväter waren Seiler und Weber. Handwerker wollte Jakob Wassermann allerdings nicht werden, das Träumen und Phantasieren war mehr sein Metier. Dies wird besonders deutlich nach der ersten (und vielleicht größten) Katastrophe seines Lebens: Im Alter von neun Jahren verlor er seine heißgeliebte Mutter, der Vater heiratete noch einmal. Die Stiefmutter und der Älteste ihres Gemahls kamen nicht miteinander zurecht. Jakob vernachläßigte die Schule, flüchtete sich in Träumereien. Nachts unterhielt er seinen Bruder mit einem improvisierten Fortsetzungsroman. Als er es wagte, in der Lokalzeitung eine Erzählung zu publizieren, wurde er schwer bestraft: Man schickte den 16jährigen zu einem Onkel nach Wien, in dessen Fächerfabrik er zum Kaufmann ausgebildet werden sollte. Von 1891 bis 1892 leistete Jakob Wassermann seinen Militärdienst in Würzburg ab. Er versuchte sich jahrelang als Angestellter in verschiedenen Betrieben, ohne Fuß fassen zu können, bis er schließlich zu seiner literarischen Berufung fand. Über die Begegnung mit Ernst von Wolzogen (1895) kam er zum Schreiben und wichtiger noch — zum Publizieren. Von Anfang an war er redaktionell und beitragend an den Münchner Zeitschriften »Simplizissimus« und »DieJugend« tätig. 1896 erschien ein erster Band von ihm: »Melusine«, ein Jahr später dann gelang ihm mit dem Roman »Die Juden von Zirndorf« der große Wurf. Dieses Buch machte ihn bekannt, und es ist in seinem ersten Teil - eine Beschreibung des Schocks, den der Pseudo-Messias Shabtai Z w i im 17.Jahrhundert bei den fränkischen Juden ausgelöst hatte - ein Meisterwerk. 285

1898 zog Wassermann nach Wien, nun als 'freier' Schriftsteller. Er heiratete Anfang 1901 ein Mädchen aus angesehenem jüdischen Bürgerhaus. In dieser Zeit starb Wassermanns Vater im Alter von 57 Jahren. Von 1919 bis zu seinem Tod lebte Wassermann im steirischen Altaussee, das sich seit den 30er Jahren des 19.Jahrhunderts zu einer beliebten Sommerfrische der österreichischen Literaten weit entwickelt hatte. In dieser ländlichen Idylle traf Wassermann auf den sogenannten Jungwiener Kreis um H u g o von Hofmannsthal, Leopold von Andrian, Raoul Auernheimer, Richard Beer-Hofmann, Felix Saiten, Arthur Schnitzler. Gustav Mahler, Sigmund Freud, die Literaturwissenschaftler Oskar Walzel, Anton Bettelheim, Robert Franz Arnold, Franz Muncker und viele andere bedeutende Künstler und Wissenschaftler verbrachten regelmäßig ihre Ferien im Altausseer Land. Jakob Wassermann wurde ein erfolgreicher Schriftsteller. Die Großen der Zeit suchten seine Bekanntschaft, H u g o von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Richard Dehmel, Moritz Heimann, Walter Rathenau wurden seine Freunde. Zwischen 1910 und 1933 zählte er zu den meistgelesenen deutschen Autoren: Der Gesamtverkauf seiner bei S. Fischer verlegten Bücher erreichte über 1,5 Millionen Exemplare. Sein Ruhm war international, seine Bücher weltweit verbreitet. Nur einige Titel seien hier vermerkt: »Caspar Hauser«, »Das Gänsemännchen«, »Christian Wahnschaffe«, »Etzel Andergast«, »Die Geschichte der jungen Renate Fuchs« und der berühmte »Fall Maurizius«. Seltsam fremd und abweisend in ihrem poetologischen und philosophischen Anspruch lesen sich seine Texte heute. Die Art der Erzählung, wobei die Handlung immer wieder durch Reflexionen des Autors unterbrochen wird, wirkt heute schwer lesbar, zumal die Erzählinhalte stets auch mit Bildungsgut aus Kunst und Geschichte befrachtet sind. Dennoch: Jakob Wassermann ist alles andere als ein weltfremder L'art-pour-l'art-Ästhet. Kritisch - vor allem auch sich selbst gegenüber - nimmt er an seiner Zeit Anteil: An der Auflösung der deutschen und österreichischen Kaiserreiche, am Grauen des Ersten Weltkriegs, am Zerfall aller alten Werte nach 1918, Revolutionen, Räterepubliken, Wirtschaftskatastrophen, Arbeitslosigkeit, N o t und dem unaufhaltsamen Aufstieg des Faschismus und Nationalsozialismus. Die leise Stimme der Vernunft, wie sie auch Jakob Wassermann, der hellsichtige Analytiker, dagegen erhob, blieb vergeblich. 1921 erschien dasjenige Werk Wassermanns, dem kein epochaler Erfolg beschieden war: »Mein Weg als Deutscher und Jude« - ein Buch, das in seltener Klarheit Wege und Ziele des Antisemitismus entlarvt. Klarsichtig, und deshalb streng mit sich selbst und mit den anderen, beschreibt Wassermann den unauflöslichen Widerspruch seines Weges3: »Ich wurde als Mensch nicht als zugehörig gefordert, weder von einem einzelnen, noch von einer Gemeinschaft, weder von den Menschen meines Ursprungs, noch von denen meiner Sehnsucht, weder von denen meiner Art, noch von denen meiner Wahl«4. Auf der anderen Seite finden sich in seinen Büchern immer wieder Passagen, die seine tiefe Heimatliebe belegen 5 . Der Vergeblichkeit seiner Heimatverbun286

denheit entspricht seine zwiespältige Haltung bezüglich seiner Zugehörigkeit zum Judentum: Gerade seine Religion gab fur den Juden Wassermann alles andere als ein fest umrissenes Identifikationsmodell ab: »Der jüdische Gott war Schemen für mich, sowohl in seiner alttestamentarischen Gestalt, unversöhnlicher Zürner und Züchtiger, als auch in der opportunistischen abgeklärten der modernen Synagoge« 6 . Er empfand sich kraft Geburt an etwas ihm Fremdes gekettet: »Man wagte die Fesseln nicht ganz abzustreifen; man bekannte sich zu den Religionsgenossen, obwohl von Genossenschaft wie von Religion kaum noch Spuren geblieben waren. Genau betrachtet war man Jude nur dem Namen nach und durch die Feindseligkeit, Fremdheit oder Ablehnung der christlichen Umwelt, die sich ihrerseits hierzu auch nur auf ein Wort, auf Phrase, auf falschen Tatbestand stützte« 7 . Als würde er nicht dazugehören, blieben ihm die Juden als Volk, als Menschenschlag, als Gattung ein stetes Rätsel. Dennoch verhalf ihm dieses Rätsel zu dezidierten Einsichten: »Die Juden weisen immer auf die Bedrückungen und Verfolgungen hin, wenn verwerfliche Züge aus ihrem Gesamtverhalten gebrandmarkt werden. Kein Jude erträgt ein objektives Urteil über Juden, geschweige denn ein abfälliges, auch über einzelne, auch über Entartete nicht, sobald das Judentum als solches im geringsten mitbelastet wird. Dieser Fehler rächt sich insofern schwer, als sich zwischen schönfärbender Apologie und häßlicher Verleumdungstaktik kaum ein Kompromiß finden läßt. (...) Absurd wäre j a die Meinung, als ob Millionen Menschen, die sich in heikler sozialer Lage durch die Jahrhunderte winden, fast schutzlos, an Leben und Eigentum stets gefährdet, als ob die mehr und tiefer denn ihre Wächter und Quäler zu makelloser Führung verpflichtet, als ob die Verbrecher unter ihnen verabscheuenswertere Verbrecher wären als die anderen. Gerechterweise muß man j a das Gegenteil behaupten« 8 . Vielleicht sind sie gerade deshalb »Geduldete« und »speisen an einer fremden Tafel und bei einem fremden Volke«'. So wie der Dichter Wassermann auf der Suche nach einer Identität war, so sah er das jüdische Volk zerrissen zwischen zwei gegensätzlichen Kräften: »Es ist die Tragik im Dasein des Juden, daß er zwei Gefühle in seiner Seele einigt: das Gefühl des Vorrangs und das Gefühl der Brandmarkung... Man besitzt aber, einfach und menschlich betrachtet, ebensowenig einen Vorrang dadurch, daß man Jude ist, wie man gebrandmarkt ist dadurch, daß man Jude ist«10. Dagegen steht jedoch die Unausweichlichkeit, als Jude geboren zu sein: »Er empfand eine eherne Zusammengehörigkeit mit seinem Volk, und doch haßte er dies Volk, - jetzt mehr als je. Er haßte die Frommen und haßte die sich des religiösen Gewandes entäußert hatten und wie Trümmer eines großen Baues verloren auf dem Ozean des Lebens trieben, verachtet oder mächtig, doch auf jeden Fall Schmarotzer auf einem fremden Stamm. Inmitten fremden Lebens ein fremdes Volk, voll gezwungener Fröhlichkeit, in einem unsichtbaren Ghetto. Der alte Herrlichkeitsgedanke ist verrauscht und mit den Spuren ζweitausendj ährigen Elends am Leibe spielen sie die Herren und bedecken ihre Wunden, ihre Unzulänglichkeit, die Schmach der Unterdrückung mit einem 287

Mantel von Gold. Und er haßte auch die anderen, diese ungroßmütigen Gastgeber mit ihrem Munde voll Lügen und Phrasen und falschen Versicherungen, mit ihren trügerischen Gesetzen und scheinheiligen Göttern«". Hier tritt das Lebensthema Wassermanns zutage: »(...) denn das Wesen eines Volkes ist wie das Wesen einer einzelnen Person: sein Charakter ist sein Schicksal«12. Das ganze Werk dieses Dichters ist letztlich nur der Suche nach dem »Warum?« gewidmet. Bei allem Zwiespalt und aller gesuchten Distanz gibt Wassermann sich Rechenschaft darüber, daß er »am meisten Verständnis, Ermunterung, Echo und Anhängerschaft« bei jüdischen Menschen, vor allem jüdischen Frauen gefunden habe13. Ein Mann wie er konnte mit dem Zionismus als Ideologie des jüdischen Nationalgedankens nur wenig anfangen. Schon früh begegnete er Theodor Herzl, aber es wäre mehr als erstaunlich gewesen, wenn Wassermann gerade hier seine Identität hätte festigen können oder wollen: »Ich fühlte nicht die Solidarität, auf die sie mich verpflichten wollten, nur weil ich Jude war. Die religiöse Bindung fehlte, aber auch die nationale Bindung fehlte, und so, in meinem noch nicht zur Klarheit gediehenen Widerstreben, vermochte ich im Zionismus vorläufig nichts anderes zu sehen als ein wirtschaftlich-philantropisches Unternehmen ... was war gewonnen, so schien es mir, wenn im Jahrhundert des Nationalitätenwahnsinns die zwei Dutzend kleinen, in Hader verstrickten, aufeinander eifersüchtigen, einander zerfleischenden Nationen durch die jüdische zwei Dutzend und eine geworden wären?«14. Heute möchte man ihm antworten, daß er auch historischpsychologisch betrachtet im Unrecht war; denn wie groß die Not für die Juden noch werden würde, konnte auch Wassermann nicht ahnen, obwohl er die Wurzeln der Bedrohung durchaus erkannte und benannte. Er sah schon früh, daß es zwischen dem jüdischen und dem deutschen Wesen, das er vergeblich miteinander zu versöhnen suchte, in naher Zukunft zu einem tragischen Zusammenstoß kommen würde. Bei seinem langen, verzweifelten Ringen um die Anerkennung als Deutscher, und vor allem als deutscher Dichter, hatte er Einsichten vom deutschen Wesen gewonnen, die auch heute noch mehr als nachdenkenswert sind: »Das deutsche Wesen ist Zerstückung; Zerstückung bis ins Mark; deutsche Entwicklung geht von Ruck zu Ruck; Epochen des Reichtums und der Blüte münden jäh in eine Ödnis; große Erscheinungen sind unbegreiflich abseitig; zwischen bewegten Teilen fehlen Vermittlungen und Übergänge, so daß an ein lebendiges Glied ein totes angenietet und Kaste von Kaste durch unübersteigliche Mauern geschieden ist. Ein Zentrum gibt es nicht und hat es nie gegeben, die vier Jahrzehnte des geeinten Reiches haben nicht einmal eines der Verwaltung geschaffen«15. Als ein Jahr vor seinem Tod das deutsche Reich »zentralisiert« wurde, entstand kein Zentrum der geistigen und seelischen Kräfte, sondern die Grundlage für die schlimmste Zerstückung der deutschen Geschichte. Tief drang Wassermann in die Ursachen der geistigen und sittlichen Seuche Antisemitismus ein, mit der er während seiner Militärzeit in Würzburg erstmals 288

konfrontiert worden war: »Zum erstenmal begegnete ich jenem in den Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Haß, von dem der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt. Dieser Haß hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne des Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein deutscher Haß« 16 . Vor allem beschäftigte ihn die Inbrunst, mit der Deutsche undjuden einander argumentativ zu beurteilen trachteten, beinahe als hätten sich die einen ohne die anderen nicht definieren können. Die Tatsache, daß ein Großteil beider Völker von dieser Auseinandersetzung 17 kaum Notiz nahm, spricht genausowenig gegen die hier aufgestellte These, wie die Tatsache, daß nach der vollzogenen Tragödie das Gespräch zwischen beiden eine völlig neue Dimension gewonnen hat. Der Antisemit, wie ihn uns Wassermann zeigt 18 , ist (vorerst) kein Totschläger. Er meint sich wehren zu müssen gegen die Juden, die das deutsche Wesen entstellen, die ihm unheimlich in ihrer Wandel- und Unwandelbarkeit sind, in ihrer Aufnahme- und Wiedergabekraft. Vor allem beneidet er die Juden um ihre Lebens- und Leidensfähigkeit: »Was werfen die Deutschen den Juden vor? Sie sagen: ihr vergiftet unsere reine Atmosphäre. Ihr verführt unsere unschuldige Jugend zu euern Taktiken und Praktiken. Ihr tragt in unsere germanisch-strahlende Weltanschauung euer trübes Grübeln, eure Verneinung, eure Zweifel, eure asiatische Sinnlichkeit. Ihr wollt unsern Geist in Fesseln schlagen und das arische Prinzip von der Erde vertilgen. Andere sagen: ihr verderbt uns das Geschäft. Diese sind aufrichtig« 19 . War Wassermann nun Deutscher oder Jude oder beides? Er kann eine klare Entscheidung nicht treffen. Als er die Bilanz seines Lebens zieht, findet er auch milde Worte, doch schlußendlich muß er feststellen: 20 »Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen. Ich spüre, daß dies . . . ein neuer Vorgang ist« 21 . Dieses Neue hat keine Chance erhalten. Wohl über eineinhalb Jahrtausende jüdischer Geschichte auf deutschem Boden führten nicht zu jener Legierung, als deren Beispiel sich Jakob Wassermann sah. Wie sehr er zumindest den deutschen Juden als Vorbild galt, belegen die Gratulationen und nachdenklichen Reflexionen zu seinem 60. Geburtstag im März 1933 in der jüdischen Presse. Sie hatte j a lange vergeblich für ein demokratisches Deutschland gestritten. Das Milieu, in dem die ersten zaghaften Schritte zu einer deutsch-jüdischen Symbiose getan wurden, ist vernichtet, ausgelöscht. Als er am 1. Januar 1934 starb, hatte der Deutsche und Jude Jakob Wassermann seinen K a m p f mehrfach verloren: Er hat die aufziehende Katastrophe

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nicht aufhalten können, seine Warnungen wurden nicht gehört. Sein Werk starb mit seinem Publikum. Die Bilanz seines Lebens ist bitter. Was er 1921 schrieb, hat durch die Jahre 1933 bis 1945 seine Bestätigung erhalten: »Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage... Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: er ist ein Jude ... Was sollen aber die Juden tun? Opfer sind nicht zureichend. Werbung wird mißdeutet. Vermittlung stößt auf Kälte, wenn nicht auf Hohn. Überläufertum verbietet sich dem, der sich achtet, von selbst. Anpassung in Heimlichkeit fuhrt zu einem Ergebnis nur für die, die zur Anpassung geeignet sind, also für die schwächsten Individuen. Beharrung in alter Form bedingt Erstarrung. Was bleibt? Selbstvernichtung? Ein Leben in Dämmerung, Beklommenheit und Unfreude ... Vielleich gibt es eine Möglichkeit zu hoffen. Vielleicht gibt es einen Retter, Mensch oder Geist, hüben oder drüben, oder auf der Brücke dazwischen ... Vielleicht hat er seine Wegbereiter schon vorausgesandt. Vielleicht darf ich mich als einen von ihnen betrachen«22. Anmerkungen Für die bereitwillig zur Verfugung gestellte Literatur danke ich dem Antiquariat Gerhard Hofner, Nürnberg. Die Hinweise auf jüdische Gemeindezeitungen vom März 1933 verdanke ich Frau Dr. Juliane Wetzel, München. 1 Selbstbetrachtungen, S. 106. Werke Jakob Wassermanns 2 Lebensdienst, S. 161. 3 Wassermann setzte dieses Buch 1933 in eiDie Juden von Zirndorf, Roman, München nem gewissen Sinne fort. Damals erschie1897; Berlin, -/Wien (Fischer 1918, (hier zitiert); nen seine »Selbstbetrachtungen«, die hier Mein Weg als Deutscher und Jude, Berlin 1921; ergänzend herangezogen werden. Lebensdienst. Gesammelte Studien, Erfahrun4 Weg, S. 34. gen und Rede aus drei Jahrzehnten, Leipzig, 5 Juden, S. 8. Zürich 1928; Selbstbetrachtungen, Berlin 1933 6 Weg, S. 16. (ein größerer Auszug daraus erschien am 7 Weg, S. 15. 16.3.1933 im »Israelitischen Familienblatt«, 8 Weg, S. 50. Ausgabe für Frankfurt/M. und Umgebung, 9 Juden, S. 151. Jg. 35, Nr. 11.). 10 Weg, S. 54. 11 Juden, S. 265. 12 Juden, S. 92. 13 Weg, S. 109 und S. 111. Literatur 14 Weg, S. 106 f. 15 Weg, S. 69. 16 Weg, S. 39. Bieber, Hugo: Jakob Wassermann zu seinem 17 Ein eindrucksvolles dialogisches Beispiel 60. Geburtstag, in: Central-Vereins-Zeitung. hierfür findet sich in Weg, S. 46-48. Blätter fur Deutschtum und Judentum. Berlin, 18 Juden, S. 169 f. Jg. 12, Nr. 10, 9.3.1933; Bing, Sigmund: Jakob 19 Weg, S. 120. Wassermann. Weg und Werk des Dichters, 20 Selbstbetrachtungen, S. 104. Nürnberg 1929; Engel, Fritz: Jakob Wasser21 Weg, S. 126. mann. 1873 - 10. März - 1933, in: Gemeinde22 Weg, S. 125. blatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Bd. 23,

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März 1933; Η.: Jakob Wassermanns H e i m a t treue. Z u seinem 60. Geburtstag am 10. M ä r z 1933, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, Bd. 9, Nr. 5, 1.3.1933, S. 68; Jacob, Heinrich E d u a r d : Ein Teppich von Gestalten. Vor 30 Jahren starb Jakob Wassermann, in: Die Welt 6, 3 (1964); K a u f m a n n , Hans (Hg.): Geschichte der Deutschen Literatur v o m Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917, Berlin 1974, bes. S. 113-118); Schmidt, Heiner: Quellenlexikon der Interpretationen u n d Textanalysen, Bd. 7,

D u i s b u r g 1984; Walter, Gerhard: Jakob Wass e r m a n n - »ein Wiener Schriftsteller aus Fürth«. Kindheit in einer Industriestadt, in: Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Fürth, September 1985; Jakob Wassermann: Ein Beitrag der Stadt Fürth zu seinem 100. Geburtstag a m 10. M ä r z 1973; Z m e g a c , Viktor (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur v o m 18. J a h r h u n d e r t bis zur Gegenwart, Bd. 3: 1918 1980, Königstein 1984, bes. S. 46 f.

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Felix Theilhaber, Fotografie.

Renate Heuer

Felix Aron Theilhaber (1884-1956), Arzt und Statistiker des deutschen Judentums

Theilhaber entstammte einer jener gänzlich akkulturierten jüdischen Familien, die sich zwar noch zur »mosaischen Religion« bekannten, aber sich in ihrer Lebensweise von ihrer nichtjüdischen Umwelt kaum noch unterschieden. Aus dem Besitz seiner Mutter, einer geborenen Therese Cohen aus München, haben sich zwei Tagebücher 1 erhalten, aus denen sich aufschlußreiche Kenntnisse über das Leben wohlhabender deutscher Juden um 1870 gewinnen lassen. In diesen Kaufmanns- oder Bankiersfamilien wird Weihnachten gefeiert, indem man sich beschenkt, Silvester und Neujahr bilden die wichtige Zäsur des Jahres, nicht länger das jüdische Neujahrsfest und der Versöhnungstag, an dem man allerdings noch in den »Betsaal« geht. Die Karnevalszeit wird mit Tanzfesten und Kostümbällen begangen, Theater- und Opernaufführungen werden regelmäßig besucht, im Sommer bezieht man eine Villa in Tutzing und wandert, hält Rast in Dorfgasthäusern, und nur gelegentlich, wenn etwa vom »einzige[n] Goy in der Runde« 2 die Rede ist, wird deutlich, daß man doch jüdisch geblieben ist und eine Distanz zu Nichtjuden spürbar bleibt. Aus einem ganz anderen Milieu, aus dem bayerischen Landjudentum, stammt der in Niederwerrn geborene Vater Adolf Theilhaber. Daß aber auch diese ländliche jüdische Bevölkerung einem Assimilierungsprozeß unterlag, verdeutlicht sein Aufstieg zum praktischen Arzt, Gynäkologen, Hofrat und anerkannten Forscher, dessen »Arbeit die Frauenheilkunde umstürztfe] und aufbautfe]« 3 , und dem Oberprimaner Felix Theilhaber mag die Karriere seines Vaters mit zum Anlaß geworden sein, in einem seiner frühesten Aufsätze den Untergang der jüdischen Landbevölkerung zu konstatieren und damit ein Thema anzuschneiden, das zu einem der zentralen Themen seiner späteren Arbeit wurde. Z u m Zeitpunkt seiner Heirat mit Therese Cohen war Adolf Theilhaber praktischer Arzt in Bamberg. Dort wurde auch der zweite Sohn Felix am 5. September 1884 geboren. 4 Kindheitserinnerungen, die Felix Theilhaber später in Palästina aufgezeichnet hat, zeigen, daß das Leben in seinem Elternhaus ähnlich gefuhrt wurde wie in demjenigen seiner Mutter, daß es also nicht mehr jüdisch geprägt war. Ein Kindermädchen, das ihn 'Judenbub' nannte, konfrontierte ihn zuerst mit seiner jüdischen Herkunft und Religionszugehörigkeit. 5 Daß der kleine Knabe auf diese herablassende Bezeichnung mit Trotz und Stolz reagierte, ist ebenso erstaunlich wie ungewöhnlich. Wenig später, als der Sechsjährige in der Schule jüdischen Religionsunterricht erhielt

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und erfuhr, daß Juden nicht Weihnachten feiern, sondern Chanukkah, äußerte er nicht nur Kritik am Verhalten seiner Eltern und Verwandten, sondern entwarf auch einen Plan, die Juden zur Rückkehr nach Palästina aufzurufen. Solcher ' U n f u g ' w u r d e ihm verwehrt, sogar als U n a r t bestraft, ohne daß der Knabe sich beirren ließ. Den Gedanken an eine Rückkehr nach Palästina gab Felix Theilhaber nicht wieder auf. Schon als Schüler trat er 1900 in die gerade gegründete zionistische O r t s g r u p p e ein, und deren Vortragsabende vermittelten ihm Kenntnisse von der ihm bis dahin verschlossenen ostjüdischen Welt. Er lernte jiddische Lyrik, jiddische Lieder kennen, ohne sich jedoch der Täuschung hinzugeben, ein Versenken in diese gemütvolle 'Jüdischkeit' könne einen Heilprozeß auch für das Westjudentum einleiten, dessen Probleme er immer klarer erkannte und diagnostizierte. 1901 w u r d e er Mitgründer der O r t s g r u p p e der Jüdischen Turnerschaft in München, und auch während des Medizinstudiums engagierte er sich weiter für jüdischen Sport, er gründete die zionistische Studentenverbindung »Jordania« und damit das »Kartell zionistischer Verbindungen« sowie den »Herzl-Bund« für zionistisch gesinnte Kaufleute, da er eine breitere Wirkung erstrebte, die sich nicht nur auf akademische Kreise beschränken sollte. 1906 gelang es ihm, das »Gelobte Land der Väter« z u m ersten Mal zu sehen und zu bereisen. Er arbeitete dort, u m sich seinen Unterhalt zu verdienen, wanderte zu Fuß von Jaffa nach Haifa, sah den verkarsteten Boden und erkannte, daß noch viel zu tun sei, u m aus diesem türkisch verwalteten Gebiet wieder das 'Land Israel' zu machen. Im Herbst 1906 reiste Theilhaber nach Polen, in das »Städterle Beiz«, das durch seinen Wunderrabbi in der Judenheit b e r ü h m t war. Theilhaber führte mit diesem Wunderrabbi ein langes Gespräch, das ihn den Gegensatz zwischen O s t - und Westjudentum in unvermittelbarer Härte erkennen ließ. Für zionistische Gedanken, für politische Aktivitäten, für entschiedenes A n k ä m p f e n gegen antisemitische Tendenzen hatte dieser Wunderrabbi nicht nur kein Verständnis, sie machten ihn unwillig, und er setzte dagegen nur das f r o m m e Sichfügen und die Forderung, daß das jüdische Volk Gottes Wort genauer und treuer erfüllen müsse. Daß ein Z u s a m m e n g e h e n der beiden Haltungen, in die das O s t - und Westjudentum sich geschieden haben, zugunsten einer Rückkehr ins »Land der Väter« nicht zu erreichen sein würde, m u ß t e Theilhaber nach diesem Gespräch einsehen. Seine Aktivitäten galten von nun an ausschließlich dem Westjudentum. 1907 gründete Theilhaber die Zeitschrift »Palästina«, u m für praktischen Zionismus zu werben. Drei Jahre lang war er Verleger, Redakteur und Administrator seines Blattes. 1910 Schloß Theilhaber sein Medizinstudium ab und promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität mit der Dissertation »Zur Lehre von dem Z u s a m m e n h a n g e der sozialen Stellung und der Rasse mit der Entstehung der Uteruscarcinome«, einer Untersuchung, die den Forschungsinteressen des Vaters entsprach, zugleich aber eigene Untersuchungen einbezog, die Felix Theilhaber schon lange beschäftigt hatten. »Aufgrund seiner statistischen Erhebungen über Krebs der Gebärmutter kam er zu dem Resultat,

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daß diese Erkrankung weniger häufig bei jüdischen Frauen beobachtet wird als in anderen Bevölkerungsgruppen. Diese Entdeckung wurde viele Jahre später von mehreren Autoren bestätigt« 6 . U m seine nationalökonomischen Kenntnisse zu erweitern, hatte Theilhaber während seines Studiums auch Vorlesungen bei Professor Georg von Mayr gehört und in dessen Seminar einen Vortrag über seine eigenen statistischen Untersuchungen gehalten. Von Mayr bot ihm an, eine zweite Dissertation anzufertigen. Auf Wunsch seines Vaters, der sich wohl wenigstens einen seiner Söhne als Nachfolger wünschte - der ältere Sohn Robert war Jurist geworden lehnte Theilhaber diesen Vorschlag ab, fand aber für seine Arbeit durch Vermittlung von Mayrs einen Verleger, so daß schon 1911 »Der Untergang der deutschen Juden. Eine volkswirtschaftliche Studie« erscheinen konnte. Das Buch erregte großes Aufsehen und löste heftige Diskussionen aus. Als erster Forscher erklärt Theilhaber die Überlebens- und Leidenskraft des jüdischen Volkes aus seiner Sexualethik, die das biblische Gebot »Seid fruchtbar und mehret Euch!« in den Mittelpunkt stellt und die sich in rabbinischer Auslegung durch eine Vielzahl von Ausführungsbestimmungen zu einem starren System zusammenschließt, das die Sexualität einzig in den Dienst Gottes und des Volkes stellt. Diese These, die Theilhaber durch Bibelzitate belegt und für die er in den in der Literatur geschilderten Frühehen 7 praktizierte Beispiele bis in seine Zeit nachzuweisen vermag 8 , erhärtet einleuchtend die Deutung des Assimilationsprozesses in Deutschland als eines Zersetzungsprozesses durch Geburtenrückgang, Mischehe und Taufe. Dieser wäre seiner Meinung nach nur aufzuhalten und zu steuern durch den Zuzug lebendiger jüdischer Volkskräfte aus dem Osten Europas und die nationale Erneuerung auf dem Boden der alten Heimat in Palästina. Der zweiten Auflage seines Buches, die 1921 erschien, hat Theilhaber eine Auswahl der publizierten Rezensionen und kritischen Gegendarstellungen beigefügt. Diese Zusammenstellung ist ein - aus heutiger Sicht - erschütterndes Dokument. Orthodoxe, Liberale und Zionisten lehnten Theilhabers Prognose, die die jüdische Assimilationsbewegung in Deutschland als Auflösungsbewegung beschreibt, einmütig und entschieden ab. Die heftige Kritik, die sein Buch auslöste, hat den Autor weder entmutigt noch beirrt. Er versuchte nun zunächst als Arzt zweimal nach Palästina zu gelangen, indem er als Vertreter des zionistischen »Roten Magen David« [Davidstern] am Tripolitanischen Krieg gegen Italien auf türkischer Seite teilnahm und dann, im türkisch-bulgarischen Krieg, im Auftrag des deutschen Roten Kreuzes ein Lazarett in Adrianopel leitete. Doch die Hoffnung, sich als verabschiedeter türkischer Sanitätsoffizier in Palästina niederlassen zu können, scheiterte. Und er selbst verstand diese kurze Spanne seines Lebens schon bald nur noch als 'Reise' 9 . Unmittelbar nach seiner Rückkehr setzte er seine volkswirtschaftlichen Studien fort, die er nun auf Untersuchungen in Berlin beschränkte. »Das sterile Berlin. Eine volkswirtschaftliche Studie« und »Die Schädigung der Rasse10 durch soziales und wirtschaftliches Aufsteigen, bewiesen an den Berliner 295

Juden« erschienen 1913, die letzte Studie als »Gekrönte Preisarbeit der Gesellschaft für Rassenhygiene« 11 . Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs w u r d e Theilhaber einberufen; er diente als Feldarzt in Flandern und im Osten, fand aber doch Zeit, Material für zwei Bücher zu sammeln, die wiederum jüdische Interessen vertreten. »Die Juden im Weltkriege mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Deutschland« erschien 1916 und warb u m Verständnis für die unterdrückten Ostjuden, deren Leiden Theilhaber in Kurland kennengelernt hatte. Gegen die seit 1916 neu und verstärkt einsetzende antisemitische Hetze, die die Juden als Feiglinge, Drückeberger und Saboteure des Krieges bloßzustellen versuchte, trat Theilhaber mit der apologetischen Schrift »Jüdische Flieger im Kriege« auf, die zuerst 1919, in zweiter Auflage 1924 erschien und dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten gewidmet ist. In den wirtschaftlich schwierigen Inflationsjahren ließ sich Theilhaber als Facharzt für H a u t - und Geschlechtskrankheiten in Berlin nieder. Schon 1913 hatte er die »Gesellschaft für Sexualreform« gegründet, deren Hauptziele der K a m p f gegen den § 218 und für die Legalisierung der Kontrazeption waren. Im Z u s a m m e n h a n g mit seiner eigenen Praxis entwickelte er nun eine ärztliche und schriftstellerische Aktivität, die seine schier unglaubliche Arbeitskraft zeigt. 12 Daß neben der Praxisarbeit, der Eheberatung, der organisatorischen und publizistischen Tätigkeit noch zahlreiche wissenschaftlich fundierte, z u m Teil auf umfangreichen historischen Studien basierende Bücher erscheinen konnten, ist auch dadurch ermöglicht worden, daß Theilhaber Stefanja Czaplinska noch während des Weltkriegs geheiratet hatte und in ihr eine Mitarbeiterin gewann, die unermüdlich las, exzerpierte und kritisierte." Der Dank, den er nun fast jeder größeren Publikation voranstellte, »Stefanja TheilhaberCzaplinska zugeeignet, die durch ihre vielfältige und unermüdliche Mitarbeit das Buch zustande k o m m e n ließ«14, bezeugt ihren Anteil an seinem schriftstellerischen Werk und erklärt zugleich, wie der Überbelastete in den zwanziger Jahren außer medizinischen Studien noch einen Roman 15 , eine große sexualpsychologische Untersuchung über Goethe 16 , eine M o n o g r a phiensammlung über Juden in Forschung und Technik 17 und eine auf zwei Bände geplante »Geschichte des jüdischen Volkes«18 verfassen konnte. Alle Aktivitäten Theilhabers wurden 1933 j ä h unterbrochen: Als Jude, erklärter Zionist und Sexualforscher war er den neuen Machthabern dreifach verhaßt und wanderte, nach einer Zeit der Verfolgung und Verfemung, 1935 in Palästina ein. Hier m u ß t e der Fünfzigjährige, wiederum unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen, eine neue Existenz aufbauen, und es zeigte sich schnell, daß die ärztliche Praxis als Basis nicht ausreichte. Briefe aus diesen Jahren geben einen Eindruck von der Situation: Dr. Theilhaber hat in der Woche manchmal einen Patienten, er lernt sein tägliches Pensum hebräischer Vokabeln und weiß doch genau, daß er seine schriftstellerische Arbeit nur in »Hitlerdeutsch« fortsetzen kann, doch seine organisatorische Energie scheint ungebrochen geblieben zu sein. Er gründet, nach dem Vorbild der Barmer 296

Ersatzkasse, eine Krankenkasse, die freie Arztwahl garantiert und heute die zweitgrößte Israels ist. U n d er organisiert Altensport als eine M a ß n a h m e zur Gesundheitsfürsorge. Das Buch, das seine vielen Arbeiten über die Westjuden abschließt und seine statistische Forschungsergebnisse historisch verifiziert, entsteht in den beiden letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, als das Faktum der »Endlösung der Judenfrage« zwar offenbar, in seinem vollen Ausmaß jedoch noch nicht erkennbar ist. »Judenschicksal« nennt Theilhaber die acht Biographien, die er in diesem Band zusammenstellte, und er versteht darunter, »den Weg der Assimilation zu gehen« 19 . Die Persönlichkeiten, die er ausgewählt hat, sind bekannt: Ferdinand Lassalle, Emin Pascha, Alfred Dreyfus, O t t o Weininger, Albert Ballin, Ludwig Frank, Rosa L u x e m b u r g und Walter Rathenau. U m so einleuchtender wird fur den Leser Theilhabers These: »Den von uns beschriebenen Persönlichkeiten kam aber ihr Judentum nicht oder kaum über die Schwelle ihres Bewußtseins. Sie glaubten oder bemühten sich, sich selbst einzureden, daß sie es abgeschüttelt hätten« 20 . Es gelingt ihm der Nachweis, daß die Aufgabe der jüdischen Identität in keinem Fall bruchlos vonstatten gegangen ist. »Die U m w e l t hat oft beobachtet, daß vielen Juden die geschlossene Persönlichkeit fehlt. (...) Die Zwischenlandfigur gleicht oft dem Peter Schlemihl, der seinen Schatten sucht und eigentlich nicht seinen, sondern den eines Ariers. Zwischendurch brechen wieder jüdisches Weltgefühl, die Ethik des alten Kulturvolks in Humanität, Pazifismus, neben talmudischem Kritizismus und Subjektivität wie unterdrückte Kräfte hervor und manifestieren, ja revolutionieren gegen brutale Instinkte kriegerischer Kraftmenschen und gegen Kadavergehorsam (. ..)«21. Wenn Theilhaber seine Protagonisten »die ersten O p f e r der Assimilationsepoche« nennt, »bevor der Untergang über die Juden Europas hereinbricht« 22 , gibt er damit seiner Darstellung die grauenvolle historische Rechtfertigung. Dieses Buch Theilhabers ist kaum rezipiert worden, in Deutschland ist es unbekannt geblieben, und die vielen warnenden und mahnenden Abhandlungen, die ihm vorausgingen, sind ebenso in Vergessenheit geraten wie Theilhabers N a m e selbst. In die spät in Gang gesetzte deutsche Diskussion über die Assimilationsproblematik müßten solche Untersuchungen und Forschungsergebnisse eingebracht werden; sie wären geeignet, neue, wichtige Anregungen zu geben. Den eindrucksvollsten Beweis für Theilhabers in diesem Buch vertretene Überzeugung, daß die jüdische Kultur anhaltende Prägekraft besitzt u n d j e d e Assimilation letztlich zum Scheitern verurteilt ist, weil sie Antisemitismus i m m e r neu produziert, mag man in der erstaunten Frage seines Enkels, der seines Großvaters Bücher nicht mehr lesen kann, erkennen: »Judenschicksal? Was ist das?«23.

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Anmerkungen 1 Kopien der Tagebücher im Besitz des Archivs Bibliographia Judaica, Frankfurt. 2 Tagebuch II von Therese Cohen, unpaginiert. 3 Aus der Widmung, die Robert Theilhaber, der älteste Sohn Adolf Theilhabers, seiner juristischen Dissertation voranstellte. 4 Der älteste Sohn Robert wurde am 14.10.1881 in B a m b e r g geboren. »Er war später Rechtsanwalt in München, für Sprachen sehr begabt, kluger Jurist (...). Floh im S o m m e r 1939 nach Algier, und 1940 nach Frankreich, wurde in Gurs gefangen gehalten u. dann den Deutschen ausgeliefert, die ihn abtransportierten«, (handschriftliche Notiz von Felix A. Theilhaber, im Nachlaß). 5 Ü b e r diese in Palästina aufgezeichneten Kindheitserinnerungen referiert ausfuhrlich: Heuer, Renate: Der Untergang der deutschen Juden. Felix A. Theilhabers Darstellung der jüdisch-deutschen Identitätsproblematik, S. 73ff., in: Jahrbuch 1, 1985 Probleme deutsch-jüdischer Identität, hg. v. Norbert Altenhofer u. Renate Heuer, Frankfurt, Archiv Bibliographia Judaica e.V. 6 Lehfeldt, Hans: Felix A. Theilhaber - Pionier-Sexologe, in: Jahrbuch 1, 1985, Frankfurt, Archiv Bibliographia Judaica e.V., S. 85. 7 Vgl. die von Salomon Maimon in seiner »Lebensgeschichte« geschilderte eigene Frühehe oder die von Glückel von Hameln erzählten Beispiele. 8 Theilhaber schreibt, daß diese Heiratspraxis im Ostjudentum noch bis in seine Zeit geübt wurde, sie endete tatsächlich erst mit der Vernichtung des Ostjudentums in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts. 9 Das belegt auch sein Buch über diese Zeit: Theilhaber, Felix: Beim roten H a l b m o n d in

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Tripolis. Reiseerlebnis von einer Fahrt ins türkisch-italienische Kriegsgebiet, Köln 1912. Theilhaber hat den Begriff »Rasse« oder »jüdische Rasse« dem Gebrauch seiner Zeit entsprechend unreflektiert verwendet. Erstdruck in: Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 1913, 1./2. H „ Buchausgabe: Berlin 1914. Theilhabers ärztliche und organisatorische Aktivitäten in Berlin werden dargestellt von Lehfeldt, S. 85 f. Der Anteil, den Theilhabers Frau an dem Entstehen seiner Bücher hatte, ist auch aus der Korrespondenz und anderen Unterlagen im Nachlaß zu erkennen. Widmung in: Judenschicksal. Acht Biographien, Tel Aviv 1946. Theilhaber, Felix: Dein Reich k o m m e ! Ein chiliastischer Roman aus der Zeit R e m brandts und Spinozas, Berlin o.J. [1924], Theilhaber, Felix: Goethe. Sexus und Eros, Berlin-Grunewald o.J. [1929]; das Buch wurde von den Nationalsozialisten verbrannt. Theilhaber, Felix: Schicksal und Leistung. Juden in der deutschen Forschung und Technik, Berlin 1931. B d . 1: Im K a m p f um Gott, Volk und Land. Geschichte der Juden in Erez [Land] Israel von 1300 v. Chr. - 300 n. Chr., Berlin 1936; B d . 2 ist nicht erschienen. Theilhaber, Judenschicksal, S. 323. Theilhaber, Judenschicksal, S. 14. Theilhaber, Judenschicksal, S. 19. Theilhaber, Judenschicksal, S. 22. Assa Talbar, Felix A. Theilhabers Enkel, stellte diese Frage während der Besichtigung einer Gedächtnisausstellung anläßlich des 100. Geburtstages seines Großvaters der Verfasserin.

Volker Skierka

Lion und Marta Feuchtwanger (1884-1958und 1893-1987), »Exil«

»Die Stadt zählte im letzten Jahr, das der Schriftsteller L.F. in ihr verbrachte, 137 Begabte, 1012 über Mittelmaß, 9002 normal, 537 284 unternormal Veranlagte und 122 963 Voll-Antisemiten. Es beweist die ungewöhnliche Vitalität des Schriftstellers L.F., daß er in der Luft dieser Stadt 407 263 054 Atemzüge tun konnte, ohne an seiner geistigen Gesundheit erkennbaren Schaden zu nehmen«, schrieb mit bitterer Ironie der Schriftsteller Lion Feuchtwanger über seine Heimatstadt München 1 . Nach 40 Jahren kehrte er ihr den Rücken und zog 1925 mit seiner 34jährigen Frau Marta nach Berlin. Eine Reihe ihrer Freunde, die zu den führenden und einfallsreichsten Köpfen der Literatur- und Theaterszene gehörten, hatte die einst geliebte Stadt bereits verlassen. Das geistige Klima war in den vorangegangenen Jahren immer bedrückender, engstirniger geworden. Die Nationalsozialisten, und mit ihnen ein klerikal-kleinbürgerlicher Antisemitismus, machten sich breit. Der damals 27jährige Bertolt Brecht, für den Feuchtwanger Freund und Mentor war, hatte die beiden überredet, ihm in die Reichshauptstadt zu folgen, wo das Klima für kritische Geister noch freier war. Lion Feuchtwanger war am 7. Juli 1884 in München als Sohn jüdischer Eltern geboren worden und am St. Anna Platz aufgewachsen. Er war das älteste von neun Kindern. Die Familie zählte zum Münchner Großbürgertum. Ihr Wohlstand kam zum einen aus dem Ertrag einer Margarinefabrik, die Lion Feuchtwangers Vater von seinem Vater übernommen hatte, und zum anderen stammte die Mutter Johanna Bodenheimer aus einem wohlhabenden Elternhaus. Feuchtwangers Vorfahren hatten im mittelfränkischen Feuchtwangen gelebt, von wo sie 1555 bei Judenverfolgungen nach Fürth bei Nürnberg vertrieben worden waren. Feuchtwangers Vater war von dort nach München gekommen. In der großen Wohnung am St. Anna Platz ging es streng jüdisch zu. »Meine Eltern hielten darauf, daß ich die umständlichen, mühevollen Riten rabbinischen Judentums, die auf Schritt und Tritt ins tägliche Leben eingreifen, minuziös befolgte. (...) Auch mußte ich mich unter der Leitung eines Privatgelehrten täglich mindestens eine Stunde dem Studium der hebräischen Bibel und des aramäischen Talmuds widmen« 2 . Die strenge Erziehung der Kinder im jüdischen Glauben wurde begleitet von einem im Hause Feuchtwanger herrschenden Klima geistiger und religiöser Toleranz. Der Vater brachte Lion Feuchtwanger insbesondere Lessings »Nathan der Weise« nahe, der die Gleich299

Wertigkeit der Religionen lehrt. Gleichwohl hatte Feutwanger kein gutes Verhältnis zu seinem Elternhaus, insbesondere war die Beziehung zu seiner offenbar der Familie gegenüber sehr kühlen Mutter gestört. So ging Lion Feuchtwanger früh eigene Wege. Nach dem Abitur im Jahr 1903 und der Immatrikulation an der Königlichen Ludwig-MaximiliansUniversität verließ er fluchtartig den St. Anna Platz und mietete sich in einer unwirtlichen Dachwohnung ein. Er studierte Philologie, Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte, bestand seine Examina mit Auszeichnung und schrieb als Dissertation eine kritische literaturhistorische Studie über Heinrich Heines Fragment »Der Rabbi von Bacherach«. Dabei setzte sich Feuchtwanger erstmals gründlich mit einem historischen Komplex auseinander, der später wiederholt in seinen Aufsätzen, Stücken und Romanen auftauchte, den er hautnah am eigenen Leib und an der eigenen Seele zu spüren bekommen sollte und der ihn bis zu seinem Tod nicht los ließ: Es ist das wechselvolle Schicksal der Juden, die in der Geschichte sich wiederholenden Erhöhungen, Erniedrigungen, Verfolgungen, Pogrome, die das selbstbewußte Volk durch die Jahrtausende begleiteten. In Feuchtwangers frühen Arbeiten liegen die Wurzeln seiner stets wiederkehrenden Darstellung des immerwährenden Kampfes einer vernünftigen Minderheit gegen eine gewaltbereite Majorität der Masse und Dummheit. Während der Arbeit an einer Habilitationsschrift über »Die Anfänge des deutschen Journalismus« entschloß er sich, auf die ihm angeratene wissenschaftliche Laufbahn zu verzichten. Er wurde zum Entsetzen der Familie Theaterkritiker und Stückeschreiber, gründete mit anderen den literarischen Verein »Phoebus« und die Halbmonatsschrift für Literatur, Musik und Bühne »Der Spiegel«. Er tauchte ein in die schillernde Welt der Münchner Boheme und des von ihm verehrten Bürgerschrecks Frank Wedekind. Mit knurrendem Magen zog er durch die Schwabinger Künstlerlokale, hockte diskutierend und auf der Jagd nach Abenteuern im »Cafe Stefanie«, im »Cafe Prinzregent« oder in den »Torggelstuben« neben dem »Hofbräuhaus«. 1910 begegnete das »Margarinebarönchen«, wie Feuchtwanger in der Literatenszene genannt wurde, Marta Löffler, der Tochter des jüdischen Kurzwarenkaufmanns Leopold Löffler und dessen Frau Johanna. Feuchtwanger hatte damals nicht den besten Ruf. Als seine zu den umschwärmten und begehrten Münchner Schönheiten gehörende Marta ein Kind von ihm erwartete, heirateten sie am 12. Mai 1912 im Kreise ihrer Eltern in Überlingen am Bodensee. Im September, auf ihrer ausgedehnten Hochzeitsreise, kam die Tochter Marianne zur Welt, die einen Monat nach der Geburt starb. Beinahe hätte Lion Feuchtwanger auch seine Frau, die an Kindbettfieber erkrankt war, verloren. »Ich war fest davon überzeugt, daß er es war, der mir die Zähigkeit gab, das Fieber zu überleben«, schrieb sie in ihren Memoiren 3 . Ihre Ehe hielt 46 Jahre, bis zu Feuchtwangers Tod im Alter von 74 Jahren am 21. Dezember 1958 in Los Angeles. Nach seinem Tod verwaltete und pflegte Marta Feuchtwanger in ihrem großen Haus in Pacific Palisades sein großes literarisches Erbe, bis sie, die 300

bis ans Ende ihrer Tage von wachem Verstand und münchnerischem Humor blieb, am 25. Oktober 1987 im hohen Alter von 96 Jahren starb. Der Tod der Tochter 1912 hatte die fortan kinderlose Ehe zusammengeschweißt. Aus der anschließenden zweijährigen Wanderung durch Italien wurde eine lebenslange Wanderung durch Armut und Wohlstand, durch zwei Kriege, durch Verfolgung, Gefangenschaft und immer wieder unter Strapazen errungene Freiheit, durch Enttäuschungen, Liebe und Glück. »Ich hab' mir mein Leben nie besser gewünscht,« sagte sie, hoch in den Neunzigern. Die Frauengestalten in Feuchtwangers Romanen trugen stets auch Züge seiner Frau, die ihm Zeit seines Lebens Kritikerin und Ratgeberin war. Sie war es, die sich u m seine anfällige Gesundheit sorgte und die ihn zweimal aus der Gefangenschaft befreite: das erste Mal, als sie 1914 in Tunis vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht wurden und ihr Mann dort in französische Kriegsgefangenschaft geriet. Marta Feuchtwanger besorgte falsche Papiere, becircte einen Offizier und floh mit ihrem unter Kohlensäcken versteckten Mann auf einem italienischen Schiff. Das zweite Mal befreite sie ihn mit Hilfe des amerikanischen Vize-Generalkonsuls in Marseille aus einem südfranzösischen Internierungslager der nazifreundlichen Vichy-Regierung. Er wurde im Sommer 1940, in Frauenkleider gehüllt, aus dem Lager »entführt«. Zu Fuß floh das Ehepaar über die Pyrenäen nach Spanien und Portugal und von hier aus im September/Oktober 1940 getrennt auf Schiffen nach New York. In Amerika errichteten sich die Feuchtwangers ihre vierte Existenz. Die erste, in München, hatten sie nur zögerlich und erst dann aufgegeben, als die behördlichen Schikanen, die Pöbeleien auf der Straße und der politische Druck von rechts gegen seine Veröffentlichungen unerträglich geworden waren. Feuchtwanger, der bis Anfang der Zwanziger Jahre mit seinen Stücken, Theaterkritiken, Aufsätzen und Romanen nur mäßig erfolgreich gewesen war, hatte inzwischen Erfolg und war bekannt. Sein 1923 erschienener Roman »Die häßliche Herzogin Margarete Maultasch« über die Herrscherin von Tirol und Kärnten im 14. Jahrhundert wurde ein Bestseller, ebenso sein 1921/22 geschriebenes und 1925 erschienenes Buch »Jud Süß« über das Schicksal des Juden Josef Süß Oppenheimer, der Anfang des 18. Jahrhunderts zum Finanzier des württembergischen Herzogs Karl Alexander aufstieg und schließlich im Zuge von Judenverfolgungen hingerichtet wurde, nachdem er sich geweigert hatte, zum Christentum überzutreten. Aus Angst vor der politischen Rechten hatten die Verlage es zunächst abgelehnt, das Buch zu drucken. »Jud Süß«, den die Nationalsozialisten als Vorlage für ihren 1940 bei den internationalen Filmfestspielen von Venedig preisgekrönten antisemitischen Hetzfilm benutzten, wurde zum Weltbestseller. Bis heute sind weit über drei Millionen Exemplare dieses Romans in über drei Dutzend Sprachen verkauft. »It's nearly like Feuchtwanger,« bekam Ende der Zwanziger Jahre der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann zu seiner Verblüffung über sein eigenes Werk zu hören. Aber in Berlin ließ seine Heimatstadt Feuchtwanger nicht los. Er schrieb das noch heute als Schlüsselroman über die Entwicklung des Nationalsozialismus 301

geltende Buch »Erfolg«. In diesen »drei Jahren Geschichte einer Provinz« umreißt Feuchtwanger ein präzises Psychogramm der Hitler-Bewegung. Mit brillanter Schärfe seziert er die kleinbürgerlichen Verhältnisse im nachrevolutionären Bayern der Jahre 1921 bis 1924 und beschreibt am Leben der kleinen und großen Leute dieser Jahre die politischen und persönlichen Zusammenhänge und wirtschaftlichen Interessen, die schließlich zum Zerfall der Rechtsordnung und dem Emporkommen der Nazi- Bewegung führten. Obwohl das spannende Buch von seinen Figuren lebt, sind nicht sie die Helden: »Das Land Bayern ist der eigentliche Held meines Romans«, sagte Feuchtwanger 4 . Die Nationalsozialisten schäumten über das Buch, das ihren Führer als lächerliche Marionette entlarvte. Im NSDAP-Zentralorgan »Völkischer Beobachter« hieß es in einer im Oktober 1931 erschienenen Rezension: »Nach dieser Leistung bleibt dem Löb Feuchtwanger wohl nur noch zu bescheinigen, daß er sich einen zukünftigen Emigrantenpaß reichlich verdient hat«. Feuchtwanger hatte frühzeitig die nationalsozialistische Bewegung durchschaut. Bereits am 21. Januar 1931, zum 40. Geburtstag seiner Frau, hatte er in der Berliner Zeitung »Welt am Abend« geschrieben: »Was also Intellektuelle und die Künstler zu erwarten haben, wenn erst das Dritte Reich sichtbar errichtet wird, ist klar: Ausrottung. Das erwarten denn auch die meisten, und wer irgend unter den Geistigen es ermöglichen kann, bereitet heute seine Auswanderung vor. Man hat, wenn man unter den Intellektuellen Berlins herumgeht, den Eindruck, Berlin sei eine Stadt von lauter zukünftigen Emigranten« 5 . Der nationalsozialistische »Angriff« antwortete prompt: »Heil und Sieg, Herr Feuchtwanger und gute Reise. Sie sind ein blendender Prophet« 6 . U n d dann taten Lion und Marta Feuchtwanger etwas, was nach diesen unmißverständlichen Worten kaum einer ihrer Freunde verstehen konnte: Sie kauften sich im Berliner Grunewald ein hübsches Haus und machten sich »mit viel Eifer« daran, wie Alfred Kantorowicz verwundert beobachtete, es »mit Geschmack komfortabel und prächtig auszustatten als eine Heimstätte für Lebenszeit« 7 . Zwei Jahre später saß ein hoher Nazi-Funktionär in dem Haus. A m 10. Mai 1933 flogen Feuchtwangers Bücher mit denen anderer Repräsentanten fortschrittlichen deutschen Geistes auf die Scheiterhaufen des neuen Reiches, Feuchtwanger gehörte zu den ersten, die als »VolksVerräter« gebrandmarkt und ausgebürgert wurden, und der Börsenverein des deutschen Buchhandels begrüßte die Aktion. Die verbrannten Bücher seien »Asphaltliteratur«, keifte des Führers Propagandaminister Joseph Goebbels. In einer Rundfunkrede stempelte er Feuchtwanger zum »ärgsten Feind des deutschen Volkes«. Die Feuchtwangers haben Hitlers Schergen nicht zu fassen bekommen. Als sie im Januar 1933 die Macht an sich rissen, war Marta Feuchtwanger gerade im Skiurlaub in St. Anton und Lion Feuchtwanger auf einer mehrmonatigen Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten. A m Abend der Machtergreifung sagte Feuchtwanger bei einem Dinner des deutschen Botschafters in Washington an die amerikanischen Gäste gewandt: »Hitler means war!«.

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Lion und Marta Feuchtwanger trafen sich in St. Anton in Österreich, gingen von dort zunächst in die Schweiz und ließen sich schließlich im Frühjahr 1933 in Sanary-sur-Mer an der Cotes d'Azur, in der Nähe von Toulon, nieder. Ihr Haus, ihr Vermögen und vor allem die Bibliothek sowie Manuskripte waren verloren. In der Villa Valmer bauten sie sich ihre dritte Existenz auf. Bald waren die Feuchtwangers nicht mehr allein: »Sanary war ein sehr umfangreiches Romanisches Cafe, mit Marmortischen und Badehosen. Namentlich im S o m mer wurde das Nest überfüllt von literarischen Kaisern. Die Luft war geschwängert mit originellen A p e ^ u s , Indiskretionen und Krachen«, schrieb Feuchtwangers Freund Ludwig Marcuse in seinen Memoiren 8 . In den sieben Jahren französischen Exils verfaßte Feuchtwanger mehrere Romane. Die bekanntesten sind »Die Geschwister Oppermann« über das Schicksal einer jüdischen Familie in Berlin in der Zeit um die Machtergreifung sowie »Exil«, ein Roman über das Leben der Emigranten in Paris. Daneben engagierte er sich in verschiedenen Emigrantenorganisationen und war als einer der Prominenteren mit dabei, wenn es galt, den Nationalsozialisten in Wort und Schrift das bessere Deutschland entgegenzuhalten. Einer seiner engsten Weggefährten war dabei sein alter Freund aus Münchner Tagen, Heinrich Mann. Feuchtwanger war im Vorstand des 1933 in Paris wiedergegründeten Schutzverbands Deutscher Schriftsteller, baute die »Bibliothek der verbrannten Bücher« mit auf, sprach auf dem »1. internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur« 1935 in Paris und leitete 1937 die deutsche Delegation bei der Tagung des internationalen P E N - C l u b s in Paris. Doch die Hoffnungen der Feuchwangers, das französische Exil sei nur der »Wartesaal« für die baldige Rückreise in ein von den Nazis befreites Deutschland, trogen. Für viele Freunde wurde es gar Endstation, für andere, die Glück hatten wie die Feuchtwangers, Durchreisestation ins nächste Exil. 1940, als die Nazi-Truppen in Paris einmarschierten, wurden die Emigranten plötzlich zu »feindlichen Ausländern« erklärt, das Literatennest in Südfrankreich hieß nun im Volksmund »Sanary la boche«. In der alten Ziegelei von Les Milles bei Aix-en-Provence, eine Autostunde von Sanary entfernt, wurde Feuchtwanger interniert und mit ihm Alfred Kantorowicz, Max Ernst, Friedrich Wolf und Tausende andere. Marta Feuchtwanger kam in das Frauenlager Gurs in den Pyrenäen. Feuchtwanger schrieb über die Haft: »Der Teufel in Frankreich war ein freundlicher manierlicher Teufel. Das war schlimmer als wenn er grausam und böse gewesen wäre« 9 . Kantorowicz berichtete später über den Feuchtwanger jener Wochen: »Es erwies sich, daß der Besitzer von Luxusvillen im Grunewald und in Sanary die Widerwärtigkeiten und physischen Strapazen des Konzentrationslagers mit einem Humor überkam, der ihn bald zu einem Zentrum der Gequälten und Geängstigten machte. Sie suchten sich an seiner Ruhe und an seinem Rate aufzurichten. Er war vom Morgen bis in die Nacht hinein umlagert von Hilfesuchenden, denen er in seiner leisen eindringlichen Weise Mut zuzusprechen suchte - wiewohl nur wenige so gefährdet waren wie er selber. Er wurde unser Sprecher beim Kommandanten des Lagers« 10 . 303

Mit der Einsetzung der Vichy-Regierung aber wurden die Inhaftierten zur Beute der Nationalsozialisten. Bevor in diesen Lagern ebenfalls Todestransporte nach Auschwitz zusammengestellt wurden, gelang Marta Feuchtwanger die Flucht aus Gurs. Sie schlug sich nach Marseille durch, von wo aus sie mit dem amerikanischen Vizekonsul Harry Bingham auch auf Bitten von Eleonor Roosevelt, der Gattin des US-Präsidenten, die Feuchtwanger kannte, die Befreiung ihres inzwischen in ein Zeltlager bei Nimes verlegten Mannes organisierte. In Amerika siedelten sich die Feuchtwangers in Kalifornien an, wo Marta Feuchtwanger bald jene traumhaft gelegene Villa mit dem schönen Ausblick auf den Pazifik fand, in der Lion Feuchtwanger bis zu seinem Tode lebte und arbeitete. Ludwig Marcuse, den es auch hierher verschlagen hatte, beobachtete, wie der nunmehr 60jährige Hausherr sich »nach alter Weise abermals die Wände aus Büchern, ein drittes Mal« baute. »Das war ein gewaltiges Mausoleum aus den Werken der Dichter. Ich ging immer zu ihm, wenn die Bibliothek meiner Universität versagte« 11 . »Ein wahres Schloß am Meer« nannte Thomas Mann, der sich in der Nähe niedergelassen hatte, die 22 Zimmer zählende spanische Villa, in der sich zuweilen die Creme der Emigrantenszene traf. Das letzte Drittel seines Lebens mußte Feuchtwanger außerhalb Deutschlands verbringen. Dennoch hatte der Kosmopolit, der jüdische Weltbürger, als der er sich Zeit seines Lebens verstand, stets ein »Zuhause«: »Meine Heimat«, so sagte er, »ist die deutsche Sprache«. U n d : »Ich bin ein deutscher Schriftsteller, mein Herz schlägt jüdisch, mein Denken gehört der Welt«12. Immer wieder spiegelt sich dieses Denken in seinen Werken wider; vor allem seine zwischen 1930 und 1940 entstandene Romantrilogie »Der jüdische Krieg«, »Die Söhne« und »Der Tag wird kommen« ist ein deutliches Bekenntnis zum Internationalismus. Das Buch »Der jüdische Krieg« über die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 durch ein Heer des römischen Feldherrn Titus als Folge eines fanatischen jüdischen Nationalismus enthält zugleich die Warnung an die eigenen Glaubensbrüder, dem »Faschismus der anderen, sei er deutsch, oder polnisch oder wie immer, einen jüdischen Faschismus entgegenzusetzen« 13 . Judentum, so sagte Feuchtwanger, sei keine gemeinsame Rasse, kein gemeinsamer Boden, keine gemeinsame Lebensform, keine gemeinsame Sprache: Judentum sei eine gemeinsame Mentalität, eine gemeinsame geistige Haltung. »Wer sich in Lion Feuchtwangers geistiger Behausung zurechtfinden will«, schrieb der Philosoph und Sozial Wissenschaftler Max Horkheimer, »muß etwas von den süddeutschen Juden wissen, wie sie nicht nur in München zu finden sind, sondern auch in Stuttgart oder im Baden Johann Peter Hebels. Ihr Dasein stand, bis Hitler den Einheitsstaat grauenvoll verwirklichte, unter einer freundlichen Paradoxie. Sie waren nicht im gleichen Sinn assimiliert wie in Berlin oder in Frankfurt, sondern hielten mit dem Eigensinn, nicht unähnlich dem der christlichen Süddeutschen, an der religiösen Orthodoxie fest. Aber sie wurden dadurch nicht von der anderen Bevölkerung isoliert wie im Osten. Die 304

Reste vorkapitalistischer Unmittelbarkeit und universalistischer Denkweise, die in jenen Gegenden überlebten, erlaubten es den seit Menschengedenken ansässigen Juden, sich ihr Eigenes zu erhalten und zugleich ihren Platz im Leben aller einzunehmen, weithin unversehrt von Haß. Sie durften verschieden sein und doch an der N ä h e und W ä r m e der ländlichen Städte teilhaben. Die ökonomische Zurückgebliebenheit der Landschaft hatte sich ihnen gegenüber in fortgeschrittene Humanität umgesetzt. Feuchtwanger spiegelt diese H u m a nität wider« 14 . Neben seinem kosmopolitischen jüdischen Element, mit dem er in vielen seiner Bücher i m m e r wieder die Überlegenheit des Geistes gegenüber primitivem Materialismus skizzieren wollte, benutzte er weite Rückblenden in die Geschichte, u m Gegenwartsprobleme am historischen Beispiel u m so greller sichtbar werden zu lassen. In seiner Rede vor dem Schriftstellerkongreß in Paris 1935 über »Sinn und Unsinn des historischen Romans« sagte er, wenn Schriftsteller in ihren historischen Werken ihre Menschen und Ideen zeitlich distanzieren, dann sicher »nur u m der besseren Perspektive willen, in der Überzeugung, daß man die Linien eines Gebirges aus der Entfernung besser erkennt als mitten im Gebirge«. Er selbst habe im Kostüm, in der historischen Einkleidung i m m e r nur ein Stilisierungsmittel gesehen, ein Mittel, auf die einfachste Art die Illusion der Realität zu erzielen. Er könne sich nicht denken, daß ein ernsthafter Romandichter, der mit geschichtlichen Stoffen arbeitet, in den historischen Fakten etwas anderes sehen könnte, als ein Mittel der Distanzierung, als ein Gleichnis, u m sich selber, sein eigenes Lebensgefühl, seine eigene Zeit, sein Weltbild möglichst treu wiederzugeben 15 . Er habe sich stets »bemüht, historische Romane für die Vernunft zu schreiben, gegen D u m m h e i t und Gewalt, gegen das, was M a r x das Versinken in die Geschichtslosigkeit nennt« 16 . Einer seiner herausragenden historischen R o m a n e ist der über den spanischen H o f m a l e r Francisco Goya und dessen K a m p f mit der Inquisition der katholischen Kirche. Das Buch ist zugleich eine Anklage gegen die moderne Form der Inquisition, in diesem Fall gegen den McCarthyismus Anfang der Fünfziger Jahre, gegen das Komitee fur unamerikanische U m t r i e b e und das FBI, durch das Feuchtwanger bis zu seinem Tod bespitzelt wurde. Als Gegner des Nationalsozialismus und Faschismus blieb der linksbürgerliche Intellektuelle auch in den Ländern seiner Zuflucht zeit seines Lebens ein als K o m m u n i s m u s Sympathisant Verdächtigter, Verfolgter. Ü b e r 700 Blatt umfaßte sein »File« beim FBI. Die Folge war, daß Feuchtwanger sich in seiner Villa am H a n g über der Santa-Monica-Bucht verkroch, j e stärker der äußere politische Druck auf ihn wurde. Er kehrte nach dem Krieg auch nicht nach Deutschland zurück, wie sein Freund Brecht, der in die D D R ging. Z w a r hinderte ihn die amerikanische Einbürgerungsbehörde durch das Verschleppen der Entscheidung über den Staatsbürgerschaftsantrag an einer risikolosen Ausreise nach Deutschland - er m u ß t e befürchten, daß ihm wie seinerzeit Charlie Chaplin die Wiedereinrei-

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Lion Fcuchtwangcr, Fotografie von Florence H o m o l k a , 1947.

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M a r t a F e u c h t w a n g e r bei i h r e r A n k u n f t in M i i n e h e n 1%'λ F o t o g r a f i e .

seerlaubnis entzogen w ü r d e - , aber er hat auch nie ernsthaft von sich aus an eine Übersiedlung in das Nachkriegsdeutschland O s t oder West gedacht. Seine Beteuerungen, er wolle auf jeden Fall bald nach Deutschland k o m m e n , fühle sich j e d o c h durch seine Arbeit am Reisen gehindert, waren eher hinhaltend. N u n war das Bild des Nachkriegsdcutschland mit seinem v o m Kalten Krieg geprägten politischen K l i m a auch nicht gerade einladend. Je mehr Bücher die D D R von ihm druckte, desto schwerer waren sie in der Bundesrepublik zu haben. D e r einst verbrannte Dichter wurde hier nun wieder aus den Regalen des Buchhandels verbannt. Erst ab Mitte der Siebziger Jahre kletterten seine Auflagenzahlcn in der Bundesrepublik allmählich. Im übrigen dürften die

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politischen Repräsentanten beider Deutschland insgeheim ganz froh gewesen sein, daß der prominente Feuchtwanger blieb, wo er war. Unbequem wäre er hüben wie drüben gewesen: den einen, weil er zu links und gegen die intellektuelle Dumpfheit der Politik des Kalten Krieges eingestellt war, und den anderen, weil er bei aller politischen Fortschrittlichkeit eben doch ein liberaler Münchner Großbürger geblieben schien, der sich nicht so leicht hätte vereinnahmen lassen wie seine Bücher. Dennoch schmerzte es ihn, fern seiner Heimat zu sein, j e älter er wurde. »Daß ich nie mehr nach Europa kommen sollte, scheint mir ein übler Traum, wie ich ihn nie geträumt habe. Ich bin sicher, daß es einmal möglich sein wird. (...) Optimist, der ich bin, glaube ich seit Jahren, daß es in jeweils zwei Jahren soweit sein wird«, schrieb er 1955 in einem Brief an seinen inzwischen in Ost-Berlin lebenden Freund Arnold Zweig. Feuchtwanger sah Deutschland nie wieder; nur seine Frau unternahm einmal - und nur sehr zögernd - 1969 eine Reise in die alte Heimat, nach Deutschland, nach München. Feuchtwanger erhielt immerhin 1952 von der Münchner Universität die Doktorwürde zurück, die ihm die Nationalsozialisten 1933 aberkannt hatten. Und 1957 verlieh ihm die Stadt München unter erheblichen politischen Bauchschmerzen den Kultur- und Literaturpreis. Was er jedoch nie zurückerhielt, war die deutsche Staatsbürgerschaft. Und die amerikanische wurde ihm verweigert. Der Kosmopolit Lion Feuchtwanger starb schließlich als Staatenloser, bis zuletzt - wie die Akten belegen - bespitzelt vom Geheimdienst.

Anmerkungen 1 Feuchtwanger, Lion: Der Autor über sich selbst, 1935, in: Feuchtwanger, Lion: Centrum Opuscula. Ein Buch nur fur meine Familie. Eine Auswahl. Zusammengestellt u. hg. v. Wolfgang Berndt, Rudolfstadt 1956, S. 375f. (im folgenden bezeichnet als: CO). 2 Feuchtwanger, Lion: Aus meinem Leben, in: Colloquium. Eine deutsche Studentenzeitschrift, Heft 7, Berlin, Juli 1964. 3 Feuchtwanger, Marta: Nur eine Frau, Jahre, Tage, Stunden, München, Wien 1983, S. 18f. 4 Feuchtwanger, Lion: Mein Roman »Erfolg«, in: C O , S. 397. 5 Kaes, Anton (Hg.): Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918 bis 1933, Stuttgart 1983, S. 590. 6 Ebd. 7 Kantorowicz, Alfred: Brief an Lion Feuchtwanger zum 60. Geburtstag, 20.6.1944.

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Lion Feuchtwanger Memorial Library, Pacific Palisades, Calif./USA. Marcuse, Ludwig: Mein 20. Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie, Zürich 1975, S. 184. Feuchtwanger, Lion: Der Teufel in Frankreich. Ein Erlebnisbericht. Mit einem Nachwort von Marta Feuchtwanger, München 1983, S. 86f. Kantorowicz, Alfred: Brief an Lion Feuchtwanger zum 60. Geburtstag (s. Anm.7). Marcuse, S. 280. Feuchtwanger, Lion: Nationalismus und Judentum, 1933, in: C O , S. 498. Ebd. Horkheimer, Max: Brief an Lion Feuchtwanger zum 60. Geburtstag. Undatiert, 1944. Lion Feuchtwanger Memorial Library, (s. Anm.7). Feuchtwanger, Lion: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans, 1935, in: C O , S. 510. Ebd., S. 515.

Carel ter Haar

Ernst Toller (1893-1939), »der aber an Deutschland scheiterte...«

In einem Rückblick am Ende der 1933 in Amsterdam erschienenen Autobiographie »Eine Jugend in Deutschland« fragt sich der zu jenem Zeitpunkt 40jährige Ernst Toller, nachdem er seine Liebe zu Deutschland, zur deutschen geistigen Tradition und zur deutschen Sprache als »meine Sprache, in der ich fühle und denke, spreche und handle, Teil meines Wesens, Heimat, die mich nährte, in der ich wuchs« (IV, S. 227)1 reflektiert hat: »Aber bin ich nicht auch Jude? Gehöre ich nicht zu jenem Volk, das seit Jahrtausenden verfolgt, gejagt, gemartert, gemordet wird, dessen Propheten den Ruf nach Gerechtigkeit in die Welt schrieen, den die Elenden und Bedrückten aufnahmen und weitertrugen für alle Zeiten, dessen Tapferste sich nicht beugten und eher starben, als sich untreu zu werden. Ich wollte meine Mutter verleugnen, ich schäme mich. Daß ein Kind auf den Weg der Lüge getrieben wurde, welch furchtbare Anklage gegen alle, die daran teilhatten« (IV, S. 227). Die sich unmittelbar anschließende Frage - »Bin ich darum ein Fremder in Deutschland?« - zeigt das Maß an Verunsicherung, das die nationalsozialistische Machtergreifung auch bei Ernst Toller, der in seiner Publizistik schon seit Jahren vor den Gefahren und dem Machtwillen der nationalsozialistischen Bewegung gewarnt hatte, ausgelöst hat. Tollers vor allem in Frageform angestellte Überlegungen sprengen den zeitlichen Rahmen der bis 1924 reichenden Autobiographie und bringen das Bewußtsein einer gescheiterten Assimilation oder gar Akkulturation, aber ebenso sehr ein in erster Linie der Selbstbehauptung dienendes und neu artikuliertes jüdisches Selbstverständnis zum Ausdruck. In diesem Sinne ist Tollers Lebenslauf als exemplarisch zu betrachten. Ernst Toller war ein - bis heute faszinierender - Nonkonformist, der als »Dichter« und als »Revolutionär« 2 in seiner Unbedingtheit wohl jedem etablierten System Schwierigkeiten bereitet hätte, der aber gleichzeitig in seinem ersten Drama »Die Wandlung« den erhofften Ausbruch aus dem Ghetto gestaltete, dessen späteres Werk in vielerlei Hinsicht von jüdischem Denken geprägt ist3, und der schließlich an Deutschland scheiterte. Ernst Toller wurde am 1. Dezember 1893 als drittes Kind einer mittelständischen Familie in der damals preußischen Stadt Samotschin geboren 4 . Die Familie war deutsch orientiert und gehörte der dortigen jüdischen Gemeinde an. Nach der von einer schweren Krankheit unterbrochenen Schulzeit war Toller von Februar bis Juli 1914 an der Ausländeruniversität in Grenoble 309

immatrikuliert. Zur Zeit des Kriegsausbruchs befand er sich noch in Frankreich, es gelang ihm aber mit einem der letzten Züge nach Deutschland zurückzukehren, um sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. In München wurde er am 9. August 1914 dem 1. Bayerische Fuß-Artillerie-Regiment zugeteilt. Nach der Ausbildung wurde Tollers Bataillon in die Nähe von Straßburg verlegt, von wo er sich freiwillig an die Front meldete und von März 1915 bis Mai 1916 vor Verdun kämpfte. Sein gesundheitlicher Zusammenbruch hatte zur Folge, daß er zum 4.1.1917 als »kriegsuntauglich, aber dauernd arbeitsverwendungsfähig« (IV, S. 12) beurlaubt wurde. Ab dem Wintersemester 1916/17 belegte er Vorlesungen an der juristischen und philosophischen Fakultät in München und besuchte u.a. das Seminar des »Theaterprofessors« Arthur Kutscher. Es wurden erste literarische Kontakte geknüpft. Während einer vom Verleger Eugen Diederichs veranstalteten Tagung auf der Thüringer Burg Lauenstein im September 1917 lernte Toller Max Weber kennen, dem er im Wintersemester nach Heidelberg, wo er sich für Soziologie immatrikulierte, folgte. Auch die fur Toller entscheidende Bekanntschaft mit Gustav Landauer datiert aus dieser Zeit. Tollers Versuch, von Heidelberg aus einen »Kulturpolitischen Bund der Jugend« zu gründen, scheiterte, und er sah sich gezwungen, nach Berlin auszuweichen. Dort machte er die Bekanntschaft mit Kurt Eisner, durch den er wohl mit der Arbeiterbewegung in Berührung kam. Kurz nachdem Eisner nach München gezogen war, hielt Toller sich dort ebenfalls auf und tat sich während der Streiktage Anfang Februar 1918 hervor. Gleichzeitig fand eine erste öffentliche Lesung aus eigenen Werken statt. A m 6. April 1918 erschien zum erstenmal ein Gedicht Tollers in der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift »Die Aktion«. Pfemfert leitete dieses als »Marschlied« bezeichnete Gedicht mit der Bemerkung ein: »Ein Mensch spricht, hinter dessen Worten sein Schicksal steht«. Toller war wegen seiner Beteiligung an den Streikaktionen am 3. Februar 1918 verhaftet und anschließend wieder eingezogen worden. Während der Revolutionszeit im November/ Dezember 1918 war er als zweiter Vorsitzender des Vollzugsrates der Bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte und als Mitglied des Provisorischen Nationalrates aktiv. In den politischen Wirren Anfang 1919, besonders nach der Ermordung des amtierenden Ministerpräsidenten Kurt Eisner, war Toller bis zur Ausrufung der kommunistischen Räterepublik am 6./7. April in mehreren Funktionen tätig, um sich dann als Soldat der Roten Armee zur Verfügung zu stellen. In der Schlußphase ist er vor allem mäßigend aufgetreten, befürwortete Verhandlungen mit der Regierung Hoffmann und verhinderte, daß weitere Geiseln erschossen wurden. Nach dem Zusammenbruch der Räterepublik gelang es ihm, sich etwa einen Monat versteckt zu halten. A m 4. Juni 1919 wurde er verhaftet und im anschließenden Hochverratsprozeß zu fünf Jahren Festungshaft, die er hauptsächlich in Niederschönenfeld abbüßte, verurteilt. Für Toller bedeuteten die nun folgenden fünfJahre — er lehnte jede ausschließlich seiner Person geltende Begnadigung ab - eine Zeit der Einsamkeit und Ohnmacht, in der er den Schikanen der Justizbehörden und den Angriffen oder 310

B e l e i d i g u n g e n s o w o h l der Linken, die i h m w e g e n seiner Rolle in der R ä t e r e p u blik »Verrat an der Arbeiterklasse« v o r w a r f , als auch der Rechten, die ihn w i e d e r h o l t u n t e r A n w e n d u n g antisemitisch g e p r ä g t e r V o r w ü r f e f ü r den s o g e n a n n t e n G e i s e l m o r d in M ü n c h e n v e r a n t w o r t l i c h machte, w e h r l o s ausgeliefert war. Für den Dichter E r n s t Toller aber waren diese f ü n f Jahre die p r o d u k t i v s t e n u n d erfolgreichsten. Sein erstes D r a m a »Die W a n d l u n g « , das i m Jahr davor z u m Teil i m M i l i t ä r g e f ä n g n i s e n t s t a n d e n war, w u r d e a m 30. S e p t e m b e r 1919 m i t g r o ß e m E r f o l g in Berlin u r a u f g e f ü h r t . Das völlig i m Gegensatz zur politischen Realität s t e h e n d e Werk m i t der ans E n d e verlegten G e b u r t s s z e n e w u r d e z u m S y m b o l s t ü c k einer R e v o l u t i o n des Geistes u n d der H e r z e n . In dieser Zeit e n t s t a n d e n auch die D r a m e n »Masse M e n s c h « (1919/20), »Die M a s c h i n e n s t ü r m e r « (1920/21), »Der deutsche H i n k e m a n n « (1921/22), das »galante Puppenspiel« »Die Rache des v e r w ö h n t e n Liebhabers« (1920), die auch in neuerer Z e i t a u f g e f ü h r t e satirische K o m ö d i e »Der entfesselte Wotan« (1923) u n d schließlich die beiden G e d i c h t b ä n d e »Gedichte der G e f a n g e n e n « (1920/21) s o w i e das in den z w a n z i g e r Jahren sehr b e k a n n t e u n d verbreitete » S c h w a l b e n b u c h « (1922/23). A u ß e r d e m verfaßte Toller Massenspiele f ü r die Arbeiterfestspiele in Leipzig. D i e äußere Situation w a r m i t d a f ü r v e r a n t w o r t l i c h - u n d dies gilt b e s o n d e r s f ü r die D r a m e n - , daß j e d e s Werk u n a b h ä n g i g v o n seinem künstlerischen R a n g zu e i n e m E r f o l g w e r d e n m u ß t e , gleichzeitig aber die M ö g l i c h k e i t eines Skandals in sich b a r g . Toller w u r d e , u n d dies nicht n u r in D e u t s c h l a n d , zu einer S y m b o l f i g u r f ü r die e n t t ä u s c h t e n H o f f n u n g e n , die sich schon bald n a c h 1920 b r e i t m a c h t e n , er w u r d e aber nicht zuletzt aus diesem G r u n d in d e n A u g e n konservativer u n d reaktionärer K r ä f t e z u m Sinnbild derer, die ü b e r k o m m e n e O r d n u n g e n in Frage zu stellen g e w a g t hatten. D i e Freilassung a m 15. Juli 1924 b e d e u t e t e f ü r Toller das E n d e einer A u s n a h m e s i t u a t i o n . E r f a n d n a c h Inflation, K a p p - u n d H i t l e r p u t s c h eine Welt vor, die n u r w e n i g m e h r m i t j e n e r v o n 1919 g e m e i n hatte. Toller w a r v o n diesem Z e i t p u n k t an lediglich einer der zahlreichen parteilosen linken Literaten, die sich z w a r d u r c h M a n i f e s t e u n d A k t i o n e n b e m e r k b a r m a c h t e n , den etablierten sozialistischen Parteien eher lästig w a r e n u n d deren Erfolge, w i e etwa auch K u r t T u c h o l s k y erkannte, meistens o h n e W i r k u n g blieben. D a s G e f ü h l der Deplaziertheit, eine A r t K a s p a r H a u s e r zu sein - auch K u r t T u c h o l s k y w ä h l t e dieses P s e u d o n y m - , findet seinen dichterischen N i e d e r s c h l a g in der Gestalt des a m 8. M a i 1927 aus der Irrenanstalt entlassenen e h e m a l i g e n R e v o l u t i o n ä r s Karl T h o m a s in d e m 1927 v o r allem d u r c h die Inszenierung v o n E r w i n Piscator b e k a n n t g e w o r d e n e n Stück » H o p p l a , w i r leben!«, in d e m der P r o t a g o n i s t a m »Irrsinn der Welt« (III, S. 115) zugrundegeht. A u c h das 1930 u r a u f g e f u h r t e D o k u m e n t a r s t ü c k ü b e r den M a t r o s e n a u f s t a n d in Kiel 1917 hat die R e v o l u t i o n z u m T h e m a , w o m i t — bis auf w e n i g e A u s n a h m e n — das d r a m a t i s c h e Werk Tollers bis z u m Exil g e p r ä g t w i r d v o n der A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der e r h o f f t e n u n d gescheiterten R e v o l u t i o n , die f ü r

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Toller viel weniger eine realpolitische Gegebenheit war als vielmehr, im Sinne von Gustav Landauers Revolutionsbegriff, eine geistige und menschliche, Erstarrung und Konventionen durchbrechende Erneuerungsbewegung, die in einem engen Zusammenhang mit Tollers ebenfalls von Landauer beeinflußten, stark gefühlsbetonten Sozialismusauffassung steht. Toller hat sich, obwohl er sich der Arbeiterbewegung zugehörig fühlte, nie mehr parteipolitisch betätigt. Neben zahlreichen Reisen und Auslandsaufenthalten galt sein Engagement in den zwanziger Jahren in erster Linie dem Pazifismus und der Justizpublizistik. Schon bald nach seiner Freilassung veröffentlichte er in der »Weltbühne« in lockerer Folge die »Dokumente bayrischer Justiz«, die 1927 in erweiterter Form unter dem Titel »JustizErlebnisse« als Buch erschienen. Neben der Anklage gegen die allzu einseitige Justizpraxis der Revolutionszeit in Bayern sind aber auch diese Texte Bestandteil seiner Autobiographie. Selbstvergewisserung und Rechtfertigungsgründe, besonders auch der kommunistischen Publizistik gegenüber, bestimmten die gegen Ende der zwanziger Jahre angefangene Arbeit an der Autobiographie »Eine Jugend in Deutschland«, die in den ersten Monaten des Exils abgeschlossen wurde. Toller überlebte die nationalsozialistische Machtergreifung, weil er sich zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz befand. A m 23. August 1933 wurde er ausgebürgert. Das Exil gab Toller neuen Auftrieb. Sein Auftreten bei der Tagung des P E N Klubs im Mai 1933 in Dubrovnik entlarvte nicht nur die gleichgeschaltete deutsche Sektion, sondern trug wesentlich zur Politisierung des P E N im antinationalsozialistischen Sinne und damit zur geistigen Isolierung von Nazideutschland bei. 1934 gehörte Toller zu den Mitbegründern des deutschen P E N - K l u b s im Exil. Die Exiljahre sind geprägt von einer hektischen Tätigkeit. 1935 erschienen die »Briefe aus dem Gefängnis«, die ebenso wie die Autobiographie bald danach in englischer Übersetzung veröffentlicht wurden. Der Erfolg Tollers in den angelsächsischen Ländern zeigt sich schon darin, daß das Werk dieses deutschsprachigen Autors 1936 in englischer Übersetzung in einer Vollständigkeit vorlag, die in deutscher Sprache erst 1978 von der in München erschienenen Werkausgabe überboten wurde. 1936 fand die Uraufführung von Tollers pazifistischer Komödie » N o More Peace« in London statt. Wichtiger aber als sein dichterisches Werk waren die zahlreichen, und wie die Dokumente in »Der Fall Toller« zeigen, von den deutschen Geheimdiensten genau beobachteten Vorträge auf internationalen Kongressen sowohl in Europa als auch während seiner Vortragsreise in den Vereinigten Staaten und Kanada 1936/37. Wie zahlreiche andere emigrierte Autoren war Toller im Winter 1937 als Drehbuchautor in Hollywood tätig. 1938 erfolgte die letzte Europareise. Die Konfrontation mit dem Elend der unter den Folgen des Bürgerkriegs leidenden spanischen Bevölkerung veranlaßte ihn zur Initiierung einer großangelegten Hilfsaktion, für die er auch den amerikanischen Präsidenten Roosevelt zu gewinnen wußte. Der Sieg Francos 1939 ließ auch diese Aktion mißlingen. Kurz davor hatte Toller, der unter den Bedingungen des Exils psychisch 312

besonders litt, unter dem Eindruck der Ermordung Erich Mühsams und der mutigen Haltung Martin Niemöllers sein letztes Bekenntnisdrama »Pastor Hall« vollendet. A m 22. Mai 1939 erhängte er sich in seinem Hotel in New York. A m ehesten gilt noch, was Lion Feuchtwanger über diesen Tod geschrieben hat: »Mein Freund Ernst Toller hatte zu viel Herz für die anderen, um an sein eigenes Werk zu denken. Wenn einer, dann war er eine Kerze, die, an beiden Enden angezündet, verbrannte« (VI, S. 230).

Anmerkungen 1 Im folgenden zitiert nach: Spalek, John Μ . / Frühwald, Wolfgang (Hgg.): Ernst Toller, Gesammelte Werke, I. bis V., sowie nach dem als VI. bezeichneten Kommentarband: Der Fall Toller, München 1978 bzw. 1979. 2 Kirsch, Hans-Christian: Ernst Toller: Revolution und Menschlichkeit, in: Klassiker heute, Frankfurt 1982, S. 307ff.

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3 Vgl. ter Haar, Carel: Ernst Toller. Appell oder Resignation?, München 2 1982, bes. Kap. V bis VIII. 4 Biographische Angaben nach: Rothe, Wolfgang: Ernst Toller in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1983; Der Fall Toller, S. 12 ff.; ter Haar, S. 9 ff. (dort auch weitere bibliographische Angaben).

Elke Fröhlich

Philipp Auerbach (1906-1952), »Generalanwalt fiir Wiedergutmachung«

Kaum eine Persönlichkeit im Nachkriegs-Bayern fand so viel öffentliche Wertschätzung und gleichzeitig so viel massive Kritik wie Philipp Auerbach. Obwohl er in den Jahren 1948—1952 in aller Leute Munde geraten war, bleibt sein Leben partiell im dunkeln, was nicht zuletzt auf seine eigene Initiative zurückzufuhren ist. So kann seine Biographie kaum mehr als in groben Umrissen skizziert werden 1 . Philipp Auerbach wurde als eines von zehn Geschwistern am 8. Dezember 1906 in Hamburg geboren. Sein Vater Aaron Auerbach betrieb einen Exportgroßhandel mit Chemikalien; er starb im Jahre 1938, seine Mutter Helene Auerbach war bereits 1930 gestorben. Im darauffolgenden Jahr heiratete Philipp Auerbach Martha Levison. Diese Ehe, aus der ein Kind hervorging, wurde 1946 in Düsseldorf geschieden. Von April 1913 bis März 1922 besuchte Auerbach die Talmud-Tora Realschule in Hamburg. Dann absolvierte er in der väterlichen Firma eine kaufmännische Lehre, nebenbei besuchte er eine Drogisten-Fachschule. Auf Wunsch seines Vaters hielt er sich für zwei Jahre in Spanien auf, wo er u.a. eine Mine seines Vaters leitete und mehrere Sprachen erlernte. Nach Hamburg zurückgekehrt, arbeitete er wieder in der Firma seines Vaters, bis Philipp Auerbach 1933 nach Belgien emigrierte, weil ihn seine parteipolitische Tätigkeit nationalsozialistischen Angriffen ausgesetzt hatte. Bei Antwerpen gründete er eine schnell expandierende Import-Export-Firma für Chemikalien. Er beschäftigte zeitweise bis zu 2000 Arbeiter und erwirtschaftete von 1935 bis 1940 ein Jahreseinkommen von 600000 belgischen Francs. Die Ursache für die großen Gewinne lag vor allem im Spanischen Bürgerkrieg. Auerbach belieferte die Rotspanische Regierung mit Chemikalien und unterstützte diese auch durch die illegale Einschleusung von deutschen Freiwilligen. Mit der Kriegserklärung Deutschlands an Belgien verlor Auerbach die deutsche Staatsbürgerschaft. Trotzdem wurde er am 10.5. 1940 als feindlicher Ausländer von belgischen Behörden verhaftet und wenige Tage später nach Frankreich abgeschoben. Von einem Internierungslager in das andere wechselnd, lebte er ständig in der Angst, an Deutschland ausgeliefert zu werden. Französische Behörden übergaben ihn am 28.11. 1942 der Gestapo, die ihn in das Berliner Polizeigefängnis am Alexanderplatz verbrachte. Dort fand er bei der Kriminalpolizei, Abteilung Ausländerdiebstahl, als Dolmetscher Verwendung, wodurch seine Verschubung in ein 315

Konzentrationslager längere Zeit verzögert werden konnte. U m die Jahreswende 1943/44 kam Auerbach dennoch nach Auschwitz, wo er als Chemiker Medikamente für die Mithäftlinge sowie Chemikalien zur Schädlingsbekämpfung herstellte. Nach Auflösung des Lagers am 18.1. 1945 mußte er mit Tausenden von Häftlingen über das K Z Groß-Rosen nach Buchenwald marschieren, das am 11.4. 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Auch in Buchenwald war Auerbach als Chemiker beschäftigt. Nach dem Abzug der Amerikaner, die ihn beauftragt hatten, das Lager an die sowjetische Armee zu übergeben, setzte sich Auerbach nach Düsseldorf ab, um einer Verschleppung als Chemiker in die Sowjetunion zu entgehen. In Düsseldorf bemühte er sich um eine Anstellung, u. a. beim Amt des Regierungspräsidenten. Er wurde - im Glauben an die Richtigkeit seiner Angaben zu Person und Familie - am 1.9. 1945 als Sachbearbeiter der Abteilung »Fürsorge für politisch, religiös und rassisch Verfolgte« eingestellt. Aber schon am 22.12. 1945 wurde Oberregierungsrat Auerbach vom Dienst suspendiert und im wesentlichen aufgrund der übertriebenen Darstellung seines Schicksals als Verfolgter und der Überschreitung seiner amtlichen Kompetenzen am 15.1. 1946 entlassen. In Düsseldorf betätigte er sich aktiv als Politiker bei der SPD. Sein Engagement und seine Verdienste bei der Gründung und Organisation der jüdischen Kultusgemeinden mündeten schließlich in seine Ernennung zum Präsidenten des Landesverbandes der Kultusgemeinden in der gesamten britischen Zone. Später wurde er auch in Bayern zum Präsidenten des Landesverbandes ernannt. Fünf Tage nach seiner Suspendierung durch die britische Militärregierung bat er den bayerischen Ministerpräsidenten Hoegner in einem Schreiben vom 27.12.1945 um die Übertragung eines vergleichbaren Amtes, wie er es in Düsseldorf innegehabt hatte-wiederum mit wahrheits widrigen Angaben über seine persönlichen Verhältnisse. Nach längeren Verhandlungen wurde Auerbach, für dessen Einstellung u.a. angesehene jüdische Kreise plädiert und die amerikanische Militärregierung ihre Zustimmung gegeben hatten, am 10.10. 1946 durch die bayerische Staatsregierung zum »Staatskommissar für die Betreuung der Opfer des Faschismus« förmlich ernannt; mit Wirkung vom 1.1. 1947 erhielt er die Bezüge eines Ministerialdirektors. Das schwierige Amt übernahm somit ein Mann, der keine formale Voraussetzung zu dessen Leitung mitbrachte. Obwohl er bisher auf einem ganz anderen Gebiet, nämlich als fähiger Unternehmer, hervorgetreten war - auch sein Doktortitel war zumindest zu diesem Zeitpunkt Hochstapelei; die Promotion holte er erst am 31.7.1949 nach - , erwies er sich als der rechte Mann an der rechten Stelle. Bayern war in den letzten Kriegsmonaten und in den Jahren danach für schätzungsweise 130000 Personen zur Zufluchtsstätte geworden. Die sog. »Displaced Persons« drangen auf Durchsetzung ihrer Ansprüche, unterstützt darin von der amerikanischen Besatzungsmacht und ausländischen Hilfsorganisationen. Für den bayerischen Staat bestand neben dem Problem der Unterbringung der Flüchtlinge das vordringlichste Anliegen darin, möglichst vielen Ausländern zur baldigen Auswanderung zu verhelfen. Was Auerbach 316

hierin leistete, w i r k t e als w a h r e r »Segen f ü r den Staat« 2 . A u c h seine heftigsten Kritiker m u ß t e n z u g e b e n , daß er angesichts der t u r b u l e n t e n Verhältnisse der u n m i t t e l b a r e n Nachkriegszeit m i t seiner starken A u t o r i t ä t u n d genialen I m p r o v i s a t i o n s k u n s t u m ein Vielfaches m e h r leistete, als es ein gesetzestreuer B ü r o k r a t g e k o n n t hätte 3 . A u e r b a c h v e r f u g t e über u n g e w ö h n l i c h e Fähigkeiten zur L ö s u n g dieser schwierigen A u f g a b e . Für seine B e h ö r d e g a b es kein Vorbild, u n d f ü r seine Tätigkeit als S t a a t s k o m m i s s a r fehlten z u d e m klare Vorschriften 4 . In den u n z u r e i c h e n d e n Gesetzen w a r d e m S t a a t s k o m m i s s a r eine D o p p e l r o l l e z u g e wiesen, s o w o h l die Interessen der Verfolgten g e g e n ü b e r d e m Staat als auch, als B e w i l l i g u n g s b e h ö r d e , die Interessen des Staates g e g e n ü b e r d e n Verfolgten zu vertreten. Dies e r ö f f n e t e A u e r b a c h einen k a u m zu kontrollierenden E r m e s s e n s spielraum bei der Vergabe v o n W i e d e r g u t m a c h u n g s g e l d e r n , u n d er n ü t z t e ihn g r o ß z ü g i g u n d nach e i g e n e m G u t d ü n k e n . D a b e i handelte es sich u m d a m a l s u n v o r s t e l l b a r h o h e S u m m e n . So hatte er z.B. als Verwalter der »Stiftung zur W i e d e r g u t m a c h u n g nationalsozialistischen U n r e c h t s « z u m Z e i t p u n k t der W ä h r u n g s r e f o r m , als j e d e m volljährigen D e u t s c h e n 40 D M a u s g e h ä n d i g t w u r d e n , einen Etat in H ö h e v o n 130 Millionen R M bzw. 6,5 Millionen D M zur V e r f ü g u n g . M i t dieser finanziellen A u s s t a t t u n g w u r d e der E i n f l u ß des Staatsk o m m i s s a r s i m m e r g r ö ß e r : I m Ausland, i n s b e s o n d e r e in den U S A , gefeiert als Wegbereiter der W i e d e r g u t m a c h u n g , bei der amerikanischen M i l i t ä r r e g i e r u n g persona grata, v o n d e n H i l f e s u c h e n d e n in s e i n e m A m t Tag u n d N a c h t belagert, v o n seinen M i t a r b e i t e r n verehrt. Z u diesem Z e i t p u n k t , als A u e r b a c h auf d e m H ö h e p u n k t seiner Karriere stand, versuchten i n s b e s o n d e r e der m i t i h m b e f r e u n d e t e bayerische J u s t i z m i n i s t e r M ü l l e r u n d der auf seine A n r e g u n g hin z u m L a n d e s r a b b i n e r e r n a n n t e Dr. O h r e n s t e i n den E i n f l u ß A u e r b a c h s zu s c h w ä c h e n . U m der G e f a h r v o r z u b e u g e n , daß das Staatskommissariat zu g r o ß e E i g e n s t ä n d i g k e i t entwickle, sollten vor allem auf die Initiative der beiden G e n a n n t e n hin in einer V e r o r d n u n g 5 die beiden A u f g a b e n - Vertretung der Interessen der Verfolgten und des Staates - g e t r e n n t w e r d e n . A u e r b a c h w u r d e a m 16.11.1948 z u m »Generalanwalt f ü r W i e d e r g u t m a c h u n g « e r n a n n t u n d sollte n u r n o c h die Interessen der Verfolgten w a h r n e h m e n . G e g e n die A b t r e n n u n g d e r j e n i g e n A b t e i l u n g , die ü b e r die B e r e c h t i g u n g u n d H ö h e der A u s z a h l u n g b e f i n d e n sollte, sprach sich aber die B e s a t z u n g s m a c h t aus 6 . D a m i t w a r der Versuch, A u e r b a c h s D o p p e l s t e l l u n g zu beseitigen, gescheitert. M i t V e r o r d n u n g v o m 22.11.1949 erhielt A u e r b a c h s B e h ö r d e die B e z e i c h n u n g »Bayerisches L a n d e s e n t s c h ä d i g u n g s a m t « . A u f g r u n d der vielfach g e ä u ß e r t e n B e d e n k e n w a g t e es der Bayerische M i n i s t e r r a t aber nicht, A u e r b a c h z u m Präsidenten des A m t e s zu e r n e n n e n ; er b e a u f t r a g t e ihn a m 21.11.1949 n u r m i t der v o r l ä u f i g e n F ü h r u n g der G e s c h ä f t e des E n t s c h ä d i g u n g s a m t e s . D i e V o r w ü r f e g e g e n A u e r b a c h k u l m i n i e r t e n vor allem darin: » V o r w e g n a h m e v o n politischen E n t s c h e i d u n g e n , Festlegung der Staatsregierung, u n v e r s ö h n l i c h e Predigten i m R u n d f u n k , A n g r i f f e gegen die Staatsregierung, E i n m i s c h u n g in f r e m d e Z u s t ä n d i g k e i t e n , B e v o r z u g u n g der rassisch V e r f o l g -

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ten« 7 . Die Beschuldigungen, obwohl öffentlich erhoben, waren wenig konkret und hielten einer näheren Prüfung nicht stand. Schwerer wog hingegen die Kritik des Obersten Rechnungshofes, der schon im Bericht vom 20.5.1947 das Fehlen einer Buchführung und Zentralkartei und den »mangelnden behördlichen Charakter« des Staatskommissariats moniert hatte. Nun rügte er im Prüfungsbericht vom 7.7.1950 vor allem die Verschuldung des Landesentschädigungsamtes in Höhe von 18 Millionen D M , Mißstände bei der Gebührenerhebung und dergleichen mehr. Auerbach äußerte sich dazu am 17.10.1950, die Gegenäußerung des Obersten Rechnungshofes stammt vom 10.2.1951. Zu dieser Zeit griffjustizminister Müller Auerbach vor dem Landtag heftig an. Ein großer Betrugs- und Finanzskandal schien sich anzubahnen. Ermittlungen wurden angestellt und Auerbach am 9.3.1951 in Untersuchungshaft genommen. Ein Strafverfahren wurde vorbereitet. Mitte April 1951 unternahm Auerbach einen Selbstmordversuch. Nach der über ein Jahr währenden Untersuchungshaft, in der Auerbach ernsthaft erkrankte, so daß seine Haftfähigkeit häufig in Zweifel stand, wurde am 14.4.1952 der Prozeß vor dem Landgericht München I eröffnet. Dieser wurde insofern zum Sensationsprozeß, als Auerbach der erste Jude in prominenter Stellung war, der nach dem Ende des N S Regimes vor Gericht stand. Die Anklage lautete auf unterschiedliche Delikte, der schwerste Vorwurf zielte wohl auf die persönliche Bereicherung aus Wiedergutmachungsgeldern ab. Während des Prozesses kam es des öfteren zu einem harten Schlagabtausch zwischen Richtern, Staatsanwalt und Verteidigung - auch der Angeklagte äußerte sich häufig temperamentvoll und impulsiv. Das in New York gegründete »Committee on Fair Play for Auerbach« 8 , überzeugt, daß es sich um einen brisanten politischen Prozeß handle, griff auf seine Weise ein. Im ganzen gesehen wurde aber das Bemühen der Richter um eine objektive Prüfung der Sachlage und gerechte Beurteilung der Person Auerbach anerkannt. Dies zeigt sich u. a. in folgender positiver Charakterisierung Auerbachs im Urteil: »Er war von einer Aktivität und Betriebsamkeit, wie man sie selten findet, ein in jeder Beziehung ganz außergewöhnlicher Mensch. Sein weit über dem Durchschnitt stehendes Gedächtnis ermöglichte ihm, sich spielend Sprachen und ein umfangreiches praktisches Wissen anzueignen, sein Gedankenflug ließ ihn immer neue Möglichkeiten, insbesondere technische Lösungen entdecken, sein Organisationstalent befähigte ihn wirtschaftliche Unternehmungen und Personenvereinigungen entstehen zu lassen und in kurzer Zeit zu Einfluß und Macht kommen zu lassen, seine Kunst der Menschenfuhrung machte ihn überall, wo er auftauchte, zur gewichtigen und leitenden Persönlichkeit, seine Überzeugungskraft ließ ihn auch den schwierigsten Verhandlungspartner für sich gewinnen« 9 . Die fünf Monate währenden Verhandlungen endeten am 14.8.1952 mit der Verurteilung Auerbachs zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und zu 2700 D M Geldstrafe. Das Gericht unter dem Vorsitz von Landgerichtsdirektor Dr. Mulzer befand Auerbach zahlreicher Delikte wie Erpressung, passive Bestechung, Untreue, Amtsunterschlagung, falsche Versicherung an Eidesstatt und 318

u n b e f u g t e F ü h r u n g eines akademischen Grades f ü r schuldig, sprach ihn j e d o c h in den wesentlichen A n k l a g e p u n k t e n frei. Es w a r bestrebt, Auerbachs u n z w e i felhafte Verdienste u m die W i e d e r g u t m a c h u n g , sein schweres Lebensschicksal u n d die b e s o n d e r e Konstellation bei seiner V e r w e n d u n g im Staatsdienst zu berücksichtigen. So heißt es in d e m Urteil: »Er war, b e s o n d e r s von der Zeit seiner E m i g r a t i o n her, g e w o h n t , zu improvisieren, w o b e i es i h m lediglich 319

darauf ankam, daß ein brauchbares Ergebnis dabei herauskam, auch wenn die Mittel manchmal bedenklich waren. Und was besonders zu seinen Gunsten spricht: Seine Vorgesetzten decktcn ihn dabei. Die drückten ein oder beide Augen zu, wenn nur 'der Laden lief... Es war die Tragik Dr. Auerbachs, daß er, als er durch die Veränderung der Verhältnisse seine anfänglich nahezu unumschränkte Macht immer mehr dahinschwinden sah, nicht die Energie aufbrachte, sich zu mäßigen und auf die veränderten Verhältnisse einzustellen«10. Auerbach griff das Urteil vehement an, er nannte es ein »Terrorurteil, wie es sonst nur in der Sowjetzone gefällt« werde und kündigte an, Revision einzulegen. Noch in der Nacht nach der Urteilsverkündung verübte er Selbstmord. Er hinterließ einen für die Öffentlichkeit bestimmten Abschiedsbrief folgenden Wortlauts: »Nicht aus Feigheit, nicht aus einem Schuldbekenntnis heraus handele ich, sondern weil ein Glaube an das Recht für mich nicht mehr besteht und ich meinen Freunden und meiner Familie nicht weiter zur Last fallen will! ... Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann dieses entehrende Urteil nicht weiterhin ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft, es war umsonst! Dank meinen Verteidigern Dr. Panholzer und R.A. Klibansky. Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen. Dr. Auerbach«11. Auerbach war 46 Jahre alt. Er hinterließ seine 35jährige zweite Ehefrau und eine 15jährige Tochter. Am 18.8.1952 wurde er unter starker Anteilnahme auf dem jüdischen Friedhof in München beigesetzt. Das dramatische Ende des Prozesses veranlaßte die Presse zu nachdenklichen Kommentaren und verfehlte auch nicht seine Wirkung auf den vom Bayerischen Landtag am 25.4.1951 eingesetzten Untersuchungsausschuß. Nach vier Jahren mit zahlreichen Sitzungen Schloß er seine Prüfungsarbeit ab mit der völligen Rehabilitierung Auerbachs. Anmerkungen 1 Der Beitrag stützt sich im wesentlichen auf die sehr umfangreichen Prozeßunterlagen, Registratur der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München I, 2 Kls 1/52. Einschlägige Literatur ist bisher nicht vorhanden. Doch soll noch 1988 ein Aufsatz von Constantin Goschler erscheinen: Der Fall Philipp Auerbach. Wiedergutmachung in Bayern, in: Im Schatten von Auschwitz. Die Bundesrepublik und die Wiedergutmachung, hg. v. Ludolf Herbst und Constantin Goschler. 2 Schlußbericht des Untersuchungsausschusses zur Prüfung der Vorgänge im Landesentschädigungsamt, Bayerischer Landtag, 186. Sitzung, S. 912. 3 Urteil, S. 200 und Schlußbericht, S. 912.

320

4 Die gesetzliche Grundlage fur die Arbeit des Staatskommissariats lieferte das Gesetz Nr. 35 über die Bildung eines Sonderfonds zum Zwecke der Wiedergutmachung vom 1.8.1946 (GVB1. S. 258), das durch das Gesetz Nr. 75 vom 1.8.1947 (GVB1. S. 164) geringfügig abgeändert wurde. 5 VO über die Organisation der Wiedergutmachung vom 3.11.1948 (GVB1. S. 248). 6 VO vom 22.11.1949 (GVB1. S. 276), die außerdem die VO vom 3.11.1949 rückwirkend aufhob. 7 Schlußbericht, S. 900. 8 Einschlägiges Material im Leo Baeck Institute, New York. 9 Urteil, S. 197. 10 Urteil, S. 200. 11 Kopie des Briefes in den Prozeßunterlagen.

Brigitte Schmidt

Hans Lamm (1913-1985), Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde München

A m 6. Juni 1913 wurde Hans L a m m in München geboren. Der Sohn des Metallhändlers Ignaz 1 und seiner Ehefrau Martha 2 Lamm, geb. Pinczower, verbrachte mit seinem Bruder Heinrich 3 die Kindheit und Jugend in der Bruderstraße 12 im Münchner Stadtteil Lehel. Die beiden wuchsen in einem traditionellen jüdischen Elternhaus auf. Die Familie war Mitglied der israelitischen Religionsgesellschaft »Ohel Jakob«, deren Synagoge 4 sich in der nahen Herzog-Rudolf-Straße befand. Hans L a m m besuchte die Volksschule an der Türkenstraße, 1932 legte er das Abitur an der Luitpold-Oberrealschule ab. Seine Mutter, eine dem ostjüdischen Kulturkreis entstammende Sprachlehrerin, weckte früh seine Begeisterung für Fremdsprachen. Hans L a m m schilderte sie in seinen Erinnerungen als stets ausgeglichene, sehr herzliche Persönlichkeit, deren Mut und Flexibilität er bewunderte. So begann sie noch im Alter von 45 Jahren bei Dr. Lazar in Wien eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. Sie regte auch die ersten Schreibversuche ihres Sohnes an, der bereits mit 15 Jahren regelmäßig Beiträge für die Schülerzeitung »Das Band« verfaßte. Das Verhältnis zu seinem Vater dagegen war nicht unbelastet. Hans L a m m beschrieb ihn in Gesprächen als strengen, unnahbaren Mann, derjedoch auch musische Neigungen besessen hat. Mit großer Hingabe widmete er sich seiner umfangreichen Bibliothek, sowie der bekannten Sammlung von jüdischen Kultgegenständen. Hans L a m m schrieb sich im Jahr 1932 an der Münchner Universität ein, um Jura zu studieren. Nach drei Semestern wurde ihm klar, daß er als Jude unter der nationalsozialistischen Regierung wohl keine Chance haben würde, als Rechtsanwalt zu praktizieren. Er wechselte deshalb das Studienfach und belegte ein Semester Zeitungswissenschaft. Von 1933 bis 1937 schrieb er für das »Israelitische Familienblatt«, Hamburg, und diverse jüdische Gemeindeblätter. Er begann in der jüdischen Gemeindearbeit aktiv zu werden. Seine Aufgabengebiete lagen in der Wohlfahrts- und Erziehungsarbeit. 1937 verließ er München und ging nach Berlin, um an der »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums« Judaistik zu studieren. A m 16. Juli 1938 folgte er seinem schon seit zwei Jahren in den U S A lebenden Bruder. In Kansas City war die Familie Ende 1938 wieder vereint. Als letztem war Lamms Vater nach dessen Freilassung aus dem Konzentrationslager Dachau im November die Emigration gelungen. Finanziell war die Familie nach der Flucht aus der Heimat nicht sehr gut gestellt. Für 10 Dollar 321

Wochenlohn arbeitete Hans Lamm als Aushilfskraft in einem Drugstore. Mit Sprachschwierigkeiten hatten weder er noch sein Bruder zu kämpfen, da beide schon vor der Emigration Englisch gelernt hatten. Ignaz Lamm dagegen hatte große Eingewöhnungsschwierigkeiten. Er erlernte die fremde Sprache nicht und fühlte sich einsam, da er nur auf die spärlichen Kontakte zu anderen Emigranten aus Deutschland angewiesen war. Nach einem gemeinsam verbrachten Jahr trennte sich die Familie. Heinrich zog mit seinem Vater nach La Feria, Texas. Dort eröffnete er gemeinsam mit seiner Frau, Dr. med. Annie Hirschel, eine Landpraxis, die er bis zu seinem Tod führte. Ignaz Lamm starb 1944. Ihm war nicht vergönnt, die so schmerzlich vermißte Heimat wiederzusehen. Seinen Grabstein in La Feria schmückt eine Misrachtafel, geschaffen von dem längere Zeit in München tätig gewesenen Bildhauer Arnold Zadikow. Hans Lamm nahm sein Studium wieder auf. Begeistert von der Jugendarbeit, durch seine Tätigkeit im jüdischen Waisenhaus in Kansas City mit dem Problem der größtenteils aus Nazi-Deutschland stammenden Kinder vertraut, wurde ihm die Sozialarbeit zur Berufung. Er studierte mit großem Ehrgeiz von 1939 bis 1941 Soziologie an der Universität von Kansas City. Nach seiner Promotion zum Master of Arts wechselte er an die Washington University. Er beendete sein Studium 1942 mit dem Titel »Master of Social Works«, um sich der praktischen Arbeit zu widmen. Bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1945 war er in diversen amerikanisch-jüdischen und zionistischen Wohlfahrtsinstitutionen tätig. Obwohl Amerika ihm eine neue, in Hinblick auf die grauenhafte Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland auch bessere Heimat geboten hatte, stand es für ihn doch stets fest, daß er nicht bleiben wolle. Die »American Jewish Conference« bot ihm 1945, unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, die Möglichkeit, nach Deutschland zurückzukehren. Als Repräsentant der Hilfsorganisation »United Nations Relief and Rehabilitation Administration« (UNRRA) kam er im Juni 1945 nach München. Er war erschüttert von dem Bild, das sich ihm bot. Mit aller Kraft kämpfte er für Verbesserungen der Lebensbedingungen in den DP-Lagern. Betroffen machte ihn aber auch die katastrophale Versorgungslage der deutschen Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland. Er setzte sich, obwohl er selbst den antisemitischen Maßnahmen des NS-Regimes ausgesetzt gewesen war, fortan mit aller Kraft für das friedliche Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden ein. Anfang 1946 zog Hans Lamm nach Nürnberg und begann seine Tätigkeit als Übersetzer beim »International Military Tribunal«, die er bis zur Beendigung seines Judaistik-Studiums an der Erlanger Universität ausübte. Schon damals zeigte sich seine »Bewunderung und Schrecken« hervorrufende Fähigkeit, tausend Dinge gleichzeitig und doch mit stets gerecht verteiltem Einsatz zu erledigen. Er war maßgebend am Auf- und Ausbau des Nürnberger »German American Youth Club« beteiligt. Seiner Meinung nach wares die vordringlichste Aufgabe derjenigen, die die Untaten der Hitler-Herrschaft miterlebt hatten, die deutsche Jugend zu Kritikfähigkeit und Mut zum Widerspruch zu erziehen. 322

Er setzte diese Forderungen als Vorstand des Jugendklubs in die Wirklichkeit u m , indem er Jugendlichen die Chance bot, ein vorurteilsfreies Weltbild zu entwickeln. Eine Errungenschaft in diesem Z u s a m m e n h a n g bildeten die wöchentlich stattfindenden Diskussionsabende für die N ü r n b e r g e r Jugend. D o r t lernte sie, die durch die nationalsozialistische Propaganda und J u g e n d b ü cher aus dem Stürmer-Verlag geprägt wurde, eine eigene Meinung zu bilden und zu vertreten. Die Haltlosigkeit der ihr jahrelang gepredigten Rassentheorie sollte ihr durch den U m g a n g mit Andersgläubigen und -farbigen bewußt werden. Hans L a m m arbeitete in dieser Zeit auch wieder verstärkt auf journalistischem Gebiet. Er war Auslandskorrespondent verschiedener Presseagenturen und Zeitungen. Für den »Aufbau« (New York) berichtete er von den N ü r n b e r ger Prozessen und über den Wiederaufbau jüdischer Gemeinden in Deutschland. Er stellte erste Kontakte zu den »Nürnberger Nachrichten« her, für die er als Amerika-Korrespondent tätig wurde. Mit dem Herausgeber dieser Zeitung, Joseph Drexel, verband ihn eine jahrelange Freundschaft. An der Erlanger Universität war Hans L a m m ein von Prof. J. Schoeps selten gesehener Gast. Nichtsdestotrotz legte er am 25.7.1951 seine Dissertation vor: »Über die innere und äussere Entwicklung des deutschen J u d e n t u m s im Dritten Reich«. Sie zählt zu den Pionierarbeiten zur jüdischen Geschichte während des Nationalsozialismus.

40

H a n s L a m m , F o t o g r a f i e 1984.

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Hans Lamm kehrte noch einmal in die U S A zurück. In Scranton, Pennsylvania leitete er von 1951 bis 1953 Abteilungen des »Jewish Community Council« und des »Community Chests«. Da ihn diese Aufgabe wenig befriedigte, er überdies die Stadt als trist und häßlich empfand, nahm er gerne ein Angebot der »American Jewish Historical Society and American Tercentary« (New York) an. Hans Lamm leitete das Informationsbüro für Geschichte und bereitete Ausstellungen und Veranstaltungen zur Erinnerung an die 1654 gegründete erste jüdische Gemeinde New Yorks vor. Als Kulturdezernent des »Zentralrates der Juden in Deutschland« kehrte er 1955 nach Deutschland zurück und ließ sich in Düsseldorf nieder. 1960 bot sich ihm die Gelegenheit, als Abteilungsleiter der Münchner Volkshochschule zu arbeiten. Diese Stellung übte er bis zu seiner Pensionierung 1976 aus. Der Kreis Schloß sich wieder in München. Von 1970 bis zu seinem Tod am 23. April 1985 hatte er das A m t des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens inne. Obwohl dies nur eine ehrenamtliche Tätigkeit war, opferte Hans Lamm all seine Energie dafür. Unermüdlich setzte er sich für die Belange der Kultusgemeinde ein. Nahezu zwei Jahrzehnte war er auch Mitglied des Kuratoriums der »Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit«. Für seine journalistischen Leistungen auf dem Gebiet der Förderung des christlich-jüdischen Gespräches wurde er 1967 mit dem Joseph-E.-DrexelPreis ausgezeichnet. In zahlreichen Städten war Hans Lamm bekannt durch seine faszinierenden Vorträge. Er beherrschte die Kunst, Brücken zu bauen zwischen Angehörigen verschiedener Religionen, unterschiedlicher Kulturkreise, zwischen Jung und Alt. Den Mitmenschen zu achten, aufzurütteln, wachzuhalten, für die Rechte von Minderheiten zu kämpfen, das war sein Lebensziel. Den eingangs erwähnten Wunsch, Rechtsanwalt zu werden, hat er sich auf diese Weise doch noch erfüllt: Der tiefe Eindruck, den er bei vielen Menschen hinterließ, ist mit der Erinnerung an einen großartigen Anwalt der Forderung nach mehr Menschlichkeit im Zusammenleben der Völker verbunden. Nicht die zahlreichen Orden und Ehrungen, die Ehrenämter, Mitgliedschaften in zahlreichen Gremien, sondern die Suche nach dem Mitmenschen, das Entdecken seiner Seele hatte sich Hans Lamm als Aufgabe gesetzt.

Anmerkungen 1 Ignaz L a m m : geb. am 13.1.1875 in B u t t e n wiesen, gest. am 4 . 6 . 1 9 4 4 in La Feria, U S A . 2 Martha L a m m : geb. am 13.5.1884 in Ratibor, gest. 6.9.1931 in München. 3 Dr. med. Heinrich L a m m : geb. am 19.1.1908 in M ü n c h e n , gest. am 7.12.1974 in Harlingen, U S A . Gründer und Leiter des Jüdischen Kammerorchesters München. Vertreter der

324

jüdischen Studenten i m Allgemeinen Studentenausschuß (AStA) an der Universität M ü n c h e n . Assistenzarzt bei Dr. G. G o t t g e stein, Jüdisches Krankenhaus Breslau. Facharzt für Chirurgie. 4 D i e Synagoge O h e l J a k o b (ZeltJakobs), Herzog-Rudolf-Str. 3, wurde am 9. N o v e m b e r 1938 zerstört.

Autoren Dr. Andreas Angerstorfer Universität Regensburg

Dr. Dr. Christa Habrich Deutsches Medizinhistorisches Museum, Ingolstadt

Fritz Armbruster Haus der Bayerischen Geschichte, München

Dr. Helmut Hanko Kulturreferat der Stadt München

Heinrich von Bonhorst München

Dr. Renate Heuer Universität Frankfurt

Erika Bosl München

Helmut Hilz M . A . München

Dr. Rainer Braun Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Evamaria Brockhoff Μ. A. Haus der Bayerischen Geschichte, München Max Direktor M . A . Neuburg Prof. Dr. Rudolf Endres Universität Bayreuth Dr. Roland Flade Würzburg Dr. Elke Fröhlich Institut für Zeitgeschichte, München Dr. Wilhelm Füßl München Dr. Carel ter Haar Universität München

Dr. Manfred Hörner Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Dr. Franziska Jungmann-Stadler Archiv der Bayerischen Hypothekenund Wechsel-Bank, München Hendrikje Kilian M A . München Dr. Josef Kirmeier Haus der Bayerischen Geschichte, München Dr. Margit Ksoll Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Henry Marx N e w York Dr. Franz Menges Bayerische Akademie der Wissenschaften, München 325

Dr. U w e Müller Stadtarchiv Schweinfurt

Dr. Michael Segre Universität Münchcn

Dr. Robert Münster Bayerische Staatsbibliothek, München

Dr. Reinhard H. Seitz Staatsarchiv, Neuburg

Alexander Neumeyer Shavey Zion, Israel Dr. Gunnar Och Universität Erlangen-Nürnberg

Volker Skierka Hamburg Ilse Sponsel Erlangen

Ina Ulrike Paul M . A . München

Dr. Manfred Treml Haus der Bayerischen Geschichte, München

Dr. U w e Puschner Universität der Bundeswehr, München

Wolf Weigand M . A . Haus der Bayerischen Geschichte, München

Gerhard Renda M . A . Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

Ursula Wiedenmann M . A . München

Leibi Rosenberg M . A . München Prof. Dr. Alain Ruiz Universite de Provence, Aix-en-Provence Brigitte Schmidt Stadtarchiv München

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Dr. Falk Wiesemann Universität Düsseldorf Dr. Israel Jacob Yuval Hebrew University, Jerusalem

Bildnachweis Archiv Bibliographia Judaica e. V., Frankfurt 35 Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank, München 1, 2, 4 Bayerische Staatsbibliothek, München 11, 23, 32, 34 Bildarchiv Haus der Bayerischen Geschichte, München 8 Deutsches Medizinhistorisches Museum, Ingolstadt 10 Deutsches Museum, München 33 Fürstlich Oettingen-Wallersteinsche Sammlungen 12 MAN-Archiv, Augsburg 21 Henry Marx, New York 16, 18, 19, 20

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Monacensia-Abteilung der Städtischen Bibliotheken München 30 Alexander Neumeyer, Shave Zion, Israel 26, 29 Brigitte Schmidt, München 40 David Schuster, Würzburg 31 Ilse Sponsel, Erlangen 9, 15 Stadtarchiv München 6, 13, 17, 22, 27, 28, 38, 39 Stadtarchiv Schweinfurt 25 Stadtarchiv Würzburg 3 Süddeutscher Verlag, München 24, 36, 37 Universitätsarchiv der Universität Erlangen-Nürnberg 14 Falk Wiesemann, Düsseldorf 5, 7