Moses und Homer: Griechen, Juden, Deutsche: Eine andere Geschichte der deutschen Kultur 9783110569971, 9783110562170

Jewish tradition has been largely repressed from German cultural memory. From educating the aesthetic person to the Shoa

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German Pages 384 Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Aufklärung durch Kunst
2. Juno Ludovisi und das Zeremonialgesetz
3. ChristusDionysos
4. Das „Volk des Buches“
5. Juden und Deutsche
6. „Berlin sey Sparta!“
7. Moses und Ödipus
8. Moshe Rabenu
9. Moses der Führer und das Volk JHWHs
10. Aboda – Vom Dienst
11. Odysseus und Abraham
12. Ein letztes Mal: „das Volk der Griechen“ und die Deutschen
13. Coda: „Von Angesicht zu Angesicht“
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis
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Moses und Homer: Griechen, Juden, Deutsche: Eine andere Geschichte der deutschen Kultur
 9783110569971, 9783110562170

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Bernd Witte

Moses und Homer

Bernd Witte

Moses und Homer Griechen, Juden, Deutsche: Eine andere Geschichte der deutschen Kultur

De Gruyter

ISBN 978-3-11-056217-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056997-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-056879-0   Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Witte, Bernd, author. Title: Moses und Homer : Griechen, Juden, Deutsche : eine andere Geschichte der deutschen Kultur / Bernd Witte. Description: Boston : De Gruyter, 2018. Identifiers: LCCN 2018014399| ISBN 9783110562170 (print) | ISBN 9783110568790 (e-book (epub) | ISBN 9783110569971 (e-book (pdf) Subjects: LCSH: Antisemitism--Germany--History. | Philosophy, Ancient--Influence. | Classicism in art--Influence. | National socialism. Classification: LCC DS146.G3 W58 2018 | DDC 305.892/4043--dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018014399 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Antike Büste Homers/Michelangelo: Statue des Moses Satz: Dörlemann Satz, Lemförde   www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Aufklärung durch Kunst. Johann Joachim Winckelmanns Erfindung des neuzeitlichen Individualismus aus dem Geist des Griechentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Dresden und Leipzig – Rom – Schöne Körper I: Spartaner und Indianer – Statuen I: die „drey Vestalen“ – Nationale Schönheitsreligion 2. Juno Ludovisi und das Zeremonialgesetz. Der Eintritt des Judentums in die europäische Kultur der Aufklärung und der Anti­ judaismus der deutschen Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Schwellenzeit. Die drei Legitimationsdiskurse der Neuzeit – Antike Plastik als kanonisches Vorbild der Ästhetik – Judentum als kulturelles Paradigma. Liebesgebot und Bilderverbot. Moses Mendelssohn – Der ‚heilige Homer‘. Johann Wolfgang Goethe I – Die ‚Poesie‘ des Moses. Johann Gottfried Herder I – Die ­Hebräischen Mysterien. Carl Leonhard Reinhold – „Das verworfenste Volk der Erde“. Friedrich Schiller – Israel in der Wüste. Johann Wolfgang Goethe II – Moses in der bildenden Kunst. Moritz Daniel Oppenheim – Kulturelles Gedächtnis des Judentums und europäische Öffentlichkeit 3. ChristusDionysos. Hölderlins ‚abendländischer‘ Mythos . . . . . . 97 Hölderlins homerische Welt: „Hymne an den Genius Griechen­ lands“ – Die ‚neue Religion‘. Hegel in Frankfurt – Das antike Athen und die Religion der Schönheit – Vom Geist des Judentums. Hegels ursprünglicher Antijudaismus – „Eins und Alles“ – „Wachsende Natur“ – Homerische Sprache: „Andenken“ – Hölderlins Abendland: „Brod und Wein“ – Das Verstummen: „Mnemosyne“ – „Achsenzeit“. Das Ende des Monotheismus

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Inhaltsverzeichnis

4. Das „Volk des Buches“. Heinrich Heines Entdeckung der Schreibweise der Moderne aus dem Geiste des Judentums . . . . . . 135 ‚Unterm Feigenbaum‘. Israel als Ideal – Diasporisches Judentum – Lektüre der Thora – Das Buch der Bücher – ­„Hebräische Melodien“ – Die „Riesengestalt“ des Moses – Der Jude Heine und sein Volk   5. Juden und Deutsche. Der Mythos vom Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Der Zivilisationsbruch – ‚Goj Kadosch‘. Das heilige Volk – „Was heißt denn Volk?“. Gotthold Ephraim Lessing – Das ‚Volk der Ebräer‘. Johann Gottfried Herder II – Das „Urvolk“ der Deutschen. Johann Gottlieb Fichte und Richard Wagner – Volk und Kunst. Adolf Hitler   6. „Berlin sey Sparta!“ Vom Rassenwahn zum Völkermord . . . . . . . 185 Sparta – Dorische Welt. Gottfried Benn in Berlin – „Körper zur Zucht“ – Eine nordische Herrenrasse. Die Dorer – Schöne Körper II. ,Volk‘ und ,Rasse‘ als ästhetische Phänomene – Völkermord   7. Moses und Ödipus. Sigmund Freud in London . . . . . . . . . . . . . . . 211 Fremdes Volkstum – Der Moses des Michelangelo – Moses-Roman und Kommentar – Gymnasialbildung und jüdische ­Religion – Die Schrift im Exil – Freud als Talmudist   8. Moshe Rabenu. Leo Baeck in Theresienstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Ins Lager verschleppt – Würde des Judentums – Intellektueller Vordenker des Judentums – Die Rechtsstellung der Juden – Dieses Volk – Der Lehrer der Menschheit   9. Moses der Führer und das Volk JHWHs. Martin Buber in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Das Volk, „Station“ auf dem Weg zu Gott – Die Stimme Gottes – Die Figur des Mittlers: Führer, Prophet, Messias – Philosophen­ könige? – In Palästina – Die Moses-Legende – Heimat Zion 10. Aboda – Vom Dienst. Gertrud Kantorowicz in Theresienstadt und Margarete Susman in Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Die Dichterin – Das „individuelle Gesetz“. Statuen II – ­Jüdische Frauen – Bekenntnis zum Judentum. Briefe an ­Margarete Susman – Die Tragik deutsch-jüdischer Existenz



Inhaltsverzeichnis

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11. Odysseus und Abraham. Erich Auerbach in Istanbul . . . . . . . . . . 285 Die Heimkehr des Odysseus – Die Versuchung Abrahams – ,Abendländische‘ Irrwege 12. Ein letztes Mal: „das Volk der Griechen“ und die Deutschen. Martin Heidegger in Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Polemos. Der Kampf ums ‚Seyn‘ – Das ‚Weltjudentum‘ – Hölderlin, der „Dichter der seynsgeschichtlichen Dichtung“ – Denken der Shoah? Völkermord und Monotheismus – Der ‚verborgene‘ und der ‚abwesende‘ Gott 13. Coda. „Von Angesicht zu Angesicht“. Emmanuel Lévinas in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Abbildungsnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382

Vorwort  

Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König ist er. Heraklit (520–460 v. Chr.): Fragment 22 B 53 (Diels-Kranz)

     

Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Jes 2,4 (nach 586 v. Chr.)

Moses und Homer: zwei antagonistische Figuren, die im kulturellen Gedächtnis der Deutschen ihre Spuren hinterlassen haben. Die Untersuchung ihres Einflusses auf die Geschichte des deutschen Geistes wie auf die Realgeschichte widmet sich ihnen in einer Zeit, in der beide darin keine herausragende Rolle mehr spielen. Sie geht zunächst der Frage nach, warum die Tradition des Judentums und damit die Präsenz des einen und einzigen Gottes in der Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800 durch ein neues Weltmodell ersetzt wurde, das schließlich im 19. Jahrhundert zu einer Verdrängung des metaphysischen Gottesbegriffs führte, wie er dem Judentum und dem Christentum zu eigen war, und die „Tyrannei Griechenlands“ über den deutschen Geist etablierte.1 Das geschah im selben geschichtlichen Augenblick, in dem das Judentum mit Moses Mendelssohn sich anschickte, aus dem mittelalterlichen Ghetto herauszutreten und den Dialog mit der westlichen Kultur aufzunehmen. Die durch diese Eckpunkte definierte Gedächtnisgeschichte der deutschsprachigen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts soll in mehrfacher Perspektive analysiert werden. Die Ausschließung der jüdischen Tradition aus der deutschsprachigen Literatur und Kultur hat schon früh eingesetzt, lange vor dem Aufkommen eines kämpferischen Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts. Sie ist aufs engste verbunden mit der Geburt der neueren deutschen Literatur und dem Siegeszug des Weimarer Klassizismus. Seit der Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800, in der eine neue, anthropologisch begründete Weltanschauung sich durchsetzte, deren höchstes Ideal das vernunftgeleitete, selbstbestimmte, produktive Individuum war, kämpften die tonangebenden geistigen Eliten in Deutschland gegen den seit der Antike in Europa vorherrschenden Monotheismus. Da zu dieser Zeit eine offene Polemik gegen dessen Hauptvertreter, das immer noch den öffentlichen

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Vorwort

Diskurs beherrschende Christentum, von den staatlichen Mächten wie von der öffentlichen Meinung nicht geduldet wurde, bot sich das Judentum, das sich in diesem historischen Augenblick der westlichen Kultur öffnete, als eigentlicher Gegner in diesem Weltanschauungskampf an. Während Moses Mendelssohn seinen Zeitgenossen demonstrierte, dass die Thora durchaus mit dem neuen Vernunftglauben vereinbar sei, richteten sich die Polemiken, mit denen Herder, Schiller, Goethe und Hegel das Judentum überzogen, gegen den ‚Einen Gott‘, an dessen Stelle unter der Maske des antiken Polytheismus die Vielzahl der als göttlich verstandenen kosmischen Kräfte, die ‚Natur‘, und als deren Krönung der autonome Mensch gesetzt werden sollten. In diesem Sinne lassen sich Homer und Moses als die zwei Leitfiguren begreifen, unter deren Ägide gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland die Auseinandersetzung zwischen einer neuen Weltanschauung und der tradierten Religion geführt wurde. Der neue Legitimationsdiskurs gründete sich zunächst auf das in den Homerischen Epen verkündete Menschenbild des kriegerischen Einzelkämpfers und verdrängte damit die in der Mosaischen Gesetzgebung gebotene Rücksichtnahme auf das Leben des von Gott geschaffenen Mitmenschen. Denn der antike Mythos, auf den sich der Klassizismus berief, präsentierte sich als der ‚natürliche‘ Ausdruck einer Gesellschaft, in der uneingeschränkt das Recht des Stärkeren herrscht und damit der Kampf aller gegen alle zum Grundgesetz geworden ist. Die homerischen Epen, auf die sich die neue Literatur als auf ihr kanonisches Vorbild bezog, sind vornehmlich von Kampfesszenen geprägt. Eroberung und Zerstörung einer feindlichen Stadt in der Ilias sowie Rückeroberung der Heimat in der Odyssee sind ihre maßgeblichen Inhalte. Weshalb Heraklit, Homer interpretierend, sagen konnte: „Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König ist er.“2 Die Prägung der ‚abendländischen‘ Kultur durch dieses kulturelle Vorbild hat mit dazu beigetragen, das 19. und 20.  Jahrhundert zu einem Zeitalter der Kriege zu machen. Anders gesagt: Sie hat das Gebot der SinaiOffenbarung: ‚Du sollst nicht töten!‘, auf das der Monotheismus sowohl in seiner jüdischen Urform wie in seiner christlichen Ausprägung sich gründete, im öffentlichen Bewusstsein verblassen lassen. Auf Seiten der jungen Generation, die um 1770 das Wort ergriff, vollzog sich dieser Prozess zunächst durch die Konstitution der bildenden Kunst und der schönen Literatur als Medien einer Gegenreligion, in der die ‚wachsende Natur‘, evoziert unter den Gestalten des Olympischen Götterhimmels, zur ideologischen Grundlage des neuen Menschen- und Weltbildes wurde. In Friedrich Hölderlins späten Hymnen, die ganz von homerischer Sprache und homerischem Geist durchtränkt sind und die in der dichterischen Auslegung der spinozistischen Formel des ‚Hen kai Pan‘, des ‚Eins und Alles‘, ihre Vollendung finden, ist diese neuzeitliche Gegenreligion am

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deutlichsten ausgeprägt. Demgegenüber hat das Judentum, seitdem es mit Moses Mendelssohn in den rationalen Diskurs der Aufklärung eingetreten war, den überlieferten Monotheismus als mit der Vernunft vereinbar zu bewahren und als „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ neu zu etablieren versucht.3 In Heinrich Heines Hochschätzung der Bibel, des ‚Buchs der Bücher‘, deren Lektüre von ihm als die Grundlage aller europäischen Kultur gefeiert wurde, hat dieser Versuch seinen beredten Höhepunkt erreicht. An der Verkennung und Nichtbeachtung der jüdischen Tradition in der deutschsprachigen Öffentlichkeit, insbesondere durch die literarischen Eliten, und an deren Faszination durch die Kultur der Griechen ist Heine als literarischer Apologet des Judentums gescheitert. Zugleich haben sich am ‚Fall Heine‘ die Anfänge des Rassenantisemitismus und einer ‚völkischen‘ Ideologie in Deutschland entzündet, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als neuer gesellschaftlicher Leitdiskurs die ‚natürliche‘ Gegenreligion ersetzten. In ihm wurde an Stelle der individuellen Galionsfiguren Moses und Homer der Begriff des ‚Volks‘ in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gerückt. Damit wurde der Kampf gegen die monotheistische Religion auf der Ebene einer höchst paradoxen Verschränkung von kulturellen und nationalen Aspekten weitergeführt und bekam so eine explizit politische Dimension. Denn einerseits war das Wort ‚Volk‘ zum positiv besetzten Begriff erst durch den biblischen Bericht im Buch Exodus geworden, in dem die israelitischen Nomadenstämme durch den von Moses vermittelten Bund mit JHWH zusammengeführt und zum „heiligen Volk“ Gottes erhöht wurden. (Ex  19,5–6) Andererseits wurde der so geadelte Begriff von den Nationalisten des 19. Jahrhunderts durch die Überhöhung des Volks der Deutschen und seine Stilisierung zum höchsten ästhetischen, gesellschaftlichen und moralischen Ideal usurpiert. Dies wiederum unter Berufung auf die Griechen, die als das Volk wahrgenommen wurden, das unter ästhetischen Gesichtspunkten als das ‚auserwählte‘ gelten konnte und damit zum Vorbild des diese Stellung anstrebenden deutschen Volkes taugte. Ermöglicht durch die Übertragung des ursprünglich auf die Einigung Israels bezogenen, dann über die Vermittlung des antiken Griechentums von den Deutschen übernommenen Begriffs, wurde das ‚Volk‘ so zum eigentlichen Schauplatz der ideologischen Auseinandersetzung. In dieser Weise mündete die Neuausrichtung des gesellschaftlichen Legitimationsdiskurses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine immer stärker nationalistisch und schließlich rassistisch ausgerichtete Abwertung des Judentums und die gleichzeitige Überhöhung des ‚Volks‘ der Deutschen. Diese Inversion, die sich an den ideologischen Verlautbarungen von Richard Wagner bis Gottfried Benn und Adolf Hitler nachverfolgen lässt, fand ihren geradezu paradigmatischen Ausdruck in der bei den beiden Letztgenannten zu findenden paradoxen Behauptung, schon das Judentum habe das vollen-

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Vorwort

det, was sie als höchstes Ziel aller Politik anerkannten, den reinen ‚Rassestaat‘. Die darin zum Ausdruck kommende Verschränkung von Deutschen und Juden samt der damit einhergehenden ideologischen Inversion erweist sich schließlich als eines der kennzeichnenden Merkmale des deutschsprachigen Legitimationsdiskurses der Neuzeit. In dieser Perspektive wird man die Shoa nicht als Bruch in der Geschichte Deutschlands ansehen können. Sie ist nicht allein aus deren realgeschichtlichen oder sozialhistorischen Tendenzen abzuleiten, sondern muss auch im Zusammenhang mit weiter zurückliegenden ideengeschichtlichen Weichenstellungen gesehen werden. Das heißt, sie ist auch eine historische Folge der paradigmatischen kulturellen Ausschließungen, die im Deutschland des 18.  Jahrhunderts ihren Ursprung haben. Während die Geschichte des deutschsprachigen kulturellen Antijudaismus im Zeichen der Griechenverehrung als ununterbrochene, bis zum mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten sich steigernde Abfolge zu verstehen ist, können die Versuche jüdischer Dichter und Denker, dem entgegenzuwirken, nur als diskontinuierlicher, immer wieder von Abbrüchen und Neuansätzen gezeichneter Prozess beschrieben werden. Daher das Ungleichgewicht der vorliegenden Darstellung, die in zwei Kapiteln in der Mitte des Buchs die Perversion des Begriffs ‚Volk‘ in der politischen Öffentlichkeit Deutschlands nachzeichnet, um dem in einzelnen Abhandlungen verschiedene Repräsentanten der jüdischen Tradition entgegenzustellen, deren Vertreibung ins Exil oder Verbringung ins KZ für die Vernichtung des Judentums in Deutschland sich als symptomatisch erweist, die aber dennoch versucht haben, die Vorstellung von einem ‚heiligen Volk Gottes‘ im deutschsprachigen kulturellen Gedächtnis zu bewahren. Als Vollender dieser unheilvollen deutschen Tradition hat Martin Heidegger das Ende des Zweiten Weltkriegs überlebt und bis in die Gegenwart hinein ein Denken beeinflussen können, dessen mörderische Konsequenzen er selber offen in seinen Schwarzen Heften dargelegt hat. Mit diesem bis heute fortwirkenden Erbe deutscher Griechenverehrung kommt die intendierte Gedächtnisgeschichte der neueren deutschen Kultur an ihr Ende. Weil es im deutschen kollektiven Gedächtnis auf Grund der hier analysierten Geschichte keinen Heidegger ebenbürtigen jüdischen Denker mehr gibt, wird ihm in der ‚Coda‘ sein französischer ‚Schüler‘ und eigentlicher Widerpart Emmanuel Lévinas entgegengestellt, der von seiner orthodoxen Erziehung her und auf der Grundlage seiner „Talmudlektüren“ erneut die jüdische Tradition im europäischen Gedächtnis verankert hat. Der Einfluss des Griechentums, insbesondere der griechischen Philosophie, auf das Judentum ist kein Phänomen der Moderne. Schon im Hellenismus der Antike, als mit der Ausbreitung des Griechentums über den ganzen Orient und Ägypten Griechisch zur Kultur- und Weltsprache der damaligen

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Oikumene wurde, hat es einen intensiven Austausch des palästinensischen wie des diasporischen Judentums mit der griechischen Umwelt gegeben, wobei es „durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit den politischsozialen und geistigen Mächten dieser Epoche eine allmähliche, tiefgreifende Umwandlung erfuhr“.4 Dieser Einfluss ist niemals ganz verschwunden, aber in Deutschland hat sich im 18. und 19. Jahrhundert die kulturelle Übermacht des Griechentums in einer Weise radikalisiert, dass sie das Fundament des Judentums, die in der Thora und im Talmud vermittelte Offenbarung am Sinai, grundsätzlich in Frage gestellt hat und dies auch innerhalb der sich der Emanzipation öffnenden Judenheit. So konnte Franz Rosenzweig dem im 19. Jahrhundert im Kontext des Antisemitismus aufgekommenen Verb ‚verjuden‘ das Gegenwort ‚vergriechen‘ entgegenstellen5 und 1921 seinen jüdischen Studenten im Frankfurter Freien Jüdischen Lehrhaus die Neubesinnung auf ein authentisches Judentum mit dem programmatischen Satz ankündigen: „Sie sind alle soweit Philosophen, soweit vergriecht und entjudet, daß ich Ihnen, indem ich Sie aus Ihrem Leben heraus denken lehre, regelmäßig liebgewordene Gedanken zertrümmern muß.“6 Was Rosenzweig hier seinen emanzipierten jüdischen Hörern entgegenhält, gilt in noch höherem Maße vom kulturellen Gedächtnis aller Deutschen nach 1945. Es ist in einem Maße ‚entjudet‘, das Hitlers verbrecherische Vorstellung einer ‚judenfreien‘ Welt auf der Ebene des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen realistisch erscheinen lässt. Gegen die allgemeine, inzwischen als solche nicht mehr verstandene und ihrer selbst nicht mehr bewusste ‚Vergriechung‘ möchte die vorliegende Studie wenigstens auf historischer Ebene Destruktions­ arbeit leisten in der schwachen Hoffnung, der ‚Entjudung‘ der neuzeitlichen Kultur, die nicht erst mit dem nationalsozialistischen Genozid an den Juden einsetzte, aber in ihm ihren mörderischen Höhepunkt erreichte, entgegenwirken zu können. In diesem Zusammenhang wird die nachfolgende Untersuchung am Rande auch den Medienwechsel reflektieren, der mit der skizzierten Entwicklung verbunden ist. Während die Offenbarung am Sinai und damit der Monotheismus und seine religiösen und moralischen Werte an das geschriebene Wort, seine Tradierung und Kommentierung gebunden sind, stellt die Konzentration des kulturellen Diskurses auf die klassische Antike die schöne Menschengestalt und damit das Bild als Erkenntnis leitendes Medium in den Vordergrund. Die plastische Repräsentation des idealen menschlichen Körpers wird so im Gefolge des Humanismus und der klassischen Ästhetik zum Meditationszentrum des neuen Welt- und Menschenbildes. Diese Entwicklung lässt sich als Vorschein der aktuellen medialen Kultur begreifen, in der die unendliche Fülle der Bilder das geschriebene Wort als Grundlage des öffentlichen Diskurses verdrängt hat. Schließlich hat die Nachzeichnung des Verdrängungskampfes gegen die

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Vorwort

jüdische Tradition bis hin zum Massenmord an den Juden und ihrer Ausschließung aus dem europäischen Kulturraum einen biographischen Hintergrund. Der junge Mann, der in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein klassisches humanistisches Gymnasium besuchte und dort Latein und Griechisch lernte, sich für Homer begeisterte und dann wie selbstverständlich Altphilologie bei so unterschiedlichen, aber gleichermaßen charismatischen Lehrern wie Wolfgang Schadewaldt und Jean Bollack studierte, wusste nichts von der jüdischen Tradition. Wie Werther setzte er in ländlicher Idylle seine süßen Erbsen mit etwas Butter ans Feuer und las dabei ahnungslos und begeisterungsfähig seinen Homer. Mit Wolfgang Schadewaldt, der Schüler Ulrich von Wilamowitz-Moellendorfs und Assistent Werner Jaegers gewesen war, aber 1933 in Freiburg bei der Inthronisierung Martin Heideggers als Rektor der Universität eine unrühmliche Rolle gespielt hatte, studierte er in Tübingen bei dem letzten Vertreter der großen klassischen Tradition in Deutschland. Anschließend ging er nach Paris, wo er mehrere Jahre bei Jean Bollack arbeitete, der ihn das strenge Handwerk der Altphilologie lehrte. Durch diesen Hellenisten jüdischer Herkunft lernte er viele der Überlebenden einer deutsch-jüdischen Kultur persönlich kennen, die als Vereinzelte, Zerstreute und Verstörte davongekommen waren: Paul Celan und Peter Szondi, die Bollack an seinem Kamin in der Pariser Rue de Bourgogne zusammenbrachte, Hans Mayer und Gershom Scholem und andere weniger bekannte Figuren aus dem Umkreis Walter Benjamins, etwa Stéphane Hessel und Gisèle Freund. Sie alle, die inzwischen längst nicht mehr am Leben sind, waren die Lehrer des unbedarften jungen Mannes, der die Welt des großen Geistes nur in der Lektüre der griechischen Originaltexte Homers, Pindars und Platons kennengelernt hatte und der stolz darauf gewesen war, den Peleponnesischen Krieg des Thukydides besser zu verstehen als seine Lehrer in der Schule. Die jüdischen Intellektuellen eröffneten ihm eine neue Welt. Sie repräsentieren für ihn einen geistigen Kosmos, für dessen untergegangene Größe das vorliegende Buch Zeugnis ablegen will. Ihrem Gedächtnis soll dieses Buch gewidmet sein.

1.  Aufklärung durch Kunst Johann Joachim Winckelmanns Erfindung des neuzeitlichen Individualismus aus dem Geiste des Griechentums Dresden und Leipzig In der Mitte des 18.  Jahrhunderts, zu Beginn der europäischen Aufklärung, hat sich etwas Unerhörtes ereignet. Johann Joachim Winckelmann, einem Schulmeister aus der tiefsten märkischen Provinz, ist es gelungen, mit einer kleinen, kaum fünfzig Seiten umfassenden Schrift unter dem Titel Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst von 1755 den Lauf der Welt, jedenfalls den der mitteleuropäischen, zu ändern.1 Nicht auf Grund eines ausgeklügelten philosophischen Systems, durch das dreißig Jahre später Immanuel Kant das Denken revolutionierte, sondern auf Grund seines genießenden, der eigenen Sinnlichkeit sich anvertrauenden Blicks auf die Antike hat er das geistige Umfeld seiner Zeit neu gestaltet. Es ist dies ein Minderheitenblick, der eines Homosexuellen, der in der guten Gesellschaft der Zeit sich nicht offen aussprechen durfte, der aber unbekümmert um Aufklärung und Vernunft die ‚Seelengröße‘, magnanimitas, in den Epen Homers gefunden hatte und in der Beschreibung antiker Statuen deren angemessene Ausdrucksform suchte. Die enthusiastische Rezeption des Griechentums im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die von den Schriften Johann Joachim Winckelmanns ihren Ausgang nimmt, entzieht sich einer monokausalen Erklärung. Vielfache historische, aber auch individuelle und kontingente Ursachen sind für diesen Paradigmenwechsel verantwortlich. Zunächst ist festzuhalten, dass bis weit über die Mitte des 18. Jahrhunderts die Antike als Vorbild für Literatur, Kunst und Lebensführung noch unhinterfragt gültig blieb, wie an der Poetologie der Zeit abzulesen ist. Von Aristoteles’ Poetik führt ein ungebrochener Traditionsstrang über De Arte Poetica des Horaz und Julius Caesar Scaligers Poetices Libri Septem bis hin zu Johann Christoph Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst, der den eigenen Ausführungen in der vierten Auflage seiner Abhandlung von 1751 „Horaz von der Dichtkunst übersetzt und mit Anmerkungen erläutert“ voranstellt. In dieser Weise hatte sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts jede ästhetische

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Dresden und Leipzig

Neuerung an der autoritativen Tradition der Antike wie an einem Probierstein auszuweisen. Das Neue, das Winckelmann in den ästhetischen Diskurs einführt, ist die Hinwendung zur und die ausschließliche Berufung auf die griechische Literatur und Kunst und gleichzeitig die radikale Abwendung von den Römern, die bei Franzosen und Engländern, aber auch in der deutschsprachigen mittleren Aufklärung ungebrochen traditionsbildend geblieben waren. Noch zu Beginn der sechziger Jahre hat deren wichtigster literarischer Repräsentant, Christian Fürchtegott Gellert, sich auf die durch Rom tradierte Nachahmungsästhetik und deren gesellschaftliche Funktion berufen. Gellerts literarische Veröffentlichungen waren alle im Zeitraum zwischen 1746 und 1757, also in der kurzen Friedensperiode in Sachsen nach Beendigung des Zweiten Schlesischen Kriegs und vor Beginn des Siebenjährigen Kriegs erschienen. In diesen zehn Jahren, die man als Höhepunkt und Abschluss des Augusteischen Zeitalters in Sachsen bezeichnen kann, hatte er in Leipzig ein Zentrum bürgerlicher literarischer Kultur geschaffen, das auf den dortigen Verlagen und der Universität als den sie tragenden Institutionen aufbaute und mit seiner empfindsamen Aufklärung auf ganz Europa ausstrahlte.2 Mit ihr zielte er darauf, dem herrschenden Adel durch seine Tätigkeit als Lehrer und Erzieher die moralischen Werte des Bürgertums nahezubringen und ihn dadurch aufzuklären. Mitte der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts, als Winckelmann sein Hauptwerk Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) publizierte und in seinen Briefen immer wieder die Erfahrung von Freiheit und persönlicher Unabhängigkeit hervorhob, hatte der beinahe gleichaltrige Gellert längst seine literarische Wirksamkeit aufgegeben und seine Tätigkeit auf die periodisch wiederholten Vorlesungen über die ‚schönen Wissenschaften‘ und über die ‚Moral‘ an der Leipziger Universität beschränkt.3 Als Erzieher ist Gellert aufs Engste mit dem sächsischen Hochadel verbunden. Doch ist er immer der untertänige Diener geblieben, der durch seine moralische Belehrung den König und den regierenden Adel zu besseren Herrschern erziehen wollte. So wurde er im Juni 1750, als sich Hans Moritz von Brühl, der Neffe des sächsischen Premierministers unter August III., Heinrich Reichsgraf von Brühl, in Leipzig immatrikulierte, dessen Erzieher. Auf ihn verfasste er ein Huldigungsgedicht zu seinem vierzehnten Geburtstag, in dem er ihn, seinen „geliebtesten Schüler“, zum „Wohlthun“ im Sinne einer christlichen Ethik ermahnt.4 Auch für das regierende Haus selbst stellte er sich als Berater und Erzieher zur Verfügung. So hielt er im Oktober 1767 „auf der Universitätsbibliothek zu Leipzig“ für den damals siebzehnjährigen Kurfürsten Friedrich August III. eine Privatvorlesung Von den Ursachen des Vorzugs der Alten vor den Neuern in den schönen Wissenschaften, besonders in der Poesie und Beredsamkeit.5 Sie ist der Versuch, die Kunst in den Dienst aufklärerischer Fürstenerziehung zu stellen. In diesem



Aufklärung durch Kunst

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Zusammenhang behauptet Gellert, dass gerade die Nachahmung der antiken Vorbilder der Grund für die geringere Qualität der Kunst der Neueren ist: „Wir, die wir die Werke der Alten mit Rechte verehren, da wir sie so vortrefflich finden, ahmen vielleicht mehr die Copien der Natur, als die Natur selbst nach. Vielleicht folgen wir nicht sowohl dem idealischen Schönen in unserm Verstande, als dem schon vorhandenen in den Werken der Alten.“6 Trotz dieser Relativierung des Nutzens „der Alten“ nimmt Gellert in der „Querelle des Anciens et des Modernes“ für den Vorzug der antiken Kunst vor den Neueren Stellung und bleibt damit der traditionellen Imitatio-Ästhetik verhaftet. Für ihn ist die Natur das Vorbild aller Schönheit in der Kunst. Die Werke der „Alten“ sind nur deshalb denen der Neueren vorzuziehen, weil sie „ein aus den Quellen der allgemeinen Vernunft, ein aus der Natur geschöpftes Schönes“ darstellen.7 Zudem ist in seiner Perspektive die Schönheit kein Wert an sich, sie steht immer im Dienst moralischer und sozialer Besserung. „So werden selbst Weisheit und Tugend mit dem Geschmacke wachsen; und je mehr wir diese durch den Dienst der schönen Wissenschaften zu befördern suchen, desto reiner und rühmlicher wird der Geschmack werden.“8 Weshalb seine Privatvorlesung auch mit einem Appell an den „Durchlauchtigsten Churfürsten und Herrn“ endet, die „Aufnahme der Künste und Literatur in Dero Landen“ weiter zu unterstützen und dadurch „Weisheit und Gottesfurcht“ zum „Segen“ aller Sachsen zu befördern. Ganz anders hingegen Winckelmanns Erstlingsschrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, die er 1755 in einer Auflage von fünfzig Exemplaren als Privatdruck herausbrachte und die auch dank der geschickten Vermarktung durch ihren Autor schnell Berühmtheit erlangte. Das Aufsehen und die Nachfrage unter den deutschen Literaten waren so groß, dass sie schon ein Jahr nach dem ersten Erscheinen, Winckelmann lebte damals bereits in Rom, in einer „zweyten vermehrten“ Auflage und erweitert um ein vom Autor selbst verfasstes kritisches „Sendschreiben“ und dessen Widerlegung in einer „Erläuterung der Gedanken“, erneut gedruckt werden konnte und bald darauf ins Französische und Italienische übersetzt wurde.9 Der grundlegende Text ist von überraschender Kürze. Nur die ersten siebenundzwanzig Seiten exponieren die Gedanken des Autors zu ästhetischen Fragen und beschreiben die für ihn beispielhaften Werke der Kunst, danach widmet er sich einer „Nachforschung“ über spezifische künstlerische Techniken. Dennoch hat der Text als programmatisches Manifest gewirkt, das der Autor, wie er selber sagt, „mit großer Freyheit geschrieben“ hat. (WB 1, 170) Die Bedeutung, die der unabhängige Denker der antiken Kunst beimisst, ist deren Einschätzung durch seinen Zeitgenossen Gellert durchaus konträr. Winckelmanns These lautet: „Der einzige Weg für uns groß, ja,

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Dresden und Leipzig

Abb. 1: Verkleinerte Kopie der Laokoon-Gruppe. Bronze. 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Staatliche Kunstsammlungen Dresden.

wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“. (WG, 3) Der Gegensatz, der sich zwischen den beiden Schriftstellern auftut, beruht unter anderem auf dem unterschiedlichen kulturellen Umfeld, in dem sie sich bewegen. Während Gellert der bürgerlichen, universitären Kultur Leipzigs verpflichtet ist, partizipiert Winckelmann an der unter dem sächsischen Kurfürsten und polnischen König August III. und seinem Premierminister Heinrich von Brühl in aller spätbarocken Pracht sich entfaltenden Hofkultur Dresdens,10 seit er ab 1748 als wissenschaftlicher Bibliothekar für den Grafen von Bünau auf dessen Gut Nöthnitz in der Nähe von Dresden arbeitet und schließlich im letzten Jahr vor seiner Abreise nach Rom in der Residenzstadt selbst lebt. Hier bekommt er Zutritt zur Königlichen Galerie, die er mit starker Übertreibung in einem Brief vom Juni 1755 „die größte […] in der Welt“ nennt. Im gleichen Brief erwähnt er, dass die „Beschreibung“ der antiken Statuen in seinem Erstlingswerk „ohne Bücher“, vielmehr „nach sehr fleißigen Abgüßen in Gips die der König hat, gemacht“ sei. (WB 1, 171 f.) Damit bezieht sich Winckelmann auf die Gruppe der von ihm so genannten „drey Vestalen“ (WG, 17), marmorne Frauenfiguren aus der Zeit des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, die im



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Jahr 1711 in Herkulaneum ausgegraben und 1736 über Wien nach Dresden gekommen waren.11 Allerdings waren sie während Winckelmanns DresdenAufenthalt nicht frei zugänglich, sondern wegen einer kurfürstlichen Hochzeitsfeier aus dem Gartenpalais, wo sie zuerst aufgestellt waren, entfernt und mit anderen Statuen auf engem Raum in einem Nebengebäude abgestellt worden, weshalb Winckelmann sich für ihr Studium mit den Kopien begnügen musste.12 Für die berühmteste seiner Beschreibungen, die der Laokoon-Gruppe, kann auch das nicht zutreffen. Von ihr lässt sich im Jahr 1755 kein Abguss in der Dresdener Galerie nachweisen. So war Winckelmann für ihre Betrachtung auf eine verkleinerte, barockisierte Bronzekopie des Kunstwerks aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die seit 1714 in Dresden nachweisbar ist, und auf mehr oder weniger treffende graphische Wiedergaben des berühmten Kunstwerks angewiesen.13 Es bleibt jedoch festzuhalten, dass sich Winckelmanns neue Sicht auf die Antike der Großzügigkeit des Dresdner Hofs verdankt, wie er denn auch in der Einleitung zu seiner Schrift August III. als den „deutschen Titus“ preist. Gemeint ist der römische Kaiser Vespasian, der Rom nach dem Brand der Stadt unter Nero mit großartigen Bauten und Denkmälern geschmückt hat.14 Winckelmanns Fürstenlob gipfelt in den Sätzen: „Sein Eifer, die Künste zu verewigen, hat endlich nicht geruhet, bis wahrhafte untrügliche Werke griechischer Meister, und zwar vom ersten Range, den Künstlern zur Nachahmung sind gegeben worden. | Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet: glücklich ist, wer sie findet und schmecket. Diese Quellen suchen, heißt nach Athen reisen; und Dreßden wird nunmehro Athen für Künstler.“ (WG, 2) Mit dieser Formulierung stellt sich Winckelmann implizit auf eine Stufe mit dem Souverän. Denn wie dieser mit seiner Galerie, gibt er in seiner Schrift Von der Nachahmung der griechischen Werke die „wahrhafte[n] untrügliche[n] Werke griechischer Meister […] den Künstlern zur Nachahmung“. (WG, 2) Winckelmanns Selbst- und Menschenbild ist ursprünglich durch seine intensive Lektüre und die umfangreichen Exzerpte antiker Schriftsteller geformt, die er in den vierziger Jahren als Konrektor in Seehausen, aber auch noch während seiner Tätigkeit als Bibliothekar in Nöthnitz angefertigt hat. Insbesondere die von Homer an seinen Helden immer wieder hervorgehobene ‚Seelengröße‘ wird von ihm als vorbildlich empfunden.15 In dem großen Brief vom 6. Januar 1753, in dem er seinem Jugendfreund Hieronymus Dietrich Berendis seinen Entschluss eröffnet, nach Rom überzusiedeln, und ihn bittet, seinen bevorstehenden Glaubenswechsel seinem Dienstherrn, dem Grafen von Bünau, mitzuteilen, begründet er seinen Plan mit dem Satz: „Man muß die gemeine Bahn verlassen, sich zu erheben.“ Und er fährt fort, das Einzige, worin er sich „hervortun“ könne, sei „die griechische Literatur“ und der einzige Ort, sie „aufs höchste zu treiben“, sei Rom;

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„denn man muss sich doch durch etwas, das in die Augen fällt erheben“. (WB 1, 120 f.) Die mehrfache Formulierung seines ehrgeizigen Lebensplanes als Wunsch, „sich zu erheben“, verwandelt diese ursprünglich zum reli­ giö­sen Wortschatz gehörige Redewendung in einen Ausdruck des sozialen Aufstiegswillens Winckelmanns, wobei die unbewusste Anlehnung an einen zentralen Vers aus Homers Ilias eine Rolle gespielt haben mag. Von Peleus, dem Vater des Achill, wird gesagt, er habe seinem Sohn als Lebensregel mitgegeben: „Immer bester zu sein und überlegen zu sein den anderen.“16 In dem Verfahren, aus kanonischen Schriften, vor allem aus Ilias und Odyssee, weitläufige Exzerpte anzulegen, lässt sich Winckelmanns Nähe und gleichzeitig seine radikale Distanz zum zeitgenössischen Pietismus belegen. Wie dieser seine täglichen Losungen zum Zweck der eigenen Seelenerforschung aus der Bibel und anderen erbaulichen Schriften sammelt – die im Nachlass überlieferten religiösen Selbstbekenntnisse und Täglichen Aufzeichnungen Gellerts aus den sechziger Jahren sind hierfür ein sprechender Beleg –,17 so vergewissert sich Winckelmann seiner eigenen Identität in den von ihm gefertigten Auszügen aus Homer, Pindar, Plutarch und anderen griechischen Schriftstellern. In dem schon zitierten Brief vom 6.  Januar 1753 begründet er die Eigenart und Selbstständigkeit seiner Individualität in Begriffen, die unmittelbar dem pietistischen Vokabular entstammen: „Der Finger des Allmächtigen, die erste Spur seines Würckens in uns, das ewige Gesetz und der allgemeine Ruf ist unser Instinkt: Demselben mußt Du und ich, aller Widersetzlichkeit ohngeachtet folgen. Dieses ist die offene Bahn vor uns. Auf derselben hat uns der Schöpfer die Vernunft zur Führerin gegeben: wir würden wie Phaeton Zügel und Bahn ohne derselben verlieren. || Pflichten, welche aus diesem Prinzipio fließen, vereinigen alle Menschen in eine Familie zusammen. Hierinn bestand bis auf Mosen Gesetz und die Propheten. Die folgenden göttlichen Offenbarungen erhalten ihre Überzeugung nicht durch den todten Buchstaben, sondern durch göttliche Rührungen, die ich, wie vielen Gläubigen geschehen, billig auch an mich in stiller Anbetung erwarte. || Da hast Du mein widerhohltes GlaubensBekänntniß.“ (WB 1, 121) Mit diesen Sätzen, im Vorfeld seiner Konversion zum Katholizismus geschrieben, verkündet Winckelmann unter Hinweis auf das der griechi­ schen Mythologie entnommene Bild vom Lenker des Sonnenwagens Phaeton seine persönliche Lebens- und Weltanschauung. Er nennt sie sein „Glaubens-Bekänntniß“, aber es ist ein durchaus weltliches, ja ein geradezu antitheologisches Glaubensbekenntnis. Moses und die Propheten, die der westlichen Welt den Monotheismus gebracht haben, werden ersetzt durch den natürlichen Instinkt, der als „offene Bahn“ dem von ihm geleiteten Menschen alle Lebensmöglichkeiten eröffnen soll. So ist es wohl auch nicht von ungefähr, dass Winckelmann seinen Souverän mit dem römi-



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schen Kaiser Titus vergleicht. Dieser hatte nach der Eroberung Jerusalems die jüdische Religion vernichten wollen und mit dem auf dem judäischen Feldzug erbeuteten Reichtum Rom wieder aufgebaut sowie mit Marmorstatuen geschmückt. In seinem „Glaubens-Bekänntniß“ definiert Winckelmann den ­„Instinkt“, die natürliche Anlage eines jeden Menschen, als Grundlage von dessen persönlicher Entwicklung, allerdings einen Instinkt, der von der Vernunft geleitet wird. In der Zusammenfügung dieser zwei Prinzipien ist er ganz Kind seines vernunftgläubigen Jahrhunderts. Natur und Vernunft, die nach ihm den Werdegang eines jeden Menschen bestimmen, will er durch Übungen ergänzt sehen, die anscheinend ganz in die Sphäre pietistischer Frömmigkeit gehören. So spricht er sich gegen den „todten Buchstaben“ und für „göttliche Rührungen“ und „stille Anbetung“ aus. Unter diesen dem religiösen Vokabular entlehnten Begriffen verbirgt er jedoch in radikaler Säkularisierung seine ästhetischen Aspirationen, wie er sie im selben Brief schon einige Sätze zuvor hat durchscheinen lassen: „Eusebie und die Musen sind hier sehr streitig bey mir; aber die Parthey der letzten ist stärcker. Die Vernunft, die das Gegentheil in solchem Falle thun sollte tritt derselben bey. Sie ist bey mir der Meinung, man könne aus Liebe zu den Wißenschaften über etlich Theatralische Gaukeleyen hinsehen: der wahre Gottesdienst sey allenthalben nur bey wenigen Auserwählten in allen Kirchen zu suchen.“ (WB 1, 120) Die Musen im Verein mit der Vernunft sind es demnach, die in ihm die „Rührungen“ erwecken, wie sie die pietistischen Frommen als „Eusebie“, das heißt, im Gebet zu Gott erfahren. Nirgendwo ist der Umbruch von einem deistischen Glauben an Gott zu einer Anbetung des Schönen radikaler formuliert als in diesen Sätzen, in denen Winckelmann sich bereiterklärt, seinen angestammten Protestantismus gegen das katholische Bekenntnis einzutauschen. Wie der sächsische Herrscher, August der Starke und dessen Sohn August III., hält er alle Religion, besonders aber den katholischen Kultus für „Theatralische Gaukeley“. Allerdings wird er dabei nicht wie die Fürsten vom politischen Kalkül geleitet, sondern folgt seinem eigensten inneren Trieb, dem, was er „Instinkt“ nennt, und zugleich seiner Vernunft und hofft damit, seine Individualität mit allen in ihr angelegten Gaben ausbilden zu können. Paradoxerweise sucht er die unbedingte Freiheit des emanzipierten Einzelnen unter dem Deckmantel des Katholizismus und geht als Abate, als Geistlicher verkleidet nach Rom, um Bibliothekar beim Kardinalstaatssekretär Archinto, dann Privatsekretär des Kardinals Albani und wenig später Oberaufseher der vatikanischen Antiken und Skriptor der Bibliothek des Papstes zu werden.

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Rom

Rom Im Juni 1762 erhält Christian Fürchtegott Gellert in Leipzig den Brief eines ehemaligen Studenten, des Grafen Jacob Friedemann von Werther, in dem dieser über seine Kavaliersreise nach Italien berichtet. In Rom, heißt es darin, habe er am Tag nach seiner Ankunft „den Abten Winckelmann“ aufgesucht: „Ich war so glückl. ihn, in dem Hause des Cardinals Alexander Albani, eines grossen Beschützers, und Fortpflanzers der Wissenschaften anzutreffen, und ihn meinen sämtl. Freunden vorzustellen. Er selbst der Abte, ist ein liebenswürdiger, gelehrter, und dienstfertiger Mann […]. Wir haben an seiner Seite das merkwürdigste in Rom besehen, und das Schöne deswegen dobbeld gefuhlet.“18 Der hier als ‚Abt‘ auftritt, was offensichtlich eine Eindeutschung des italienischen ‚Abate‘ ist, also einen Kleriker ohne die höheren Weihen eines Geistlichen bezeichnet, ist der damals auf dem Höhepunkt seiner europäischen Berühmtheit stehende Winckelmann, der auf Grund seiner Erstlingsschrift und nach seiner Konversion zum Katholizismus als Kenner der antiken Kunst in Rom Karriere gemacht hatte. Er lebte damals im Hause seines Gönners Alessandro Albani, eines der ranghöchsten Kardinäle des Vatikan, der zu dieser Zeit ‚Protector Germaniae‘ und Leiter der Vatikanischen Bibliothek war. Albani betätigte sich zudem als einer der leidenschaftlichsten und erfolgreichsten Sammler antiker Kunst in Rom. Vor den Toren der Stadt hatte er eine großartige Villa errichten lassen, in der er seine umfangreiche AntikenSammlung unterbrachte.19 Winckelmann diente ihm als „Privatsekretär, Gesellschafter und Bibliothekar“,20 mehr noch, er war der Vertraute und Freund des betagten Kirchenfürsten, in dessen Palazzo an der Via Quattro Fontane er ständig lebte. Er selbst schildert seine Situation in einem Brief vom Mai 1762: „Ich habe nichts zu thun, als des Nachmittags mit meinem Cardinal und an dessen Seite in seine prächtige Villa zu fahren, welche alles übertrifft, was in neuern Zeiten auch von Monarchen gemacht worden. Hier überlasse ich ihn denen, die ihn besuchen und denke und lese.“ (WB 2, 225) Winckelmann hatte sich vornehmlich durch seine Kenntnis der klassischen Literatur und der griechisch-römischen Antike und seine darauf gegründeten privaten Beziehungen zu hohen kirchlichen Würdenträgern in Rom die privilegierte Stellung eines an keine Institution gebundenen Privatgelehrten zu verschaffen gewusst. Im Mai 1762 hatte er gerade die ersten Hefte des Manuskripts seines Hauptwerks, der Geschichte der Kunst des Alterthums, an seinen Verleger Walther nach Dresden geschickt und plante eine weitere Schrift „in welscher Sprache: Erklärung schwerer Puncte in der Mythologie und in den Alterthümern, wozu ich an 50 Kupfer nöthig habe“ (WB 2, 222).21 So war er in dieser Zeit ganz und gar von seiner archäologischen und kunstwissenschaftlichen Schriftstellerei in Anspruch genommen,



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Abb. 2: Giovanni Piranesi: Die Villa Albani. Kupferstich, 1767.

deren europaweite Anerkennung dadurch bestätigt wurde, dass der Papst ihn im Jahr darauf zum ‚Präfekten der römischen Antiken‘ ernannte. In den Briefen dieser Zeit betont Winckelmann immer wieder mit Stolz, dass er sich durch seine Kenntnis der Altertümer eine unabhängige soziale Stellung habe schaffen können. An seinen alten, in Deutschland zurückgebliebenen Freund Berendis schreibt er im September 1761: „Ich bin freyer als ich es in meinem Leben gewesen, und ich bin gewisser maßen Herr von meinem Herrn und von dessen Lustschlössern, wohin ich gehe, wenn und mit wem ich will. […] Der Cardinal von 70 Jahren ist mein Vertrauter und ich unterhalte ihn öfters von meinen Amours: Der Adel ist hier ohne Stolz und die großen Herren ohne Pedanterie.“ (WB  2, 176) In diesen Zeilen kommt das neue Selbstbewusstsein zum Ausdruck, das Winckelmann in seiner Stellung als „Vertrauter“ des Kardinals Albani gewonnen hat. Die von ihm beschriebene und hoch geschätzte Unabhängigkeit beruht, das beurteilt er richtig, einerseits auf der größeren Liberalität des hohen katholischen Klerus. Zugleich aber ist es seine überragende Kenntnis der antiken Literatur und Kunst, die ihn zum gleichberechtigten Gesprächspartner der adeligen Dilettanten macht. Erst die Kombination dieser Faktoren hat es ihm ermöglicht, sein höchstes Ziel, die individuelle Freiheit, in einer Gesellschaft zu verwirklichen, die noch weithin von den Zwängen des feudalen Ständestaats und den Moralvorstellungen der katholischen Kirche beherrscht war.

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Rom

Mit einer Anspielung auf die Psalmen, dankt Winckelmann dem Herrn, „der mich dem Verderben entrinnen lassen und in dieß Land geführet hat, wo ich die Ruhe, ja mich selbst genieße, und nach meiner eigenen Willkühr lebe und handele“ (WB 2, 225). Mit Stolz stellt er fest, dass er als Individuum das erreicht habe, was in jedem Menschen von Geburt an angelegt sei und was erst zwanzig Jahre später in der Französischen Revolution zum allgemeinen Menschenrecht erklärt werde sollte: „Ich bin frey geboren und will so sterben.“ (WB 2, 226) Zu Winckelmanns Funktionen in Rom gehörte es traditionellerweise, dass er hochgestellte Reisende, die sich mit Empfehlungsbriefen an den Kardinal Albani wandten, durch die Stadt führte, um ihnen deren Sehenswürdigkeiten zu erklären. So auch den Grafen von Werther mit seinen Freunden Friedrich Reinhold von Berg und Rochus Graf zu Lynar. Die jungen Adeligen hatten Rom am 29. Juni wieder verlassen, um nach Paris weiterzureisen, wie aus einem Brief Winckelmanns an den Grafen Werther vom 4. Juli 1762 hervorgeht, in dem er sich für ein „zurück gelaßenes Geschenk“ bedankt, zugleich aber ankündigt, dies sei das letzte Mal gewesen, dass er Fremden die Altertümer Roms erklärt habe. (WB 2, 246) Mit der Endredaktion und der Drucklegung seiner Geschichte der Kunst des Alterthums befasst, wollte er keine Zeit mehr mit solch äußerlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen verlieren und sich ganz seinen Forschungen widmen. Warum er in diesem Falle noch einmal „viel Zeit mit einigen Fremden verlohren“ habe, begründet er in einem ebenfalls am 4. Juli 1762 geschriebenen Brief an Leonhard von Usteri damit, dass sich „eine Paßion mit eingemischt“ habe. (WB 2, 248) Er hatte sich in den jungen Grafen von Berg verliebt. Dem nach Paris abgereisten „süßen Freund“ gesteht er in einem Brief vom 9. Juni 1762 seine „starke Neigung“ und gibt ihm Lektüre-Ratschläge. (WB  2, 232–234) An dieser Episode lässt sich ablesen, dass Winckelmanns Alltagsverhalten durchaus von seinen homosexuellen Neigungen bestimmt war, wie auch seine außergewöhnliche sinnliche Sensibilität bei der Beurteilung und Beschreibung antiker Statuen im Zusammenhang mit ihnen zu sehen ist. Am Ende seines Briefes an Gellert vom 8. Juni 1762 erwähnt Werther noch einmal seine Begegnung mit Winckelmann. Dieser habe, so berichtet der junge Romreisende, „einen Brief an Sie mit beylegen wollen, er ist aber genöthiget, heute seinen Cardinal auf einige Zeit aufs Land zu begleiten, und hat mir deswegen die Versicherung seiner Hochachtung an Sie aufgetragen“.22 Diesen Worten ist zu entnehmen, dass sich Winckelmann und Gellert auch schon vorher gekannt haben, wenn sie sich nicht gar in Dresden persönlich begegnet sind.23 Dann kommt Werther noch einmal auf seine Romerlebnisse zurück: „Unter den schönsten Dingen, die er mir hier gezeuget hat, ist die Bildsäule des Apollo des Belvaders; in meinen Augen weit schöner, als die berühmte Venus zu Florentz. Der Apollo verdienet



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die Beschreibung eines Winckelmanns, wie man sie künftig in einem seiner neuen Wercke lesen wird. Ich werde sie hier an dem Schlusse meines Briefes anfügen, weil ich voraus weiß, daß Sie Ihnen Vergnügen machen wird.“24 Diese Beilage, die in Gellerts Nachlass nicht mehr vorhanden ist, enthielt das Bravourstück aus Winckelmanns 1764 im Druck erschienener Geschichte der Kunst des Alterthums, das er allerdings schon 1757, kaum zwei Jahre nach seinem Eintreffen in Rom, entworfen und handschriftlich unter seinen Freunden und Bekannten verbreitet hatte.25 Noch im Dezember 1762 kündigt er in einem Brief an Leonhard von Usteri an, er werde durch ihn seine Beschreibung des Apollo von Belvedere der Freundin Wielands, Julie von Bondeli, zukommen lassen, weil sie „eine so hohe Meinung“ (WB 2, 278 u. 477 ff.) von ihm habe. Dieses unter den deutschsprachigen Schriftstellern der Zeit zirkulierende und vielfach besprochene programmatische Manifest einer neuen Ästhetik war durch den Brief des Grafen Werther offenbar auch dem Leipziger Professor für ‚schöne Wissenschaften‘ zu Augen gekommen, ohne dass man allerdings eine Spur von dessen Lektüre in seinen späteren Schriften oder Vorlesungen fände. Schöne Körper I: Spartaner und Indianer Schon vor seiner Abreise aus Dresden hatte Winckelmann in seiner Programmschrift Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und der Bildhauerkunst ein geniales Manifest der Emanzipation des neuzeitlichen Menschen, seiner Selbstwerdung durch die Anschauung des Schönen vorgelegt. Die Broschüre überrascht durch ihren ungewöhnlichen Sprachduktus, der so gar nicht zu dem kleinen Schulmeister aus der märkischen Provinz passen, noch sich den gelehrten Schreibereien der Zeit einfügen will. Winckelmanns Schreiben ist vielmehr von dem hohen Stil seiner griechischen Vorbilder, insbesondere Homers und Pindars, geprägt, die zwanzig Jahre später auch den jungen Goethe zu seinen kraftmeierischen Briefen der Sturm-und-Drang-Zeit inspirieren sollten. Aber auch inhaltlich zeichnet sich sein Text durch eine außergewöhnliche Freiheit des Gedankens und eine unbekümmerte, spontane Assoziationsfreude aus, die ohne weiteres die Schönheit griechischer Statuen mit der körperlichen Erscheinung amerikanischer Indianer, aber auch der ruhigen Hoheit der Sixtinischen Madonna zu vergleichen vermag. Winckelmanns Erstling ist zum Ausgangspunkt der Lehre vom Schönen geworden, auf der die Weimarer Klassik und das ihr nachfolgende 19. Jahrhundert in Deutschland ihr Bild vom Menschen und von der Gesellschaft aufgebaut haben. In seiner Schrift sind schon alle Elemente einer spezifisch deutschen Weltanschauung angelegt, die später in der ästhetischen Theorie

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Schillers und Goethes und der aus ihr abgeleiteten gesellschaftlichen Praxis ausgearbeitet wurden. Die neue Erfahrung, die sich in dem kurzen Text ausspricht, ist gekennzeichnet durch den Schock, der im europäischen Menschen, dessen Sensibilität durch Jahrhunderte der Verhüllung mit modischen und verzerrenden Kleidern geformt war, durch den Anblick des nackten menschlichen Körpers im öffentlichen Raum ausgelöst wurde. Mehrfach betont Winckelmann in seinen einführenden Überlegungen mit Nachdruck, dass sein ästhetisches Ideal, die „schöne Natur der alten Griechen“ (WG, 7), am reinsten im nackten menschlichen Körper wahrzunehmen sei. Deshalb erzählt er ausführlich die antiken Mythen über die spartanische Jugend nach, wie er sie in Plutarchs Leben des Lykurg gelesen hatte. Die „jungen Spartaner“, weiß er zu berichten, hätten sich „alle zehen Tage vor den Ephoren nackend zeigen“ müssen. (WG, 5) „Die jungen Spartanerinnen“ seien „so leicht und kurz bekleidet“ gewesen, dass man sie „Hüftzeigerinnen“ genannt habe, zudem hätten sie „an einem gewissen Feste ganz nackend vor den Augen der jungen Leute“ getanzt. (WG, 6, 9) Aber auch in Athen sei es nicht anders gewesen: „Die schönsten jungen Leute tanzten unbekleidet auf dem Theater“. (WG, 8) Schließlich fasst er den Vorzug der klassischen griechischen Menschen vor den neueren in dem Begriff „das schönste Nackende der Körper“ (WG, 8) zusammen und gibt damit das Ideal vor, das unausgesprochen seine Analyse der antiken Statuen leiten wird. In Winckelmanns neuer Sicht erscheint der beseelte Körper des Menschen in seiner natürlichen Nacktheit als das Urbild des Schönen. In ihm tritt dem Schauenden das unbegreiflich Andere entgegen, das mit dem Verstand allein nicht fassbar ist, dessen Geheimnis er zu erahnen und zu umschreiben, aber das er nicht begrifflich aufzulösen und festzuhalten vermag. Dieser „schöne Körper“ des Menschen ist für ihn das mysterium fascinosum schlechthin,26 das nur im Liebesakt in seiner ganzen Fülle wahrgenommen werden kann. Ihn mit den kalten Augen des ästhetisch Genießenden anzuschauen, kann seine lebendige Wirklichkeit nicht voll erfassen, weshalb Winckelmann über diese „schönste Natur“ (WG, 4) nur als eine historische oder exotische Erscheinung sprechen kann. Am distanziertesten aber manifestiert sie sich für ihn im kalten, weißen Marmor oder Gips der Statuen. Hier kann und darf sich „das Nackende desselben [des Körpers] sehen lassen“ (WG, 21), wie Winckelmann bei der Beschreibung der durchscheinenden Gewänder der antiken Statuen ausdrücklich festhält. Offensichtlich steht seine Auffassung noch immer unter der Wirkmacht des Bilderverbots im zweiten der Zehn Gebote, das auch besagt, dass der Körper des lebendigen Menschen nicht als Bild angeschaut werden darf, da er das Ebenbild Gottes ist und als solches unergründlich. Winckelmann bringt den nackten menschlichen Körper nur in historischer Distanz ins Spiel, oder – was noch erstaunlicher ist – als exotisches



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Phänomen, indem er den Spartanern die Indianer beigesellt. Als die in Pluderhosen und Samtwams eingehüllten Spanier zum ersten Mal amerikanischen Boden betraten und dabei den Indianern der Neuen Welt begegneten, hatten sie nicht nur einen bisher unbekannten Kontinent entdeckt, sondern auch einen bislang so nie wahrgenommenen Blick auf den Menschen getan. Sie waren aufs Äußerste erstaunt über das, was sie sahen: die Nacktheit und Schönheit der Eingeborenen. Nackte Afrikaner waren den neuzeitlichen Europäern schon zuvor begegnet, aber sie hatten in ihnen keine menschlichen Gestalten wahrgenommen. Wie das Bordbuch des Kolumbus erkennen lässt, trat ihnen in der Neuen Welt zum ersten Mal zu ihrem maßlosen Erstaunen ihresgleichen in völliger Nacktheit entgegen. Unter dem Datum des 12. Oktober 1492 notiert der Entdecker Amerikas in seinem für das spanische Königspaar bestimmten Tagebuch: „[…] ein Freitag […], an welchem wir zu einer Insel gelangten, die in der Indianersprache ‚Guanahani‘ hieß. Dort erblickten wir alsogleich nackte Eingeborene. […] Unseren Blicken bot sich eine Landschaft dar, die mit grün leuchtenden Bäumen bepflanzt und reich an Gewässern und allerhand Früchten war. […] Sofort sammelten sich an jener Stelle zahlreich Eingeborene der Insel an. […] Sie gehen nackend umher, so wie Gott sie erschaffen hat, Männer wie Frauen, von denen eine noch sehr jung war. Alle jene, die ich erblickte, waren jung an Jahren, denn ich sah niemand, der mehr als 30 Jahre alt war. Dabei sind sie alle sehr gut gewachsen, haben einen schön geformten Körper und gewinnende Gesichtszüge.“27 Winckelmann mag auf diese Schockerfahrung der Europäer angesichts der nackten Indianer in einer der damaligen Reisebeschreibungen aus der Neuen Welt, etwa in Theodor de Brys Westindischen Reisen (1590–1618), gestoßen sein, die ihm bei seiner Arbeit für die Teutsche Kayser- und Reichshistorie das Grafen von Bünau in dessen hervorragend ausgestatteter Bibliothek zugänglich waren.28 Wie die Spanier angesichts der indigenen Amerikaner empfindet Winckelmann ein ungläubiges Staunen, als er, aus der tiefsten märkischen Provinz kommend, in der königlichen Galerie zu Dresden zum ersten Mal antiken Statuen begegnet. Die ‚Indianer‘, die er dort zu Gesicht bekommt, sind die Abgüsse römischer Statuen aus weißem Gips. Auf die wenigen vorhandenen Bildwerke der Antike wirft er seinen ‚ethnographischen Blick‘, indem er die aus seiner Lektüre der antiken Schriftsteller genährten Sehnsuchtsphantasmagorien des kultivierten Europäers auf sie projiziert und sie zugleich mit den Indianern Nordamerikas vergleicht. So verweist er auf Pindars Siebte Olympische Ode, worin der „göttliche Diagoras“, ein vielfach ausgezeichneter jugendlicher Faustkämpfer, besungen wird, um dann fortzufahren: „Sehet den schnellen Indianer an, der einem Hirsche zu Fusse nachsetzet: wie flüchtig werden seine Säfte, wie biegsam und schnell werden seine Nerven und Muskeln, und wie leicht wird der ganze Bau des Körpers

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Abb. 3: Theodor de Bry: Kupferstich (1594): ‚Columbus als er in India erstlich ankommen | wird von den Einwohnern mit grossem Geschenck verehret und begabet aufgenommen‘.

gemacht. So bildet uns Homer seine Helden, und seinen Achilles bezeichnet er vorzüglich durch die Geschwindigkeit seiner Füsse.“ (WG, 5) Dieser überraschende Vergleich des homerischen Helden mit dem „schnellen Indianer“ findet seine Plausibilität darin, dass sich beide durch ihre Körperlichkeit auszeichnen, das „schönste Nackende der Körper“ (WG, 8), wie es sowohl in Plutarchs Beschreibung der Spartaner wie in den zeitgenössischen Beschreibungen der Indianer vorherrschend ist. So findet Winckelmann in den Indianern die „schöne Natur der alten Griechen“ wieder, die aus der „vorzüglichen Schönheit ihrer Körper vor den unsrigen“ spricht. (WG, 7) Er erklärt diese Überlegenheit der Griechen über die Modernen durch das mäßige Klima der griechischen Landschaften: „Der Einfluß eines sanften und reinen Himmels würkte bey der ersten Bildung der Griechen“. (WG, 4) Vor allem aber betont er ihre „natürliche“ Lebensweise: Die Körper „der jungen Spartaner“ seien „in der Kindheit niemals in Windeln eingeschrenkt“ gewesen und durch „frühzeitige Leibesübungen“



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athletisch gebildet worden. (WG, 4) In den Gymnasien, so Winckelmann unter Berufung auf Platons frühe Dialoge, ging die griechische Jugend „ganz nackend ihren Leibesübungen“ (WG, 8) nach. Schließlich deutet er sogar an, dass die Schönheit der griechischen Körper durch bewusste Zuchtwahl erzeugt wurde, wenn er von den jungen Spartanern behauptet, sie habe „ein Held mit einer Heldin gezeugt“ (WG, 4), oder sich auf die Kallipädie des Claude Quillet beruft, nach dessen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammendem Lehrgedicht die Eltern das Aussehen des zu gebärenden Kindes durch ihre Imagination beeinflussen konnten.29 Das Bild, das Winckelmann von der spartanischen Gesellschaft entwirft, entstammt seiner aus der Lektüre geschöpften Kenntnis der ethischen Ideale der platonischen Philosophie und der Sparta-Mythologie, die antike Schriftsteller aus parteiischen Gründen schon in der klassischen Periode der griechischen Geschichte entworfen haben. Bereits Herodot, der zu Beginn des Peloponnesischen Krieges sein die damalige Welt und Geschichte umfassendes Werk schreibt, nimmt mit seiner idealisierten Sicht der Spartaner Stellung in dem damals aktuellen Konflikt zwischen Sparta und Athen. Ähnliches gilt für die konservative Gesellschaftsauffassung, die aus den Schriften Platons und Xenophons spricht und die sich in Plutarchs Leben des Lykurg in großer Ausführlichkeit wiederfindet. Diese literarischen Quellen, aus denen Winckelmann sein Bild des antiken Sparta schöpft, sind demnach keineswegs neutral, werden aber von Winckelmann ganz unkritisch übernommen, wenn er betont: „Die Schule der Künstler war in den Gymnasien, wo die jungen Leute, welche die öffentliche Schamhaftigkeit bedeckte, ganz nackend ihre Leibesübungen trieben. Der Weise, der Künstler gingen dahin: Socrates, den Charmides, den Autolycus, den Lysis zu lehren; ein Phidias, aus diesen schönen Geschöpfen seine Kunst zu bereichern.“ (WG, 8) Die platonischen Jugenddialoge, die er mit diesen Namen zitiert, waren – abgesehen von ihrem philosophischen Gehalt – auch Propagandaschriften für ein konservatives, adeliges Kulturideal, das im damaligen Athen eine Minderheitsposition repräsentierte. Winckelmanns Erwähnung des Charmides, der Titelfigur des vielleicht frühesten platonischen Dialogs, mag hierfür beispielhaft stehen.30 In ihm wird mit dem Ideal der Sophrosyne, der ‚ruhigen Besonnenheit‘, schon genau das ethische Verhalten als vorbildlich vorgeschrieben, das Winckelmann in der Laokoon-Gruppe wiederfindet und für Kunst und Leben zum Maßstab machen will. Winckelmanns Hymne auf die „Bildung der schönen griechischen Körper“ (WG, 12) mit ihrer Betonung der Nacktheit lässt erkennen, welche Faszination der unbekleidete menschliche Körper auf ihn ausübte.31 Aus ihr leitet er seine grundlegende These ab, die ‚schöne Natur‘ der Griechen habe ihren Bildhauern als Vorbild und Inspiration ihrer Statuen gedient. Diese Behauptung entlarvt aber zugleich auch den Zirkelschluss, auf dem

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die ästhetische Verherrlichung der griechischen Statuen beruht: Winckelmann nimmt an, dass der Anblick der ‚schönen Natur‘ in den Gymnasien, auf der Bühne und bei den Tänzen während der Feste die Künstler zu schönen Kunstwerken inspiriert habe. Dass dem so sei, leitet er wiederum aus dem Vorhandensein schöner Kunstwerke ab, die es allerdings, auf Sparta bezogen, in der historischen Realität nie gegeben hat. Zudem hatten die wenigen Kunstwerke, die Winckelmann selber gesehen hat, nichts mit der archaischen spartanischen Gesellschaft zu tun, die er als ihren Ursprung annimmt, sondern waren spätrömische Originale oder römische Kopien hellenistischer Werke. Allerdings begnügt sich Winckelmann nicht damit, aus den antiken Quellen auf die größere Schönheit des griechischen Menschen zu schließen. Er postuliert darüber hinaus am Beispiel der Bilder des im 5. vorchristlichen Jahrhundert lebenden Malers Polygnotus, dessen Figuren durch die Beschreibungen des Pausanias und durch die Erwähnung in Aristoteles’ Poetik überliefert sind, „eine Absicht des Meisters auf eine schönere und vollkommenere Natur“. (WG, 11) Nach Winckelmanns Ansicht waren die griechischen Körper nicht nur von Natur aus schöner, sondern wurden zudem von den Künstlern idealisiert. „Sie fiengen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten so wohl einzelner Theile als ganze[r] Verhältnisse der Körper zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben sollten; ihr Urbild war eine blos im Verstande entworfene geistige Natur.“ (WG, 9 f.) In diesem platonischen Vokabular kehrt die autobiographische Aussage Winckelmanns über sein eigenes Schönheitsstreben verwandelt wieder. Wie auf individueller Ebene ‚Trieb‘ und ‚Vernunft‘ in ihrem Zusammenwirken ihn zur Anschauung des Schönen führen und ihm ermöglichen, sich über die Allgemeinheit zu ‚erheben‘, so hat bei den griechischen Künstlern die schöne Natur zusammen mit ihrer idealischen Überhöhung ein Idealbild der Schönheit hervorgebracht, das sich über das gemeine Leben ‚erhebt‘. Dieser Befund begründet einerseits die Vorrangstellung der Nachahmung der griechischen Werke vor der Nachahmung der Natur und damit die Abweisung der traditionellen Nachahmungstheorie, wie sie noch von Gellert und anderen seiner Zeitgenossen vertreten wurde. Andererseits berechtigt er Winckelmann dazu, in den menschlichen Gestalten der antiken Statuen zugleich deren göttliche Aura aufscheinen zu lassen: „Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur, die idealische Schönheit die erhabenen Züge: von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche.“ (WG, 11) Als Beispiel für „die mehr als menschlichen Verhältnisse einer schönen Gottheit“ führt Winckelmann schon hier den Apollo von Belvedere an, der wenige Jahre später in der Geschichte der Kunst des Alterthums von ihm zum kanonischen Höhepunkt griechischer Kunst stilisiert werden sollte. (WG, 14)



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Statuen I: die „drey Vestalen“ Der erste Teil von Winckelmanns Manifest folgt einer strengen Konstruk­ tion, deren Abfolge er selbst in Erinnerung ruft, bevor er sich dessen zweitem Teil, der Anleitung zur praktischen „Nachahmung“ der griechischen Kunstwerke, zuwendet: „Nach dem Studio der schönen Natur, des Contours, der Drapperie, und der edlen Einfalt und stillen Grösse in den Werken griechischer Meister, wäre die Nachforschung über ihre Art zu arbeiten ein nöthiges Augenmerk der Künstler“. (WG, 28) Der dreiteilige Aufbau der Argumentation, wie er hier resümiert wird, führt immer weiter weg von dem, worauf sich der Trieb des Betrachters richtet, von der schönen Natur des nackten menschlichen Körpers, um abschließend in die allbekannte und immer wieder rezipierte Formel zu münden. Diese Abfolge der Darstellung hat in der bisherigen Diskussion so gut wie keine Beachtung gefunden. Und doch folgt Winckelmann in seiner Abhandlung methodisch auf das genaueste dem von ihm selbst gekennzeichneten Argumentationszusammenhang. Nach den als Einführung gedachten grundsätzlichen Bestimmungen der „schönen Natur“ versucht er sein ästhetisches Ideal in den Begriff des „Contour[s]“ zu fassen, der „die Hauptabsicht des Künstlers“ gewesen sei. (WG, 17) „Der edelste Contour vereiniget oder umschreibet alle Theile der schönsten Natur und der idealischen Schönheiten in den Figuren der Griechen; oder er ist vielmehr der höchste Begriff in beyden.“ Als „erster“ habe der griechische Maler Euphranor den Umrisslinien „die erhabenere Manier gegeben“. (WG, 16) Winckelmann bezieht sich hier, wie auch in seinen anderen historischen Anmerkungen zu griechischen Künstlern, auf das XXXV. Buch der Naturalis Historia des römischen Historikers und Universalgelehrten Plinius, der berichtet, der korinthische Maler Euphra­ nor aus der zweiten Hälfte des 4.  Jahrhunderts v.  Chr. habe „als erster ‚die den jeweiligen Heroen angemessenen Charakterzüge‘ zum Ausdruck gebracht“.32 Winckelmanns Bemerkung scheint eine sehr weite Auslegung des von Plinius gebrauchten Begriffs dignitates heroum zu sein, dessen Bedeutung durchaus umstritten ist, sich jedenfalls nicht auf die Umrisslinien gemalter oder plastischer Figuren bezieht.33 Aus derselben Quelle stammt das Werturteil, auf Grund dessen Winckelmann zu berichten weiß, dass der athenische Maler und Bildhauer Parrhasios (450–390 v.  Chr.) „insgemein vor den stärksten im Contour gehalten“ werde. (WG, 17) Plinius schreibt: Parrhasios aus Ephesus sei „der erste“ gewesen, „der […] nach dem Zugeständnis der Künstler in den äußeren Umrisslinien die größte Vollkommenheit erreichte. Dies gilt als die äußerste Feinheit in der Malerei. […] Die Konturen der Körper zu zeichnen und dort, wo die Malerei aufhört, richtig abzusetzen, findet man selten im Verlaufe der Kunst. Der Kontur muss

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nämlich um sich selbst herumlaufen und so aufhören, dass er anderes erwarten lässt und hinter sich auch das zeigt, was er verbirgt.“34 Diese Definition, die in der antiken Kunsttheorie ausschließlich auf die Malerei bezogen war, findet sich sinngemäß in Winckelmanns Auffassung des Konturs wieder, wird von ihm jedoch auf die Bildhauerei übertragen. Während Plinius eine Malerei beschreibt, die eine menschliche Figur durch die Umrisszeichnung charakterisiert, spricht Winckelmann von der Plastizität des menschlichen Körpers, die sich unter den Gewändern abzeichnet. Seine Beschreibung der antiken Statuen beruht demnach auf Kategorien, die er aus der ästhetischen Diskussion der römischen Kaiserzeit entlehnt, aber in einen gänzlich neuen Zusammenhang stellt. So wird für ihn der sichtbar gemachte Umriss der menschlichen Gestalt das Kriterium, das allein über das Vorhandensein der ‚idealischen Schönheit‘ entscheidet. Denn nur durch ihn kann der menschliche Körper auch dann noch wahrgenommen werden, wenn er verhüllt ist. In dem auf diese Weise verwandelten, das heißt, verdeckten und zugleich in der Kunst ausgestellten „schönste[n] Nackende[n]“ sieht er auch den Grund, warum die Nachahmung der antiken Statuen der Nachahmung der Natur vorzuziehen sei. Der menschliche Körper, den er zuvor als den eigentlichen Gegenstand des Begehrens beschrieben hatte, kann im ‚Kontur‘ auch in Bildwerken wahrgenommen werden, in denen er nur verhüllt sichtbar ist. Zudem kann das in der öffentlichen Rede Tabuisierte mit diesem Begriff in die gegenwärtige Rede über Kunst eingeführt werden, ohne unmittelbar angesprochen werden zu müssen. Diesen Vorrang des Konturs bei der Beurteilung der Schönheit eines Kunstwerks bringt Winckelmann im Folgenden an einzelnen antiken Bildwerken zur Evidenz, die er in Dresden selbst in Augenschein nehmen konnte. Sein erstes und wichtigstes Anschauungsobjekt sind die heute so genannten ‚drei Herkulanerinnen‘, die er als „drey Vestalen“, das heißt als Priesterinnen der Vesta, identifiziert. Mit Stolz auf seine Entdeckung hebt er hervor, dass diese „göttlichen Stücke“ es verdienen, „der Welt bekannt gemacht zu werden“. (WG, 19) Daher schildert er eingehend ihre Aufsehen erregende Auffindung im Jahr 1710 und berichtet von ihrem seitherigen Verbleib.35 Winckelmann zeichnet diese Herkunftsgeschichte, ihre Ausgrabung in Herkulaneum, ihre Aufstellung im Gartensaal des Wiener Belvedere und ihren Verkauf nach Dresden, in vielen Details nach, wobei er erwähnt, dass der „berühmte Matielli“ die drei Herkulanerinnen noch in Wien „in Thon copiret“ habe und nun „Dreßden mit ewigen Werken seiner Kunst“ erfülle.36 (WG, 20) Die Entdeckung dieser Statuen erscheint ihm auch deshalb so wichtig, weil sie den Anstoß zur Ausgrabung der bis dahin unbekannt gebliebenen antiken Städte Herkulaneum und Pompeji gab, der ab 1738 systematisch erfolgte. Die Statuen, betont er, „kamen an das Tagelicht, da annoch das Andenken derselben gleichsam unter der Vergessenheit, so



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Abb. 4: Große Herkulanerin. 40–60 n. Chr. Marmor. Seit 1736 in Dresden. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Skulpturensammlung.

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wie die Stadt selbst, unter ihren eigenen Ruinen vergraben und verschüttet lag“. (WG, 19) So weist auch die historisch unzutreffende Angabe in einem Brief Winckelmanns vom Juni 1755, „diese grossen Meisterstücke der griechischen Kunst“ (WB 1, 172) seien unversehrt geborgen worden und „schon unter den deutschen Himmel versetzet, und daselbst verehret, da Neapel noch nicht das Glück hatte, ein einziges herculanisches Denkmal […] aufzuweisen“ (WG, 19), darauf hin, dass er glaubt, mit seiner Beschreibung der „drey Vestalen“ absolutes Neuland betreten zu haben. Implizit vergleicht er die Wiederentdeckung der antiken Städte und ihrer Kunstschätze mit seiner eigenen ‚Ausgrabung‘ der bis dahin in ihrer Bedeutung in der einschlägigen Literatur nicht wirklich wahrgenommenen Gewandstatuen.37 An den Herkulanerinnen bewundert Winckelmann vor allem die „grosse Manier in ihren Gewändern“ (WG, 18), womit er zur dritten und entscheidenden Kategorie seines kunsthistorischen Argumentationszusammenhangs kommt. Einleitend definiert er: „Unter dem Wort Drapperie begreift man alles, was die Kunst von Bekleidung des Nackenden der Figuren und von gebrochenen Gewändern lehret.“ (WG, 20) Auch hier wird deutlich, dass es für Winckelmann der menschliche Körper in seiner natürlichen Nacktheit ist, zu dem sich der ‚Instinkt‘ des Betrachters hingezogen fühlt. In der „Drapperie“ aber bedecken ihn die Falten des Gewandes gänzlich. Sie sind das Vernünftige, mit dem die natürliche Schönheit verhüllt erscheint. Zugleich aber machen sie das Unsagbare sichtbar und sagbar. So wird die „Drapperie“ zur Allegorie, in der das Uneigentliche, das Gewand, für das eigentlich Gemeinte, den schönen Körper, einsteht, ihn zugleich verdeckt und durchscheinen lässt. Dabei geben die Falten der Gewänder, mit denen die würdevoll dastehenden Frauen bekleidet sind, dem Reflektierenden die Wendung von der „edlen Einfalt“ ein, die zu einem der Markenzeichen des deutschen Klassizismus werden sollte. Die Falten sind es, mit denen die triebgebundene Anziehungskraft des ‚Nackenden‘ bedeckt und so in der „stillen Grösse“ der ehrwürdigen römischen Matronen gebändigt wird. Damit wird in Winckelmanns Analyse die ‚schöne Natur‘ durch das gesellschaftlich Gebotene verhüllt und zugleich öffentlich ausgestellt. Wobei festzuhalten ist, dass es sich bei den „drey Vestalen“, wie die archäologische Forschung inzwischen nachgewiesen hat, keineswegs um einmalige griechische Originale handelt. Sie sind vielmehr massenhaft reproduzierte, an öffentlichen Orten ausgestellte typologische Bildwerke,38 die gerade in der Wiederholung der immer gleichen Körperhaltung und Gewandfalten ihren Wiedererkennungswert als Ehrenstatuen ausgezeichneter Bürgerinnen besaßen und lediglich durch die jeweils leicht angepassten Porträtköpfe individualisiert waren. Die einprägsame und seither sprichwörtlich gewordene Definition: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke



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ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, sowohl in der Stellung als im Ausdruck.“ (WG, 21) ist demnach als Abschluss von Winckelmanns Beschreibung der „drey Vestalen“ zu lesen, wobei das in den Satz eingefügte Adverb „endlich“ unmissverständlich darauf verweist, dass der Autor hier seine Bilanz aus der vorangegangenen Analyse zieht. Aus der Anschauung der in Dresden vorhandenen Antiken gewonnen, findet Winckelmanns Formel ihren Ursprung bis in ihren Wortlaut hinein im Erscheinungsbild der in den Gewandstatuen aus Herkulaneum repräsentierten römischen Matronen. Sie sind es, die für ihn in vorbildlicher Weise „edle Einfalt“ und „stille Grösse“ verkörpern. Winckelmann, der den archäologischen Befund nicht kannte, dass sie „im Laufe des 1. Jahrhunderts n. Chr. zur gängigen Bildchiffre für die vorbildliche Frau und Bürgerin schlechthin geworden“ waren,39 und auch keine Überlegungen dazu anstellt, wer in diesen Statuen dargestellt sein könnte, macht trotz seiner sozialen Anbindung an den Adel und den höchsten Klerus von Rom instinktiv die menschlichen Gestalten römischer Bürgerinnen, die ihm vor Augen stehen – und nicht Heroen und Götter –, zum nachzuahmenden Vorbild der Bildhauerkunst. Im weiteren Verlauf seiner Darstellung überträgt er die so gefundenen Kategorien auf andere Bereiche, zuvörderst und vor allem auf den Laokoon im Belvedere des Vatikan, dann auf die Schriften Platons und schließlich auf die Bilder Raphaels. Der Laokoon galt schon in der Renaissance als das berühmteste Kunstwerk der Antike, weshalb auch Winckelmann die Figurengruppe, sie mit den Epen Homers vergleichend, schon in der Einleitung seiner Abhandlung als den Höhepunkt antiker Plastik einführt: „Was jemand vom Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernet, der ihn wohl verstehen gelernet, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der Griechen. Man muß mit ihnen, wie mit seinem Freunde, bekannt geworden seyn, um den Laokoon ebenso unnachahmlich als den Homer zu finden.“ (WG, 3) Dieser Satz enthält im Hinblick auf das Kommende ein Paradox. Wird es dem Autor doch gerade darum gehen, die Laokoon-Statue dem Leser als unübertroffenes Musterbeispiel zur Nachahmung zu empfehlen. Gerade die Einzigartigkeit des Bildwerks, seine ‚Unnachahmlichkeit‘ aber, die seit der Renaissance communis opinio war, machte es für Winckelmann zu einem selbstverständlichen Demonstrationsgegenstand, an dem seine ästhetische Theorie sich bewähren musste. Dabei setzte er ungefragt voraus, dass der Laokoon zu den „griechischen Meisterstücke[n]“ (WG, 21) zu zählen sei.40 Die Umstände der Auffindung des Laokoon in einem römischen Weinberg im Jahr 1506 und seine Identifikation durch den Architekten Giuliano da Sangallo hatten Papst Julius II. veranlasst, das Standbild anzukaufen und im Zentrum seiner Antikensammlung im Belvedere des Vatikan aufzustellen. Sangallo hatte darauf hingewiesen, dass es sich um die Statue handele,

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von der Plinius im XXXVI. Buch seiner Naturalis Historia behauptet, sie stamme aus dem „Haus des Kaisers Titus“ und sei „allen Werken in Malerei und Bronzeguss vorzuziehen“.41 Schon unmittelbar nach der Auffindung wurde das Standbild auf Grund dieser Auszeichnung zum Gegenstand zahlreicher neulateinischer Dichtungen gemacht, die mit der Darstellung des Motivs des von den Schlangen getöteten Apollopriesters in Vergils Äneis (2,  199–245) wetteiferten.42 Durch Herkunft und durch antike wie neuzeitliche Dichtungen kanonisiert, wurde der Laokoon zudem in ganz Europa durch Zeichnungen, Kupferstiche und verkleinerte Nachbildungen in Bronze und Marmor verbreitet. Winckelmann, der seine Kenntnisse antiker Kunst vor allem aus Plinius schöpfte, konnte nicht umhin, dieses ‚vorzüglichste‘ aller antiken Kunstwerke in den Mittelpunkt seiner Abhandlung zu stellen und an ihm seine Theorie der Nachahmung der griechischen Werke zu erproben, obwohl er das Original nie gesehen hatte. Aus diesem Umstand jedoch ableiten zu wollen, Winckelmann habe auf Grund der medialen Verfremdung die pathetisch expressive Figur als Idealbild „edle[r] Einfalt“ und „stille[r] Grösse“ identifizieren können,43 verkennt die Tatsache, dass er sehr wohl die höchst bewegte Bronzekopie vor Augen gehabt haben könnte. Winckelmann hat seine Formel vielmehr an einem anderen Anschauungsobjekt, den „drey Vestalen“, entwickelt und sie lediglich auf den Laokoon übertragen. Diese Übertragung auf das allgemein als kanonisch anerkannte Kunstwerk zieht allerdings eine entscheidende Akzentverschiebung in der von ihm an den Anfang seiner Beschreibung der Figurengruppe gestellten Formel nach sich. Denn von „edle[r] Einfalt“ konnte bei dem im Todesschmerz mit den Schlangen kämpfenden Vater und seinen Söhnen auch bei oberflächlicher Betrachtung nicht die Rede sein. Deshalb verlagert Winckelmann in dem Gleichnis, das er zwischen seine dann kanonisch gewordene Formel und die Beschreibung der hellenistischen Statue einschiebt, das Hauptgewicht seiner Aussage auf den zweiten Teil der Formel, die „stille Grösse“: „So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele.“ (WG, 21) Mit diesem rhetorischen Kunstgriff ahmt er nicht nur die epischen Gleichnisse nach, für die Homers Dichtung berühmt ist,44 er führt auch den Begriff der ‚Seelengröße‘, den er schon in Seehausen in seinen Homerexzerpten zum Mittelpunkt seiner eigenen Anthropologie gemacht hatte, als entscheidendes Kriterium zusätzlich in seine Kunstbetrachtung ein. Das ermöglicht es ihm, den „Schmerz des Körpers“ und die „Grösse der Seele“ unabhängig vonein­ ander zu betrachten und die Figurengruppe insgesamt und insbesondere die zentrale Figur des Apollopriesters als „Ausdruck einer so grossen Seele“ zu interpretieren. (WG, 22) Dabei muss er sowohl der Darstellung Vergils



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Abb. 5: Marco Dente: Laokoon. Kupferstich, um 1520.

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Abb. 6: Joachim von Sandrart: Laokoon. Rötelzeichnung, (nach 1632). Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstich-Kabinett.

und damit der Quelle des Motivs widersprechen als auch das berühmteste der Renaissance-Gedichte umdeuten, die sich mit dem Laokoon befassen. Der spätere Kardinal Sadoleto hatte in seinem neulateinischen, in Hexametern verfassten Gedicht geschrieben: „Getroffen vom heftigen Schmerz und dem bitterwütigen Biss stöhnt Laokoon heftig auf.“45 Winckelmann setzt dagegen: „Er erhebet kein schreckliches Geschrey, wie Virgil von seinem Laocoon singet; die Oeffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet.“ (WG, 22) An der Figur des Laokoon schreibt Winckelmann alles Leidenschaftliche und Pathetische dem Körper zu. Hierbei setzt er stillschweigend voraus, dass die drei dargestellten menschlichen Gestalten nackt sind. Nur so habe der Künstler den „Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket“ (WG, 22), darstellen können. Hier wird ein zweiter, unausgesprochener Grund für die Bevorzugung des Laokoon sichtbar. Wie die Spartaner und wie die Indianer präsentiert sich der Apollopriester mit seinen Söhnen nackt. Die durch die Tradition der Antike und der Renaissance sanktionierte Darstellung wird von Winckelmann zusätzlich damit

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gerechtfertigt, dass nur so der Ausdruck der heftigen Leidenschaften habe „kenntlich und bezeichnend“ werden können. Er entschuldigt gleichsam das „schöne Nackende“, das doch das Objekt seiner Schönheitssehnsucht und seines Begehrens ist, mit den Notwendigkeiten, die eine naturnahe Form der Darstellung dem Künstler auferlegt. „Unter einem Gewande, welches der Künstler dem Laocoon als einem Priester hätte geben sollen, würde uns sein Schmerz nur halb so sinnlich gewesen seyn.“ (WG, 22) Alles, was er bei der Ausarbeitung seiner Formel über die Bedeutung der „Drapperie“ gesagt hatte, scheint hier unter dem Übergewicht des im „schöne[n] Nackende[n]“ sich manifestierenden Sinnlichen vergessen. Von „edle[r] Einfalt“ und „stille[r] Grösse“ kann hingegen nur noch in Bezug auf die Seele die Rede sein, von der Winckelmann konstatiert: „groß aber und edel ist sie in dem Stande der Einheit, in dem Stande der Ruhe.“ (WG, 23) Diese Verengung der Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Seelengröße, die sich nach seiner Analyse im Laokoon vor allem im Gesicht des Priesters ausdrückt,46 und damit einhergehend die Vernachlässigung des Körpers, der bei der anfänglichen Erörterung der „schönen Natur“ der Griechen im Mittelpunkt gestanden hatte, ermöglichen es Winckelmann, die kunsthistorische Interpretation in den Dienst einer anthropologischen Moral zu stellen. Der Künstler müsse „Stärke des Geistes in sich selbst fühlen“, um ein solches Kunstwerk hervorzubringen. Für diesen zentralen Wendepunkt seiner Argumentation, die aus dem kunsthistorischen Manifest den Ursprungstext eines anthropologisch begründeten Menschenbildes macht, zieht Winckelmann wiederum Plinius mit seiner Naturalis Historia als Kronzeugen heran. „Griechenland hatte Künstler und Weltweisen in einer Person und mehr als einen Metrodor. Die Weisheit reichte der Kunst die Hand, und bließ den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein.“ (WG, 22) Der Name, den Winckelmann hier nennt, dürfte auch damaligen Spezialisten kaum bekannt gewesen sein. Von ihm, einem Maler und Philosophen, erzählt Plinius die Anekdote, die Athener hätten, als der römische Konsul Aemilius Paulus nach seinem Sieg über die Makedonier im 2. vorchristlichen Jahrhundert von ihnen einen Maler zur Ausgestaltung seines Triumphes und einen Philosophen zur Erziehung seiner Kinder erbeten hätte, den Metrodorus geschickt „mit der Erklärung, er sei für beide Wünsche am besten geeignet“.47 Winckelmann nutzt diese Erzählung, um seine Behauptung zu stützen, bei den Griechen seien die besten Künstler auch Weltweise gewesen. Damit sucht er nicht nur zu begründen, dass die Werke der griechischen Künstler die Natur idealisierten. Vor allem belegt er damit seine grundlegende, am Laokoon exemplifizierte These, die griechischen Bildwerke seien von Bildhauern, die zugleich Philosophen gewesen seien, geschaffen worden und repräsentierten daher zugleich ethische Ideale, seien Ausdruck von ‚Seelengröße‘.



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Die Auffassung, die er von den griechischen Statuen zu vermitteln sucht, stützt sich weniger auf die eigene, unvoreingenommene Anschauung des Laokoon als vielmehr auf eine ganz bestimmte, an Homers Heldenbild orien­tierte Selbstwahrnehmung und Selbststilisierung. Sie ist das Fundament, auf dem die ‚klassische‘ Metaphysik des Schönen beruht. Die berühmte Formel von der „edlen Einfalt“ und „stillen Grösse“, die Winckelmann zunächst am Beispiel der „drey Vestalen“ entwickelt hatte, verdankt sich bei ihrer Übertragung auf den Laokoon, die dann das Bild des deutschen Klassizismus von der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein geprägt hat, also nicht in erster Linie der Anschauung konkreter Kunstwerke, sondern vor allem der extensiven Lektüre antiker Literatur.48 Sie ist eher ein ethisches als ein ästhetisches Programm. Deshalb kann Winckelmann sie auch wenig später auf die platonische Philosophie und sogar auf die Gemälde Raphaels beziehen: „Die edle Einfalt und stille Grösse der griechischen Statuen ist zugleich das wahre Kennzeichen der griechischen Schriften aus den besten Zeiten, der Schriften aus Socrates Schule; und diese Eigenschaften sind es, welche die vorzügliche Grösse eines Raphaels machen, zu welcher er durch die Nachahmung der Alten gelangt ist.“ (WG, 24) Damit verweist er zum einen auf das Zitat der platonischen Dialoge Charmides und Lysis zurück, durch das er am Anfang seines Manifests das griechische Erziehungsideal der Sophrosyne und der Kalokagathia, des schönen und guten aristokratischen Jünglings, zum Ziel seiner ästhetischen Überlegungen erklärt hatte. Zum anderen deutet er auf Raphaels Sixtinische Madonna voraus, die August III. von den Mönchen der Klosterkirche San Sisto in Piacenza erworben hatte und die im März 1754 – man möchte sagen: gleichzeitig mit Winckelmann – in Dresden angekommen war.49 Für den Schöpfer des neuzeitlichen Kunstwerks postuliert Winckelmann die gleiche außergewöhnliche Charaktergröße, wie er sie zuvor mit Hilfe der antiken Anekdote den Schöpfern des Laokoon zugeschrieben hatte. Bei dem Modernen impliziert diese Qualifikation jedoch zugleich die Bedingung der Möglichkeit, die griechischen Künstler nachahmen zu können, weshalb Winckelmann von Raphael behauptet: „Eine so schöne Seele, wie die seinige war, in einem so schönen Körper wurde erfordert, den wahren Charakter der Alten zuerst zu empfinden und zu entdecken“. Als Beispiel dafür, dass die „Seelenschönheit“ den Künstler zur Nachahmung der Griechen befähigt habe, führt er zunächst „die Ruhe und Stille der Hauptfiguren in Raphaels Attila“ an. (WG, 25) Damit bezieht er sich auf ein Fresko aus der Stanza di Eliodoro des Vatikan, auf dem der Papst mit einer ruhigen Geste seiner segnenden Hand die Hunnen unter Führung Attilas davon abhält, Rom zu erobern und zu verwüsten. Im Hintergrund des Bildes sind dabei die Ruinen des antiken Rom, Aquädukt und Kolosseum, zu sehen. Während dieses Historiengemälde für den unvoreingenommenen

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Betrachter keine Nähe zu den „griechischen Werken“ erkennen lässt, nimmt Winckelmann für sich in Anspruch, sich ihm mit dem „wahren Geschmacke des Alterthums“ zu nähern. In dieser Perspektive erscheint ihm die zentrale Figur des Papstes als ein Beispiel „stiller Grösse“ und die „beyden Apostel [Petrus und Paulus] schweben […] wie Homers Jupiter“ in den Wolken. (WG, 25) Im Jahre 1755 kann das nur als metaphorisches Kompliment an seinen künftigen Dienstherrn, den Papst in Rom, verstanden werden, der sich als höchsten Hüter der antiken Monumente verstand. Damit tritt Winckelmann in die Fußstapfen Raphaels, der schon dem historischen Papst Leo I. die physiognomischen Züge seines Auftraggebers Julius II. verliehen hatte.50 Anders verhält es sich mit der Sixtinischen Madonna, die neuerdings in der ‚Königlichen Gallerie der Schildereyen in Dresden‘ zu sehen war. Auf deren die Mitte des Gemäldes dominierende Frauenfigur konnte er die zen­tra­len Kategorien seiner Formel übertragen. Nach ihm ist sie von „einer mehr als weiblichen Größe, in einer seelig ruhigen Stellung“. Es ist evident, dass ihm bei dieser Charakterisierung die „drey Vestalen“ vor Augen standen, deren formale Eigenheiten er auch in dem christlichen Andachtsbild wahrzunehmen vermag: „Wie groß und edel ist ihr ganzer Contour!“, sagt er von der Madonna. (WG, 26) Mit diesem Ausruf endet die Reihe der kunsthistorischen Beispiele und kehrt damit zugleich an ihren Anfang, die Gewandstatuen der römischen Matronen, zurück. Winckelmann verwandelt Raphaels Madonna in eine Herkulanerin der Neuzeit. In diese überraschende Zusammenschau des Antiken und Modernen eingeschlossen und durch diesen Rahmen hervorgehoben, behauptet die Würdigung des Laokoon als Ausdruck seelischer Größe, dem gleichzeitig die „schöne Natur“ der Antike und die übernatürliche Schönheit der christlichen Heiligen zugeschrieben wird, eine zentrale Position, was auch von den späteren Lesern so wahrgenommen worden ist, bei denen unter Auslassung aller übrigen Beispiele nur noch vom Laokoon die Rede ist. So wird Winckelmanns Analyse mit den Kategorien der „edlen Einfalt“ und „stillen Grösse“ schließlich zur Grundlage eines neuartigen Erziehungsund Gesellschaftsmodells auf anthropologischer Grundlage, das nicht mehr auf religiöse oder metaphysische Axiome rekurriert, sondern den ‚freien‘ Menschen zum erhabenen Mittelpunkt der Welt, zu Ursprung und Ziel aller Sozialisation macht. Abgelöst von jeglicher konkreten Anschauung der ‚griechischen Werke‘, übertragbar gemacht auf die unterschiedlichsten historischen Kunstwerke, kann die von Winckelmann geprägte Formel zur frei verfügbaren Begründung eines ‚humanistischen‘ Menschenbildes werden. Hier deutet sich schon an, was dann den Kern der Theorie von der ‚ästhetischen Erziehung des Menschen‘ in der Weimarer Klassik ausmachen wird: Der Mensch wird dadurch groß und erhaben, dass er im Kunstwerk



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Abb. 7: Raffael: Sixtinische Madonna. Ölgemälde, 1512/13. Seit 1754 in Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister.

ein erhabenes Bild seiner selbst erblickt. Auch diese Auffassung hat Winckelmann zunächst und vor allem seiner Lektüre der Epen Homers entnommen. In ihnen hat er das anthropologische Ideal entdeckt, dem er in seinem ganzen Leben nachstrebt. In den Gedanken über die Nachahmung charakterisiert er mit Bezug auf einen anderen literarischen Text, den Philoktet des Sophokles, die ethische Wirkung der Laokoon-Statue auf den Menschen: „Laocoon leidet, aber er leidet wie des Sophocles Philoctetes: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser grosse Mann, das Elend ertragen zu können.“ (WG, 22) Noch einmal wird hier die homerische ‚Seelengröße‘ als höchstes ethisches Ideal und erstrebenswertes Bildungsziel formuliert.

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Damit tritt die kopernikanische Wende, die in Winckelmanns Schrift vollzogen wird, mit aller Deutlichkeit zutage. Der Blick des Kolumbus auf die Insel „Guanahani“ war noch gelenkt von der jüdisch-christlichen Überlieferung der Bibel. Sein Bild von den Indianern und ihrer natürlichen Umgebung war geprägt von der Vorstellung eines ursprünglichen Paradieses, des Gartens Eden. Winckelmanns Blick auf die Nacktheit der Statuen hingegen orientiert sich an der antiken Literatur und den durch sie vermittelten Kenntnissen über die physische Geographie Griechenlands und die sozialen Zustände im archaischen Sparta. So ist auch der prägnante Satz zu verstehen, mit dem die ganze Abhandlung anhebt: „Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden.“ (WG, 1) In diesen Worten ist der Himmel nicht mehr eine Metapher für Gott oder eine andere metaphysische Instanz, sondern bezeichnet ganz konkret den physischen Raum, in dem sich das Wetter abspielt. Die „gemässigten Jahreszeiten“ sind es, die nach Winckelmann – und damit nimmt er antike Anschauungen wieder auf – die „schönen Körper“ und „klugen Köpfe“ der Griechen hervorbringen. (WG, 1 f.) Diese natürliche Grundlage wird durch die Erziehung verstärkt, die vor allem in Sparta der Natur keinen Abbruch tut. So wird das Bild einer nur als ästhetischer gerechtfertigten Welt zu einem in sich geschlossenen System. Die schöne Natur wird zum „Urbild“, nach dem der Künstler seine Statuen formt, die nicht eine bloße Abbildung des natürlichen Lebens sind, sondern eine im platonischen Sinne ideal überformte Natur darstellen. Der Anblick dieser in ihrer Schönheit vergeistigten Körper sollte wiederum den Schauenden zur „Nachahmung“ im Künstlerischen wie im Ethischen anregen. Auf diese Weise hat Winckelmann das theologische Paradigma vollständig durch das säkulare einer als „natürlich“ verstandenen Anthropologie ersetzt. Der transzendentale Horizont, der bislang das Weltbild des Europäers umfasste und einschloss, ist bei ihm endgültig zugunsten einer strikt diesseitigen Sicht auf den Menschen aufgegeben. Zu Recht konstatiert Goethe in Winkelmann und sein Jahrhundert über dessen Menschenbild: „Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben.“ (WA I 46, 29) Nationale Schönheitsreligion Was Winckelmann in seinem Erstling skizziert, nimmt er in der Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764 wieder auf und erweitert es um die historische Dimension. Das entscheidende Verdienst seines Hauptwerks besteht darin, dass es ihm gelingt, eine klare historische Differenzierung zwischen griechischer und römischer Kunst einzuführen, wobei er die römischen



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Werke als epigonale Nachahmungen der originalen griechischen Vorbilder klassifiziert. Obwohl er bis dahin noch keine griechischen Originale gesehen haben dürfte, wird diese Differenzierung schon in den Gedanken über die Nachahmung zum ersten Mal vollzogen: „Eine Bildsäule von einer alten römischen Hand wird sich gegen ein griechisches Urbild allemal verhalten, wie Virgils Dido in ihrem Gefolge mit der Diana unter ihren Oreaden verglichen, sich gegen Homers Nausicaa verhält, welcher jener nachzuahmen gesuchet hat.“ (WG, 3) An diesem Zitat lässt sich ablesen, dass Winckelmann auch diese Einsicht, auf die als ihren Ursprung alle Kunstgeschichte zurückgeht, zunächst seiner Kenntnis der antiken Literatur, dem Vergleich von Odyssee und Aeneis, zu verdanken hat. Den historischen Blick für diese Unterscheidung, durch die erst die naive und undifferenzierte Anschauung von der Antike überwunden wird, entfaltet er jedoch vollends dadurch, dass er sich in Rom im Belvedere des Vatikans die antiken Originale selbst anschaut. So auch den Laokoon, dessen Beschreibung nunmehr auf der Autopsie der antiken Statue beruht. Allerdings behauptet Winckelmann noch immer, sie sei ein griechisches Originalwerk und in die Zeit des Komödiendichters Menander (341–291 v.  Chr.) zu setzen.51 Zwar beschreibt er den Apollopriester auch hier als „klagend, aber nicht schreyend“ und wiederholt damit eine der zentralen Thesen seiner ersten Schrift. Aber ansonsten ist seine Ekphrasis dominiert von genauen, geradezu anatomischen Beobachtungen: „Indem der Schmerz die Augenbrauen in die Höhe treibet, so drücket das Sträuben wider denselben das obere Augenfleisch niederwerts, und gegen das obere Augenlied zu, so dass dasselbe durch das übergetretene Fleisch beynahe ganz bedeckt wird.“ (WKA, 349) Diese realistische Betrachtung des Standbilds, insbesondere des Gesichts und des Körpers des Apollopriesters, verbietet es ihm, die Skulptur wie in seinem frühen Manifest als Ausdruck „einer so großen Seele“ und als „in dem Stande der Ruhe“ zu beschreiben.52 Stattdessen charakterisiert er den Laokoon nun mit vielen körperlichen Details als „Natur im höchsten Schmerze“. (WKA, 348) Die wahrheitsgetreue Abbildung des vom Schmerz gepeinigten Körpers – und das ist das Neue gegenüber seiner ursprünglichen Darstellung – gilt ihm in diesem Zusammenhang als Ausdruck der höchsten Schönheit: „wohin der größte Schmerz geleget ist, zeiget sich auch die größte Schönheit.“ Auf dieser Grundlage kann er die einmal vorgenommene, im Grunde von Plinius stammende Bewertung, der Laokoon sei „ein Wunder der Kunst“ (WKA, 349), noch einmal bekräftigen. Die nachfolgende Generation der Schriftsteller von Lessing bis Goethe hat sie dann zu einer scheinbar unumstößlichen Wahrheit der ästhetischen Theorie verfestigt. Das belegt zwei Jahre nach Erscheinen der Geschichte der Kunst des Alterthums Gotthold Ephraim Lessings Schrift Laokoon oder über die

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Grenzen der Malerey und Poesie von 1766, die schon mit diesem Titel Winckelmann ihre Reverenz erweist. Lessing übernimmt von ihm als Grundthese seiner Analyse der bildenden Kunst das Axiom, „daß bei den Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen sei“ (LW 5/2, 26). In der Beschreibung der Statue, die auch er nie gesehen hat, hält Lessing sich ebenfalls an die Vorgaben Winckelmanns. Er übernimmt im ersten Abschnitt seines Essays wörtlich und ohne Abstriche dessen Beschreibung der Figur des Apollopriesters aus dem Manifest von 1755 (LW 5/2, 17 f.) und beurteilt sie als „vollkommen richtig“ (LW 5/2, 18). Aber auch die etwas anders akzentuierte Ekphrasis aus der Geschichte der Kunst des Alterthums findet seine Zustimmung,53 indem er sich wie Winckelmann auf die Beschreibung des Gesichts konzentriert und ihm darin zustimmt, dass der Laokoon der Statue im Gegensatz zu seiner Schilderung bei Vergil nicht schreie, sondern nur seufze. Er widerspricht ihm jedoch in der Begründung dieses Umstands: „Der Meister arbeitete auf die höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des körperlichen Schmerzes. Dieser, in aller seiner entstellenden Heftigkeit, war mit jener nicht zu verbinden. Er mußte ihn also herab setzen; er mußte Schreien in Seufzen mildern; nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet.“ (LW 5/2, 29) Dieses von Lessing in die Argumentation eingeführte Bewertungskriterium ist rein ästhetischer Natur. Es setzt Winckelmanns frühere Beurteilung der Statue nach ethischen Grundsätzen außer Kraft. Die Neuorientierung der Diskussion um den Laokoon ist allerdings schon in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums angelegt, wenn er einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Darstellungsformen der Poesie und der bildenden Kunst postuliert: „In der Vorstellung der Helden ist dem Künstler weniger, als dem Dichter, erlaubet: dieser kann sie malen nach ihren Zeiten […]. Jener aber, da er das schönste in den schönsten Bildungen wählen muß, ist auf einen gewissen Grad des Ausdruck der Leidenschaften eingeschränkt, die der Bildung nicht nachtheilig werden soll.“ (WKA, 169) Auch hier führt Winckelmann als Beispiel für die Notwendigkeit einer Dämpfung der Leidenschaften in der bildenden Kunst den Laokoon an.54 Lessing übernimmt diese Unterscheidung und begründet damit seine These, die der „Poesie“ als einer in der Zeit verlaufenden Darstellungsform eine umfassendere Darstellungskompetenz zuschreibt als der statischen bildenden Kunst. Am Beispiel der antiken Tragödie, insbesondere am Philoktet des Sophokles und damit in offenem Widerspruch zu Winckelmann, weist er nach, dass Klagen und Schreien des Helden keineswegs untragisch ist. Von dieser Feststellung leitet er den grundlegenden Befund ab, dass die Unterschiede in der Darstellung des unter äußersten Schmerzen leidenden Helden „allesamt von der eigenen Beschaffenheit der Kunst,



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und von derselben notwendigen Schranken und Bedürfnissen hergenommen sind“. (LW 5/2, 35) Als grundlegende Neuerung in der Geschichte der ästhetischen Theorie wird so bei Lessing ausdrücklich das betont, was bei Winckelmann nur impliziert war, die Bedeutung des Darstellungsmediums für den Gehalt des Dargestellten. Damit führt er in die ästhetische Theorie eine Perspektive ein, die bis heute ihre Gültigkeit bewahrt hat. In den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts geht in der deutschsprachigen Literatur die Diskussion um den Laokoon unvermindert weiter. Dabei sagt jede neue Wortmeldung mehr über das Menschenbild ihres Autors aus als über die antike Statue.55 Schon 1769 hat Johann Gottfried Herder in seinem Ersten Kritischen Wäldchen sich polemisch mit Lessings Einwänden gegen Winckelmann auseinandergesetzt. Er zitiert den zentralen Passus aus den Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke mit der Beschreibung der Laokoon-Statue und fügt hinzu: „Ich kenne nichts würdigers, als diese Worte.“ (HW 2, 130) Ebenso positiv urteilt er acht Jahre später in seinem Denkmal Johann Winkelmanns über dessen Erstlingswerk, das er die „Morgenröte […] und erste Duftvolle Jugendblüte“ (HW 2, 643) nennt, wie auch seine gesamte ästhetische Theorie nachhaltig von den Schriften Winckelmanns beeinflusst ist. Seine Briefe zur Beförderung der Humanität stellt er unter das Winckelmannsche Motto: „die griechische Kunst ist eine Schule der Humanität.“ (HW 7, 363) In diesem Zusammenhang stilisiert Herder als protestantischer Geistlicher Laokoon zu einem „Märtyrer“ und „heilige[n] Mann, der durch seinen verständigen Rat ein Retter des Vaterlandes werden wollte“. (HW 7, 371) Auch Wilhelm Heinse lässt im zweiten Band seines viel gelesenen Romans Ardinghello und die glückseligen Inseln von 1787 seinen Helden eine umfängliche Charakteristik der Statue vortragen, die in ihrer detaillierten Beschreibung der anatomischen Details an Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums anknüpft. Darüber hinaus aber macht er Laokoon zu einem genialen Kraftkerl, der wie der goethesche Prometheus gegen die Götter aufbegehrt: „Er leidet ein mächtiger Feind und Rebell der Gesellschaft und der Götter, und man schaudert mit einem frohen Weh bei dem fürchterlichen Untergange des herrlichen Verbrechers.“56 Beide Autoren gehen jedoch weiterhin von der unhinterfragten Prämisse Winckelmanns aus, dass „die Schönheit als der höchste Endzweck und als der Mittelpunct der Kunst“ zu gelten habe. (WKA, 142) Diese am Beispiel der Laokoon-Statue gewonnene theoretische Bestimmung des „Endzweck[s]“ aller Kunst wird schließlich von den Weimarer Klassikern zum Dogma erhoben. Schiller hatte schon 1785 anlässlich seines Besuchs der Mannheimer Gipsabguss-Sammlung in dem Brief eines reisenden Dänen den Laokoon als „Meisterstück der antiken Kunst“ und als „Muster der höchsten Wahrheit und Schönheit“ gepriesen, über den

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er „wenig neues mehr sagen“ könne (NA 20, 103), und diese Feststellung acht Jahre später in seinem Essay Über das Pathetische dadurch bestätigt, dass er die Beschreibung Winckelmanns aus der Geschichte der Kunst des Alterthums ausführlich zitiert, um sie dann in den kantischen Kategorien zu resümieren, die damals für seine Ästhetik maßgebend sind: „Wie wahr und fein ist in dieser Beschreibung der Kampf der Intelligenz mit dem Leiden der sinnlichen Natur entwickelt, und wie treffend die Erscheinungen angegeben, in denen sich Thierheit und Menschheit, Naturzwang und Vernunftfreyheit offenbaren!“ (NA 20, 206 f.) So sehr hat sich die Debatte um das Kunstwerk inzwischen verselbstständigt, dass jeder, der an ihr teilnimmt, seine ästhetischen Kategorien in sie hineinprojizieren kann. Für Schiller wird der Laokoon ohne Abstriche zur Illustration der Kritik der Urteilskraft und damit „zum Maaß für das, was die bildende Kunst der Alten im Pathetischen zu leisten vermochte“. (NA 20, 205) Die Loslösung der ästhetischen Diskussion vom konkreten Erscheinungsbild der Statue wird vollends deutlich in Goethes Essay Über Laokoon, mit dem er am Ende des Jahrhunderts programmatisch seine Zeitschrift Die Propyläen eröffnet. Er sei, stellt Goethe einleitend gleichsam als Entschuldigung fest, „mehr bei Gelegenheit dieses trefflichen Kunstwerks als über dasselbe geschrieben“. Als Manifest des neuen Klassizismus gedacht und gegen die Kunsttheorie der Romantiker gerichtet, stellt der Text so etwas wie Goethes Definition des vollendeten Kunstwerks dar. In überraschender Nähe zu Winckelmanns frühen Ausführungen betont auch Goethe, dass „die bildenden Künste sich besonders […] mit dem menschlichen Körper“ beschäftigen. (WA I 47, 101) Alle Aspekte, die in der bisherigen Diskussion als Bedingungen eines ‚vollkommenen Kunstwerks‘ aufgezählt wurden, sieht Goethe im Laokoon erfüllt. Er sei in einem Augenblick höchster Ruhe und höchster Bewegung dargestellt, sei gleichzeitig charakteristisch und ideal und von großer sinnlicher wie geistiger Schönheit. Trotz seiner Warnung am Beginn der Ausführungen, dass „ein echtes Kunstwerk […] für unsern Verstand immer unendlich“ bleibe und daher „nicht eigentlich erkannt“ werden könne (WA I 47, 101), hat Goethe am Ende den Laokoon zum idealen Kunstwerk stilisiert, wie er selbst resümierend feststellt: „Genug wir dürfen kühnlich behaupten, daß dieses Kunstwerk seinen Gegenstand erschöpfe, und alle Kunstbedingungen glücklich erfülle.“ (WA I 47, 115) Was zur Folge hatte, dass das ganze 19. Jahrhundert den Laokoon immer wieder als kanonisches Beispiel eines vollendeten Kunstwerks anführt.57 Während sich die ästhetische Debatte immer weiter von der Anschauung der wirklichen Figurengruppe entfernte, hatte Winckelmann seine historischen Kenntnisse antiker Kunst nicht nur durch die Anschauung der römischen Altertümer, sondern auch durch seinen Aufenthalt in Süditalien immer mehr vertieft. Viermal ist er nach Neapel gereist, 1758, 1762, 1764



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Abb. 8: Die dorischen Tempel in Paestum, um 450 v. Chr. 1752 wiederentdeckt. Im Vordergrund der Poseidontempel.

und 1767, das zweite Mal in Begleitung des Sohns des sächsischen Premierministers, des jungen Hans Moritz Grafen von Brühl, dessen Cousin Gellert kurze Zeit zuvor als Hofmeister betreut hatte. Von Neapel aus hat er mehrfach die Ausgrabungen in der Umgebung besichtigt und darüber in seinem Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen 1762 Rechenschaft abgelegt. Schon bei Gelegenheit seiner ersten Reise besuchte er die alten griechischen Tempel in Paestum, worüber er voller Stolz in einem Brief vom 15. Mai 1758 an seinen Freund Berendis berichtet: „Die größte Reise habe ich […] nach Pesto am Salernitanischen Meer-Busen gemacht. Es ist eine wüste verlaßene Gegend […] Es ist an 70 Ital. weit von Neapel. Mitten in diesem wüsten Lande stehen 3 erstaunende dorische, fast ganz und gar erhaltene Tempel in den alten Ringmauern. […] Diese Tempel sind nach ihrer Bauart viel älter als alles, was in Griechenland ist, und niemand ist vor 6 Jahren dahingegangen.“ (WB 1, 366) Seitdem Winckelmann in Italien lebt, hat er so seinen Blick auf die Antike stetig erneuert, wodurch seine Schriften zu einer auf Autopsie beruhenden Neuentdeckung des bisher Vergessenen oder Verkannten werden. In der unter den Asche- und Lava-Massen verschütteten und damals erst vor wenigen Jahren wieder entdeckten Stadt Herculaneum haben ihm die aus der Erde geborgenen Statuen, die dem Betrachter ohne ihre farbige Fassung und ohne ihren ursprünglichen Kontext gleichsam jungfräulich und

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Abb. 9: Apollo von Belvedere. Römische Marmorkopie einer griechischen Bronzestatue aus der Zeit zw. 340 und 325 v. Chr.

nackt vor Augen traten, eine lebendige Anschauung dessen gewährt, was ein autonomes Kunstwerk ist, eine Auffassung, die durch die im Hof des Vatikan, im sogenannten Belvedere, seit der Renaissance zur ästhetischen Betrachtung ausgestellten Statuen bestätigt wurde. Sie sind es, die künftig Winckelmanns Vorstellung vom Wesen des antiken Kunstwerks prägen und ihr eine neue Dimension hinzufügen, die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts für die ästhetische Theorie entscheidend werden sollte. In den durch die Geschichte von ihrer ursprünglichen Funktion freigesetzten, zum ersten Mal in einem musealen Kontext ausgestellten Werken soll das nach Eigenständigkeit strebende Individuum seine Bestätigung und seinen eigentlichen Meditationsgegenstand finden. Die neu entdeckte Autonomie



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der Kunst wird so paradoxerweise unmittelbar als Mittel in Dienst genommen, die Autonomie des Individuums zu befördern. Was sich schon in den Gedanken über die Nachahmung angedeutet hatte, wird in der hymnischen Beschreibung, die Winckelmann dem Apollo von Belvedere widmet, in Gänze ausgeführt. Schon 1757, knapp zwei Jahre nach seiner Übersiedlung nach Rom, hat er diesen Text geschrieben, der für die damals bereits geplante, aber erst 1764 erschienene Geschichte der Kunst des Alterthums bestimmt war und auch tatsächlich mit nur geringfügigen Änderungen in sie eingegangen ist. Zuvor aber hat er sie mehrfach brieflich unter seinen Freunden verbreitet. In ihr wird die römische Marmorkopie aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert, die den jugendlichen Gott der Musen darstellt und die auf eine griechische Bronzestatue aus der Zeit zwischen 350 und 325 v. Chr. zurückgeht,58 als unübertroffener Höhepunkt der antiken Kunst gepriesen: „Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Alterthums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind: er übertrifft alle anderen Bilder desselben so weit als des Homers Apollo den welchen die folgenden Dichter mahlen. Über die Menschheit erhaben ist sein Gewächs und sein Stand zeuget von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling wie in den glücklichen Elysien bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend und spielet mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder. […] Von der Höhen seiner Genugsamkeit gehet sein erhabener Blick wie ins unendliche weit über seinen Sieg hinaus: Verachtung sitzt auf seinen Lippen und der Unmuth den er in sich ziehet, blähet sich in den Nüstern seiner Nase und tritt bis in die stolze Stirn hinauf. Aber der Friede welcher in einer seeligen Stille auf derselben schwebet, bleibt ungestöret und sein Auge ist voll Süßigkeit wie unter den Musen, die ihn zu umarmen wünschen. […] Ich vergesse alles andere über den Anblick dieses Wunderwercks der Kunst und ich nehme selbst einen erhabneren Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben wie diejenige die ich vom Geist der Weissagung aufgeschwellet sehe und ich fühle mich im Geist weggerückt nach Delos und in die Lycischen Hayne, Orte die Apollo mit seiner Gegenwart beehrte.“59 Im Belvedere, dem Statuenhof des Vatikans, standen zur Zeit Winckelmanns die damals berühmtesten Figuren der Antike nebeneinander, der Laokoon, der Torso einer Herkulesfigur und der Apollo. In dieser Konfrontation musste der Laokoon die singuläre Stellung einbüßen, die er bisher in Winckelmanns Augen gehabt hatte. An seine Stelle trat das Bild eines zum Gott erhobenen jungen Mannes, dessen idealisierter, in glattem weißen Marmor und freizügiger Nacktheit sich darbietender Körper den Betrachter überwältigte. Auch auf ihn überträgt Winckelmann die fundamentalen ästhetischen Kategorien, die er in seiner Erstlingsschrift entwickelt hatte.

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Von der „ihn erfüllenden Größe“ und seiner „seeligen Stille“ ist hier wie in der früheren Beschreibung des Laokoon die Rede. Die Suggestivkraft von Winckelmanns Text beruht darauf, dass er eine Wechselwirkung zwischen der Statue und dem von ihr affizierten Zuschauer nahelegt. Der Betrachter gleicht sich der angebeteten Statue physisch und geistig an. Er darf sich wie sein ideales Vorbild als Sieger über die Welt fühlen, worin wohl auch eine autobiographische Aussage mitschwingt. Seine Brust schwillt, er wird mit dem Geist der Weissagung erfüllt und an seine Sehnsuchtsorte in Griechenland entrückt. Wichtiger noch, dass er durch den „erhaben[en] […] Stand“ des dargestellten Gottes in einen „erhabneren Stand“ versetzt wird. Dies ist eine durchaus mehrdeutige Aussage: Einerseits nimmt er einen erhöhten Standpunkt ein, um das Kunstwerk angemessen betrachten und in einem höheren Stil beschreiben zu können. Andererseits resultiert aus der Meditation des Erhabenen auch eine Erhöhung des eigenen Lebensgefühls und eine Stärkung des Selbstwertbewusstseins, die den Menschen aus seinem Alltagsmilieu heraushebt. Wie schon in Winckelmanns pietistisch gefärbtem ‚Glaubensbekenntnis‘ zu erkennen war, ist diese Wirkung der Anschauung des schönen Kunstwerks der religiösen Vorstellung von der ‚Erhebung‘ nachempfunden, die aus der Anschauung Gottes im Gebet resultiert, allerdings einer ganz und gar säkularisierten ‚Erhebung‘, in der die Kunst die Religion und der im Kunstwerk idealisierte Mensch Gott ersetzt, wie Winckelmann sie sich als Ziel seines Lebens vorgesetzt hatte. Goethe hat das in seiner 1805 als Ehrenmal seines Vorgängers intendierten Schrift Winkelmann und sein Jahrhundert unter der Überschrift „Schönheit“ präzise diagnostiziert: „Dagegen tritt nun die Kunst ein, denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt. […] so nimmt es alles Herrliche, Verehrungs- und Liebenswürdige in sich auf, und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst, schließt seinen Lebens- und Tatenkreis ab, und vergöttert ihn für die Gegenwart, in der das Vergangene und Künftige begriffen ist.“ (WA I 46, 29) In diesen Worten hat Goethe am Beginn des 19. Jahrhunderts die Ideologie, die in der Folgezeit für die kulturelle Elite Deutschlands maßgeblich werden sollte, als ‚natürliche‘, gegen den Monotheismus gerichtete Religion definiert. Der schöne Mensch in der idealisierten Gestalt der Statue repräsentiert die Erhabenheit des Göttlichen und vermag  – wie einst das Andachtsbild – den Betrachter zu sich zu erheben und zu vergöttlichen. Hinter dieser metaphorisch überhöhten Aussage über die anthropologische Wirksamkeit des schönen Kunstwerks steht allerdings eine durchaus



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reale gesellschaftliche Erfahrung. Die Griechenverehrung, wie Winckelmann sie inauguriert und Schiller sie dann zu einer Theorie der ästhetischen Erziehung ausgeformt hat, erweist sich als bevorzugtes Mittel des sozialen Aufstiegs einer neuen Schicht bislang Unterprivilegierter. Handwerker, Hauslehrer, Schulmeister und arbeitslose Theologen profilieren sich durch ihre Teilnahme am Kult des Schönen, so dass ihnen der Aufstieg in die führenden Gesellschaftsschichten gelingt. Die einander ähnelnden Lebensläufe der Winckelmann, Karl Philipp Moritz, Johann Heinrich Voß und Christian Gottlieb Heyne belegen das. ‚Erhebung‘ durch Anschauung und Rede über die Schönheit der antiken Kunst wird im 19. Jahrhundert zu einer sozialen Wirklichkeit. Aber auch die national Unterprivilegierten, das heißt, die deutsche Nation in ihrer staatlichen Zersplitterung im Vergleich mit dem französischen Einheitsstaat, finden im Griechentum ihr Identifikationsmuster. Sie schaffen sich als die ‚neuen Griechen‘ ihre eigene nationale Identität im Geistigen. Das erklärt die so in keiner anderen Nation zu findende „Tyrannei Griechenlands“ über Deutschland,60 die einhergeht mit einer Abgrenzung gegenüber Frankreich. Auch sie ist bei Winckelmann schon angelegt, der am 7.  Juli 1756 aus Rom an seinen Freund Berendis schreibt: „Einer gewißen Nation ist Rom gar unerträglich. Ein Franzose ist unverbesserlich: das Alterthum und er widersprechen einander.“ (WB 1, 235) Der nationale Vorbildcharakter der Griechen, die in klassischer Zeit nie zur politischen Einheit gefunden haben, gilt also nur für die politisch noch nicht geeinte Nation der Deutschen. Er ist jedoch zugleich so distanziert, so ideal gedacht, dass auf seine Verwirklichung in der politischen Realität der Zeit verzichtet werden kann. Der ‚Weg nach innen‘ auch hier: Den deutschen Dichtern erscheint die Nation als ‚schöne Individualität‘, die durch Kunst und nicht durch Politik zu bilden ist.

2.  Juno Ludovisi und das Zeremonialgesetz Der Eintritt des Judentums in die europäische Kultur der Aufklärung und der Antijudaismus der deutschen Klassik Schwellenzeit. Die drei Legitimationsdiskurse der Neuzeit Wenn man sich die Frage stellt, welcher Diskurs in einer bestimmten Epoche vornehmlich das kulturelle Feld bestimmt, wird man für die Neuzeit zu unterschiedlichen Antworten kommen. Zunächst herrscht im 18. Jahrhundert ein metaphysischer, im Grunde aus religiösen Vorstellungen abgeleiteter Diskurs vor. Dabei ist vor allem an den Deismus angelsächsischer Prägung zu denken, der auch auf dem Kontinent weiteste Verbreitung fand. Für Deutschland zur Zeit der mittleren Aufklärung kann etwa Christian Fürchtegott Gellert, der in seinen in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts gehaltenen Moralischen Vorlesungen auf die moral philosophy eines Francis Hutcheson und William Warburton zurückgreift, als ein typischer Vertreter dieser Denkrichtung gelten. Wie seine englischen Vorbilder geht er von dem Grundsatz aus, dass die Prinzipien der monotheistischen Religion, die Einheit, Einzigartigkeit und Ewigkeit Gottes, für alle Menschen mit der Vernunft erkennbar seien. Dieser prädominante metaphysische Diskurs prägt in verschiedenen Abstufungen und Popularisierungen das Welt- und Selbstverständnis der damaligen europäischen Öffentlichkeit, soweit es nicht immer noch von traditionellen christlichen Glaubensvorstellungen beherrscht war. Um 1770 hat sich allerdings in Europa in den sozialen, politischen und weltanschaulichen Ordnungen ein Bruch vollzogen, durch den die gesellschaftliche Moderne heraufgeführt wurde. Die aus der Antike überlieferte Einbettung des Menschen und der Gesellschaft in ein letztlich theologisch begründetes Wertesystem hatte sich aufgelöst, je mehr der Mensch sich – wie Kant formuliert hatte – als ‚Selbstdenker‘ begriff. Die neuen gesellschaftlichen Leitdiskurse, die sich in der europäischen Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800 als Antwort auf diese Krisensituation formierten, gehen alle von der absoluten Souveränität des von seinen metaphysischen Fesseln befreiten Individuums aus. Allerdings setzen sich in den westeuropäischen Ländern charakteristischerweise je unterschiedliche kulturelle Paradigmen durch. Während in England das wirtschaftlich handelnde und die Gesetze des Marktes beachtende Subjekt und in Frankreich der politisch wirkende

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und als solcher sich selbst bestimmende Citoyen zum gesellschaftlichen Leitbild erhoben werden, definieren in Deutschland Goethe und Herder das neuzeitliche Individuum nach Maßgabe der absoluten Produktivität des künstlerischen Genies und etablieren damit zugleich die bildende Kunst und die schöne Literatur als die Medien, in denen über die wesentlichen Fragen der menschlichen Existenz entschieden wird. Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers verdankt seine durchschlagende europäische Wirkung der Gestaltung dieses neuen Menschenbildes und dessen Fundierung im literarischen Diskurs. In England hat sich der genannte Paradigmenwechsel zuerst auf dem Feld der Wirtschaft vollzogen. Hier wurde die Philosophie des moral sense durch einen bald kanonisch werdenden Text abgelöst, durch Adam Smith’s Grundlegung der Theorie der liberalen Marktwirtschaft in seinem Buch An inquiry into the nature and causes oft the wealth of nations (1776). Ausgehend von der Erfahrung des sich industrialisierenden und imperial in die Welt ausgreifenden England, entwickelte der Schotte seine Theorie von der absoluten Produktivität des wirtschaftenden Subjekts. Den Fundamentalsatz seines marktwirtschaftlichen Optimismus kleidet Smith in eine dem religiösen Bereich entlehnte Metapher, wenn er feststellt, dass der wirtschaftende Mensch, sofern er nur nach seinem eigenen Gewinn strebe, gleichzeitig das Allgemeinwohl fördere. „Und er wird in diesen wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.“1 Diese im öffentlichen Bewusstsein bis heute präsente Redeweise von der ‚unsichtbaren Hand‘ ist die Schaltstelle, an der ein ursprünglich religiös begründeter Glaube an die beste aller Welten seine ökonomische Säkularisierung erfahren und damit zugleich dem kapitalistischen Wirtschaften seine quasi religiöse Dignität verliehen hat. In derselben Epoche setzte sich in Frankreich ein anderer Umbruch im öffentlichen Diskurs durch. In der Revolution von 1789 wurde mit der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen ein politisches System inauguriert, mit dem die zuvor metaphysisch begründete und im Jenseits angesiedelte Utopie einer vollkommenen Gesellschaftsordnung mit weltlichen Mitteln, das heißt, aus der Machtvollkommenheit des Menschen heraus verwirklicht werden sollte. Von nun an wird die Politik, die sich der charismatischen Rede, der Mehrheitsentscheidungen, aber auch des Terrors bedient, zum Instrument, mit dessen Hilfe ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ unter den Menschen verbreitet werden sollen. Im gleichen Zeitraum etablierten Goethe und Herder in Deutschland bildende Kunst und schöne Literatur als die Medien, in denen der Mensch sich über die entscheidenden Fragen seiner Lebensführung aufklärt.2 Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764 hatte



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die griechische Plastik als kanonisches Vorbild des neuen Menschenbildes etabliert. Zehn Jahre später hat Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers die Produktivität des genialen Individuums erstmals literarisch gestaltet und damit die Literatur zum eigentlichen Legitimationsdiskurs der neuzeitlichen Gesellschaft gemacht. Als Beispiel hierfür kann vor allem der Schluss des Romans dienen, an dem der Held sich aus unglücklicher Liebe und Lebensüberdruss erschießt. Über die Stunde seines Ablebens berichtet der Erzähler: „Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufgeschlagen. […] Um Zwölfe Mittags starb er. […] Nachts gegen Eilfe ließ er [der Amtmann] ihn an die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. […] Kein Geistlicher hat ihn begleitet.“ (WA I 19, 191) Dieser letzte Satz des Romans, den Goethe wörtlich aus dem Bericht über den Tod seines Wetzlarer Bekannten Jerusalem übernommen hat, ist als Hinweis darauf zu lesen, dass nicht mehr die Religion Leben und Tod des Menschen regiert, sondern die Literatur, hier die neueste, das zwei Jahre zuvor erschienene Trauerspiel Lessings, dessen Heldin Emilia Galotti sich ebenfalls selbst – paradoxerweise durch die Hand ihres Vaters – und ebenfalls auf Literatur sich berufend, zu Tode bringt. Dieses literarische Vorbild bekräftigt Werther, der schon zuvor sein Leben durch die Lektüre Homers und Ossians bestimmen ließ, in seinem Entschluss, sich mit den Pistolen seines Freundes zu töten. Von seinem Begräbnis wird der Vertreter der Religion ausdrücklich ausgeschlossen. Der Roman Die Leiden des jungen Werthers führt so dem Leser vor Augen: Die entscheidenden Stationen im Leben des Menschen, Liebe und Tod, werden nicht mehr von religiösen Einstellungen oder metaphysischen Grundannahmen bestimmt, sondern von literarischen Texten. Die drei Legitimationsdiskurse der Neuzeit, die sich in Westeuropa in der Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800 ausgebildet haben, sind durch ein gemeinsames Merkmal miteinander verbunden: Sie weisen die Vorstellung eines jenseitigen Gottes und damit die Geltung eines übergeordneten metaphysischen Prinzips grundsätzlich ab und setzen stattdessen das produktive Subjekt absolut, in das die Schöpfereigenschaften Gottes gleichsam eingewandert sind. Im deutschen Kontext, in dem diese Neuorientierung auf dem Feld der Literatur und der Kunst gesucht wird, steht an der Schwelle zur neuen Zeit, in der sich die Wende zur eigentlichen Moderne vollzieht, als deren Hüter die Gestalt Homers. Als deren Gegenspieler erweist sich die im Mittelalter und der frühen Neuzeit als kanonisch geltende Figur des Moses, dem am Berg Sinai die Offenbarung des einen Gottes zuteil wurde. Somit entscheidet sich in den Schriften Goethes, Schillers, Herders und anderer an dem Dichter Homer, was unter einem schöpferischen Subjekt zu verstehen ist und was in diesem Sinne als neuzeitliches Individuum gelten kann.

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Antike Plastik als kanonisches Vorbild der Ästhetik Seinen wirkmächtigsten und selber wieder klassisch gewordenen Ausdruck hat das neue Paradigma in den Briefen über die ästhetische Erziehung gefunden, die Friedrich Schiller im Jahre 1795 im ersten Jahrgang seiner Zeitschrift Die Horen veröffentlicht hat. In der genauen Mitte dieses Manifests, mit dem sein Autor die Ziele der Französischen Revolution in Deutschland durch eine ästhetische Revolution verwirklichen zu können hoffte, fasst er seine Anschauungen wie in einem Brennpunkt in der Beschreibung einer antiken Statue zusammen. Der in dreifacher Lebensgröße ausgeführte Marmorkopf der sogenannten Juno Ludovisi wird ihm zum anschaulichen Symbol der übernatürlichen, gleichsam religiösen Wirkung klassischer Kunst.3 „Es ist weder Anmuth noch ist es Würde, was aus dem herrlichen Antlitz einer Jun o Ludovisi zu uns spricht; es ist keines von beyden, weil es beydes zugleich ist. Indem der weibliche Gott unsre Anbetung heischt, entzündet das gottgleiche Weib unsre Liebe; aber indem wir uns der himmlischen Holdseligkeit aufgelößt hingeben, schreckt die himmlische Selbstgenügsamkeit uns zurück. In sich selbst ruhet und wohnt die ganze Gestalt, eine völlig geschlossene Schöpfung, und als wenn sie jenseits des Raumes wäre, ohne Nachgeben, ohne Widerstand; da ist keine Kraft, die mit Kräften kämpfte, keine Blöße, wo die Zeitlichkeit einbrechen könnte. Durch jenes unwiderstehlich ergriffen und angezogen, durch dieses in der Ferne gehalten, befinden wir uns zugleich in dem Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung, und es entsteht jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Nahmen hat.“4 Wie ihre religiöse Terminologie verrät, definieren diese Sätze die ästhetische Erfahrung als neues Medium der menschlichen Selbsterfahrung. Die Inszenierung einer von Gefühlen beseelten Individualität, die in vorklassischer Zeit das Gebet bewirken sollte, wird nun von der Anschauung des autonomen Kunstwerks erwartet. Schiller bedient sich in seiner Beschreibung der Juno Ludovisi derselben Argumentationsform, durch die Winckelmann den Apollo von Belvedere zu einer säkularen Heiligenstatue gemacht hatte. In dem anthropologischen Diskurs des Weimarer Klassikers übernimmt der römische Porträtkopf die gleiche Funktion, die für den in Rom lebenden Historiker der antiken Kunst die zentrale Figur des vatikanischen Belvedere inne gehabt hatte. Mit Hilfe der für ihn charakteristischen antithetischen Rhetorik setzt Schiller die antike Statue an Stelle des christlichen Gottes- oder Heiligenbildes. Wie dieses ist sie Raum und Zeit enthoben, wie dieses ist sie von einer Aura umgeben, die sie dem Betrachter in seinem Innersten nahebringt und zugleich in die fernste Ferne entrückt. Damit hat Schiller den symbolischen Platzhalter göttlicher Unendlichkeit durch das von Menschenhand geschaffene Bild vollendeter Menschlichkeit ersetzt, in



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Abb. 10: So genannte Juno Ludovisi. Marmor. 1. Jahrhundert nach Chr. Idealporträt der Mutter des Kaisers Claudius, Antonia der Jüngeren. Palazzo Altemps. Museo Nazionale Romano.

dem der Betrachter sich selbst als zur Schönheit erzogener Mensch wiedererkennen soll. Hier stellt sich zunächst die Frage: Woher kannte Schiller die Juno Ludovisi überhaupt? Die Antwort, die allerdings in keinem der zahlreichen Kommentare der schillerschen Briefe zu finden ist,5 lautet: Er kannte sie gar nicht aus eigener Anschauung. 1764 hatte Winckelmann in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums zum ersten Mal auf die Bedeutung der Büste hingewiesen: „Juno zeiget sich als Frau und Göttinn über andere erhaben, im

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Gewächse sowohl, als königlichem Stolze. Die Schönheit in dem Blicke der großen rundgewölbten Augen der Juno ist gebieterisch wie in einer Königinn, die herrschen will, verehrt seyn, und Liebe erwecken muß: der schönste Kopf derselben ist Collossalisch, in der Villa Ludovisi.“ (WKA, 165) Es ist evident, dass Schillers Text die Doppelung von ehrfürchtiger Distanz und liebevoller Annäherung aus Winckelmanns auf Autopsie beruhender Beschreibung übernommen hat. Das aber nicht auf direktem Wege. Goethe hatte sich bei seinem ersten römischen Aufenthalt mit Winckelmanns Schrift in der Hand den Denkmälern des Altertums zu nähern gesucht. Seinem Weimarer Dienstherrn, dem Herzog Carl August, teilt er im Januar 1787 mit: „Das wichtigste, woran ich nun mein Auge und meinen Geist übe sind die Style der verschiednen Völcker des Alterthums und die Epochen dieser Style in sich, wozu Winckelmanns Geschichte der Kunst ein treuer Führer ist.“ (WA IV 8, 137) Wohl unter dem Einfluss dieser inzwischen kanonisch gewordenen Ursprungsschrift der Kunstgeschichte hatte Goethe die Juno Ludovisi zu seinem Lieblingsobjekt erkoren. Am 6. Januar 1787 lässt er Charlotte von Stein gleichzeitig mit der Meldung der Vollendung der Iphigenie wissen: „Seit gestern hab ich einen kolossalen Junokopf in dem Zimmer oder vielmehr nur den Vordertheil, die Maske davon. Es war dieser meine erste Liebschafft in Rom und nun besitz ich diesen Wunsch.“ (WA IV 8, 117) Aus dieser Zeit hat sich eine Zeichnung von Johann Heinrich Tischbein erhalten, in dessen Apartment am Corso Goethe in Rom wohnte. Auf ihr ist der Dichter zu sehen, wie er voller Erregung das in seinem Zimmer aufgeschlagene Bett in Unordnung bringt. Er hat eines der beiden Kissen gepackt, um es in die Ecke zu schleudern. Im Hintergrund auf einem improvisierten Regal, dem unter anderem Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums als Stütze dient, steht der „Collossalisch[e]“ Junokopf. Tischbein hat die Skizze mit „Das verfluchte zweite Küssen“ betitelt, um darauf hinzuweisen, dass Goethe aus Wut über ein misslungenes Liebesabenteuer das für zwei hergerichtete Nachtlager auseinanderreißt.6 Ihm bleibt nur, worauf Tischbein in seiner Zeichnung ironisch hinzudeuten scheint, die Juno als Geliebte. Goethe selber bestätigt diese Deutung einige Tage später in einem Brief an Charlotte: „[…] du hast nur Eine Nebenbuhlerinn bisher und die bring ich dir mit das ist ein kolossal Kopf der Juno.“ (WA IV 8, 149) Allerdings hat Goethe den Riesenkopf dann ein Jahr später bei seiner Abreise aus Rom doch nicht nach Weimar mitgenommen, sondern durch seinen Adlatus in Kunstdingen, den Schweizer Johann Heinrich Meyer, an seine Freundin, die Malerin Angelika Kaufmann, weitergegeben.7 Zuvor hatte Meyer, wie er im Juli 1788 an Goethe schreibt eine „getuschte Zeichnung nach dieser Maske“ angefertigt, die für die Herzogin Anna Amalia



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Abb. 11: Johann Heinrich Tischbein: „Das verfluchte zweite Küssen“. Federzeichnung, Papier, 1786/1787.

bestimmt war.8 Im Januar 1795, zur Zeit, als Schiller mit der Abfassung des „Fünfzehnten Briefs“ beschäftigt war, hielt Meyer sich mit Goethe in Jena auf und diskutierte mit Schiller über antike Kunst. Nach seiner Rückkehr nach Weimar schreibt er am 23. Januar 1795 an den Dichter in Jena: „Nach Abrede sende ich Ihnen hiermit das Haupt der Juno und bin im voraus versichert dass es Ihnen Vergnügen machen wird so wie auch der beygelegte Abdruck der Minerva.“ (NA 35, 135)9 Es darf vermutet werden, dass es sich dabei um die 1788 nach der goetheschen Gipskopie der Maske angefertigte Zeichnung gehandelt hat, die im Weimarer Großherzoglichen Nachlass vorhanden ist.10 Für den Erhalt der Zeichnung bedankt Schiller sich bei Meyer und verspricht: „Die beyden Köpfe ziehen mich äußerst an; und in die Juno besonders will ich suchen mich hinein zu studieren. Wenn Sie dann einmal wieder hier sind, so helfen Sie mir das Verständnis darüber öfnen.“ (NA 27, 131) Wie um seine Priorität zu dokumentieren, veröffentlichte Meyer einige Wochen später im zweiten Stück der Horen 1795 unmittelbar vor Schillers Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in der

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Abb. 12: Johann Heinrich Meyer: Juno Ludovisi. Graphit, Feder auf Bütten. 1788/1789.

die Beschreibung des Kopfes der Göttin im Mittelpunkt steht (Elfter bis Sechzehnter Brief), seinen Aufsatz Ideen zu einer künftigen Geschichte der Kunst, in den er eine umfangreiche Beschreibung der Juno Ludovisi einfügt. Er nennt sie, Winckelmanns Qualifizierung aufgreifend, „ein colossalisches Werk“ und behauptet, sie stehe auf der Schwelle zwischen dem „hohen“ und dem „gefälligen“ Stil der griechischen Kunst. Sie sei daher, wie Meyer, die schillersche Terminologie übernehmend, sich ausdrückt, „mit der Hoheit und Würde der einen [Kunstform], und mit der Anmuth der andern, insofern sie vereinbar waren, zugleich geziert“.11 Unmittelbar darauf, im dritten Stück des ersten Jahrgangs der Horen, wird noch einmal auf die Juno Ludovisi Bezug genommen. Wilhelm von Humboldt, der im Januar 1795 in Jena ebenfalls mit Goethe und Meyer verkehrte, beschreibt in seinem Aufsatz Ueber die männliche und weibliche Form die Statue als Verkörperung der idealen Schönheit der Frau und bedient sich dabei sowohl der Begriffe aus Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums als auch der aus Schillers Ästhetik. In dem mäandernden Stil, der wie häufig in Humboldts Prosa die ‚allmähliche Verfertigung der Gedanken‘ beim Schreiben nachvollziehbar machen soll, wird die Juno nicht weniger als viermal mit den Begriffen „Anmuth“ und „Würde“



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charakterisiert.12 „Ihre hehre Gestalt, ihr weites rundgewölbtes Auge, und der Ausdruck der Hoheit in ihrem Munde geben ihr eine Würde, welche jede Spur der Bedürftigkeit vertilgt. […] Weiblich ist die Fülle ihres Wesens, eine weibliche, langsam ausströmende Kraft ihre wohlthätige Macht, und zugleich ist beydes mit lieblicher Anmuth und allen Reitzen der Jugend geschmückt.“13 Zweierlei ist an Humboldts weithin epigonalen Ausführungen bemerkenswert. Einerseits betont er die Überlegenheit der bildenden Kunst gegenüber den „Fabeln“ der Dichter in der Darstellung der Juno. Bei Homer sei sie eine Gottheit, die „mit Rache athmender Eifersucht ihre Feinde verfolgt“. „Allein in die höchste weibliche Anmuth und Würde gekleidet, erscheint sie aus der Hand des bildenden Künstlers“.14 Die Bevorzugung des plastischen Bildes gegenüber der Schrift, die sich in diesen Sätzen ausspricht, ist grundsätzlicher Natur. Humboldts Ausführungen sind das explizite Zeugnis dafür, dass das Ideal der klassischen Ästhetik auf der Anschauung des schönen menschlichen Körpers beruht, wie er in der bildenden Kunst sich darstellt. Mit dieser Bevorzugung des Bildes vor der Schrift als Medium des neuen ästhetischen Diskurses geht eine radikale Anthropologisierung einher. Das Bild der Gottheit ist für Humboldt ausschließlich ein Zeugnis für „die Weiblichkeit in einer neuen Gestalt“, ist „ein reiner Abdruck der Menschlichkeit“.15 Die Wiederbelebung des antiken Polytheismus durch die deutsche Klassik, das belegen diese Wendungen, ist antireligiös, ist Ausdruck dafür, dass ihre ästhetischen und ethischen Wertsetzungen allein auf einer Absolutsetzung der menschlichen Natur beruhen. Dabei ist es nicht ohne Belang, dass Schillers berühmte Beschreibung des Junokopfes, in dem – wie Meyer sich ausdrückt – „der ganze summarische Begriff des speculativsten Theils der Kunst […] enthalten ist“,16 ebenso wie Humboldts anthropologischer Bestimmungsversuch des Ideals weiblicher Schönheit auf Informationen aus zweiter Hand beruhen. Mehr noch: Diese Informationen sind, historisch gesehen, unzutreffend. Wie die archäologische Forschung seither plausibel gemacht hat, handelt es sich bei dem zum Idealtypus stilisierten kolossalen Kopf gar nicht um eine griechische Büste der Göttin Juno aus klassischer Zeit, sondern um das römische, aus der Kaiserzeit stammende Idealporträt der Mutter des Claudius, Antonia der Jüngeren, aus der gens Julia, die nach ihrem Tod im Jahre 37 n. Chr. zu göttlichen Ehren erhoben wurde.17 Was die Klassiker, ohne dass es ihnen voll bewusst war, in der antiken Kunst verehren, ist das idealisierte Bild eines vergöttlichten Menschen. Goethe scheint davon wenigstens eine Ahnung gehabt zu haben, wenn er Charlotte von Stein gegenüber die Juno Ludovisi ironisch als seine Geliebte bezeichnet. Ebenso Humboldt, der sie in seinem Aufsatz als „das Bild wahrer Weiblichkeit nur auf einer erhabenen Stufe“ apostrophiert.18

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Goethe stellt zudem in dem schon zitierten Brief an Charlotte von Stein ausdrücklich eine Parallele zwischen der bewunderten Statue und dem Epos Homers her, wenn er deren Wert dadurch betont, dass er den Kopf der Juno mit der epischen Dichtung auf eine Stufe stellt: „Ich werde ihn gewiß nach Deutschland schaffen und wie wollen wir uns einer solchen Gegenwart erfreuen. Keine Worte geben eine Ahnung davon, er ist wie ein Gesang Homers.“ (WA IV 8, 117) Goethes Vergleich, der das homerische Epos als das kanonische Maß aller Dinge erscheinen lässt, ist nur deshalb möglich, weil die epische Dichtung wie die Plastik die anschauliche, räumlich beschriebene und wahrnehmbare Gestalt idealisierter Menschen dem Leser nahezubringen scheint. Die bildliche Präsenz des schönen menschlichen Körpers erweist sich in Goethes enthusiastischen Worten als der Urgrund der neuen, Homer zu ihrem Vorbild stilisierenden und sich selbst als klassisch begreifenden Kunstanschauung. Denn die räumliche Vergegenwärtigung einer ins Idealische gesteigerten Leiblichkeit ist es, die Goethe und Schiller vor allem an Homer bewundern. So kommt es schließlich zu dem Paradox, dass Goethe und in seiner Nachfolge Schiller ein plastisches Kunstwerk, das sie für ein originales griechisches Götterbild halten, zum zentralen Anschauungsobjekt der klassischen Ästhetik erheben, obwohl doch gerade die schöne Literatur als neuer Leitdiskurs das autonome Menschenbild begründen soll. Wie Winckelmann den Laokoon 1755, hatte auch Schiller die Juno Ludovisi 1795 weder als Gipsabguss, geschweige denn im Original je gesehen. Diese Tatsache konnte in der Folge umso leichter in Vergessenheit geraten, als die Juno Ludovisi später an prominenter Stelle im sogenannten Juno-Zimmer in Goethes Haus am Frauenplan zu sehen war. Dort aber war sie erst im Herbst 1823, also lange nach Schillers Tod, aufgestellt worden.19 Wenn schon jedes Bild immer auch ein Phantom ist,20 so entlarvt die Einsicht in die mangelnde Authentizität des Anschauungsgegenstands sowie in dessen unzutreffende Identifikation die Rede von der Juno Ludovisi in Schillers Briefen als reine Projektion. Sie lässt, ebenso wie Winckelmanns Laokoon-Ekphrasis, den scheinhaften Charakter der bildbasierten Kultur der Moderne schon in ihren Anfängen erahnen. Goethe hat den neuen Blick auf den Menschen, der sich in den zitierten Texten andeutet, auch als Zeichner geübt. So schreibt er am 25. Januar 1788 in seinem großen Rechenschaftsbericht aus Rom an den Herzog Carl August: „Gegen Ende Oktobers kam ich wieder in die Stadt und da ging eine neue Epoche an. Die Menschengestalt zog nunmehr meine Blicke auf sich und wie ich vorher, gleichsam wie von dem Glanz der Sonne, meine Augen von ihr weggewendet, so konnte ich nun mit Entzücken sie betrachten und auf ihr verweilen. Ich begab mich in die Schule, lernte den Kopf mit seinen Theilen zeichnen und nun fing ich erst an die Antiken zu verstehen.“



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(WA IV 8, 329)21 Wie für Winckelmann vor ihm eröffnet sich für Goethe in der Anschauung der antiken Statuen die überwältigende Erfahrung der „Menschengestalt“. Seit seinem römischen Aufenthalt ist sie das neue, Licht und Leben spendende Zentrum seiner Kunstpraxis. Nicht nur der bildnerischen, sondern vor allem auch der literarischen, wie er in der „Fünften Römischen Elegie“ mit unvergleichlicher Präzision formuliert hat. In ihr ist die Zusammenschau von nacktem weiblichem Körper, antiker Marmorstatue und homerischer Dichtung zum zentralen Thema geworden: Und belehr ich mich nicht? Wenn ich des lieblichen Busens   Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab. Dann versteh ich erst recht den Marmor, ich denk’ und vergleiche,   Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand.  […] Oftmals hab’ ich auch schon in ihren Armen gedichtet   Und des Hexameters Maas, leise, mit fingernder Hand, Ihr auf den Rücken gezählt, […]. (GG, 158)

Die von der antiken Kunst und Literatur beschworene leibliche Gegenwart der Frau, die sich in den Statuen in idealisierter Schönheit darbietet, das sichtbare, berührbare und in Homers Epen erfahrbare plastische Bild des menschlichen Leibes ist von unmittelbarer Evidenz. Es überwältigt den Betrachter, es überzeugt ihn mehr als den Leser das reine Wort. Deshalb spielen der Apollo von Belvedere bei Winckelmann und die Juno Ludovisi bei Goethe und Schiller als Anschauungs- und Meditationsobjekte der ästhetischen Theorie eine zentrale Rolle. Deshalb versammelt der in seine Homerlektüre vertiefte Goethe schon in seinem Frankfurter Jugendzimmer und dann erneut und vor allem in seiner römischen Wohnung, später auch in seinem Weimarer Haus Abgüsse antiker Statuen. Schließlich kündigt sich in Goethes Hymnus auf die Schönheit des weiblichen Körpers – und darin liegt dessen eigentliche Bedeutung – eine revolutionär neue Sicht auf den Menschen an. Sie vor allem ist der deutschen Griechenbegeisterung zu verdanken. In der „ Fünften Elegie“ wird der menschliche Leib in seiner räumlichen Dimension Ernst genommen. Die Berührung des Körpers der Frau, das Streicheln ihrer Hüften, gibt erst den Formen der marmornen Statue ihre Evidenz, indem sie deren Schönheit bestätigt. So lässt auch die „fingernde Hand“, die den Rücken und die Wirbelsäule der Geliebten entlang fährt, den Hexameter des antiken Epos als menschlichstes aller Versmaße erscheinen. Die Synästhesien dieser Zeilen verwandeln den Erkenntnisakt, durch den der Mensch als Leibwesen angschaut wird, in einen Liebesakt. Goethe findet die Bestätigung seiner ästhetischen Vorlieben, die Winckelmman noch in den historisch längst vergangenen Zeiten Spartas oder in exotischen Fernen bei den Indianern

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Nordamerikas glaubte suchen zu müssen, in der unmittelbaren Begegnung zwischen Mann und Frau. Damit gewinnt er zugleich die Einsicht, dass der Mensch auf dem Höhepunkt seiner Existenz vor allem ein Leibwesen ist. Noch ist diese anthropologische Neudefinition des Humanum nicht in all ihren praktischen und theoretischen Konsequenzen ausformuliert – das wird erst fünf Generationen später etwa in den phänomenologischen Analysen der antiken Plastiken durch Gertrud Kantorowicz der Fall sein22 – doch schon in Goethes Elegien kündigt sich an, dass der Einzelne nicht nur Geist, Seele, Bewußtsein ist, sondern in einem individuellen Leib wohnt, der eigenen Gesetzen gehorcht, die von denen des Geistes unabhängig sind. Judentum als kulturelles Paradigma der Moderne. Liebesgebot und Bilderverbot. Moses Mendelssohn Die Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800 bringt in Deutschland jedoch nicht nur eine neue Ästhetik als Abwehr und Ersatz der politischen Errungenschaften der Französischen Revolution hervor. In ihr wird gleichzeitig ein ganz anderes, mit der klassischen Antike unvereinbares Paradigma in den öffentlichen Diskurs eingeführt. Das Judentum, bis dahin im physischen wie kulturellen Ghetto eingeschlossen, tritt genau in dem Augenblick in den öffentlichen Raum Europas ein, als die Religion ihre Wirkmacht als sinnstiftendes Ordnungsprinzip der Öffentlichkeit verliert. In England der freie Markt, in Frankreich die Menschen- und Bürgerrechte, in Deutschland die Literatur, das sind die neuen Kraftlinien, entlang deren sich die entstehende bürgerliche Gesellschaft organisiert. Hierzu in Konkurrenz wird sich das Judentum von Anfang an im öffentlichen Raum Europas als etwas anderes und als mehr behaupten müssen denn als traditionelle Religion. Es ist der in einer Yeshiva erzogene und dem Ritualgesetz seiner Väter treu gebliebene Berliner Schutzjude Moses Mendelssohn, der den Schritt aus dem Ghetto in die Ungebundenheit des geistigen Europas seiner Zeit wagt und in seiner 1782 erschienenen Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum an die andere Wurzel der westlichen Kultur erinnert, an das Judentum, dessen kulturelle Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein durch die Vorherrschaft des Christentums lange Zeit verdrängt war. Mendelssohn wendet sich mit seiner Schrift in erster Linie an christliche Leser. Um sie von der Würde seiner Religion zu überzeugen, zitiert er das Liebesgebot, das gemeinhin als das auszeichnende Merkmal der neutestamentlichen Religion angesehen wird, im Kontext einer aggadischen Erzählung, die im Traktat Schabbath 31a des Babylonischen Talmud überliefert ist. Mendelssohn gibt



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diese Geschichte mit seinen eigenen Worten wieder,23 wobei er das zentrale Gebot der Achtung der Rechte des Nächsten in die Form des Liebesgebotes kleidet, wie es im Buch Leviticus (Lev 19,18) Moses und den Israeliten von JHWH gegeben und im Neuen Testament (Mk 12,31) von Jesus im Streit mit den Pharisäern erneuert wird: „Ein Heide sprach: Rabbi, lehret mich das ganze Gesetz, indem ich auf einem Fuße stehe! Samai, an den er diese Zumutung vorher ergehen ließ, hatte ihn mit Verachtung abgewiesen; allein der durch seine unüberwindliche Gelassenheit und Sanftmuth berühmte Hillel sprach: Sohn! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dieses ist der Text des Gesetzes; alles übrige ist Kommentar. Nun gehe hin und lerne!“ (MJ, 98)24 Mit seiner an die aggadische Erzählung aus dem Talmud angelehnten Neuformulierung weist Mendelssohn darauf hin, dass schon die Thora das Liebesgebot kennt und dass es dort nicht nur gegenüber anderen Juden, sondern gegenüber allen Menschen Gültigkeit besitzt: „Der Fremdling, welcher sich bei euch aufhält, soll euch so wie ein Einheimischer sein. Du sollst ihn lieben, wie du dich selbst liebst. Denn auch ihr seid Fremde gewesen im Land Mizrajim. Ich, der Ewige, euer Gott.“ (Lev 19,34)25 Durch seine Erinnerung an den ursprünglichen Wortlaut des Textes widerlegt Mendelssohn die Darstellung des Neuen Testaments, das die ‚Schriftgelehrten‘ zum Adressaten der Belehrung Jesu macht und damit polemisch die gesetzestreuen Juden entweder der Falschheit oder der Vergesslichkeit zeiht. In seinen Augen sollte die Synthese der Anekdote aus dem Talmud mit der altund der neutestamentlichen Formulierung des Liebesgebots die gemeinsame Grundlage darstellen, auf der die Mehrheitskultur sich mit der Minderheit des Judentums verständigen könnte. Allerdings ist in den zitierten Worten auch schon das Spezifische der jüdischen Tradition angedeutet. Die Aufforderung an den Heiden: „Nun gehe hin und lerne!“ richtet sich im Kontext von Mendelssohns Traktat an den die Lektüre der Thora nicht praktizierenden Leser. Er soll sich der spezifisch jüdischen Form der Frömmigkeit, des ‚Lernens‘, das heißt, des Studiums der Heiligen Schrift, befleißigen, die Mendelssohn so insgeheim als zweites Gebot neben das beiden Religionen gemeinsame Liebesgebot stellt. Der nachdrückliche Hinweis auf den Kommentar, der in der jüdischen Tradition die Heilige Schrift erst lesbar macht, ist also keineswegs eine Herabminderung der Bedeutung dieser Textform, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte, sondern im Kontext der aggadischen Erzählung eine Bekräftigung seiner Unabdingbarkeit. Denn der „Text des Gesetzes“, die kanonische Schrift, und deren mündliche Kommentierung sind die Medien, die im Judentum die Kontinuität der Überlieferung und damit das Fortbestehen der Religion garantieren. Mendelssohn formuliert diesen Zusammenhang nicht nur theoretisch, sondern führt ihn in seiner eigenen Schrift auch praktisch vor, indem er

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zum Höhepunkt und Abschluss seiner Schrift den Dialog zitiert, den „der Gesandte Gottes, Moses selbst“, mit Gott führt. (MJ, 117) Dabei gibt er die Kapitel 33 und 34 des Buches Exodus, in denen Gott nach der Verfehlung der Israeliten den Bund mit seinem Volk erneuert und ihnen zum zweiten Mal seine Gebote vorschreibt, in einer verkürzenden Form wieder, so dass sie in seiner Paraphrase als Begründung des menschlichen Liebesgebots durch die „Lehre von der Barmherzigkeit Gottes“ erscheinen. (MJ, 120) Die zentralen Sätze, in denen Gott im Medium einer „Stimme“ seine Vergebung verkündet, zitiert er wörtlich: „Darauf zog die Erscheinung vor Mose vorüber, und ließ eine Stimme hören: ‚Der Herr (ist, war und wird seyn), ewiges Wesen, allmächtig, allbarmherzig, und allgnädig; langmüthig, von großer Huld und Treue; der seine Huld dem tausendsten Geschlechte noch aufbehält; der Missethat, Sünde und Abfall verzeihet; aber nichts ohne Ahndung hingehen lässt!‘“ (MJ, 117 f.)26 Mendelssohn bricht das Zitat vor der Strafandrohung Gottes ab, die in der lutherschen Übersetzung des gleichen Abschnitts mit der Verwünschung der künftigen Geschlechter endet: Gott „vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft läßt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied“.27 Während die christliche Überlieferung so den Gott des Alten Testaments als zürnenden Rächer erscheinen lässt, geht das Liebesgebot in der jüdischen Tradition, wie Mendelssohn sie wiedergibt, von der Stimme Gottes aus, wird von Moses als dem Gesandten Gottes an die Lehrer der Nation überliefert, deren Weisheit im Talmud aufbewahrt ist, und kommt so schließlich zu den Menschen der Gegenwart. Exemplarisch wird diese Überlieferungskette in der nachfolgenden Erörterung über den Widerspruch zwischen der allumfassenden Liebe Gottes und seiner Strafandrohung vorgeführt. Zunächst zitiert Mendelssohn den mittelalterlichen Kommentar des Abraham Ibn Esra, der die Strafe als eine Äußerung der göttlichen Liebe interpretiert, um sodann in der Wiedergabe eines Dialogs mit einem „verehrungswürdigen Freund“ dieses Paradox zu entfalten, wobei er die Strafe als Mittel interpretiert, den Menschen zur „sittlichen Besserung zu leiten“. (MJ, 119) Diese Wirkung „seiner väterlichen Allbarmherzigkeit“ (MJ, 120) schließe die Möglichkeit einer ewigen Höllenstrafe eo ipso aus. Im Schlussabschnitt seines Werks führt Mendelssohn demnach sowohl die schriftliche wie die mündliche Kommentierung des Wortlauts der Schrift exemplarisch vor, um dadurch eine grundsätzliche Gegenposition zur christlichen Lehre zu etablieren. Die auf die jüdische Kommentartradition sich stützende Auslegung des entscheidenden Ereignisses, in dem Gott sich den Israeliten als seinem auserwählten Volk nach dessen Sündenfall wieder zuwendet und dabei Moses zum Mittler seiner Barmherzigkeit und Liebe macht, widerlegt nicht nur das einseitige Bild, das sich die christliche Welt vom Judentum macht. Sie



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denunziert zugleich den Verrat, den das westliche Europa durch seine Hinwendung zur Antike als kulturell maßgeblichem Paradigma an der Vorstellung eines liebenden Vatergottes begeht. Der jüdische Philosoph stellt seine Kenntnis der damals aktuellen kulturellen Diskussion dadurch unter Beweis, dass er sich in dem zitierten Kontext ausdrücklich von dem Idol der neuen Ästhetik distanziert und dem Gottesbild der Thora den Vorzug gegenüber den olympischen Göttern einräumt: „‚Alle Götter schienen den Atheniensiern, so wie den übrigen Griechen, so bösartig, daß sie sich einbildeten: ein ausserordentliches oder langedauerndes Glück ziehe den Zorn und die Mißgunst der Götter auf sich […]. […]‘ Im Homer selbst, in dieser sanften, liebevollen Seele, war der Gedanke noch nicht aufgeglühet, daß die Götter aus Liebe verzeihen, daß sie ohne Wohlwollen in ihrem himmlischen Wohnsitze nicht seelig seyn würden.“ (MJ, 116 f.)28 Im Vergleich mit dem liebenden Vatergott der Thora erweisen sich die olympischen Götter aus dieser Sicht als von niedrigsten menschlichen Instinkten beherrscht. Dabei ist unverkennbar, dass sich diese Polemik nicht allein gegen die antike Vielgötterei wendet, sondern dass sie vor allem auch die zeitgenössische Wiederbelebung des antiken Bilderdienstes meint. Wichtiger noch als diese inhaltliche Opposition ist die Schlussfolgerung, die Mendelssohn aus der Reflexion über die Medien zieht, wie sie das Judentum durch die Unterscheidung von schriftlicher und mündlicher Lehre angeregt hat. Aus dem Gegensatz von Thora und Talmud, von heiliger Schrift und mündlichem Kommentar, wie er der jüdischen Tradition zugrunde liegt, entwickelt Mendelssohn eine höchst moderne Medientheorie. Zum ersten Mal in der abendländischen Geistesgeschichte formuliert er die fundamentale, aus den Quellen des Judentums hervorgegangene Einsicht, dass der Gehalt des kulturellen Gedächtnisses wesentlich von dem Medium abhängig ist, in dem er sich manifestiert: „Mich dünkt, die Veränderung, die in den verschiedenen Zeiten der Cultur mit den Schriftzeichen vorgegangen, habe von jeher an den Revolutionen der menschlichen Erkenntnisse überhaupt, und insbesondere an den mannigfaltigen Abänderungen ihrer Meinungen und Begriffe in Religionssachen sehr wichtigen Antheil“, lautet der Befund, mit dem er alle Religion radikal historisiert. (MJ, 100) Das Zeichensystem der Schrift, dessen Entwicklung Mendelssohn von den Zeichendingen über die Hieroglyphen und die Alphabetschrift bis hin zum Buchdruck verfolgt, wird von ihm in Relation gesetzt zu der jeweils herrschenden Weltanschauung. Nach seiner Auffassung führen „Bilder und Bilderschrift […] zu Aberglauben und Götzendienst, und unsere alphabetische Schreiberey macht den Menschen zu spekulativ“. (MJ, 113) Für ihn als gesetzestreuen Juden überwindet allein die Beobachtung des Zeremonialgesetzes, also der rituellen Vorschriften, an deren Einhaltung jeder Jude gebunden ist, den traditionellen Antagonismus von oraler und literaler Tra-

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dition. Denn das „Zeremonialgesetz“ sei „eine lebendige, Geist und Herz erweckende Art von Schrift, die bedeutungsvoll ist, und ohne Unterlaß zu Betrachtungen erweckt, und zum mündlichen Unterrichte Anlaß und Gelegenheit giebt“. (MJ, 98) Demgegenüber beklagt er, dass in der Vergangenheit „ein wirklicher Götzendienst fast auf dem ganzen Erdboden zur herrschenden Religion geworden [sei]. Die Bilder hatten ihren Werth als Zeichen verloren. Der Geist der Wahrheit, der in ihnen aufbewahrt werden sollte, war verduftet, und das schale Vehikulum, das zurückblieb in verderbliches Gift verwandelt.“ (MJ, 111) Ein strengeres Urteil über die klassische Wiederbelebung der antiken Bilderverehrung lässt sich kaum denken. Es ist im Geiste des zweiten Gebotes gesprochen: ‚Du sollst Dir kein Bild machen‘, und es trifft die Bemühungen Herders, Goethes und Schillers um eine Neuschöpfung der homerischen Olymps ins Herz. Zugleich lässt es Moses, der den Menschen dieses Gebot gebracht hat, als den überlegenen Gesetzgeber erscheinen, der als Mittler der göttlichen Wahrheit alle anderen Menschen überragt. Der ‚heilige Homer‘. Johann Wolfgang Goethe I Die Epochenschwelle, die mit der Gegenüberstellung von Moses und Homer markiert ist, stellt eine einschneidende Zäsur in der kulturellen Entwicklung der Neuzeit dar. Durch sie wird die endgültige Ablehnung einer göttlichen Offenbarung und damit eines personalen Gottes im geistigen Leben der Zeit markiert. Der bisherige metaphysische Gottesglaube, der noch im Deismus, wie ihn die mittlere Aufklärung aus England übernommen hatte, weiterlebte, hatte zu Beginn der Goethezeit seine öffentliche Wirkmächtigkeit verloren. Goethe ersetzte ihn durch die neue Religion des produktiven Menschen, durch den Glauben an die schöpferische Allmacht des Genies. Schon früh sprach er öffentlich aus, dass damit ein neuer gesellschaftlicher Leitdiskurs inauguriert war, der den Monotheismus ersetzen sollte. Der Niederschlag von Goethes durch Herder veranlasster Homer-Lektüre findet sich zuerst in seinen Briefen aus der Straßburger Zeit in Gestalt der ‚starken‘ Vokabeln, die sich der junge Autor aus seinem Homer herausgelesen hat. So in dem Brief von Mitte Juli 1772 an Herder: „Drein greifen, packen ist das Wesen jeder Meisterschaft. Ihr habt das der Bildhauerei vindicirt, und ich finde, daß jeder Künstler, so lange seine Hände nicht plastisch arbeiten, nichts ist. Es ist alles so Blick bei Euch, sagtet Ihr mir oft. Jetzt versteh’ ichs, thue die Augen zu und tappe. Es muß gehn oder brechen. […] χειρες ααπτοι, [die unnahbaren Hände, Ilias I. 567 u.  ö.], ητορ αλκιμον [das wehrhafte, mutige Herz, Ilias V. 529 u.  ö.], das ist alles, und doch muß das



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alles eins sein […]. Ich möchte beten wie Moses im Koran: ‚Herr mache mir Raum in meiner engen Brust.‘“ (WA IV 2, 17) In diesen Sätzen ist das Homerbild des jungen Goethe in all seinen Nuancen eingefangen. Im Rückgriff auf Homer möchte er sich als Autor zum Heroen stilisieren, der die bisher gültigen, aus der monotheistischen Tradition stammenden Leitbilder ablösen wird, für die ihm Moses einsteht. Auffällig auch der Vergleich des Dichters mit dem Bildhauer, der die Statuen schafft, die seit Winckelmann als Paradigma griechischer Kunst gelten. Der Dichter als kriegerischer Held, der sich und die Welt meistert, der Dichter als Bildhauer, der das neue, räumlich erfahrbare Menschenbild schafft, der Dichter als Nachfolger Homers, der sich der epischen Formeln aus der Ilias in griechischen Lettern bedient, das ist das hochfahrende Selbstverständnis, das der Straßburger Goethe aus seinen Homerstudien mitnimmt. Der früheste poetische Text, in dem Goethes Homer–Lektüre ihre programmatische Formulierung gefunden hat, ist der in zwanzig vierzeiligen Strophen sich entfaltende Monolog eines bildenden Künstlers mit dem Titel „Künstlers Morgenlied“, der vermutlich in Frankfurt im Frühjahr 1773 niedergeschrieben und drei Jahre später erstmals publiziert wurde. (GG, 60–63) Im Kontext seiner Entstehungszeit gelesen, erweist er sich als der Reihe der Großgedichte zugehörig, in denen Goethe nach seiner Rückkehr aus Straßburg explizit sein ästhetisches Programm entworfen hat. So vor allem in der großen Hymne „Wandrers Sturmlied“, in der er eine Neudefinition dessen gibt, was das neuzeitliche Individuum ist. Mit der Anrufung der olympischen Götter Dionysos, Apollo und Jupiter macht er in ihr den Ursprung der Subjektivität im schöpferischen Vermögen des Menschen sichtbar. „Künstlers Morgenlied“ ist schon durch seinen Titel mit dieser Hymne verbunden und zugleich von ihr differenziert: Im Licht der reflektierenden Vernunft markiert Goethe in diesem Rollengedicht, das von der Forschung bislang in seinem systematischen Stellenwert noch kaum gewürdigt worden ist,29 den epochalen Paradigmenwechsel, der sich für ihn mit der Entdeckung und Lektüre der homerischen Epen verbindet. In den ersten vier Strophen ersetzt das Gedicht programmatisch die jüdisch-christliche Tradition, die im kulturellen Umfeld des 18. Jahrhunderts noch immer die vorherrschende ist, durch die Kunstreligion, die im Zeichen der Antikenrezeption und des autonomen Subjekts steht. Mit dem „Ich“ des Künstlers, der „einen Tempel“ gebaut hat, setzen die Verse ein. Der Tempel Salomonis als zentraler Ort der jüdischen Religion wird in diesen Anfangszeilen ebenso durch die subjektive Schöpfung des Künstlers ersetzt wie der Anspruch Christi, den zerstörten Tempel in drei Tagen wiederaufzubauen. Das „Allerheiligste“ (V. 4), womit der nur dem Hohen Priester zugängliche Teil des Tempels mit der Bundeslade gemeint ist, wird ins Herz des Künstlers verlagert. Nicht mehr Jehova ist im Tempel anwesend, sondern die Musen, deren Anrufung, wie

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sie in den homerischen Epen, aber auch bei Hesiod und Pindar üblich ist, auf die dichterische Inspiration als Quelle der neuen Religion verweist. In der zweiten Strophe werden antike Statuen, die der Künstler in seinem Atelier um sich versammelt hat, wie dies auch Goethe in seinem Frankfurter Arbeitszimmer getan hatte,30 als Zeugen und Garanten des neuen Kults angerufen. Indem Goethe sie im Geiste Winckelmanns als die „ewig lebenden“ (V. 7) apostrophiert, schreibt er seinem Text das Bewusstsein vom historischen Ursprung seiner Griechenbegeisterung ein. Die dritte Strophe führt die säkularisierende Umwertung des Religiösen fort. Das „freudeklingend Saitenspiel“ (V. 11), das der Dichter den Musen widmet, ersetzt das Harfenspiel Davids, das der christlichen Überlieferung als der Inbegriff religiöser Poesie gilt. Die in den Bildern der ersten drei Strophen enthaltene Umdeutung der Tradition wird in der vierten Strophe – und damit am Ende des ersten Abschnitts des aus fünf gleich langen Abschnitten bestehenden Gedichts – explizit in Worte gefasst: Ich trete vor den Altar hier Und lese wie sich’s ziemt Andacht liturgscher Lektion Im heiligen Homer. (V. 13–16)

Statt in der Heiligen Schrift, die in den Perikopen sowohl des jüdischen wie des christlichen Gottesdienstes verlesen wird, liest der Künstler im Homer als seinem heiligen Text. Deutlicher und historisch bewusster kann der kulturelle Paradigmenwechsel, der sich mit dem Namen Homers verbindet, nicht formuliert werden. Künftig wird weder die jüdische noch die christliche Heilsgeschichte, sondern vielmehr die antike Götter- und Heldengeschichte der Text sein, durch dessen Auslegung sich das kulturelle Gedächtnis und damit die Identität des einzelnen wie der ihm zugehörigen sozialen Gruppe konstituiert. Im zweiten Abschnitt des Gedichts, der die Strophen fünf bis acht umfasst, führt der Autor eine solche Lesung aus den homerischen Epen vor. In sechzehn Versen drängt er die Kampfesschilderungen des XVI. bis XVIII. Gesangs der Ilias zusammen, in denen Homer das wütende Andringen des Patroklos gegen die Trojaner, seinen Tod von der Hand Apollos und Hektors und schließlich den Kampf der Griechen um seine Leiche beschreibt. Zwar nennt Goethe den Namen seines Protagonisten nicht, er bleibt der anonyme „Heldensohn“, der mit seinem „Flammenschwerdt“ „zehntausend auf einmal“ tötet (V. 25 f.): „Er sengte sie dahin“ (V. 24), wie es in der metaphorischen Sprache des Gedichts heißt. So wird er zum Gegenpart und Ersatz der biblischen Figur des Engels mit dem Flammenschwert. Zugleich lassen jedoch zahlreiche Details, die fast wörtlich aus dem homerischen Epos zitiert werden, eine genaue Identifikation der Episode zu. So



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etwa die „Löwenkrieger“ (V. 18), die sich auf Homers Darstellung beziehen lassen, Patroklos sei „mit dem Ungestüm eines Löwen“ auf seine Gegner eingestürmt (Ilias XVI, 752), oder der Vers: „Und Roß dann vor dem Wagen stürzt“ (V. 21), der sich auf die Episode bezieht, in der Patroklos „Pedasos“, das Pferd des Trojaners Sarpedon, mit der Lanze tötet (Ilias XVI, 467 ff.). Die Anonymität der Handelnden, der selbst die Götter unterworfen werden – von Patroklos, der bei Homer von Apollo mit der Hand in den Nacken geschlagen und dadurch zu Fall gebracht wird, damit Hektor ihn töten kann, heißt es bei Goethe lediglich, er sei „von einer Gottheithand“ (V. 28) gebändigt worden –, diese Anonymität verwandelt den homerischen Heldenkampf in ein namenloses Gemetzel, dessen Schilderung in der auffallenden Neubildung „Leichen Rogus“ (V. 29) gipfelt. Einen Leichenhaufen also, der ihm selbst zum Scheiterhaufen (rogus) dienen wird, hat sich Patroklos erkämpft, das ist die Pointe, auf die hin Goethe die homerische Patroklie zuspitzt. Eben darin aber ist der Held das Vorbild des Künstlers. Das erweist sich im dritten Abschnitt des Gedichts (Str. 9–12), in dem der Künstler selbst in den Kampf einzugreifen scheint. Die Zeichenkohle wird ihm zum „Gewehr“ (V. 34), und er drängt sich „Hinan! Hinan!“ (V. 37), um den Gefallenen zu retten. Diese merkwürdige Wendung ist nicht psychologisch zu verstehen, etwa als bildlicher Ausdruck dafür, dass der Künstler sich im „Schaffensrausch“ mit seinen Gestalten identifiziert.31 Vielmehr geht es Goethe hier um eine poetologische Aussage: Wie der kriegerische Held seine Gegner, so bringt der Künstler – das bedeutet die Einmischung des Zeichners in das von ihm gezeichnete mörderische Geschehen – in seinem Werk die Dargestellten ums Leben. Auch er schafft einen großen Leichenhaufen, auf dem er sich schließlich selbst verbrennt. Aber diese Austreibung des Lebens, dieses Selbstopfer des Künstlers ist notwendig, um das Andenken der Toten zu retten. So endet denn der mittlere Abschnitt des Gedichts, in dem der Schreibende als todbringender Held dargestellt wird, mit den Versen: „Und Balsam giest dem Todten auf | Und Trähnen Todten Ehr.“ (V. 47 f.) Wenn diese Deutung zutrifft, hat Goethe seine Lesung aus dem Homer in einer radikalen Allegorese zu einer Aussage über den Tod als Ursprung der dichterischen Produktivität gemacht. Dass er in der Tat den epischen Text in dieser Weise allegorisch liest, führt er in den beiden abschließenden Abschnitten des Gedichts explizit vor. Sie sind der Erinnerung an die Geliebte gewidmet. Sie ist abwesend, „ach im Bilde nur“ gegenwärtig „Und so im Bilde warm!“ (V. 51 f.) Damit wird in der Schlusssequenz das Paradox, durch das die beiden vorhergehenden Abschnitte gekennzeichnet sind, umgekehrt. Wird dort das Leben durch den Akt des Schreibens zu Tode gebracht, so hier eine nicht vorhandene Geliebte im Gedicht zum ‚warmen‘

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Der ‚heilige Homer‘. Johann Wolfgang Goethe I

Leben erweckt. Die Evokation des im Stil einer Schäferidylle erinnerten Liebeserlebnisses wird dadurch als Fiktion entlarvt, dass sie in den letzten Strophen durch die Topoi der abendländischen Liebesauffassung kommentiert wird. Dieses Erlebnis, heißt das, entstammt nicht dem Leben, sondern den traditionellen Diskursen, in denen die Frau als platonisches Ideal, als christliche Madonna oder als antik-neuzeitliche Nymphe definiert wird. Die beiden Funktionen, die kommentierendes Schreiben im literarischen Akt haben kann, sind demnach in „Künstlers Morgenlied“ einander gegenübergestellt. In der ‚Lesung‘ der homerischen Patroklie kommentiert der Autor einen vorhandenen Text von seiner eigenen Erfahrung als Künstler her und deutet ihn damit neu. In der ‚Erinnerung‘ an das Liebeserlebnis kommentiert er die abwesende Gestalt der Geliebten durch die Topoi des traditionellen Liebesdiskurses und erweckt sie dadurch erst eigentlich zum Leben. Diese zweite Funktion wird von Goethe sehr deutlich mit der natürlichen Zeugungskraft assoziiert. Sexuelle Konnotationen sind in den Schlussstrophen unübersehbar, so in der Beschreibung des Autors als lüsterner Faun oder in dem Seufzer: „Ach wie […] mirs vom Aug durchs Herz hindurch | In Griffel schmachtete.“ (V. 53–56) Beide Passagen sind nur in den frühen Versionen des Textes zu lesen, in den späteren Druckfassungen hat Goethe sie getilgt. Sehr zu Unrecht, denn nur durch sie bekommt die intendierte poetologische Aussage ihr volles Gewicht. Neben den Tod tritt so die natürliche Zeugungskraft als weitere Quelle des dichterischen Schaffensprozesses. Damit erst wird der Umbruch in der Auffassung vom Autor, der durch den Paradigmenwechsel von der Bibel zu Homer gegeben ist, mit ganzer Schärfe deutlich. Wenn die göttliche Inspiration nicht mehr vorausgesetzt wird, kann nur noch die Natur in ihren fundamentalen Äußerungsformen, in Zeugung und Tod, als Ursprung menschlicher Produktivität begriffen werden. Folgerichtig schließt das Gedicht mit dem Zitat einer weiteren Episode aus Homer. In den letzten beiden Strophen wird die berühmte Geschichte der Liebe zwischen Venus und Mars zusammengefasst, die bei ihrem Ehebruch von Vulkan, dem Gott der Schmiede, in einem künstlichen Netz gefangen und dem Gelächter der Götter preisgegeben werden. Dieses Kabinettstück einer novellistisch zugespitzten Liebesgeschichte, das im VIII. Buch der Odyssee (VIII, 266–369) der Sänger Demodokos zum Besten gibt und das in der bildenden Kunst des Barock und des 18. Jahrhunderts ein vielfaches Echo gefunden hat, wird von Goethe zu einer poetologischen Metafabel umgedeutet. Dabei spricht er die Gleichsetzung des Künstlers mit den homerischen Gestalten, die in der Patroklos-Episode in der eigentümlichen Doppelung des Geschehens impliziert war, explizit aus: „Und liegen will ich Mars zu dir […] Und ziehn ein Netz um uns herum“. (V. 73 u. 75) Der Autor erscheint demnach zugleich in der Rolle des Liebhabers Mars,



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der bei der Liebesgöttin Venus liegt, und in der des Künstlers Vulkan, der das zur Allegorie des Gedichts gewordene Netz um die Liebenden zieht. In der Allegorese des homerischen Liedes reflektiert das Gedicht sein eigenes Verfahren in doppelter Weise. Es konstituiert sich noch einmal wie in der Patroklos–Episode als Kommentar eines homerischen Textes, zugleich zitiert es einen weiteren Topos traditioneller Liebesmythologie. Beides jedoch nur, um bewusst zu machen, dass der Ursprung des Gedichts, sein schöpferischer Kern, nicht in göttlicher Inspiration, sondern in der produktiven Lektüre eines aus der Geschichte der Menschen stammenden Textes zu suchen ist. Radikale Anthropologisierung des ästhetischen Diskurses erweist sich so als das eigentliche Ziel von Goethes früher Homerrezeption, hinter das er auch in späteren Werken nicht mehr zurückgegangen ist. Die „Poesie“ des Moses. Johann Gottfried Herder Wenn Homer als Verfasser des neuen kanonischen Textes gelten soll, muss die Gestalt des Moses, der bisher diese Rolle innehatte, neu definiert werden. Die zahlreichen Äußerungen der Zeitgenossen über ihn werden daher defensiv oder gar eindeutig negativ. Herder als Theologe hat als erster die Notwendigkeit einer Neudeutung der Moses-Gestalt erkannt. In seiner großen Abhandlung Vom Geist der Ebräischen Poesie aus dem Jahr 1782, also aus dem gleichen Jahr, in dem Mendelssohns Jerusalem erschienen ist, widmet er der Gestalt des Moses ein eigenes Kapitel. Darin interpretiert er den Verfasser der Fünf Bücher Mose nach dem Vorbild des homerischen Kanons neu. So wie Homer für die klassische Ästhetik der „Urkanon“ aller Dichtung sei, seien die Schriften des Moses „gleichsam die Urweissagung, das Vorbild und der Kanon aller Propheten“. (HW 5, 932) Auf dreifache Weise habe Moses „in die Poesie seines ganzen Volkes gewirkt“, durch seine Taten, durch „seine eigenen Poesien und Lieder“, (HW 5, 933  f.) schließlich dadurch, dass er durch Überbringung der Gesetzestafeln die Juden „zu einem literaten Volke“ machte. (HW  5, 935) Um für die poetische Kraft der Dichtung des Moses ein Beispiel zu geben, übersetzt und kommentiert Herder zum Abschluss seines Kapitels das „Lied“, das „Moses vor seinem Ende ans versammelte Israel“ richtet, wie es im Buch Exodus wiedergegeben ist. (HW 5, 938–945) Man sieht, der Theologe Herder rettet seinen Moses, indem er ihn zu einem ersten, besseren Homer stilisiert. „Die Poesie der Ebräer bekam einen unverkennbaren Vorzug vor allen Nationalpoesien der Erde, dass sie Gottes, dass sie reine Tempelpoesie ward.“ (HW 5, 934) Diese etwas angestrengte Neudefinition, die aus dem Überbringer der göttlichen Offenbarung und dem Gesetzgeber einen epischen Sänger macht, konnte selbst ihr Erfin-

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Die „Poesie“ des Moses. Johann Gottfried Herder

der auf Dauer nicht durchhalten. Schon 1787 im dritten Teil seines großen Werkes Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit fällt sein Urteil über das von Moses geschaffene Volk der Juden eindeutig negativ aus. Moses erscheint hier zwar als der Gesetzgeber der Juden, dessen Gesetze alle „wunderbar durchdacht“ gewesen seien. Aber die weitere Geschichte des Volkes habe alle guten Anlagen in ihr Gegenteil verkehrt: „Die feine Nomokratie also, auf die es Moses angelegt hatte, und eine Art theokratischer Monarchie, wie sie bei allen Völkern dieses Erdstrichs voll Despotismus herrschte: zwei so entgegengesetzte Dinge stritten gegeneinander, und so mußte das Gesetz Moses dem Volk ein Sklavengesetz werden, da es ihm politisch ein Gesetz der Freiheit sein sollte.“ (HW 6, 486 f.) Moses hatte also nach Herders Analyse den Juden den rechten Weg gewiesen, allerdings hatte die soziale und politische Realität dieses Volkes, der es beherrschende „Despotismus“, von vorneherein alle guten Intentionen des Gesetzgebers in ihr Gegenteil verkehrt. Und so kann Herder am Ende seines Kapitels über die „Hebräer“ das bittere Resümee ziehen, sie seien „nie zur Reife einer politischen Kultur auf eigenem Boden, mithin auch nicht zum wahren Gefühl der Ehre und Freiheit“ gelangt. (HW 6, 491) Und als sei es mit dieser Abwertung noch nicht genug, fügt er ihr ein antijüdisches Vorurteil an, das bis in den Antisemitismus des 20. Jahrhunderts seine Wirkung getan hat: Das jüdische Volk sei „fast seit seiner Entstehung eine parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen; ein Geschlecht schlauer Unterhändler beinah auf der ganzen Erde“ gewesen, „das Trotz aller Unterdrückung nirgend sich nach einem Vaterlande sehnet“. (HW 6, 492) Hingegen werden die Griechen im gleichen Werk zum absoluten Vorbild aller anderen Völker stilisiert: „Die griechische Sprache ist die gebildetste der Welt, die griechische Mythologie die reichste und schönste auf der Erde, die griechische Dichtkunst endlich die vollkommenste ihrer Art.“ (HW 6, 522) Diese Vollkommenheit der griechischen Welt sei ein Werk Homers, des „Vaters aller griechischen Dichter und Weisen“ und des „Götterbote[n] des Nationalruhms“. (HW 6, 524 f.) Unschwer ist zu erkennen, welche Wertmaßstäbe bei dieser Umwertung eine Rolle spielen. Ganz und gar unhistorisch werden die von Moses geführten Juden als heimatlose und damit ehrlose Vagabunden hingestellt, während die Griechen durch die homerischen Epen zum Patriotismus erzogen worden seien. Diese Sätze, mit denen der Gegensatz von Griechen und Juden im 19. Jahrhundert immer wieder begründet wird, werden von der Vorstellung eines absoluten Vorrangs der Poesie und Homers als ihres ‚Vaters‘ und deren Erneuerung in der deutschsprachigen Dichtung der Zeit getragen. Zugleich sind in ihnen die Anfänge einer deutschen nationalen Ideologie auszumachen, die als „höchste politische Tugend“ (HW 6, 545) neben das Idealbild der menschlichen Gestalt tritt, das den Inhalt der klassischen Dichtung ausmacht und mit ihm zusam-



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men das Syndrom der ‚ästhetischen Bildung‘ im 19. und 20. Jahrhundert beherrschen wird. Die Hebräischen Mysterien. Carl Leonhard Reinhold 1787, im gleichen Jahr, in dem Herder seine große geschichtsphilosophische Studie vorgelegt hat, veröffentlichte der ehemalige Jesuit und spätere Kantianer Carl Leonhard Reinhold beim Verleger Göschen in Leipzig unter seinem Freimaurernamen „Br[uder] Decius“ eine Broschüre, deren Titel Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey schon ankündigt, dass sie sich nicht an ein allgemeines Lesepublikum, sondern an den streng eingegrenzten Kreis der „Brüder“ seiner „Maurerwelt“ wendet.32 Aus der Schrift des schottischen Bischofs William Warburton hat er die These übernommen,33 Moses sei als ein Ägypter in die ägyptische Mysterienreligion eingeweiht gewesen, der Monotheismus also eine Erfindung der ägyptischen Hochkultur, die von Moses dem ungebildeten Hirten- und Nomadenvolk der Juden aufgepfropft worden sei. Unter dem Titel The Divine Legation of Mosis zwischen 1738 und 1741 publiziert und zehn Jahre später als William Warburtons Göttliche Sendung Mosis. Aus den Grundsätzen der Deisten erwiesen ins Deutsche übersetzt, sollte die Schrift des Verfechters des Deismus beweisen, dass nicht göttliche Offenbarung den Monotheismus hervorgebracht habe, sondern die menschliche Vernunft. Diese These hatte auch Herder im dritten Teil seiner Ideen übernommen, wo er feststellt, Moses habe in der Wüste dem Volk eine Verfassung gegeben, „die zwar auf die Religion und Lebensart ihres Stammes gegründet mit Aegyptischer Staatsweisheit aber so durchflochten war, dass auf der einen Seite das Volk aus einer Nomadenhorde zu einer kultivierten Nation erhoben, auf der anderen von Aegypten völlig weggelenkt werden sollte. […] Wunderbar durchdacht sind alle Gesetze Moses: sie erstrecken sich vom Größten zum Kleinsten, um sich des Geistes seiner Nation in allen Umständen zu bemächtigen und wie Moses so oft sagt: ein ewiges Gesetz zu werden.“ (HW 6, 545) Bei Reinhold wird diese These in den Zusammenhang einer strukturellen Analyse gestellt, mit deren Hilfe der Autor die „ägyptischen Mysterien“, die „hebräische Religion“ und die Riten der Freimaurerei einer vergleichenden Betrachtung unterzieht. Die von ihm aufgewiesenen Strukturhomologien sollen dazu dienen, den „Brüdern“ zu verdeutlichen, dass die äußeren Zeichen des Bundes leer bleiben müssen, wenn die „Meister“ die hinter ihnen stehende „Wahrheit“ nicht mehr kennen. Nach Reinholds Analyse war es gerade der Vorzug der ägyptischen „Mysterien“ gewesen, dass deren Priester, die „Epopten“, das heißt „die Schauenden“, die Wahrheit der Natur

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Die Hebräischen Mysterien. Carl Leonhard Reinhold

erkannten und sie durch „Hieroglyphen“ und Zeremonien dem Volk zeichenhaft zu vermitteln wussten.34 Reinhold begründet die von ihm zum Zentrum seiner Darstellung gemachte Strukturhomologie darauf, dass der Name, den Gott sich in der Erscheinung im brennenden Dornbusch gibt: „ich bin, der ich bin, der ist“,35 mit dem des Gottes der ägyptischen Mysterien und auch mit dem der vernunftgemäßen Wahrheit, wie sie nur den Meistern der Freimaurer zugänglich ist, identisch sei. Er bezeichne jeweils die allumfassende Natur. Für diese Identifizierung beruft er sich auf Warburtons Göttliche Sendung Mosis, der wiederum den Historiker Flavius Josephus mit seiner Schrift Über die Ursprünglichkeit des Judentums. Gegen Apion aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert als seinen Gewährsmann anführt: „Gott enthält alles, welches eine von den charakteristischen Bezeichnungen des Demiurgen in den Mysterien war.“36 Diese Berufung auf die Kette der Tradition seit der Antike beweist, dass dem Bild von Moses, das Reinhold zeichnet, ein statischer Wahrheitsbegriff zugrunde liegt, für den die historisch unterschiedlichen Ausdrucksformen nur verschiedene Bezeichnungen ein und desselben sind. Reinholds Modell einer dreifachen Strukturhomologie  – und das ist das Erstaunliche an seiner Darstellung – ist in einem entscheidenden Punkt gerade nicht auf die „hebräischen Mysterien“ übertragbar. Denn Moses habe, das ist Reinholds zentrale These, „die Geheimlehre der Mysterien nicht nur zur Grundlage, sondern auch zur öffentlichen Grundlehre der hebräischen Religion gemacht“.37 Die Religion der Juden, die er aus genauer Kenntnis und mit vielen Zitaten aus den biblischen Quellen darstellt, erweist sich damit sowohl der ägyptischen wie der freimaurerischen Geheimlehre als überlegen, insofern sie den entscheidenden Strukturunterschied zwischen Volksreligion und Wahrheitsschau nicht kennt. So kann Reinhold es den „Vorzug“ der Juden nennen, „daß diese ganze Nation aus lauter Eingeweihten bestanden habe, daß die geheime Religion der Weisen bey ihr gemeine Volksreligion gewesen sei“.38 Moses ist es, der nach der Ansicht Reinholds die entscheidende Tat vollbringt, den einen Gott zum Gegenstand der religiösen Verehrung des ganzen Volkes wie auch zur Grundlage seiner Staatsverfassung zu machen und damit der Wahrheit, wenn auch nur in Form des „blinden Glaubens“,39 zum Durchbruch zu verhelfen: „Die Israeliten hatten ihre Erkenntnis eines einzigen Gottes […] dem Moses allein zu verdanken.“40 Indem er den wahren Gott zum Stammes- und Schutzgott der Juden macht, wird Jehovah „in eigener Person ihr Gesetzgeber“ und damit „die Hebräer zum priesterlichen Königreiche und zum heiligen Volke“.41 Diese im Kontext der Zeit außerordentlich positive Charakteristik der Juden übernimmt aus der Thora die biblische Formel, mit der Gott die Juden zum „Goj Kadosch“, zum



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„heiligen Volk“ bestimmt.42 Schon die Tatsache, dass Reinhold seinen positiven Befund mit der „Achtung“ begründen zu müssen glaubt, „die ich der Wahrheit sowohl als dem mosaischen Gottesdienste schuldig bin“, verweist auf die Ausnahmestellung seines Urteils, das auf einer genauen Kenntnis der Quellen beruht und auf eine geheime Sympathie mit dem Volk Israel schließen lässt.43 „Das verworfenste Volk der Erde“. Friedrich Schiller Eine größere Öffentlichkeit gewinnt Reinholds esoterische Schrift durch Schillers im Jahr 1789 in Jena am Beginn seiner Tätigkeit als Professor der Universalgeschichte gehaltene und ein Jahr später in seiner Zeitschrift Thalia veröffentlichte Vorlesung Die Sendung Moses.44 In der Tat übernimmt der Autor, wie er in einer Note am Ende seines Textes eingesteht, „verschiedene der hier zum Grund gelegten Ideen und Daten“ aus der zwei Jahr zuvor erschienenen Schrift seines Kollegen, der bereits seit 1787 als Professor für Philosophie in Jena tätig war. (NA 17.1, 397) Das trifft nicht nur auf die grundlegende These zu, der Monotheismus sei eine Übertragung der Geheimnisse der ägyptischen Mysterien auf die jüdische Volks­ religion, sondern auch auf viele Details, etwa die Ausführungen zum Namen Gottes.45 Für seine Kenntnisse beruft sich Schiller – das deutet schon der Titel seiner Vorlesung an – ähnlich wie Reinhold auf Warburtons Göttliche Sendung Mosis. Bei ihm ist jedoch nicht mehr wie bei Warburton von einer „göttlichen Sendung“ die Rede. Moses erscheint vielmehr wie bei Reinhold als aufgeklärter Staatsmann, der die Resultate der ägyptischen Geheimwissenschaften öffentlich gemacht und in die soziale Praxis umgesetzt hat. „Moses ist der erste, der es wagt, dieses geheim gehaltene Resultat der Mysterien nicht nur laut, sondern sogar zur Grundlage eines Staates zu machen.“ (NA 17.1, 396) Damit scheint Schiller nichts anderes zu sagen als das, was vor ihm schon Reinhold behauptet hatte. Allerdings sagt er es öffentlich und macht es durch seine Publikation in der Thalia einer größeren Leserschaft bekannt. Dennoch ist die Tendenz seiner Vorlesung der „Achtung“ für das Judentum, die sich in den Hebräischen Mysterien ausspricht, diametral entgegengesetzt. Während der Historiker Schiller Moses zum ersten wahren Gesetzgeber der Geschichte stilisiert, vernichtet er die Juden als Volk gesellschaftlich und moralisch. Er spricht von ihrer „Unwürdigkeit und Verworfenheit“ (NA 17.1, 377) und nennt sie einen „tief verachteten Sklavenpöbel“ (NA 17.1, 381). Sie seien während der langen Jahre ihres ägyptischen Aufenthalts „in dem engsten Raume“ zusammengedrängt gewesen und daher seien „höchste Unreinlichkeit und ansteckende Seuchen“ bei ihnen ende-

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„Das verworfenste Volk der Erde“. Friedrich Schiller

misch. Unter Berufung auf antike Quellen, die er von Reinhold übernimmt, unter anderen Manetho, Diodor von Sizilien und Tacitus, behauptet er, dass der „Aussatz“ bei ihnen „eine erbliche Stammesconstitution“ gewesen sei. (NA 17.1, 379) Tendenziell argumentiert er also ähnlich wie zwei Jahre vor ihm Herder, wenn er Moses positiv als großen Gesetzgeber herausstellt und ihm gegenüber das Volk der Juden herabwürdigt. Diese Vorurteile verdichtet Schiller in einem Satz, der im absoluten Kontrast zu Reinholds Erwähnung des ‚heiligen Volks‘ die neuzeitlichen antisemitischen Stereotype bis hin zum Tiervergleich zusammenfasst: „Das roheste, das bößartigste, das verworfenste Volk der Erde, durch eine 300jährige Vernachlässigung verwildert, durch einen so langen knechtischen Druck verzagt gemacht und erbittert, durch eine erblich auf ihm haftende Infamie vor sich selbst erniedrigt, entnervt und gelähmt zu allen heroischen Entschlüßen; durch eine solange anhaltende Dummheit endlich fast bis zum Thier herunter gestoßen.“ (NA 17.1, 380)46 Dieser Anakoluth, den Schiller als Antwort auf die Frage formuliert: „Was hat die Unmenschlichkeit der Ägypter im Verlauf einiger Jahrhunderte aus dem Volk der Hebräer endlich gemacht?“, häuft alle negativen Eigenschaften auf, die man einem Volk nur zuschreiben kann, um es endlich durch den Tiervergleich aus dem Kreis der vernünftigen Menschheit auszuschließen.47 Dabei ist nicht zu übersehen, dass diese Charakterisierung sich auf die Vorurteile gründet, die das Resultat der zeitgenössischen Ghettoisierung der Juden in Europa waren. Das aber könnte dem Leser auch den Schluss nahelegen: Was die Ägypter im Laufe von Jahrhunderten dem „Volk der Hebräer“ angetan haben, geschieht auch heute noch, weshalb dessen Verderbtheit auch der „Unmenschlichkeit“ der zeitgenössischen Europäer zuzuschreiben sei. Aber nicht nur die Verworfenheit der Juden als Volk wird von Schiller beschworen, sondern auch die Gefahr, die von ihnen für das ‚Wirtsvolk‘ ausgeht. Die Feindschaft der Ägypter gegen sie begründet er mit ihrer eigenen Illoyalität: „Eine solche abgesonderte Menschenmenge im Herzen des Reichs, durch ihre nomadische Lebensart müssig, die unter sich sehr genau zusammenhielt, mit dem Staat aber gar kein Interesse gemein hatte, konnte bey einem feindlichen Einfall gefährlich werden“. (NA 17.1, 378) Hier wird die soziale und kulturelle Eigenart der Juden selbst als Ursache des Antijudaismus der Mehrheitsgesellschaft identifiziert. Damit führt Schiller ein neues, für den modernen Antisemitismus charakteristisches Argument in die Diskussion ein, das erst im Kontext des entstehenden Nationalismus der Neuzeit sein volles Gewicht bekommen wird. Was Herder einige Jahre zuvor noch in die Metapher der „parasitische[n] Pflanze“ gekleidet hatte, wird von dem ‚Historiker‘ Schiller in seiner vollen politischen Tragweite ins Spiel gebracht. Auf dieselben historischen Dokumente und Materialien wie Reinhold



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sich beziehend, kommt Schiller zu einem völlig entgegengesetzten Ergebnis. Er ersetzt das dreischichtige Modell einer Strukturhomologie zwischen ägyptischen, hebräischen und freimaurerischen „Mysterien“, das im Grunde unhistorisch ist, durch die Annahme einer gradlinigen Entwicklung im Sinne der Aufklärung: Geschichte sei die Geschichte der immer klarer und immer weiter sich verbreitenden Vernunftwahrheit. Für Schiller schreitet die Erkenntnis in unendlichem Progress von den ägyptischen Mysterienpriestern, den Epopten, über Moses und die Juden und das Christentum schließlich bis hin zur philosophischen Aufklärung fort. Diese Entwicklung fasst er in dem Satz zusammen: „Ja in einem gewissen Sinne ist es unwiderleglich wahr, daß wir der mosaischen Religion einen großen Theil der Aufklärung danken, deren wir uns heutiges Tags erfreuen.“ (NA 17.1, 377) Der Fortschritt der Erkenntnis ist allerdings nur einer ihrer Verbreitung, ihr Inhalt bleibt in Schillers Sicht von der Antike bis in die Gegenwart identisch. Denn schon den ägyptischen Mysterien habe die Erkenntnis der „Einheit Gottes“ zugrunde gelegen. „Die Epopten erkannten eine einzige höchste Ursache aller Dinge, eine Urkraft der Natur, das Wesen aller Wesen, welches einerley war mit dem Demiurgos der griechischen Weisen.“ (NA 17.1, 385) Dies sei auch der Inhalt der Verkündigung des Monotheismus durch Moses gewesen, der ihn dem Volk allerdings nur auf „fabelhafte Weise“, durch die Hieroglyphen und Zeremonien, die er aus den ägyptischen Mysterien kannte, habe vermitteln können. Aber durch diesen „Kanal“ sei die Wahrheit an das christliche Abendland weitergegeben worden und in der Aufklärung schließlich öffentlich zutage getreten. Deshalb kann Schiller die Juden „als ein unreines und gemeines Gefäß“ bezeichnen, „worinn aber etwas sehr kostbares aufbewahret worden“. (NA 17.1, 377) Das synkretistische Glaubensbekenntnis, das Schiller den ägyptischen und griechischen Weisen gleichermaßen zuschreibt, definiert mit seinen drei Bestimmungen: „Ursache aller Dinge“, „Urkraft der Natur“, „Wesen aller Wesen“, den apersonalen Begriff eines Vernunftgottes, wie er in der Philosophie und Literatur der Zeit üblich war. (NA 17.1, 385) In diesem Kontext hatte die christliche Botschaft von einem durch sein Leiden die Welt erlösenden Messias ihre öffentliche Wirkkraft eingebüßt. So bezeichnet der schillersche Text auf das genaueste die Wasserscheide, an der in Westeuropa philosophische, das heißt, vor allem anthropologische Wertsetzungen das religiöse Weltbild verdrängen. Daher die Ambivalenz, mit der die jüdische Tradition in diesem aufklärerischen Denken präsent ist. Sie kann nicht mehr als religiöses Phänomen wahrgenommen werden, weil die Religion insgesamt ihr Weltdeutungspotential zugunsten der Philosophie eingebüßt hat, andererseits kann der Monotheismus der Hebräer jedoch als Vorläufer der Auffassung von dem einen ‚Vernunftgott‘ in Anspruch genommen werden.

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„Das verworfenste Volk der Erde“. Friedrich Schiller

Die radikale und im Vergleich mit seiner Quelle, Reinholds Hebräischen Mysterien, auffällige Herabwürdigung des jüdischen Volkes durch Schiller ist einerseits den gängigen Vorurteilen seiner Zeit geschuldet, und es spricht nicht für Schillers kritisches Distanzierungsvermögen als Historiker, dass er ihnen vorbehaltlos folgt. Seine Verdammung der Juden ist jedoch zudem noch durch den Argumentationszusammenhang bedingt, in den er selbst das von seinem Jenenser Kollegen bereit gestellte Material einbringt. Moses erscheint bei Schiller als „große Seele“. Angesichts der Leiden des eigenen Volkes „ergreift er […] die Partei der Unterdrückten“ und fasst den Entschluss: „Ich will dieses Volk erlösen.“ (NA 17.1, 389) Er tut dies, indem er den Juden die Wahrheit verkündigt. Aber da das Volk „auch das Wahre bloß auf eine heidnische Art aufnehmen“ kann, gibt Moses ihm die Wahrheit nicht als Vernunfterkenntnis, sondern nur unter dem Schleier der Mysterien, den er aus Ägypten entlehnt. Dieser Moses als „Erlöser“ seines Volkes, der „seinen wahren Gott auf fabelhafte Art“ verkündigt, ist die ideale Projektionsfigur Schillers, der als Dichter seine politische Wahrheit in eine Ästhetik verkleidet und sie so dem unwissenden Volk nahezubringen sucht. (NA 17.1, 392)48 Schillers Text stammt aus dem Jahr 1789, als im Nachbarland Frankreich die Revolution ausbricht, die sich das Ziel gesetzt hat, den ‚Vernunftstaat‘ als politische Realität zu verwirklichen. In diesem Kontext ist auch Schillers Vorlesung über Moses zu verstehen, deren Bedeutung für ihn selbst und für seine Zeit er dadurch unterstreicht, das er sie entgegen der historischen Abfolge als ersten Text seiner Jenenser Vorlesungen des Sommersemesters 1789 im September 1790 in seiner Zeitschrift Thalia publiziert und zwei Jahre später an die erste Stelle seiner Kleineren prosaischen Schriften rückt.49 Mit Die Sendung Moses legt er einen Selbstverständigungstext vor, in dem er sich am Beispiel des Volksführers der Juden und seiner Befreiungstaten darüber klar zu werden versucht, wie der aufgeklärte Vernunftmensch das von den Pharaonen, den adeligen Alleinherrschern, unterdrückte Volk befreien kann. Um sie dem unmündigen Volk seiner Zeit möglichst gleich zu machen, stellt er die zu befreiende Nation, die Juden, in möglichst schlechtem Licht dar, was seine Herabwürdigung des „Volkes der Hebräer“ erklärt, aber sie nicht rechtfertigt: „Einem so tief verachteten Sclavenpöbel […], einem so lang gedrückten Volke“ muss Moses wieder Selbstachtung und Mut geben. (NA 17.1, 381) Das ist das Dilemma des Vernunftmenschen, der als Revolutionär die von ihm erkannte Wahrheit mit Hilfe des zu dieser Erkenntnis nicht fähigen Volkes politisch durchzusetzen hat: „Von diesem Volk selbst kann er nichts erwarten, und doch kann er ohne dieses Volk nichts ausrichten. Was bleibt ihm also übrig? Ehe er die Befreyung desselben unternimmt, muß er damit anfangen, es dieser Wohlthat fähig zu machen. Er muß es wieder in die Menschenrechte einsetzen, die es entäußert hat.“ (NA 17.1,



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390) Während hier dem Volk selbst die Schuld gegeben wird, seine Grundrechte und damit seine Freiheit aufgegeben zu haben, formuliert Schiller an anderer Stelle deutlicher, aber immer noch unter dem Deckmantel des biblischen Beispiels, es seien die Ägypter, die „kein Bedenken“ trugen, den Juden „die heiligsten Menschenrechte zu entziehen“. (NA 17.1, 380) Diese wiederholten Formulierungen verweisen unmissverständlich auf den aktuellen politischen Kontext, in dem Schillers Text steht, auf die Debatten um die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, die im Sommer 1789 in der Französischen Nationalversammlung stattfanden. Am  26.  August 1789 waren die ‚Menschenrechte‘ in Paris verkündet worden. Aus demselben Grunde, aus dem er die Juden in seinem historischen Paradigma möglichst schlecht macht, wertet er Moses als den Befreier des Volkes nach Möglichkeit auf. Er sei von einem „blutigen Haß gegen die Unterdrücker seiner Nation“, aber auch von einem „feurigen RegentenGeist“ und einem „rastlosen Ehrgeiz“ besessen. „Nichts ist einer großen Seele unerträglicher, als Ungerechtigkeit zu dulden; dazu kommt, daß es sein eigenes Volk ist welches leidet.“ (NA 17.1, 389) Es ist das Dilemma des aufgeklärten Revolutionärs, vor das Schiller Moses hier stellt, und für das er selbst noch keine Lösung weiß. Er deutet sie lediglich an, wenn er von Moses sagt, er habe den Plan gefasst, „seinen wahren Gott auf eine fabelhafte Art zu verkündigen“. (NA 17.1, 392)50 Der Volksbefreier Moses ist also zugleich Künstler, der mit Hilfe der Bilder der ägyptischen Mysterien das unmündige Volk zur Wahrheit und zur Freiheit führt. Diese Aufgabe hatte Schiller den „Künstlern“ schon in dem gleichnamigen Großgedicht zugeschrieben, das nur wenige Monate zuvor entstanden war: Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen, Die alternde Vernunft erfand, Lag im Symbol des Schönen und des Großen Voraus geoffenbart dem kindischen Verstand.51

Vier Jahre später, Schiller hat seinen Enthusiasmus für die Französische Revolution längst eingebüßt und die ihm angetragene Ehrenbürgerwürde zurückgewiesen, wird er die hier nur metaphorisch gelungene Lösung der Frage im Ersten Stück der Horen in die Formel fassen, dass es „die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert“.52 Nach dem „Terreur“, der Schreckensherrschaft der radikalen Jakobiner und dem Wüten der Guillotine, ist die Aufklärung in seinen Augen an ihre Grenzen gekommen. In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen stellt er deshalb dem „Naturstaat“ den „Vernunftstaat“ gegenüber, der so nicht mehr nur positiv gesehen wird, sondern in dem von Schiller konstruierten dialektischen Dreischritt in die Antithese rutscht. Auf diese Weise gelingt es ihm schließlich, den nach kantischem Muster konstruierten Gegensatz von Natur und Ver-

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„Das verworfenste Volk der Erde“. Friedrich Schiller

nunft in der Synthese des „ästhetischen Staats“ aufzuheben. Jetzt ist es die Kontemplation des klassischen Kunstwerks, die meditative Versenkung in die Schönheit der Juno Ludovisi, die dem Betrachter Freiheit und Gleichheit und damit die „heiligen Menschenrechte“ verbürgen soll. Moses als Staatsmann und Künstler, in dieser Verwandlung der biblischen Gestalt kommt die Herausforderung zum Ausdruck, mit der Schiller sich durch die Französische Revolution konfrontiert weiß. Um deren Dimension in ihrer vollen Größe evident zu machen, sieht er, der in der so­zia­len Realität des Alltags kaum Berührung mit Juden hatte,53 sich veranlasst, das „Volk der Hebräer“ in einer bis dahin unerhörten Weise herabzuwürdigen. Diese verächtliche Charakterisierung des Judentums ist offensichtlich von den zeitgenössischen europäischen Juden, die Schiller als Geistesheroen und Freiheitsdenker verehrten, schmerzlich vermerkt worden. In Goethes Gesprächen wird dessen Begegnung mit dem Prager Bankier Simon Edler von Lämel notiert, der ihm gegenüber 1811 in Karlsbad bemerkte: „Der Schiller, Euer Exzellenz! hat uns mit seiner Abhandlung ‚Die Sendung Mosis‘ sehr weh getan.“54 Anders die spätere Rezeption Schillers durch das bildungsbeflissene Judentum. Spätestens seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts galt Schiller  – wofür es zahllose Zeugnisse in Autobiographien und fiktionalen Texten gibt55 – den assimilierten Westjuden wie den zur Assimilation strebenden Ostjuden als der deutschsprachige Dichter, der die von ihnen vertretenen humanistischen Werte am klarsten vertreten habe. Für sie „wurde er zur Leitfigur des jüdischen Aufbruchs in die europäische Moderne“.56 So konnte Gershom Scholem schließlich im 20. Jahrhundert diese Beziehung zum Symbol für das von ihm behauptete Scheitern des „deutsch-jüdischen Gesprächs“ machen: „Die Begegnung mit Friedrich Schiller war für viele Juden realer als die mit den empirischen Deutschen. Hier fanden sie, was sie am glühendsten suchten. […] Er war ein Faktor im Glauben der Juden an die Menschheit. Schiller war der sichtbarste, eindrucksvollste und tönendste Anlaß zu den idealistischen Selbsttäuschungen, zu denen die Beziehung der Juden zu den Deutschen geführt hat.“57 In der Tat, aber auch dieses harsche Urteil sieht nur die eine Seite der Sache, die unerwiderte Liebe der Juden zu dem Freiheitsenthusiasten der Weimarer Klassik. Schillers Judenfeindschaft und deren Gründe bleiben auch bei Scholem ausgespart. Wie denn auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhältnis der Juden zu Schiller diesem Widerspruch bis heute aus dem Weg gegangen ist. Schon ihr erster Vertreter, Ludwig Geiger, der Sohn des Reformrabbiners Abraham Geiger und einflussreiche Goethe-Philologe, hat die Bedeutung Schillers darin sehen wollen, dass „der Dichter des Idealismus […] für die Geknechteten ein Labsal“ gewesen sei. Schiller habe lediglich „einen verächtlichen Seitenblick“ auf die damaligen Juden geworfen. „Wirkliche Verachtung, grund-



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sätzliche Abneigung gegen eine große Glaubensgemeinschaft stand seinem edlen Sinn, seinem reinen Geist fern.“58 Diese Schönfärberei mag von den assimilatorischen Tendenzen Geigers her verständlich und gar funktional sinnvoll sein, von der objektiven Wirkung des schillerschen Textes her betrachtet, stellt sie eine Verharmlosung dar, die durch die germanistische Wissenschaft bis heute weitergetragen wird.59 Israel in der Wüste. Johann Wolfgang Goethe II Goethe hatte 1811 auf die Klage Lämels erwidert, auch er habe früher Vorurteile gegenüber den Juden gehegt. „Erst später, als ich viele geistbegabte, feinfühlige Männer dieses Stammes kennenlernte, gesellte sich Achtung zu der Bewunderung, die ich für das bibelschöpferische Volk hege.“60 Diese „Bewunderung“ lässt er Moses, dem Gründungsvater dieses Volkes, allerdings in seinem 1819 publizierten Aufsatz Israel in der Wüste nicht zuteil werden. Schon deshalb nicht, weil er ihn unter Berufung auf die Bibelkritik seiner Zeit nicht mehr als Autor der Fünf Bücher Mose anerkennt. Auch das zentrale Motiv der Erzählung im Buch Exodus, die Offenbarung JHWHs am Berg Sinai und damit die Konstituierung des Volkes Israel durch Moses, spielt bei ihm keine Rolle. Ausdrücklich statuiert er: „Wir lassen ferner alles, was in der Gegend des Berges vorgegangen, auf sich beruhen.“ (WA  I.7, 171) Das traditionelle Bild von Moses als dem Stifter der monotheistischen Religion und damit den zentralen religiösen und ethischen Gehalt der Thora schließt er so von vorneherein ohne Begründung aus seiner Darstellung aus. Stattdessen macht er Moses zu einem naturrohen, grausamen Krieger und Feldherrn, unfähig, sich sprachlich zu artikulieren, der seine Karriere mit einem „Meuchelmord“ beginnt, der aber vor dem großen Plan, die Feinde seines Volkes zu vernichten und es ins Gelobte Land zu führen, kläglich versagt, so dass er schließlich von seinen nächsten Vertrauten umgebracht wird. Dieses der gesamten biblischen und nachbiblischen Tradition widersprechende Ende ergibt sich folgerichtig aus der Stilisierung der MosesFigur zum Mörder und aufs blutige Kriegshandwerk versessenen Feldherrn. Bei der Einführung des bis dahin unbekannten Motivs der Ermordung des Moses durch seine Nachfolger Josua und Kaleb mag Goethe an den Spruch Jesu gedacht haben, den dieser bei seiner Gefangennahme an Petrus richtet: „Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.“ (Mt 26, 52) Dies, obwohl Goethe die talmudische Legende von der Erhebung des sterbenden Moses in den Himmel kannte, lange bevor er Israel in der Wüste schrieb. Auf sie spielt er in anderen Zusammenhängen in Briefen und literarischen Texten immer wieder an. Konrad Burdach, der alle Erwähnungen des Moses in Goethes Werken und Briefen in seiner Studie Faust

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Israel in der Wüste. Johann Wolfgang Goethe II

und Moses sehr sorgfältig zusammenstellt, hat daraus den durchaus einleuchtenden Schluss gezogen, Goethe habe sich in der Schlussszene seines Faust II von der Moses-Legende inspirieren lassen.61 Umso auffälliger ist es, dass Goethe das bis dahin unbekannte Motiv der Ermordung des Moses durch seine nächsten Vertrauten ohne nähere Begründung in seinen Text einführt.62 Die Vermutung liegt nahe, dass die Erfahrung der nachrevolutionären Zeit in ihn eingegangen ist, in der die französischen Revolutionäre, die sich als die neuen Gesetzgeber des französischen Volkes sahen, Opfer ihres eigenen mörderischen Furors geworden waren. In den Papieren, in denen Goethe 1797 seinen Text ausgearbeitet hat und die aus dem Nachlass herausgegeben wurden, findet sich die „Bemerkung“ über Moses: „Rettung desselben gegen den Vorwurf der Grausamkeit; Vergleichung mit den neuern Franzosen.“ (WA I.7, 320) Moses also ein anderer Robespierre, den seine Gesinnungsgenossen am Ende selbst auf die Guillotine schleppen? Wie dem auch sei, Goethes Abhandlung erweist sich als die endgültige Destruktion der Moses-Figur. Wer Homer als neuen Propheten der Moderne verkündet, muss umso nachdrücklicher Moses als die kulturelle Vorbildfigur der Vergangenheit abwerten. So gesehen, ist die fiktive Vernichtung des Stifters des Monotheismus ein Vatermord, ein Mord an der Vaterfigur der abendländischen Kultur. Was Sigmund Freud in Totem und Tabu in eine prähistorische Zeit verlegt, vollzieht Goethe in Israel in der Wüste in dem historischen Augenblick, in dem in Frankreich, um mit Heinrich Heine zu sprechen, die alte Zeit mit der Guillotine zu Ende gebracht und die Moderne eingeläutet wird. Zugleich wird in Israel in der Wüste die zeitgenössische Diskussion um die Moses-Gestalt auf das genaueste aufgenommen und abgeschlossen. Die Abhandlung argumentiert zunächst im Geist der damals in Mode gekommenen aufklärerischen Bibelkritik. Die von Johann Gottfried Eichhorn verfasste Einleitung in das Alte Testament, die zum ersten Mal die These von den zwei Verfassern der Fünf Bücher Moses, dem Elohisten und dem Jehowisten, aufstellt und damit Moses als Autor der heiligen Schriften auslöscht, war im Jahr 1797 gerade in zweiter Auflage erschienen und von Goethe zusammen mit Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum interessiert zur Kenntnis genommen und parallel gelesen worden.63 Auf dieser Grundlage unterzieht er die biblische Erzählung von der vierzigjährigen Wanderschaft der Juden durch die Wüste einer rationalen, auf die damaligen geographischen Kenntnisse über die Halbinsel Sinai sich stützenden Überprüfung und kommt zu dem Ergebnis, dass die Juden bei ihrem Zug ins Gelobte Land höchstens zwei Jahre gebraucht haben können, wobei er die in der Bibel erwähnten vierzig Jahre zu Recht als symbolische Zahl interpretiert.64 Dabei fällt auf, dass Goethe, über die zeitgenössische Bibelkritik hinausgehend, ausdrücklich die Bedeutung des „Ceremonialgesetzes“ für den



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Vollzug und die Tradierung des Judentums leugnet, wie sie von Moses Mendelssohn in Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum 1783 herausgestellt worden war. Gegenüber dem Ersten Buch Mose, dessen Erzählungen Goethe als Zeugnis der Herrschaft des religiösen Glaubens gelten lässt, erscheinen ihm „die vier letzten Bücher Mosis“ als „unglücklich, ja sonderbar redigiert“. (WA I.7, 156 f.) „Den Gang der Geschichte sehen wir überall gehemmt durch eingeschaltete zahllose Gesetze“. Diese beschreibt er im Folgenden mit einem Anklang an den von Mendelssohn gebrauchten terminus technicus „Ceremonialgesetz“ als „das religiose CeremonienGepäck“. (WA I.7, 158) In der Gegenüberstellung mit dem Buch Genesis wertet er die späteren Bücher als Zeugnis des Unglaubens ab. Für ihn sind „alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, […] glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube […] einen kümmerlichen Sieg behauptet, verschwinden vor der Nachwelt“. (WA I.7, 157) So wird das Judentum mit den Worten Mendelssohns, seines in der kulturellen Sphäre damals maßgeblichen Vertreters, von vornherein als Ausdruck des Unglaubens verworfen. Damit reproduziert Goethe die paulinische, das heißt die christliche Auffassung, religiöser Glaube sei der subjektive Glaube an einen transzendenten Gott, und diskreditiert die Form jüdischer Religiosität, die in der Erfüllung der göttlichen Gebote, der Zeremonialgesetze, durch das jüdische Volk besteht. Schließlich übernimmt Goethe, ohne dies näher zu belegen, die abwertenden Urteile über das Volk der Juden, die Schiller sieben Jahre zuvor in seiner Vorlesung vorgetragen hatte. Auch für ihn sind die Juden Diebe, die sich auf hinterlistige Weise des goldenen und silbernen Geschirrs der Ägypter bemächtigt haben. Sie sind Mörder, welche die „Erstgeborenen“ der Ägypter getötet haben. Goethe hebt diese Tat durch einen historischen Vergleich hervor, indem er sie „eine umgekehrte sicilianische Vesper“ nennt: „der Fremde ermordet den Einheimischen, der Gast den Wirt“. (WA I.7, 163) Damit widerspricht er dem biblischen Bericht, in dem es Gott selber ist, der die „Erstgeburt“ der Ägypter schlägt, während die Juden das Pessahfest feiern. (Ex 12) Endlich erweisen sich die Ägypter den Juden dadurch als moralisch überlegen, dass sie die Mörder ihrer Kinder nicht bestrafen, sondern nur „ausstoßen“. Als das Volk Israel dann in den Sinai auswandert, wird es als „Heuschrecken-Wolke“ (WA I.7, 166 f.) charakterisiert, die alles, was sie auf ihrem Weg vorfindet, auffrisst. Unterschwellig tut hier wie bei Schiller das antijüdische Stereotyp von dem seine Gastvölker vernichtenden Judentum seine Wirkung. Während Schiller jedoch mit seiner Herabwürdigung des jüdischen Volkes zugleich den Zweck verfolgt, Moses als dessen Herrscher und Gesetzgeber umso strahlender erscheinen zu lassen, kommt es in Israel in der Wüste zu einer harschen Aburteilung des Menschen und Volkshelden

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Israel in der Wüste. Johann Wolfgang Goethe II

Moses. Für Goethe ist er nicht mehr der weise Ägypter, sondern ein echtes Kind seines Stammes. „Aus dem gewaltsamen Stamme Levi tritt ein gewaltsamer Mann hervor.“ (WA I.7, 160) Wie sein affektgeladener Totschlag an dem ägyptischen Aufseher beweise, sei er „ein abgesonderter, verschlossener Hirte“ gewesen, der seine Laufbahn mit einem „patriotischen Meuchelmord“ begann.65 Er sei „nicht zum Denken und Überlegen geboren“, „ungeschickt zu jeder Unterhaltung“ und nur darauf aus, „des Volkes Retter zu werden“. (WA I.7, 160 ff.) Aber Moses erweist sich seiner Berufung zum Volksherrscher als unwürdig. Er verfehlt seine Mission, die Juden zu zivilisieren, völlig. Sie bleiben auch unter seiner Führung ihrem natürlichen Charakter treu. Goethe schildert sie als „entschlossenen, kühnen Haufen, der sich bei dem Wagestück des allgemeinen Mordes schon vorgeübt und den wir in der Folge an seinen grausamen Taten wieder zu erkennen und zu bezeichnen nicht verfehlen dürfen“. (WA  I.7, 163) Darüber hinaus habe Moses aber auch in dem versagt, was nach Goethes Analyse seine eigentliche Berufung gewesen sei, denn er habe „noch weniger Feldherren- als Regententalente“ gehabt. „Schon während des Streites gegen die Amalekiter begab er sich auf den Berg, um zu beten.[…] Unter diesen Verhandlungen verschwand Moses selbst, wie Aaron verschwunden war, und wir müßten uns sehr irren, wenn nicht Josua und Kaleb die seit einigen Jahren ertragene Regentschaft eines beschränkten Mannes zu endigen und ihn so vielen Unglücklichen, die er vorausgeschickt, nachzusenden für gut gefunden hätten, um der Sache ein Ende zu machen.“ (WA I.7, 167–170) Ein Moses, der sein Volk in einen Mörderhaufen verwandelt hat, es in seiner Bedrängnis im Stich lässt und dann selbst seinen Landsleuten zum Opfer fällt, mit dieser These nimmt Goethe Freuds Theorie von der Ermordung des Übervaters durch seine Söhne vorweg, mit der dieser nicht nur in Totem und Tabu den Ursprung aller Kultur erklärt, sondern in Der Mann Moses auch die Entstehung und Tradierung des mosaischen Gesetzes aus derselben traumatischen Erfahrung ableitet. Im Kontext der Argumentation Goethes ist sie aber nicht dazu angetan, die kontinuierliche Beachtung einer strengen monotheistischen Ethik plausibel zu machen wie bei Freud, sondern sie dient dazu, Moses als einen der Gründerväter der westlichen Kultur zu vernichten.66 Offensichtlich war sich der Autor der Radikalität seiner Thesen bewusst. Er veröffentlichte sie nicht in einer dem allgemeinen Lesepublikum zugänglichen Zeitschrift, den Horen, wie ursprünglich geplant,67 sondern versteckte sie gleichsam mehr als zwanzig Jahre nach ihrer Konzeption unter den ganz anders gearteten Prosatexten, die dem „besseren Verständniß“ seiner großen Lyriksammlung, des West-östlichen Divan, dienen sollten. In diesem Kontext konnte er seine radikale Religionskritik öffentlich aussprechen und sie zugleich vor den ‚Rechtgläubigen‘ seiner Zeit verbergen. Sie ist



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bis heute verborgen geblieben. Hieran hat, wie im Falle Schillers, auch die germanistische Wissenschaft nichts geändert.68 Eine der Tendenzen von Goethes radikaler Entmythologisierung des biblischen Textes ist es, den zürnenden Gott, der den ungehorsamen Israeliten am Berg Sinai entgegentritt, aus der Welt zu schaffen. Stattdessen plädiert er für den Gott Abrahams, wie er im Ersten Buch Mose als „ein reineres patriarchalisches Wesen“ in Erscheinung trete und wie er auch in den nachfolgenden Büchern Josua und Richter wiederkehre. Hingegen habe ihn, behauptet Goethe, „der Gott Mosis eine Zeitlang mit Grauen und Abscheu erfüllt“. „Uns hierüber aufzuklären sprechen wir aus: wie der Mann so auch sein Gott.“ (WA I.7, 180) In dieser knappen Sentenz, deren rhetorische Einleitung jegliche Begründung des Gesagten ablehnt, verbirgt Goethe seine Leugnung eines transzendenten Gottes und die endgültige Anthropologisierung aller Religion eher, als dass er sie ausspricht. In der unpublizierten Vorarbeit von 1797 ist sein Ausfall „gegen einen in allen Augenblick [sic] erzürnten, gegenwärtig und künftig rächenden Gott“ noch deutlicher: „Er verschwindet vor dem ruhigen Blick des Forschers, und es bleiben uns nur Menschen zurück, die ihre roheste Natur hinter so einer ehrwürdigen Maske verborgen haben.“ (WA I.7, 329) Diese Gegenüberstellung eines patriarchalischen, liebenden Gottes mit einem mosaischen, zürnenden Rächergott reproduziert unbewusst das Stereotyp, in dem das Christentum als Religion der Liebe sich vom Judentum zu unterscheiden sucht. Moses, „der Mann der That“ (WA I.7, 181), der nach seinem eigenen Bilde einen grausamen, mörderischen Gott geschaffen hat, das ist nicht nur die Umkehrung des biblischen Schöpfungsmythos, sondern auch die endgültige Vernichtung des biblischen Monotheismus. Im Grunde ist hier das, was Ludwig Feuerbach mehr als zwanzig Jahre später in seiner Religionskritik ausführen sollte, vorweggenommen: die Religion als Projektion der Hoffnungen und Wünsche, ja des individuellen Charakters des Menschen.69 Um das zu verbergen, leitet Goethe am Schluss eine überraschende Wende ein, die alles zuvor Gesagte auszustreichen scheint. Er unternimmt die Rettung des Mannes Moses von seinem Gott her, den er zuvor selber als Gegenentwurf zur mosaischen Gottesgestalt definiert hat. Eine Schlusswendung, die sich der ambivalenten Haltung Goethes dem Judentum gegenüber verdankt, deren Zynismus aber nicht leicht zu überbieten ist und von ihm durch die Formulierung des abschließenden Satzes der Motivkette noch unterstrichen wird: „Und so gestehen wir gern, daß uns die Persönlichkeit Mosis, von dem ersten Meuchelmord an, durch alle Grausamkeiten durch, bis zum Verschwinden, ein höchst bedeutendes und würdiges Bild gibt, von einem Manne, der durch seine Natur zum Größten getrieben ist.“ (WA I.7, 181) Nicht nur lässt Goethe Moses ermorden, am Ende verdeckt er auch noch die biblische Gestalt durch die Zeichnung ihres „Charakters“ und ihrer

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Israel in der Wüste. Johann Wolfgang Goethe II

„Persönlichkeit“ auf der Grundlage einer rein fiktiven, von ihm selbst entworfenen Gottesgestalt. Damit hat er das Werk Schillers vollendet.70 Sein Israel in der Wüste ist die endgültige Vernichtung des biblischen Moses und der auf ihm gegründeten kulturellen Tradition des vom Judentum inaugurierten Monotheismus. Goethe verfolgt mit seiner Invektive gegen Moses und die Juden allerdings keine generell antisemitische Tendenz. Dem widersprechen schon die zahlreichen bewundernden Äußerungen über einzelne Juden oder über das „Volk der Hebräer“ in seinen Texten, etwa die im Ersten Buch von Dichtung und Wahrheit aus dem Jahr 1811, in dem er seine unerfreulichen Kindheitseindrücke bei einem Besuch im Frankfurter Ghetto schildert, dann aber fortfährt: „Indessen blieben sie [die Juden] doch das auserwählte Volk Gottes, und gingen, wie es nun mochte gekommen sein, zum Andenken der ältesten Zeiten umher. Außerdem waren sie ja auch Menschen, thätig, gefällig, und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren Gebräuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht versagen […].“ (WA I.26, 236) Immer wieder bleibt sein Urteil allerdings ambivalent, so auch in seinem Spätwerk, dem Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, in dem zu Beginn des Zweiten Buches die Grundlagen der „Pädagogischen Provinz“ anhand von „Bildern“ aus der „israelitischen Geschichte“ erklärt werden. Überraschenderweise wird hier die „israelitische“ zusammen mit der griechischen zu den „heidnischen Religionen“ gezählt, dies im Gegensatz zur christlichen; unter den „ethnischen“ Religionen aber wird der jüdischen der Vorzug „vor dem Richterstuhl des Gottes der Völker“ gegeben.71 „Das israelitische Volk hat niemals viel getaugt, […] aber an Selbständigkeit, Festigkeit, Tapferkeit, und wenn alles das nicht mehr gilt, an Zähheit sucht es seines Gleichen. Es ist das beharrlichste Volk der Erde, es ist, es war, es wird sein, um den Namen Jehovah durch alle Zeiten zu verherrlichen.“ (WA I.24, 248) Die Äußerungen Goethes zu Juden und zum Judentum ergeben demnach ein durchaus differenziertes Bild. Deshalb wäre es verfehlt, seinen Text Israel in der Wüste unter der unhistorischen Fragestellung zu beurteilen, ob Goethe Antisemit war. Vielmehr ist die objektive Wirkung seiner Texte zu prüfen, die sich unter anderem daran ablesen lässt, dass die meisten Autoren Israel in der Wüste mit Schweigen übergehen, während die antisemitischen Ideologen des 20. Jahrhunderts die judenfeindlichen Äußerungen Goethes durchaus wahrgenommen und für ihre Zwecke instrumentalisiert haben. So deren Vordenker Houston Stewart Chamberlain, der in seiner Biographie Goethe zehn Seiten einer wüsten antisemitischen Diatribe widmet,72 die bei Erwähnung von Goethes ablehnender Stellungnahme zu Moses Mendelssohn in den Sätzen gipfelt: „Heute, wo die Vernichtung der christlichen Religion die nicht mehr geleugnete Absicht der uns beherrschenden Juden, Juden-



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bastarde und Judengenossen ist, wäre es wohl an der Zeit, die Bedeutung von Goethe’s Erkenntnis, Religion bilde den Kern der Kultur, endlich zu erfassen.“ Es ist von höchst ironischer Paradoxie, dass Goethe, der mit seinen Ausfällen gegen das Judentum vor allem auch den christlichen Monotheismus treffen wollte, hier als Verteidiger der abendländischen Religion angerufen wird. Und Chamberlain fährt fort: „Hier, bei der Ablehnung des Judentums, bei der strengen Verweigerung, diesem irgend einen Anteil an unserer germanischen Kultur zu vergönnen, findet der allgemeine Grundsatz seinen schärfsten Ausdruck, nicht weil diese jüdische Gefahr die einzige ist, sondern weil sie uns am unmittelbarsten bedroht, indem der Todfeind, wie ein innerer Parasit, uns im Busen nistet.“73 Bei Chamberlain ist das antijüdische Stereotyp des seine Gastvölker vernichtenden Judentums, das sich schon bei Herder, aber auch bei Schiller und Goethe findet, in den Kontext eines aggressiven Rassenantisemitismus versetzt: „In aller Kürze sei hinzugefügt: die Rassenfrage war zu Goethe’s Zeiten für die Erörterung nicht reif […]. Umso mehr hat es darum zu bedeuten, wenn Goethe, ohne weiter nach Theorien zu fragen […] die Überzeugung äussert, zwischen dem Juden und dem echten Europäer bestehe sicher gar keine Spur von Blutsverwandtschaft.“74 Dieser Chamberlain ist der Stichwortgeber für die nationalsozialistischen Elaborate eines Adolf Bartels, Hans Koch und anderer geworden. Nicht gedacht soll ihrer werden. Moses in der bildenden Kunst. Moritz Daniel Oppenheim Ein Jahr bevor der siebzigjährige Goethe im Anhang zu seinem West-östlichen Divan Moses als Schöpfer des jüdischen Volkes und als Begründer der monotheistischen Religion im literarischen Gedächtnis der Deutschen auszulöschen versucht, setzt ihn ein Achtzehnjähriger großformatig ins Bild. Moritz Daniel Oppenheim, 1800 in Hanau geboren, vollendet 1818 noch als Student der Münchener Malerakademie seine erste eigenständige Bildkomposition, eine lebensgroße Darstellung des Moses. Das 197 mal 130 cm messende Ölgemälde zeigt den Anführer der Juden auf einem Stein sitzend und mit der rechten Hand auf die Gesetzestafeln zeigend, die er auf das linke angewinkelte Bein stützt. Die mächtige Gestalt ist über einer weißen Tunica in eine purpurne Toga gekleidet, die von einem goldenen Ziersaum eingefasst ist. Moses trägt so das Kleid eines römischen Triumphators der Kaiserzeit. Damit bringt der junge Maler seine Absicht zum Ausdruck, der Gestalt die Würde und Autorität eines antiken Helden zu verleihen. An dieser eigenwilligen Interpretation nahm schon 1818 der Vorstand der Münchener Akademie Anstoß. Wie Oppenheim in seinen Erinnerungen festhält, wurde seine Bilderfindung von Professor Langer, dem Leiter der Akademie,

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Moses in der bildenden Kunst. Moritz Daniel Oppenheim

Abb. 13: Moritz Daniel Oppenheim: Moses mit den Gesetzestafeln. 1817/18. Jüdisches Museum Frankfurt.

„mißbilligt […] er frug mich, warum ich dies so und nicht anders mache? Ich antwortete, es geschehe, weil ich mir Moses so vorstelle; worauf Langer empfindlich antwortete: ‚Nun, wenn Sie es besser wissen!‘ und ging.“75 Für einen bairischen Akademieprofessor war die Stilisierung des jüdischen Moses zu einer heldenhaften Führerfigur offensichtlich eine Provokation. Auch sonst bricht das Gemälde des jungen Oppenheim mit den bildnerischen Konventionen der Moses-Darstellung. Der Prophet, der gewöhnlich als alter Mann mit weißem Bart und Haupthaar dargestellt wird, – die Bibel lässt ihn am Sinai weit über 80 Jahre alt sein76 – erscheint hier als kraftvol-



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Abb. 14: Moritz Daniel Oppenheim: Selbstbildnis, um 1819. The Israel Museum Jerusalem.

ler Held im besten Mannesalter mit braunem Haar und Bart. Seine streng blickenden, dunklen Augen sind direkt auf den Betrachter gerichtet. Von seinem Kopf gehen die im Buch Exodus erwähnten Strahlen aus, die den von der Gegenwart Gottes herrührenden Glanz seines Angesichts repräsentieren.77 Vor seinen Füßen lehnt sein Wanderstab an einem Felsen. Im Hintergrund sind vor einer angedeuteten Wüstenlandschaft die Zelte des Volkes Israel zu sehen. Moses soll also – das ist die Intention des Malers, die im extremen Gegensatz zu Goethes Darstellung von dessen Wirken steht – in seiner Rolle als Anführer des Zugs der Israeliten durch die Wüste und zugleich als Verkünder der Offenbarung JHWHs gesehen werden. Mit der deiktischen Geste seiner rechten Hand weist er auf die Schrifttafeln hin, auf denen für den Betrachter deutlich lesbar die Zehn Gebote in hebräischer Schrift aufgezeichnet sind. Sein Zeigefinger deutet auf das zweite Gebot: „Lo jihje-lekha elohim acherim al-panaij.“ – „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ (Ex 20,3) In der Interpretation Oppenheims widerspricht das Bild des Moses damit explizit dem herrschenden Zeitgeist, der die homerischen Götter zu neuem Leben erwecken will. Mit diesem seinem ersten selbständig entworfenen Bild setzt der junge Oppenheim ein Zeichen. Wie Moses Mendelssohn vor ihm das Judentum in den philosophischen Diskurs eingeführt hat78 und wenige Jahre nach

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ihm Heinrich Heine in seinem Rabbi von Bacherach zum ersten Mal einen authentischen jüdischen Gehalt in einem deutschsprachigen literarischen Werk gestalten wird,79 so stellt Oppenheim als erster einen ‚jüdischen‘ Moses im damals repräsentativen bildnerischen Medium, dem Ölbild, dar und vollzieht damit „die Entdeckung des jüdischen Selbstbewußtseins in der Kunst“80 in einer Zeit, als in der deutschen Mehrheitskultur die Gestalt des legendären Begründers des Judentums verdrängt wird. Der lebensgeschichtliche Hintergrund, vor dem das geschieht, lässt sich an einem „Selbstbildnis“ ablesen, das der junge Maler ein Jahr später zeichnet. In ihm charakterisiert er sich als ‚Bocher‘, als Studenten einer Jeshiva, mit Peijes und Kippa und in sich gekehrtem Blick. Wie Moses Mendelssohn wird Oppenheim die in seiner Jugend erfahrene traditionelle jüdische Sozialisation, das ‚Lernen‘ des Gesetzes, auch in seinem späteren Leben nicht verleugnen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat er sich vor allem als Porträtist der weit verzweigten Familie Rothschild einen Namen gemacht,81 zudem Goethe, den er persönlich in Weimar kennengelernt hatte,82 und dessen literarische Figuren mehrfach zum Gegenstand von Gemälden und Illustrationen gewählt.83 Doch auch in dieser Zeit kommt er in seiner Bildproduktion immer wieder auf Motive aus dem Leben des Moses zurück.84 Weitere zahlreiche Gemälde mit biblischen Motiven zeugen von seinem anhaltenden Interesse für die Lebenswelt orthodoxer Juden, die er schließlich mit seinen „Szenen aus dem altjüdischen Leben“ (seit 1833, Gesamtausgabe 1882) auch in populären Medien bekannt gemacht hat.85 Kulturelles Gedächtnis des Judentums und europäische Öffentlichkeit Moses und Homer – diese Gegenüberstellung lässt sich auch als Frage formulieren: Warum haben die deutschen Bildungseliten im 19. und 20. Jahrhundert vor allem die Ilias und die Odyssee gelesen und nicht die Bibel? Und weiter: Welche Auswirkung nicht nur auf die Kulturgeschichte, sondern auch auf die Realgeschichte hat es gehabt, dass Homer, der legendäre Autor des Epos vom Trojanischen Krieg und seinen Folgen, zur kanonischen Lektüre an Schulen und Hochschulen wurde und nicht Moses, der ebenso legendäre ‚Verfasser‘ der Thora? Zusammenfassend lässt sich darauf antworten, dass in der Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800 die Darstellungen des Moses, so sie nicht von einem jüdischen Autor oder Künstler stammen, zunehmend negativer Art sind. Sie sind dem schwindenden öffentlichen Geltungsanspruch des Monotheismus geschuldet, als dessen ‚Erfinder‘ Moses bis dahin galt, und gleichzeitig dem neuen gesellschaftlichen Leitdiskurs, durch den in



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Deutschland Homer als der Gründungsvater der abendländischen Dichtung etabliert wird. Sie dienen also im Grunde der Destruktion der traditionellen Religion. Goethe vollendet diesen Prozess, indem er Moses als einen unbegabten und erfolglosen Kriegshelden darstellt und gleichzeitig den „heiligen Homer“ zum Künder der neuen frohen Botschaft und zum Verfasser der in der Neuzeit geltenden kanonischen Schriften macht. In der analysierten historischen Konstellation äußern sich die Tiefenstrukturen der modernen westlichen Kultur schon in ihrem Ursprung. In dem, was mit der jüdischen Tradition ausgeschlossen wird, ist zu erahnen, was unserer klassischen Kultur durch diese Abwehrhaltung gegenüber dem Judentum von Anfang an entgangen ist. Wie die Verdrängung von Moses als kultureller Leitfigur durch Homer und damit des Monotheismus durch die ‚schöne Literatur‘ in der Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800 belegt, ist die Ästhetik der deutschen Klassik, die ja mehr ist als nur eine Ästhetik, nämlich ein neuer politischer und sozialer Leitdiskurs, auf einem Ausschluss der jüdischen Tradition gegründet, die als Ursprung der nicht mehr als zeitgemäß empfundenen christlichen Religion verstanden wird. Man mag das nicht Antisemitismus nennen, obwohl auch solche Motive schon mit unterlaufen. Wohl aber Antijudaismus. Es ist der kalte Ausschluss des Fremdartigen, als das die Religion und die Lebensweise der Juden, kaum haben sie sich der westlichen Kultur gegenüber geöffnet, empfunden wird. Worin unterscheidet sich das aus dem Bewusstsein der westlich-christlichen Öffentlichkeit verdrängte kulturelle Gedächtnis Israels von dem anderer Völker und Kulturen? Das traditionelle Judentum hat von Anfang an seine eigene Geschichte enträumlicht. Was damit gemeint ist, lässt sich an einem Vergleich des griechischen und des jüdischen Ursprungsmythos ablesen. Die Erzählung, auf die sich alle Geschichte der Griechen und damit ihre gesamte spätere kulturelle Entwicklung gründet, ist die von der Eroberung eines Raumes, konkret der Zerstörung Trojas, und der Rückgewinnung eines Heimatraumes, der Rückkehr des siegreichen Helden Odysseus nach Ithaka, wie sie in Homers Ilias und Odyssee vorliegt. Die Ursprungserzählungen hingegen, mit denen die Geschichte des Volkes Israel einsetzt und auf die seine Identität sich gründet, sind die des Auszugs der Israeliten aus Ägypten und der anschließenden Gesetzgebung am Berge Sinai durch Moses. Dieses die kanonischen Schriften des Judentums begründende Doppelereignis hat zur Folge, dass das Volk Israel sich von Anfang an nicht von einem Raum her definiert, den es erobert oder besetzt hält, sondern im Gegenteil durch den Entzug der irdischen Heimat und durch den Bezug auf das geoffenbarte Gesetz Gottes, die Thora, die ihm – wie Heinrich Heine so treffend wie witzig formuliert hat – zum „portative[n] Vaterland“ wird.86 Demgegenüber ist der neue ästhetische Leitdiskurs, der sich auf Homer beruft, raumorientiert. Das zeigt sich vor allem daran, dass er, obwohl er

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Kulturelles Gedächtnis des Judentums und europäische Öffentlichkeit

sich als eine Theorie der Literatur gibt, das plastische Bild als exemplarisches Medium verherrlicht. Er nimmt damit die Funktion vorweg, die heute die neuen Medien haben. Um ihre Botschaft zu überbringen, um Erkenntnisse zu vermitteln, vertrauen beide vornehmlich auf die Sprache des Bildes. Dadurch stehen sie im genauen Gegensatz zum jüdischen kulturellen Gedächtnis, das auf die Geschichte, ja genauer noch, auf die Geschichte der Schrift bezogen ist. Man könnte auch sagen: Der neue Leitdiskurs der deutschen Klassik widerspricht dem Bilderverbot, wie es im zweiten der Zehn Gebote Gottes formuliert ist. Seine Menschen stehen, wie schon Erich Auerbach in dem berühmten ersten Kapitel seines Buches Mimesis demonstriert hat, als schöne Gestalten in räumlicher Zuordnung zueinander, während die Bibel die in der Weltzeit sich ereignende Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott erzählt.87 Das Angebot ausgeschlagen zu haben, das in der Öffnung der jüdischen Tradition auf die Moderne hin lag, erweist sich, von heute aus gesehen, als ein tragisches Versagen der deutschen wie der europäischen Geschichte. Während das Judentum mit seinen religiösen Gehalten sich im Werk Mendelssohns zum ersten Mal der neuzeitlichen europäischen Geisteswelt zuwandte, hat diese wenige Jahre später in Deutschland im Gefolge der Französischen Revolution ein neues Paradigma gefunden, durch das mit dem Leitwert der Schönheit eine rein anthropologische Kategorie zum höchsten Maßstab menschlichen Lebens erhoben wurde. Aus dieser Ästhetisierung des politischen und sozialen Handelns resultiert der Antijudaismus der deutschen Klassik, dessen durchgängige und unhinterfragte Einmütigkeit und Geschlossenheit nur eine Schlussfolgerung zulässt: Er ist die geradezu panische Abwehr des Anderen, dessen Zugehörigkeit zum Allereigensten er nicht wahrhaben will und zulassen kann. Diesen grundsätzlichen Verdrängungsmechanismus hat selbst noch das jüdische Bildungsbürgertum verkannt, das die deutsche klassische Tradition im 19. Jahrhundert geradezu zur Ersatzreligion erhoben hat.88 Homers Geschichten handeln von Mord, Krieg und Tod. Nicht zufällig resümiert Goethe im zweiten Teil von „Künstlers Morgenlied“ die Patroklie der Ilias mit ihren grausamen Kämpfen um die Leiche des Patroklos. Sein Versuch, ein episches Gedicht im Stile Homers zu schreiben, ist die Achilleis, die von den sportlichen Wettkämpfen und der Opferung der kriegsgefangenen Trojanerinnen und Trojanern zu Ehren des gefallenen Helden Achilles handelt. Die Gesellschaft als mörderischer Kampfplatz – darin erfüllt sich das auf einer Überhöhung des Individuums gegründete Gesellschaftsbild der klassischen Dichtung, das die deutschsprachige Kultur bis weit ins 20. Jahrhundert hinein tradiert hat. „Das hellenisch-europäische Prinzip des Agonalen, der Überwindung durch Leistung, List, Tücke, Gaben, Gewalt, griechisch in der Gestalt der Arena, späteuropäisch in der des Darwinismus



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und des Übermenschen,“ ist, wie Gottfried Benn richtig diagnostiziert, seit der Wiederentdeckung der homerischen Epen als Urtext unserer Kultur zum beherrschenden Prinzip der europäischen Geschichte geworden. „Das Ich trat hervor, trat nieder, kämpfte, dazu brauchte es Mittel, Materie, Macht.“89 Das ist die andere Seite der Aufklärung. Goethe und Schiller und ihre Mitstreiter waren im Gefolge Homers ihre Protagonisten. Die jüdische Überlieferung hingegen war und ist grundsätzlich auf die Überschreitung der Schranke des individuellen Todes und auf das ‚richtige Leben‘ ausgerichtet. Tradition als Überwindung des Todes, was ist darunter zu verstehen? Der individuellen Produktivität als alleinigem Ursprung nicht nur des Kunstwerks, sondern auch der staatlichen Ordnung und des marktwirtschaftlichen Ausgleichs, wie sie die westeuropäische Moderne imaginiert, stellt das Judentum den Versuch entgegen, durch die rituelle Wiederholung seiner Ursprungserfahrung, der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft, und aus der kommentierenden Auslegung des kanonischen, am Berg Sinai geoffenbarten Textes die sozialen Regeln des Zusammenlebens der Menschen abzuleiten und dadurch die Erinnerung an die Möglichkeit einer friedlichen, einer messianischen Gesellschaft lebendig zu erhalten. Wie Moses Mendelssohn betont, verfügt es dadurch über eine „lebendige Form der Schrift“, die von Generation zu Generation weitergegeben werden kann und in der so die Erfahrung aller Früheren den jetzt Lebenden zugänglich ist. „Die ungeschriebenen Gesetze aber, die mündliche Überlieferung, der lebendige Unterricht von Mensch zu Mensch, von Mund ins Herz sollte erklären, erweitern, einschränken, und näher bestimmen, was in dem geschriebenen Gesetze, aus weisen Absichten, und mit weiser Mäßigung unbestimmt geblieben ist.“ (MJ, 114) In der Doppelung von schriftlicher Überlieferung (Thora) und mündlicher Lehre (Talmund und dessen Kommentierung) stellt die jüdische Tradition das genaue Gegenteil zur „Bilderschrift“ dar, die „durch Mißbrauch oder Mißverstand zur Abgötterey führen kann“. (Ebd.) Sie garantiert die Fortsetzung einer lebendigen, im Laufe der Geschichte wandlungsfähigen Religion.

3. ChristusDionysos Hölderlins ‚abendländischer‘ Mythos Hölderlins homerische Welt: „Hymne an den Genius Griechenlands“ Friedrich Hölderlin, dieser Sohn des schwäbischen Pietismus und Student der Theologie in Tübingen, war von früher Jugend an in der Nachfolge der vorangehenden Generation der Klassiker als begeisterter Bewunderer der Griechen wie selbstverständlich in das Studium der antiken Kultur hineingewachsen. Schon als Schüler der Maulbronner Klosterschule hatte er sich durch seine guten Kenntnisse des Altgriechischen hervorgetan. Unter seinen Mitschülern „hatte er den Ruhm eines ausgezeichneten Hellenisten“.1 1788, gegen Ende seiner Schulzeit übersetzte er als früheste seiner vielen Nachdichtungen aus dem Griechischen die ersten beiden Bücher der Ilias in deutsche Prosa. In dieser Anfangssequenz des epischen Gedichts, die „den verderblichen Zorn des Peliden Achilles“ und damit den Ausgangspunkt der nachfolgenden mörderischen Kämpfe schildert (FHA 17, 264–355, Zitat 264),2 treten die olympischen Götter als aktiv Handelnde, sich in die Händel der Menschen einmischende, wie diese streitende und sich beratende Personen auf. Insbesondere der Schluss des Ersten Buches, in dem Thetis, die Mutter des Achill, ihren Sohn tröstet und bei Zeus eine Gunst für ihn ausbittet, dürfte den achtzehnjährigen, finanziell wie emotional von seiner Mutter abhängigen Studenten beeindruckt haben.3 Zwei Jahre später legte Hölderlin seine Magisterarbeit zum Thema Geschichte der schönen Künste unter den Griechen. Biß zu Ende des Perikleischen Zeitalters vor, eine Arbeit, die in ihren Grundzügen auf Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums zurückgeht und die mit dem programmatischen Satz eröffnet wird: „Das Vaterland der schönen Kunst ist unstrittig Griechenland.“ (FHA  17, 45) In dieser akademischen Fleißarbeit aus dem Sommer 1790 ist schon vorgebildet, was Hölderlin in seiner „Hymne an den Genius Griechenlands“ wenig später zu seinem frühesten poetischen Glaubensbekenntnis ausgeformt hat. Schon in dem Prosatext hebt er hervor, dass „der griechische Genius verschönert, versinnlicht“, was sich insbesondere daran zeige, dass die Griechen ihren Göttern „körperliche Schönheit“ angedichtet hätten. (FHA 17, 46) Als Ursprung dieser allgemeinen Schönheitsbegeisterung des „ästhetischen

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Hölderlins homerische Welt: „Hymne an den Genius Griechenlands“

Volkes“ macht er die Dichtung Homers aus, die „den Griechen ihr Alles ward“, weil aus ihr deren Kunst, Philosophie, Politik und Religion insgesamt hervorgegangen seien. So kann er ihn „zum Einzigen“ stilisieren, eine Charakterisierung, die nicht nur seine Sonderstellung in der Antike, sondern auch seine herausragende Bedeutung für die Gegenwart bezeichnen soll. (FHA 17, 48) In seiner im Herbst 1791 geschriebenen „Hymne an den Genius Griechenlands“ versucht Hölderlin zum ersten Mal „die Epiphanie des neuen Gottes“ zu gestalten (FHA  2, 138 f.), die künftig den Mittelpunkt seines lyrischen Werks bilden sollte.4 Der im Titel angerufene „Genius“ bezeichnet im etymologischen Wortsinn die Bildungskraft der Natur, wie sie nach ihm in der Kunst der Griechen zum Ausdruck kommt.5 Schon Friedrich Gottlieb Klopstock hatte das Wort in der Anfangszeile seiner frühesten Ode „Der Lehrling der Griechen“ (1747) in diesem Sinne gebraucht: „Wen des Genius Blick, als er geboren ward, | Mit einweihendem Lächeln sah […]“.6 In Abgrenzung von diesem in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts weithin berühmten Gedicht und mit deutlich markiertem Selbstbewusstsein lässt Hölderlin den „Genius“ selbst zu Wort kommen, indem er die im Folgenden erzählten Wundertaten zu dessen „neuen, geheiligten Schöpfungen“ erklärt. (V. 7) So werden „die heilige Freiheit“ (V. 18) – die Kunde von den politischen Forderungen der Französischen Revolution war auch bei den Zöglingen des Tübinger Stifts auf fruchtbaren Boden gefallen – und die „zaubrische Liebe“ (V. 20) als sein Werk ausgegeben. Was Goethe in seinen großen Hymnen des Sturm und Drang als göttliche Schöpferkraft des individuellen Genies gepriesen hatte, wird in der nächsten Dichtergeneration objektiviert, indem die Natur selbst als produktive Kraft angerufen wird, die in den Werken der Kunst sich äußert. So spricht Hölderlin in seiner „Hymne an den Genius Griechenlands“ diesen als „Erstgeborne[n] | Der hohen Natur“ an. (V. 3  f.) Zugleich betont er die Nähe zu Homer, der als der kanonische Dichter nicht nur Vorbild der antiken, sondern auch der eigenen Poesie ist: „Ha! Mäonide! Wie du! | So liebte keiner, wie du; | Die Erd’ und Ozean“. (V. 43–45)7 Mit diesen Worten wird die Nähe des Dichters zur physischen Welt als dessen auszeichnendes Vermögen hervorgehoben, ein hoher Anspruch, der im Gedicht dadurch beglaubigt wird, dass es seine mythologische Naturerzählung aus homerischen Motiven speist. Der Genius Griechenlands gibt den Entschluss, sein Reich „auf Liebe“ zu begründen, (V. 30) in einer Götterversammlung bekannt, und wie Zeus der Göttin Thetis am Ende des von Hölderlin übersetzten Ersten Buches der Ilias ihren Wunsch durch Nicken seines Hauptes gewährt (Ilias I, 528), so neigt auch in Hölderlins Gedicht „sein königliches Haupt | Der Donnerer“. (V. 33  f.) Ähnlich die Evokation von „Aphroditäs Gürtel“, (V. 41) durch den das Programm der allumfassenden Liebe ver-

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bildlicht werden soll, auch er entstammt der Ilias. (Ilias XIV, 214–217) So nähert sich das Gedicht seinem homerischen Vorbild, indem es aufzählt, was der junge Dichter als Inhalt des Epos erfahren hat: die archaischen Helden, die olympischen Götter, die Tiere und Pflanzen, ja sogar „die Bien’ auf der Blume“, (V. 50) womit er auf ein von ihm übersetztes Gleichnis aus der Ilias anspielt, in dem die zur Volksversammlung eilenden Griechen mit den „Haufen unzähliger Bienen“ verglichen werden, die „wie Trauben um die Frühlingsblumen fliegen“. (Ilias II, 87–89; FHA 17, 323) Sie alle sind Teil der großen Natur und als solche umfasst sie, angetrieben durch den Genius der Griechen, „liebend“ der Dichter Homer. Die poetische Schau der Welt, die Hölderlin hier verkündet, ist in Geist und Wortwahl homerisch. Ganz und gar unhomerisch jedoch ist die zentrale Rolle, die er der Liebe als der heiligen, den Kosmos bewegenden Kraft zuschreibt. Wohl ist das dichterische Einverständnis mit der Welt, wie sie ist, das aus ihrer epischen Gestaltung spricht, als „Liebe“ zu ihr gefasst, eine durchaus konventionelle Metapher. Wenn Hölderlin jedoch in sein Gedicht insgesamt neunmal Substantive, Verben und Adjektive dieses Wortstamms einflicht, zielt er auf Grundsätzlicheres. Aus dem Dichter, der den „Genius Griechenlands“ zweimal mit dem Satz apostrophiert: „Du gründest auf Liebe dein Reich“, (V. 35, ähnlich V. 30) spricht nicht so sehr Homer, als vielmehr der christliche Theologe, der Hölderlin auch immer noch ist. So endet die „Hymne an den Genius Griechenlands“ in einem Widerspruch. Von der Ilias, die von den blutigen Kämpfen um Troja handelt, kann auch Hölderlin nicht behaupten, ihr Reich sei auf Liebe gegründet. Schließlich muss er selbst in der vorletzten Strophe, Ilion, das homerische Troja, anredend, eingestehen: „Wie jammertest, hohe Gefallene, du | Im Blute der Kinder“. (V. 53  f.) Damit ist der Gegenstand des Epos auf die kürzestmögliche Formel gebracht, zugleich aber das Evangelium vom Reich der Liebe, das der „Genius der Griechen“ geschaffen habe, von Grund auf widerlegt. Verständlich wird dieser Widerspruch erst, wenn man die Hymne im Kontext des christlichen Selbstverständnisses sieht, in dem das Neue Testament als Bund der Liebe dem Rächergott des Alten Testaments entgegengesetzt wird. Dann sind nicht so sehr die in der vorsokratischen Philosophie, etwa bei Empedokles, aufspürbaren Vorstellungen von einer kosmischen Harmonie für Hölderlins Weltentwurf maßgebend,8 als vielmehr die gängige Auffassung vom Christentum als der Religion der Vergebung und der Liebe.

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Die ‚neue Religion‘. Hegel in Frankfurt

Die ‚neue Religion‘. Hegel in Frankfurt Hölderlin hat seinen schwäbischen Landsmann, den arrivierten Dichter Friedrich Schiller, in den Anfängen seiner Karriere stets als Vorbild und Förderer seiner eigenen dichterischen Bemühungen angesehen. „Von Ihnen dependir’ ich unüberwindlich“ (FHA  19, 282), gestand er ihm in einem Frankfurt, den 20. Juni 1797 datierten Brief. Schiller hatte ihn einige Zeit zuvor in dem Gedicht „Einem jungen Freund als er sich der Weltweißheit widmete“, das er in seiner Zeitschrift Die Horen im November 1795 veröffentlichte, davor gewarnt, „das Heiligthum zu betreten, | Wo den verdächtigen Schatz Pallas Athene verwahrt“.9 Mit diesen Worten mahnte der Mentor den ehemaligen Theologiestudenten öffentlich, sich nicht den Gefahren auszusetzen, die ihm drohten, wenn er die bürgerliche Laufbahn verlassen und sich ganz der Dichtkunst widmen sollte. Zehn Monate zuvor hatte er Hölderlins Gedicht „Griechenland“ in seiner Zeitschrift Neue Thalia veröffentlicht,10 worin die Motive seines eigenen Gedichts „Die Götter Griechenlandes“ wieder aufgenommen waren, die Flucht der olympischen Götter in der Moderne, „die entgötterte Natur“ und der Verlust der „schönen Welt“.11 Nun stellt der arrivierte Dichter seinem Schützling die ihm drohenden Gefahren mit einem Exempel aus der antiken Religionsgeschichte vor Augen: „Schwere Prüfungen mußte der griechische Jüngling bestehen, | Eh das Eleusische Haus nun den Bewährten empfieng.“12 So die Anfangszeilen seines mahnenden Gedichts, das die Erinnerung an die antike Mysterienreligion als Metapher für die Geheimnisse und Beschwernisse des Dichterberufs einsetzt. Dasselbe Motiv hatte Schillers Weimarer Dichterfreund Goethe sechs Monate zuvor in der zwölften seiner „[Römischen] Elegien“, die Schiller ebenfalls im ersten Jahrgang der Horen veröffentlichte, in den literarischen Diskurs eingeführt. Dort wird der Mysterienkult in seiner rituellen Begehung auf Grund der antiken Quellen historisch zutreffend charakterisiert und zugleich erotisch aufgeladen. Dabei nimmt sich die Beschreibung dessen, was den „Lehrling“ in Eleusis erwartet, wie eine Vorwegnahme der Anfangszeilen von Schillers Warnung an Hölderlin aus: „Erst nach vielen Proben, oft wiederkehrend, erfuhr er, | Was der geheilige Kreiß seltsam in Bildern verbarg.“ Allerdings gibt Goethe seiner Elegie eine ganz eigene, den „Erotica Romana“ angemessene Schlusswendung: „Ueber der Liebe Genuß“ habe Ceres, die über Eleusis herrschende Gottheit, ihren eigentlichen Beruf, für die Fruchtbarkeit der Welt zu sorgen, vernachlässigt. Das sei das Geheimnis hinter dem eleusinischen „Mährchen“.13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der Freund Hölderlins aus gemeinsamen Tagen im Tübinger Stift, hat im August 1796 diese Anspielung auf die griechische Mysterienreligion in seinem fragmentarisch gebliebenen

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Gedichtentwurf „Eleusis“ aufgenommen und „An Hölderlin“ adressiert. (HFS, 230–233) Darin wirft der künftige Philosoph den Weimarer Dichtern vor, sie hätten das heilige Geheimnis der Mysterien verraten. Die olympischen Götter seien geflohen und Ceres, die „in Eleusis throne[s]t“, habe sich ins Schweigen zurückgezogen. Nur ihre Söhne – das sind Hegel und Hölderlin – hätten die „Ehre“ der Göttin „im innern Heiligtum der Brust“ verwahrt und sie so davor beschützt, „auf Gass’ und Markt“ profaniert zu werden. In diesem Zusammenhang spricht Hegel in der „Erinnerung“ an die gemeinsame Studienzeit und unter Berufung auf „des Wiedersehens süßer[e] Hoffnungen“ Hölderlin als „Geliebten“ an und macht ihn so zum Eingeweihten der eleusinischen Geheimreligion und zum Bundesgenossen seines Kampfes gegen die ältere Dichtergeneration. Eine harschere Aburteilung der auf die griechische Antike sich berufenden Dichtungen Schillers und Goethes als Hegels dilettantisches Gedicht lässt sich kaum denken. Der Theologiestudent besteht darauf, zusammen mit seinem Tübinger Freund die Eigenständigkeit und das Eigenrecht der Religion gegenüber den Säkularisierungstendenzen der Weimarer zu verteidigen und sie zugleich als neue Geheimreligion von der Orthodoxie abzugrenzen. Als wolle Schiller Hegels ihm natürlich unbekannt gebliebenen Vorwurf des Verrats an der Religion im Nachhinein rechtfertigen, publizierte er im Musenalmanach auf das Jahr 1799 das Gedicht „Bürgerlied“, später „Das Eleusische Fest“ betitelt, in dem Ceres als Friedensbotin erscheint, die als Göttin der Fruchtbarkeit den Menschen das erste Samenkorn spendet und ihnen damit das Getreide als Lebensgrundlage schenkt. „Und so weit das Auge blicket | Wogt es wie ein goldner Wald.“14 Mit ihrem Geschenk schafft sie das Fundament einer bürgerlichen Gesellschaft, die alle olympischen Götter und alle Menschen in einer friedlichen Gemeinschaft vereint: Und die neuen Bürger ziehen, Von der Götter sel’gem Chor Eingeführt, mit Harmonieen In das gastlich offne Thor, Und das Priesteramt verwaltet Ceres am Altar des Zeus, Segnend ihre Hand gefaltet Spricht sie zu des Volkes Kreis.15

Schiller widerspricht mit diesen gereimten Zeilen nicht nur Goethes in elegischem Versmaß verfasster Auslegung des antiken Mythos. Er verrät zugleich seine früheren kulturpessimistischen Ansichten von der Flucht der olympischen Götter in der Moderne und banalisiert die antike Religion als Mittel zu einem rein diesseitigen Zweck, als Mittel zum Aufbau einer harmonischen Bürgergesellschaft.

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Die ‚neue Religion‘. Hegel in Frankfurt

Die enge Verbundenheit des angehenden Philosophen Hegel mit seinem Dichterfreund aus Tübinger Tagen, die in den Zeilen seines Gedichts „Eleusis“ sich ausspricht, bewährt sich darin, dass Hölderlin, der seit Januar 1796 als Hauslehrer in der Familie des Bankiers Gontard in Frankfurt lebte, seinem Freund eine ähnliche Stelle in Frankfurt vermittelt. Er verbindet mit diesem Freundschaftsdienst zugleich das Versprechen an Hegel, „jedes Interesse deines Wesens, und jede Angelegenheit des Lebens willig und freudig mit dir [zu] theilen“. (FHA 19, 262) Mitte Januar 1797 trifft Hegel in Frankfurt ein und tritt die ihm angebotene Hauslehrerstelle an. Einen Monat später kann Hölderlin dem gemeinsamen Freund Christian Ludwig Neuffer mitteilen, dass seine Hoffnungen in Erfüllung gegangen sind: „Hegels Umgang ist sehr wohlthätig für mich. Ich liebe die ruhigen Verstandesmenschen, weil man sich so gut bei ihnen orientieren kann, wenn man nicht recht weiß, in welchem Falle man mit sich und der Welt begriffen ist.“ (Brief vom 16. 2. 1797. FHA 19, 276) Als Zeugnis der gemeinsamen Orientierungssuche, ja geradezu als Manifest der eleusinischen Geheimreligion lässt sich das erst 1913 entdeckte, 1917 von Franz Rosenzweig publizierte sogenannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus verstehen.16 Die Autorschaft dieses kurzen, in Hegels Handschrift überlieferten Textes war in der Forschung lange Zeit umstritten.17 Es kann jedoch keinem Zweifel unterliegen, dass das in ihm zum Ausdruck kommende Programm beiden Freunden gemeinsam ist. Der Text endet mit der ausdrücklichen Forderung nach Stiftung einer „neuen Religion“. (HFS, 236) Als „vernünftige“ soll sie sich von der christlichen unterscheiden, zugleich aber als „sinnliche“ das Herz auch des einfachen Volkes ansprechen. „Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst“, lautet die utopische Parole der Freunde. (HFS, 235 f.) Es liegt nahe, sich diese ‚neue Religion‘ als Synthese aus antiker und christlicher Überlieferung zu denken, weshalb die Freunde auch von ihr als von „einer neuen Mythologie“ sprechen: „diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden“. (HFS, 236)18 Zudem ist sie als eine, die durch die Traditionskritik der Aufklärung hindurch gegangen ist, nur noch als Schöpfung des emanzipierten Individuums denkbar. Deshalb setzt das Manifest mit der Betonung der „Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen“ ein und macht damit den schöpferischen Einzelnen, das Genie, zum Urgrund der neuen Religion, die deshalb auch ganz im Sinne der Genie– Ästhetik als „die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts“ bezeichnet werden kann. (HFS, 234) Diese doppelte Ausrichtung, Monotheismus und Polytheismus, Vernunft und Sinnlichkeit, reflektiert einerseits die doppelte Natur der antiken Mysterienreligion, in der unter sinnlichen Zeichen eine tiefere Wahrheit ver-

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borgen war. Sie zeichnet andererseits die „neue Religion“ als ästhetische aus. Denn nur im Kunstwerk lassen sich Wahrheit und Sinnlichkeit vereinen, weshalb der Text in der Evokation der „Idee der Schönheit“ als höchster leitender Idee gipfelt. (HFS, 235) Nicht von ungefähr sprechen die beiden Adepten hier von Ideen. In Erinnerung an die platonische Ideenlehre und die Schau des höchsten Guten postulieren sie, „daß der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind“. (HFS, 235)19 So kommt die Poesie zu höchsten Ehren. Wie bei Homer, in dessen Epen Mythologie und Philosophie, Wissenschaft und Kunst noch ungeschieden waren, soll sie das universale Medium der Weltaneignung und des religiösen Weltverständnisses werden. „Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.“ (HFS, 235) Was kann in diesem Zusammenhang Religion heißen? Die beiden ehemaligen Studenten aus dem Tübinger Stift verstehen darunter die Bindung (religio) an das Göttliche der Welt, auch wenn dies, wie es dem programmatischen Entwurf neuer eleusinischer Mysterien zukommt, nicht offen ausgesprochen wird. In seinem Fragment philosophischer Briefe, das in engstem Zusammenhang mit dem Ältesten Systemprogramm entstanden ist,20 wird Hölderlin deutlicher: „Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, daß mehr als Maschinengang, daß ein Geist, ein Gott, ist in der Welt, aber wohl in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabnen Beziehung, in der er stehet mit dem was ihn umgiebt.“ (FHA 14, 45) Dieser Satz ist eindeutig gegen den Gott der Transzendenz gerichtet. Das Göttliche wird nicht mehr wie in den monotheistischen Religionen in einem Jenseits gesucht, sondern „in der Welt“, in dem, was den Menschen umgibt, also in der Begegnung mit den anderen Menschen und der Natur. Sie sollen nicht unter einer Perspektive betrachtet werden, die dem prosaischen Alltagsbedürfnis geschuldet ist, sondern aus der Erinnerung an die Vergangenheit heraus und unter philosophischen Gesichtspunkten, „so daß die religiösen Verhältnisse in ihrer Vorstellung weder intellectuell noch historisch, sondern intellectuell historisch, d.  h. Mythisch sind“. (FHA 14, 48) Religion ist also, vom kulturellen Gedächtnis und von aktueller menschlicher Erfahrung ausgehend, poetisch geformter Mythos. Ohne zugehörigen Kultus ist sie „dem Gott der Mythe“ (FHA 14, 49) als ihrem alleinigen Gegenstand gewidmet. Wie im Fragment philosophischer Briefe so wird auch im Ältesten Systemprogramm, das nur die formalen Bedingungen der Möglichkeit dieser Religion benennt, eine klare Abgrenzung von dem Programmentwurf

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Das antike Athen und die Religion der Schönheit

Schillers vorgenommen, der im „ästhetischen Staate“ die Vollendung der Menschheitsgeschichte diagnostiziert hatte. Schiller hatte behauptet, in ihm sei „auch das dienende Werkzeug ein freyer Bürger“. So werde „in dem Reiche des aesthetischen Scheins […] das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte“.21 Dieses offenkundig von der Französischen Revolution inspirierte Ideal setzen auch Hölderlin und Hegel ihrer neuen Mythologie zum Zielpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung. Wenn die Mythologie „philosophisch“ und die Philosophie „mythologisch“ geworden sei, dann werde „allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister“ herrschen. (HFS, 236) Schillers Weg zu diesem gesellschaftlichen Endzustand, der über den „ästhetischen Staat“ führt, lehnen sie jedoch entschieden ab, weil, wie sie schreiben, „der Staat etwas Mechanisches ist“. (HFS, 234)22 Gegen die von Schiller in seinem Gedicht „Das Eleusische Fest“ verkündete ‚Verbürgerlichung‘ der Mysterien bestehen sie auf dem genuin religiösen Gehalt der von ihnen propagierten Schönheitsmythologie. Diese „neue Religion“ aber – so der Schlusssatz des Manifests – wartet noch auf einen „höhere[n] Geist“ als auf ihren Stifter. (HFS, 236) Das antike Athen und die Religion der Schönheit Hölderlin hat im letzten Brief des ersten Bandes seines Romans Hyperion, der Anfang 1797, also zur Zeit der Konzeption der ‚neuen Religion‘, erschienen ist, dieses Programm historisch entfaltet und in die Antike zurück projiziert. In dem durch seine Stellung im Werk besonders markierten Text reflektiert eine Gesellschaft von Freunden auf ihrer Überfahrt nach Athen über die Vortrefflichkeit der antiken Stadt. Mit deutlicher Anspielung auf Eleusis und damit auf das mit Hegel geteilte Interesse an der neuen Geheimreligion bekennt ihr Wortführer Hyperion zu Beginn seiner enthusiastischen Rede: „Ich spreche Mysterien, aber sie sind.“ Eine radikale Anthropologisierung durch Anerkennung des Polytheismus ist das Geheimnis der von ihm im antiken Griechenland verorteten Religion: „So gab der Mensch sich seine Götter. Denn im Anfang war der Mensch und seine Götter Eins, da, sich selber unbekannt, die ewige Schönheit war.“ (FHA 11, 678)23 Hier, in der offenen Rede unter Freunden, wird schließlich auch das Wesen des Göttlichen benannt, auf das die ‚neue Religion‘ gegründet ist, das im programmatischen Entwurf der Eleusinischen Religion nicht benannt werden konnte. Es ist die „vollendete Natur“ (FHA 11, 677), die im Menschen als ihrer Vollendung ihren schönsten Ausdruck findet. Die ursprüngliche Einheit in Schönheit, von der die kulturelle Entwicklung in Athen ausgeht, wird in der Rede Hyperions historisch entfaltet.

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„Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst.“ Wie schon bei Winckelmann, wie bei Goethe und Schiller erweisen sich die klassischen griechischen Statuen, die Abbildungen des Menschen in seiner idealen Gestalt, als Ursprung der Mythologie der Moderne. Als „zweite Tochter der Schönheit“ nennt Hyperion die Religion. „Religion ist Liebe der Schönheit.“ Als wolle er die Parallele zum mit Hegel gemeinsam entworfenen Manifest unterstreichen, wird auch hier noch einmal gegen den von Schiller propagierten ästhetischen Staat polemisiert: er sei „ein dürr Gerippe“. (FHA 11, 678 f.) Schließlich benennt Hyperion die Philosophie, in der die Schönheit zur Anschauung ihrer selbst kommt, als dritte Stufe auf dem Weg von der ursprünglichen Einheit hin zum utopischen Endzustand. Sie eröffnet der Vernunft im historischen Durchgang den Einblick in das Wesen der Schönheit, indem sie es mit der von dem vorsokratischen Philosophen Heraklit entlehnten Formel „das Eine in sich selbst unterschiedne“ auf den Begriff bringt.24 Ihren Höhepunkt und Abschluss findet Hölderlins dialektisch angelegte Geschichte des Göttlichen wiederum in der Poesie: „Die Dichtung, sagt’ ich, meiner Sache gewiß, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft. Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns. Und so läuft am End’ auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnißvollen Quelle der Dichtung zusammen.“ (FHA 11, 680) Die Identität dieses geschichtsphilosophischen Entwurfs mit dem Manifest der ‚neuen Religion‘ ist unverkennbar. Schließlich wird Hyperion von seiner Geliebten Diotima auch im Roman zum „Erzieher unsers Volks“ ernannt, womit ihm genau dieselbe Aufgabe zugesprochen wird, die in der neuen Mythologie der Poesie zukommt. (FHA 11, 691) Was von Hölderlin einer idealisierten Antike zugeschrieben wird, die in der Gegenwart mit ihren „verwaisten Säulen“ als „unermeßlicher Schiffbruch“ dem Betrachter vor Augen liegt, verkörpert sich für ihn aktuell in der menschlichen Gestalt der Diotima. (FHA 11, 685) Wie die Definition der Schönheit ist auch dieser Name aus Platons Symposion entlehnt. Hyperion erscheint seine Geliebte als „seelige Insel“, (FHA 11, 688) in ihr wird für ihn – wie für den Dichter Hölderlin in Susette Gontard – das aus dem kulturellen Gedächtnis aufgerufene Ideal des alten Athen lebendig. Programmatisch wird Hölderlin es der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit in den großen Gedichten seiner Spätzeit vorschreiben, die als ‚Poesie‘ Mythologie und Universalgeschichte in sich vereinen und der Menschheit die neue Religion verkünden wollen, während Hegel die in diesen Entwürfen angelegte Geschichtsdialektik in seiner Philosophie des Weltgeistes begrifflich fasst. So wird die ‚neue Religion‘ in den Texten der beiden Freunde nach zwei Seiten hin entfaltet und ins Werk gesetzt. Als poetische manifestiert sie sich in Hölderlins großen Hymnen, in denen die eleusinische Mythologie als

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Vom Geist des Judentums. Hegels ursprünglicher Antijudaismus

Transformation der antiken Tradition Gestalt annimmt, als philosophische wird sie in Hegels Geistmetaphysik zur Erkenntnis ihrer selbst gebracht. Der Dichter wie der Philosoph versuchen sich mit ihrer je unterschiedlichen Verwirklichung der ‚neuen Religion‘ der paradiesischen Akme der Geschichte zu nähern, die Hyperion am Ende seiner Rede mit den Worten beschwört: „Sie werden kommen, deine Menschen, Natur! Ein verjüngtes Volk wird dich auch wieder verjüngen, und du wirst werden, wie seine Braut und der alte Bund der Geister wird sich erneuen mit dir. | Es wird nur Eine Schönheit seyn; und Menschheit und Natur wird sich vereinen in Eine allumfassende Gottheit.“ (FHA 11, 691 f.) Die im „Systemprogramm“ avisierte „Mythologie der Vernunft“ kann, wie Hegel schreibt, nur der „absoluten Freiheit der Geister“ entspringen. Sie wird das Produkt von Menschen sein, die sich, nachdem sie die Aufklärung hinter sich gelassen haben, als „absolut freie Wesen“ verstehen. Ganz im Sinne der Genie-Ästhetik werden sie die von ihnen erstrebte göttliche Welt als „einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts“ hervorbringen. (HFS, 234 f.) Die Absolutsetzung der menschlichen Produktivkraft, die für die ideologischen Leitdiskurse Europas seit der Schwellenzeit um 1770 charakteristisch ist, erweist sich damit auch als Ursprung des Entwurfs einer ‚neuen Religion‘. Ihre spezifisch deutsche Ausrichtung ist daran abzulesen, dass sie sich ganz im Sinne der in der Weimarer Klassik vorherrschenden Bevorzugung der kulturellen Produktivität als ‚ästhetischen Akt‘ versteht und in der ‚Poesie‘ ihre höchste Ausformung findet. Vom Geist des Judentums. Hegels ursprünglicher Antijudaismus In Hegels wie in Hölderlins Schriften aus der Frankfurter Zeit geht es um nichts weniger, als den Monotheismus des Alten Bundes als Ursprung der eigenen Kultur aus dem Gedächtnis zu löschen. An seine Stelle tritt bei Hegel ein als Religion der Liebe verstandenes Christentum, bei Hölderlin sehr viel radikaler die im ‚Geist der Schönheit‘ neu interpretierte polytheistische Mythologie. In seiner Ende 1796 oder Anfang 1797 entstandenen Abhandlung Vom Geist des Judentums spricht Hegel den Anhängern des Alten Bundes eben die Freiheit des Individuums ab, die für ihn die Bedingung der Möglichkeit der „neuen Bundes der Geister“ ist. Stehen die Juden doch nach Hegels Meinung von Anfang an unter der „Knechtschaft eines Fremden“, und dieser Fremde ist das absolute Subjekt, ist Gott. (HFS, 298) Schon in dieser frühen Schrift spielt das dialektische Verhältnis von Herr und Knecht für Hegel in der Beurteilung des Volks der Juden eine zentrale Rolle. Für ihn können sie nur die „wahren, reinen Objekte“ sein, weil sie

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ihrem Herrn absolut unterworfen sind. „Von Gott sind die Juden durch und durch abhängig.“ (HFS, 288) In diesem Zusammenhang formuliert der junge Philosoph den Satz, der später eine der Grundlagen der geschichtlichen Dialektik seines Systems werden sollte: „Welche tiefere Wahrheit gibt es für Knechte als die, daß sie einen Herrn haben.“ (HFS, 288) Damit ist die Begründung von Hegels negativem Urteil über die Juden ausgesprochen. Sie erkennen ein absolutes Subjekt über sich an, also können sie niemals absolut freie, produktive Individuen sein, wie der Zeitgeist es fordert. Als Sklaven eines absoluten Herrschergottes, so Hegels Diagnose, haben die Juden kein freies Verhältnis zur Welt. Deshalb stehe ihnen die Natur als „unendliche feindselige“ gegenüber. Folgerichtig geht der ehemalige Theologiestudent in genauer Kenntnis des Buches Genesis die Erzählungen von den Patriarchen durch, um zu beweisen, dass die Geschichte der Juden von Anfang an als Negation der Natur zu verstehen sei. Schon Noah habe in seiner Reaktion auf die Sündflut den „ungeheuersten[n] Unglaube[n] an die Natur“ (HFS, 274) an den Tag gelegt. Abraham sei zeit seines Lebens „ein Fremdling auf Erden“ geblieben, „wie gegen [den] Boden, so auch gegen die Menschen“. (HFS, 278) Dieser erläuternde Zusatz verrät die Tendenz von Hegels Analyse, das Judentum als auf Menschenhass begründet darzustellen. Von Gott aus Chaldäa verwiesen, ist Abraham zwar in der Tat seinem heimatlichen Boden entfremdet und zieht mit seiner Familie und seinen Herden auf der Suche nach dem gelobten Land umher. Man wird diese Besonderheit der Geschichte Abrahams allerdings durchaus als Verweis der biblischen Erzählung darauf lesen dürfen, dass ihn gerade diese NichtVerwurzelung in einer irdischen Heimat in die Lage versetzt, den Menschen, denen er auf seiner Wanderschaft begegnet, friedlich gegenüberzutreten.25 Einen weiteren Beleg für Abrahams Unmenschlichkeit sieht Hegel darin, dass er Gottes Gebot gehorchen will, den eigenen Sohn auf dem Altar als Schlachtopfer darzubringen. Diese Episode, die Hegel als unumstößlichen Beweis eines Mangels an Liebe wertet – „nur lieben konnte er nichts“ (HFS, 279) –, wird in der christlichen Exegese schon seit alters her als Vorausdeutung auf den Kreuzestod Christi und damit auf die Erlösung der Menschheit gedeutet und in der neueren Forschung als Erzählung über die Abschaffung des Menschenopfers durch den biblischen Gott gewertet. In seiner Schrift Der Geist des Christentums, die das gleichzeitige Pendant zu seinem Der Geist des Judentums darstellt, hat Hegel mit einer ausführlichen Exegese des Neuen Testaments seine Auffassung des Christentums als einer Liebesreligion dargestellt. Im Gegensatz zu dem, was er im Geist des Judentums dem ‚Volk der Juden‘ vorgeworfen hat, sieht er das Verdienst des Christentums in der Aufhebung des Gesetzes „durch die Heiligkeit der Liebe“ (HFS, 312). Während er den Juden eine „rasende Lieb- und Gottlosigkeit“ (HFS, 295) attestiert, weshalb sie „in der Verruchtheit des

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Vom Geist des Judentums. Hegels ursprünglicher Antijudaismus

Hasses zur Hölle gefahren“ (HFS, 436) seien, interpretiert er das christliche Abendmahl als „die objektiv gemachte Liebe“. (HFS, 367) Im Zentrum von Hegels Judenschelte, die alle herabsetzenden Äußerungen der Zeitgenossen an Schärfe übertrifft,26 steht die Figur des Gesetzgebers Moses. Schon der Auszug aus Ägypten, wie ihn der Gründungsmythos der Juden berichtet, sei „ohne eigenes Bedürfnis der Freiheit“ gewesen, sei vielmehr von oben durch ihren Anführer Moses organisiert worden, so dass nicht ihre „Selbsttätigkeit“ sie gerettet habe, sondern „Moses allein wirkt[e]“. (HFS, 282) So sei es auch das Grundübel der von Moses den Juden gegebenen sozialen und politischen Neuordnung gewesen, dass sie „keine Freiheit und keine Rechte hatten“, weshalb sie „als Staatsbürger alle Nichts“ gewesen seien. (HFS, 290) Damit erreicht Hegels Polemik ihren aktuellen politischen Bezugspunkt. Nach seinem Verständnis widerspricht die Verfassung des Judentums seit ihrer Verkündung durch Moses diametral den Idealen, die seit der Französischen Revolution von den jungen Freigeistern auch für Deutschland gefordert werden: Die mosaische Religion erkenne die Bedeutung der neuentdeckten und für die Gegenwart erst noch zu erkämpfenden Menschenrechte nicht an. In diesem Zusammenhang, in dem es um den Einfluss der Religion auf die Gesellschaft geht, führt Hegel die „Gesetze in den griechischen Republiken“ als Gegenbeispiele zur mosaischen Gesetzgebung an. Mit seinem Vergleich bezieht er sich allerdings nicht auf eine wie auch immer geartete historische Realität, sondern beschwört einen im kulturellen Gedächtnis der Zeit bereits fest verankerten Idealtypus: „jene Griechen sollten gleich sein, weil alle frei, selbständig, die Juden gleich, weil alle ohne Fähigkeit des Selbstbestehens waren.“ (HFS, 290) Mit diesen Worten wird der Gegensatz zwischen Juden und Griechen zum ersten Mal von der aktuellen politischen Forderung nach Emanzipation des Individuums her in einem Satz festgeschrieben und der in ihm zum Ausdruck kommende Antijudaismus zugleich zur Grundlage für die Diagnose der eigenen Gegenwart gemacht. Aus der Geschichte des Judentums leitet Hegel auch sein Urteil über dessen aktuelle Befindlichkeit ab: „Alle folgenden Zustände des jüdischen Volks, bis auf den schäbigen, niederträchtigen, lausigen Zustand, in dem es sich noch heutigentags befindet, sind weiter nichts als Folgen und Entwicklungen ihres ursprünglichen Schicksals.“ (HFS, 292) Man mag dieses Urteil auf die unmittelbare Anschauung des Judenelends im Frankfurter Ghetto zurückführen. Darüber, ob Hegel jemals dort gewesen ist, lässt sich allerdings nichts Bestimmtes sagen. Wohl aber liegt die Vermutung nahe, dass er hier das Urteil Schillers reproduziert, die Juden seien das „roheste, das bößartigste, das verworfenste Volk der Erde“. (NA 17.1, 380) Denn auch sonst lässt sein Text eine genaue Kenntnis der zeitgenössischen Judendiskussion erkennen. Wenn er Moses vornehmlich als „Gesetzgeber“ und damit als

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Begründer des „mosaischen Staates“ charakterisiert, übernimmt er Kategorien, die Schiller in seiner Vorlesung Die Sendung Moses ausgearbeitet hatte, zumal auch bei ihm wie bei Schiller die Kontrastierung mit den griechischen Staatsmännern und Weisen Solon und Lykurg die Abwertung der Leistung des Juden untermauern soll. (HFS, 289) Auf Moses Mendelssohns Schrift Jerusalem bezieht er sich ausdrücklich und zustimmend. Dieser habe gesagt, der jüdische „Glauben“ kenne „keine ewigen Wahrheiten“. (HFS, 288) Diese zentrale These Mendelssohns wird von ihm jedoch ohne dessen Bezugnahme auf das Zeremonialgesetz lediglich zur Stützung der eigenen These von der Unfreiheit und dem knechtischen Charakter der Juden angeführt und damit verfälscht. Für die abschließende Feststellung der Nichtigkeit des Judentums stützt Hegel sich auf eine historische Anekdote. Der römische Feldherr Pompejus, erzählt er, habe bei der Eroberung des Jerusalemer Tempels im Allerheiligsten nichts als einen „leeren Raum“ vorgefunden. Darin sei das „Geheimnis“ dieser Religion zu suchen. Sie sei in ihrem Innersten ein Nichts. (HFS, 284) In diesem Zusammenhang kontrastiert Hegel mit einem Hinweis auf das „Geheimnis der eleusinischen Götter“ noch einmal Griechentum und Judentum. In Eleusis habe das „Heilige“ wirklich im Mittelpunkt gestanden und sei im rituellen Vollzug praktiziert worden. Wie in seinem an Hölderlin adressierten Gedicht spricht er hier von einer Geheimreligion, die im Unterschied zur jüdischen keine Exklusivität beansprucht habe: „Von den Bildern, den Gefühlen, der Begeisterung und Andacht zu Eleusis, von diesen Offenbarungen des Gottes war keiner ausgeschlossen, gesprochen durfte von ihnen nicht werden, denn sie würden durch Worte entweiht“. (HFS, 285) Mit dieser Zurückweisung des Anspruchs der Juden, das alleinige ‚Volk Gottes‘, das ‚Goj Kadosch‘ zu sein, führt Hegel ein Argument in die kulturelle Debatte ein, das heute im Zeichen des Poststrukturalismus erneut gegen den Monotheismus ins Feld geführt wird.27 Gegen diesen, gegen „die entsetzliche Forderung […], daß er [Gott] allein und diese Nation die einzige sei, die einen Gott habe“ (HFS, 280), richtet sich die polemische Stoßrichtung von Hegels Argumentation. Mit deutlich blasphemischer Absicht spielt er auf das zweite der Zehn Gebote an,28 wenn er von den Götterbildern aus „Stein oder Holz“ sagt, sie bedeuteten den Juden nichts. Hingegen seien die Statuen einer „Vergöttlichung in der Anschauung der Liebe und im Genuß der Schönheit“ fähig. In diesen Worten ist das Programm der ‚neuen Religion‘ als einer Religion der Schönheit in Abgrenzung vom „alten Bund des Hasses“ auf den Begriff gebracht. (HFS, 293) Wie von Winckelmann und Schiller gefordert, wird in ihr die meditierende Betrachtung der antiken Statuen an Stelle des Gehorsams gegenüber dem am Sinai geoffenbarten Gesetz des einen Gottes als religiöser Akt definiert. Im Hinblick auf die griechischen Idealbilder des Menschen feiert Hegel die

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Erneuerung des antiken Polytheismus als ästhetischen und zugleich religiösen Akt und damit als ‚Poesie‘. „Eins und Alles“ Wir reißen uns los vom friedlichen εν και παν der Welt, um es herzustellen, durch uns selbst. (Hölderlin: Hyperion, Vorrede der vorletzten Fassung, 1795. FHA 10, 272)

Hölderlin ist es, der aus der Griechenbegeisterung der Goethezeit einen neuzeitlichen religiösen Glauben macht, der im selben Sinne wie Hegels Lobpreis des Christentums gegen den jüdischen Monotheismus gerichtet ist. Walter Benjamin hat diese Umwandlung in seinem Buch Deutsche Menschen als „Transsubstantiation des Griechentums“ bezeichnet und damit auf dessen religiösen Charakter verwiesen.29 So wird in Hölderlins Dichtung die antike Mythologie, das Homerische, zum geschichtsmächtigen Mythos, der die unmittelbar bevorstehende Ankunft eines „kommenden Gottes“ in der Welt der Menschen verkünden soll.30 Diese Vorstellung, die dem homerischen Wissen um eine stetige physische Präsenz der olympischen Götter durchaus widerspricht, speist sich insgeheim aus einer messianischen Sehnsucht, die dem Dichter als christlichem Theologen naheliegt. So wird die pantheistische Formel des ‚Eins und Alles‘, in der Hölderlins Zeitgenossen die Religion der Antike einzufangen versuchten, bei ihm von vorneherein dynamisiert, wird in der Perspektive eines einst zu erreichenden utopischen Ziels gesehen. Schon im Tübinger Stift hat Hölderlin sich mit seinen Freunden Hegel und Schelling intensiv mit der Rolle befasst, die das εν και παν (hen kai pan) in dem 1785 von Friedrich Heinrich Jacobi initiierten ‚Pantheismusstreit‘ spielt. Jacobi hatte in polemischer Absicht behauptet, Lessing habe diese Formel ihm gegenüber gebraucht, um seiner Auffassung Ausdruck zu verleihen, dass er die „orthodoxen Begriffe von der Gottheit“ nicht mehr anerkennen könne.31 Diese Befassung der deutschsprachigen Dichter seit Lessing mit dem „Spinozismus“ ist zu Recht als Ausdruck einer „Gegenreligion“ gedeutet worden, „zu der drei Dinge wesentlich gehören: die aggressive Negierung des alten Gottes, die Hingabe an eine vergöttlichte Welt und die vielfältigen Manöver des Versteckens und Verbergens“.32 Anfang Februar 1791 fertigt auch Hölderlin umfangreiche Auszüge aus Jacobis Buch Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn an, die belegen, dass ihm die Tendenz der Formel als Fahnenwort einer sich vom Monotheismus abwendenden Weltanschauung und einer strikt innerweltlichen Religiosität von vornherein bewusst war.33

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Am 12. Februar trägt er ein Zitat aus Goethes Iphigenie als Denkspruch in Hegels Stammbuch ein, dem dieser das „εν και παν“ als „S[ymbolum]“, als gemeinsames Losungswort, hinzusetzt. (FHA 1, 557) Zwei Tage später schreibt Hölderlin an seine Mutter, er habe zahlreiche „Schriften über und von Spinoza“ gelesen, „einem großen und edlen Manne aus dem vorigen Jahrhundert, und doch Gottesleugner nach strengen Begriffen“. (FHA 19, 119) Es ist überdeutlich, dass Hölderlin, sich allmählich aus seiner frühen religiösen Sozialisation verabschiedend, womit für ihn auch der Verzicht auf die ursprünglich geplante Karriere als protestantischer Pfarrer verbunden war,34 mit diesen Hinweisen der frommen Mutter seinen Gesinnungswandel anzudeuten versucht, ohne deren Gefühle allzu sehr zu verletzen.35 Die Formel ‚Eins und Alles‘ wird demnach zunächst von Hölderlin und seinen Freunden als Signal ihres Aufbruchs und ihrer Befreiung vom überkommenen Glauben an „eine verständige persönliche Ursache der Welt“ eingesetzt.36 Noch ohne erkennbaren Zusammenhang steht in seinen frühen Gedichten daneben die Faszination durch das von griechischer Kunst und Literatur vermittelte Bild der Natur. So etwa in der 1793 in der Nachfolge seiner „Hymne an den Genius Griechenlands“ entstandenen, aber erst 1795 im letzten Stück von Schillers Zeitschrift Neue Thalia veröffentlichten Hymne auf den „Genius der Kühnheit“.37 In ihr stellt Hölderlin erneut das „Heldenvolk“ der Griechen in den Mittelpunkt seines Gesanges. Zu dessen Großtaten zählt er nicht nur den religiösen Rausch des Dionysos und die heroischen Taten des Herakles, sondern auch die Künste und die Dichtung Homers: Den Geist des Alls, und seine Fülle Begrüßte Mäons Sohn auf heil’ger Spur, Sie stand vor ihm, mit abgelegter Hülle, Voll Ernstes da, die ewige Natur. (FHA 2, 190)

Einmal mehr wird hier der Vater der europäischen Dichtung als Vermittler einer Auffassung von der Natur genannt, die, wie das qualifizierende Adjektiv andeutet, ganz im Sinne Spinozas als göttlicher Urgrund des Weltalls gedacht ist. Zwei Jahre später, in der aus dem Herbst 1795 stammenden Vorrede der vorletzten Fassung seines Romans Hyperion, gebraucht Hölderlin dann die Formel in ihrer griechischen Fassung, wie er sie bei Jacobi gefunden hatte, als Zustandsbeschreibung einer „friedlichen“ Welt, allerdings nicht ohne hinzuzufügen, diese sei erst „herzustellen, durch uns selbst“. (FHA 10, 277) Die damit geforderte subjektive Zusammenschau von göttlicher Einheit, Allheit der Welt und eigenem Selbst gelingt ihm erst, als er auf der Flucht mit Susette Gontard vor den Kriegswirren in Frankfurt in Kassel und Bad Driburg die persönliche Bekanntschaft von Wilhelm Heinse macht und

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damit seine frühere Lektüre von dessen Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln (1796) erneuert. Jetzt fügen sich für ihn die beiden aus der Frühzeit des Griechentums stammenden Vorstellungen von der göttlichen Natur und von dem Eins und Alles des göttlichen Kosmos zu einer Einheit zusammen und bilden das Fundament seiner neuen ästhetischen Religion. Heinse hatte im zweiten Band des Romans in einem langen Gespräch auf dem Dach des Pantheon in Rom seinen Helden durch einen Griechen namens Demetri über die vielfältigen Gottesvorstellungen der alten Griechen belehren lassen. Auch dieser umfangreiche historisierende Vortrag ist gegen die „in der bürgerlichen Gesellschaft“ vorherrschende Religion, das heißt, gegen den christlichen Gott gerichtet.38 Auffallender noch: Heinse weiß auch seine Quellen für die Lehren der Vorsokratiker zu benennen, die er referiert. Seine Ausführungen gipfeln in der Aussage: „Eins ist Alles und Alles Eins. || Nach dem Aristoteles war Xenophanes der erste, der dem Wesen seine eigentliche Reinheit gab, […] Das Eins ist Gott.“39 Schließlich fasst der gelehrte Grieche seine Ausführungen in dem Satz zusammen: „Daß Gott die ganze Natur selbst sei, das ist der älteste Glaube.“40 Damit gibt er die kürzestmögliche Definition des Pantheismus, die sich – wie auch die Formel des εν και παν – so bei Spinoza nicht findet.41 In dreimaliger Wiederholung und programmatischer Steigerung wird die Formel nun am Beginn des Hyperion, in dessen zweitem Brief, der die Grundmelodie des Romans leitmotivartig ausspielt, dem Leser vorgeführt: „Eines zu seyn mit Allem, das ist Leben der Gottheit […]. Eines zu seyn mit Allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit wiederzukehren in’s All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden […]. Eines zu seyn mit Allem, was lebt! […] alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewigeinigen Welt […] und aus dem Bunde der Wesen schwindet der Tod, und Unzertrennlichkeit und ewige Jugend beseeliget, verschönert die Welt.“ (FHA 11, 585) In diesen Worten wird in hymnischem Aufschwung das Evangelium der neuen Natur- und Schönheitsreligion beschworen. In ihnen ist die Formel in all ihren religiösen Dimensionen entfaltet: Das ‚Alles‘ ist die Natur in ihrer Mannigfaltigkeit, wie sie sich in der Welt manifestiert. Sie ist zugleich das Eine und steht damit im Gegensatz zur Einheit des außerweltlich gedachten monotheistischen Gottes. Schließlich garantiert sie das, was alle Religionen versprechen, das Paradies, in dem der Tod seinen Stachel verloren hat und „ewige Jugend“ herrscht. Allerdings wird diese Vision hier am Anfang des Romans lediglich als subjektiver Gefühlsaufschwung charakterisiert, als Traum, von dessen „Gipfel“ der reflektierende Mensch immer wieder abstürzt und den sich der Held des Romans auch erst an dessen Ende nach dem Durchgang durch die Höhen und Tiefen seines Lebens zu eigen machen kann.

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Die gleiche Utopie ist auch der geheime Fluchtpunkt, auf den Hegels hymnischer Preisgesang auf den „Geist des Christentums“ zusteuert. Er fasst seine Vision einer durch Liebe geeinten Menschheit in denselben Worten zusammen, wie sie in Hölderlins rückwärtsgewandter Erinnerung an das alte Athen zentral sind: „Gibt es eine schönere Idee als ein Volk von Menschen, die durch Liebe aufeinander bezogen sind? eine erhebendere, als einem Ganzen anzugehören, das als Ganzes, Eines der Geist Gottes ist.“ (HFS, 394) Das ‚Hen kai Pan‘, das für Hölderlin den Inbegriff der altgriechischen Kunst wie des Kosmos darstellt, wird so von Hegel in engsten Zusammenhang mit der christlichen Liebe gebracht. Wie sein Freund aus dem Tübinger Stift bezieht er sich mit dieser Vorstellung auf das ihnen gemeinsame christliche Erbe. Hölderlin wiederum, selbst wenn bei ihm nirgendwo vom Alten Testament oder den Juden die Rede ist, richtet seinen ästhetischen Polytheismus insgeheim gegen den Monotheismus der mosaischen Religion. In diesem Kontext erweist sich auch sein homerisches Reich der Liebe wie Hegels Apologie des Neuen Testaments als ein Gegenentwurf zum „alten Bund des Hasses“. (HFS 1, 293) „Wachsende Natur“ Für Hölderlin wird das Alleinheitsevangelium zum richtungsweisenden Pol seines Lebens. Es ist die Folie, vor deren Hintergrund er seine Vorstellungen von Poesie und gesellschaftlicher Harmonie entwirft. In dem großen Neujahrsbrief von 1799 an seinen Halbbruder Carl Gock versucht er diesem in Dichtung und Philosophie der Zeit unbewanderten jungen Mann das eigene Verständnis von Welt und Gott nahezubringen. (FHA 19, 345–348) Im vorangegangenen Herbst hatte Hölderlin, eingeladen von seinem Freund Isaac von Sinclair, dem Rastatter Kongress beigewohnt, auf dem die Gebietsansprüche der Territorialstaaten an das durch die Napoleonischen Kriege in Auflösung befindliche Deutsche Reich verhandelt wurden, und dabei den „ängstlich bornirten Zustand“ der Deutschen aus nächster Nähe erlebt. (FHA 19, 345) Aufgewühlt von seinen Erfahrungen, erläutert er nun dem Jüngeren, wie das Land sich aus dieser Misere befreien könnte. Dabei bringt er zunächst „Philosophie und Politik“ ins Spiel. Der Dichter, der schon Jahre zuvor von sich bekannt hatte: „Kant und die Griechen sind beinahe meine einzige Lectüre“ (FHA 19, 190),42 verkündet nun geradezu programmatisch: „Kant ist der Moses unserer Nation, der sie aus der ägyptischen Erschlaffung in die freie einsame Wüste seiner Spekulation führt, und der das energische Gesetz vom heiligen Berge bringt.“ (FHA 19, 346) Dieser Satz belegt, dass in Hölderlins kulturellem Gedächtnis die Figur des Moses ausgelöscht werden soll. Sie verschwindet hinter der Gestalt des

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von ihm verehrten aufklärerischen Philosophen, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, ein Revenant, ein Gespenst, während Kant, den Heinrich Heine vierzig Jahre später den „großen Zerstörer im Reiche der Gedanken“ nennen wird, der durch seine „Kritik aller spekulativen Theologie“ dem „alten Jehova selber“ den Todesstoß versetzt habe, für Hölderlin zum kanonischen Gesetzgeber und Propheten wird.43 Aber auch die Philosophie kann Hölderlin jetzt, als er ganz in sein poetisches Vermögen eingetreten ist, nicht mehr Genüge tun. Dem jüngeren Bruder gegenüber hebt er 1799 – wie schon in dem zusammen mit Hegel entworfenen „Ältesten Systemprogramm“ – im Vergleich mit ihr die Poesie als höchstes menschliches Vermögen hervor. Allerdings verschweigt er vor Karl Gock deren mythischen Urgrund, deutet ihn lediglich mit einem Vergleich an, der „das lebendige Werk der Natur“ über die rein technisch ausgeführte Landschaftsmalerei erhebt.44 Wohl entfaltet er ausführlich die gesellschaftliche Funktion der Dichtung. Gegen Schillers Auffassung, sie sei Ausfluss des Spieltriebs, polemisierend, schreibt er der Poesie die Wirkung zu, sie „vereinige […] die Menschen […] zu einem lebendigen tausendfach gegliederten innigen Ganzen“. „Menschenharmonie“ nach dem Vorbild des großen Ganzen des Kosmos erweist sich damit als die gesellschaftliche Utopie, die der neuen Religion zugrunde liegt und die durch deren Ausgestaltung als Dichtung erreicht werden soll. Auch in diesem eher pädagogisch und rational argumentierenden Brief kann der Dichter wiederum nur resignierend auf das antike Vorbild verweisen, dem seine Vision entstammt: „O Griechenland, mit deiner Genialität und Frömmigkeit, wo bist du hingekommen?“ Was er hier der Antike zuschreibt, soll der Ursprung der ästhetischen Religion werden, die Hölderlin in seinem dichterischen Werk verwirklichen will, selbst wenn auch er, wie er ironisch anmerkt, „wie die Gänse mit platten Füßen im modernen Wasser“ steht. (alle Zitate FHA 19, 348) Zwei Jahre später – wieder ist es ein politisches Ereignis, das den Dichter in Erregung versetzt – schreibt er erneut einen Brief an den jüngeren Bruder, in dem er ihm seine innerste Einstellung zu verdeutlichen versucht. Der sich ankündigende Vertrag von Lunéville, durch den Napoleon Bonaparte im Februar 1801 mit der Koalition der deutschen Staaten einen vorläufigen Frieden schließen sollte, erweckt in ihm eine geradezu messianische Endzeitstimmung. Auf die Frage Carl Gocks, was denn die „unaussprechliche Freude“ seines Herzens sei, antwortet er in exaltierter Stimmung: „Diese, theure Seele! Daß unsere Zeit nahe ist […].“ Und meint mit diesem biblischen Zitat, dass die Liebe nun nicht mehr nur die individuelle Beziehung zwischen den Brüdern regieren, sondern als Grundprinzip das Leben aller Deutschen und das Leben des Kosmos durchdringen werde: „Aber daß der Egoismus in allen seinen Gestalten sich beugen wird unter die heilige Herr-

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schaft der Liebe und Güte, daß Gemeingeist über alles in allem gehen, und daß das deutsche Herz in solchem Klima, unter dem Segen dieses neuen Friedens erst recht aufgehn, und geräuschlos, wie die wachsende Natur, seine geheimen weitreichenden Kräfte entfalten wird, dies mein’ ich, dies seh’ und glaub’ ich […].“ (FHA  19, 469) Die Liebe, das auszeichnende Vermögen, das nach Meinung Hölderlins und Hegels durch die christliche Religion in die Welt gekommen sei, wird hier als Ordnungsprinzip auf die Gesellschaft im Allgemeinen und auf das Weltall übertragen. So wird die Natur, aus der alles wächst und in die alles zurückgeht, zum Ursprung dieses den Kosmos durchherrschenden Prinzips gemacht. Dabei spielt Hölderlin mit dem Adjektiv ‚wachsend‘ auf die etymologische Wurzel des griechischen Wortes Φυσις ‚Physis/Natur‘ an, das von dem Verb φυειν ‚phyein/ wachsen‘ abgeleitet ist.45 Die ‚wachsende Natur‘: aus ihr kommt das Leben, sie umfängt alles mit ihrer Liebe. Für Hölderlin wird sie zum Urgrund aller Religion, zum Ursprung aller Geschichte und zur Quelle aller Dichtung. So deutlich wie kein anderer seiner Generation hat er diese seine tiefste Überzeugung ausgesprochen, auch wenn er sie dem Bruder gegenüber wieder nur verdeckt in einem Vergleich zum Ausdruck bringt. Homerische Sprache: „Andenken“ Was Hölderlin in den Briefen als Prinzip des gesellschaftlichen Ganzen entwirft, erscheint in seinen Gedichten aus der Zeit der Jahrhundertwende in Poesie verwandelt. An Stelle des bei seinem philosophischen Lehrer Kant vorherrschenden Prinzips der Vernunft beruft er sich auf das von den Griechen ererbte Prinzip der Natur, einer zugleich lebendig angeschauten und von sprachlichen Reminiszenzen an Homer überformten Natur. In dem Gedicht „Andenken“ (FHA 8, 804 f.), 1803 nach seiner Rückkehr aus Bordeaux in Nürtingen geschrieben, erinnert sich der Dichter im Bild des Nordostwindes, der von seiner schwäbischen Heimat in Richtung der französischen Stadt an der Atlantikküste weht, an die dortige Landschaft, an „Die schöne Garonne, | Und die Gärten von Bourdeaux“, (V. 6  f.) eine Erinnerung, die er mit einer solchen Detailtreue vorträgt, dass mancher Interpret versucht war, die historische, von Hölderlin bei seinem Aufenthalt erlebte Topographie der Stadt zu rekonstruieren.46 Vor allem die Bäume der südfranzösischen Landschaft sind es, in denen ihm die „wachsende Natur“ erscheint: Tief fällt der Bach, darüber aber Hinschauet ein edel Paar Von Eichen und Silberpappeln;

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Homerische Sprache: „Andenken“

Noch denket das mir wohl und wie Die breiten Gipfel neiget Der Ulmwald, über die Mühl’, Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum. (V. 10–16)

In den beiden Anfangsstrophen des Gedichts erscheint demnach Bordeaux nicht als geschäftige Hafenstadt mit Lagerhäusern, Patrizierpalästen und populären Quartiers, sondern unter Ausschließung des eigentlich städtischen Aspekts ganz und gar als Naturlandschaft. Ähnlich, aber dennoch ganz anders die zweite Vergegenwärtigung der südwestfranzösischen Landschaft in der fünften Strophe. In ihr ist nicht mehr von der Stadt selbst die Rede, sondern vom Zusammenfluss von Dordogne und Garonne nordwestlich des eigentlichen Stadtgebiets, wo „meerbreit | Ausgehet der Strom“. (V. 55  f.) An diesem Ort, „der luftigen Spitz“, der Landzunge, die von den im spitzen Winkel zusammenfließenden Strömen gebildet wird und die eines der berühmtesten Weinbaugebiete der Welt ist, müssen sich die Schiffer endgültig von der Heimat verabschieden, denn mit dem Estuaire der Gironde beginnt das Meer und damit die Fremde. Das symmetrisch gebaute Gedicht vergegenwärtigt so an seinem Beginn und an seinem Ende zwei ganz verschiedene, aber durch den Strom verbundene Topographien der Hafenstadt. Dieser Kontrast findet seine Parallele in der Gegenüberstellung des idyllischen, umfriedeten Lebensbereichs der Frauen in der zweiten Strophe mit dem heroischen Kampf der Männer in der vierten. In dieser strukturellen Zweiteilung erscheinen alle Dinge der Welt verwandelt. Zu dem als Utopie der Frühe gekennzeichneten harmonischen Naturleben der Frauen gehört – ein Zeichen ihrer Fruchtbarkeit – der Feigenbaum, aber auch die Mühle, die den Untergang und die Transformation alles Lebendigen versinnbildlicht. Die andere Lebenssphäre, die der Männer, ist als Herrschaftsbereich der instrumentellen Vernunft und des ökonomischen Kalküls diesem Paradiesgarten entgegengesetzt. Die Bäume, die den Gärten der Frauen ihren Schatten spenden, sind zu „entlaubten Mast[en]“ geworden, (V. 46) und die Schiffer fahren um des „Reichtum[s]“ willen zur See. (V. 40) In der Welt der Männer werden Interessen durchgesetzt, wird Macht ausgeübt, weshalb diese Strophe im Wort „Krieg“ kulminiert und damit die extremste, aggressivste Form der Herrschaftsausübung bezeichnet. (V. 44)47 Statt des sanften, naturhaften Todes der zweiten Strophe hier also der gewaltsame der Waffen. Die strukturelle Zweiteilung des Gedichts hat ihr Vorbild in einem der berühmtesten Texte der antiken Literatur, der Beschreibung der Stadt der Phäaken im Siebten Buch der Odyssee. Dort kommt der schiffbrüchige Odysseus, geleitet von der Königstochter Nausikaa, an den Hof des Alki-

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noos und sieht dessen prächtigen Palast mit den goldenen Türen und Standbildern, in dem „der Phäaken hohe Beherrscher“ Tag für Tag ihre festlichen Gelage feiern. Fünfzig Weiber dienten im weiten Palaste des Königs. Diese bei rasselnden Mühlen zermalmeten gelbes Getreide, Jene saßen und webten und drehten emsig die Spindel, Anzuschaun, wie die Blätter der hohen wehenden Pappel; Und es glänzte wie Öl die schön gewebete Leinwand. Denn gleichwie die Phäaken vor allen übrigen Männern Hurtige Schiffe zu lenken verstehn, so siegen die Weiber In der Kunst des Gewebes; […] Außer dem Hofe liegt ein Garten, nahe der Pforte, Ein Huf’ ins Gevierte, mit ringsumzogener Mauer. Allda streben die Bäume mit laubichtem Wipfel gen Himmel, Voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven, Oder voll süßer Feigen und rötlich gesprenkelter Äpfel.48

Dieser Blick von außen, den der heimatlose Schiffbrüchige auf eine Gesellschaft im paradiesischen Zustand wirft, entspricht genau der Situation Hölderlins, der aus Bordeaux als Gescheiterter nach Deutschland zurückkehrt, das seine Heimat nicht mehr sein kann, und dort das Andenken an die südliche Stadt erneuert. Entscheidend für die Annahme, dass Homers goldenes Land der Phäaken als Subtext Hölderlins Hymne zugrunde liegt, ist die auffallende strukturelle Parallele, durch die in beiden Fällen die Frauen mit ihrer Sphäre der Gärten und „goldenen Träume“ (V. 23) der harten Welt der Männer auf ihren Schiffen gegenübergestellt wird. Die Sprache des Gedichts, das wie kein anderes von Hölderlin ohne direkte Bezugnahmen auf die griechische Mythologie auskommt,49 ist dennoch ganz und gar von homerischen Wendungen und Motiven durchtränkt. An der Evokation der Bäume lässt sich das mit besonderer Stringenz nachweisen. Auffällig ist, dass alle für die Stadt der Frauen charakteristischen Bäume schon bei Homer mit dem Tod in Verbindung gebracht werden. Der Feigenbaum ist im Epos eine charakteristische Landmarke unter den Mauern Troias, an der Achilles bei seiner tödlichen Verfolgung Hektors vorbeistürmt. „Beid’ an der Warte vorbei und dem wehenden Feigenbaume, | Immer hinweg von der Mauer, entflogen sie über den Fahrweg.“50 In Hölderlins genauer, aber verwandelnder Lektüre wird daraus in seinem späten Gedicht „Mnemosyne“ ein Todesmal des Achilles und ein Gedächtnisort des Untergangs der antiken Heroenwelt: „Am Feigenbaum ist mein | Achilles mir gestorben.“ (FHA Einleitung, 68) Ähnliches gilt für den Ulmwald, dessen „breite Gipfel“ sich „über die Mühl’“ neigen. (V. 14  f.) In dem Gespräch zwischen Andromache und Hektor im Sechsten Gesang der Ilias,

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Homerische Sprache: „Andenken“

in dem beide ihre Todesahnung beschwören, erzählt sie von der Tötung ihres Vaters durch Achilles, der nachfolgenden Feuerbestattung und der Errichtung eines Grabhügels: „und rings pflanzten Ulmen | Die Nymphen vom Berge.“51 So wird schon in „Andenken“ deutlich, dass bei aller strukturellen Sonderung in den Augen des Dichters insgeheim die Welt der Frauen und die Welt der Männer als Auswuchs der Natur identisch und beide vom Tod überschattet sind. Noch deutlicher wird auf die Identität von weiblicher und männlicher Welt in der Rede vom „edel Paar von Eichen und Silberpappeln“ abgehoben. Einerseits lässt sich in dieser Formel noch einmal die Polarität von Mann und Frau erkennen, wenn man sich an den homerischen Vergleich der webenden Frauen mit Pappeln und den der heldenhaften Männer mit Eichen erinnert, den Hölderlin selbst ausdrücklich in seiner Hymne „Der Rhein“ übernimmt, in der er seinen Freund Sinclair, für ihn der Inbegriff des politisch aktiven Helden, „im Dunkel des Eichwalds, gehüllt | In Stahl“ auftreten lässt. (FHA 8, 638) Andererseits aber stehen beide Bäume im homerischen Universum wiederum in einer geheimen Beziehung zum Tod. Die Pappel, deren griechischer Name acherois an den Unterweltsfluss Acheron erinnert, kommt zusammen mit der Eiche in der Ilias mehrfach in einem stehenden, charakteristischerweise auf den Schiffbau bezogenen Vergleich anlässlich der Tötung eines Helden im Kampf vor. Von dem auf Seiten der Trojaner kämpfenden Asios wird erzählt, sein Gegner Idomeneus habe ihn mit dem Speer getroffen, In die Kehle unter dem Kinn, und durch und durch trieb er das Erz. Und er stürzte, wie wenn eine Eiche stürzt oder Silberpappel Oder eine Fichte, eine hochragende, die in den Bergen Zimmermänner Herausschlugen mit Äxten, neugeschliffenen, um ein Schiffsbalken zu sein: So lag er vor den Pferden und dem Wagen hingestreckt, Brüllend, in den Staub verkrallt, den blutigen.52

Diese realistische, grausam schockierende Szene stellt die dunkle Unterseite der „wachsenden Natur“ dar, gehört aber wie die Idylle zur „schönen Welt“ des Dichters, zu der Homers ebenso wie zu der Hölderlins. Die Ilias ist ein Helden- und Todesepos, und – so weit Hölderlins Dichtung es neu schreibt – steht auch im Mittelpunkt seiner Naturanschauung der Tod. So sind in seinem „Andenken“ die Bäume der Frauen wie die der Männer gleichermaßen Todesmale. Aus den Gesängen der Ilias, in der die blutigen Schlachtszenen, wie die hier zitierte, das zentrale Geschehen darstellen, erwachsen bei Hölderlin die Strophen, die seiner Parteinahme in den Revolutionskriegen am Ende des Jahrhunderts geschuldet sind. So die ersten beiden Zeilen der Ode „Die Schlacht“ von 1798: „O Morgenroth der Deutschen, o Schlacht! du

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kömmst  | Flammst heute blutend über den Völkern auf“. (FHA  5, 408) Die blutige Völkerschlacht wird hier als Aufgang eines neuen Tages für die Deutschen herbeigesehnt. Im weiteren Verlauf des Gedichts wünscht der Dichter sich „zu fallen am Opferhügel“, womit die antike Quelle solcher Todessehnsucht schon angedeutet ist, die dann in den folgenden Strophen explizit benannt wird: Fürs Vaterland! zu bluten des Herzens Blut   Fürs Vaterland und bald ists geschehn! hab ichs    Doch schon als Knabe, mirs geweissagt     Da wie zuerst vom Heroentode Die heitergroßen Worte mein Herz vernahm,   Nun aber wall’ ich nieder ins Schattenreich,    Zu Euch, ihr Alten komm’ ich, die mich leben     Die mich zu sterben gelehrt, hinunter. (FHA 5, 408 f.)

Diese Zeilen sind ein Zeugnis für Hölderlins patriotischen Furor, aber ebenso für seine von Jugend an durch Lektüre genährte Vertrautheit mit der Todeswelt der Ilias und Odyssee. In bewusster Nähe zur „heitergroßen“ Antike Homers hat er in dessen gleichmütiger Weltsicht Leben und Tod als dialektische Einheit zu verstehen gelernt. In der Nachfolge des epischen Dichters eröffnen sich dem Modernen die beiden Seiten der Natur, die wachsende und die zerstörerische, und mit radikaler Wahrhaftigkeit akzeptiert er sie beide. Damit aber werden seine Texte verwundbar, lassen sich für die nationalistischen Exzesse missbrauchen, denen sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren.53 In dem Fragment „Die Völker schwiegen“, das sich auf den 1797 zu Ende gegangenen Ersten Koalitionskrieg bezieht und Napoleon als Sieger und Befreier der Völker feiert, ist die epische Schlachten­ beschreibung, wie die Ilias sie bietet, als Vorbild unmittelbar gegenwärtig: Und Heere tobten, wie die kochende See. Und wie ein Meergott, herrscht’ und waltete Manch großer Geist im kochenden Getümmel. Manch feurig Blut zerran im Todesfeld.

Das ist in äußerster Konzentration der homerische Blick auf Mensch und Geschichte. Ihm erscheint das Europa seiner Gegenwart als der Ort, auf dem „Die unaufhaltsame die jahrelange Schlacht | In wilder Ordnung sich umherbewegte“. (FHA 3, 105 f.) Die Sphäre des Dichters, die sich von der ursprünglichen Naturwelt wie von der durch ökonomische Ausbeutung und Krieg gekennzeichneten neu-

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zeitlichen Gesellschaftsordnung gleichweit entfernt hält, wird in der dritten Strophe der Hymne „Andenken“ und damit in der genauen Mitte des Gedichts als seine subjektive Vision beschworen. Um den Dichter versammelt sind die allegorischen Attribute seines Tuns, der Wein, für den Bordeaux berühmt ist, der aber vor allem auf die dionysische Inspiration des Dichters verweist. Als „dunkles Licht“ bezeichnet, (V.26) ist er in dieser paradoxen Attribuierung sinnlich ganz präsent – in vielen Versen Homers ist dem „Wein“, „oinos“ das epische Adjektiv „dunkel“, „melas“ beigefügt54 – darüber hinaus aber zum Sinnbild mystischer Erkenntniskraft der Dichtung gemacht. Der Dichter ruht „unter Schatten“. Sein Tun ist im Gegensatz zu den gewöhnlichen Tätigkeiten der Frauen und Männer kontemplativer Art. Aber damit soll nicht ausschließlich auf eine idyllische Naturszene verwiesen werden. Die Schatten, unter denen der Dichter ruht, sind nicht nur die der Bäume aus den ersten beiden Strophen, sondern es sind vor allem die homerischen „Schatten“, die Toten, wie sie etwa in der berühmten Unterweltfahrt des Odysseus im Elften Buch der Odyssee beschworen werden.55 Von ihnen sind die Gedanken des Dichters erfüllt, weshalb sie im eigentlichen Wortverstand „sterblich“ genannt werden können. Mit ihnen steht er im Gespräch von vergangenen „Tagen der Lieb’, | Und Thaten, welche geschehen“. (V. 35  f.) Noch einmal verweist diese Schlussformel der mittleren Strophe auf die Polarität von Frauen und Männern, Gärten und Meer, Liebe und Heldentaten, die das ganze Gedicht strukturiert. Zugleich deutet sie als Resümee des Geschehens in der Ilias auf die epische Tradition hin, in die sich der Dichter des „Andenken[s]“ stellt. Hölderlins Abendland: „Brod und Wein“ Religiöse Sehnsucht, der Wunsch nach der Verbindung mit einem höheren Wesen, das als Gott erscheint und als höchste Instanz eine vollendete Gemeinschaft unter Menschen garantiert, ist ein Urphänomen der Menschheit, das von Beginn ihrer Geschichte an Bestandteil der menschlichen Kultur war. So erweist sich auch die Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800, in der die kulturelle Elite Westeuropas sich vom Deismus und damit von der letzten schwachen Erinnerung an einen transzendenten Gott lossagt und stattdessen die neuzeitlichen gesellschaftlichen Leitdiskurse propagiert, zugleich als Geburtsstunde neuer religiöser Vorstellungen und Praktiken. Um die hergebrachte, durch Jahrhunderte tradierte christliche Religion zu ersetzen, die in der Mehrheit der europäischen Bevölkerung noch fest verwurzelt war, bedurfte es in dieser Zeit des Umbruchs einer ‚Gegenreligion‘. Sie wurde am sichtbarsten in Frankreich in Szene gesetzt, wo in den Jahren der Revolution Feste der Vernunft und des Vaterlandes gefeiert

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wurden, um den katholischen Kult zu verdrängen. Schon am 14. Juli 1790, dem Jahrestag des Sturms auf die Bastille, wurde auf dem Marsfeld in Paris und in den Provinzstädten das „Fest der Föderation“ begangen, das mit einem quasi religiösen Ritus die Einheit der französischen Nation feierte. Im November 1793 beschloss der Konvent, die Pariser Kathedrale Notre Dame in einen Tempel der Vernunft zu verwandeln. Jules Michelet beschreibt in seiner kanonischen Geschichte der Französischen Revolution den neuen „Kult der reinen Vernunft“.56 Dazu gehörte nicht nur die Überführung der Philosophen Descartes, Rousseau und Voltaire und des Märtyrers der Revolution, Jean Paul Marat, ins Pariser Pantheon, den Ruhmestempel der Nation, sowie – nach dem Vorbild des Christentums – die Einführung einer neuen Zeitrechnung und eines neuen Kalenders. Die Vernunft selber wurde, dargestellt von einer jungen, in blaue und weiße Gewänder gekleideten Frau, im Chor von Notre Dame auf einen eigens errichteten Altar erhoben und mit rituellen Gesängen gefeiert. In feierlicher Prozession begab sich dorthin am Abend des 10. November 1793 auch der Konvent, voll Enthusiasmus darüber, dass sich der Streit der Sekten „in der Einheit, der Unteilbarkeit der Vernunft“ aufgelöst hatte.57 Die Einheit, die hier wie auch beim „Fest des höchsten Wesens“ am 8. Juni 1794, kurz vor Beendigung der terroristischen Phase der Revolution, wiederum auf dem Marsfeld gefeiert wurde, ist für die Propagandisten der neuen Religion die Einheit der französischen Nation, die als demokratisch verfasste, in ihren Mehrheitsentscheidungen die Vernunft repräsentiert und die dem übrigen Europa die Errungenschaften der Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, bringen soll. In diesem ihrem Ursprung ist die Übersteigerung der Nation zu einer gleichsam religiösen Instanz schon angelegt, wie sie dann die Nationalismen des 19.  Jahrhunderts in ganz Europa verbreiten sollten. Allerdings waren alle diese Zeremonien nicht nur, wie Michelet sich ausdrückt, „traurig, trocken und langweilig“.58 Sie bargen auch die Gefahr in sich, vom Volk als Selbstinszenierung und Selbstvergottung ihrer Erfinder durchschaut zu werden. Als Robespierre, in die Farben der Republik gekleidet, den Festzug auf dem Marsfeld anführte, soll einer der Sansculotten aus der Menge der Gaffer ihm wenige Wochen vor seiner Hinrichtung zugerufen haben: „Dieser Schuft! Begnügt sich nicht damit Zeremonienmeister zu sein! Jetzt will er auch noch Gott sein!“59 Zur gleichen Zeit, als in Frankreich nicht nur dem Staat, sondern auch der Religion eine neue Form und Verfassung gegeben wurde, konterkarierten auch in Deutschland Dichter und Philosophen das Christentum durch neue Formen der Religiosität. Was in Frankreich sich hinter rituellem Gepränge verbarg und was der Mann von der Straße hellsichtig durchschaut hatte, wird in der Genieästhetik des jungen Goethe offen ausgesprochen. Hans Blumenberg hat unter dem Titel „Gegen Gott nur ein Gott“ darauf

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hingewiesen, dass Goethes Gedicht „Prometheus“, das der Anlass des Pantheismusstreits war und das Goethe selbst deshalb als das „Zündkraut einer Explosion“ bezeichnet hatte, eine „Selbstvergottung“ des schöpferischen Individuums darstellt und damit ebenfalls den alten Vatergott verdrängt.60 Zwar wird durch dieses Gedicht wie auch durch andere Hymnen der Sturmund-Drang-Zeit, etwa „Wanderers Sturmlied“, „zum Mythos Beziehung“ gestiftet, wie Blumenberg schreibt,61 doch von Religiosität im eigentlichen Sinne kann hier nicht die Rede sein. Es fehlt das Gegenüber, an das sich der Betende anrufend, bittend, verehrend wenden kann, wodurch er selbst und die ihn umgebende Gesellschaft im Tiefsten verwandelt werden. Wenn der Mensch sich selber an die Stelle des Schöpfergotts setzt, vermag er zwar, sich durch die Evokation mythischer Bilder ein neues Selbstverständnis zuzuschreiben. Gemeinschaft stiftende Kraft, die das wahre Indiz jeder Religion ist, wohnt diesen Texten jedoch nicht inne. Hölderlin hingegen hat eine Generation später das mit Hegel zusammen entworfene Programm einer ‚neuen Religion‘ zu verwirklichen gesucht. Diese Programmatik ist bisher nicht ernst genommen worden, indem die Gedichte seiner Reifezeit immer nur als hoch artifizielle künstlerische Gebilde, als hermetische Lyrik gelesen worden sind. Hölderlin jedoch will anderes. Für ihn ist Poesie Evokation und Beschwörung der Gegenwart der Götter in der Welt und einer Bindung des Menschen an das Göttliche. Dieses ‚eleusinische‘ Programm gestaltet er am überzeugendsten in seiner 1801 oder 1802 niedergeschriebenen Elegie „Brod und Wein“.62 In dem langen, nach antiken Vorbildern aus Hexametern und Pentametern gebildeten Gedicht von neun Strophen mit jeweils zwölf Versen inszeniert er sich als Stifter der poetischen Religion der Schönheit, wobei er als Dichter sich in die Figur des geschichtsphilosophischen Propheten und Mythenpoeten verwandelt. Indem er die Geschichte der Menschheit an ihrer Nähe zum Göttlichen misst und sie dabei in einem dialektischen Dreischritt von der Göttergegenwart in Griechenland zur götterfernen Nacht der eigenen Zeit entfaltet, kann er am Ende das künftige Heil verkünden, das sich sprachlich in den Worten der ‚Sänger‘, der Priester des Weingotts Dionysos, und zeichenhaft unter den Gestalten von „Brod und Wein“ manifestieren soll. So wird in Hölderlins Versen die antike Mythologie, deren Gestalten die Klassiker nur zu metaphorischen Bildern für die Manifestationen der äußeren oder inneren Natur inspiriert hatten, zum geschichtsmächtigen Mythos, der das Nahen des ‚kommenden Gottes‘ erwarten lässt. Durch diese messianische Aufladung, die sich wie Hegels dialektische Entfaltung des Weltgeistes an dem christlichen Dreischritt von Altem Testament, Neuem Testament und messianischer Endzeit orientiert, wird die Mythologie, wie das von Hegel und Hölderlin entworfene Manifest der Mysterienreligion forderte, im eigentlichen Sinne ‚philosophisch‘ und die Philosophie ‚mythologisch‘.

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In seiner pathetischen Beschwörung des Aufzugs der Nacht, in der die Tagesgeschäfte ruhen und Liebe und Gedächtnis ihre Zeit haben, schließt die Elegie an Hegels Gedicht „Eleusis“ an, in dem dieser die Nacht als „du meine | Befreierin, o Nacht!“ angeredet und den Adressaten Hölderlin in Anspielung auf die eleusinischen Mysterien daran erinnert hatte, „das nicht kund zu tun, | Was er in heil’ger Nacht gesehn, gehört, gefühlt“. (HFS 230, 232) Hölderlin „tut“ nichts „kund“, er lädt die Nacht mit geheimer Bedeutung auf. In pathetischer Steigerung apostrophiert er sie gleich vierfach, als „die Schwärmerische“ (V. 15),63 als „die Erstaunende“, „die Fremdlingin“ (V. 17) und schließlich als „Hocherhabne“, deren Gunst den Menschen zuteilwird, ohne dass sie wissen, „von wannen und was einem geschieht von ihr“ (V. 19 f.). Das mag zunächst als hoch dramatische, poetisch „bezaubernde“ Beschreibung der Nacht erscheinen, wie sie den Romantikern heilig war.64 Aber schon mit der Apostrophierung der Nacht als „Hocherhabne“ in der zweiten Strophe geht das Gedicht über die Beschreibung der äußeren Natur hinaus, wird philosophisch und lässt damit den gegenreligiösen Hintergrund des Gesagten erahnen. In der philosophischen Diskussion der Zeit, etwa in Kants Kritik der Urteilskraft (1790), wird das Erhabene im Rückgriff auf antike Theorien als zentrale Kategorie der zeitgenössischen Ästhetik eingeführt.65 Bei überwältigenden Naturereignissen, Kant nennt hier unter Anderem „am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend,“66 soll sich der Mensch bewusst werden, der Natur „überlegen zu sein“. „Alles, was dieses Gefühl in uns erregt, wozu die Macht der Natur gehört, welche unsere Kräfte auffordert, heißt alsdenn (obzwar uneigentlich) erhaben.“67 Das in Klammern gesetzte „uneigentlich“ verweist darauf, dass Kant sich durchaus noch bewusst ist, dass „erhaben“ eigentlich ein Attribut des einzigen Gottes ist.68 Bei Hölderlin ist es die Nacht, die „voll mit Sternen“ heraufzieht und daher als „Hocherhabne“ apostrophiert werden kann. Der eifrige Student Kants wird sich dabei auch an den „gestirnte[n] Himmel über mir“ erinnert haben, der nach dessen Kritik der praktischen Vernunft (1788) das „Gemüt“ mit gleichsam religiöser „Bewunderung und Ehrfurcht“ erfüllt.69 So tritt gleich zu Beginn von „Brod und Wein“ die überwältigende Macht, die aus der Natur spricht und der sich der Mensch als Gleichberechtigter stellt, als innerweltlicher Ersatz an die Stelle der religiösen Verehrung eines transzendenten Gottes. Zu Beginn der dritten Strophe wird der „Meister“ angesprochen, den Hölderlin in Wilhelm Heinse sieht, dem das Gedicht gewidmet ist. Ihn, den Verfasser des Ardinghello, beschwört er, „aufzubrechen“: „So komm! Daß wir das Offene schauen“ (V. 41). Auch so manifestiert sich Natur, eben als das Offene der griechischen Landschaft. Aber wie schon die Auswahl der im Folgenden genannten Orte zeigt, bricht der Dichter nicht in irgendeine

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reale Landschaft auf, sondern in die von der Gegenwart der antiken Götter geprägte des Mythos. Ausgehend vom „offenen Meer“ (V. 49), dem Herrschaftsbereich des Poseidon, evoziert er das „Land des Olymps“ (V. 51), also den Sitz des Göttervaters Zeus, und das „Land des Kadmos“, also die Landschaft um Theben, die als Ort der Manifestationen des Dionysos gilt, am nachdrücklichsten aber den „Parnaß“, der dem delphischen Gott Apollo und den Musen heilig ist. Auch hier wird der Gott selber nicht namentlich genannt, dennoch ist er in der Formel vom Schnee, der „delphische Felsen umglänzt“, gegenwärtig (V. 50). Denn Apollo gilt schon bei Homer als der Sonnengott und wird daher von ihm mit dem Beinamen „Phoibos“, der „strahlende“, „glänzende“ benannt. Auch hier spricht der Dichter also von der Natur in ihrer sinnlichen Erscheinung in der Landschaft nur insofern, als sie ihm als Manifestation des Göttlichen gilt. Zu ihr will er seinen Freund und „Meister“ Heinse hinführen. Diese Bedeutung der Natur wird in dem Ausruf, mit dem die vierte Strophe einsetzt, offen ausgesprochen: „Seeliges Griechenland! Du Haus der Himmlischen alle“. (V. 55) Wie in anderen Gedichten Hölderlins, etwa in „Archipelagos“ oder „Patmos“, wird hier die griechische Landschaft als Zeichen für die Gegenwart der antiken Götter aufgerufen. Allerdings nicht die mit eigenen Augen angeschaute, sondern die aus der Lektüre der Jugendzeit erinnerte, wie in der nächsten Zeile bewusst gemacht wird: „Also ist wahr, was einst wir in der Jugend gehört?“ (V. 56) Die Erinnerung aber verwandelt die Landschaft in ein bewohnbares Haus: „Festlicher Saal! Der Boden ist Meer! und Tische die Berge“. (V. 57) In ihr haben Menschen und Götter in der Vergangenheit gemeinsam gewohnt und wohnen dort im Andenken daran noch immer. Aber solche Erinnerung ist schwach. Die hektischen Fragen mit ihrer vielfachen Wiederholung des Fragepronomens „wo?“, mit denen in den nächsten Zeilen nach den Relikten der Göttergegenwart geforscht wird, zeigen die Unsicherheit des an seine Jugend sich Erinnernden. Noch steht der Realitätsgehalt der Vision von einem „seeligen Griechenland“ als festlichem Haus der Götter und Menschen in Frage. Der Zweifel wird gebrochen durch den Ruf „Vater Aether!“ Es ist dieses Wort, das, ein „uralt | Zeichen, von Eltern geerbt,“ (V. 69 f.) die Erinnerung an das antike Griechenland aktualisiert und sie zugleich in ihrer neuen Bedeutung begründet. In der Tat, ein ältestes Wort, denn schon im Zweiten Buch der Ilias, von Hölderlin 1788 in Maulbronn übersetzt, wird der Göttervater „Zeus aitheri naion“ genannt.70 In Hölderlins Version: „Zeus! du herrlichster! mächtiger! Wolkensammler! Bewohner des Aethers!“ (FHA 17, 349) Dass der Dichter auch in seiner Elegie bei der Apostrophe des Äthers an den Vater der Götter, den Beherrscher von Blitz und Donner, denkt, als der Zeus in der antiken Mythologie gilt, deutet er durch die Einleitung des Rufs an:

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er „bricht […] donnernd aus heiterer Luft“ (V. 63 f.) herein. Aber zugleich zitiert diese Apostrophe ein neuestes Wort, Wilhelm Heinses „Vater Äther, aller Lebengeber!“ aus dem Roman Ardinghello von 1787,71 das Hölderlin seit seiner Reise mit Susette Gontard und dem älteren Schriftsteller 1796 kannte. In dem großen metaphysischen Gespräch, das Ardinghello mit seinem griechischen Freund Demetri im Vierten Teil des Romans führt und in dem auch die schon zitierte Gottesformel vom „Eins und Alles“ fällt, legt der Autor seinem Helden die Meinung bei, die Griechen hätten die „Luft“ als die alles bewegende Kraft angesehen und ihr den Namen „Aether“ gegeben. Allerdings ist die Formel ganz offensichtlich eine Erfindung des Modernen, mit den im Roman angeführten Zitaten aus den griechischen Tragikern lässt sie sich nicht belegen.72 Hölderlin selbst deutet diese Herkunft des „Vater Aether“ spielerisch an, indem er die Apostrophe in der Form „Vater! heiter!“ vier Zeilen später wiederholt (V. 69). In der Assonanz wird noch einmal die „heitere Luft“ zitiert, zugleich aber auf Heinse hingewiesen, den Erfinder der Aether-Metaphysik, von dem er in einem Brief an seinen Bruder vom 6. August 1796 sagt: „Er ist wirklich ein durch und durch trefflicher Mensch. Es ist nichts Schöneres, als so ein heiteres Alter, wie dieser Mann hat.“ (FHA 19, 257) In seinem Hexametergedicht „An den Aether“, das unmittelbar nach dem Zusammensein mit Heinse geschrieben und von Schiller im Musenalmanach für das Jahr 1798 publiziert wurde, hat Hölderlin diese Privatmythologie expliziert und ihren naturreligiösen Gehalt in Worte gefasst. Hier deutet er die leitmotivartig am Anfang, in der Mitte und am Ende des Gedichts auftretende Apostrophe „Vater Aether!“ als die Grundformel seiner Naturreligion, indem er sie mit der „beseelenden Luft“ gleichsetzt. Für ihn ist der Äther das belebende Prinzip der Natur, zu dem alle Lebewesen „in freudigem Wachstum“ hinaufstreben. (FHA 3, 80) Vielfach verborgen hinter der spielerischen Maske des Vaters Heinse und des Göttervaters Zeus, wird durch diesen höchsten Gott seiner Privatmythologie schließlich der Gottvater JHWH seiner Autorität beraubt und durch die Lebenskraft der Physis, der ‚wachsenden Natur‘ ersetzt. Als göttlicher Urgrund der Kosmologie benannt, wird er zugleich zum Ursprung für die Utopie einer freudigen Menschengemeinschaft, die der Dichter in die Vergangenheit verlegt und in die Zukunft projiziert.73 In diesem Sinne will Hölderlins Poesie ‚Evangelium‘ sein, messianische Verkündigung kommenden Heils. Sie wendet sich an einen Adressaten, der für diese frohe Botschaft ein offenes Ohr und ein empfängliches Herz hat, an Wilhelm Heinse, der Hölderlin die griechischen Vorläufer seines neuen alten Gottesbegriffs geoffenbart hatte. Damit soll in nuce die Gemeinschaft Gleichgesinnter geschaffen werden, die das Gedicht als vergangene Zukunft imaginiert.

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Im Mittelteil des Gedichts beginnt  – wie in Pindars Epinikien  – die eigentliche Mythenerzählung, in der die Geschichte Griechenlands als Geschichte der olympischen Götter dargestellt wird. Die „Himmlischen“ sind es, die sich zunächst unerkannt dem Menschen nähern, sich dann aber als die „Offenbaren“ zu erkennen geben, die „schon längst Eines und Alles genannt“. (V. 83 f.) Man mag in diesem „schon längst“, mit dem die spinozistische Kosmosformel an dieser Stelle temporal eingeordnet wird, Hölderlins Bewusstsein dafür erkennen, dass sie schon von den Vorsokratikern erfunden wurde, also lange bevor in der klassischen Dichtung, in der Chorlyrik und der Tragödie, „dafür Worte, wie Blumen entstehn“. (V. 90) Denn – so Hölderlins Darstellung des Geschichtsverlaufs – erst nach historischer Leiderfahrung – „tragen muß er, zuvor“ (V. 89) – ist die menschliche Gesellschaft reif dafür, sich in gottgewollter Ordnung zusammenzufinden und so „in der Gegenwart der Himmlischen würdig zu stehen“. (V. 95) Als Zeugnis für diese Zeit der Gottesnähe gelten dem Dichter die Kulturleistungen der griechischen Klassik. Allerdings führt diese Erinnerung an eine hohe Zeit zugleich die elegische Einsicht von deren Ende mit sich. Die Landschaften, die der Dichter dem Freund als die des kommenden Gottes in der dritten Strophe vor Augen geführt hatte, werden nun im Vergleich mit der Vergangenheit als öde und gottverlassen erfahren: „Thebe welkt und Athen“. Die Dichter, die zuvor „ein Gott“ inspiriert hatte, sind verstummt. Nur in den letzten beiden Zeilen der Strophe wird diese Geschichte des Niedergangs noch einmal gewendet: „Oder er kam auch selbst und nahm des Menschen Gestalt an | Und vollendet’ und schloß tröstend das himmlische Fest.“ (V. 107 f.) Mit diesem Distichon verknüpft Hölderlin wie nebenbei die christliche Heilslehre mit dem antiken Mythos. Christus, der Gott, der Mensch geworden ist, erscheint als der letzte der olympischen Götter und damit als einer in der Reihe der Manifestationen der Physis. So wird der christliche Monotheismus in radikaler Weise vernichtet, indem die menschliche Gestalt des Gottessohnes als Ausdrucksgestalt der ‚wachsenden Natur‘ gedeutet wird, deren höchste Manifestation der „Vater Aether“ ist. Diese Mythenerzählung verwandelt Geschichte in Naturgeschichte, deren Verlauf menschlicher Verantwortung entzogen ist. Aus der Bezugnahme auf Christus ziehen die drei letzten Strophen des Gedichts ihren Trost. Auf die Frage: „wozu Dichter in dürftiger Zeit?“ (V. 122) lässt Hölderlin den Adressaten des Gedichts antworten, sie seien „wie des Weingotts heilige Priester“. Damit wird der Dichter zum Vertreter Gottes auf Erden ernannt, zum Propheten des Dionysos, des „kommenden Gottes“. Dichtung definiert sich zugleich selbst als Verkündigung eines endzeitlichen Heils. Die folgenden Strophen führen aus, wie das möglich sei. Sie erinnern an die „Zeichen“ (V. 131), welche die Götter bei ihrem Rückzug aus der Welt

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hinterlassen haben. Sie sind doppelter Natur. Zum Einen sind es die Worte, in denen das Gedächtnis an die frühere Anwesenheit der Götter aufbewahrt ist und wie sie im „Lob“ des „Alten“, also in der Elegie selbst, ertönen. Zum Anderen haben sie die Gestalt von Brot und Wein, erscheinen als die Gaben von Ceres und Dionysos. Zwar denkt der Dichter dabei auch an die Eucharistie: „Aber es lebt stille noch einiger Dank“, sagt er, das griechische Wort Eucharistie ins Deutsche übersetzend. (V. 136) Aber zugleich charakterisiert er Brot und Wein als Naturgaben und vollzieht damit noch einmal die Transformation des christlichen Glaubens in eine Naturreligion, wie sie schon in der Gleichsetzung von Christus und Dionysos angedeutet war. In dieser Verwandlung geht die weltgeschichtliche Berufung des Abendlands nach Hölderlins Geschichtsmythos ihrer Vollendung entgegen: „Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt, | Siehe! wir sind es, wir; Frucht von Hesperien ists!“ (V. 149 f.) In dem „wir“ finden sich der Dichter und der Adressat, finden sich Hölderlin und Heinse zusammen. Aber in diese höhere Gemeinschaft, so will es die hesperische Ideologie einer Synthese von Griechentum und Christentum, sind virtuell alle Menschen des alten Kontinents eingeschlossen. Zur Bekräftigung dieses Bundes tritt am Ende „als Fackelschwinger des Höchsten | Sohn, der Syrier“ (V. 155 f.) auf. Dionysos und Christus sind hier zu einer Figur verschmolzen, womit die prophetische Dichtung der Alten ihre Erfüllung findet. Als Zeugnis der eschatologischen Heilserwartung reflektiert Hölderlins Gesang so am Ende sich selbst: „Seelige Weise sehns“ (V. 157). Denn es sind die Dichter, die wie Hölderlin in seiner Elegie das künftige Kommen Gottes in der wachsenden Natur schon gegenwärtig sehen. So kann das Gedicht mit einem idyllischen Bild enden, das die antike Unterwelt in besänftigtem Schlaf zeigt, auch damit noch einmal verfremdend an Christus erinnernd, der als Auferstandener in die Hölle hinabgestiegen ist. Das Verstummen: „Mnemosyne“ Erst am Ende seiner Schaffenszeit erkennt Hölderlin, dass die Natur undurchschaubar ist und daher als Wachstumsgrund einer neuen Religion und als Begründung einer friedlichen Gemeinschaft unzureichend. Diese Einsicht gewinnt er, indem er mit letzter Radikalität seine Erinnerung an die homerische Welt in ihrer Todesverfallenheit beim Wort nimmt. In dem kurzen, im Taschenbuch für das Jahr 1805 gedruckten Gedicht „Hälfte des Lebens“ sind schon die beiden Seiten einer natürlichen Weltsicht evoziert, die vermenschlichte und so zu uns sprechende Natur, der Herbst mit seiner Überfülle der Früchte und der See mit den Schwänen, die ihr „Haupt“ ins „heilignüchterne Wasser“ tunken. Hier scheint die Natur noch einmal

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Ursprung religiöser Erkenntnis werden zu können. Dem wird in der zweiten Strophe jedoch deren todesstarre Winterseite entgegengestellt: „Die Mauern stehn | sprachlos und kalt, im Winde | Klirren die Fahnen“. (FHA 8, 757) Jede dieser Zeilen zeugt von Erstarrung, Sprachverlust und Tod und damit von der Abwesenheit des Menschlichen wie des Göttlichen. Die Ratlosigkeit des Dichters, die jedoch keine Resignation ist, resultiert aus der Ambivalenz der Natur, wie sie in diesem kurzen Gedicht zutage tritt. Hölderlin hat sie in einigen seiner spätesten Fragmente als Einsicht in die Unmöglichkeit der Begründung einer neuen Religion und der Deutung menschlicher Existenz aus der ‚wachsenden Natur‘ gefasst: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. (V. 1)74 Mit dieser Zeile beginnt die zweite Fassung des im Sommer 1805 konzipierten Fragments „Mnemosyne“,75 in dessen Verlauf auch die Natur als vom ehernen Gesetz des Todes verschattete erkannt und damit die Nichtigkeit des auf die ‚Physis‘ sich berufenden geschichtsmächtigen Mythos anerkannt wird. „Schmerzlos sind wir und haben fast | Die Sprache in der Fremde verloren.“ (V. 2 f.) Wie betäubt, „schmerzlos“, fühlt sich der Sprechende. Nur diesen Zustand vermag er noch in Worte zu fassen. Denn die Welt ist ihm zur Fremde geworden, über die sinnhaftes Sprechen nicht mehr möglich ist. Deshalb stellt sich ihm grundsätzlich die zweifelnde Frage, „ob noch ist der Gott“. So die Formulierung im Manuskript, die – weil zu offensichtlich – keinen Eingang in die endgültige Fassung gefunden hat.76 Nein, der Gott der ‚wachsenden Natur‘, der Gott des Dichters ist nicht mehr. Ihn hat es nie gegeben, weil die Natur und deren Geschöpf, der Mensch, als Zeichen „deutungslos“ sind, weder von sich aus Träger von Bedeutung sind, noch gedeutet werden können. Die damit zu Tage tretende heillose Verwirrung schreibt der Dichter nun auch der Natur selbst zu. Auch sie ist ratlos geworden, liegt im Widerstreit mit sich selbst: „Ein Streit ist an dem Himmel und gewaltig | Die Monde gehen, so redet | Das Meer und Ströme müssen | Den Pfad sich suchen.“ (V. 5–8) Lediglich die Tatsache, dass „Einer“ (V. 9) ist, dass es das Eine, Göttliche gibt, erkennt der Dichter noch an. Doch dessen nähere Bestimmung bleibt im Verborgenen, hat sich ins Geheimnis zurückgezogen, so dass aus ihm weder soziale noch ethische Schlussfolgerungen gezogen werden können. Deshalb versinkt für Hölderlin nun auch die Welt Homers in der Bedeutungslosigkeit. In der dritten und letzten Strophe des triadisch gebauten Gedichts trauert er über den Tod der homerischen Helden aus der Ilias und nimmt damit „Abschied vom Mythos“, der bisher sein Bemühen um die Etablierung einer Gegenreligion getragen hatte.77 „Am Feigenbaum ist mein | Achilles mir gestorben.“ (V. 35 f.) Von den Göttern ist hier nicht mehr die Rede. Stattdessen werden die homerischen Helden, mit denen er sich bisher identifiziert hatte, dem Tod überantwortet. In der ersten Strophe der 1799 entstandenen Elegie „Achill“ hatte Hölderlin den als „Herrlicher Göt-

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tersohn“ apostrophierten Heroen noch in der von ihm schon in der Jugend übersetzten Szene aus der Ilias gezeigt, in der seine Mutter Thetis ihn zärtlich wegen der ihm von Agamemnon angetanen Schmach tröstet. In deren zweiter Strophe klagt der Dichter selber sein Leid, weil er, der „dich heiliges Licht“, „dich Erd’ und deine Quellen und Wälder“ und den „Vater Aether“ liebend anrufen möchte, in Distanz zur göttlichen Natur bleiben muss: „als gehört ich nimmer zu ihr“. Doch hier bleibt noch Hoffnung, dass er den „hohen himmlischen Mächte[n] […] mit frommem Gesang“ gerecht werden kann. (FHA 6, 125). Im späten Gedicht hingegen ist Achill, mit dem der Dichter sich nun, wie das verdoppelte Pronomen anzeigt, noch enger identifiziert, gestorben „am Feigenbaum“, also an einem Ort, der – wie die einzige andere Erwähnung in Hölderlins Werk im Gedicht „Andenken“ zeigt – als Topos der Fruchtbarkeit und des Gesangs zu gelten hat, der aber in der Ilias auch schon Zeuge des Kampfes ist, in dem Achilles seinen trojanischen Gegenspieler Hektor tötet.78 Hier nun fällt nur noch der Todesschatten auf ihn. Mit dem homerischen Helden ist auch die ‚wachsende Natur‘, für die der Baum einsteht, gestorben. Mit der tonlosen Konjunktion „und“ wird ein weiterer Toter der antiken Heldenwelt angefügt, Ajax, der in der Ilias als der tapferste der Griechen gilt.79 Nun „liegt“ er „an den Grotten der See, | An Bächen, benachbart dem Skamandros“. (V. 37–39) Diese Bestimmungen, die Hölderlin seiner Übersetzung des Sophokleischen Aias entnommen hat, tragen zeichenhafte Bedeutung. Die Grotte, ein in einem natürlichen Prozess ausgewaschener Hohlraum, wird in diesem Kontext zum metaphorischen Hinweis auf die Leere einer auf die Natur sich berufenden Dichtung, in der Ajax in der Moderne und so auch im Gedicht Hölderlins „liegt“.80 Wird so die Unmöglichkeit einer Berufung auf die Antike erfahrbar gemacht und damit die Unmöglichkeit der Erinnerung an die Toten, die auch die Dichtung nicht zu überwinden vermag, wird in den nächsten vier Versen, in denen noch einmal von Ajax die Rede ist (V. 40–44), mit einem Perspektivwechsel die Erfahrung von dessen Wahnsinn evoziert: „An Schläfen Sausen ist […] Ajax gestorben“. Sein Verrücktsein ist nicht – wie im antiken Mythos – von der Göttin Athene provoziert, sondern entspringt seinen „Schläfen“, seinem eigenen Denken. Ajax, der König von Salamis, kommt in der Ebene von Troja zu Tode, nicht auf der heimatlichen Insel, wie Hölderlin schreibt: „nach | Der unbewegten Salamis steter | Gewohnheit, in der Fremd’“. Drastischer kann nicht zum Ausdruck kommen, dass die Natur keine Heimat ist, dass sie dem Schicksal des Menschen gegenüber „unbewegt“ bleibt und dadurch zur Fremde wird, in der der Mensch Orientierung und Verstand verliert. In diesem zweiten Blick auf Ajax ist der homerische Held zur emblematischen Figur des Dichters geworden, der angesichts der Heimatlosigkeit und absoluten Fremdheit der Welt, keinen klaren Gedanken mehr fassen,

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kein sinnvolles Wort mehr schreiben kann, der in den Schläfen nur noch ein unverständliches „Sausen“ verspürt. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in dieser radikalen Beschreibung Hölderlins Diagnose des eigenen Zustands erkennt. Er, der mit der hochgemuten Gewissheit in die Welt der Dichtung aufgebrochen war, in der Poesie eine eleusinische Religion der Schönheit schaffen zu können, findet sich am Ende in der Trostlosigkeit einer „unbewegten“ Welt wieder, in der die Allgegenwart des Todes jede Sinnzuschreibung der menschlichen Existenz und gar die Stiftung einer neuen Religion hinfällig macht. Daran zerbricht er. Das „Schläfen Sausen“ des Ajax ist die wahre Ursache, weshalb seine Dichtung „brüchig“ wird und er selbst sich in den „Wahnsinn“ flüchtet.81 Seit Pierre Bertaux’ bahnbrechenden Forschungen hat man erkannt, dass Hölderlins Rückzug aus der Welt der Gesunden und klar Denkenden nicht nur medizinische Gründe hat.82 Allerdings ist seine Flucht in den „Wahnsinn“ wohl weniger durch die Angst bedingt, als Jakobiner entlarvt und als Revolutionär bestraft zu werden, wie Bertaux meinte, als vielmehr durch seine Einsicht in die radikale Fremdheit der natürlichen Welt und damit die Unmöglichkeit der Schaffung einer neuen Religion aus dem Geiste Homers. Zu Beginn der Strophe war die Nähe des Dichters zu Achill durch die Pronomen „mein“ und mir“ zum Ausdruck gekommen, womit gesagt war, dass er hier aus der Perspektive des Patroklos gesprochen hat, des innigsten Freundes Achills bei Homer. Lakonisch wird nun angefügt: „Patroklos aber in des Königes Harnisch“. (V. 44) Die Wiederholung des Verbs „ist  […] gestorben“ erübrigt sich in dieser Welt der Fremde und des Zerfalls. Auch der Dichter kann der allgemeinen Todesverfallenheit nicht entkommen. Schließlich wird das, was in den vorhergehenden Zeilen im Perfekt ausgedrückt war, um anzudeuten, dass es im Gedächtnis des Dichters bis in die Gegenwart fortdauere, zusammenfassend ins Paeteritum überführt, um zu zeigen, dass es sich um einen in der Geschichte sich stetig erneuernden Prozess handelt: „Und es starben | Noch andere viel.“ Das ist die Kurzfassung der vierundzwanzig Gesänge des homerischen Epos. Angesichts des massenhaften Todes, der in der Ilias geschildert wird und der sich als allgemeines Zum-Tode-verurteilt-Sein alles Lebendigen unaufhörlich wiederholt, wird jegliche poetische Religion, die auf das Wachsen der Physis setzt, sinnlos und daher auch deren poetische Stiftung, wie Hölderlin sie imaginiert. Die letzten Zeilen des Gedichts, in denen von der Titel gebenden Göttin Mnemosyne die Rede ist, sprechen aus, was im Gedicht sich ereignet hat: Das Gedächtnis, dessen griechische Bezeichnung der Göttin den Namen gibt, muss angesichts des alle Menschen betreffenden, jeden Sinnzusammenhang auflösenden Todes versagen. Das wollen die rätselhaften Zeilen bedeuten:

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Am Kithäron aber lag Eleutherä, der Mnemosyne Stadt. Der auch, als Ablegte den Mantel Gott, das abendliche nachher löste Die Loken. (V. 45–48)

In der Elegie „Brod und Wein“ war vom Abend als der Jetztzeit die Rede gewesen, in der die Götter ihre „Zeichen“ hinterlassen hatten, um die Menschen ihres künftigen Kommens zu versichern. Er war die Zeit des Gedenkens. Hier nun wird Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung, wie bei klassischen Statuen üblich, mit einer kunstvollen Frisur imaginiert. Ihr, die als pars pro toto für die griechische Kunst einsteht, löst „das abendliche […] Die Loken“. Das kulturelle Gedächtnis, das in der griechischen Kunst aufbewahrt war, kann im Abendland nicht mehr aufgerufen werden. Und auch den Grund hierfür spricht der Dichter mit äußerster Bewusstheit dessen, was an der Zeit ist, aus. „Gott“ hat den Mantel abgelegt, das heißt, sich seiner Würde entkleidet. Nicht „ein Gott“, auch nicht „die Götter“ oder „die Himmlischen“ oder „Vater Aether“, sondern „Gott“ als sprachliche Bezeichnung einer Leerstelle, an der einmal Gott gestanden hatte. Durch dessen Rückzug in die Unerreichbarkeit, ist alles Sprechen, ist alle Erinnerung, ist das Gedächtnis, aus dem der Mensch lebt, hinfällig geworden. Das Projekt der schöpferischen Erfindung einer neuen Mythologie ist gescheitert: „Dem | Gleich fehlet die Trauer.“ (V. 52) Mit dieser Schlusszeile hat Hölderlin seine weitere Existenz vorweg beschrieben, sein klagloses Leben von 1806 bis 1843 im Tübinger Turm. „Achsenzeit“. Das Ende des Monotheismus Hölderlins gesamtes dichterisches Werk ist geprägt von dem Versuch, mit seinen poetischen Texten in Anlehnung an die seiner Zeit unter dem Namen Spinozas verbreitete kosmische Naturreligion und im Rückgriff auf den antiken Polytheismus eine eigene „eleusinische“ Geheimreligion zu schaffen. Dieses hoch gesteckte Ziel bestimmt nicht nur die Faktur seiner Gedichte und seines Romans, sondern liegt auch seiner gesellschaftlichen und politischen Utopie zugrunde. Die von ihm angestrebte „Religion der Schönheit“ konzipiert er als Gegenreligion gegen den Protestantismus schwäbischer Prägung, zu deren Verbreitung er als Theologe verpflichtet gewesen wäre, weshalb er sich allen Versuchen, besonders denen der Mutter, ihn zur Übernahme eines Pfarramts zu überreden, hartnäckig widersetzt. Mehr noch als gegen das Christentum richtet sich die Stoßrichtung seiner „neuen Mythologie“ aber gegen den Monotheismus, wie ihn das Mosaische Gesetz zum ersten Mal verkündet hat. Deren in philosophischer Begriff-

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„Achsenzeit“. Das Ende des Monotheismus

lichkeit als das „Eins und Alles“ auftretende Grundformel verwandelt er in der mythologischen Redeweise seiner Poesie in den „Vater Aether“ und die Gemeinschaft der seligen Götter. Damit erfüllt die Religion der Schönheit die Forderung des Ältesten Systemprogramms nach einem „Monotheismus der Vernunft und des Herzens“ und einem „Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst“ und erweist sich so als Gegenentwurf zum göttlichen Gesetz, das Moses von JHWH am Berg Sinai geoffenbart worden ist. (HFS, 235 f.) Die neue Gegenreligion wendet sich jedoch nicht nur gegen die biblische Offenbarung, sie steigert zugleich die Wiederaufnahme der griechischen Mythologie, wie sie der klassischen Literatur zugrunde liegt, zu einer bis dahin unbekannten Intensität und gibt ihr dadurch eine neue Qualität. Die allegorische Funktion antiker Göttergestalten in den Werken Goethes und Schillers spielt auf einer Ebene der Gegenwart, der die Tiefenperspektive der Erinnerung an die Vergangenheit ebenso fehlt wie die Vision einer künftigen Fülle der Zeit. Stattdessen erscheinen Jupiter und Hera, Apollo und Athene in den Werken der deutschen Klassiker als Masken von in der äußeren Realität wahrnehmbaren Naturphänomenen. Bei Hölderlin werden sie als historische Figuren verlebendigt, die gelebt haben und einst wiederkehren werden, und damit werden sie zugleich intensiviert und aktualisiert. So können sie als lebendige Kräfte der Natur vergegenwärtigt werden, als göttliche Gestalten, in denen die Physis, die ‚wachsende Natur‘, ihren Ausdruck findet. Das heißt, die Geschichte des Kosmos wie die Geschichte der Menschheit werden von Hölderlin als ein ‚natürlicher‘ Prozess verstanden, der aus sich heraus sich entwickelt, somit ‚wächst‘ und endlich dem Heil zuwächst. Das ist das neue Evangelium, das die Poesie Hölderlins verkündet. Im Zentrum seiner Gegenreligion steht allerdings nicht, wie Peter von Matt behauptet, der „Begriff von Liebe“, insoweit er „etwas viel Umfassenderes meint als ein Gefühl“.83 Als Beleg hierfür beruft von Matt sich unter anderem auf Hölderlins Ode „Der Abschied“, worin der Dichter „den beseelenden | Schutzgott unserer Liebe“ apostrophiere, den er auch im Augenblick des Abschieds nicht „verraten“ könne. (FHA 5, 492) Hieraus und aus Gedichten Mörikes und anderer jedoch einen „Weltgott […], der ‚Liebe‘ heißt“, zu konstruieren,84 muss notwendigerweise den wahren Charakter der neuen Religion verkennen. Denn diese Verabsolutierung der Liebe ist selbst nur ein schwacher Widerschein des untergehenden Christentums in den Werken der Philosophen und Dichter des deutschen Idealismus, wie es auch ein alter Topos der antijüdischen Polemik ist, das Judentum als Religion des Hasses zu diffamieren und ihm das Christentum als Religion der Liebe gegenüberzustellen. Von diesem Kontrast lebt noch Hegels eingangs zitierte Gegenüberstellung von „Geist des Judentums“ und „Geist des Christentums“.

ChristusDionysos

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Der ‚Spinozismus‘ stellt zwar in dem beschriebenen Sinne eine ‚Gegenreligion‘ dar. Als solcher wendet er sich allerdings nicht so sehr gegen das Christentum, das sich durch seine Trinitätslehre und die Verehrung der ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ schon immer einem naturhaften Polytheismus angenähert hat, sondern gegen den strengen Monotheismus, wie er sich im gesetzestreuen Judentum manifestiert. Auch beruht er nicht auf einem abstrakten Begriff von Liebe, sondern auf dem als ‚wachsende Natur‘ verstandenen und als göttlich verehrten Kosmos, den Spinoza als natura naturans bezeichnet hat.85 Es ist dieses Prinzip der ‚wachsenden Natur‘, das schon den Vorsokratikern, dann Platon in seiner „ungeschriebenen Lehre“ und schließlich allen nachfolgenden Platonikern als Synthese von Einheit und Vielheit vor Augen stand und das schließlich in der Zeit um 1800 in die Formel vom ‚Hen kai Pan‘ gegossen wurde. Hölderlin hat in seiner Dichtung diesen neuen Gott des ‚Eins und Alles‘ sinnlich erfahrbar zu machen versucht. Schließlich hat Goethe am Ende der Epoche in seinem Gedicht „Eins und Alles“ von 1821, das an zentraler Stelle die Kontrafaktur eines christlichen Hymnus darstellt, die religiöse Bedeutung und die antichristliche Stoßrichtung der Formel herausgestellt, wobei auch er davon ausgeht, dass „es der Dichtkunst vielleicht allein gelingen könne, solche Geheimnisse gewissermaßen auszudrücken“.86 Mit der von Hölderlin und seinen Zeitgenossen erfundenen Religion der Schönheit geht eine Epoche zu Ende. Aber nicht nur, jedenfalls nicht unbedingt die christliche: In gewisser Weise könnte man sogar sagen, dass hier die christliche Religion mit ihrer Nähe zum Polytheismus verwandelt in ihr Recht eintritt. Es ist vielmehr der transzendente, eine und einzige Gott, es ist JHWH, der hier gestürzt werden soll. Neuerdings hat Jan Assmann zu Recht in der „biblischen Wende zum Monotheismus“ eine revolutionäre Neuerung der Menschheitsgeschichte konstatiert, die sich in den Rahmen der von Karl Jaspers so definierten „Achsenzeit“ um 500 vor unserer Zeitrechnung einpasst. Der im Buch Exodus als Schrift überlieferte Bundesschluss JHWHs mit seinem „heiligen Volk“ und die ihm zugrunde liegende Forderung nach Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes hat die beiden Bündnispartner, Gott und das Volk Israel, einander in einer zuvor nicht gekannten Weise angenähert und zugleich Gott in ein unzugängliches Jenseits außerhalb der Welt versetzt, weshalb Assmann die „Achsenzeit als die Entdeckung der Transzendenz“ definieren kann.87 Wenn aber das, was er als „Monotheismus der Treue“ beschreibt,88 eines der fundamentalen Ereignisse der ersten Achsenzeit ist, dann ist die Auslöschung des transzendenten Gottesbegriffs im Europa der Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800 ein ebenso epochaler, das Selbstverständnis des Einzelnen wie das der westlichen Gesellschaften verändernder Einschnitt. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Offenbarung, die JHWH Moses am Berg Sinai zuteilwerden lässt, sind die Zehn

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„Achsenzeit“. Das Ende des Monotheismus

Gebote, die ihren Kern ausmachen, Ursprung und zugleich Höhepunkt der Religionsgeschichte, soweit sie Geschichte der Beziehung des einen Gottes zu den Menschen und der Menschen zu diesem einen Gott ist. Nach diesem in der Neuzeit erfolgten Epocheneinschnitt hat die Naturreligion als scheinbar ‚natürliche Religion‘ den Monotheismus in der westlichen Welt mehr und mehr verdrängt und sich als reine Kultreligion etabliert. Als solche manifestiert sie sich am intensivsten im Kapitalismus, der keinen anderen Gott mehr kennt als das Wachstum des Kapitals. Auch er ist noch eine Ausdrucksform der auf der ‚wachsenden Natur‘ gegründeten Gegenreligion der Moderne. Denn die von der Aufklärung ihrer religiösen Fundierung beraubte ‚abendländische‘ Kultur hat auch später kein anderes fundamentales Prinzip als die Natur gefunden, auf das, wenn auch nur unausgesprochen, Welt und Gesellschaft zurückzuführen seien. Den drei das Heute beherrschenden Äußerungsformen dieser Kultreligion ist gemeinsam, dass sie ohne begrenzendes Gegenprinzip und ohne vom Menschen intendierte Zielsetzung aus sich heraus wachsen. So die auf grenzenlose ökonomische Expansion setzende Wirtschaftsform des Kapitalismus, so die durch das Internet ins Unendliche ausgeweitete Wissensgesellschaft, so die durch die elektronischen Medien allgegenwärtig gemachte Bilderflut.89 Der Gott des Moses hatte dieser seit den Anfängen des Lebens auf dem Planeten Erde und erst recht seit dem ersten Auftreten einer naturwüchsigen Menschheit ungehemmt wuchernden Natur mit den Gesetzen vom Sinai ihre Grenzen gesetzt und damit einer menschenwürdigen Gemeinschaft ihren Bauplan gegeben. Durch den Ausschluss der jüdischen Tradition hat sich die europäische Kultur hingegen wieder bedingungslos der Natur und ihrer Bilderwelt ausgeliefert. Wenn die Gebote: ‚Du sollst Dir kein Bildnis machen‘ und ‚Du sollst nicht töten‘ keine Gültigkeit mehr haben, lässt sich aus der ewig ‚wachsenden Natur‘ keine Handlungsmaxime für ein erfülltes menschliches Leben und eine friedliche Gesellschaft ableiten. Das markiert den epochalen Umbruch, der sich in Deutschland und in Westeuropa in der Schwellenzeit zwischen 1770 und 1800 ereignet. Von hier geht das Ende der monotheistischen Religion aus, die mit der Offenbarung Gottes durch Moses am Berg Sinai ihren Anfang genommen hatte. Mit ihr wird die Vorstellung von einem transzendenten, personalen Gott hinfällig, der den Menschen einen Bund zu ihrer Rettung angeboten hat.

4.  Das „Volk des Buches“ Heinrich Heines Entdeckung der Schreibweise der Moderne aus dem Geiste des Judentums ‚Unterm Feigenbaum‘. Israel als Ideal Friedrich Hölderlin war 1843 nach fast vierzigjährigem klaglosem Leben in der Anonymität des Turms am Neckar in Tübingen gestorben. Nur wenige Jahre später verfasste Heinrich Heine in Paris kurz vor seinem Tode sein geistiges Testament, das sein Verleger Hoffmann und Campe in Hamburg im Oktober 1854 im Ersten Band der Vermischten Schriften veröffentlichte. In dem bekenntnishaften, von ihm selbst mit Geständnisse überschriebenen Bericht legt Heine am Ende seines Lebens Rechenschaft über seine soziale und moralische Lage ab. Auch in dieser Selbstprüfung in extremis ist – wie in Hölderlins letztem Gedicht – vom „Feigenbaum“ die Rede. Indem er die „Sittlichkeit des alten Israel“ mit den „üppig buntesten und brünstigsten Naturkulten“ der Nachbarvölker kontrastiert, erhebt Heine das Volk der Juden zu einem unerreichten Vorbild für alle Späteren. Dabei fasst er den Vorrang des eigenen Volkes in die eingängige Formel: „Israel saß fromm unter seinem Feigenbaum und sang das Lob des unsichtbaren Gottes.“ (HB 11, 486) Bei Hölderlin figurierte der Feigenbaum als Zeichen für die letztendliche Vergeblichkeit allen Lebens, auch des heldenhaften. Der vor seinem schrecklichen und schändlichen Ende vergebens fliehende Hektor Homers ist das Assoziationsfeld, in dem Hölderlins Feigenbaum wächst. Hat der Dichter je einen Feigenbaum gesehen? Es ist anzunehmen, dass er ihm in der südlichen Landschaft der Gironde begegnet ist. Doch bei seiner Ankunft in Bordeaux im Januar 1802 sind die Feigenbäume entlaubt, strecken nur ihre kahlen, starren Äste in den Himmel. Im Gegensatz zu Hölderlin muss Heine auf seinen sommerlichen Reisen ans Mittelmeer von Fruchtbarkeit strotzende Feigenbäume gesehen haben, ihre kräftigen, glänzenden Blätter, die glatte, graue Rinde der Äste und die dunkelblau und grünlich schimmernden Früchte, deren leuchtendes Rot, wenn man sie aufbricht, an eine Vulva erinnert. Doch sind solche Vermutungen weniger von Belang als die Tatsache, dass es bei beiden Autoren die Schrift ist, die sie inspiriert, aus der sie ihre poetischen Bilder schöpfen. Nur sie gibt ihrem Bild vom Feigenbaum seine unverwechselbare, aber gegensätzliche

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‚Unterm Feigenbaum‘. Israel als Ideal

Bedeutung. Wie Hölderlin, der sich in „Mnemosyne“ auf das bei Homer erzählte Ende Hektors am Feigenbaum bezieht und dieses Motiv als Zeichen dafür einsetzt, dass das natürliche Leben, sogar das des geliebten Helden Achilles, dem Tod ausgeliefert ist, zitiert auch Heine einen kanonischen Text, allerdings nicht die Ilias, sondern das Erste Buch Könige: „[Salomo] hatte Frieden mit all seinen Nachbarn ringsum, so daß Juda und Israel sicher wohnten, jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum“. (1 Kön 5.4 f.) Statt wie im homerischen Epos mörderischer Krieg, herrscht in der biblischen Erzählung Frieden, statt Todesdrohung dort Verheißung des Lebens hier. So kann der Feigenbaum bei Heine zum Zeichen für die Geborgenheit und Süße der in Harmonie geordneten menschlichen Existenz werden. Die Hoffnung, die in der jüdischen Tradition aus der Erinnerung an das Königtum Salomons erwächst, erleuchtet auch Heines Utopie eines friedvoll in sich ruhenden Volkes. Allerdings säkularisiert seine Neuschreibung des Motivs das Salomonische Friedensreich, das im Buch Könige eine Vorausdeutung auf eine messianische Gesellschaftsordnung darstellt, zu einem irdischen Wohnort, an dem die Juden in Einklang mit Natur und Kunst und in Eintracht untereinander als Künder des „unsichtbaren Gottes“ leben, verwandelt sie also zur Utopie eines durchaus irdischen Paradieses. Wie das zu verwirklichen sei, glaubt Heine in seinen Geständnissen den Gesetzen des Moses entnehmen zu können, wie sie in der Thora niedergelegt sind. „Die Wiedererweckung meines religiösen Gefühls verdanke ich jenem heiligen Buche“, bekennt er im Mittelteil seines geistigen Testaments. „Man sieht, ich, der ich ehemals Homer zu zitieren pflegte, ich zitiere jetzt die Bibel.“ (HB 11, 482) Sein Vermächtnis, das sich zu einem Hymnus auf die „Riesengestalt“ (HB 11, 479 f.) des Moses entfaltet, ist demnach eine radikale Absage an die griechische Tradition wie auch an die von ihr sich herleitende idealistische Philosophie, insbesondere die der hegelschen Schule, der er in seinen Berliner Studienjahren und auch später angehangen hatte, zugleich damit auch ein unmissverständliches Bekenntnis zum Monotheismus und zum Judentum, in dem er seit seiner Kindheit zuhause gewesen ist: „Ich habe den Hegelschen Gott oder vielmehr die Hegelsche Gottlosigkeit aufgegeben und an dessen Stelle das Dogma von einem wirklichen, persönlichen Gott, der außerhalb der Natur und des Menschengemüthes ist, wieder hervorgezogen. Hegel ist bey mir sehr heruntergekommen, und der alte Moses steht in floribus.“1 Diese launige Bemerkung Heines, mit der er im Januar 1850 in einem Brief an Heinrich Laube in Wien seine gewandelten Ansichten in Sachen Religion beschreibt, betont mit Nachdruck seine Abkehr von dem, was er jetzt als den hegelschen Atheismus begreift, und verweist stattdessen auf den Urpropheten des Judentums als die Quelle seiner Inspiration. Allerdings sollte man aus solchen Bekenntnissen, denen sich viele ähnliche aus Heines letzten Lebensjahren an die Seite stellen ließen, nicht



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schließen, Heine habe, durch seine Krankheit bedingt, eine „neue jüdische Identität“ gefunden.2 Hinter dieser für die neuere Forschung charakteristischen Formulierung steht die Vorstellung, Heine habe sich unter dem Einfluss Hegels in jungen Jahren vom Glauben seiner Väter abgewandt, sei in Paris zu einem sinnenfreudigen Hellenen und saintsimonistischen Materialisten geworden, um schließlich 1848 nach dem Scheitern der Revolution und seinem physischen Zusammenbruch den Glauben an den einen Gott des Moses wiederzufinden. Diesem individualistischen Bekehrungsschema widerspricht Heine selbst energisch, wenn er in einem Brief an seinen Verleger Campe vom Juni 1850 darauf hinweist, dass die „religiöse Umwälzung“, die sich in ihm vollzogen habe, ein „Akt“ seines „Denkens“ gewesen sei. „Es sind große, erhabne schauerliche Gedanken über mich gekommen, aber es waren Gedanken, Blitze des Lichtes und nicht die Phosphordünste der Glaubenspisse.“3 Diasporisches Judentum Heines Selbstverständnis als Jude war niemals abhängig von einem persönlichen religiösen Bekenntnis. Vielmehr hat er vom Anfang seiner schriftstellerischen Karriere an keinen Zweifel daran gelassen, dass er sich selbst trotz seines zwischenzeitlichen Bekenntnisses zur hegelschen Philosophie oder später zu einem materialistischen Hedonismus stets unwiderruflich als Jude begriffen hat. Genauer noch: dass er sein Schreibverfahren als Autor von Anfang an von seiner Zugehörigkeit zum Judentum her definiert. Dies trifft 1824/25 auf die Niederschrift des Rabbi von Bacherach ebenso zu wie 1840 auf Ludwig Börne. Eine Denkschrift oder 1854 auf die Hebräischen Melodien des Romanzero. In der frühen Erzählung des Rabbi, die zum ersten Mal in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur einen genuin jüdischen Gehalt, die Schilderung der Familienfeier am Vorabend des Pessahfestes, in einen ästhetisch anspruchsvollen literarischen Text einführt, wird die Geschichte des Volkes Israel am Beispiel eines mittelalterlichen Pogroms als unaufhörliche Leidensgeschichte und als Irrfahrt im Exil begriffen. Zugleich ist Heines „Fragment“ aber auch eine Reflexion über die mögliche ästhetische Ausdrucksform dieser Geschichtserfahrung. Das Ursprungsereignis, das zur Konstitution des Volkes Israel geführt hat, der Auszug aus Ägypten und die Gesetzgebung am Berg Sinai, wird durch die fiktionale Erzählung des Ablaufs des Sederabends im Hause des Rabbi Abraham und durch die Zitate aus der dabei verlesenen Pessach-Haggadah vergegenwärtigt. Der katastrophale Ausgang der Feier und die darauf folgende Flucht ins Frankfurter Ghetto aber machen die Gefährdung dieser traditionellen Lebensformen des Judentums sichtbar.

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Diasporisches Judentum

Einen ersten Hinweis darauf, wo die Rettung der gefährdeten Tradition zu suchen sei, geben die Worte, mit denen Heine in der Erzählung der Sabbat-Feier im Frankfurter Ghetto die Heilige Schrift beim ‚Ausheben‘ der Thorarollen aus dem Thoraschrein (Aron ha-Kodesch) charakterisiert. Für ihn ist sie „jenes Buch […], das Gott mit heilig eigner Hand geschrieben und für dessen Erhaltung die Juden so viel erduldet, so viel Elend und Haß, Schmach und Tod, ein tausendjähriges Martyrthum“. (HB 1, 488) Die festliche Verlesung des Wochenabschnitts und seine Kommentierung, das ist das rituelle Verfahren, das nach der Zerstörung des Tempels und dem Ende des Opfergottesdienstes die Überlieferung des Judentums garantiert und damit zugleich den Zusammenhalt des Volkes trotz seiner Zerstreuung über den ganzen bewohnten Erdkreis. Heines fragmentarische Erzählung ist der Versuch, diese Tradition unter den Bedingungen der Moderne zu erhalten und fortzusetzen. Nicht ihrem Inhalt nach, als Indiz dafür ist die bewusste Auslassung des normensetzenden Gottes in allen Texten zu werten, die Heine aus dem kanonischen Schrifttum zitiert. An seiner Stelle setzt er stets die ‚Kinder Israel‘ als handelndes Subjekt der Geschichte ein, während er Gott nur ein einziges Mal und zwar als Urheber der Heiligen Schrift nennt. Wohl aber übernimmt er das in der jüdischen Tradition selbst geübte Verfahren der Textauslegung. Er konstituiert seinen Text als Kommentar eines rituellen Geschehens, der familiären Feier des Sederabends, und eines kanonischen Textes, der Pessah-Haggadah, die das Wesen des Judentums als eines diasporischen und zugleich messianischen begründen. Kommentar insofern, als die trügerische Idylle, in der sich Rabbi Abraham und seine Familie in Bacharach eingerichtet haben, zerstört wird, die Flucht aus der Heimat erneut stattfinden muss und die alte Geschichte des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten von der aktuellen Erfahrung eines judenfeindlichen Pogroms her erneuert wird. In ihr hat die Zerstreuung der Juden in der ganzen Welt, der Galut, wie er sich in der Schilderung des Frankfurter Ghettos im Zweiten Kapitel spiegelt, und das Renegatentum, wie es Don Isaac Abarbanel im Dritten Kapitel repräsentiert, ihren Ursprung. So erfüllt Heines Fragment auf das genaueste die Funktionen, die im Talmud den aggadischen Erzählungen zukommen. Es erneuert im Medium des fiktionalen Textes das biblische Ursprungsgeschehen und führt es zugleich mit der aktuellen Erfahrung des Autors und der Leser zusammen. Damit trifft schon auf Heine als Autor des Rabbi zu, was Walter Benjamin über Franz Kafka bemerkt hat. Das eigentliche Geniale an ihm sei, „dass er etwas ganz Neues ausprobiert hat: er gab die Wahrheit preis, um an der Tradierbarkeit, dem haggadischen Element festzuhalten“.4 Der inhaltlichen Fixierung von Heines Text auf den diasporischen Zustand des Judentums entspricht die Form des Kommentars auf das genaueste. Der Auszug aus Ägypten, das Ursprungsereignis des Exils und der Ver-



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heißung, wird nämlich nicht nur in der Erzählung der Flucht aus Bacharach neu inszeniert, es vollzieht sich auch in der Erzählung selber. Sie konstituiert sich als Auszug aus dem kanonischen Text der Heiligen Schrift in die fiktionale Schrift der Literatur, wobei allerdings die Funktion die gleiche bleibt. Im literarischen Text soll – wie im kanonischen – das kulturelle Gedächtnis des eigenen Volkes bewahrt werden. Er wird so zum erzählerischen Kommentar einer heiligen Ursprungsschrift, die als solche ihrer Aktualität verlustig gegangen ist, wohl aber als Zitat gegenwärtig gehalten und daher einer neuen Auslegung zugeführt werden kann. In doppelter Weise, inhaltlich wie formal, erweist sich Heines Erzählung damit als Schrift im Exil. Schließlich verdankt sich auch ihr fragmentarischer Charakter nicht nur den Zufällen einer unglücklichen Entstehungsgeschichte, sondern ist bedeutend als Wesensmerkmal des Kommentars, der nie an ein Ende kommt, der stets erneuert werden muss. Erzählung als aggadischer Kommentar, darin erfüllt sich das Paradox der Erfindung der Schreibweise der Moderne aus den ältesten, den talmudischen Traditionen des Judentums. Im Kontext der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unangefochten gültigen klassischromantischen Ästhetik bringt sie damit nicht nur inhaltlich, sondern auch formal etwas revolutionär Neues in die europäische Literatur ein.5 Lektüre der Thora Nicht von ungefähr steht in Heines frühester explizit jüdischer Schrift das im Zentrum, was den Mittelpunkt des rituellen Geschehens im Gottesdienst des diasporischen Judentums ausmacht, die feierliche Lektüre der „Gesetzesabschnitte aus den Büchern Mosis“. Mit großer Zärtlichkeit beschreibt der Dichter das Ausheben der Thorarolle aus ihrem Schrein an Shabbat und die darauf folgende Lektüre des Wochenabschnitts, der seine Figuren in der Frankfurter Synagoge beiwohnen: „Der Vorsänger nahm das Buch, und als sei es ein wirkliches Kind, ein Kind um dessentwillen man große Schmerzen erlitten und das man nur desto mehr liebt, wiegte er es in seinen Armen […].“ (HB 1, 488 f.) Es folgt eine minutiöse Beschreibung der rituellen Verehrung, welche die Gemeinde am Pessahfest der Schrift entgegenbringt. Damit bringt Heine in verwandelter Form die Erfahrung in den fiktionalen Text ein, die seine Zugehörigkeit zum Judentum trotz aller Wandlungen und Krisen während seines ganzen schriftstellerischen Lebens bestimmt hat. Die Lektüre der Thora ist es, die ihn dazu gebracht hat, sich bewusst in die jüdische Tradition zu stellen. In den auf Juli 1830 datierten Tagebuchaufzeichnungen, die er zehn Jahre nach ihrer Niederschrift als Zweites Buch von Ludwig Börne. Eine Denkschrift publiziert hat, gibt er den Eindruck wieder, den die Lektüre der

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Lektüre der Thora

Bibel auf ihn gemacht hat, obwohl er sich gleichzeitig als „ein heimlicher Hellene“ bekennt: „Welch ein Buch! groß und weit wie die Welt, wurzelnd in die Abgründe der Schöpfung und hinaufragend in die blauen Geheimnisse des Himmels … Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Verheißung und Erfüllung, Geburt und Tod, das ganze Drama der Menschheit, Alles ist in diesem Buche … Es ist das Buch der Bücher, Biblia.“ (HB 7, 39 f.) Der Einschub dieses autobiographischen Textes in seine Abrechnung mit dem früheren Mitstreiter Börne hat für Heine strategische Bedeutung. In ihm bestimmt er – und das ist die zentrale Aussage der „Denkschrift“ – seine Position als Jude im Kontext des zeitgenössischen Judentums, das heißt in Abgrenzung von den beiden Extremen der Säkularisierung, die er in dem sinnenfeindlichen, radikalen Republikanertum Börnes auf der einen Seite und dem wilden Kapitalismus des Börsenkönigs und neuen Herrschers der Welt, des Bankiers Rothschild, auf der anderen Seite, ausmacht. Börnes Herkunft aus dem Frankfurter Ghetto als einem Ort der Unterdrückung und der Trauer, sein „Sanskülottismus des Gedankens und des Ausdrucks“ (HB 7, 66 f.), schließlich seine Pariser Existenz im geistigen und sprachlichen Exil haben ihn zu dem gemacht, was ihn in Heines Augen, der sich zu dieser Zeit als „heimlichen Hellenen“ (HB 7, 39) begreift, am verabscheuungswürdigsten erscheinen lässt: „Börne war ganz Nazarener“ (HB 7, 18), lautet seine Diagnose, und damit ist gesagt: er war fanatischer Asket und Revolutionär. Nur von diesem politischen und zugleich existentiellen Kontext her ist Heines harsches Urteil gegen seinen einstigen Mitstreiter im Pariser Exil zu verstehen, das immer wieder Verwunderung und Entrüstung hervorgerufen hat. Insbesondere die unfeinen Anspielungen auf Börnes Privatleben, auf seine Ménage à trois mit Jeanette Wohl und Salomon Strauss, die ihm eine Forderung zum Duell einbrachten, und die Unterstellung, Börne würde sich in den Schoß der römisch-katholischen Kirche geflüchtet haben, wäre er nicht so früh gestorben, bleiben unverständlich, wenn man sie nur als postume Herabsetzung des einstigen Rivalen liest. Sie sind vielmehr grundsätzlicher Natur, gehören in den Zusammenhang von Heines Auseinandersetzung mit dem Konzept einer gewaltsamen politischen Revolution. In Börne sieht er die Gattung des moralistischen revolutionären Eiferers verkörpert, die zuerst „in Maximilian Robespierre, glorreichen Andenkens, ihren vollkommensten Repräsentanten gefunden. Mit diesem hatte Börne zuletzt die größte Ähnlichkeit: im Gesichte lauerndes Mißtrauen, im Herzen eine blutdürstige Sentimentalität, im Kopfe nüchterne Begriffe.“ (HB 7, 93) Diesen Börne, den Nachahmer des Tugendwächters der Revolution, sucht Heine durch die Hinweise auf sein Privatleben moralisch zu vernichten. Vor ihm, der die Sache des Umsturzes mit religiösem Eifer betrieben hatte, warnt er mit dem hellsichtigen, bis heute aktuellen Diktum: „[…] in der Tat, die Verbindung der beiden Fanatismen, des religiösen und des politischen,



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ist bedrohlich im höchsten Grade.“ (HB 7, 112) Für Heine, der seine Zeit als die einer permanenten gesellschaftlichen und politischen Umwälzung erfahren hat, steht der Mensch in seinem öffentlichen Handeln vor einer unausweichlichen Alternative: „In Revolutionszeiten bleibt uns nur die Wahl zwischen Töten und Sterben.“ (HB 7, 91). Mit diesem Satz, der an das zentrale soziale Gebot der Sinai-Offenbarung gemahnt: ‚Du sollst nicht töten!‘, formuliert Heine seine konkrete zeithistorische Erfahrung, und auf welcher Seite er, der Lesende und Schreibende, in diesem Falle steht, bedarf keiner Erläuterung. Erstaunlicherweise wird aber auch der Bankier Rothschild in Ludwig Börne. Eine Denkschrift als einer „der größten Revolutionäre, welche die moderne Demokratie begründeten“, charakterisiert. Er sei wie der römische Kaiser Nero „ein gewaltsamer Zerstörer des bevorrechteten Patriziertums und Begründer der neuen Demokratie“. Daher Heines Resümee: „Richelieu, Robespierre und Rothschild sind für mich drei terroristische Namen. […] Richelieu, Robespierre und Rothschild sind die drei furchtbarsten Nivelleurs Europas.“ (HB 7, 28 f.) Was Heine hier in knappen Worten ausspricht, hat er zu einem der literarischen Strukturprinzipien seines auf den Pariser Korrespondenzen der vierziger Jahre beruhenden Buchs Lutetia von 1854 gemacht. In ihm erscheint James de Rothschild, das Haupt des Pariser Familienzweigs, als der eigentliche Herrscher Frankreichs – Heine vergleicht ihn mit dem Sonnenkönig Ludwig XIV. –, der die Politiker der Republik des Juste Milieu samt dem Bürgerkönig Louis Philippe als bloße Marionetten erscheinen lässt. Aushöhlung der politischen Entscheidungsstrukturen durch ökonomische Interessen, die sich in Börsenspekulationen niederschlagen  – das ist die Diagnose, die Heine seiner Zeit mit ihren sozialen Problemen stellt. So erscheint das „Privatkabinett“ des Bankiers als „heiliger Boden“, er selbst als der Prophet der gesellschaftlichen Moderne, als ihr Moses und Mohammed in einer Person. „Denn das Geld ist der Gott unserer Zeit und Rothschild ist sein Prophet.“ (HB  9, 355) Rothschild der Terrorist, Rothschild der Sonnenkönig und schließlich Rothschild der Gesetzgeber der neuen Religion des Geldes, im Zeichen dieser emblematischen Figur steht für Heine das zu seiner Zeit sich ausbildende System einer globalisierten liberalen Marktwirtschaft.6 Als deren wesentliches Merkmal erweist sich die universelle Verfügbarkeit des akkumulierten Reichtums, in Heines Worten die Tatsache, dass die neuen Herren der Welt „überall“ von den Zinsen „ihres portativen Vermögens geschäftslos leben“ können. (HB 7, 29) „Portatives Vermögen“ – das wohl von Heine erst neugebildete Adjektiv7 bezeichnet in diesem Zusammenhang die Flüchtigkeit des an keine Landesgrenzen mehr gebundenen Kapitals. Es stellt damit in geheimer Korrespondenz das Gegenmodell zum kanonischen Text der Bibel dar, der von Heine in den Geständnissen als

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Das Buch der Bücher

„portatives Vaterland“ (HB 11, 483) der Juden charakterisiert wird. Diesem Vaterland der Juden rechnet er sich selber zu und nicht dem goldenen Kalb, dem sich die gesellschaftliche Moderne verschrieben hat. Das Buch der Bücher Börne, der terroristische Revolutionär, und Rothschild, der terroristische Kapitalist, von diesen beiden extremen, von Juden seiner Zeit vertretenen Positionen des Umsturzes grenzt sich der Dichter Heine ab, indem er sich der Bibellektüre zuwendet. Mit diesem dritten Weg einer Reaktion auf die gesellschaftliche Moderne bekennt er sich bewusst zur Tradition derer, die er mit einem Zitat aus dem Koran „das Volk des Buches“ nennt.8 „Ein Buch ist ihr Vaterland, ihr Besitz, ihr Herrscher, ihr Glück und ihr Unglück. Sie leben in den umfriedeten Marken dieses Buches, hier üben sie ihr unveräußerliches Bürgerrecht, hier kann man sie nicht verjagen, nicht verachten, hier sind sie stark und bewunderungswürdig. Versenkt in der Lektüre dieses Buches, merkten sie wenig von den Veränderungen, die um sie her in der wirk­lichen Welt vorfielen; Völker erhuben sich und schwanden, Staaten blühten empor und erloschen, Revolutionen stürmten über den Erdboden … sie aber, die Juden, lagen gebeugt über ihrem Buche und merkten nichts von der wilden Jagd der Zeit, die über ihre Häupter dahinzog!“ (HB 7, 40) Diese hymnische Beschwörung der Buchkultur bringt Heines Bewunderung und sein emo­ tio­nales Engagement für die hergebrachte Lebensform der Juden unmittelbar zum Ausdruck. Als Bibelleser, der er sein ganzes Leben lang war, stellt er sich selbst in die Reihe seiner Vorväter, denen das Studium der Thora zentraler Lebensinhalt gewesen ist und denen es ihr staunenswertes historisches Überleben gesichert hat. In den zitierten Sätzen aus seinem Helgoländer Tagebuch charakterisiert Heine sehr präzise den Lebensmittelpunkt, den die Lektüre und Kommentierung der Heiligen Schrift für das diasporische Judentum darstellt. Schon im frühen rabbinischen Judentum waren Tempeldienst und Opferritual durch das Studium der kanonischen Schriften ersetzt worden, wie der Talmud im Traktat Erubin festhält: „R. Semuél b. Inja sagte im Namen Rabhs: Das Studium der Tora ist bedeutender als die beständigen Opfer.“9 Diese Zentrierung auf den Text bringt es mit sich, dass nicht mehr der Priester, sondern der Schriftgelehrte als die autoritative religiöse Gestalt des Judentums fungiert, was auf der sozialen Ebene eine grundsätzliche Demokratisierung nach sich zieht, weil die Legitimation zur Interpretation der Heiligen Schrift nicht mehr an eine Priesterkaste gebunden ist, sondern grundsätzlich jedem offensteht.10 Gleichzeitig gewinnt der kanonische Text, dessen formale Gestalt als vom Thoraschreiber gefertigte Schriftrolle



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als unantastbar gilt, damit eine radikale Auslegungsoffenheit, in der die gegensätzlichsten Interpretationen aufeinanderprallen und als gleichberechtigte registriert werden können. Tradition in Form der Kontroverse wird so zum auszeichnenden Merkmal des diasporischen Judentums, wofür die den Talmud durchziehende Auseinandersetzung zwischen den Schulen der beiden ältesten Tannaiten, der des sanftmütigen Hillel und der des gesetzesstrengen Schammai, beispielhaft einsteht. Die ‚Vermenschlichung‘ der Thora durch die mündliche Lehre geht so weit, dass auch die allerhöchste Autorität, die Gottes, als Entscheidungsinstanz nicht mehr anerkannt wird, wie eine aggadische Erzählung aus dem Buch Baba Mezia des Talmud deutlich macht, in der um das Reinheitsgebot gestritten wird: „Es wird gelehrt: An jenem Tage machte R. Eliézer alle Einwendungen der Welt [zur Verteidigung der von ihm vertretenen Ansicht], man nahm sie aber von ihm nicht an. […] Hierauf sprach er: Wenn die Halakha wie ich ist, so mögen dies die Wände des Lehrhauses beweisen! Da neigten sich die Wände des Lehrhauses [und drohten] einzustürzen. Da schrie sie R. Jehosua an und sprach zu ihnen: Wenn die Gelehrten einander in der Halakha bekämpfen, was geht dies euch an! Sie stürzten hierauf nicht ein, wegen der Ehre R. Jehosuas, und richteten sich auch nicht gerade auf, wegen der Ehre R. Eliézers; sie stehen jetzt noch geneigt. Hierauf sprach er: Wenn die Halakha wie ich ist, so mögen sie dies aus dem Himmel beweisen! Da erscholl eine Hallstimme und sprach: Was habt ihr gegen R. Eliézer; die Halakha ist stets wie er. Da stand R. Jehosua (auf seine Füße) auf und sprach: Sie ist nicht im Himmel. [Deut 30. 12] – Was heißt: sie ist nicht im Himmel? R. Jimerja erwiderte: Die Tora ist bereits vom Berg Sinaj her verliehen worden [und befindet sich nicht mehr im Himmel]. Wir achten nicht auf die Hallstimme, denn bereits hast du am Berge Sinaj in die Tora geschrieben: nach der Mehrheit zu entscheiden. [Ex 23.2] R. Nathan traf Elijahu und fragte ihn, was der Heilige, gepriesen sei er, in dieser Stunde tat. Dieser erwiderte: Er schmunzelte und sprach: meine Kinder haben mich besiegt.“11 Deutlicher kann man das skandalöse Faktum einer radikalen Anthropologisierung der Heiligen Schrift, ihrer vollkommenen Emanzipation von ihrem Ursprung nicht formulieren: Gott selbst kann die Thora nicht besser auslegen als die Mehrheit der Weisen. Nicht nur Moses, der erste Prophet, sondern auch Gott als der ursprüngliche Schreiber der Thora muss angesichts der Heiligen Schrift und ihrer Auslegung durch die Gelehrten abdanken. Das bedeutet: Im kanonischen Text ist, wie schon Heine erkannt hat, die Intention des Autors unwichtig geworden. Hier zeichnet sich eine Entwicklung ab, die mit Fug und Recht als graduelle Ästhetisierung der heiligen Schrift bezeichnet werden kann.12 Denn deren Kanonisierung in einer autoritativen Textgestalt ermöglicht die Etablierung der vielen unterschiedlichen Bedeutungsschichten im Text bis hin

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zu einem verborgenen, nur den Eingeweihten zugänglichen Sinn. Von der auf die philosophische Lehre des Aristoteles bezogenen Auslegung eines Maimonides, der mehrdeutige Begriffe und Parabeln der Thora als philosophische Allegorien reinterpretiert, bis hin zur Lurianischen Kabbala, in der die gesamte Heilige Schrift als symbolische Gestalt eines geheimen Sinns verstanden wird, reicht dabei die Variationsbreite der jüdischen Auslegungstradition. Wenn die Kabbala in ihrer radikalsten Form den ganzen Text der Thora als einen einzigen Namen Gottes interpretiert, so verliert dieser in seiner tiefsten Schicht jegliche semantische Dimension; denn der Name Gottes hat keine referentielle Qualität, ist vielmehr eine direkte und daher ‚unlesbare‘ Manifestation Gottes. An ihrem Extrempunkt führt die strikte Kanonisierung der Thora so zu einer vollständigen Auslegungsoffenheit, wie sie den talmudischen Kommentaren zu eigen ist, die sich nur noch an der Tradition der mündlichen Lehre, das heißt, der früheren Kommentare orientieren. Heine hat, als er sich selbst in Ludwig Börne. Eine Denkschrift in die Gemeinschaft des „Volks des Buches“ einreiht, dies in dem Bewusstsein getan, dass dessen Lektüreverfahren die Bibel, „das Buch der Bücher“, in den absoluten dichterischen Text verwandelt. Unabhängig von den Intentionen ihres göttlichen Autors, wird sie an sich bedeutungslos und damit zum Gefäß unendlicher Deutungsmöglichkeiten.13 Diese radikale Autonomie des biblischen Textes betont Heine, wenn er unter dem Datum des „29ten Julius [1830]“ aus Helgoland von seiner Lektüre der Bibel berichtet: „Ich habe wieder im alten Testamente gelesen. Welch ein großes Buch! Merkwürdiger noch als der Inhalt ist für mich diese Darstellung, wo das Wort gleichsam ein Naturprodukt ist, wie ein Baum, wie eine Blume, wie das Meer, wie die Sterne, wie der Mensch selbst. Das sproßt, das fließt, das funkelt, das lächelt, man weiß nicht wie, man weiß nicht warum, man findet alles ganz natürlich. Das ist wirklich das Wort Gottes, statt das andere Bücher nur von Menschenwitz zeugen.“ (HB 7, 46) In der klassischen und romantischen Ästhetik hatte die Natur als Ersatz Gottes und zugleich als Urgrund aller Dichtung gegolten. Indem Heine die Thora zum „Naturprodukt“ erklärt, macht er sie zu einem autonomen Gebilde, setzt an die Stelle der natürlichen Produktivkraft die von ihrem göttlichen Schöpfer emanzipierte Schrift als Ursprung aller Bedeutung und allen späteren Schreibens, während er andererseits Homer, der bisher als Archetyp der ‚Naturdichtung‘ galt, zu einem ‚Produkt der Kunst‘ abwertet. In seinem Hymnus auf die Bibel als das „Vaterland“ der Juden akzentuiert Heine insbesondere die Abwendung von der Realgeschichte. Über der Lektüre der Heiligen Schrift, so seine Beobachtung, ziehen die Stürme der Geschichte unbeachtet an den Juden vorüber. Ihre Hinwendung zur ‚Textgeschichte‘ mache sie immun gegen die Erschütterungen und ‚Revo-



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lutionen‘ der Staatensysteme. Auch diese ausschließliche Fixierung auf die Lektüre und Kommentierung der Thora, von der her das diasporische Judentum spätestens seit der zweiten Zerstörung des Tempels seine Identität definiert, wird schon im Talmud als dessen auszeichnendes Merkmal reflektiert. Im Traktat Temura wird dieser Aspekt sogar so sehr betont, dass die weltliche Geschichte der Eroberungen und Kriege als Ablenkungsmanöver von der eigentlichen Aufgabe des Menschen, der Versenkung in das Gesetz Gottes, erscheint: „R. Jehuda sagte im Namen Rabhs: Als unser Meister Mose, in den Edengarten schied, sprach er zu Jehosua: Frage mich über alle Zweifel [d.  h. die unentschiedenen Rechtsfragen], die du hast. Er erwiderte ihm: Meister, habe ich dich je auch nur eine Stunde verlassen und mich nach einem anderen Orte begeben? Du selbst hast ja von mir geschrieben: Und sein Diener Jehosua, der Sohn Nuns, ein Jüngling, wich nicht aus dem Zelte. [Ex 33. 11] Da erschlaffte die Kraft Jehosuas, so daß er dreihundert Halakhoth vergaß und siebenhundert Zweifel ihm entstanden. Als nun ganz Jisrael ihn zu erschlagen sich aufmachte [weil er ihre Rechtsfragen nicht zu beantworten wußte], sprach der Heilige, gepriesen sei er, zu ihm: Sagen kannst du es ihnen nicht, geh und verwickle sie in einen Krieg. So heißt es: Und es geschah nach dem Tode Moses, des Knechtes des Herrn, da sprach der Herr ect. [Jos. 1. 1]“14 Die Erzählung des Talmud erweist sich als ein Text voller dialektischer Widersprüche. Wie immer im Talmud, so argumentieren auch hier die Schriftgelehrten mit Bezug auf die kanonischen Schriften. Zunächst stellen sie die Hybris des Josua heraus, der sich mit Moses, dem Vater des Gesetzes, auf einer Stufe wähnt und deshalb glaubt auf weitere Unterweisung in der mündlichen Lehre verzichten zu können. Selbst Gott kann ihm nach Abschluss der Offenbarung, die allein Moses unmittelbar zuteilwurde, bei der Auslegung der Thora nicht helfen. Sie ist jetzt ganz und gar den Menschen überantwortet. Das zuletzt angeführte Zitat ist dem Buch Josua entnommen, in dem Gott dem Nachfolger des Moses gebietet, über den Jordan zu ziehen und das Heilige Land zu erobern. Das Versagen des Josua als Schriftgelehrter zieht den Krieg nach sich, in dem Kanaan erobert wird, wobei sich das höchst anstößige Paradox ergibt, dass die Eroberung des Gelobten Landes im Nachhinein als Ablenkung von der eigentlich gebotenen Aufgabe, der Auslegung des göttlichen Gesetzes, interpretiert wird. Sehr deutlich kommt hier die Tendenz des diasporischen Judentums zum Ausdruck, den Besitz und das Studium der Bibel über den Besitz des Landes zu stellen und als den höchsten Wert des Lebens anzuerkennen. Deshalb wird die Episode in eine Schwellenzeit verlegt, in die Zeit nach Moses’ Tod und vor der Eroberung Kanaans. In diesem kritischen Moment erweist sich der Schriftgelehrte als dem Krieger überlegen, werden das Gesetz und seine Kommentierung zum Kanon der historischen Zeit gemacht.

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Heine hat die Bibel im Geiste dieser rabbinischen Tradition gelesen. Durch sie hat er, wie er 1852 im Vorwort der zweiten Auflage von Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland bekennt, seinen Weg zum Judentum gefunden: „In der Tat, weder eine Vision, noch eine seraphitische Verzückung, noch eine Stimme vom Himmel, auch kein merkwürdiger Traum oder sonst ein Wunderspuk brachte mich auf den Weg des Heils, und ich verdanke meine Erleuchtung ganz einfach der Lektüre eines Buches – Eines Buches? Ja, und es ist ein altes, schlichtes Buch, bescheiden wie die Natur, auch natürlich wie diese; […] und dieses Buch heißt auch ganz kurzweg das Buch, die Bibel.“ (HB 5, 512) „[M]eine Erleuchtung“, damit ist zunächst und vor allem die späte Hinwendung des in der „Matratzengruft“ Leidenden zu einer an keine Kirche gebundenen Religiosität gemeint. Insgeheim aber auch die Tatsache, dass er als Dichter sein spezifisches Schreibverfahren, mit dem er die europäische Literatur der Moderne begründet, an der Tradition der Lektüre und Auslegung der Heiligen Schrift geformt hat. Erst jetzt, da das Zeitalter des Buches sich seinem Ende zuneigt, können wir ermessen, was es heißt, dass die von Heine übernommene und weitergegebene Weisheit, durch die das „Volk des Buches“ unter den Völkern der Welt sich auszeichnet, durch ihn auch zu einem bedeutenden Element der literarischen Moderne geworden ist. „Hebräische Melodien“ Nach 1848 hat Heine die Prinzipien seiner selbstverständlichen und kontinuierlichen Identifikation mit dem Judentum, die seinen Werken unausgesprochen zugrunde lagen, auch explizit formuliert. An exponierter Stelle, im dritten und letzten Abschnitt seiner letzten großen Gedichtsammlung, des Romanzero von 1754, hat er unter der Überschrift Hebräische Melodien noch einmal  – wie zuvor schon im Rabbi von Bacherach  – den Versuch unternommen, die Tradition des Judentums in der deutschen Literatur heimisch zu machen. Wieder werden hier Riten und Texte des jüdischen Gottesdienstes evoziert, wieder werden sie kommentierend ausgelegt und damit aktualisiert. Stand dort im Ersten Kapitel des Romanfragments die häusliche Feier des Sederabends und damit das Ursprungsgeschehen der Geschichte des Volkes Israel im Mittelpunkt, so im ersten Gedicht der Hebräischen Melodien unter der Überschrift „Prinzessin Sabbat“ die wöchentliche Wiederkehr der Heiligung des Alltags. Ausgehend von einem ironischen Hinweis auf die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht besingt der Dichter in seinem „Lied“ das Schicksal Israels, das an den Wochentagen erniedrigt und verachtet ein Hundeleben führt und am Sabbat seine wahre menschliche Gestalt als Prinz wiederfindet.



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Mit einigen wenigen kräftigen Strichen, die durch Alliterationen hervorgehoben werden, zeichnet er die gemeinhin als selbstverständlich hingenommene erbärmliche Existenz der Menschen seines Volkes, die als Hausierer und Handlungsreisende sich durchschlagen müssen. Unter Anspielung auf deren miserable Lebenssituation berichtet er über den in einen „Hund mit hündischen Gedanken“ verwandelten „Prinzen“ Israel, er müsse wie ein streunender Köter herumlaufen, um das Nötigste zu verdienen.15 So „kötert er die ganze Woche | durch des Lebens Kot und Kehricht“. (V. 18 f.)16 Doch schon in der nächsten Strophe ist von der Verwandlung die Rede, die das Volk Israel „jeden Freitag abend“, das heißt, zu Beginn des Sabbat, erfährt. Jetzt wird der verachtete Jude „aufs neu ein menschlich Wesen“, wobei dieser Ausdruck durch die Wiederholung über den Strophensprung hinweg: „Mensch mit menschlichen Gefühlen“ erst seine volle ethische Bedeutung bekommt. (V. 24 f.) Eine ähnliche Doppelung bindet die beiden nächsten Strophen aneinander, in denen von „des Vaters Halle“ die Rede, in die sich der in einen Prinzen verwandelte Hund als in das Haus seines „königlichen Vaters“ begibt. Damit ist gesagt, erst die Nähe zum Vatergott macht ihn im vollen Wortsinn zum Menschen. Zum Sabbat-Beginn die Synagoge betretend, redet er diese mit einer biblischen Wendung als „Zelte Jakobs“ an (Num  24. 5), wobei er gleichzeitig, wie rituell gefordert, die an den „heilgen Eingangspfosten“ angebrachte „Mesuse“ küsst. (V. 29–32) Heine spricht nicht ausdrücklich von dieser das „Schma Israel“ bergenden Kapsel, die am Türpfosten jedes jüdischen Hauses angebracht ist. Aber mit der Geste des Kusses der Türpfosten deutet er auf sie hin und damit auf den Kern jüdischer Religiosität; denn auf die in ihr enthaltene Pergamentrolle sind die Verse aus Deuteronomium 6 geschrieben, die mit den Worten beginnen: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.“ Heine unterstreicht damit den religiösen Charakter des Geschehens und verbirgt ihn zugleich. So auch in der nächsten Strophe, wenn er den „Hausherrn“ als „unsichtbar“ apostrophiert und ihn damit dem Blick des Eintretenden wie des Lesers entzieht, zugleich aber ihm eine der auszeichnenden Eigenschaften des transzendenten Gottes zulegt. (V. 35) Erst nachdem so der religiöse Ernst des Gottesdienstes hervorgehoben ist, kann Heine sich in den nächsten Strophen auch dem malerischen Aspekt des Sabbatabends in der Synagoge zuwenden, dies aber mit Motiven, die schon in der Wortwahl auf ihren jüdischen Charakter hindeuten. Vom „Synagogendiener“ ist die Rede, der die „trostverheißend goldene[n] Lichter“ anzündet, von dem kostbaren Vorhang, der den Thoraschrein verdeckt, und vom „Gemeindesänger“, der sich als eitles „Männchen“ präsentiert. (V. 37–56) In diese ironisch-idyllische Szene, die durchaus den nur wenig mehr als zehn Jahre später entstandenen Bilder[n] aus dem Altjüdischen Familienleben des Frankfurter Malers Moritz Daniel Oppenheim zu vergleichen ist,17

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sind jedoch immer wieder hebräische Termini aus dem religiösen Leben des Judentums eingestreut, so „Almemor“ (V. 44) oder „Thora“ (V. 45), deren Bedeutung sich der nicht kundige Leser erst verdeutlichen muss. Die hebraisierende Tendenz der Verse erreicht am Ende der fünfzehnten Strophe ihren Höhepunkt. Hier zitiert Heines Gedicht in lateinischer Umschrift die hebräische Anfangszeile des Liedes, das in der Synagoge traditionellerweise zum Sabbat-Eingang gesungen wird: „Lecho Daudi Likras Kalle“ (V. 60 u. 61). Dieser Vers, zu Beginn der nächsten Strophe wiederholt und dadurch hervorgehoben, ist lyrische Dichtung und Gottesdienst zugleich und verweist damit auf den Charakter, den auch Heines Verse anstreben. Er ist als bewusstes Zitat des zum Sabbat-Gottesdienst gehörigen Liedes des spätmittelalterlichen Dichters Shlomo Halevi Alkabez in Heines deutschsprachige Lyrik eingefügt und unterstreicht so die Eigenart, aber auch die Fremdheit des synagogalen Ritus wie der heineschen Lyrik. Auf das Zitat in der Originalsprache folgt dessen freie Übersetzung: „Komm, Geliebter, deiner harret | Schon die Braut, die dir entschleiert | Ihr verschämtes Angesicht!“ (V. 62–64) Wer spricht hier? Die Verse sind nicht durch Anführungszeichen als Rede einer bestimmten Person gekennzeichnet, wie das bei der Rede des „Prinzen“ (V. 29 ff.) und der „Fürstin“ Sabbat (V. 95 ff.) der Fall ist. Sie sind in der Tat variierende und transformierende Wiedergabe eines rituellen Textes, der in der gebräuchlichen Version eines Gebetbuchs lautet: „Komm, mein Freund, der Braut entgegen, den Sabbath laßt uns freundlich empfangen.“18 Heines Umformung macht aus der allgemeinen, von der betenden Gemeinde geäußerten Aufforderung an jedes einzelne ihrer Mitglieder, den Sabbat zu begrüßen, eine Bitte der Prinzessin Sabbat an den „Geliebte[n]“, sich ihr zu nähern, verbunden mit dem Versprechen, dem ihr Begegnenden ihr Antlitz zu zeigen. So hat Heine den Text des rituellen Feiergesangs in ein Liebeslied verwandelt, in dem die Geliebte „verschämt“ ihre Zuneigung eingesteht. Der Eintritt des Menschen in den Sabbat wird zur Begegnung des Menschen mit dem Anderen des Alltags im eigentlichen Wortsinn, von ‚Angesicht zu Angesicht‘ enthüllt es sich ihm. Der so veränderte und intensivierte Vers wird in den folgenden Strophen mit einem Kommentar versehen und dadurch ausgelegt. Zunächst wird der liturgische Text als „Hochzeitscarmen“ interpretiert, als dessen Verfasser Heine „Don Jehuda ben Halevy“ nennt, wohl eine bewusste Falschzuschreibung, um den Zusammenhang mit „Jehuda ben Halevy“, dem zentralen Gedicht der Hebräischen Melodien, zu unterstreichen, in dem die Figur des Dichters als Überbringer und Verwandler der göttlichen Botschaft im Mittelpunkt steht. (V. 65–68) Geschrieben hat das „Lecho Daudi Likras Kalle“ Schlomo ha-Levi Alkabez (1482–1584), der aus einer sefardischen Gelehrtenfamilie stammend, sich in der zweiten Hälfte seines Lebens in



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Safed in Galiläa, einem Hauptort kabbalistischer Mystik, niedergelassen hat. Sein um 1540 entstandenes Sabbat-Lied nimmt als Wechselgesang zwischen dem Volk Israel und seinem Gott Vorstellungen wieder auf, wie sie schon im Babylonischen Talmud vorherrschend waren, in dem in Sabbath 119 a erzählt wird: „R. Hanina pflegte sich am Vorabend des Sabbaths anzuziehen und gegen Abend zu sprechen: Kommt wir wollen der Königen Sabbath entgegengehen.“19 Das „Lecho Daudi“ ist aber durchaus auch von mystischen Vorstellungen geprägt. In der Spannung zwischen dem irdischen Jerusalem,20 dem Ausgang aus seiner ‚Verstörung‘ und seiner Vollendung, auf die mit dem Kommen des Messias, des Mannes aus dem Hause Davids, angespielt wird,21 wird der Sabbat als Präsenz der künftigen Vollendung in der irdischen Gegenwart beschworen. Beide Aspekte des liturgischen Textes klingen auch in Heines Versen an, die trotz der historisch unzutreffenden Verfasserangabe sich als kunstgerechte Auslegung eines kanonischen Textes geben. Nach der Nennung des Autors klären sie die wörtliche Bedeutung des zitierten Gedichts: In dem Liede wird gefeiert Die Vermählung Israels Mit der Frau Prinzessin Sabbat, Die man nennt die stille Fürstin. (V. 69–72)

Dieser hermeneutische Kommentar scheint die vielfältigen Beziehungsstrukturen des liturgischen Textes auf eine Bedeutung festzulegen,22 und damit zugleich der Belehrung für den des Hebräischen unkundigen Leser zu dienen. Sein didaktischer Charakter wird, wie der des ganzen Gedichts, unterstrichen durch die Form der Verse, die als reimlose vierhebige Trochäen gebildet sind und sich so prosaischer Rede annähern. Jedoch kündigt sich für den Kundigen in der Bezeichnung der „Prinzessin Sabbat“ als „stille Fürstin“ schon deren göttlicher Charakter an. Wohl erscheint der Sabbat auch als ein Gebot des Zeremonialgesetzes, wenn er als „personifizierte Ruhe“ (V. 82 f.) charakterisiert wird, und noch irdischer bei der Wiederholung der Wendung in Strophe dreiundzwanzig, als Jüdin, die beim Synagogenbesuch „Sittsam […] | in der Haube“, dem Scheitel, „ihre Zöpfe“ birgt. (V. 89 f.) Aber auch hier liegt im Vergleich der Prinzessin Sabbat mit der „Gazelle“ und der „Addas“, der „Myrte“, eine Anspielung auf religiöse Poesie vor, auf das Hohe Lied, das in der mündlichen Tradition des Judentums als symbolische Darstellung der Liebe Gottes zum Volk Israel gilt. Diese Verse, mit denen Heine dem religiösen Gehalt der Feier des Sabbat gerecht zu werden sucht, sind immer wieder durchflochten von Motiven, in denen der Dichter seiner Phantasie freien Lauf lässt. So im Vergleich zwi-

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schen der „stillen Fürstin“ und der „Königin von Saba“, die der Dichter als „Blaustrumpf Äthiopiens“ verspottet, damit die Pariser Salonschönheiten persiflierend, deren Geistreicheleien „auf die Länge fatigant“ wirken. (V. 74–88)23 Mehr noch, als die personifizierte Prinzessin Sabbat ihren Geliebten anspricht und ihm das Rauchen verbietet, ihm dafür aber „ein Gericht, das wahrhaft göttlich“ (V. 99) ist, verspricht. Auch hier bezieht sich Heine auf konkrete durch das jüdische Gesetz vorgeschriebene Verbote. Am Sabbat darf der orthodoxe Jude kein Feuer anzünden, deshalb nicht rauchen, aber auch nicht kochen. Stattdessen ist es Sitte, den am Vortag gekochten Schalet, ein Eintopfgericht, am Sabbat-Mittag zu essen. Schillers „Ode an die Freude“ parodierend, stimmt Heine „Schillers Hochlied“ an: „Schalet, schöner Götterfunken, | Tochter aus Elysium!“ (V. 101–104), womit er nicht nur die Vorliebe der Juden für dieses eher einfache Gericht ironisiert, sondern auch deren Verehrung für Schiller. Um sich schließlich zu der kühnen Behauptung aufzuschwingen, das Rezept für den Schalet sei Moses am Berg Sinai offenbart worden: Wo der Allerhöchste gleichfalls All die guten Glaubenslehren Und die heilgen zehn Gebote Wetterleuchtend offenbarte. (V. 109–112)

Mehr kann Ironie nicht leisten. Das religiöse und ethische Grundgesetz des Monotheismus, „des wahren Gottes“, ist hier neben das unbedeutende, nirgendwo in der Thora vorgeschriebene Rezept der Sabbatspeise gestellt und dadurch ins kulturelle Gedächtnis des Lesers zurückgerufen, während gleichzeitig das kanonische Bild der Antike, dem die damalige literarische Öffentlichkeit huldigt, als „Teufelsdreck“ und „Ambrosia der falschen  | Heidengötter Griechenlands, | die verkappte Teufel waren“, abgewertet wird. (V. 117–120) Noch einmal nimmt Heine am Ende das zentrale Motiv wieder auf, das den Sabbat als Vergegenwärtigung einer heilen Welt interpretiert, wenn er dem Geliebten nach dem Verzehr des Schalet eine Vision in den Mund legt, in der er Palästina als das Gelobte Land mit „dem Palmental von Beth-El“ (V. 127) schaut. Mit diesem Namen einer Ortschaft bei Jerusalem wird in hebräischer Sprache erneut auf das ‚Haus Gottes‘ angespielt, bevor Heine am Ende die Zeremonie des Hawdala, des Abschieds vom Sabbat, evoziert. Auch hier bleibt der Dichter dem orthodoxen Ritual treu, das mit dem Gewürzsegen über der „Nardenbüchse“, dem „Abschiedstrunk“ aus dem letzten Becher Wein und dem Auslöschen einer geflochtenen Kerze den Ausgang des Sabbats und die Wiederkunft des Alltags markiert. Im Zentrum des Zyklus der Hebräischen Melodien steht das Gedicht



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„Jehuda ben Halevy“, in dem Heine den spanisch-jüdischen Dichter des Liedes „An Zion“, Jehuda ha-Levi (1045–1141), zum Vorläufer der eigenen literarischen Ambitionen stilisiert. In diesem Text tritt seine Intention mit aller Deutlichkeit hervor, die literarische Tradition jüdischer Autoren sowie die in ihr ausgebildeten Formen der Kommentierung der Schrift in die deutsche Literatur einzuführen. Auch hier gebraucht er zahlreiche hebräische Termini, die in den Bereich der jüdischen Religion und Sakralkultur gehören, in seinem deutschsprachigen Liedtext. So beschreibt er die „Altchaldäische Quadratschrift“ (I, 40),24 in der die Thorarollen abgefasst sind, oder er erläutert die verschiedenen „Singsangweise[n]“, „Tropp“ (I, 48) und „Schalscheleth“ (I, 52), mit denen der heilige Text in der Synagoge zum Vortrag kommt. Auch hier wieder zitiert er, wie in „Prinzessin Sabbat“, die Anfangszeile der den synagogalen Gottesdienst eröffnenden Gesänge in lateinischer Umschrift: „Lecho Daudi Likras Kalle“ (III, 244). Dass es Heine dabei nicht um orientalisierendes Lokalkolorit zu tun ist, wie es in der Nachfolge von Goethes West-östlichem Divan in der deutschen Lyrik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Modeerscheinung geworden war, dass er nicht einen „Poesie-Orient“ evoziert,25 zeigen nicht nur die Erläuterungen, die er den unbekannten Worten beigibt, sondern vor allem der lehrhafte Charakter, der die Grundtendenz des Gedichts ausmacht. So erklärt er – um ein Beispiel zu geben – „den Targum Onkelos“ (I, 53), die Übersetzung der Thora ins Aramäische durch den griechischen Proselyten Onkelos, indem er dem Leser das Verhältnis dieser Sprache zum Hebräischen durch das Verhältnis des „Schwäbische[n] zum Deutschen“ (I, 59) erläutert. Die didaktische Tendenz des Großgedichts wird zu Beginn des vierten Abschnitts in einem satirischen Exkurs ausdrücklich thematisiert: Heine lässt sich darin auf eine fiktive Auseinandersetzung mit seiner Frau ein, was mit dem „Kästchen“ zu geschehen habe, das von Alexander dem Großen auf ihn gekommen sei. Mathilde möchte es in Paris, der Hauptstadt der Moderne, „im Passage Panorama“ (IV, 20) für ein modisches Accessoire eingetauscht wissen. So kommt ihre Unkenntnis „der arabisch-althispanisch | Jüdischen Poetenschule“ (IV, 43 f.) an den Tag. Augenzwinkernd schiebt Heine die Schuld an „solche[r] holden Ignoranz“ den „Lakunen | Der französischen Erziehung“ zu. (IV, 26 ff.) Dabei ist jedoch unübersehbar, dass die Kritik an den „Ochsinnen“ (IV, 52), sie stopften sich mit beliebigem positivistischem Wissen voll, und der Rat, stattdessen „Hebräisch zu erlernen“ (IV, 55), eigentlich an die Urheber des Sprichworts von den „Ochsen am Berge“, das heißt, an die deutschen Leser, gerichtet ist. In Kenntnis des Hebräischen würden sie „Das Triumvirat der Dichtkunst, | Das dem Saitenspiel Davidis | Einst entlockt die schönsten Laute“, (IV, 62–64), Iben Esra, Gabirol und Halevy, „im Originale lesen“ können. (IV, 59) Dieser Hinweis ist als Aufforderung Heines zu verstehen, das Hebräische und damit die in

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dieser Sprache geschriebene Literatur in den Kanon des schulisch überlieferten Wissens aufzunehmen. In diesem Zusammenhang kommt der breit ausgeführten Unterscheidung von „Halacha und Hagada“ (I, 83) im ersten Teil des Gedichts besondere Bedeutung für dessen poetologische Aussage zu. In der traditionellen Erziehung des jungen Jehuda, in dessen „Studium des Talmuds“, (I, 64) spielen diese beiden Formen, welche die Kommentierung des kanonischen Textes der Thora im Judentum angenommen hat, eine gleichgewichtige Rolle. Heine nimmt die Jugendgeschichte des Dichters zum Anlass, die Differenz der beiden Formen des Talmud verständlich zu machen und aus ihr die beiden Seiten des schriftstellerischen Charakters seines Vorbilds abzuleiten. Die „Halacha“, den normativen, die Religionsgesetze behandelnden und auslegenden Teil der „mündlichen Lehre“, vergleicht er einer Fechterschule, wo die besten Dialektischen Athleten Babylons und Pumpedithas Ihre Kämpferspiele trieben. (I, 69–72)26

Die „Hagada“ aber, die erzählerischen Teile des Talmud, beschreibt er als „Einen Garten, hochphantastisch“ (I, 87) und vergleicht sie in einem breit ausgeführten Gleichnis mit den hängenden Gärten der Semiramis. Durch das Studium der „Halacha“ habe Jehuda sein polemisches Talent entwickelt und sei so zum Autor des „Buch[s] Cosari“ (I, 76) geworden, einer religionsphilosophischen Darstellung des Judentums in Dialogen. Durch die „Hagada“ hingegen sei er ergriffen worden […] von der wilden, Abenteuerlichen Süße, Von der wundersamen Schmerzlust Und den fabelhaften Schauern Jener seligen Geheimwelt, Jener großen Offenbarung, die wir nennen Poesie. (I, 138–144)

Es ist evident, dass der Doppelcharakter von Jehudas dichterischem Genius, den Heine aus dem Studium des Talmud herleitet, seine polemische und zugleich poetische Begabung, ebenso auf ihn selbst zutrifft. Als Polemiker wie als Lyriker steht auch er in der spezifischen Tradition der jüdischen Schriftauslegung. Er bestimmt demnach hier sein eigenes Schreiben als das Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses, als die Umsetzung religiöser Diskursformen ins Literarische. Erstaunlich, dass er dabei schon die zentralen



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Kategorien herausarbeitet, die fünfzig Jahre später Chaim Nachman Bialik in seinem von dem jungen Gerhard Scholem ins Deutsche übertragenen Essay Halacha und Aggada zur theoretischen Grundlage der kulturzionistischen Erneuerung machen sollte.27 Aus der Thora leitet Heine folgerichtig auch seine neue Bestimmung von Funktion und Aufgabe des Dichters ab. Nach ihm war Jehuda Halevy: Stern und Fackel seiner Zeit, Seines Volkes Licht und Leuchte, Eine wunderbare, große Feuersäule des Gesanges Die der Schmerzenskarawane Israels vorangezogen In der Wüste des Exils. (I, 153–160)

Wie zur Zeit seiner Arbeit am Rabbi von Bacherach interpretiert er Dichtung hier im Medium der Werke seines spanisch-jüdischen Vorbilds als Ausdruck des „großen Judenschmerz[es]“28 und zugleich als Wegweisung im Exil. Der Dichter übernimmt dabei die Rolle des Propheten, des Mahners seines Volkes, weshalb Jehuda auch ausdrücklich mit Jeremias und dessen Lamentationen über den Fall Jerusalems verglichen wird. (III, 200) Mehr noch: Die durch den Strophensprung hervorgehobene zentrale Bestimmung des Dichters als „Feuersäule des Gesanges“ übernimmt aus der Thora (Ex 13,21 f.) die Beschreibung der Erscheinungsweise Gottes, der sein Volk durch die Wüste führt, um sie auf den Autor zu übertragen. Auch hier also Säkularisierung im eigentlichen Wortsinn: Während im ersten Zug durch die Wüste Gott selber seinem Volk noch den Weg weist, ist er in der späteren Geschichte Israels in der Diaspora, die diesen ersten archetypischen Exodus wiederholt, unsichtbar geworden. An seine Stelle ist, so Heine, der Dichter getreten. Heines Großgedicht hat mit all seinen Exkursen und assoziativen Weiterungen seine Einheit darin, dass es als Metamorphose der Dichtergestalt fungiert. Neben dem mit seinem Leben und Werk ausführlich dargestellten Jehuda Halevy29 zeichnet Heine im vierten Abschnitt der Romanze als Seitenfiguren seines Triptychons das Bild von dessen Zeitgenossen „Iben Esra und Gabirol“. (IV, 60) Beide werden als Dichter geschildert, die in ihrer Kunst der Troubadour-Lyrik ihrer christlichen Umgebung ebenbürtig, als Menschen aber  – wie ihr Volk  – heimatlos und elend waren. Die Phänomenologie der Verwandlungen der Dichtergestalt wird dadurch vervollständigt, dass Heine auch das mythologische Urbild des Dichters, den Gott Apollo, mit einem ironischen Zitat des Daphne-Mythos aus Ovids Metamorphosen als einen solchen vom Unglück verfolgten Sänger hinstellt. Als weitere Projektionsfigur erscheint neben dem Propheten Jeremias die

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mythische Figur des Sängers Orpheus, der durch seinen Gesang die wilden Tiere zähmt. (III, 201–204) Die Überblendung der spanisch-jüdischen Dichtergestalten mit ihren mythischen Vor- und Gegenbildern gewinnt dadurch an Tiefendimension, dass Heine ihnen die moderne Definition des Dichters als geniale Ausnahmeerscheinung hinzufügt: Wie im Leben, so im Dichten Ist das höchste Gut die Gnade – Wer sie hat, der kann nicht sündgen. Nicht in Versen, noch in Prosa. Solchen Dichter von der Gnade Gottes nennen wir Genie: Unverantwortlicher König Des Gedankenreiches ist er. (I, 169–176)

In dieser Kurzfassung der klassischen Autonomieästhetik fehlt weder der Hinweis auf den pseudoreligiösen Ursprung des dichterischen Genies in der göttlichen Inspiration, noch dessen soziale Aufwertung durch die Gleichstellung mit dem König von Gottes Gnaden. Allerdings bleibt auch diese Bestimmung heimlich ans Judentum zurückgebunden, wenn er Jehudas Begnadung auf den Kuss Gottes zurückführt (I, 162–168) und ihn damit auf eine Stufe mit Moses stellt, dessen Lamentationen gegen die Ungerechtigkeit des ihm zugedachten Todes nach einer talmudischen Legende nur solange Macht haben, den Todesengel abzuwehren, bis Gott ihm mit einem „Kuss die Seele vom Mund nimmt“.30 Bei aller Vielfalt der Aspekte legt Heine doch den Hauptakzent seiner Darstellung auf Unglück und Leid der Dichter. Sie sind wie er selber heimatlos, krank, dem Tod verfallen. „Dichterschicksal! böser Unstern, | Der die Söhne des Apollo | Tödlich nergelt.“ (IV, 121–123) Deshalb kommt ihnen auch der Name Schlemihl zu. Mit provozierender Ironie nennt Heine als ersten in der Reihe der Schlemihle Apollo, den „hohe[n] Delphier“, (IV, 129) wegen dessen unerfüllter Liebe zu Daphne, um dann in einem längeren Exkurs den Ursprung des Namens zu klären. Zunächst zitiert er Adalbert von Chamissos 1814 erschienene Erzählung Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte, deren Held selbst seine Schattenlosigkeit als Zeichen seines Ausgeschlossenseins aus der menschlichen Gesellschaft deutet. Durch die Anspielung auf den Namenswechsel eines gemeinsamen Bekannten aus der Berliner Zeit, der seinen ihn als Juden abstempelnden und diskriminierenden Namen „Itzig“ in „Hitzig“ verwandelte, leitet Heine über zu dessen „Erzählung“ vom biblischen Ursprung des Namens. Wie in einem Brennpunkt versammelt so der Name „Schlemihl“ alle Elemente, die Heines Auffassung vom Dichtertum begründen: den antiken Mythos, die jüdische Tradition der Thora, die neu-



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zeitliche Literatur und die eigene leidvolle Erfahrung als kranker, wegen seines Judentums diskriminierter Dichter im Pariser Exil. Die Erzählung, die Heine seinem Itzig, der als „fromme[r] Pietist“ (IV, 177) sich Hitzig nennt, in den Mund legt, enthält zugleich einen versteckten Hinweis auf das eigene poetische Verfahren. (H)itzig zitiert die biblische Erzählung von Simri, der mit einer Kanaaniterin „Buhlschaft“ getrieben habe und deswegen von Pinhas mit dem Speer durchbohrt wurde. (IV, 181 ff. = Num 25,5 ff.) Diesem kanonischen Text wird eine „Sage“ hinzugefügt, die sich „mündlich überliefert“ habe. (IV, 193) Nach ihr soll Pinhas nicht Simri getroffen haben, sondern „Einen ganz Unschuldgen […] | Den Schlemihl ben Zuri Schadday“. (IV, 199 f.) Nach der Thora, der heiligen Schrift, wird hier deren Kommentar im Talmud (Synedrin IX, vi) zitiert, der im Judentum als die ‚mündliche Lehre‘ verstanden wird. Durch diesen ostentativen Verweis macht Heine seine eigene poetische Methode bewusst. Auch sein Gedicht setzt mit einem kanonischen Text ein, mit einem Zitat des biblischen Psalms 137: „Lechzend klebe mir die Zunge | An dem Gaumen […], vergäß ich | Jemals dein, Jerusalem“, (I, 1–4) um zu Beginn des zweiten Abschnitts noch einmal daraus zu zitieren: „Bei den Wassern Babels saßen | Wir und weinten, unsre Harfen | Lehnten an den Trauerweiden“. (II, 1–3) Dieser Psalm, der als Klage über das Schicksal des Exils anhebt, ist der Ursprungstext, zu dem die umfangreiche Romanze, die ihm folgt, nichts anderes darstellt als den aggadischen Kommentar. In ihm wird der überlieferte Wortlaut von der im Gedicht mehrfach evozierten, aber auch zurückgedrängten eigenen, leidvollen Erfahrung her neu geschrieben.31 Die Erzählungen von den historischen Gestalten der spanisch-jüdischen Dichter, die Anspielungen auf Mythen, Erzählungen und Gegenwartsklatsch sind demnach als ein der subjektiven Erfahrung des Dichters geschuldeter Kommentar zu lesen, durch den nach talmudischer Manier der biblische Urtext ausgelegt wird. Der Verweis auf die talmudische Quelle des Namens Schlemihl lässt eine weitere Eigenart von Heines poetischem Verfahren ans Licht treten, die ihn ebenfalls radikal von der klassischen Werkästhetik entfernt. Heine hat die talmudische ‚Sage‘ offenbar nur aus zweiter Hand gekannt und nicht aus der Quelle selber. Die Erläuterung des halachischen Spruchs: „Wer […] eine Aramäerin beschläft, den dürfen Eiferer niederstoßen“, auf den Heine sich bezieht, lautet im Talmud: „R. Johanan sagte: Fünf Namen hatte er: Zimri, Sohn Salus, Saul, Sohn der Kenaaniterin, und S[ch]elumiel, Sohn des Curisaddaj. Zimri, weil seine Hoden wie zerschlagenes Ei [mazar] geworden waren; Sohn Salus, weil er die Sünden seiner Familie in die Höhe steigen ließ [hisli]; Saul, weil er sich der Sünde hingab [hisil]; Sohn der Kenaaniterin, weil er nach der Art Kenaans handelte. Sein eigentlicher Name war S[ch] elumiel, Sohn des Curisaddaj.“32 Diese Sätze lassen in exemplarischer Weise eine Eigenart talmudischen Denkens sichtbar werden, die auch die Struktur

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„Hebräische Melodien“

von Heines spätem Gedicht prägt: das Nebeneinander der vielen Namen, die ohne in ihrer Widersprüchlichkeit miteinander vermittelt zu werden, dasselbe bezeichnen. Apollo und Orpheus, Jeremias und der Ewige Jude, die Feuersäule in der Wüste, das Genie und der „König des Gedankenreiches“, Jehuda Halevi, Salomon Gabirol und Moses Iben Esra, die Troubadours und Geoffroi Rudello, Adalbert von Chamisso und das Ich des Autors, das sich im Übergang zum Wir mit allen Genannten identisch setzt, sind ebenso viele Namen für den Dichter. In der Nacherzählung ihrer Schicksale, im Zitat der Mythen und Begriffsdefinitionen entsteht sein Bild, ein Bild, das zugleich konkret und typisierend ist und das Heine schließlich im „Zeichen des Schlemihlthums“ zusammenfassen kann. An sich aber ist die Reihe der zu zitierenden Namen unendlich, der Kommentar ist niemals abgeschlossen, wodurch der Untertitel „Fragment“ für das umfangreiche Gedicht – wie im Rabbi von Bacherach – eine präzise poetologische Bedeutung bekommt. Heines Neudefinition des Dichtertums ist eingebettet in den Versuch einer radikalen Neuorientierung der kulturellen Tradition. Zu Beginn des dritten Abschnitts erzählt er – in formaler Korrespondenz zu den Psalmenzitaten, mit denen die ersten beiden Abschnitte eingeleitet werden – nach den Parallelbiographien des Plutarch die Geschichte des Sieges von Alexander dem Großen über den Perserkönig Darius III. in der Schlacht bei Arabella.33 Zwei „Kleinodien“, die er dabei erbeutet haben soll, nimmt der Dichter zum Anlass erzählerischer Kommentare. Eine Perlenkette, die Alexander der korinthischen Hetäre Thais schenkte, wird auf ihrer Wanderschaft durch die Jahrhunderte bis in die aktuelle Gegenwart verfolgt: An dem Hof der Tuilerien Kam die Schnur zuletzt zum Vorschein, Und sie schimmerte am Halse Der Baronin Salomon. (III, 85–89)

Heines elegante Reverenz an seine Gönnerin und Freundin Betty Rothschild, die Gattin des Chefs der Pariser Rothschild-Bank, gewinnt dadurch zusätzlich an Bedeutung, dass sie als kontrastierende Anspielung auf Goethes berühmtes Gedicht „Die schön geschriebenen“ aus dem Westöstlichen Divan zu lesen ist, in denen der Dichter seine Verse als „[d]ichtrische Perlen“ bezeichnet, die seine Liebesleidenschaft ihm eingab. (GG, 378 ff.) Wie Goethe, inspiriert von seiner Zuneigung zu Suleika, der westlichen Dichtung in der Anknüpfung an den Perser Hafis eine östliche Dimension eröffnet, erweitert auch Heine in der Erinnerung an den mittelalterlichen jüdischen Dichter den Horizont abendländischer Dichtung. Doch bei ihm ist nicht die Liebe die Inspirationsquelle, sondern die Trauer und die Klage über die Zerstörung Jerusalems:



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Denn es sind die Tränenperlen Des Jehuda ben Halevy, Die er ob dem Untergang Von Jerusalem geweinet –. (III, 169–172)

So wird auch in diesem späten Gedicht – wie schon in Der Rabbi von Bacherach – der ‚tausendjährige Schmerz‘ zum eigentlichen Identitätsmerkmal des Judentums stilisiert. Einen weiterer verborgener Sinn dieser durch dreimalige modifizierende Wiederholung unterstrichenen Evokation des „Perlentränenlieds“ (III, 177) ist zu entdecken,34 wenn man sie mit dem Zitat des Rabbi Salomo Al-Charisi über Jehuda Halevy zusammenhält, das Heine seinem Gedicht als Anmerkung beifügt: „Das Lied, das der Levit Jehudah gesungen, – ist als Prachtdiadem um der Gemeinde Haupt geschlungen, – als Perlenschnur hält es ihren Hals umrungen.“ (HB 11, 177) Die Geschichte von der Perlenkette erhält durch dieses Zitat ihre poetologische Dimension, wird zum erzählerischen Kommentar darüber, wie das „Zionslied“ Jehuda Halevys von Generation zu Generation weitergereicht und in neuen Zusammenhängen zum Gemeindegesang, zum Gebet wurde. Diese Bedeutung wird in der zweiten aus Plutarch übernommenen Geschichte, der vom Kästchen, das Alexander ebenfalls in der Schlacht „bei Arabella“ erobert haben soll, unmittelbar ausgesprochen. Heine behauptet, er wolle, käme das Kästchen, in dem Alexander „die Lieder des ambrosischen Homeros“ (III, 94) aufbewahrt habe, in seinen Besitz, „darin | Die Gedichte unsres Rabbi–// Des Jehuda ben Halevy“ (III, 123–125) verwahren. Überdeutlich ist damit die Tendenz bezeichnet, die antike Tradition, auf die sich die klassische deutsche Dichtung bezieht, durch eine andere, die jüdische, in der Halevy steht, zu ersetzen und sich mit ihr – „uns[er] Rabbi“ – zu identifizieren. Auch hier ist die Intention Heines unverkennbar, die Dichtung mit der Thora gleichzusetzen und sie dadurch aufzuwerten, wenn er behauptet, er ließe alle Texte Halevys „von dem besten Zophar [hebr. für Thoraschreiber] schreiben | Auf der reinsten Pergamenthaut“ (III, 129 f.). Das moderne Zionslied, das an die Stelle des Homer und an die Stelle der Thora getreten ist, wird so von Heine zum kanonischen Text stilisiert. Es ist dieses Perlentränenlied […] die vielberühmte Klage, Die gesungen wird in allen Weltzerstreuten Zelten Jakobs (III, 177–180),

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Die „Riesengestalt“ des Moses

die er sich zum Vorbild für die eigene dichterische Produktion erwählt hat. Damit formuliert Heine in dem wichtigsten poetologischen Gedicht seiner Spätzeit ein Vermächtnis an die deutsche Literatur: Sie solle die jüdische Tradition als vollwertigen Bestandteil der deutschsprachigen Kultur erkennen und anerkennen. Heines literarisches Verfahren wird von der Hoffnung getragen, dass die deutsche Literatur sich seine kulturelle Praxis zu eigen macht, die am Beispiel des Judentums den Akzent auf das vergessene und vernachlässigte Andere legt. Die „Riesengestalt“ des Moses Was das Judentum dabei inhaltlich für Heine bedeutet, hat er in den 1854 geschriebenen Geständnissen als sein geistiges Testament der Nachwelt hinterlassen. Auch in diesem späten Text betont er noch einmal, dass er die „Wiedererweckung [s]eines religiösen Gefühls“ (HB  11, 499 f.) der Lektüre der Bibel verdankt. Es sei das Verdienst der Juden, dieses Buch durch die Jahrhunderte gerettet und der Nachwelt überliefert zu haben. Für die Juden selbst sei es damit im Exil zum „portativen Vaterland“ (HB 11, 483) geworden, dessen kontinuierliche Lektüre sie vor der Versuchung bewahrt habe, einen territorialen Machtstaat zu gründen. Die Beschäftigung mit der Heiligen Schrift als Grundlage des Zusammenhalts und der Identitätsbildung des eigenen Volkes erweist sich im Laufe der Geschichte – das ist Heines Überzeugung  – der auf Krieg und Gewalt gegründeten Herrschaftsausübung überlegen. Sie habe das Überleben der Juden in der Diaspora garantiert, während die großen Reiche der Antike längst untergegangen seien. Von seinem Verständnis des Judentums her entwirft Heine die Utopie einer Menschheitserziehung durch die Bibel. Im Gegensatz zur hierarchisch gegliederten, auf der geistigen Autorität des Papstes und der Bischöfe aufgebauten katholischen Kirche beruft er sich dabei auf die Tradition der mündlichen Lehre, nach der jeder der Thora und Talmud studiert, aufgerufen ist, zu deren Auslegung beizutragen und dadurch die Überlieferung nicht abreißen zu lassen. Diese Mitarbeit an der Kommentierung des kanonischen Textes ist es, die nach Heine „die große Demokratie“ hervorbringt, „wo jeder Mensch nicht bloß König, sondern auch Bischof in seiner Hausburg sein soll“. (HB  11, 485) Die Verwirklichung einer republikanischen Verfassung, die Heine vor 1848 mit politischen Mitteln zu erreichen hoffte, überantwortet er nunmehr dem Studium der Texte, in denen die Vorväter ihre Erfahrungen niedergeschrieben haben. In diesem Sinne kann das „Volk Gottes“ für ihn „allen anderen Völkern als Muster, ja der ganzen Menschheit als Prototyp dienen“. (HB 11, 481)



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Das Volk Israel, das Heine zugleich als vorbildliche Verkörperung und als Garant dieser herrschaftsfreien Gesellschaftsordnung gilt, erscheint jedoch auch in den späten Geständnissen nicht so sehr als eine Schöpfung Gottes, sondern als die des Gesetzgebers Moses, der als „Künstler“ mit ihm ein Werk von ewiger Dauer geschaffen habe: „Er nahm einen armen Hirtenstamm und schuf daraus ein Volk, das ebenfalls den Jahrhunderten trotzen sollte, ein großes, ewiges, heiliges Volk […] er schuf Israel!“ (HB 11, 481) Das ‚heilige Volk‘, das ‚Goj Kadosch‘, das ist der auszeichnende Titel, den Gott im Buch Exodus den Juden verleiht, nachdem er einen Bund mit ihnen geschlossen hat und sie ihm Gehorsam gegenüber seinen Gesetzen versprochen haben. (Ex 19,5 f.) Um diese durch Moses geschaffene Sonderstellung des jüdischen Volkes zu begründen, beruft sich Heine keineswegs auf reli­giöse Glaubenssätze. Vielmehr führt er sie – aufgeklärter Jurist, der er ist – auf die von Moses geschaffene Rechts- und Eigentumsordnung Israels zurück, die er positiv gegenüber dem in Europa herrschenden Römischen Zivilrecht hervorhebt, das er als „räuberisch“ qualifiziert. Moses „suchte das Eigentum in Einklang zu bringen mit der Sittlichkeit, mit dem wahren Vernunftrecht, und solches bewirkte er durch die Einführung des Jubeljahres.“ (HB 11, 487) Diese in Levitikus 25 verfügte Gesetzesnorm, nach der alle fünfzig Jahre die ursprünglichen Verhältnisse im Grundbesitz wiederhergestellt, alle Schulden erlassen und alle Sklaven freigelassen werden sollten, garantiert nach Heine die gleichmäßige Besitzverteilung und damit zugleich die ‚Freiheitsliebe‘ unter den Juden. Der todkranke Dichter spricht nicht nur von Religion, sondern nennt Moses als Gesetzgeber der Freiheit den „großen Emanzipator“, als Schöpfer der jüdischen Eigentumsordnung gar einen „Sozialisten“. (HB 11, 487 bzw. 488) Das riecht nicht nach „Glaubenspisse“, gründet vielmehr in einer genuin materialistischen Gesellschaftsanalyse. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Heine in einer äußersten Zuspitzung seiner Position den Ursprung der Thora nicht mehr Gott zuschreibt, sondern dem Menschen Moses. Er radikalisiert damit die anthropologische Tendenz, mit der die mündliche Lehre des Judentums den Menschen, der die Schrift auslegt, als den eigentlichen Herrn über die Bedeutung der Gebote auszeichnet. Der Hymne auf das Volk Israel entspricht so in den Geständnissen die Aura, in die Heine Moses als dessen Schöpfer hüllt: „Welche Riesengestalt! […] Wie klein erscheint der Sinai, wenn der Moses darauf steht! Dieser Berg ist nur das Postament, worauf die Füße des Mannes stehen, dessen Haupt in den Himmel hineinragt, wo er mit Gott spricht – Gott verzeih mir die Sünde, manchmal wollte es mich bedünken, als sei dieser mosaische Gott nur der zurückgestrahlte Lichtglanz des Moses selbst, dem er so ähnlich sieht, ähnlich in Zorn und Liebe.“ (HB  11, 480) In der Lektüre der Bibel und in seiner Identifikation mit dem „Volk des Buches“ hat Heine als junger Mann seine Identi-

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Der Jude Heine und sein Volk

tät als Jude gefunden, mit ihnen hat er sie bis ans Ende seines Lebens bewahrt. Der Jude Heine und sein Volk Heine, aus dem liberalen, unter französischem Einfluss stehenden Rheinland stammend, hatte zwar mit seinen Freunden vom „Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden“ seine eigenen Ursprünge wiederentdeckt, aber bis zur Veröffentlichung von Ludwig Börne. Eine Denkschrift und Der Rabbi von Bacherach, beide im Jahr 1840, keine Texte mit spezifisch jüdischem Gehalt publiziert, die ihn, der 1827 mit seinem Buch der Lieder die erfolgreichste Lyriksammlung des 19. Jahrhunderts publiziert hatte, der literarischen Öffentlichkeit als Juden hätten kenntlich machen können. Dennoch wurde er schon Ende der zwanziger Jahre mit antijüdischen Vorurteilen konfrontiert und persönlich angegriffen. Ausgangspunkt dieser Kampagne, die dann zu einem der Leitmotive der gesamten späteren Heine-Rezeption werden sollte, waren einige eher harmlose Epigramme, mit denen Karl Immermann, Heines literarischer Weggefährte, die Verfasser orientalisierender Modepoesie in der Nachfolge von Goethes West-östlichem Divan, neben Friedrich Rückert vor allem August Graf von Platen, glaubte verspotten zu müssen. Heinrich Heine hatte diese Texte im Anhang zum Zweiten Teil seiner Reisebilder von 1827 drucken lassen.35 Der aus einer verarmten Ansbacher Adelsfamilie stammende Platen, der sich wegen der geringen Resonanz seiner Dichtung in Deutschland als verkanntes Genie fühlte und im italienischen Exil lebte, reagierte mit wütender Polemik. In seinem satirischen Drama Der romantische Ödipus ließ er im Fünften Akt Immermann als shakespearisierenden Dichter Nimmermann auftreten, der am Ende wahnsinnig wird und in die Irrenanstalt abgeführt werden muss. Und dessen Freund Heine bezog er in diese Abrechnung gleich mit ein, indem er ihn namentlich nannte und ihn mit Bezeichnungen wie „Samen Abrahams“, „Petrark des Lauberhüttenfests“ und „Synagogenstolz“ dem antijüdischen Vorurteil preisgab.36 Heine, der getaufte Jude, fühlte sich persönlich bloßgestellt und reagierte im Dritten Teil seiner Reisebilder von 1829 mit einer vernichtenden Satire auf Platen, die auch vor Obszönitäten nicht zurückschreckte.37 In den beiden letzten Kapiteln der Bäder von Lucca denunzierte er den unglücklichen Grafen als „warmen Freund“, der an seinem Studienort in Erlangen, in der Toskana und in Rom den gerade gewachsenen, blonden Knaben hinterhergelaufen sei. Heines Anspielungen auf die homoerotischen Neigungen seines Kontrahenten gewannen dadurch an Perfidie, dass er sich keineswegs den zeitgenössischen Vorurteilen anschloss und Platen moralisch verurteilte. Vielmehr machte er



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ihn als erotischen Versager lächerlich: Man habe ihn, schreibt er, „die Lästigkeit seiner Visiten aufs deutlichste merken lassen“. (HB 3, 451) Platens Denunziation und Heines höhnische Antwort lassen sich durchaus als gegenseitige Stigmatisierung zweier Außenseiter verstehen, ja als „Selbstidentifikation des Angreifers [Heine] mit dem Angegriffenen“, wie Hans Mayer scharfsinnig formuliert hat.38 Heines Kritik an Platen geht jedoch weit über die persönlichen Angriffe und geschmacklosen Obszönitäten hinaus, setzt er sich doch vor allem mit Platens Anspruch auseinander, Deutschlands größter lebender Lyriker zu sein. Sein „Pochen auf Klassizität“, das in der virtuosen Handhabung der antiken Ode, des RenaissanceSonetts und komplizierter orientalischer Strophenformen seinen Ausdruck findet, wird von Heine als „Heuchelei“, als von der Geschichte längst überholte Anmaßung abgetan. Daher sein mehrfach wiederholter Refrain: „der Graf Platen ist kein Dichter“. (HB 3, 458, ähnlich 455 u. 456) Im Grunde entzündet sich der Streit also an der Frage, wer der legitime Erbe Goethes im 19. Jahrhundert sei. Heine, der sich mit seiner ironisch gebrochenen Lyrik, später mit seinen politisch relevanten allegorischen Stadtbildern aus Paris als erster Dichter der literarischen Moderne in Europa etabliert, dieser Heine hatte, wie die Geschichte gezeigt hat, den rechtmäßigeren Titel auf diese Anwartschaft. Nicht um Gesinnung oder moralische Urteile geht es demnach in dem polemischen Duell der beiden Lyriker, sondern um Wirkung in der Öffentlichkeit, vor allem auch im politischen Raum. Die Denunziationen, mit denen Heine seinen Konkurrenten verunglimpft, sind bewusst eingesetzte Tabuverletzungen, die den politischen Gegner treffen sollen. Denn in Heines Sicht ist Platen nur der Exponent einer Verschwörung katholischer Dunkelmänner und adeliger Reaktionäre in München, die ihm seinen Erfolg neiden. Platens literarische Vernichtung durch Heine, die in vielerlei Hinsicht ungerecht ist, hat im Grunde dessen Schicksal als Dichter besiegelt. Allerdings hat sich auch Platens Angriff als geschichtswirksam erwiesen. Durch ihn wurde Heine, der sich als deutschsprachiger Dichter verstand und als solcher in der Öffentlichkeit gesehen werden wollte, als Jude stigmatisiert. Wie ein zeitgenössischer Rezensent zutreffend feststellt, hat „Platen […] dem Heine den Juden aufgeschmutzt“.39 Das Skandalon, dass der meistgelesene und wirkungsmächtigste Lyriker des späteren 19. Jahrhunderts in deutscher Sprache ein Jude war, ist seitdem ein Topos der HeineRezeption geblieben bis hin zum Versuch der Auslöschung der Erinnerung an den Dichter durch die Nationalsozialisten. Mehr noch: ohne Übertreibung kann man feststellen, dass sich das trübe Konglomerat der ‚deutschen Ideologie‘ im 19. Jahrhundert vornehmlich am ‚Fall Heine‘ ausgebildet hat. In Julian Schmidts berüchtigtem Pamphlet Börne, Heine und das Judenthum unserer neuen Literatur, das 1850

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Der Jude Heine und sein Volk

in den Grenzboten, der Programmzeitschrift des literarischen Realismus, veröffentlicht wurde und schon im Titel Richard Wagners wenige Monate zuvor erschienene Schrift über Das Judentum in der Musik wieder aufnimmt,40 erreichen die antisemitischen, deutschtümelnden Angriffe einen ersten Höhepunkt. Schmidt bezeichnet Heines „Einfluß“ auf die deutsche Literatur als „eben so groß als schädlich“. Gesteigerte Subjektivität, durch die sowohl „seine Frivolität“ wie „auch sein Pathos eine Lüge“ seien, und „persönliche Unsittlichkeit“ sind die Vorwürfe, mit denen der Begründer der Theorie des bürgerlichen Realismus den Juden von der guten Gesellschaft ausgrenzt. Das antisemitische Ressentiment, das sich paradoxerweise dadurch ein gutes Gewissen verschafft, dass es auf die erfolgte staatsbürgerliche Emanzipation der Juden verweist,41 tritt dort offen zutage, wo Schmidt von dem „scharfen, ätzenden jüdischen Element“ spricht, das durch Heine in die deutsche Literatur gekommen sei.42 Nur ein Jahr später hat Schmidt ebenfalls in den Grenzboten den Romanzero besprochen und ist dabei erneut zu einem ablehnenden Urteil gekommen. Er liest Heines Hinwendung zum Judentum in den Hebräischen Melodien als dessen Erinnerung an „seine romantische Vorzeit“ und schiebt ihn damit in die in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts längst veraltete literarische Romantik ab, wirft aber gleichzeitig den Bemühungen Heines um eine Anerkennung der kulturellen Leistungen des Judentums einen „Hautgout“ vor, „der nur für Wenige genießbar sein wird“.43 Deutlicher antisemitisch äußert sich Gustav Kühne, der Herausgeber der Zeitschrift Europa. Chronik der gebildeten Welt, der ebenfalls die neue Machart von Heines Großgedichten verkennt, wenn er sie als „vertrödelte und zerfetzte Bruchstücke großer Romanzenepen“ charakterisiert: „Sein trödelhafter Bänkelsängerton schleppt Idee und Materie mit dem ganzen jüdelnden Rotwelsch seiner Diktion durch den unsauberen Schmutz des gemeinsten Trödelmarktes.“44 Allerdings waren selbst jüdische Rezensenten der Meinung, Heines Zitate aus der religiösen und dichterischen Tradition des Judentums seien für „das breite Publikum“ ungenießbar.45 Noch schärfer urteilt der anonyme Rezensent der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, der seine durchgehend ablehnende Rezension mit dem ironischen Satz beschließt: „Sollte der Romanzero Heine’s diesen Erfolg haben, daß endlich ein energischer Widerwille gegen die ewigen jüdischen Abgeschmacktheiten allseitig eintrete, und diese durch den Verlust ihres Reizes allgemach verschwänden – so wäre dies allerdings ein nicht geringer Gewinn, der uns endlich zu Dank stimmen müßte.“46 Diese einem übertriebenen Assimilationsdrang geschuldete Äußerung eines liberalen Juden lässt ahnen, wie aussichtslos Heines Versuch war, im kulturellen Gedächtnis der Deutschen die jüdische Tradition gegenwärtig zu halten. Vollends abweisend waren drei Jahre später die Reaktionen auf die Pub-



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likation der Geständnisse. Oskar Peschel, ein Bekannter Heines, der ihn in Paris besucht hatte, betont zwar in seiner Rezension in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, er habe „mit Bewunderung gelesen was er von dem alten Testament und dem auserkornen Volk sagt“, doch stellt er in Frage, dass Heine überhaupt einem Volk angehöre. „Welches Volk aber nennt er das seine, und welches Volk nennt ihn seinen Heine?“ Zudem wirft er dem Dichter allzu große Subjektivität vor, den „allzuhäufigen Gebrauch des Singulars der ersten Person“, um in ihm schließlich doch den Schacherjuden zu entdecken. Der Leidende auf seinem Pariser Krankenlager habe „mit echt semitischer Spürkraft […] auf das Mitgefühl des Publikums einen Wechsel gezogen“.47 Mit dieser Anspielung auf das antijüdische Vorurteil der geschäftlichen Tüchtigkeit der Juden endet Peschel seinen ambivalenten Text. Voll ausgeprägt ist das antisemitische Vorurteil in der anonymen Rezension der Göttinger Gelehrten Anzeigen vom Januar 1855, deren Verfasser seine „Untersuchung vom deutschen, ethischen, christlichen Standpunkte“ aus zu führen behauptet.48 Der protestantische Theologe beruft sich dabei auf Martin Luthers Schrift Von den Jüden und ihren Lügen (1543), um auch Heines Aussagen über das Judentum als plumpe Lüge zu entlarven. Wie Hegel vor ihm kontrastiert er das Volk Israel und seinen Schöpfer Moses mit der „christlichen Kirche“ und wertet sie dem „Leib Christi“ gegenüber ab. Den Juden hält er den seit der Antike immer wieder erhobenen Vorwurf entgegen, sie seien der Anmaßung erlegen, das „auserwählte Volk“ zu sein: „ein Volk voll Einbildungen und Prätensionen besondrer Heiligkeit und Auserwähltheit; ein Volk, das nie recht zu gehorchen, nie frei zu sein verstand, der wahrhaften freien Entwicklung eigensinnig und hochmütig widerstrebend“. Wie in einem Brennpunkt sind hier die antisemitischen Vorurteile der deutschen Geistesgeschichte seit Luther, Schiller und Hegel versammelt. Der Theologe empört sich über das Skandalon eines „heinisierten Moses“, dessen Darstellung durch den Dichter er einen „dithyrambischen Erguß“ nennt. Darüber hinaus aber werden in diesem Text zum ersten Mal rassistische Töne vernehmbar, wenn der Verfasser sich gegen Heines Behauptung wehren zu müssen glaubt, dass „der Charakter des jüdischen Volkes mit dem der germanischen Rasse immer sehr nahe verwandt gewesen sei“. Solche Behauptungen Heines empfindet er als „Zudringlichkeiten“. Denn Heine sei so sehr „im Wesen des Judentums gefangen“, dass er selbst „als ‚ewiger Jude‘ sich zeige“. Die Besprechung von Heines Geständnissen entlarvt sich so schließlich als Vorwand, um das Judentum insgesamt und dessen kulturellen Einfluss zu diffamieren und als fremdartig auszuschließen. Die Rezension wird zum christlich-völkischen Pamphlet, dessen Antisemitismus auf die mörderischen Tendenzen der kommenden einhundert Jahre vorausweist.

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Der Jude Heine und sein Volk

Die Vorurteile gegen Heine und seine Poesie, die sich im 19. Jahrhundert akkumuliert haben, werden schließlich von dem völkischen Literaturhistoriker Adolf Bartels in seiner Geschichte der deutschen Litteratur (1902) zusammengefasst und allgemein in Umlauf gebracht. Für ihn ist „Heinrich Heine […] in der That der unheilvollste Geselle, der im 19. Jahrhundert nicht bloß durch die deutsche Litteratur, sondern auch durch das deutsche Leben hindurchgegangen ist, er erscheint, wenn man seine Thätigkeit als Ganzes ins Auge faßt, durchaus als Seelenverwüster und -vergifter, als der Vater der Decadence, und zwar auf fast allen Gebieten, litterarisch, politisch, sozial.“49 Die von der nationalkonservativen und völkischen Literaturkritik hervorgehobene und negativ bewertete Sonderstellung Heines beruht, historisch gesehen, auf seiner Nähe zur jüdischen Tradition. Er hat als erster die zentralen Inhalte der jüdischen Religion, also den Monotheismus, wie auch deren formale Tradition, das kommentierende Schreiben, in die deutschsprachige literarische Öffentlichkeit einzuführen versucht. Das heißt, er hat sie in der Dichtung, dem Medium, das in Deutschland im 19. Jahrhundert als soziales Leitmedium fungierte, zur Geltung bringen wollen. An der Blindheit und Taubheit der Mehrheitskultur ist dieses Unterfangen gescheitert. Und dies bis heute hin, wenn man sich die Rezeption der Hebräischen Melodien vor Augen führt. Sie sind weder das literarische Werk eines „Maranen“, wie Klaus Briegleb behauptet,50 noch hat Heine seine religiösen Ideen nur als Vorwand für seine „ästhetischen“ Interessen benutzt, wie der Kommentator der Hebräischen Melodien in der Düsseldorfer Heine Ausgabe zu verstehen gibt.51 Er hat sie vielmehr ernst genommen und im Medium des dichterischen Textes offen ausgesprochen. Nur hat die Mehrheitskultur nach der Schwellenzeit 1770/1800 von einer monotheistischen Religion nichts mehr hören wollen, auch nicht in einer der Welt der Moderne angepassten Form, wie Mendelssohn und Heine sie der Öffentlichkeit darboten.

5.  Juden und Deutsche Der Mythos vom Volk Der Zivilisationsbruch Heinrich Heine hat erkannt und in seinen Geständnissen formuliert, dass die Religion des Judentums die gute Ordnung der menschlichen Gesellschaft intendiert und in ihr das gute Leben des Einzelnen. Dieses Ziel fasst die Thora unter dem Begriff des ‚Goj Kadosch‘,1 des ‚heiligen Volkes‘. Während die jüdische Endzeiterwartung im Messianismus diese Gesellschaftsform auf die ganze Menschheit überträgt, dient sie den Feinden der Juden dazu, sie eines sektiererischen Separatismus anzuklagen und sie ob ihres unerträglichen Hochmuts aus der Gemeinschaft der Menschen auszuschließen. Gleichzeitig aber übernimmt das säkulare Denken im kritischen Moment der Abschaffung eines transzendenten Gottes die Vorstellung von einem ‚auserwählten Volk‘ und überträgt sie vor allem im deutschsprachigen Kulturbereich auf das eigene Volk, dem wie den Juden die staatliche Einheit verweigert wird, das aber durch seine auf die griechische Antike bezogene und daher vor allen anderen ausgezeichnete Kultur zum ‚auserwählten Volk‘ prädestiniert erscheint. Damit tritt dem Monotheismus nicht mehr – wie noch in der Weimarer Klassik – eine ‚Gegenreligion‘ gegenüber. Stattdessen wird dem öffentlichen Diskurs an Stelle des einen und einzigen Gottes ‚das Volk‘ als neuer absoluter Wert vorgeschrieben, der als säkularer keinen metaphysischen Kern mehr hat. Religion wird also durch Ideologie im modernen Wortsinn ersetzt, wenn man auf ihre Wirkmächtigkeit im 19. und 20.  Jahrhundert schaut, vielleicht sogar durch die wirkmächtigste Ideologie der Moderne. Geboren aus dem politischen Rechtfertigungsdiskurs der Französischen Revolution und hier noch mit allen Zeichen einer ‚Gegenreligion‘ behaftet,  – sie ist die ‚Religion der Vernunft‘, die in der Einheit der Nation ihre Vollendung findet, – emanzipiert sie sich in der deutschen Romantik von jeglicher Erinnerung an ihren quasi religiösen Ursprung und wird spätestens bei Herder und Fichte zu Rechtfertigungsideologie des erlösungsbedürftigen deutschen Volkes. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich schließlich Religion und Ideologie, die zuvor symbolisch in den Namen Moses und Homer repräsentiert waren, als die entscheidenden weltanschaulichen Gegensätze

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Der Zivilisationsbruch

erwiesen. Von ihrer Personalisierung gelöst, fand die Auseinandersetzung zwischen diesen antagonistischen Prinzipien, seither zentriert um den Begriff ‚Volk‘, statt. In seiner Bedeutung positiv aufgeladen, wurde das Wort von den Deutschen als ihr Identitätsmerkmal und Gütesiegel übernommen, in dem ihre Überlegenheit den Anderen gegenüber gleichzeitig zum Ausdruck kommen und begründet werden sollte. Diese Neudefinition des Begriffs ‚Volk‘ ist ein Dokument der historischen Ausformung und Wandlung des kulturellen Gedächtnisses der Deutschen. Zugleich aber ist es in der paradoxen Verschränkung einer Abwertung des Judentums und einer über das antike Griechentum vermittelten Überhöhung des Deutschen auch Handlungsanleitung und auf gesellschaftliche Praxis ausgerichteter Entwurf eines Weltbildes, das im 20. Jahrhundert in seiner einseitigen Orientierung an einer ‚völkischen‘ Rassentheorie seine mörderischen Spuren in die Geschichte Europas eingegraben hat. Ausgehend von der Vorstellung eines ‚auserwählten Volkes‘, das heißt einer Gemeinschaft, die nicht durch staatliche Strukturen, sondern durch ihre von Gott gegebene Kultur und Sprache zusammengehalten wird, findet zuerst und seit alters her das Judentum seine Identität in diesem aus der biblischen Tradition stammenden Idealbegriff. Dem schließt sich seit dem 18. Jahrhundert, beginnend bei Herder, das Deutschtum an, das zu dieser Zeit ebenfalls keinen Nationalstaat besitzt. Schon bei dieser ersten Übertragung tritt eine Bedeutungsverschiebung ein. Während Israel als ‚heiliges Volk‘ mit diesem Begriff nicht so sehr die Überlegenheit über andere als vielmehr die Verpflichtung gegenüber einem höchsten Ideal betont, dem Gesetz Gottes, mit dem es einen Bund geschlossen hat, glauben die Deutschen ihren höchsten Stolz und ihre Idealität in einer allen anderen Völkern überlegenen Kultur zu finden. Dabei wird der Begriff von einem politisch zersplitterten, aber durch eine gemeinsame Sprache und Kultur geeinten Volk mehr und mehr vom Vorbild des Griechentums bestimmt und zunehmend rassistisch unterfüttert. ‚Reinheit des Blutes‘ und ‚Reinheit der Rasse‘, die jetzt zu den höchsten sozialen Werten erhoben werden, lassen sich allerdings nicht unmittelbar zur Evidenz bringen, sondern beim damaligen Stand der Wissenschaften lediglich an äußeren Merkmalen ablesen. So wird die Ästhetik, beginnend im 18. Jahrhundert, zu einer politischen Wissenschaft, wobei den griechischen Statuen noch im 20. Jahrhundert die Funktion zugeschrieben wird, die sie schon am Ursprung der klassischen Ästhetik hatten. Sie werden als Kanon des vollkommenen – und das heißt jetzt – des reinrassigen ‚nordischen‘ Menschen in Anspruch genommen. Zwischen 1933 und 1945 wird der Begriff des ‚Volks‘ schließlich in seine beiden extremsten Ausprägungen auseinandergetrieben: hier die ‚dorische Welt‘ im nationalsozialistischen Berlin, dort das ‚Volk Gottes‘ in Theresien-



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stadt und Jerusalem. Hier der absolute Machtstaat, auf Krieg und Genozid ausgerichtet, dort im Gegensatz zur mörderischen und räuberischen Gesellschaft des Dritten Reichs die Utopie einer Gemeinschaft der dem Gesetz Gottes Gehorchenden, deren Exponenten auf dieser Basis eine gerechte und friedliche Gesellschaftsordnung entwerfen. Damit treten zwei Endpunkte einer Entwicklung ins Licht des historischen Bewusstseins, die mit der deutschen Klassik und dem gleichzeitigen Eintritt des Judentums in die europäische Moderne ihren Anfang genommen hat. Im extremen Auseinanderklaffen dessen, was ‚Volk‘ für die Nationalsozialisten und ihre Führer und was es für die geistigen Leitfiguren der deutschen Juden bedeutet, manifestiert sich das endgültige Zerbrechen der europäischen Kultur der Moderne, für das die Vernichtung des europäischen Judentums das bis heute weiterwirkende Menetekel darstellt. ‚Goj Kadosch‘. Das heilige Volk Während das aus dem Slawischen stammende Lehnwort ‚Volk‘ im Deutschen zunächst eine Gruppe von Kriegern, einen Heerhaufen, bezeichnet und davon ausgehend bis ins 18.  Jahrhundert hinein vornehmlich als Übersetzung des lateinischen populus das niedere Volk, den Pöbel, meint,2 werden die Juden schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts in der lutherischen Übersetzung des Alten Testaments in besonderer Weise als ‚Volk‘ hervorgehoben, weil sie sich durch ihren Bundesschluss mit dem einen Gott von anderen Nationen unterscheiden. Noch beim Auszug aus Ägypten ist von ihnen vornehmlich als dem ‚Hause Jakob‘ oder den ‚Kindern Israel‘ die Rede. Erst als sie am Berg Sinai den Bund mit JHWH schließen, werden sie mit Nachdruck ‚Volk‘ genannt. An die Annahme seines Angebots eines Bundes mit ihm knüpft Gott die Verheißung: „So solt ir mein Eigenthum sein fur allen Völckern | denn die gantze Erde ist mein | und ir solt mir ein priesterlich Königreich | und ein heiliges Volck sein.“3 Mit der Besiegelung des Bundes zwischen Gott und den Juden, die der Verkündigung der Zehn Gebote unmittelbar vorhergeht,4 wird ein für alle Mal die Sonderstellung Israels begründet. Dadurch, dass es JHWH als König anerkennt, wird es aus einem nomadischen Familienverband zu einer Gemeinschaft geformt, die nicht mehr auf den familiären Blutsbanden sich gründet, sondern auf der Einzigartigkeit der monotheistischen Religion, die fortan als Ethos sein Leben und als Ritual seinen Alltag bestimmen wird. Gott ist allerdings für sein ‚auserwähltes Volk‘ physisch unnahbar: „Das volck kann nicht auff den berg Sinai steigen“. Dennoch bleibt er seinem Volk ständig nahe, denn er spricht durch den Mittler Moses zu ihm: „Und Mose steig herunter zum Volck | und sagts inen.“ Dadurch dass „alles volck“

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„Was heißt denn Volk?“. Gotthold Ephraim Lessing

gelobt: „Alles was der HERR geredt hat | wollen wir thun“, treten die ‚Kinder Israel‘ als ‚Volk‘ dem Gott gegenüber, der ihnen seine Gesetze verkündet und sich dadurch als ihr ‚Gott‘ geoffenbart hat.5 Insgesamt sechzehn Mal wird die neue Bezeichnung ‚Volk‘ auf die Juden allein im Kapitel XIX des Buchs Exodus angewandt, in dem unmittelbar vor der Verkündung der Zehn Gebote der Bundesschluss mit Gott besiegelt wird. So werden die Juden ein Volk in der Wüste, ein Volk von Wanderern, denen der Besitz eines eigenen Landes abgeht, der einem Anspruch auf einen eigenen Nationalstaat die unzweifelhafte Berechtigung verleihen würde. Es ist ihr Gehorsam gegenüber dem Gesetz, wie es ihnen in der Thora gegeben ist, der die ‚Kinder Israel‘ als Volk konstituiert. In dieser neuen Bedeutung ist ‚Volk‘ eine nationale Gemeinschaft, deren Zusammenhalt durch ihre von anderen unterschiedene Kultur und ihre von allen akzeptierten sozialen Regeln gewährleistet wird, ohne dass ihr eine staatliche Einheit gegeben wäre. So sind es die Zehn Gebote, die nicht nur die Grundlage allen menschlichen Ethos sind, sondern die zugleich das Volk Israel in seiner Sonderstellung als Vorbild aller anderen Völker konstituieren. Die den Juden am Berg Sinai verliehene Auszeichnung wird in ihrer Besonderheit von Gott ausdrücklich noch einmal im Buch Deuteronomium beglaubigt, auch hier im Zusammenhang einer detaillierten Entfaltung der göttlichen Gebote und rituellen Vorschriften. Damit wird betont: Nicht wegen ihrer Macht und Größe, nicht wegen ihres Landbesitzes, sondern wegen ihres Gehorsams gegenüber der Thora, dem Gesetz Gottes, empfängt ‚Israel‘ die Verheißung: „Denn du bist ein heilig Volck [Goj Kadosch] Gott deinem HERRN | Dich hat Gott der HERR erwelet zum volck des Eigen­ thums | aus allen Völckern die auff Erden sind.“6 Die zitierten Schriftstellen belegen: Der unerhörte Anspruch der Juden, das auserwählte Volk Gottes zu sein, der ihre Geschichte in ihren Höhen und Tiefen begleitet und der als einer der Auslöser der seit dem Altertum grassierenden Judenfeindschaft angesehen werden muss,7 gründet nicht auf rassischen oder geistigen Überlegenheitsgefühlen, sondern auf ihrer spezifischen Kultur, die sie selbst als Treue gegenüber den Geboten Gottes verstehen. „Was heißt denn Volk?“. Gotthold Ephraim Lessing Die von den Juden von Anfang an beanspruchte Vorzugsstellung und die aus ihr sich ergebenden sozialpsychologischen Folgen spielen in einer der markantesten Szenen der deutschen Aufklärungsliteratur eine zentrale Rolle und werden in ihr zugleich in Frage gestellt. Im Zweiten Aufzug von Lessings „dramatischem Gedicht“ Nathan der Weise von 1779 wird die Annäherung und sich anbahnende Freundschaft zwischen dem Tempelherrn und



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dem Juden Nathan in einer Auseinandersetzung über die Bedeutung des Wortes ‚Volk‘ ausgetragen. Tempelherr: […] Wißt Ihr, Nathan, welches Volk Zu erst das auserwählte Volk sich nannte? Wie? wenn ich dieses Volk nun, zwar nicht haßte, Doch wegen seines Stolzes zu verachten, Mich nicht entbrechen könnte? Seines Stolzes; Den es auf Christ und Muselmann vererbte, Nur sein Gott sei der rechte Gott! (LW 9, 532)

Damit ist das Skandalon benannt, das die Geschichte des Judentums wie die Geschichte seiner Beziehung zu anderen Völkern seit jeher dominiert. Hier tritt ein Volk auf, das nicht auf Grund seiner irdischen Macht, noch auf Grund seiner ethnischen Exzellenz sich allen anderen für überlegen hält, sondern auf Grund seiner besonderen Beziehung zu dem einen und einzigen Gott. Die Worte des Tempelherrn sind allerdings geprägt von einem fatalen Fehlurteil, wie es die öffentliche Meinung über die Juden schon seit dem Altertum beherrscht. Danach begründet nicht ihr Gehorsam gegenüber dem Gesetz ihre Sonderstellung. So wird es in der Thora verkündet, die den in der Realität immer wieder scheiternden, aber stets aufs Neue unternommenen Versuch, unter dem Gebot Gottes eine friedliche und damit auch vorbild­ liche Gesellschaftsordnung zu errichten, zur Grundlage der Geschichte des Volkes Israel macht. Stattdessen wirft der Christ den Juden einzig den von ihnen erhobenen und vor allem von anderen zur Last gelegten Anspruch vor, dass ihr Gott der einzig wahre Gott sei. In den Worten seines Tempelherrn deutet Lessing zudem schon an, dass der Hass auf die Juden, der schon seit dem Altertum und dem Mittelalter grassierende Antijudaismus, seine Wurzeln in diesem ihnen zugeschriebenen Überlegenheitsanspruch hat. In Lessings „dramatischem Gedicht“ wird die soziale Spannung zwischen den Religionen, die aus den Worten des Tempelherrn spricht, durch den Appell an die Einheit der Menschheit aufgelöst, wie sie die Aufklärung als eine ihrer Grundlagen beschwört: Nathan: […] Verachtet Mein Volk so sehr Ihr wollt. Wir haben beide Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind Wir unser Volk? Was heißt denn Volk? Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch Zu heissen!  Tempelherr: Ja, bei Gott, das habt Ihr, Nathan! (LW 9, 533)

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Das ‚Volk der Ebräer‘. Johann Gottfried Herder II

Die Besonderheit der Juden, ihre im Alltag sich bewährende Treue dem Gesetz gegenüber, wird, wie die Differenz zwischen den Völkern überhaupt, in diesen Worten vorschnell zum Verschwinden gebracht, weil in einem allgemeinen Menschheitsbegriff aufgelöst. Das ‚Volk der Ebräer‘. Johann Gottfried Herder II Die Verschiedenheit der Völker, die in ihrer unterschiedlichen Sprache, Religion und Kultur und damit auch in ihrer alltäglichen Lebensweise begründet ist, wird durch diese ideologische Überblendung in der sozialen und politischen Realität jedoch keineswegs aufgehoben. Im Gegenteil, gerade die Nationen, denen es an einer staatlichen Einheit mangelt, akzentuieren umso stärker ihren ‚völkischen‘ Charakter. Dies trifft im 18. Jahrhundert insbesondere auf die Deutschen zu, wobei es nicht verwundern sollte, dass es ein Theologe ist, der als erster im deutschen Sprachraum den biblischen Bedeutungshorizont des Wortes ,Volk‘ in den öffentlichen politischen und sozialen Diskurs überführt hat. Während noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts die althergebrachte Bedeutung des ‚niederen Volkes‘ im Alltagsgebrauch des Wortes vorherrscht, wertet Johann Gottfried Herder den Begriff in der Weise auf, dass er mit ihm eine durch gleiche Sprache und Dichtung zusammengehaltene Menschengruppe bezeichnet. Schon 1777, er war gerade erst Weimarer Superintendent geworden, nennt er in seiner für die „Bairische Akademie der Wissenschaften“ verfassten Preisschrift Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker die „Ebräer“ als „das merkwürdigste, lehrendste Muster: ‚wie Dichtkunst auf Sitten eines Volkes wirken sollte, und was sie oft nicht wirke‘.“ (HW  4, 169) Moses, der die Juden aus Ägypten geführt hat, wird für ihn zum „Gesetzgeber“ (HW 4, 160), zum Schöpfer des Volkes, das durch diese Tat der Befreiung „nun sein Volk, ein Volk Gottes“ geworden ist. Hier deutet sich schon die Tendenz an, in der Herder die biblischen Erzählungen neu interpretiert. Nicht mehr Gott ist es, der einen Bund mit den Kindern Israel schließt und sie dadurch zum Volk macht, sondern es ist Moses, der die Juden mit seiner Poesie „umfing“ und dadurch ihr einheitliches Band gestiftet hat. (HW 4, 161) Diese radikale Anthropologisierung der biblischen Botschaft leitet die neuzeitliche Umdeutung des Volksbegriffs in einen politischen Kampfbegriff ein. Aus dem „Mittler“ Moses wird so der „Gesetzgeber“, den Herder in dieser frühen Schrift sogar dem Begründer der gesetzlichen Ordnung Spartas überlegen sein lässt: „Welcher Gesetzgeber wollte tiefer auf die Sitten seines Volkes wirken, als Moses? Selbst Lykurg ist ihm nicht zu vergleichen“. (HW 4, 161) Damit interpretiert Herder die Moses-Gestalt schon



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in der gleichen säkularisierten Perspektive, die fünfzehn Jahre später Schiller in seinen ersten Jenenser Vorlesungen einnehmen sollte. Sogar deren Kontrastierung mit dem spartanischen Gesetzgeber Lykurg wird von ihm vorweggenommen. 1795, also fünf Jahre nach Schillers Vorlesungen, stellt Herder in seinen Briefen zu Beförderung der Humanität mit dem Begriff des „Publikums“ Sprache und Literatur als entscheidende Faktoren für den Zusammenhalt eines Volkes dar. In seinem „57. Brief“ werden die „Ebräer“ noch einmal als exemplarisches Volk hervorgehoben, das durch seine Literatur zu einem Publikum gebildet worden sei. „Das Ebräische Volk ward von seinem Ursprunge an als ein genetisches Individuum, als Ein Volk betrachtet.“ (HW 7, 303) Aber hier schon überträgt er sein Modell einer nicht staatlich gebundenen Gemeinschaft auch auf die Deutschen: „Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sie schütten, seine Seele in ihr ausdrücken lernte, der gehört zum Volk dieser Sprache. Ich vernehme noch Otfrieds Stimme, die Kern- und Biedersprüche mancher alten Deutschen, die den Charakter meines Volkes in sich tragen, sprechen zu mir; Kaisersberg, Luther predigt mir noch […].“ (HW 7, 304) Im Zuge dieser Verallgemeinerung treten zugleich die Griechen als exemplarisches Volk neben die Juden. Herder behauptet, „dass in Ansehung der Sprache, der Kunst und des Geschmacks gegen die Griechen, wie wir sie jetzt nehmen, wir eigentlich noch gar kein Publikum haben und gehabt haben“ (HW 7, 314). Mit dem eingeschobenen Nebensatz, „wie wir sie jetzt nehmen“, weist er unmissverständlich darauf hin, dass er sich mit seiner Aufwertung der Griechen der neuesten Tendenz der damaligen Kulturtheorie, der Neoklassik eines Goethe und Schiller, anschließt. Er selbst hatte schon 1782 in dem großen Werk Vom Geist der Ebräischen Poesie Moses zum Dichter, zu einem besseren Homer stilisiert, der „in die Poesie seines ganzen Volkes gewirkt“ habe. (HW 5, 933) Daran ist abzulesen: Um überhaupt noch im Kontext des neuen literarischen Legitimationsdiskurses der deutschen Klassik in Erscheinung treten zu können, wird Moses an das neue kanonische Vorbild Homer angeglichen, werden die Juden von Herder zu orientalischen Griechen stilisiert. Im Jahr 1795, als die klassische Ästhetik mit Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung ihren Höhepunkt erreicht, veröffentlicht Herder im ersten Jahrgang der Horen, in dem auch Schillers Manifest erscheint, den programmatischen Aufsatz Homer, ein Günstling der Zeit, in dem er seine eigene Bildungsgeschichte als die einer immer tieferen und intimeren Durchdringung der homerischen Epen beschreibt. So entsteht im Bericht über seine Homerlektüre und über den Anblick antiker Statuen, die er auf seiner Italienreise sehen konnte, eine menschliche Idealwelt, die von nun an als Vorbild die biblische ersetzen wird: „In Homers lichter Welt steht alles so leibhaft da; Götter und Menschen sind so wahre Wesen, wie diese

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Das „Urvolk“ der Deutschen. Johann Gottlieb Fichte und Richard Wagner

Statuen, wenn sie sich belebten.“8 Dieser Satz enthält in nuce die Begründung dafür, dass die griechische Welt, insbesondere die antike Plastik zum neuen kanonischen Vorbild der westlichen, vor allem der deutschen Kultur wird. Seitdem ist nicht mehr der Gehorsam gegenüber dem alle Ethik und Moral begründenden biblischen Gesetz, an dem auch das Christentum noch festgehalten hatte, sondern die Schönheit der literarischen und künstlerischen Produktion das ausschlaggebende Kriterium für die Auserwähltheit eines Volkes. Jetzt kann der Begriff ‚Volk‘ mit seiner metaphysischen Aufladung auf jede nationale Gemeinschaft übertragen werden, die keine staatliche Einheit besitzt, sondern sich stattdessen durch die Exzellenz ihrer gemeinsamen Kultur und Sprache auszeichnet. Dies trifft für Herder vor allem auf die Deutschen zu: „Was uns nicht genommen werden konnte, ist Deutsche Sprache, Deutscher Verstand und guter Wille; diese werden, wenn und sobald sie es vermögen, einmal ein deutsches Publikum bilden.“ (HW 7, 315) So dient der Begriff ‚Volk‘ mit seinem untergründigen theologischen Bedeutungsüberhang für Herder schließlich zur Markierung „der Erlösungs- und Befreiungsbedürftigkeit mit daraus folgendem Sendungsbewusstsein“ der Deutschen.9 Paradoxerweise wird er damit trotz seines antipolitischen Charakters zu einem „politischen Aktionsbegriff“.10 Allerdings bleibt er bei Herder im Kontext der klassischen Ästhetik die Grundlage für den utopischen Entwurf eines friedlichen Wettstreits, eines Wettstreits „aller Völker Europas […] der Geistes- und Kunstkräfte miteinander“, der sich gegen den von ihm als „Blutkampf“ verabscheuten Krieg der Nationen richtet. (HW 7, 315) Im Laufe der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wird der Begriff, wie Herder ihn geprägt hat, dann im Gegensatz zu den Intentionen seines Erfinders zur ideologischen Begründung der kriegerischen Auseinandersetzungen der europäischen Nationen und schließlich – im 20. Jahrhundert – des Genozids an den Juden missbraucht. Das „Urvolk“ der Deutschen. Johann Gottlieb Fichte und Richard Wagner Die Heilserwartung, die sich bei Herder nur implizit mit dem Begriff ‚Volk‘ verbindet, wird in Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation im Kontext der Napoleonischen Kriege zum zentralen Gegenstand der politischen Mythologie, mit der die Überlegenheit des deutschen Volkes im europäischen Kontext behauptet werden soll. In seinen Vorlesungen, die er im Winter 1807/1808 gehalten und im April 1808 veröffentlicht hat, wird den militärisch und politisch besiegten Deutschen suggeriert, sie seien das „Urvolk“ und damit das kanonische Vorbild aller anderen Völker, weil



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in ihnen „ein absolut Erstes und Ursprüngliches“, „Freiheit“ und „unendliche Verbesserlichkeit“ sich erhalten habe. Mit einer Anspielung auf die Etymologie des Wortes „deutsch“ behauptet Fichte von den Menschen des deutschsprachigen Raumes: „Alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche“.11 Fichte kann die Deutschen nur deshalb zum modellhaften Vorbild eines Volkes erheben, weil er zuvor schon den Juden, die diese Vorzugsstellung ursprünglich inne hatten, ihren auszeichnenden Charakter abgesprochen und die Form ihres Zusammenlebens in der Diaspora als „Staat im Staate“ definiert hatte.12 In der antijüdischen Polemik seiner Schrift Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution von 1793 behauptet er: „Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindseelig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht, und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt; es ist das Judenthum.“ Unter dem Begriff „Staat“ als dem Gegenbegriff zum „Volk“ fasst er hier eine ihre gesellschaftlichen Interessen vertretende, durch einen „Bürgervertrag“ institutionell formierte Gemeinschaft, als deren Beispiel ihm offensichtlich die politische Partei der Jakobiner im revolutionären Frankreich vor Augen steht.13 Als solchen „Staat im Staate“ bezeichnet er auch das Judentum, das sich allerdings nach ihm von anderen dadurch unterscheidet, „daß dieser Staat auf den Haß des ganzen menschlichen Geschlechts aufgebauet ist“.14 Dieses negative Urteil über die seit der zweiten Zerstörung des Tempels staatenlosen und in der ganzen Welt zerstreuten, in Deutschland immer noch weitgehend rechtlosen Juden findet sich nicht zufällig in Fichtes Schrift über die Französische Revolution. Hatten die Franzosen doch als erste europäische Nation durch das Emanzipationsedikt der Nationalversammlung von 1791 ihren jüdischen Mitbürgern volle Bürgerrechte gewährt.15 Dagegen wendet sich der Hass des Deutschen, der in einer längeren Anmerkung betont, dass es sich bei seiner Polemik gegen die Juden nicht um private Intoleranz handle, sondern um ein gesellschaftliches Problem, das nur durch totale Assimilation der Juden oder durch ihre Rückführung nach Palästina zu lösen sei: „Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.“16 Noch wird das „Köpfeabschneiden“ erst als probates Mittel einer radikalen Emanzipation imaginiert, bald wird es zu einer realen Wunschvorstellung des außer Rand und Band geratenen Antisemitismus mutieren. So löst die Emanzipation der Juden schon an ihrem Beginn radikale Verdrängungs- und Vernichtungsphantasien aus, die unter

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Das „Urvolk“ der Deutschen. Johann Gottlieb Fichte und Richard Wagner

anderem vom Terreur der Guillotine inspiriert scheinen und die dann im 20. Jahrhundert gesellschaftliche Wirklichkeit werden sollten. Der Vorrang der Deutschen beruht nach Fichte darauf, dass sie als einzige eine lebendige Sprache besitzen.17 Ihre „Verschiedenheit“ von anderen Völkern bestehe darin, dass „der Deutsche eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet“.18 Diese These des Philosophen, durch die er die Deutschen von den romanischen Völkern mit ihren aus dem ‚toten‘ Latein abgeleiteten Sprachen abzugrenzen versucht, lässt sich empirisch nicht belegen. Sie wird von Fichte als solche auch nicht begründet, sondern durch einen indirekten Beweis evident zu machen versucht, indem er auf die Überlegenheit der deutschen Philosophie und Dichtung im Europa seiner Zeit hinweist. Nur die fortdauernde Verbindung des „Urvolkes“ der Deutschen mit der „Ursprache“ habe es ermöglicht,19 dass bei ihnen „die Geistesbildung […] in das Leben“ eingreife.20 Philosophie, die „lebendige Wirksamkeit des Gedankens“, und Dichtung, „der zweite Hauptzweig der geistigen Entwicklung eines Volkes“, hätten nur auf der Grundlage einer lebendigen Sprache den Höchststand erreichen können, der sie gegenwärtig in Deutschland auszeichne.21 Dieser Zirkelschluss, in dem „jenes Gesetz der Entwicklung des Ursprünglichen, und Göttlichen“ zugleich als Ursprung und gegenwärtige Manifestation der Superiorität der Deutschen figuriert, ist es, der für Fichte die später sprichwörtlich gewordene Charakterisierung des „Nationalcharakters“ der Deutschen „als Volk der Dichter und Denker“ begründet.22 Schließlich sucht er sie in einem mythischen Bild zu fassen, das seinen appellativen Charakter ebenso sehr dem Auftreten der napoleonischen Legionen wie biblischen und antiken Elementen verdankt: „der deutsche Geist ein Adler, der mit Gewalt seinen gewichtigen Leib emporreißt, und mit starkem, und viel geübtem Flügel viel Luft unter sich bringt, um sich näher zu heben der Sonne, deren Anschauung ihn entzückt.“23 In der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts verlagern sich die Erklärungsmuster für soziale und geschichtliche Vorgänge mehr und mehr auf naturwissenschaftliche Theoreme. Charles Darwin, der die Entstehung der Arten auf natürliche Selektion zurückführt, wird mit seiner Evolutionslehre zum kanonischen Vorbild der neuen Wissenschaft, die sogar die historische Vorrangstellung eines Volkes auf dessen biologische Besonderheiten zurückzuführen versucht. In den politischen Schriften Richard Wagners, die eine der Quellen des ‚gelehrten‘ Rassenantisemitismus sind, lässt sich der Übergang von einer kulturellen Begründung der Abwertung des jüdischen Volkes und der Überlegenheit der Deutschen zu einer scheinbar naturwissenschaftlichen Argumentation im Detail nachvollziehen.24 In seinem Pamphlet Das Judentum in der Musik, das er 1850 anonym in der Neuen Zeitschrift für Musik und 1869 noch einmal mit „aufklärenden“ Erläuterun-



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gen als eigenständige Broschüre publizierte, erklärt er einleitend, es gehe ihm im Folgenden darum, „die unbewußte Empfindung, die sich im Volke als innerlichste Abneigung gegen jüdisches Wesen kundgibt, zu erklären“.25 Die Berufung auf das „Volk“ und dessen „Empfindung“ ist aber offensichtlich nur ein Vorwand, um das eigene Ressentiment gegen „das unwillkürlich Abstoßende, welches die Persönlichkeit und das Wesen des Juden für uns hat“, zu rechtfertigen.26 Die Formulierung, die Wagner auf den ersten Seiten seines Pamphlets mit leichten Variationen mehrfach wiederholt,27 wird zwar zunächst mit dem altbekannten Stereotyp von der Macht des Geldes untermauert, über das vor allem die Juden verfügten. Im zweitem Teil der Schrift jedoch, der aus einer polemischen Diatribe gegen Felix MendelssohnBartholdy, vor allem aber gegen den in Paris erfolgreichen Konkurrenten Giacomo Meyerbeer besteht, lässt der aufstrebende Opernkomponist die persönlichen Beweggründe erkennen, die ihn dazu veranlassen, gegen die „Verjüdung der modernen Kunst“ zu polemisieren.28 Dabei sieht er noch ganz in der Tradition der Romantik die Vorzugsstellung der Deutschen in ihrer eigentümlichen Sprache begründet. Während so die deutsche Kunst für ihn durch deren Ursprünglichkeit in Verbindung „mit ihrem natürlichen Boden, dem wirklichen Volksgeiste“ steht, erscheinen die Sprache der Juden und ihre Kunst als deren negatives Abbild. Wagner kann sich in seiner Gehässigkeit gegenüber der Sprache des „zersplitterten, bodenlosen Volksstammes“ gar nicht beherrschen. Er empfindet sie als „durchaus fremdartig und unangenehm“ und bemängelt den „zischenden, schrillenden, summsenden und murksenden Lautausdruck der jüdischen Sprechweise“ sowie ihre „unserer nationalen Sprache gänzlich uneigentümliche Verwendung und willkürliche Verdrehung der Worte und Phrasenkonstruktionen“.29 Die Vehemenz dieser Polemik – das belegt dieses Zitat – ist auch durch die empfundene Nähe des „Judendeutsch“ zu „unserer nationalen Sprache“ bedingt, die für ihn die eigentliche Grundlage der Einzigartigkeit der deutschen Kultur darstellt. In der angeblichen sprachlichen Defizienz der Juden sieht Wagner denn auch den eigentlichen Grund für deren Unfähigkeit zu singen, zu musizieren und überhaupt Kunst hervorzubringen. Sie ist, so sein abschließendes Urteil, die Ursache ihrer „vollendeten Unproduktivität“.30 Auch in seinen späteren politischen Stellungnahmen hält Wagner an diesem Argumentationsmuster fest. Einerseits steigert er seinen Hass gegen die Juden in den Ausführungen zu Religion und Kunst (1880) zu kaum verhüllten Vernichtungsphantasien.31 Zugleich begründet er in derselben Schrift die Erneuerung der Kunst in seinem Werk mit dem „unzerstörbaren Gefühl der Verwandtschaft mit dem Volke, dem wir zunächst entwachsen sind“.32 In diesem Zusammenhang wiederholt er fast wörtlich die idealisierte Charakterisierung der Deutschen, die siebzig Jahre vor ihm Fichte

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Das „Urvolk“ der Deutschen. Johann Gottlieb Fichte und Richard Wagner

propagiert hatte. Wie dieser sieht er in ihnen „mehr als eine Rasse“, nämlich „einen Urstamm der Menschheit selbst“, weil sie in der Lage seien, „in dem wahren väterlichen Boden unserer Sprache nach deren Wurzeln [zu] graben [und] aus dem Urbronnen unserer eigenen Natur zu schöpfen“.33 Gegen die Juden aber, die nur „ein Zerrbild des deutschen Geistes“ seien, weil ihr originäres Idiom, das Hebräische, eine tote Sprache sei,34 führt er  – wie schon die Klassik – die Nähe „des deutschen Geistes“ zur Antike ins Feld, die eine „Wiedergeburt des Reinmenschlichen“ befördert habe. „Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die Antike nach ihrer jetzt allgemeinen Weltbedeutung unbekannt geblieben sein würde, wenn der deutsche Geist sie nicht erkannt und erklärt hätte“.35 Ein Jahr später setzt sich Wagner mit dem im 19. Jahrhundert Furore machenden Buch von Joseph Arthur de Gobineau Essai sur l’ inégalité des races humaines (1853/1855) auseinander, das die Vermischung der ‚Rassen‘ zum scheinbar wissenschaftlichen Erklärungsprinzip der geschichtlichen Entwicklung erklärt und dabei die ‚Reinheit des Blutes‘ als Kennzeichen der höherwertigen ‚Rasse‘ definiert. In seinem 1881 in Bayreuth geschriebenen Essay Heldentum und Christentum identifiziert Wagner nun das „Blut“ geradezu mit „Qualität der Rasse“ und sucht den „Grund“ für die Entartung der höheren ‚Rassen‘ „in einem Verderbe des Blutes […], da wir den Verfall unverkennbar mit der Vermischung der Rassen eintreten sehen“.36 Das ist unverfälschtes gobineausches Gedankengut,37 das jedoch in diesem späten Text mit Motiven der wagnerschen Weltanschauung in geradezu aberwitziger Weise vermischt erscheint. Den Ausweis der Zugehörigkeit zur „arischen Rasse“ lokalisiert der Komponist des Parzival nun in der „Fähigkeit des bewußten Leidens“, wie es sich „im Blute des Heilands“ manifestiert habe, zugleich aber im Stolz von „Heldennaturen“, als deren Beispiele er den griechischen Heroen Herakles und den nordischen Helden Siegfried anführt.38 Griechische, germanische und christliche Mythologie sind hier, angetrieben von untergründiger Todessehnsucht, mit einer vorgeblich naturwissenschaftlichen Theorie eine Synthese eingegangen, die im 20. Jahrhundert fatale Folgen zeitigen sollte. Im Bayreuther Kreis wird diese Mythenkompilation popularisiert, dies vor allem durch Houston Stuart Chamberlains in vielen Auflagen verbreitete Darstellung Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899), die zu einer der einflussreichsten Quellen des nationalsozialistischen Antisemitismus wurde. Allerdings erweist sich die Rede von der ‚Reinheit des Blutes‘ und der ‚Reinheit der Rasse‘ bei den ‚völkischen‘ Theoretikern als eine bloße Metapher, die von keiner naturwissenschaftlichen Beweisführung gestützt wird. Der ursprünglich aus dem religiösen Bereich stammende Begriff der ‚Reinheit‘, der im Judentum vor allem auf rituelle Praktiken bezogen ist, war in Spanien schon zu Beginn der Neuzeit zur Festigung der eigenen Gruppen­



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identität und zur Ausgrenzung von Minderheiten missbraucht worden. Nach den Statuten zur limpieza di sangre mussten sich Bewerber um ein öffentliches Amt ausführlichen genealogischen Untersuchungen unterwerfen, um nachzuweisen, dass sie aus einer Familie von ‚Altchristen‘ stammten und keine Neukonvertiten aus dem Judentum seien. Auch hier schon diente der Nachweis der ‚Reinheit des Blutes‘ also als Herrschaftsinstrument, führte zur „theologischen Biologisierung einer Gesellschaft, die durch eine genealogische Besessenheit das Feindbild des Juden fiktiv aufrecht erhielt“.39 Auch wenn es keine direkten historischen Verbindungen zwischen dieser Praxis und dem eliminatorischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts zu geben scheint, so bleibt doch festzuhalten, dass die Rede von der ‚Reinheit des Blutes‘, durch die eine vorgebliche ‚Reinheit des Rasse‘ garantiert sei, bei Wagner und seinen Nachfolgern ebenso fiktiven Charakter hat wie bei den spanischen Verfolgern der ‚Neuchristen‘. In Anlehnung an Grundsätze der Tierzucht muss sie durch andere als rein biologische Evidenzen beglaubigt werden, eben durch ästhetische. Die Rassentheoretiker des späteren 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts beglaubigen die ‚Reinheit‘ einer ‚Rasse‘ und ihres Blutes durch äußere, aus der Kunstgeschichte abgeleitete Schönheitsideale. So wird der im Sinne einer engen eurozentrischen Perspektive ‚schöne Körper‘ für sie zum erblichen und unveränderlichen Merkmal der Zugehörigkeit zum ‚Herrenvolk‘ und zum Stigma der Ausgrenzung für die Juden.40 Volk und Kunst. Adolf Hitler Bis 1933 ist der Mythos vom Volk und von der Reinheit des Blutes immer nur eine Projektion einzelner Individuen oder bestimmter Bevölkerungsgruppen, die jedoch eine Minderheit bilden. Als Adolf Hitler Reichskanzler wird und mit ihm die Nationalsozialisten an die Macht kommen, gewinnt er zum ersten Mal eine öffentlichkeitswirksame, eine politische Dimension.41 Zwar war diese Entwicklung im deutschen Sprachraum durch die Äußerungen ihrer kulturellen Wortführer, so durch die theoretischen Schriften Richard Wagners und andere antisemitische Pamphlete, schon vorbereitet. Im ‚Dritten Reich‘ aber bleibt die Berufung auf das ‚Volk‘ und auf die ästhetischen Maßstäbe, an denen der ‚Volkskörper‘ zu messen sei, als Letztbegründung alles sozialen und politischen Handelns nicht mehr nur ein Ausdruck individueller oder gesellschaftlich bedingter Mentalitäten. Nunmehr formt und bedingt sie auch die alltägliche gesellschaftliche und politische Wirklichkeit in Deutschland. Der Schönheitskult der Nazis und dessen mörderische Konsequenzen werden zu einem wesentlichen Element der totalitären Herrschaft. Der schöne Traum von der ‚ästhetischen Erziehung

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des Menschen‘ endet in der Ermordung des ‚lebensunwerten Lebens‘ und dem Versuch, die Juden Europas endgültig zu vernichten. In seinem Buch Mein Kampf und in seinen Reden setzt Adolf Hitler mit Vorliebe das Wort ‚Volkstum‘ anstelle des einfachen Substantivs ‚Volk‘ als eines der Fahnenwörter ein, mit denen er die Superiorität der arischen ‚Rasse‘ begründet. ‚Volkstum‘ ist ein Kunstwort, das Friedrich Ludwig Jahn in seinem Buch Deutsches Volksthum 1810 in die deutsche Sprache eingeführt zu haben behauptet.42 Der ‚Turnvater‘ rühmt sich in seiner Schrift der Erfindung des Begriffs und will mit ihm „das Gemeinsame des Volks, sein innewohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiedererzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit“ bezeichnet wissen.43 Von diesem seinem Ursprung im deutschen Nationalismus her hat das Wort stets den Nebensinn einer Abgrenzung von anderen Völkern, mehr noch, den der Deutschtümelei beibehalten. ‚Volkstum‘ sei, so Jahn, „der wahre Völkermesser der Größe“.44 Schon bei ihm – also lange vor Gobineau und Wagner – findet sich die Vorstellung, dass eine Vermischung der Völker von Übel sei: „Je reiner ein Volk, je besser, je vermischter, je bandenmäßiger.“45 Noch spricht Jahn nicht von ‚Rassen‘, aber auch bei ihm ist die Vorstellung von der Notwendigkeit der Reinheit, das heißt, der Unvermischtheit eines Volkes aus der Beobachtung des Fortpflanzungsverhaltens von Tieren abgeleitet.46 Noch kennt Jahn eine Vielfalt der Völker, die alle ihr eigenes ‚Volkstum‘ haben. Dennoch bestimmt er als Völker höchster Reinheit ohne weitere Begründung nur zwei, die Griechen und die Deutschen: „Welches Volks­ thum steht am höchsten, hat sich am Meisten der Menschheit genähert? Kein Anderes, als was den heiligen Begriff der Menschheit in sich aufgenommen hat, mit einer äußerlichen Allseitigkeit sie sinnbildlich im Kleinen vorbildet, wie weiland volksthümlich die Griechen, und noch bis jetzt weltbürgerlich die Deutschen, der Menschheit heilige Völker!“47 Aus diesen scheinbar harmlosen Vokabeln, die jedoch schon im Dienst eines aggressiven antifranzösischen Nationalismus stehen, werden in der Praxis der Nationalsozialisten Mordinstrumente. Hitler kommt in Mein Kampf (1925) immer wieder auf die zentrale Bedeutung der Erhaltung des deutschen ‚Volkstums‘ – und damit ist jetzt die in ihm verkörperte ‚arische Rasse‘ gemeint – für die deutsche Geschichte, ja für die Geschicke Europas und der ganzen Menschheit zurück. Für ihn „ist die Voraussetzung eines höheren Menschentums nicht der Staat, sondern das Volkstum, das hierzu befähigt ist“.48 Der Staat wird so zum untergeordneten, ausführenden Organ des ‚Volkstums‘ degradiert: „Somit ist der höchste Zweck des völkischen Staates die Sorge um die Erhaltung derjenigen rassischen Urelemente, die, als kulturspendend, die Schönheit und Würde eines schöneren Menschentums schaffen. Wir, als Arier, vermögen uns unter einem Staat also nur den lebendigen Organismus eines Volkstums vorzustellen, der die Erhaltung



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dieses Volkstums nicht nur sichert, sondern es durch Weiterbildung seiner geistigen und ideellen Fähigkeiten zur höchsten Freiheit führt.“49 In dieser so tautologischen wie programmatisch gemeinten Aussage erscheint das ‚Volkstum‘ zu einem Kampfbegriff verengt, der sein ideelles Ziel paradoxerweise in der „Schönheit und Würde eines schöneren Menschentums“ findet. Die zweimalige Betonung des ‚Schönen‘ in diesem Zusammenhang belegt, dass die Superiorität der ‚arischen Rasse‘ für Hitler vor allem an der ‚Schönheit‘ ihrer Vertreter und der von ihnen hervorgebrachten kulturellen Artefakte zu messen ist, dass also das Konstrukt der Rassenideologie vornehmlich auf ästhetischen Wertmaßstäben beruht. Dadurch erklärt sich auch die erstaunliche, immer wieder von Historikern hervorgehobene Tatsache, dass Hitler in seinen Äußerungen über die historischen Vorbilder seines Rassenstaats niemals die Germanen und ihre ihm von Wagner her bekannte Mythologie anführt, sondern stets die klassische Antike.50 Während er sich in seinen „Tischgespräche[n]“ über die germanische Vorzeit lustig macht, bleibt er auf ein ganz und gar unreflektiertes Idealbild der Antike fixiert: „Wenn man uns nach unseren Vorfahren fragt, müssen wir immer auf die Griechen hinweisen.“51 Albert Speer, unter Hitlers Paladinen derjenige, der ihm persönlich am nächsten gestanden hat, bezeugt in seinen Erinnerungen: „Die Kultur der Griechen bedeutete für Hitler auf jedem Gebiet die höchste Vollendung. […] Mit den Griechen meinte er die Dorer. Natürlich war die von Wissenschaftlern seiner Zeit genährte Vermutung dabei im Spiel, daß der von Norden eingewanderte dorische Volksstamm germanischen Ursprungs und daher seine Kultur nicht der mediterranen Welt zugehörig gewesen sei.“52 Hitler selbst hatte schon 1929 in einer Rede in Franken öffentlich seine Vorliebe für das Griechentum damit begründet, dass Sparta „der klarste Rassenstaat der Geschichte“ gewesen sei.53 In allen Hinsichten, in denen Hitler die Arier als ‚Herrenvolk‘ hochhält, stellt er die Juden als deren Gegenteil dar. Während er die Arier als „Träger der menschlichen Kulturentwicklung“ bezeichnet, behauptet er vom jüdischen Volk, es sei „niemals im Besitz einer eigenen Kultur“ gewesen. Es könne deshalb immer nur als „Schmarotzer“ und „Parasit im Körper anderer Völker“ leben.54 Auffällig dabei ist – und hier steht er ganz in der deutschen romantischen Tradition –, dass er den Wert eines Volkes an dem Stand seiner Kultur zu messen scheint. Nur in einem, für seine Ideologie allerdings zentralen Punkt dienen ihm, ohne dass ihm anscheinend dieses Paradox bewusst ist, die Juden als Vorbild. In seiner einseitigen und verengenden Sichtweise charakterisiert er den Talmud als „Anweisung zur Reinhaltung des Blutes des Judentums“,55 eine Formel, die unter geänderten Vorzeichen auch auf sein Buch zutreffen würde; man könnte Mein Kampf durchaus als ‚Anweisung zur Reinhaltung

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des Blutes der Arier‘ lesen. So orientiert sich Hitler insgeheim an einem Zerrbild des Judentums, wenn er als die wichtigste Aufgabe des völkischen Staates die Reinhaltung des Blutes der ‚arischen Rasse‘ definiert. Um die durch Rassenmischung bedrohte Qualität des deutschen Volkstums zu retten, beruft er sich auf das von ihm als geschichtliche Leistung erfahrene Verhalten von dessen angeblichen Feinden: „Die Rasse aber liegt nicht in der Sprache, sondern ausschließlich im Blute, etwas, das niemand besser weiß als der Jude, der gerade auf die Erhaltung seiner Sprache wenig Wert legt, hingegen allen Wert auf die Reinhaltung seines Blutes.“56 Die Verknüpfung von völkischem Mythos, arischer Rassenideologie und einem entfremdeten, vergegenständlichten Kunstbegriff findet sich noch einmal in konzentrierter Form in der „Programmatische[n] Kulturrede“, die Hitler am 18. Juli 1937, also 12 Jahre nach der Erstpublikation von Mein Kampf, zur Eröffnung der ersten ‚Großen Deutschen Kunstausstellung‘ in München gehalten hat und die einen Tag später im Völkischen Beobachter veröffentlicht wurde.57 In ihr wird erneut in vielfachen Wiederholungen und Variationen das ‚Volk‘ als höchste weltanschauliche Begründungskategorie allen künstlerischen, sozialen und politischen Han-



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Abb. 15: Adolf Ziegler: Die vier Elemente, Öl auf Leinwand, 1937. Bayerische Staatsgemäldesammlung.

delns beschworen: „Solange aber ein Volk besteht, ist es in der Flucht der Erscheinungen der ruhende Pol. Es ist das Seiende und Bleibende! Und damit ist auch die Kunst, als dieses Seienden Wesensausdruck ein ewiges Denkmal, selbst seiend und bleibend“.58 Dieser pseudoplatonische Idealismus schreibt der neuen deutschen Kunst als einer „aus dem tiefsten Wesen eines Volkes stammende[n] unsterbliche[n] Offenbarung“ eine geradezu religiöse Funktion zu. Hingegen wird die ‚moderne‘ Kunst samt ihren Künstlern und Kunstkritikern mit immer neuen polemischen Wortschöpfungen bedacht.59 In Hitlers manichäischem Weltbild ist sie als ‚entartete Kunst‘ eine „jüdische Entdeckung“,60 die das „Judentum […] besonders unter Ausnützung seiner Stellung in der Presse“ lanciert habe.61 Deren Produzenten und Förderern droht Hitler offen und zynisch mit der Befassung durch das „Reichsinnenministerium, das sich dann mit der Frage zu beschäftigen hätte, wenigstens eine weitere Vererbung derartig grauenhafter Sehstörungen zu unterbinden“.62 Damit schlägt die scheinbar harmlose Vermischung von Ästhetik und Rassentheorie in bedrohliche politische Praxis um. Der von Hitler in seiner Rede angekündigte „unerbittliche Säuberungskrieg“63 war nämlich

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Abb. 16: Ausstellungsführer „Entartete ‚Kunst‘“. Berlin 1937. Umschlagseite 1.

1937 schon in vollem Gange. Die Nationalsozialisten hatten inzwischen über 20  000 Kunstwerke von jüdischen oder expressionistischen Künstlern aus den deutschen Museen entfernen lassen. Viele davon wurden unter Leitung des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste Adolf Ziegler in der einen Tag nach Hitlers Rede eröffneten Schau ‚Entartete Kunst‘ ebenfalls in München der Öffentlichkeit präsentiert. In der ‚Großen Deutschen Kunstausstellung‘ war Ziegler mit dem Triptychon „Die vier Elemente“ vertreten, das den Nationalsozialisten als exemplarische Realisierung antikisierender Kunst galt.64 Das Gemälde wurde von Hitler persönlich angekauft und bekam einen Ehrenplatz über dem Kamin des ‚Hauses der Bewegung‘, der Parteizentrale der NSDAP in München.65 In seiner Grundsatzrede geriert Hitler sich als höchste Autorität in Sachen Kunst. „Wenn das deutsche Volk nun durch diese Räume gehen wird, [wird] es mich auch hier als seinen Sprecher und Ratgeber anerken-



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Abb. 17: Lovis Corinth: Ecce Homo. Öl auf Leinwand, 1925. Kunstmuseum Basel. In der Ausstellung ‚Entartete Kunst‘ vorgeführt.

nen.“66 Nach dem Vorbild Wagners, dessen Kunst Ausdruck des deutschen Volkes gewesen sei, stilisiert er sich zum Kämpfer für eine Erneuerung der deutschen Kunst und damit zugleich der deutschen Nation.67 Wie schon in Mein Kampf dienen ihm in der ihm eigenen verqueren Logik die Griechen als Volk, dient ihm ihre Kunst als Vorbild für die eigenen Ambitionen: „Diese einst volksbildende und damit auch heute noch gestaltende Kraft [des ‚Rassekerns‘] liegt auch hier in demselben arischen Menschentum, das wir nicht nur als den Träger unserer eigenen, sondern auch der vor uns liegenden antiken Kulturen erkennen.“68 Auf Grund dieser Gleichsetzung von Antike und Gegenwart kann er das ‚Haus der Kunst‘, das, von dem Architekten Troost in antikisierendem Stil neu erbaut, an diesem Tag von ihm offiziell eröffnet wurde, als „Tempel der Kunst“69 bezeichnen und über die in ihm versammelten Bilder unter Hinweis auf die Olympischen Spiele von 1936 sagen: „Niemals war die Menschheit im Aussehen und in ihrer Empfin-

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dung der Antike näher als heute.“70 In diesem Satz sind Hitlers ästhetische Anschauungen wie in einem Brennpunkt zusammengefasst. Im Zusammenhang zwischen klassizistischer, zum ahistorischen Topos geschrumpfter Ästhetik, Volkstumsideologie und den daraus resultierenden politischen Handlungsdirektiven erweist sich nach ihm die Theorie der Kunst, die den schönen menschlichen Körper zum zentralen Gegenstand ihrer Überlegungen macht, als die eigentliche Beglaubigungsinstanz der ‚arischen‘ Rassen­ ideologie, die zur Grundlage des nationalsozialistischen Staates geworden ist.

6.  „Berlin sey Sparta!“1 Vom Rassenwahn zum Völkermord Sparta Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erscheint Griechenland im deutschen kulturellen Kontext nicht mehr als das Land „edle[r] Einfalt und stille[r] Grösse“, sondern in der Nachfolge Nietzsches als der von Leidenschaften und blutigen Kämpfen durchtobte Ursprung des Abendlandes. In bewusster Abkehr vom Bild der Antike, wie es die Klassik gezeichnet hatte, weist Hugo von Hofmannsthal in seinem auf frühere Reiseeindrücke2 zurückgreifenden Essay Griechenland von 1922 auf „eine dunklere und wildere Antike“ hin.3 Goethes Griechenbegeisterung lehnt er ausdrücklich als unhistorisch ab: „Der große Kopf der Juno Ludovisi steht zwischen uns und ihm. Wir erinnern uns, daß er nie eine wirkliche Antike, nie ein Bildwerk des fünften Jahrhunderts gesehen hat, und die Serenität, in die er mit Winckelmann sein Altertum tauchte, ist uns die Verfassung eines bestimmten Augenblicks der deutschen Seele, nichts weiter.“4 Diese Zurückweisung des klassischen Bildes von der griechischen Antike begründet Hofmannsthal mit einem Hinweis auf seine Lektüre des Reiseberichts Voyage de Sparte von Maurice Barrès, in dem Goethes Iphigenie als einer allzu christlich gezähmten Frauengestalt die Wildheit der Atriden entgegengestellt wird, deren weiterwirkender Macht der Franzose in Mykene begegnet sein will.5 Dem antihumanistischen Griechenland, das Barrès auf der Peloponnes entdeckt, liegen die von ihm als „gewichtig und kraftvoll“ beschriebenen „dorischen Traditionen“ zugrunde.6 Als ‚Dorer‘ bezeichnet er mit der Altertumswissenschaft seiner Zeit die nach der Zerstörung der mykenischen Kultur um 1100 v. Chr. aus Norden in die Peloponnes eingedrungenen indogermanischen Völkerstämme, die in historischer Zeit als Spartaner in Erscheinung getreten sind.7 In einem eigenen Kapitel mit der Überschrift „Der Felsen der Apothetai“ ruft Barrès dem Leser in Erinnerung, dass die Spartaner, wie Plutarch in seiner Lebensbeschreibung von deren Gesetzgeber Lykurg überliefert,8 die schwachen oder missgebildeten Neugeborenen in eine Schlucht des Taygetosgebirges zu werfen pflegten.9 „Lykurg“, schreibt der nationalistische, antisemitische Politiker und Literat, „schlug den Menschen in jenem Tal vor, eine Herrenrasse zu bilden. […] Ich jedenfalls bewundere Sparta als ein großartiges Gestüt.“10

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Diese Sätze, die in ihrer Hochschätzung Spartas bei den Theoretikern des europäischen Rassenantisemitismus im 20. Jahrhundert ein vielfältiges Echo gefunden haben, werden von Hofmannsthal, der eingesteht, dass er „den Boden von Sparta nicht betreten“ hat, zwar nicht direkt zitiert. Wohl aber gibt er die pathetische Beschreibung des Taygetos-Gebirges durch den Franzosen wieder, die er als die „schönsten“ Seiten in diesem „schönen Buch“ beschreibt.11 Dabei unterlässt er nicht, darauf hinzudeuten, dass Barrès seine rhetorisch hoch aufgeladene Beschreibung der Landschaft nicht um ihrer selbst willen vorträgt, sondern unter der Überschrift „Die Motive meines Enthusiasmus“ den Taygetos als Erinnerungsort, mehr noch als Ursprungsort des spartanischen Heroismus begreift. Denn nicht von ungefähr führt Hofmannsthal sein Zitat mit einem an Kriegerisches gemahnenden Vergleich ein: „Der Taygetos rührt ihn [Barrès] an, wie den jungen Achill, der unter den Frauen von Skyros versteckt war, der plötzliche Anblick von Schwert und Lanze“, ein Hinweis, der im Zitat des Textes von Barrès selbst sein Echo findet: „und wie sterbende Heroen sieht man an den Hängen einzelne Dörfer kriegerisch hinsinken“.12 Hofmannsthal selbst stellt dieser Evokation des Heroischen mit einem vielfach abgewandelten Selbstzitat aus seinem früheren Aufsatz die über Byzanz vermittelte Tradition antiker Frömmigkeit entgegen, in der für ihn „ein sanfteres Element dieser Landschaft“ aufscheint.13 So wird ihm Griechenland zum Ort der Theophanie: „Die homerischen Götter und Göttinnen treten fortwährend aus der hellen Luft hervor; nichts erscheint natürlicher, sobald man dieses Licht kennt.“14 Dieser impressionistische Blick auf das Griechentum steht in der seit Winckelmann ungebrochenen klassischen Tradition. Er ist im Grunde noch immer von einem dichterischen Text, den Epen Homers, gelenkt. Was sich im zugleich bewundernden und abmildernden Rückgriff auf Barrès’ Die Reise nach Sparta durch Hofmannstahl untergründig schon andeutet, wird in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts virulent. Die zunehmende Intensität der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg, der Kampf der Nationalsozialisten wie der Kommunisten gegen die Weimarer Demokratie, hatte zur Folge, dass sich das Interesse der Griechenfreunde mehr und mehr auf einen bestimmten Volksstamm unter den Griechen konzentrierte, auf die Dorer, deren von Königen geführten Kriegerstaat Sparta sie zum Gegenbild der athenischen Demokratie stilisierten. Im kulturgeschichtlichen Kontext taucht das Motiv ihrer Vorrangstellung, das die kunsthistorischen Überlegungen Winckelmanns in anderer Weise wieder aufnimmt, in Rudolf Borchardts Einleitung zu seiner Übersetzung der Pindarischen Gedichte (1931) auf. Er ist es, der – wie Werner Jäger, der führende Altphilologe der Zeit, formulierte – mit diesem pathetisch hoch aufgeladenen Text zuerst die „Dorerof-



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fenbarung“ in den zeitgenössischen Diskurs über Griechenland und in die deutsche Literatur einführte.15 In hymnischer Sprache preist Borchardt den in dorischem Dialekt schreibenden Chorlyriker Pindar als „Propheten und Restaurator, Bildner, Lehrer und Sprecher seines Volks“.16 Unübersehbar, dass Pindar hier in die Rolle eines Moses, die Dorer in die eines ‚auserwählten Volkes‘ projiziert werden. Zudem sind sie, wie Werner Jaeger zu Recht bemerkt, in schärfsten „Gegensatz zum Jonisch-Homerischen und zum Attisch-Klassischen“ gestellt, den beiden bis dahin kanonischen Formen des Griechentums.17 Das auf Sparta reduzierte Hellas erscheint in der Stilisierung Borchardts als „Heroenerde“,18 als „das unangerührte Urland städteloser götterüberschwebter Heldenwanderung“.19 Pindar habe in seiner lyrischen Dichtung „die alten Ideale der Landnahme, Manneswert und Freiheitsstolz“ erneuert und sie „dem neuen Volke unermüdlich vorgestaltet“.20 Dunkel raunend, versucht Borchardt in seinem außergewöhnlichen Stück Prosa nichts anderes, als die „griechische Seele vom Abendlande aus zu bedingen“ und damit zugleich den Deutschen „von der Wertskala und dem Menschentum der Landnahme her“ einen neuen nationalen Mythos zuzuschreiben.21 Dabei erscheint es vernachlässigenswert, dass sich sein poetischer Furor zu Bildern verirrt, die an die überladenen Tableaux eines Edward BurneJones oder Alma-Tadema erinnern: „Nymphen in Götterarme gebettet, die Völkergassen mit speertragenden Reitervölkern auf schneeigen Rossen zu den goldbergenden Landvesten emporgeleitet, wilde Königstöchter zwischen himmlischen Besuchen und den Umarmungen schweifender Recken geträumt und so mit dem Anschlage seines Zauberstabes ein unerhörtes Hellas aus der heroischen Sage, dem Liede und dem Kulte gebannt […].“22 Das sind in Borchardts wilder Märchen- und Männerphantasie die Dorer, die sich so aber nirgendwo bei Pindar finden. Auch die historisch völlig falsche Abgrenzung Pindars von Homer, von dem doch viel zutreffender als dem Dichter der „Landnahme“ die Rede sein könnte,23 sowie die Hervorhebung Spartas als des „einzige[n] geistige[n] Ort[s] Griechenlands, an dem wir der Polis ledig werden“,24 zeugen eher von den antiaufklärerischen und antidemokratischen Tendenzen des von Borchardt entworfenen Mythos als von der historischen Sachkenntnis des Autors. Sein übersteigertes Lob der pindarischen Chorlyrik aber als „d[er] größte[n] Poesie des herrlichsten Volkes, das die Erde kurze Zeit getragen, d[er] größte[n] des Menschengeschlechtes“,25 ist allein zu verstehen als heroischer Gegenentwurf zu den Wirren und Schwächen der Weimarer Republik. In Borchardts Text sprechen sich, wie er von Pindars Poesie behauptet, „alle Erregten der Zeit“ aus,26 eine Aktualität, die schon Werner Jaeger erkannt hat, wenn er feststellt, Borchardt sei „der Zeitgenosse unserer Kulturtragödie“.27 Zudem will sein Prosahymnus eine utopische Beschwörung der Macht der Poesie

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Dorische Welt. Gottfried Benn in Berlin

sein, von der er an seinem lucchesischen Rückzugsort noch träumen mochte, die diese in den ideologischen Kämpfen der Weimarer Zeit jedoch längst verloren hatte. Dorische Welt. Gottfried Benn in Berlin Ein Jahr später, die Nationalsozialisten sind inzwischen an die Macht gekommen, werden die Bezugnahmen auf das Volk der Dorer und dessen soziale und politische Vorbildfunktion aktueller und präziser. Gottfried Benn schreibt 1933/34 eine Reihe von Essays, in denen er sich der herrschenden Macht anzudienen versucht. Er möchte der literarische Führer des neuen Deutschland werden – oder zumindest der Präsident der nationalsozialistisch ausgerichteten Preußischen Akademie für Dichtung. Ähnliches unternimmt bekanntlich gleichzeitig Martin Heidegger, als er sich mit seiner Freiburger Rektoratsrede als Philosophen-Führer an die Spitze der Bewegung zu setzen bemüht.28 In Benns schriftstellerische Versuche, sich mit der nationalsozialistischen Ideologie zu identifizieren, gehen seine drei zentralen Bildungserlebnisse ein: das protestantische Pfarrhaus, aus dem er stammt, das altsprachliche Gymnasium, das ihn zum Abitur geführt hat, und die neuzeitliche Naturwissenschaft, mit der er als Medizinstudent an der Berliner Charité in Berührung gekommen ist. All das schießt in Essays wie Züchtung und Dorische Welt zusammen. In ihnen geht der antike Mythos mit der modernen Naturwissenschaft und Technik eine mörderisch wirkende Synthese ein, während der unfreie Ernst, mit dem der Dichter die neue Weltanschauung vorträgt, den Einfluss der strengen Erziehung im märkischen Pfarrhaus nicht verleugnen kann. Wie schon in Wagners Mythenkonstruktionen werden in Benns Texten der Zeit programmatisch die ideologischen Quellen einer bestimmten neudeutschen Bildungs- und Funktionselite sichtbar. In den dreizehn Monaten von Mai 1933 bis Juni 1934, in denen Benn nicht weniger als zehn umfangreiche Aufsätze in Tageszeitungen, Zeitschriften und im Rundfunk platziert, formt der Dichter seine Sicht auf den ‚neuen Staat‘, mit der er die literarische Führerschaft der an die Macht gekommenen ‚Bewegung‘ übernehmen will. Seine fiebrige Produktion erzeugt jedoch zugleich einen der politischen Entwicklung vorauseilenden Überschuss, der über den aktuellen Bezug hinausgeht. In ihr wird das als soziales Projekt vorweggenommen, was der totalitäre Staat erst ab 1939 in die Wirklichkeit umsetzen wird. Der Dichter als Prophet? Nein, er ist nur den wissenschaftlichen und kulturellen Traditionen, die den Gräueltaten der Nazis zugrunde liegen, enger verbunden und weiß daher hellsichtig schon 1933/34, was der kommende Krieg bringen wird. Dass er das zunächst enthusiastisch feiert,



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ist sein individuelles, aus Feigheit und dem Wunsch, dazuzugehören, geborenes Versagen. So wird der Dichter, der das schon wenige Zeit später als Irrtum erkennt und selber zutiefst verabscheut, zeitweilig zu einem sich der herrschenden Macht andienenden Faschisten. Der Aktualität seiner Zeitdiagnosen tut das keinen Abbruch. Schon in seinem ersten politischen Pamphlet nach dem 30. Januar 1933, der Rede Der neue Staat und die Intellektuellen, die Benn am 24. April im Berliner Rundfunk verliest, sind alle Stichworte der neuen Zeit versammelt. Indem er sich dabei des von den Nationalsozialisten für ihre Propaganda bevorzugten neuen Mediums bedient, sorgt er dafür, dass sein Gesinnungswandel vom Vertreter einer radikalen ästhetischen Moderne zum völkischen Faschisten einer weiteren Öffentlichkeit bekannt wird. Der Autor, der sich selbst zuvor als Prototyp des Geistesmenschen verstanden hatte, wirft nun den Intellektuellen vor, der Mehrheit „nicht in ihrem großen Gefühl für Opferbereitschaft und Verlust des Ich an das Totale, den Staat, die Rasse, das Immanente, – nicht in ihrer Wendung vom ökonomischen zum mythischen Kollektiv“ (BE, 457) gefolgt zu sein. Er polemisiert gegen die liberale „Geistesfreiheit“ und behauptet, alle geschichtlichen Großtaten, wozu er paradoxerweise auch den „Sinai“ zählt, „als der Dekalog herniederbrach“, seien von „Sklavenstaaten“ vollbracht worden. (BE, 461) Wo er deren historisches Vorbild sieht, verrät sich in der als Anakoluth verächtlich hingeworfenen Bemerkung über die Masse der Bevölkerung, die er seinem Hymnus auf die herrschenden Eliten folgen lässt: „und dann die Heloten“. (BE, 462) Mit dieser Anspielung auf die rechtlosen Sklaven, auf deren Ausbeutung der ökonomische Reichtum und die kriegerische Überlegenheit Spartas beruhten, deutet er erstmals an, wo er das idealtypische Vorbild eines Machtstaates finden wird. Soziales Ressentiment spielt hier keine geringe Rolle. Benn, der zeitlebens unter seiner ländlichen Herkunft aus einem streng protestantischen und bitterarmen Pfarrhaus gelitten hat – „[i]n meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs“29 –, hatte 1932 mit der Aufnahme in die Preußische Akademie der Künste den Zenit seiner gesellschaftlichen Anerkennung erreicht. Als 1933 die berühmteren Kollegen, Thomas Mann etwa oder der von ihm besonders verehrte Heinrich Mann, aus der Akademie ausgeschlossen wurden, war für ihn die Stunde des Triumphes gekommen. Gegenüber diesen „Sechzigjährigen“ macht er sich zum Repräsentanten und Sprecher der in der Weimarer Republik zu kurz gekommenen Generation, „einer Jugend, die aus dem Dunkel kam wie kaum eine zuvor: das Land geschlagen, die Väter gefallen, der Besitz verpfändet, die Berufe überfüllt“. (BE, 463) Mit dieser Hinwendung zu einem „mythischen Kollektiv“ gibt er dem weit verbreiteten Ressentiment gegenüber der Weimarer Republik eine Stimme, wenn er abschließend die Jugend aufruft, sich von einer Demokratie abzu-

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wenden, „die den meisten nichts zu fressen gibt, um sie dann auch noch gedanklich im Stich zu lassen“. (BE, 463) Die junge Generation müsse sich gegen die abgelebten Ideale erheben und sich opfern, „wie das innere Gesetz es befahl“ (BE, 464). Mit diesem nur leicht variierten Zitat aus Schillers Elegie „Der Spaziergang“ spielt Benn auf einen der klassischen Topoi des Humanismus an, den er wenige Zeilen später beim Namen nennt: „Thermopylae“. Wie die jungen Spartaner, die am Pass der Thermopylen gegen eine Übermacht der Perser gekämpft hatten, soll die Jugend des neuen Staates in den Opfertod gehen. Wofür? Der letzte Satz des Textes weist die Richtung: „Halte dich nicht auf mit Widerlegungen und Worten, habe Mangel an Versöhnung, schließe die Tore, baue den Staat!“ (BE, 464) Gemeint ist der neue Staat der Nationalsozialisten. Das Thermopylen-Epigramm hat eine lange Tradition in der deutschen Kulturgeschichte. Schon Johann Gottfried Herder hatte die Grabschrift der gefallenen Spartaner um 1790 im Dreizehnten Buch seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als „Grundsatz der höchsten politischen Tugend“ (HW 6, 544) gepriesen. Fünf Jahre später hat Schiller sie in seiner Elegie „Der Spaziergang“ auf die dann kanonisch gewordene Formel gebracht: Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.30

In dieser Form war das Distichon im 19. Jahrhundert zu einem bei akademischen und staatlichen Feiern gern zitierten Schulbuchklassiker geworden.31 Die Spartaner, wie sie von Schiller beschworen werden, waren schon in der Antike ein Mythos.32 Herodot, der im Siebten Buch seiner Neun Bücher der Geschichte den heroischen Kampf der dreihundert Spartaner und ihrer griechischen Bundesgenossen gegen die Übermacht der Perser erzählt, wollte damit die individuelle Tapferkeit des griechischen Kämpfers gegenüber den asiatischen Massen herausstellen, kaum aber die Treue zum ‚Gesetz‘, von der die schillerschen Verse sprechen und damit ein nicht näher definiertes moralisches Gesetz meinen.33 Es ist die lateinische Übersetzung der Verse durch Cicero, in der die bei Schiller gegebene Version des gesetzestreuen Gehorsams zum ersten Mal auftritt: „Sage, Fremder, in Sparta, dass du uns hier liegen sahest, da wir den heiligen Gesetzen des Vaterlandes folgten.“34 Der in der schillerschen Version formulierte Aufruf musste so lange ohne Wirkung bleiben, wie er allein von der Erinnerung an die zur unverbindlichen Formel erstarrte Tradition des humanistischen Gymnasiums lebte. Als Benn im Juli 1933, drei Monate nach seiner ersten Anspielung auf das Thermopylen-Epigramm, in seiner Totenrede auf den Akademie-Präsidenten Max von Schillings noch einmal denselben Topos evoziert, bedient



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er sich einer Synthese aus dem lateinischen und dem schillerschen Wortlaut: „Wieder ist Marathon, wieder Thermopylä, wieder Gesetz, das das Vaterland befahl.“ (BE, 467) Völlig zusammenhanglos, ja geradezu absurd steht diese hoch gestimmte Beschwörung am Ende von Benns auf der offiziellen Totenfeier gehaltenem Nekrolog auf Schillings, dem, als einem eher epigonalen Komponisten, lediglich das Verdienst zukam, als überzeugter Nationalsozialist und Antisemit schon im April 1933 in die NSDAP eingetreten zu sein und die Preußische Akademie der Künste im Sinne der neuen Machthaber gleichgeschaltet zu haben. Benns pathetischer Aufruf gründet vor allem in dem Wissen, mit Schillings die Überzeugung zu teilen, dass sie beide „an der Pforte zu den neuen Reichen“ (BE, 467) stehen. Im Kontext von Benns begeisterter Hinwendung zu den neuen Machthabern ist es nicht verwunderlich, dass er schon einen Monat nach seinem öffentlichen Bekenntnis zum ‚neuen Staat‘ in seiner im Berliner Rundfunk gehaltenen Rede Antwort an die literarischen Emigranten, sogleich auch das zu höchsten staatlichen Ehren gekommene Fahnenwort ‚Volk‘ adoptiert. Auf Klaus Manns Frage, was ihn, dessen Name der jüngeren Generation „der Inbegriff des höchsten Niveaus und einer geradezu fanatischen Reinheit gewesen“ sei,35 dazu gebracht habe, mit den Nationalsozialisten gemeinsame Sache zu machen, flüchtet sich der vormalige Vorkämpfer eines ästhetischen Modernismus in die ‚Volksgemeinschaft‘ – „Volk ist viel“ (BP, 300) –, feiert in Hitler einen der „großen Männer“, in denen „jene magische Koinzidenz des Individuellen und Allgemeinen“ (BP, 301) Gestalt angenommen habe, und schwört allem ab, was er bisher angebetet hat: „Und da ich auf dem Land und bei den Herden groß wurde, weiß ich auch noch, was Heimat ist. Großstadt, Industrialismus, Intellektualismus, alle Schatten, die das Zeitalter über meine Gedanken warf, alle Mächte des Jahrhunderts, denen ich mich in meiner Produktion stellte, es gibt Augenblicke, wo dies ganze gequälte Leben versinkt, und nichts da ist als die Ebene, die weite, Jahreszeiten, Erde, einfache Worte –: Volk.“ (BP, 300 f.) Nicht nur verheddert sich hier der glänzende Stilist, der Benn als Prosaschriftsteller ist, im Satzbau, auch inhaltlich steigt der elitäre Intellektuelle auf das Niveau der ‚einfachen Worte‘ herab, mit denen er seine Rede der Nazipropaganda angleicht, in der die „Volksgemeinschaft“ zur zentralen Leitvokabel des sozialen Diskurses geworden war.36 In dem Buch Der neue Staat und die Intellektuellen, das Benn im Herbst 1933 publiziert, stellt er das politische Pamphlet dieses Titels zusammen mit der Antwort an die literarischen Emigranten an die Spitze des Sammelbandes. An dessen programmatisches Ende setzt er den Aufsatz Züchtung, den er im Juni desselben Jahres in der Berliner Börsenzeitung veröffentlicht hatte. Darin untermauert der in der Tradition der positivistischen Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts ausgebildete Arzt sein Elitebewusstsein

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mit sozialdarwinistischen Vorstellungen. So deutet er die Geschichte als biologisches Ausleseverfahren, in dem nur die Stärksten sich durchsetzen, die „Überrassen“, die „solaren Eliten“. Diese Vision sieht er im eben ausgerufenen ‚Dritten Reich‘ der Realisierung nahe, durch dessen Maßnahmen, so hofft er, „ein neuer Mensch in Europa hervorgehen wird, halb aus Mutation und halb aus Züchtung: der deutsche Mensch“. (BE, 238) Dabei werden die rassehygienischen Maßnahmen des ‚Dritten Reichs‘, die dieses erst gegen Ende der dreißiger Jahre langsam in die Praxis umsetzt, von Benn schon im Vorhinein gut geheißen, wobei er den völkischen Zynismus dadurch auf die Spitze treibt, dass er die Notwendigkeit der Rassengesetze an der Geschichte der künftigen Opfer exemplifiziert. Für Benn ist Moses „der größte völkische Terrorist aller Zeiten und großartigste Eugeniker aller Völker“, denn er habe als erster das Gesetz der Züchtung auf sein Volk angewandt, das da lautet: „quantitativ und qualitativ hochwertiger Nachwuchs, reine Rasse –; aus ihm seine brutalen Maßnahmen gegen sein Volk wie gegen die ihnen begegnenden fremden Stämme“. (BE, 240) Und Benn resümiert detailliert die im Alten Testament erlassenen Ehegesetze und die dort erzählten mörderischen Exzesse, die Moses und Esra angeblich vollzogen haben, um die Rassenreinheit ihres Volkes zu erhalten. Der uralte Mechanismus des Antisemitismus tritt hier mit nackter Brutalität zutage: Die angebliche Überlegenheit der Juden muss als Rechtfertigung dafür herhalten, dass man ihre Vernichtung ins Auge fasst. Diese perfide Verkehrung der Realität bei Benn, der in seiner expressionistischen Phase in einer intensiven Liebesbeziehung mit Else Lasker-Schüler liiert war und der ihr noch 1931 ein Buch mit der Widmung „dem großen lyrischen Genie in Freundschaft und Verehrung“ übersandt hatte,37 mag psychologisch verständlich erscheinen: Der ‚arische‘ Mann wäscht sich von seiner früheren ‚Rassenschande‘ rein, indem er die künftigen Opfer zu Urvätern der Rassenhygiene macht, während er zugleich die künftigen Täter zu Opfern stilisiert.38 „Körper zur Zucht“ Noch aber beherrscht Benn den Ton nicht vollkommen, der bei den neuen Machthabern angesagt ist. Noch bleibt er seiner alten Geistmetaphysik verhaftet, weshalb er den „Führer“ nicht als „Inbegriff der Macht […], sondern als höchstes geistiges Prinzip“ definiert und Deutschland als Synthese aus dem „substanziellen Nihilismus“ des Ostens und der westlichen „Sinngebung alles Inhaltlichen durch die Form“. (BE, 237 u. 239) Doch in einer Hinsicht erweist sich sein Denken als eindeutig faschistisch. Er versteht Züchtung als Methode, die Geschichte mit technisch-naturwissenschaftli-



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chen Mitteln unter Kontrolle zu bringen, wobei das Paradox entsteht, dass ein auf die Gesetze der Natur rekurrierendes Verfahren die Geschichte in die vom Geist gewünschte Richtung lenken soll. Diesen Widerspruch vermag er nur in einem surrealistischen Bild aufzulösen: „Gehirne muß man züchten, große Gehirne, die Deutschland verteidigen, Gehirne mit Eckzähnen, Gebiß aus Donnerkeil.“ (BE, 242) Die so entworfene Vision endet jedoch in einem Geschichtspessimismus, wie er spätestens seit Richard Wagner und Oswald Spengler den rassistischen Reinheitswahn begleitet und zum Allgemeingut abendländischer Denker wird: „Vergehen der Welten, Musik, der Nornenzug: dies ganz verschlossen, nordisch, darüber Schwerter. Noch einmal die weiße Rasse, ihr tiefster Traum, Entformung und Gestalt, noch einmal, im Norden: der Sieg der Griechen. Dann Asien, der neue Dschingiskhan. Das ist die Perspektive.“ (BE, 242) In rhythmisierter Prosa mit wagnerscher Musik und Mythologie, mit Selbstzitaten aus seiner gleichzeitigen Lyrik  – „dennoch die Schwerter halten | vor die Stunde der Welt“ (BG, 245)  – entwirft Benn hier ein heroisch-tragisches Untergangsszenario, in dem die Bedrohung durch die kommunistischen Horden aus dem Osten ebenso präsent ist wie die vorgängige Rettung des Abendlandes durch die „weiße Rasse“, die durch den „Sieg der Griechen“ in Deutschland möglich wird. Wiederum schwingt hier untergründig die Erinnerung an den Kampf der Spartaner bei den Thermopylen mit, den schon Herodot zum Opfertod der Griechen im Kampf mit den östlichen Barbaren stilisiert hatte. Benns Identifikation mit den neuen Machthabern erreicht ihren Höhepunkt in dem Essay mit dem unverfänglichen Titel Geist und Seele künftiger Geschlechter, der – nur einmal vom Autor selbst veröffentlicht – in dem als Sondernummer „Das Dritte Reich“ bezeichneten 38. Heft der Zeitschrift Die Woche im September 1933 erschienen ist.39 Das Heft mit seinem Hitlerporträt als Cover und Fotos der „Reichstatthalter“ und Gauleiter sowie Artikeln von nationalsozialistischen Schriftstellern – unter anderem schreibt Hanns Johst einen Beitrag mit dem Titel Der neue deutsche Mensch – ist zu Recht als „reines Staatsblatt, Nazi-Illustrierte“ charakterisiert worden.40 Benns Artikel gegenüber hat die Redaktion ein ganzseitiges Foto von trommelnden und die Hand zum Hitler-Gruß erhebenden Hitlerjungen vor einem Wald von Fahnen abgedruckt  – Benn als Sprecher der neuen Jugend –, und unter den Schlussabschnitt, in dem Benn einen „Zug heller nordischer Leiber“ imaginiert, hat sie ein Foto gestellt mit der Unterschrift: „Ein Aufmarsch des Bundes deutscher Mädel. Die Mütter des kommenden Geschlechts, gesund an Leib und Seele.“   In dieser Umgebung also Benns Manifest, das gleich mit einem Paukenschlag anhebt: „Der Begriff Züchtung, Züchtung eines Volkes […] geht nach zwei Richtungen, nach einer kritischen und nach einer produktiven. Die eine strebt nach Ausschaltung des unerwünschten, die andere nach Erhö-

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Abb. 18: „Jungbäuerinnen aus der Dr. Rudolph Bode-Schule auf Burg Neuhaus, die durch den Reichsbauernführer R. W. Darré gegründet wurde. Prachtvolle nordische Haltung und Körperbildung.“ Aus: Paul Schultze-Naumburg: Nordische Schönheit. Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst. Berlin 1943.

hung der Fruchtbarkeit des erwünschten Lebensmaterials.“ (BE, 253) Schon diese ersten Sätze deuten an, worauf der ganze Text hinausläuft. In ihm wird lange vor den Nürnberger Rassegesetzen und dem Beginn des Euthanasieprogramms und dem systematischen Genozid das Programm der na­tio­ nal­sozialistischen Rassenpolitik durchbuchstabiert. Nach einem kursorischen historischen Überblick über Griechenland, Rom, Italien, Frankreich und England findet Benn für die ‚weiße Rasse‘ nur noch in Deutschland „Möglichkeiten […], Gärungen, Bereitschaften, Biegsamkeiten, eine Art Züchtungslatenz“. (BE, 254) Mit naturwissenschaftlicher Scheinpräzision und untermauert von statistischem Material schlägt er zur „Reinigung des Volkskörpers“ Zwangssterilisierungen vor – „10 vom Hundert Sterilisierungen in jeder Generation“, andererseits zur „Rasseertüchtigung“ eugenische



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Abb. 19: „Die heilige Flamme lodert wieder in der Jugend. Ihrer ist der Glaube, sie sind bereit, das Schicksal des Volkes auf sich zu nehmen und zu erfüllen.“ In: Die Woche. Sondernummer „Das Dritte Reich“. 23. September 1933, 1095.

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Maßnahmen wie „Erbgesundheitsämter“, die nach einem Punktesystem Ehelizenzen zu vergeben und damit die Produktion des erwünschten Nachwuchses zu regulieren hätten. Abschließend wird dieses Programm „der deutschen Züchtung“ mit dem Motiv der Griechen als vorbildlichem Züchtervolk in Verbindung gebracht: „Die Griechen liebten und bildeten gewiß den Leib, aber sie bildeten auch die Dialektik, die Rhetorik, die Geschichtsschreibung, die Tragödien und die ersten Ansätze des Individualismus aus. Es wird also doch wohl in erster Linie intellektuelle und moralische Züchtung sein, die man bewerkstelligen muß, und bewerkstelligen heißt wohl auch nur: das Volk in Bewegung setzen […].“ (BE, 258) Das nordische Volk der Deutschen als Wiedergeburt der Griechen, das ist die neue Perspektive Benns, die er in den folgenden Monaten konkretisieren wird. Während er im Herbst 1933 die Wirklichkeit der „deutschen Züchtung“ noch in „einer neuen großartigen, geistig-körperlichen Form“ zu finden glaubt, (BE, 259) rückt er in seinem im Juni 1934 in der Europäischen Revue veröffentlichten Essay Dorische Welt Sparta in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit und propagiert auf Grund dieses Vorbilds allein noch die Züchtung des schönen Körpers als Ziel der Menschheitsgeschichte. So wird Sparta für ihn endgültig zur „Keimzelle des griechischen Geistes“ (BE, 301), verkörpert sich in dem Staat der Dorer „stärkster aristokratischer Rassenglaube“. (BE, 293) Benn hat seinen Essay nahezu vollständig aus Zitaten von Herodots Historien, Jakob Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte, Hippolyte Taines Philosophie der Kunst und Texten anderer Autoren montiert.41 Wo es jedoch gilt, die ideologischen Schlussfolgerungen im Geist der Zeit zu ziehen, da spricht er selber. „Die Dorer lieben das Gebirge […]“ – hier denkt er offensichtlich an Maurice Barrès’ Voyage de Sparte – „[s]ie sind die Träger des hohen Altertums, der alten Sprache […]“ – hier ist Rudolf Borchardts Pindar-Hymnus zu vernehmen. Aber im nächsten Satz ist nur noch das zu hören, was man als Gottfried Benns Pathosformel bezeichnen könnte: „Ihr Traum ist Züchtung und ewige Jugend, Göttergleichheit, großer Wille, stärkster aristokratischer Rassenglaube […].“ (BE, 293) In diesem Satz spricht er seinen ureigensten, von Nietzsche inspirierten Traum aus, mit dem er sich im Einvernehmen mit der an die Macht gekommenen nationalsozialistischen Bewegung wähnt. Für den Arzt Benn spielt dabei die körperliche Ertüchtigung eine vorrangige Rolle.42 „Körper zur Zucht […]. Man ging wie in Gestüten vor, man vernichtete die schlechtgelungene Frucht.“ Hier spricht die gesamte Tradition der Dorer-Verherrlichung von Plutarch über Winckelmann bis Barrès mit, und wieder folgt rhetorisch hoch aufgeladen die bennsche Pathosformel: „Der Körper zum Krieg, der Körper zum Fest, der Körper zum Laster und der Körper endlich dann zur Kunst, das war die dorische Saat und die hellenische Geschichte.“ (BE, 296) Unheimlich diese Faszination, die von



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dem durch keine historischen Belege beglaubigten Mythos von der Vernichtung des ‚lebensunwerten Lebens‘ bei den Spartanern auf die neuzeitlichen Intellektuellen ausgeht, und verräterischer noch für deren Lust am Töten der Schwachen und Hilflosen. Sein auf dieser Grundlage geformter Hymnus auf den dorischen Körper, der im Erstdruck noch fehlt und erst in der Buchveröffentlichung eingefügt wird, ist der Kern des faschistischen Macht-ZuchtKunst-Syndroms: „Die Dorer arbeiten am Stein, er bleibt unbemalt. Ihre Figuren sind nackt. Dorisch, das ist die Haut, aber die bewegte, die über Muskeln, männliches Fleisch, der Körper. […] das Ganze kriegerisch, doch sehr erwählt.“ (BE, 295) Benn tut alles, um die Gleichzeitigkeit der staatlichen Züchtungs­ politik mit der Herausbildung der plastischen Künste und der staatlichen Ordnung in Sparta zu betonen: „Die Statuenkunst entfaltet sich in dem gleichen Augenblick wie die öffentlichen Einrichtungen, durch welche der vollkommene Körper gestaltet wird, diese entstehen in Sparta.“ (BE, 298) Und weiter: „Die Statuenkunst, erst am Holz, dann an Erz, Elfenbein und Marmor, begleitet langsam, schrittweise und aus der Entfernung die Züchtung des schönen Körpers, das ist die Entwicklung der dorisch-hellenischen Welt.“ (BE, 301) Mythisch die ‚historische‘ Reihe, die Benn als ‚dorische‘ konstruiert: der spartanische Staat als Antrieb der Züchtung, durch die der vollkommene Körper hervorgebracht wird, nach dessen Vorbild schließlich der Künstler die Statuen bildet. Im utopischen Entwurf des Schriftstellers aber und in der Praxis des nationalsozialistischen Staates wird diese Reihung umgekehrt: Die antiken Statuen dienen als Vorbild für den schönen Körper, der als Ausweis der reinen ‚nordischen Rasse‘ zum Ziel der staatlichen Züchtung wird. Ganz offen bekennt der Dichter, dass das, was er mit einem verräterischen Kompositum „Staatskunst“ nennt, nur „auf den Knochen der Sklaven“43 möglich war und dass es zur Erziehung der jungen Spartaner gehörte, von Zeit zu Zeit Heloten ohne Anlass zu überfallen und zu töten. „Durch diese Arbeitsteilung entstand der Raum für Waffengänge und die Spiele, für die Schlachten und die Statuen, der griechische Raum.“ (BE, 289)44 Benns Essays sind ein Lehrstück über die Verführbarkeit des Literaten. Im selben historischen Augenblick, in dem mit Hitler ein zu allem entschlossener Politiker die politische Macht erobert, der in Mein Kampf und in seinen Reden keinen Hehl aus seinen rabiaten antisemitischen und eugenischen Plänen gemacht hatte, entwirft der Dichter seinen Mythos von der ‚deutschen Züchtung‘. Wie bei Winckelmann, wie bei Goethe und Schiller sind es die Statuen, an denen Benn das Idealbild des Menschen glaubt vor Augen führen zu können. Eine bestimmte Form der sogenannten humanistischen Bildung, die kritiklos und unreflektiert das Menschenbild der griechischen Frühzeit tradiert, hat so dazu beigetragen, dass viele durch diese

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Eine nordische Herrenrasse. Die Dorer

Schule gegangene Intellektuelle sich umstandslos der mörderischen Ideologie der Nationalsozialisten anzuschließen vermochten. Nach dem Überschwang seiner radikalen politischen Texte erkennt Benn bald, dass die politische Realität seinem Wunschbild nicht entspricht. Die blutige Farce des sogenannten Röhm-Putsches mit seinen staatlich sank­tionierten Morden an SA-Führern, Mitläufern und Regimegegnern führt ihm vor Augen, worauf er sich eingelassen hat. Im Juli 1934 schreibt er an F. W. Oelze – im selben Brief, in dem er sich paradoxerweise für dessen „wunderbares Verstehn“ seines einen Monat zuvor erschienenen Essays Dorische Welt bedankt: „Es giebt keine Worte mehr für diese Tragödie. Ein deutscher Traum  – wieder einmal zu Ende“.45 In dieser Gleichzeitigkeit von Benns Idealisierung des „Kunststaats“, der der Bremer Kaufmann und Großbürger Oelze offensichtlich beipflichtet, und den in den letzten Juniund ersten Julitagen von Hitler persönlich befohlenen und später staatlich sanktionierten Morden46 wird schlagartig die Selbsttäuschung des Intellektuellen sichtbar, die ihn, als er sich seiner Irrtümer bewusst wird, zur Verzweiflung und an den Rand des Selbstmords treibt. In dem 1936 entstandenen Prosastück Weinhaus Wolf, das seine Bekenntnisse zum Führerstaat, zur Züchtung und zur dorischen Welt ausdrücklich widerruft,47 sagt er mit Bezug auf Nietzsche: Das „war dann der Zusammenbruch, dass er von der Brücke in jener braunen Nacht in den Abgrund sah, den Abgrund sah, spät,– für seinen Organismus und sein Prophetentum zu spät“ (BP, 145). Die „braune Nacht“, das ist auch die Nacht, in der Benn selber von der Ermordung der Braunhemden erfuhr und in den Abgrund der eigenen Existenz sah. Eine nordische Herrenrasse. Die Dorer Die deutsche Altertumswissenschaft aber setzte den Mythos von der ‚dorischen Welt‘ ungebrochen fort, untermauerte ihn gar mit der scheinbaren Autorität ihrer Wissenschaftlichkeit. Der Münchener Archäologe Ernst Buschor identifizierte in seiner in der Nachkriegszeit zur kanonischen Schrift gewordenen Darstellung Die Plastik der Griechen von 1936, die also im selben Jahr erschienen ist, in dem in den Berliner Olympischen Spielen der schöne menschliche Körper gefeiert wurde, erneut die ‚Dorische Wanderung‘ als den Ursprung der klassischen griechischen Kunst. Schon das von dem Gelehrten gebrauchte Vokabular ist deutlich: Die Griechen als ein „von Norden eingewandertes Volk“ und „als Träger der neuen Bewegung“ zu charakterisieren,48 musste jedem zeitgenössischen Leser die Parallele zur nationalsozialistischen ‚Bewegung‘ nahelegen. Zudem gesteht Buschor selber ein, dass seine Behauptung, die Dorer hätten den „Grund zur neuen



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plastischen Ära gelegt“, keineswegs durch archäologische Funde belegt sei,49 weshalb er den Ursprung der griechischen Plastik in einem abstrakten Begriff von Volk zu identifizieren sucht, der lediglich von den Erinnerungen an die humanistische Tradition und der Begeisterung für den aktuellen völkischen Aufbruch getragen wird: Dieser Ursprung liege „nicht in unmittelbarer Formung von Figuren, sondern in tieferen Untergründen: ein jugendfrisches Volk schuf neue Körper in Gymnastik und Kulttanz, schaute neue Götter und Helden von wunderbarer nah-ferner Klarheit, erlebte ein bis dahin unerhörtes freies Menschsein in Staat- und Einzelleben.“50 Hier findet sich die von Winckelmann übernommene und in die Aktualität der Olympischen Spiele von 1936 übertragene Anschauung, die Gymnastik habe zur Ausbildung schöner Körper beigetragen, während der Spruch über die „Götter und Helden von wunderbarer nah-ferner Klarheit“ die konventionelle Ansicht der homerischen Welt reproduziert, die sonst immer als Gegensatz zum Dorertum gesehen wird. Ganz und gar unverständlich ist es, dass Buschor in der streng hierarchischen, auf Befehl und Gehorsam basierenden Gesellschaftsordnung des spartanischen Kriegerstaats eine „unerhörte“ Freiheit zu finden glaubt. Wenn schon eine ideologisch eher weniger belastete Wissenschaft wie die Archäologie ihren Gegenstandsbereich von Spuren nationalsozialistischen Gedankenguts nicht freihalten kann, so gilt das umso mehr von der Geschichtswissenschaft. 1937 hat der Althistoriker Helmut Berve, seit 1933 NSDAP-Mitglied und von 1940 bis 1943 Rektor der Leipziger Universität,51 mit seinem kurz und bündig Sparta betitelten Buch, das in der populären wissenschaftlichen Reihe „Meyers kleine Handbücher“ erschien, die gleichsam offizielle Ausformung des dorischen Mythos vorgelegt.52 Schon in seinem „Vorwort“ weist der Autor unmissverständlich auf die Parallelen zwischen Sparta und dem NS-Staat hin: „Wenige Erscheinungen der antiken Welt begegnen heute so allgemeinem und lebendigem Interesse wie der spartanische Staat. Jugenderziehung, Gemeinschaftsgeist, soldatische Lebensform, Einordnung und heldische Bewährung des einzelnen, Aufgaben und Werte also, die uns selbst neu erstanden sind, scheinen hier mit einer Klarheit gestaltet, mit einer Unbedingtheit verwirklicht, die geradezu dazu aufruft, sich in diese einzigartige Staatsschöpfung zu vertiefen.“53 In seiner Darstellung führt Berve alle Motive der ‚dorischen Welt‘ in einer bisher nicht gekannten Dichte zusammen mit ihrem Aktualitätsbezug auf. Wieder erneuert er den antiken Mythos von der Aussetzung der „unbrauchbaren“ Kinder im Taygetos-Gebirge und begründet den Versuch, die Frauen durch Sport „körperlich zu ertüchtigen“, damit, dass „sie dereinst als Mütter gesunde Kinder gebären“ sollen. Auf Grund dieser Hinweise glaubt er versichern zu können, dass in Sparta „natürliche Zuchtwahl […] zu gesetzlicher Ordnung erhoben“ worden sei.54 Die Erinnerung an das von Adolf Hitler

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im September 1935 auf dem Nürnberger „Reichsparteitag der Freiheit“ verkündete „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ hat hier ganz offensichtlich dem nationalsozialistischen Historiker die Feder geführt. Auch sei in Sparta, so Berve weiter, durch diese Maßnahmen der „Typus des Herrenmenschen“ geschaffen worden,55 der die Masse der Sklaven als Heloten „in völliger persönlicher Rechtlosigkeit“ gehalten habe, „die sie jeder Gewalttat preisgab“.56 Die Ausrichtung der Jugend auf kriegerische Ertüchtigung wie die Ausrichtung des Gesamtstaats auf die „militärische Kernstellung“57 habe nur dem einen Ziel der Eroberung neuen Lebensraums gedient.58 Wenn Berve schließlich auch das alte Motiv vom Tod der dreihundert Spartaner in der Schlacht bei den Thermopylen wieder aufnimmt und „ihr Heldentum“ darin sieht, „daß sie fern von der Heimat, an einer Stelle, wohin der Befehl sie gestellt hatte, aushielten aus keinem anderen Grunde, als weil es so Befehl war“, gibt er ihm eine Wendung, die den Kadavergehorsam der deutschen Militärs in der Schlacht um Stalingrad vorwegnimmt. Sieben Jahre später, als Sparta 1944 in zweiter Auflage erscheint, ist seine mythische Vorausdeutung in den Schneefeldern der Sowjetunion schon historische Realität geworden. 1948 in einem Entnazifizierungsverfahren als ‚Mitläufer‘ eingestuft, wurde Berve schon 1949 wieder in die „Bayerische Akademie der Wissenschaften“ aufgenommen und nahm im selben Jahr seine akademische Lehrtätigkeit wieder auf. Schöne Körper II. ,Volk‘ und ‚Rasse‘ als ästhetische Phänomene Ein unvoreingenommener Leser, der heute die Texte liest, mit denen die Nationalsozialisten ihre Rassen- und Mordpolitik begründet haben, kann über deren geistige und emotionale Unbedarftheit und ihre intellektuelle Unzulänglichkeit nur staunen. Das antisemitische Wüten, das in ihnen sich manifestiert, muss als negative Fixierung auf einen ursprünglichen Begriff von Volk und Volkstum verstanden werden, der zum ideologischen Kernpunkt des neuen Staates geworden war. So auch seine quasi religiöse Aufladung in den Reden Hitlers und der vom nationalsozialistischen Staat veranlassten Rassengesetzgebung, in deren Präambel der Gesetzgeber erklärt, er sei „durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist“.59 Eine Mythisierung des öffentlichen Diskurses, die allerdings nicht erst im 20. Jahrhundert einsetzt, wie die Hoffnungen beweisen, die schon Fichte und Wagner im 19. Jahrhundert an die Deutschen als „Urvolk“ knüpfen. Auch wenn diese Worte und Motive im ideologischen Diskurs der Na­tio­ na­lsozialisten angesichts der bis dahin unausdenkbaren historischen Ver-



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brechen, die sie in Szene setzen, wenig Gewicht zu haben scheinen, liefern sie dennoch deren politische Rechtfertigung für weite Kreise der deutschen Öffentlichkeit, wie ihre Aufnahme in die offizielle Rassengesetzgebung des Deutschen Reiches belegt. Vor allem Hitler selber bedient sich wie die Künstler, Dichter und Denker vor ihm dieses ideologischen Konglomerats aus falsch verstandenen ästhetischen und naturwissenschaftlichen Hypothesen, um als Ideengeber und Sprachrohr seines Volkes dessen politische Geschicke zu bestimmen. Die Schönheit des Körpers und die Reinheit des Blutes sind die ideologischen Kategorien, mit denen die Überlegenheit des deutschen Volkes im Nationalsozialismus begründet wird. Die ‚Reinheit des Blutes‘, die mit den damaligen wissenschaftlichen Mitteln nicht nachweisbar ist und daher reine Phantasmagorie bleiben muss, kann allein durch die ‚Schönheit des Körpers‘ beglaubigt werden. So ist es nicht von ungefähr, dass die bildende Kunst im ideologischen Diskurs Hitlers und des Nationalsozialismus eine zentrale Rolle spielt. Nur in ihr ist das erwünschte Menschenbild, das im Übrigen auf unhaltbaren und unbeweisbaren Hypothesen beruht, zur Evidenz zu bringen. Für den Kanon dessen, was als schön zu gelten hat, beruft sich die nationalsozialistische Ideologie in konventioneller, am deutschen Idealismus orientierter Manier auf die griechischen Statuen der klassischen Zeit. Die vergröbernd griechischen Vorbildern nacheifernden männlichen Aktplastiken eines Josef Thorak oder Arno Breker oder Gemälde wie „Das Urteil des Paris“ von Adolf Ziegler stellen das zur Genüge unter Beweis. Aber auch der in Gottfried Benns Lyrik dieser Zeit vorherrschende Männlichkeitswahn, seine Apotheose des „männlichen Fleischs“, das „über ganz Hellas die dorische Saat: schöne Körper“ aufwachsen läßt,60 bedienen dieses ideologische Wahngebilde. Ähnlich auch die ins Gigantische aufgeblasenen antiken Säulenordnungen der speerschen Architektur. Sie alle fügen sich in die Vorgaben einer ästhetisierenden Rassenideologie ein, der Hitler in Mein Kampf die Richtung vorgegeben hatte: „Auch dies ist im Interesse der Nation, daß sich die schönsten Körper finden und so mithelfen, dem Volkstum neue Schönheit zu schenken.“61 Im Namen der Schönheit wird der Genozid an den vom deutschen Volkstum Ausgeschlossenen, den „krummbeinigen, widerwärtigen Judenbankerten“,62 zugleich begründet und verschleiert. Vor allem aber werden die neuen Medien, insbesondere der Film, von dem sich der Propagandaminister Josef Goebbels die größten Wirkungen verspricht, in den Dienst dieser Ideologie gestellt. Die Berliner Olympischen Spiele von 1936 führt sie aller Welt buchstäblich vor Augen. Nach dem Willen der nationalsozialistischen Führungsriege und der damaligen Sportfunktionäre wird sie zum Fest der schönen Körper stilisiert und als solches in Leni Riefenstahls Olympia-Film verewigt. 1935 hatte die Regisseurin den

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Abb. 20: Der Diskobolos des Myron. Römische Marmorkopie der Kaiserzeit eines griechischen Bronzeoriginals aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Museo Nazionale Romano, Palazzo Massimo alle Terme.

Abb. 21: Der Diskuswerfer in der ­Eröffnungssequenz von Leni Riefenstahls Film „Olympia“ (1936).

Nürnberger Parteitag der NSDAP in ihrem zweistündigen Film Triumph des Willens dargestellt. In ihm wird die Aura des Führers in einer bis dahin nicht gekannten Perfektion inszeniert. Hitler landet in seiner Maschine zu den Klängen von Wagners Ouvertüre der Meistersinger auf dem Flugfeld in Nürnberg, fährt unter dem begeisterten Zuspruch der Menschen im offenen Mercedes durch die Straßen und bewährt sich schließlich als Redner, dem die zum Ornament geordneten Menschenmassen zujubeln. So erscheint er als Bändiger des politischen Chaos und als messianischer Retter Deutschlands.63 Nach dieser Bewährungsprobe bekommt Riefenstahl vom ‚Führer‘ persönlich den Auftrag, den Film über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin zu drehen. Auf seine Anordnung hin wird ihr „die alleinige künstlerische und organisatorische Kompetenz für den Olympiafilm zugesprochen“.64



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Abb. 22: Hitler mit dem Diskobolos Lancelotti in der Glyptothek München, 9. Juli 1938.

Sie setzt in ihrem Werk die Verbindung zwischen dem antiken Griechenland und der Schönheit der Körper der olympischen Athleten von 1936 mit modernsten filmischen Mitteln in Szene. Im Vorspann des Films zeigt sie zunächst den Diskobolos des Myron, um dann auf den Körper eines in gleicher Stellung verharrenden modernen Athleten überzublenden.65 Die damit suggerierte Identität des schönen männlichen Körpers der Gegenwart mit der klassischen Statue bedient auf das genaueste die ästhetisierende Rassenideologie der Zeit und stellt die gesamte darauf folgende ästhetisch anspruchsvolle Berichterstattung über die sportlichen Wettkämpfe im Berliner Olympiastadion unter deren Ägide.66 Zwei Jahre später erhält dieses Arrangement dadurch seine höchsten Weihen, dass Hitler nach seinem Besuch in Rom im Mai 1938 mit der ausdrücklichen Billigung Mussolinis die römische Marmorkopie des Diskobolos ankaufen und in der Münchener Glyptothek ausstellen lässt. Anlässlich des Tags der Deutschen Kunst zeigt „der Führer“ im Juli 1938, wie es in der Bildunterschrift des Illustrierten Beobachters vom 14. 7. 1938 heißt, „seiner Begleitung voll Stolz und Freude die kostbare Neuerwerbung“. Zu seiner Begleitung gehörte damals ausweislich des Fotos neben anderen der „Reichsführer SS Himmler“, dem später die Durchführung des Massenmords an den Juden übertragen wurde.67 Nur ein Jahr später wird Leni Riefenstahl mit der mörderischen Realität konfrontiert, die der faschistische Schönheitskult nach sich gezogen hat. Beim Anblick des Massakers, bei dem am 12. September 1939 im pol-

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Abb. 23: Leni Riefenstahl in Konskie. Anonym. Bildbeschriftung: „Leni Riefenstahl fällt beim Anblick der toten Juden in Ohnmacht.“

nischen Ort Konskie zweiundzwanzig Zivilisten, vor allem Juden, durch deutsche Soldaten getötet wurden – Adolf Hitler hielt sich zur gleichen Zeit zum Truppenbesuch in dem Ort auf –, erstarrt ihr Gesicht zur Maske der Medusa. Die Riefenstahl, mit der mörderischen Realität des Regimes konfrontiert, fällt – so notiert der anonyme Fotograf der Szene später auf der Bildrückseite – in Ohnmacht.68 Noch vor der systematischen Ermordung der europäischen Juden hat sie in den Abgrund geblickt, der zwischen ihrer Verehrung der ‚schönen Körper‘ und der Ermordung der von den Nazis als ‚lebensunwert‘ erachteten Menschen klafft. Bild geworden, erscheint in diesem Foto das Antlitz des Schreckens, zu dem im ‚Dritten Reich‘ der Schönheitskult der deutschen Klassik erstarrt ist. Hitlers Satz von den „schönsten Körpern“, die „dem Volkstum neue Schönheit“ schenken sollten, figuriert als Motto für ein Buch, in dem die nationalsozialistische Rassenideologie endgültig mit dem aus der Antike abgeleiteten Schönheitskult verschmolzen erscheint. Paul Schultze-Naumburg, ein ehemaliger Lebensreformer, Mitbegründer des „Werkbundes“ und konservativer Architekt, der 1917 das Schloss Cäcilienhof in Potsdam für den preußischen Kronprinzen erbaut hatte, war nach dem Ersten Weltkrieg, politisch radikalisiert, zum Mittelpunkt des sogenannten „Saalecker Kreises“ geworden, in dem zahlreiche prominente Nationalsozialisten, unter anderen der spätere Reichsinnenminister Wilhelm Frick und der Reichsbauernführer Walter Darré, verkehrten. Schon 1928 hatte er mit seinem Buch Kunst und Rasse, in dem er expressionistische Kunstwerke mit Fotografien von Behinderten und Geisteskranken konfrontierte, die konzeptionelle Grundlage für die Münchener Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937 geliefert.69 Dem



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Abb. 24: „Aphrodite anadyomene, genannt nach dem Fundort Kyrene.“ Marmor, römische Kopie eines hellenistischen Originals. Aus: Paul Schultze-Naumburg: Nordische Schönheit. Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst. Berlin 1943.

stellte er im gleichen Jahr – inzwischen war er in die NSDAP eingetreten und Mitglied der Preußischen Akademie der Künste geworden, von 1932 bis 1945 saß er für die Nationalsozialisten im Reichstag – in einem zweiten Buch mit dem Titel Nordische Schönheit. Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst seine Auffassung von der „Gesetzmäßigkeit der Gestalt nordischer Schönheit“ an die Seite.70 Schon auf den ersten Seiten seines Werks lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass die von ihm vertretene, auf dem Schönheitsideal der Griechen beruhende ästhetisierende Rassenideologie

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Abb. 25: „Edelgeformter Mädchenkörper, der in allem dem nordischen Schönheitskanon entspricht.“ Aus: Paul Schultze-Naumburg: Nordische Schönheit. Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst. Berlin 1943.

Abb: 26: „Derselbe Mädchenkörper in der Stellung der Aphrodite von Kyrene, der er in erreichbaren Grenzen nahekommt.“ Aus: Paul Schultze-Naumburg: ­Nordische Schönheit. Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst. Berlin 1943.

nur mit einer rigorosen, auf den Massenmord an unschuldigen Menschen hin zielenden Züchtungspolitik zu erreichen sei: „Die Griechen besaßen schöne Leiber, weil sie ein aus ihrer Rasse hervorgegangenes Schönheitswunschbild besaßen, dem sie nachstrebten. […] Die leibliche Schönheit muß allein als Ergebnis einer Siebung und Auslese begriffen werden. […] Je freier sich die Zuchtwahl auswirken kann, um so mehr muß eine Auslese der Wohlgearteten und eine Ausmerze der Übelgearteten bei der Fortpflanzung vor sich gehen.“71



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Die dieser Auslese zugrundeliegende Ästhetik will Schultze-Naumburg mit zahlreichen Abbildungen zur Evidenz bringen, wobei er sich derselben Methode bedient, die ein Jahr zuvor schon Leni Riefenstahl in ihrem Olympiafilm angewandt hatte. In mehreren Aktfotos führt er „in Leibesübung geschulte Körper nordischer Art“ vor, die als Speerwerfer oder Bogenschützen Sportarten nachstellen, die schon in der Antike bekannt waren.72 Besonders auffällig ist diese Parallelisierung eines lebenden Menschen mit der antiken Plastik in der Abbildung eines „edelgeformten Mädchenkörpers, der in allem dem nordischen Schönheitskanon entspricht“. Er wird auf mehreren Seiten in einer Haltung und in Stellungen gezeigt, wie sie denen der Aphrodite von Kyrene, die unter den Beispielen klassischer Kunst abgebildet ist, „in erreichbaren Grenzen nahekommt“.73 Dabei geht der Verfasser, der das Buch „seinem Freunde Hans F. K Günther“, dem bekanntesten Vertreter einer ‚wissenschaftlichen‘ Rassenlehre im ‚Dritten Reich‘,74 gewidmet hat, von der Voraussetzung aus, dass die Griechen ein nordisches Volk seien, das in den Mittelmeerraum eingewandert sei. Als Beleg für seine Hypothese führt er an, „aus den Dichtungen Homers“ sei zu erkennen, dass in dessen „Fürstensitzen das Vorbild nordischer Edelhöfe wieder zu erkennen“ sei.75 Mit dieser Germanisierung der Griechen glaubt er den kanonischen Vorbildcharakter ihrer Kunst begründen zu können, von dem alles spätere, insbesondere die Kunst des 20. Jahrhunderts nur noch Abstieg sei. „Höchste Schönheit und Einklang finden wir […] in den Plastiken der griechischen Blütezeit. [Sie] zeigen die nordische Haltung und das Ebenmaß nordischen Wuchses in der besonderen griechischen Prägung in höchster Vollendung.“76 Hingegen sei der Niedergang der Kunst in der Moderne ein alarmierendes Zeichen für die Gefährdung des deutschen Volkstums durch niedere Rassen: „Diese Verdrängung der nordischen Grundhaltung ist ein äußerst bedenkliches Anzeichen, da es mit dem Schwinden des nordischen Blutes auch die Schöpferkraft, Leistungsfähigkeit und die Gesittungslinie des deutschen Volkes gefährdet.“77 Völkermord Was in derlei Schriften sich als Rassenkunde am Leitfaden einer an den Griechen orientierten Ästhetik gibt, wurde spätestens seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zur ideologischen Rechtfertigung des systematischen Völkermords. Auf der Wannseekonferenz vom Januar 1942 wurde die totale, fabrikmäßig betriebene Vernichtung der europäischen Juden endgültig beschlossen und in der Mordpraxis der SS und der Einsatzgruppen umgesetzt. Weniger als zwei Jahre später, am 4. Oktober 1943, konnte Heinrich Himmler, der als Reichsführer SS und Reichsinnenminister für die ‚Endlö-

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Völkermord

Abb. 27: [Alberto Israel Errera, Mitglied des Sonderkommandos von Auschwitz]: Einäscherung Vergaster in den Verbrennungsgräben unter freiem Himmel vor der Gaskammer des Krematoriums V in Auschwitz. August 1944. Oswiecim, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau.78

sung‘ zuständig war, voller Stolz die Erfüllung des Auftrags verkünden. In seiner berüchtigten Rede vor SS-Generälen in Posen sprach er offen über den Genozid, wobei er die Rettung des deutschen Volkes vor der drohenden Ausrottung durch die Juden unter Bezug auf den völkischen Mythos von der Reinheit des Blutes zur historischen und moralischen Rechtfertigung des Völkermords stilisierte: „Unsere Sorge, unsere Pflicht, ist unser Volk und unser Blut. […] Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet‘, sagt ein jeder Parteigenosse‚ ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‘ […] Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat



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es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. […] Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. […] Insgesamt aber können wir sagen, dass wir diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk erfüllt haben.“79 Als diese letzte Perversion der Ideologie vom deutschen Volk und seiner Konkurrenz zum Volk der Juden formuliert wurde, waren die Gaskammern und Verbrennungsöfen in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern schon seit langem in Betrieb und funktionierten ungeachtet aller Rückschläge im Krieg weiter bis an dessen Ende. Schließlich rühmte sich Hitler noch im April 1945 in seinem politischen Testament des Genozids als der Großtat, mit der er das deutsche Volk gerettet habe: „Das mit Füßen getretene deutsche Volk sollte sich in seiner nationalen Ohnmacht stets bemühen, die Gesetze der Rassenlehre hochzuhalten, die wir ihm gaben. In einer moralisch mehr und mehr durch das jüdische Gift verseuchten Welt muß ein gegen dieses Gift immunes Volk schließlich und endlich die Oberhand gewinnen. So gesehen wird man dem Nationalsozialismus ewig dafür dankbar sein, daß ich die Juden aus Deutschland und Mitteleuropa ausgerottet habe.“80 So war aus dem Antijudaismus der Weimarer Klassik, der im Zusammenhang mit der Theorie der ‚ästhetischen Erziehung‘ entstanden ist, über den Rassen-Antisemitismus und die völkische Mythologie des 19. Jahrhunderts schließlich die ideologisch begründete und mit bürokratischer Präzision ausgeführte mörderische Praxis des Nationalsozialismus geworden.

7.  Moses und Ödipus Sigmund Freud in London Fremdes Volkstum 1938 ist das Jahr, in dem mit den Pogromen des 9. November die antisemitischen Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates zum ersten Mal der Gesamtheit des deutschen Volkes vor Augen geführt werden. Im selben Jahr flieht Sigmund Freud nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs Anfang Juni aus seiner Heimatstadt Wien ins Londoner Exil und veröffentlicht von dort aus sein letztes Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion, an dem er seit 1934 gearbeitet hatte. Das Werk erscheint wenige Wochen vor dem Tod des Autors im Jahr 1939 im Exilverlag Allert de Lange in Amsterdam. Freud eröffnet es mit dem Satz: „Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volk angehört.“ (FMM, 459) Die syntaktisch ungewöhnliche Konstruktion dieses Satzes – er beginnt mit dem Dativobjekt „Volkstum“ –, kann als Verweis auf die Frage gelesen werden, die Freud im letzten von ihm selbst publizierten Text in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Die zweifache Anspielung auf das Volk der Juden gleich zu Beginn seiner Epoche machenden Untersuchung sowie seine öffentliche Identifikation mit diesem Volk lässt erahnen, dass er um die zentrale Rolle weiß, die der Begriff ‚Volk‘ in der ideologischen Auseinandersetzung der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts spielt. Dass das ‚Volk‘, von dem hier die Rede ist, zunächst anonym bleibt, wird man nicht einem Akt der Selbstzensur zuzuschreiben haben, sondern der Tatsache, dass es Freud bewusst ist, dass die Juden das ‚Volk‘ par excellence sind, das ‚auserwählte Volk‘, an dessen Anschauung sich der neuzeitliche Begriff des Volks erstmals gebildet hat und das deshalb nicht eigens beim Namen genannt zu werden braucht. Wenn er dabei den von den Nationalsozialisten okkupierten und als Grundlage ihrer mörderischen Politik missbrauchten Begriff ‚Volkstum‘ wie selbstverständlich an die Spitze seines Einleitungssatzes stellt, macht er deutlich, dass es ihm darum geht, die von der deutschen Tradition und ihren nationalsozialistischen Erben vollzogene Usurpation des Wortes rückgängig zu machen und damit zugleich sein eigenes Volk in seine ursprüngliche Würde wieder einzusetzen.

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Fremdes Volkstum

In diesem Kontext stellt er sich die Frage: Jude sein, was ist das? Wodurch lässt sich das ‚Volkstum‘ der Juden bestimmen, zu dem ich, der Autor, mich zugehörig fühle, wenn ich die Juden nicht mehr als das ‚heilige Volk‘ Gottes anerkennen und wenn ich sie auch nicht als Bluts- oder Rassegemeinschaft definieren kann? Diese für Freud 1934, zum Zeitpunkt der Niederschrift der ersten beiden Teile der Abhandlung, höchst aktuelle Fragestellung verbirgt sich hinter der im Titel der Abhandlung angedeuteten historischen Problematik, die in dem Wort vom „Mann Moses“ ihren Ausdruck gefunden hat. Wenn Moses ein Ägypter, also ein nichtjüdischer „Mann“ war, ist dann nicht das Identitätsprinzip des Judentums, als das allgemein der von ihm gestiftete Monotheismus angesehen wird, in Frage gestellt? Damit ist das Spannungsverhältnis von Eigenem und Fremdem, das auch die auf ihre Eigenart stolze jüdische Kultur bestimmt, von Anfang an in deren Ursprung hineingetragen. Dass diese Infragestellung der eigenen Identität ihren Anlass aus den historischen Ereignissen der Zeit bezieht, hat Freud selbst in einem Brief an Arnold Zweig aus der Entstehungszeit des Textes bezeugt. Im September 1934 charakterisiert er seinem Freund gegenüber sein in Arbeit befindliches Buch: „Angesichts der neuen Verfolgungen fragt man sich wieder, wie der Jude geworden ist und warum er sich diesen unsterblichen Haß zugezogen hat. Ich hatte bald die Formel heraus. Moses hat den Juden geschaffen, und meine Arbeit bekam den Titel: Der Mann Moses, ein historischer Roman.“1 Freuds Aussage, er habe „die Formel [bald] heraus“ gehabt, weist darauf hin, dass er in seinem letzten Buch, in dem er sich explizit mit dem Judentum auseinandersetzt, eine kulturelle Grundbedingung seiner Existenz formuliert, die für sein ganzes Leben maßgebend gewesen ist. Seit seiner frühesten Kindheit, seit seiner vom Vater angeleiteten Lektüre der Israelitischen Bibel hat er sich immer wieder mit der Tradition des Judentums konfrontiert gesehen und sich in brieflichen oder autobiografischen Äußerungen zu seinem Judentum bekannt.2 In einer 1935 geschriebenen Anmerkung zu seiner 1925 publizierten Selbstdarstellung erklärt er: „Frühzeitige Vertiefung in die biblische Geschichte, kaum daß ich die Kunst des Lesens erlernt hatte, hat, wie ich viel später erkannte, die Richtung meines Interesses nachhaltig bestimmt.“3 Im väterlichen Haus hatte Freud die Heilige Schrift in der von dem Reformrabbiner und Literaten Ludwig Philippson publizierten Ausgabe kennengelernt, die den hebräischen Text und dessen deutsche Übersetzung, sowie Kommentare und zahlreiche Illustrationen enthält.4 Als Frontispiz dient ihr ein Stich der Moses-Gestalt, deren streng blickendes, bärtiges Antlitz von einem Lichtstrahl hell erleuchtet wird und die in der linken Hand die beiden Gesetzestafeln hält.5



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Abb. 28: Frontispiz der Philippson-Bibel. Leipzig 1854.

Der Moses des Michelangelo Auf seiner ersten Romreise im Jahr 1901 und dann mehrfach bei seinen wiederholten Besuchen, vor allem bei seinem dreiwöchigen Romaufenthalt im September 1912, hat Freud die Statue des Moses im Grabmal des Papstes Julius II. in der Kirche San Pietro in Vincolo besichtigt. Darüber berichtet er in seinem Aufsatz Der Moses des Michelangelo. Später erinnerte er sich in einem Brief an den italienischen Übersetzer des Textes, er habe „drei einsame September-Wochen […] alltäglich in der Kirche vor der Statue gestanden, habe sie studiert, gemessen, gezeichnet, bis mir jenes Verständnis aufging, das ich in dem Aufsatz doch nur anonym auszudrücken wagte“.6 Der Aufsatz Der Moses des Michelangelo, den Freud im selben Kontext ein „Kind der Liebe“ nennt, erschien 1914 anonym in der Zeitschrift Imago. Zu Recht ist Freuds Faszination durch die Statue immer wieder als Identifikation mit dem jüdischen Gesetzgeber Moses gelesen worden. Im Gegensatz zur damals gängigen Interpretation des Werkes sieht er in ihm nicht den Augenblick festgehalten, in dem Moses aus Wut über den Tanz der Israeliten um das goldene Kalb aufspringen und die Gesetzestafeln zerschmettern wird, sondern betont, dass dieser Moses „seinen Zorn bezwungen, zu ihrer Rettung seine Leidenschaft beherrscht“ habe.7 Diese Beschreibung sugge-

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Der Moses des Michelangelo

riert nur allzu leicht eine Identifikation des Gründervaters der Psychoanalyse mit dem Gesetzgeber des Judentums, zumal Freud selbst im weiteren Verlauf der Beschreibung der Statue mit seiner Wortwahl auf seine eigene Situation zu verweisen scheint. Im Jahr 1913, zur Zeit der Ausarbeitung des Aufsatzes, hatte er mit Carl Gustav Jung gebrochen, den er zuvor als seinen Kronprinzen und nichtjüdischen Kronzeugen für seine Auffassung der Psychoanalyse angesehen hatte. Ihm gegenüber stilisiert er sich als Verteidiger und Bewahrer der reinen Lehre. So kann er mit deutlichen Anklängen an seine eigene Situation vom Moses des Michelangelo schreiben: „Als er sich seiner leidenschaftlichen Empörung überließ, musste er die Tafeln vernachlässigen, die Hand, die sie trug, von ihnen abziehen. Da begannen sie herabzugleiten, gerieten in Gefahr zu zerbrechen. Das mahnte ihn. Er gedachte seiner Mission und verzichtete für sie auf die Befriedigung seines Affektes.“8 Wie die Gefahr, die Moses nach Freuds Deutung für die Gesetzestafeln wahrnimmt, diesen „mahnt“, so die Statue selbst ihren Betrachter. Auch er darf sich seinem „Zorn“ nicht überlassen, soll durch Triebverzicht die Gefahr für die von ihm gegebenen Gesetze der Psychoanalyse abwehren. Allerdings lässt der Text neben dieser Selbststilisierung Freuds als Bewahrer des Gesetzes noch eine zweite, weniger evidente Deutung der Mosesfigur erkennen. In den einleitenden Sätzen der Arbeit spricht Freud von seinen Gefühlen beim Anblick der Statue: „Wie oft bin ich die steile Treppe vom unschönen Corso Cavour hinaufgestiegen zu dem einsamen Platz, auf dem die verlassene Kirche steht, habe immer versucht, dem verächtlich-zürnenden Blick des Heros standzuhalten, und manchmal habe ich mich dann behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraums geschlichen, als gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist, das keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht vertrauen will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder bekommen hat.“9 Hier äußert sich Freud in eigener Sache, übernimmt die Rolle des abtrünnigen Sohnes, der vor dem gestrengen Auge des Vaters sich schuldig fühlt. Dieses Eingeständnis ist nur zu verstehen in seinem Bezug auf die ursprüngliche, vom Vater initiierte Begegnung mit der biblischen Moses-Gestalt. Dem ihm von seinem leiblichen Vater vermittelten biblischen Moses, dieser doppelten Vaterfigur gegenüber, fühlt sich der atheistische, aufklärerische Freud schuldig. Eine unaufgelöste Ambivalenz, die der Erfinder der Analyse selbst nicht zu durchschauen scheint, deren spätere Lösung auf der Ebene des Textes er aber gegen Ende seines Aufsatzes schon andeutet. Mit einem langen Zitat aus dem 32. Kapitel von Exodus ruft er die biblische Darstellung der Szene am Berg Sinai in Erinnerung, um dem seine Interpretation des in der Statue festgehaltenen Augenblicks gegenüberzustellen und zu konstatieren, dass sie „vom Wortlaut der Heiligen Schrift“ abweiche. Diese „Untreue



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Abb. 29: Michelangelo Buonarrotti: Statue des Moses, zw. 1513 und 1515. Rom, San Pietro in Vincoli, Grabmonument Julius II.

gegen den heiligen Text“ wird von ihm als Indiz für die „Umwandlung“ genommen, die Michelangelo mit dem Charakter des Moses vorgenommen habe und die als künstlerische Freiheit zu rechtfertigen sei. Durch sie sei etwas Neues, Höheres in die alte Geschichte gekommen. Michelangelo habe das „leibliche Ausdrucksmittel“ gefunden „für die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat“.10 Mit diesem Satz, in dem „die Deutung der Statue Michelangelos ihr Ende“ erreicht,11 stilisiert der seinen Zorn im Dienste der eigenen Sendung bezwingende Freud sich selbst zum Heros. Moses-Roman und Kommentar Indem Freud so seine eigene Erfahrung in das Kunstwerk hineinliest, fügt er der Heiligen Schrift einen höchst subjektiven Kommentar bei. Dieses Verfahren wird in Der Mann Moses und die monotheistische Religion dadurch

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Moses-Roman und Kommentar

Abb. 30: Sigmund Freud [Auftraggeber]: Skizzen der Mosesfigur (1914).

potenziert, dass er hier selbst als „Künstler“ auftritt und den heiligen Text in „einen historischen Roman“ umwandelt,12 dessen Kommentierung es ihm erlaubt, die Frage nach der kollektiven Identität des jüdischen Volkes im Augenblick seiner höchsten Gefährdung neu zu stellen und zu beantworten. Der historische Kontext dieser Neuinterpretation ist die durch den Nationalsozialismus heraufbeschworene Krise, durch die sich sowohl der Einzelne wie das Volk als Ganzes in ihrer Existenz bedroht sehen. In den ersten beiden Teilen der Abhandlung, die 1937 vorab in der Zeitschrift Imago unter den Titeln Moses, ein Ägypter und Wenn Moses ein Ägypter war… publiziert wurden, erzählt Freud die Moses-Legende aus der Thora neu. Die Geschichte von der Auffindung des Kindes am Nil und seiner Erziehung durch eine ägyptische Prinzessin stellt er als Inversion des von Otto Rank erarbeiteten „Mythus von der Geburt des Helden“ (FMM, 461 f.) dar, durch die der Redaktor der Bibel die Tatsache verschleiert habe, dass Moses ägyptischen Ursprungs sei. Die beiden Argumente für seine These, der ägyptische Name des Religionsstifters und dessen Herkunft aus einer vornehmen ägyptischen Familie, die das Kind auf Grund einer Unheil verkündenden Prophezeiung ausgesetzt habe, sind aber – so Freud selbst am Ende des ersten Teils seiner Abhandlung – nicht stark genug, um die „sehr interessante[n] und weitreichende[n] Perspektiven“, (FMM, 467) die sich aus ihnen ergeben, gegen die Kritik, sie seien unhistorisch, zu schützen. Dem mag so sein. Heimlich hat Freud mit dieser von ihm als zu schwach eingeschätzten Erzählung jedoch den Boden bereitet für die Einordnung der Moses-Legende in die Tradition des Ödipus-Mythos, dessen Name denn auch in der Reihe der Heldengestalten auftaucht, denen „dieselbe Jugendgeschichte […] nachgesagt wird“ wie dem Moses.13 Den zweiten Abschnitt seiner Abhandlung will Freud als historische Untersuchung verstanden wissen. In der Tat beruft er sich für seine Annah-



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men über die Entstehung des Monotheismus auf die Geschichtswissenschaft seiner Zeit und belegt seine Darstellung mit Quellenangaben und Fußnoten. Die Schilderung der „Ursprünge des ägyptischen Monotheismus“ entnimmt er der History of Egypt des englischen Ägyptologen J. H. Breasted.14 Eduard Meyers Untersuchung Die Israeliten und ihre Nachbarstämme zieht er heran um nachzuweisen, dass der Ritus der Beschneidung ursprünglich aus Ägypten stammt und die Jahwe-Religion von semitischen Nomadenstämmen übernommen wurde. Für die zentrale, alle übrigen Ausführungen erst begründende These von der Ermordung des Moses durch die Israeliten beruft er sich auf das Buch Mose und seine Bedeutung für die israelitischjüdische Religionsgeschichte des Alttestamentlers und Archäologen Ernst Sellin.15 Aus all diesen und weiteren „glaubwürdigen Ergebnissen der historischen Forschung“16 setzt Freud seine Erzählung von der Entstehung der monotheistischen Religion zusammen: Der Pharao Amenthop IV., der sich später Echnaton nannte, habe auf der Grundlage der ägyptischen Sonnenreligion den einen allmächtigen Gott geschaffen.17 Als nach seinem Tod die Ägypter zum Polytheismus zurückkehrten, habe der aus vornehmer ägyptischer Familie stammende Moses als Anhänger der strikt monotheistischen Aton-Religion seine Anschauungen auf das Sklavenvolk der Israeliten übertragen und sei mit seinen Anhängern in die Wüste gezogen, wo er von ihnen ermordet und durch einen neuen ‚Führer‘, dessen Gott Jahwe hieß, ersetzt worden sei. Diese Collage kann ebenso wenig wie die Erzählung von der vornehmen Geburt des Moses als eine wissenschaftlich abgesicherte Darstellung historischer Tatsachen gelten. Vielmehr schafft Freud mit ihr eine Kontrafaktur des Mythos, in der zentrale Erzählmotive der Fünf Bücher Moses in ihr Gegenteil verkehrt werden: Moses war kein Jude, sondern Ägypter. Nicht Abraham hat die Beschneidung als Kennzeichen des Bundes mit Gott eingeführt, sondern Moses hat sie von den Ägyptern übernommen. Schließlich: Moses hat die Israeliten nicht vierzig Jahre durch die Wüste und bis an die Grenze des gelobten Landes geführt, sondern ist schon bald nach dem Auszug aus Ägypten von ihnen ermordet worden. Im dritten Teil seiner Abhandlung, die unter der Überschrift Moses, sein Volk und die monotheistische Religion steht und erst in der Buchausgabe von 1939 publiziert wurde, fügt Freud der Heroenvita vom ägyptischen Moses seinen eigenen Kommentar hinzu, in dem er das ‚Volk‘ der Juden in den Mittelpunkt rückt. Unter dem Titel „Analogie“ stellt er eine Parallele zwischen der Entstehung individueller Neurosen aus einem frühkindlichen Trauma und der Entstehung höherer Kultur her, wie er sie zuvor schon in seiner Schrift Totem und Tabu von 1912 beschrieben hatte. Demnach ist in der Ermordung des Urvaters durch die Horde der Söhne das Ursprungsereignis aller Kultur zu sehen. In seiner Erzählung vom Tod des Moses inszeniert

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Gymnasialbildung und jüdische Religion

Freud diesen Mythos neu und verwandelt ihn so in ein weiteres Beispiel des „Totemismus“, dem die „ersten Anfänge einer sittlichen und sozialen Ordnung“ zu verdanken seien. (FMM, 565) Dieses Schema der Kulturentstehung ist evidentermaßen aus dem griechischen Mythos abgeleitet, nach dem der Urvater Kronos von seinen Söhnen, den Olympiern, vom Thron gestoßen und getötet wurde. Dieser Vatermord wiederholt sich auf individueller Ebene in der Ermordung des Laos durch seinen Sohn Ödipus. Freuds Kommentierung des MosesRomans durch die von ihm auf der Grundlage seiner psychoanalytischen Theorie und Praxis rekonstruierte Urgeschichte stellt die Unterwerfung der jüdischen Tradition unter das deutsch-griechische kulturelle Paradigma dar. Wie die Weimarer Klassiker in ihren Schriften – auf Goethes These von der Ermordung des Moses durch sein Volk bezieht sich Freud ausdrücklich18 – führt auch er alle kulturellen Phänomene strukturell auf solche des griechischen Mythos zurück. Dieses Verfahren ermöglicht ihm eine radikale Anthropologisierung des religiösen Diskurses. Nicht die Offenbarung eines transzendenten Gottes, sondern ein soziales Geschehen, die Ermordung des Fremdlings Moses, durch die das jüdische Volk zur Einheit zusammenfindet, konstituiert nach Freud „die historische Wahrheit“ des biblischen Textes: „wir glauben nicht, daß es einen einzigen großen Gott heute gibt, sondern daß es in Urzeiten eine einzige Person gegeben hat, die damals übergroß erscheinen mußte und die dann zur Gottheit erhöht in der Erinnerung der Menschen wiedergekehrt ist.“ (FMM, 574) Es ist also der „Mann Moses“, wie der Titel der Abhandlung zu Recht betont, der hier paradoxerweise durch seine Ermordung als Ursprung der Eigenart und Identität des jüdischen Volkes angenommen wird, und nicht der von ihm verkündete eine und einzige Gott. Wie vor ihm schon Heine setzt auch Freud Moses in die Funktion des gesetzgebenden JHWH ein.19 Gymnasialbildung und jüdische Religion Die Rationalisierung des biblischen Offenbarungsglaubens wird durch die Projektion seiner Inhalte auf die Struktur des griechischen Mythos ermöglicht. Wo die Quelle dieser Faszination von der Tradition des Griechentums zu suchen ist, hat Freud selbst in einem kurzen Text angedeutet, den er 1936, also zu einer Zeit, als er schon den größten Teil von Der Mann Moses geschrieben hatte, unter dem Titel Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis in der Festschrift für Romain Rolland veröffentlicht hat. In ihm ist die Rede von einer spontanen Reise, die er im Jahr 1904 mit seinem Bruder Alexander nach Athen unternommen hatte. In dem Text über die mehr als dreißig



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Jahre zurückliegende Episode geht es ihm darum, zu erklären, warum er sich die Vorfreude auf diese Reise durch „üble Laune“ und Vorspiegelung von „Abhaltungen und Schwierigkeiten“ verdorben habe.20 Als erste, oberflächliche Erklärung führt er an, wie überrascht er gewesen sei, als er schließlich auf der Akropolis gestanden und auf das antike Stadtbild geblickt habe. Damals habe er zu sich gesagt: „Also existiert das wirklich so, wie wir es auf der Schule gelernt haben.“21 Er habe nicht daran glauben können, die Ruinen des alten Athen seien zu schön, um wirklich zu sein. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass hinter dieser Deckerinnerung ein anderer Gegensatz steht, den Freud nicht formuliert: „Als Freud die Akropolis besucht, stehen sich zwei Kulturen gegenüber, die durch einen Abgrund voneinander getrennt sind. Der biblische Monotheismus erklärt die heidnische Götterwelt für nichtig, und der Jude Sigmund Freud […] kann für einen merkwürdigen Augenblick das Gewicht seines Erbes nicht abwerfen.“22 In der Tat erweist sich die Akropolis als Idealtypus jener heidnischen Höhenheiligtümer, über die in der Bibel vielfach gesagt wird, dass auf ihnen Götzendienst betrieben werde.23 1891 hatte Freud seine neu in Leder gebundene und mit einer hebräischen Widmung versehene Kindheitsbibel von seinem Vater als Geschenk zu seinem fünfunddreißigsten Geburtstag bekommen, womit der Vater den Sohn an seine Herkunft aus der Tradition des Judentums gemahnen wollte.24 Als Frontispiz war eine Darstellung des Moses mit den Gesetzestafeln zu sehen. Die Erinnerung an den Vater als Vermittler der jüdischen Religion und damit als Stellvertreter des Moses ist es, die Freud auf der Akropolis angesichts der Schönheit des als höchstes Schönheitsideal geltenden klassischen Tempels irritiert. Im letzten Absatz seines Textes nähert er sich selbst dieser Einsicht, allerdings ohne sie in ihrer vollen Bedeutung zu artikulieren: „Unser Vater war Kaufmann gewesen, er besaß keine Gymnasialbildung, Athen konnte ihm nicht viel bedeuten.“25 Schuldgefühle des Sohnes gegenüber dem jüdischen Vater waren also der tiefere Grund für Freuds „Erinnerungsstörung auf der Akropolis“. Auch im Alter kann er sich jedoch nur verdeckt zu ihnen bekennen, während er die Quelle seiner Faszination vom Griechentum, das ihm auf der Akropolis „wirklich“ vor Augen tritt, offen ausspricht. Es ist das, was er „auf der Schule gelernt“ hat, oder noch genauer die „Gymnasialbildung“, die ihm die Welt der griechischen Mythen eröffnet hat und die schließlich sein ganzes wissenschaftliches Werk dominieren wird. Nun, da sie ihn mit der visuellen Evidenz ihrer Schönheit überrascht, kann er sie nur mit einem tiefen, aber uneingestandenen Schuldgefühl betrachten. In seiner Irritation angesichts der Reise nach Griechenland bricht das schlechte Gewissen dessen durch, der durch seine Reinterpretation der väterlichen Tradition die biblische Erzählung von der Offenbarung des Monotheismus in eine andere Erscheinungsform des griechischen Mythos verwandelt hat.

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Die Schrift im Exil

Die Schrift im Exil Freuds Schrift Der Mann Moses hat ihre Aktualität darin bewahrt, dass sie das komplizierte Verhältnis von Fremdem und Eigenem in der Kultur zum ersten Mal in einen theoretisch begründeten Zusammenhang zu bringen versucht. Auf Grund seiner Annahme der frühzeitigen Ermordung des ägyptischen Moses sieht Freud sich gezwungen, einen Doppelgänger einzuführen: den midanitischen Moses, dessen Feuer- und Vulkangott Jahwe den einen Gott des Ägypters verdrängte. So fügt Freud, wie er selbst feststellt, „zu den bekannten Zweiheiten der Geschichte – zwei Volksmassen, die zu Bildung der Nation zusammentreten, zwei Reiche, in die diese Nation zerfällt, zwei Gottesnamen in den Quellenschriften der Bibel – […] zwei neue hinzu: Zwei Religionsstiftungen, die erste durch die andere verdrängt und später doch siegreich hinter ihr zum Vorschein gekommen, zwei Religionsstifter, die beide mit dem gleichen Namen Moses benannt werden […].“ (FMM, 501) Damit stellt sich für Freud die zentrale Frage seiner Untersuchung: Wie ist es möglich, dass sich der eine Gott des Moses nach dessen Ermordung und der Überlagerung durch den Naturgott Jahwe dennoch als oberster Gesetzgeber Israels durchsetzen konnte? Mit anderen Worten: Wie konnte sich die spezifisch jüdische Tradition des Monotheismus, hervorgegangen aus der ägyptischen Aton-Religion, gegen die sie später überformende Religion eines Naturgottes durchsetzen? Bilderverbot, Triebverzicht und daraus hervorgehend ein steter Fortschritt der Geistigkeit, das sind nach Freud die psychologischen Grundlagen der historischen Entwicklung, die das Volk der Juden genommen hat: „Die Juden behielten die Richtung auf geistige Interessen bei, das politische Unglück der Nation lehrte sie, den einzigen Besitz der ihnen geblieben war, ihr Schrifttum, seinem Wert nach einzuschätzen. Unmittelbar nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch Titus erbat sich Rabbi Jochanan ben Sakkai die Erlaubnis, die erste Thoraschule in Jabne zu eröffnen. Fortan war es die heilige Schrift und die geistige Bemühung um sie, die das versprengte Volk zusammenhielt.“ (FMM, 561) Diese zutreffende Beschreibung der späteren Geschichte des Judentums wird von Freud in der Perspektive, die nach ihm die historische Entwicklung der Kultur des jüdischen Volkes bestimmt, als Wiederkehr des Verdrängten gedeutet. Als Bedingung ihrer Möglichkeit erweist sich damit die Einführung der fremden, in der ägyptischen Hochkultur entstandenen Aton-Religion in den Lebenskreis der semitischen Hirtenvölker. Die Ermordung des Fremden, der zugleich der gesetzgebende Vater ist, habe sich – so Freud in Anlehnung an seine Theorie aus Totem und Tabu – dem Kollektivgedächtnis als traumatisches Ereignis eingebrannt. Wie dieses sich in der individuellen Psyche durch Symptome bemerkbar macht und schließlich als Neurose das



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Seelenleben des Einzelnen beherrscht, so prägt die Ermordung des Moses und die Vernichtung der von ihm repräsentierten monotheistischen Religion das kollektive Seelenleben des Volkes Israel. So kann schließlich die Wiederkehr der verdrängten Bluttat in Freuds Interpretation als der Ursprung der mosaischen Tradition und als Begründung für deren unauslöschliche Fortdauer erscheinen. Indem er die kollektive Erinnerung und deren kulturelle Ausformung nach Maßgabe der Bewältigung eines traumatischen Geschehens denkt, vermag er die erstaunliche Überlebensfähigkeit der Juden ebenso wie die Befolgung der Thora auch in geschichtlicher Zeit zu erklären: „Da erhoben sich aus der Mitte des Volkes in einer nicht abreißenden Reihe Männer, nicht durch ihre Herkunft mit Moses verbunden, aber von der großen und mächtigen Tradition erfasst, die allmählich im Dunkeln angewachsen war, und diese Männer, die Propheten waren es, die unermüdlich die alte mosaische Lehre verkündeten, die Gottheit verschmähe Opfer und Zeremoniell, sie fordere nur Glauben und ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit (‚Maat‘).26 […] Es ist Ehre genug für das jüdische Volk, dass es eine solche Tradition erhalten und Männer hervorbringen konnte, die ihr eine Stimme liehen, auch wenn die Anregung dazu von außen, von einem großen fremden Mann gekommen war.“ (FMM, 500) In der Reihe dieser Propheten sieht Freud sich selber. Auch er führt die alte mosaische Tradition fort, hat ihr seine ‚Stimme geliehen‘ und damit an seinem Lebensende den Auftrag des Vaters, der ihm die jüdische Bibel geschenkt und gewidmet hatte, doch noch erfüllt. Aber er begründet die Tradition nicht mehr auf der Offenbarung des einzigen Gottes, sondern auf dem einzigen Volk, dem er selbst angehört. Es ist dessen in der talmudischen Tradition sich vollziehende Aufarbeitung des Traumas, das die Ermordung des fremden Gesetzgebers hinterlassen hat, der das Judentum laut Freud seine Identität verdankt. Freud als Talmudist In einer Hinsicht überbietet Freud in Der Mann Moses seine frühere Theorie der Entstehung der Religion. Es ist nicht mehr der ‚Urvater‘, der von der Horde der Söhne ermordet wird, wie in Totem und Tabu, sondern der Andere, der fremde Gesetzgeber. Weshalb es hier auch keinen originären Ursprung mehr gibt, noch weniger etwas ‚Urjüdisches‘. Freud stellt sich damit explizit gegen die Ursprungstheorien seiner Zeit, die den Charakter und die Kultur eines Volkes auf dessen Verbindung mit einer ‚Ursprache‘ oder dessen ‚Rassenreinheit‘ begründen wollen. Auf zwei Ebenen ist das Andere in dieser Kulturtheorie präsent, zunächst auf der inhaltlichen: Das jüdische Ethos, auf dem eine friedfertige Gesellschaft zu errichten wäre,

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Freud als Talmudist

wird dargestellt als ein Phänomen, das auf dem ägyptischen Monotheismus beruht. Dann aber auch methodisch: Die jüdische Vaterreligion wird mit Hilfe des griechischen Mythos entschlüsselt. Wo bleibt, wäre zu fragen, dann überhaupt noch das Jüdische? In Freuds Moses-Roman dominiert das Jüdische als das literarische Verfahren, mit dessen Hilfe er seinen Text konstituiert: Er kommentiert einen heiligen Text, die biblische Moses-Erzählung, aber zunächst nicht in einem einfachen Zugriff, sondern in der Verwandlung in einen „historische[n] Roman“. Damit bedient er sich der heineschen, der fiktionalen Form des Kommentars, die dem Subjektivismus der Moderne Rechnung trägt. In einem zweiten Schritt überbietet er sie durch die talmudische Form des Kommentars, durch die der kanonische Text auf die eigene Situation bezogen wird. So rettet Freud das jüdische Gesetz vor denen, die es zerstören wollen, indem er es in der eigenen, auf dem griechischen Mythos beruhenden Theorie der Kulturentstehung birgt. In seinem frühen Aufsatz Der Moses des Michelangelo hatte Freud die berühmte Statue vom Grabmal des Papstes Julius II. als die Geschichte der Rettung der Schrift und damit des Gesetzes durch Triebverzicht gedeutet. In Der Mann Moses gibt er einem anderen Medium den Vorzug. Statt der Schrift identifiziert er nun die mündliche Tradition, die im Judentum als zweite Quelle der Offenbarung neben die Schrift tritt, als den Ort, an dem sich die Wahrheit durchsetzt: „Die Tradition war die Ergänzung und zugleich der Widerspruch zur Geschichtsschreibung. Sie war dem Einfluß der entstellenden Tendenzen weniger unterworfen, vielleicht in manchen Stücken ganz entzogen, und konnte darum wahrhaftiger sein als der schriftliche Bericht.“ (FMM, 517) Diese Aufwertung der Oralität kann sich einerseits auf die Hochschätzung der ‚mündlichen Lehre‘ im traditionellen Judentum berufen. So beruht etwa die aggadische Erzählung von Moses und Rabbi Aquiba auf der Annahme, dass die Wahrheit zwar Moses am Sinai offenbart worden sei, dass sie sich aber erst im Laufe der Zeit durch die Disputationen der vielen Generationen gelehrter und gesetzestreuer Juden im Talmud niedergeschlagen und so ihre ihre kontinuierliche und stets zu erneuernde Entfaltung gefunden habe.27 So versteht auch Freud die Herausbildung der jüdischen Tradition nicht als einmaligen Vorgang. Vielmehr entwickelt sie sich nach ihm in einem lang andauernden Prozess, ist ein komplexer Vorgang von Vergessen, Verwerfung und Wiederaufarbeitung, durch den in der kollektiven Psyche aus der Ursprungserzählung das Identität stiftende Bild der Vergangenheit entsteht. Geschichte wird im traditionellen Judentum nicht als Ereignisgeschichte verstanden, sondern als Geschichte der Entfaltung der Wahrheit im Text, wie sie in der mündlichen Weitergabe und Kommentierung der Heiligen Schrift sich ereignet. Geschichtsschreibung im Modus der Text­ geschichte vollzieht sich als Dialog im Entzug. Für sie ist das Verfahren des



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Talmud das kanonische Vorbild, in dem das Gespräch mit Gott und den Toten, den beiden gleichermaßen unzugänglichen Partnern, ins Werk gesetzt wird. Diesem in der deutsch-jüdischen Tradition ausgearbeiteten Konzept von Geschichte, wie es sich insbesondere in den Schriften Heinrich Heines findet, ist auch Freud in seinem späten Text verpflichtet. In Analogie zu seiner eigenen Praxis, den traumatischen Schock des Patienten mit seinen Wiederholungszwängen durch rekapitulierendes, die Entstellungen und Verschiebungen aufhebendes Erzählen zu heilen, schreibt er der mündlichen Tradition der Juden jene heilende, sich selbst aufklärende Wirkung zu, durch die das fiktive Ursprungsereignis der jüdischen Geschichte, der Mord an dem gesetzgebenden Vater Moses, seine Identität stiftende und das Gesetz begründende Kraft entfalten kann. Freud hat seiner Abhandlung so etwas wie eine Rahmenerzählung beigefügt, in der er über die Schwierigkeiten und Umwege von deren Entstehung räsoniert. Sie ist von den zeitgenössischen Lesern vielfach mit Befremden aufgenommen worden.28 In der „Vorbemerkung II“ zum Dritten Teil des Mann Moses hält er „im Juni 1938“ fest: „In der Gewissheit, jetzt nicht nur meiner Denkweise, sondern auch meiner Rasse wegen verfolgt zu werden, verließ ich mit vielen Freunden die Stadt, die mir von früher Kindheit an, durch 78  Jahre Heimat gewesen war.“ (FMM, 506) Sehnsucht nach den ‚Fleischtöpfen Ägyptens‘ spricht sich in diesen Worten aus. Freud selbst kann seine Gesetzgebung und seinen Kommentar erst nach dem erzwungenen Wegzug aus dem Ägypten Wiens vollenden und als Ganzes publizieren. Die Juden als Volk im Galut, Freud im Londoner Exil, es sind die gleichen Figuren der Fremdheit, die in diesen Erzählungen beschworen werden. Zu ihnen gehört auch der Autor, der, aus der Heimat des kanonischen Textes vertrieben, in der Fremde des Kommentars sich einrichten muss. In einer der zahlreichen methodischen Reflexionen, die seine Abhandlung durchziehen, schreibt Freud, es erscheine ihm „nicht verlockend“, den „Talmudisten angereiht zu werden“. (FMM, 468) Aber gerade diese Bemerkung lässt erkennen, dass er sich bewusst ist, mit seinem Verfahren der Interpretation in der Tradition der mündlichen Lehre des Judentums zu stehen. Was 1912 in der Auseinandersetzung mit Jung sich noch auf die Gesetze der Psychoanalyse mag bezogen haben, wird in Der Mann Moses auf das überlieferte Gesetz des Judentums angewandt. Mit der Übertragung seiner analytischen, aus dem griechischen Mythos wie aus der mündlichen Lehre des Judentums abgeleiteten Methode auf die Tradition des Judentums gelingt es Freud, die Geltung der Thora für seine Gegenwart neu zu begründen, ohne noch ihren göttlichen Ursprung annehmen zu müssen. Das alle politische und soziale Moral begründende Gebot: ‚Du sollst nicht töten!‘ wird so von ihm neu aufgerichtet in einer Zeit, in der die Ideologie des Volkstums mit ihren mörderischen Auswüchsen endgültig zu triumphieren scheint.

8.  Moshe Rabenu Leo Baeck in Theresienstadt Ins Lager verschleppt Einer, der den nationalsozialistischen Rassenhass am eigenen Leib zu spüren bekam, war Leo Baeck, der Präsident der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“. Am 27. Januar 1943 wurde er frühmorgens von der Gestapo verhaftet und schon einen Tag später mit dem „83. Alterstransport“ in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Diese Verschleppung der organisatorischen und geistigen Galionsfigur des deutschen Judentums war nicht nur der Versuch der Nationalsozialisten, die letzten Regungen eines selbstbestimmten jüdischen Lebens in Deutschland auszulöschen, es war auch ein symbolischer Akt. Damit war vor aller Welt demonstriert, dass es ein deutsches Judentum nicht mehr gab. Baeck selber hat in einem nach seiner Befreiung aus dem Konzentra­ tionslager in London im August 1945 niedergeschriebenen Erinnerungstext die Empfindungen des Häftlings bei der Ankunft in Theresienstadt geschildert: „Wenn er durch das Festungstor, zwischen Bastionen und Wällen, hineingetrieben war, dann war ein Tor des Schicksals, vielleicht für immer, hinter ihm zugetan. […] Er war eingeschlossen in die Masse, so wie er umschlossen war von Enge und Staub und Schmutz, von den wimmelnden Scharen der Insekten und umschlossen war, fast von innen und von außen her, von dem Hunger, der nicht enden zu wollen schien im Lager der Konzentrierten, niemals für sich allein.“ (BW 6, 362) Gegen die Erniedrigung, die Herabwürdigung zu einer bloßen „Transportnummer“ (BW 6, 363) hat er sich von Anfang an zur Wehr gesetzt. Er weigerte sich, der von der SS eingesetzten jüdischen Selbstverwaltung im Lager als ‚Judenältester‘ vorzustehen. Der ‚Judenrat‘, der daraufhin von dem Soziologen Paul Eppstein und nach dessen Erschießung durch die SS im September 1944 von dem Rabbiner Benjamin Murmelstein geleitet wurde, hatte neben der alltäglichen Organisation des Lagerlebens die Listen zusammenzustellen, mit denen diejenigen aufgerufen wurden, die mit den fast täglich abgehenden Transporten in die Vernichtungslager im Osten geschickt wurden. Dieser Einbindung in die Todesmaschinerie der Nazis hat Baeck sich bewusst entzogen,1 um sich auch hier seiner Berufung zu widmen, als Rabbiner, als geistiger und reli­giö­ ser Halt seiner Gemeinde, zu wirken2 und so zu versuchen, die Menschen

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Ins Lager verschleppt

vor dem Schicksal zu bewahren, zum Homo Sacer, zum wandelnden Leichnam herabzusinken, an dem nichts Menschliches mehr ist als das „bloße Leben“.3 Indem er regelmäßig Gottesdienste feierte und Vorträge über philosophische, historische und religiöse Themen hielt, wirkte er daran mit, seinen Mitmenschen das Bewusstsein ihrer kulturellen Identität und damit ihres Wertes als Angehörige des jüdischen Volkes zu festigen oder zurückzugeben.4 In dem einzigen Text, in dem Baeck seiner Zeit im Konzentrationslager gedenkt, erinnert er daran, dass es „ein Kampf um den einzelnen Menschen“ (BW 6, 364) gewesen sei, den er in Theresienstadt geführt habe. Es sei darum gegangen, „in sich selbst und im Mitmenschen nicht nur die Transportnummer zu sehen. Es war der Kampf um den Namen, um den eigenen und um den des anderen, der Kampf um die Individualität, um das Geheimnis.“ (BW 6, 363) Mit diesen Worten erinnert der Rabbiner unterschwellig an den Namen Gottes, den der Mensch durch sein Leben zu heiligen habe und von dem auch der des Menschen seine Würde ableiten müsse. In seinem Erinnerungstext evoziert Baeck drei soziale Aktivitäten, an denen er, der auch im Lager als geistige Leitfigur des deutschsprachigen Judentums galt, maßgeblich beteiligt war. Zum einen die Vorträge „über Tage und Fragen der Geschichte, über Musik und bildende Kunst, über Dichtung, über Palästina einst und jetzt, über Gebot, Prophetie und messianische Idee“. Schon in dieser Aufzählung der behandelten Themen äußert sich Baecks eigentümliche deutsch-jüdische kulturelle Prägung, in der künstlerische Ausdrucksformen eine genau so wichtige Rolle spielen wie spezifisch Jüdisches. Durch diese Vorträge, die abends regelmäßig in den Dachräumen der Theresienstädter Kasernen stattfanden, seien die Menschen aus der „Masse“ emporgehoben und zur „Gemeinschaft“ geformt worden. (BW 6, 364) Noch mehr habe das für die Gottesdienste gegolten, zu denen die Menschen „in frühen Morgenstunden und in Stunden des Abends“ sich zusammenfanden. Diese religiösen Feiern hätten den bedrängten Menschen neuen Lebensmut gegeben: „Juden, die sozusagen nichts von der Sache verstanden und ihr ganzes Leben der jüdischen Tradition fern waren, nahmen an diesen Minjanims [Gemeindegottesdiensten] teil.“5 Eine ebenso bedeutende Rolle wie dieser Beistand für die Lebenden spielt in Baecks Erinnerungen die Fürsorge für die Toten. Mit beeindruckenden Worten beschreibt er die Feiern, mit denen er die im Lager Verstorbenen gewürdigt hat: „Von Menschen und nicht bloß von Zahlen und Ziffern zu wissen, das war der Kampf auch, wenn die Toten hinausgetragen wurden, Tag um Tag, der lange Zug hinaus zum grossen Heer. […] die Namen wurden verlesen und das alte Totemgebet, das Jahrtausende alte, gesprochen. Und dann wurden die Särge aufgehoben und hinausgetragen, während der Psalm gesungen wurde, der seit Geschlechtern



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Abb. 31: Baeck als Zuhörer bei einem Vortrag von Prof. Emil Utitz. Standfoto aus dem NS-Propagandafilm „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ (1944), Sequenz 33.

die Toten auf ihrem Weg begleitet: ‚Wer im Geheimnis des Allmächtigen wohnt‘ bis hin zu dem Schlusse: ‚Ich werde ihn meine Hilfe schauen lassen!‘ Es war wie eine Demonstration, ein Stück Freiheit in der Knechtschaft.“ (BW 6, 363) In diesen pathetischen Sätzen wird den namenlosen Verstorbenen ihre menschliche Würde zurückgegeben, so dass sie sich einreihen in die Gemeinschaft der vor ihnen Verstorbenen, in das Volk Israel, von dem sie nach dem Willen der nationalsozialistischen Herrscher getrennt und damit für immer vernichtet werden sollten. Würde des Judentums Die Sorge für den ‚Mitmenschen‘, die im Mittelpunkt von Baecks Tätigkeit in Theresienstadt stand, hatte auch schon sein öffentliches Wirken nach 1933 gekennzeichnet, nachdem er zum Präsidenten der „Reichsvertretung der deutschen Juden“ gewählt worden war und damit für die Gesamtheit der Juden in Deutschland sprechen konnte und musste. Auch hier wirkte er vor allem als Seelsorger. „Insgesamt besteht Baecks überragende Leistung darin, dass er über viele Jahre unter immer bedrückenderen Umständen Hunderten, wenn nicht Tausenden Juden ihr Schicksal erleichterte, indem er sie individuell anhörte, ihnen Trost und Hoffnung spendete.“6 Gleichzeitig aber trat er öffentlich für die menschliche Größe des Judentums ein und versuchte, gegenüber den nationalsozialistischen Verleumdungen und

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Würde des Judentums

Verunglimpfungen dessen Bedeutung für das ethische und kulturelle Selbstverständnis der Menschheit hervorzuheben und zu verteidigen. Schon 1934 hatte er in einem Telegramm „An den Herrn Reichskanzler Adolf Hitler“, das in der „Jüdisch-liberalen Zeitung“ veröffentlicht wurde, im Namen der „Reichsvertretung der Deutschen Juden“ gegen die öffentliche Herabsetzung und Beleidigung des Judentums protestiert: „Der ‚Stürmer‘ verbreitet eine Sondernummer, die unter ungeheuerlichen Beschimpfungen und mit grauenerregenden Darstellungen das Judentum des Ritualmords bezichtigt. Vor Gott und den Menschen erheben wir gegen diese beispiellose Schändung unseres Glaubens in feierlicher Verwahrung unsere Stimme.“7 Ein Jahr später war die „Reichsvertretung“ nach dem Erlass der „Nürnberger Rassengesetze“ im September 1935 in „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ umbenannt worden, um zu markieren, dass die Juden keine Deutschen mehr seien. Baeck reagierte auf diese erneute Erniedrigung in der Ansprache, die er zum Kol Nidre am Vorabend von Yom Kippur 1935 verfasste und die in allen Synagogen Deutschlands verlesen werden sollte, was allerdings von den staatlichen Stellen verboten und dadurch verhindert wurde. In ihr ist die Betonung des historischen Verdienstes und der menschlichen Würde des jüdischen Volkes das zentrale Thema: „Wir bekennen uns zu unserem Glauben und zu unserer Zukunft. – Wer hat der Welt das Geheimnis des Ewigen, des einen Gottes gekündet? Wer hat der Welt den Sinn für die Reinheit der Lebensführung, für die Reinheit der Familie offenbart? Wer hat der Welt die Achtung vor dem Menschen, dem Ebenbild Gottes, gegeben? Wer hat der Welt das Gebot der Gerechtigkeit, den sozialen Gedanken gewiesen? Der Geist der Propheten Israels, die Offenbarung Gottes an das jüdische Volk hat in dem allen gewirkt. In unserem Judentum ist es erwachsen und wächst es.“ (BW 6, 312 f.) Mit dieser mutigen Verlautbarung versuchte der Repräsentant der deutschen Juden gegen deren in Nürnberg verfügte Ausschließung zu protestieren und angesichts der Beschimpfungen und Herabwürdigungen, denen die Mitglieder der von ihm geführten Gemeinden täglich ausgesetzt waren, das Selbstbewusstsein der Menschen und ihren Stolz auf die Zugehörigkeit zum Judentum zu stärken. In seinen Worten wird das jüdische Volk als der Ursprung einer sozialen, gerechten und friedfertigen Gesellschaft gepriesen, die in diametralem Gegensatz zu der Unrechtsordnung der Zeit steht. Im Juli 1939 wurde die „Reichsvertretung“ in „Reichvereinigung der Juden in Deutschland“ umbenannt und der Gestapo als ausführendes Organ unterstellt. Ihre Hauptaufgabe bestand nunmehr nach dem Willen der Herrschenden darin, die ausreisewilligen deutschen Juden bei ihrer Auswanderung zu unterstützen. Leo Baeck stand zwar weiterhin nominell an der Spitze dieser Organisation, die sich gezwungenermaßen mehr und mehr



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zum Erfüllungsgehilfen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik entwickelte. Allerdings ist den erhaltenen Gesprächsprotokollen der Unterredungen im „Sicherheitshauptamt“, in denen sein Name nur höchst selten auftaucht,8 zu entnehmen, „daß er sich in jener Zeit, noch mehr als zuvor von Routineaufgaben fernhielt. Den Großteil seiner Zeit widmete er seiner Aufgabe als Rabbiner und als Dozent der Lehranstalt, die bis Juni 1942 geöffnet blieb.“9 Neben seiner seelsorgerischen Arbeit und seiner Verbands­ tätigkeit wirkte Baeck in dieser Zeit demnach auch weiterhin als Lehrer an der Berliner „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“. Seine damaligen Studenten bezeugen in ihren Erinnerungen, dass er in seinen Vorlesungen und Seminaren unbeirrt die Größe des Judentums und die Nichtigkeit der weltlichen Macht verkündet habe. Nathan Peter Levinsohn, der im Wintersemester 1940/41 Baecks Vorlesung über „Grundgedanken des Judentums“ besuchte, hat deren zentrale Gedanken im Nachhinein aufgezeichnet. In seinen Notizen wird deutlich, dass auch in dieser dunklen Zeit die biblische Vorstellung von Israel als dem ‚heiligen Volk‘ Gottes im Mittelpunkt von Baecks Ausführungen stand: „Er sprach vom jüdischen Volk und seinem weiten Blick, der hinwegsieht über Mauern und Grenzen, der das messianische Ziel vor sich hat, […] ‚Ihr sollt heilig sein‘, anders sollt ihr sein, nicht wie die Natur und ihre Gewalten. […] Israel ist der Knecht Gottes, ihm obliegt die Gesamtverantwortung für die Völker. Deshalb ist es auch der leidende Knecht.“10 Diese Sätze belegen, dass Baeck in seiner Lehrtätigkeit die aktuelle Lage der Juden in Deutschland reflektiert und sie von der biblischen Tradition, der des Deuterojesaja, her beurteilt hat. In seinen Augen sind die deutschen Juden ‚Gottesknechte‘, die wie ihre Vor­väter im babylonischen Exil unter der Gewalt der weltlichen Herrscher leiden müssen, denen aber wie diesen verheißen wird, einst von Gott getröstet zu werden. Herbert A. Strauss, ein anderer seiner damaligen Studenten, bezeugt gleichermaßen, dass Baecks „Wertesystem […] auf eindrucksvolle Weise an der Seelsorge ausgerichtet“ war. Allerdings stellt er seine „biblische Unbeirrbarkeit“ angesichts der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden grundlegend in Frage. Er gibt zu bedenken, ob Baeck moralisch und politisch falsch gehandelt habe, „als er seinem theologischen Glauben folgte, daß das Wesen des Judentums ungeachtet der historischen Umstände unwandelbar sei? […] Fällte er die moralisch richtige Entscheidung, als er die Wahrheit [über die Massenmorde] für sich behielt? Warum ließ er die Studenten und Lehrer der Hochschule über alles, was er wissen mochte, im dunkeln?“11 Strauss, der sich zunächst in Berlin mit falschen Papieren versteckt gehalten hatte und 1943 in die Schweiz fliehen konnte, gibt keine eindeutige Antwort auf diese Fragen.12 Wenn er allerdings unterstellt, Baeck sei von „dem hartnäckigen Wunsch, die Institution zu bewahren“, bestimmt

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Intellektueller Vordenker des Judentums

gewesen, verkennt er dessen fundamentale, von der biblischen Tradition genährte Identifikation mit dem Volk der Juden. Intellektueller Vordenker des Judentums In Baecks öffentlichen Verlautbarungen gegen die antisemitischen Angriffe, wie in seinen Vorlesungen an der „Hochschule“ und seinen privaten Äußerungen nach 1933, manifestiert sich dieselbe Tendenz, die von Anfang an seine öffentliche Stellungnahme zum Judentum gekennzeichnet hatte. Sie hatte ihn früh zum unangefochtenen Sprecher des deutschsprachigen liberalen Judentums werden lassen. Schon in seiner ersten Schrift Das Wesen des Judentums (1905) hatte der junge Oppelner Rabbiner das Judentum als gleichwertige Religion gegenüber dem Christentum, insbesondere gegenüber dem liberalen Protestantismus, gleichsam der preußischen Staatsreligion, zur Geltung gebracht.13 In seinem Buch, das in seiner Argumentation gegen die untergründigen antisemitischen Unterstellungen des protestantischen Theologen Adolf von Harnack in dessen Vom Wesen des Christentums (1900) gerichtet war,14 begründet Baeck das „Wesen“ der jüdischen Religion methodisch in hegelscher Manier auf ihrer Geschichte: „Das Wesen eines geschichtlichen Ganzen feststellen, bedeutet, seine Geschichte als Geschichte eines Problems erfassen, in allen seinen Zeitaltern dieses Problem verfolgen und so eine Einheit in der geschichtlichen Entwicklung erkennen.“ (BWJ, XI) Diese scheinbar abstrakt idealistische Definition wird dadurch konkretisiert, dass Baeck den Begriff der Entwicklung als einen „durch Persönlichkeiten bestimmten“ (BWJ, 14) auffasst. Abraham, Moses, Jesaja, Jeremias und Hiob sind die Figuren, deren Leben und Lehren nach ihm das Wesen des Judentums bestimmen. Darin sei dessen grundsätzlich historischer Charakter begründet. Weshalb es nach Baeck auch keine „Sakramente und ihre Mysterien“ im Judentum geben könne, stattdessen aber die „Fülle der Gebote“, die alle auf ein höchstes Gebot zielen: „das Gute tun“. (BWJ, 5) Von Anfang an definiert er so das Judentum als eine Religion der Tat, die sich vom protestantischen Christentum unterscheidet, das im individuellen ‚Glauben‘ und der Gnade Gottes das Heil des Christenmenschen erblickt. Und noch in einem zweiten Punkt unterscheidet das Judentum sich nach Baeck grundsätzlich vom Christentum: Es kenne „keine Dogmen“. Stattdessen gründe sich sein Verständnis von Religiosität einzig auf dem „Dasein eines heiligen Buches“, dessen jeweilige Deutung durch die „mündliche Lehre“ garantiert werde. (BWJ, 15 f.) Auch hierin erweist es sich als seinem Wesen nach historisch bedingt, weshalb Baeck im Widerspruch zum Essentialismus des Christentums konstatieren kann: „Jede Zeit erwarb ihre eigene Bibel.“ Diese Behauptung belegt er mit „jener wundersamen Legende



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von Moses, der den Rabbi Akiba die Thora des Moses erläutern hört und seine eigene Thora nicht wiedererkennt“ (BWJ, 18). Baeck bezieht sich hier – was insgesamt für die Methode seiner Argumentation charakteristisch ist – auf eine haggadische Erzählung, die im Talmudtraktat Menahoth. Von den Speiseopfern 29 b zu lesen ist. Darin wird erzählt, wie Rabbi Akiba, der am Aufstand des Bar Kochba teilnahm und deswegen im Jahr 135 unserer Zeitrechnung von den Römern hingerichtet wurde, seinen Schülern „über jedes Häkchen [in der Thora] Haufen über Haufen von Lehren“ vorträgt. Moses „verstand aber ihre Unterhaltung nicht und war darüber bestürzt. Als jener zu einer Sache gelangte, worüber seine Schüler ihn fragten, woher er dies wisse, erwiderte er ihnen, die sei eine Moshe am Sinai überlieferte Lehre. Da wurde er beruhigt.“15 Das heißt: Die Wahrheit ist Moses am Berg Sinai zwar offenbart worden, aber sie entfaltet sich erst im Laufe der Zeit durch ihre mündliche Kommentierung.16 In diesem Sinne – das liest Baeck aus der von ihm zitierten Legende heraus – ist das jüdische Traditionsverständnis ein grundsätzlich anderes als das des Christentums. Nach ihm ist die Wahrheit zwar in jedem Moment gegenwärtig, doch muss sie je neu aus dem Text der Schrift herausgelesen werden, was ihn schließlich zu der provokativen These führt: „Die Heilige Schrift ist als Ganzes gewissermaßen unausgearbeitet, unbeendet und systemlos.“ Deshalb ist sie „im Judentum das Beständigste und das am weitesten Hinausführende“. (BWJ, 19) Was Baeck in diesen Einleitungsabschnitten seines Buches als grundsätzliche Andersheit des Judentums gegenüber dem Christentum definiert, füllt er im zweiten Teil seiner Abhandlung, in dem deren apologetischer Charakter besonders deutlich wird, inhaltlich aus. Er reklamiert unter Berufung auf Levitikus 19 das Liebesgebot für das Judentum und widerlegt damit das alte, schon bei Hegel formulierte antijüdische Vorurteil, die jüdische Religion sei eine Religion des Hasses und der Vergeltung, wohingegen das Christentum die Religion der Liebe sei. So übersetzt er das Gottesgebot in Lev 19,18, das in Luthers Übersetzung lautet: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ mit den Worten: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.“ (BWJ, 211) In dieser Neufassung wird das zentrale Gebot der Bibel aus seiner christlichen Verengung befreit. Denn in Baecks Auslegung bedeutet es: Du sollst nicht nur den Nachbarn, der dir gleich ist, lieben, sondern auch den Fremdling, wobei er sich auf den Schluss von Levitikus 19 beruft, worin es heißt: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott.“ In diesen Sätzen sieht Baeck nicht nur das biblische Menschenbild, sondern auch den „idealen, wirklichen Begriff der Gesellschaft“ begründet, (BWJ, 226) in dem das Gegenbild zum absoluten Staat der Philosophen gegeben ist.

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So kann er die Akzeptanz des „Nebenmenschen“ in seiner weitesten Bedeutung als „eine der großen Entdeckungen des israelitischen Genius“ feiern. (BWJ, 210) Religion wird hier nicht als eine Angelegenheit des Einzelnen und seiner Innerlichkeit begriffen, sondern als eine „Entscheidung“ für eine gerechte Gesellschaft. „Das Besondere des Judentums ist der Glaube an den Mitmenschen mit seiner Einheit von Forderung und Verheißung, von Tat und Gewißheit.“ (BWJ, 249) Darin bewährt sich nach Baeck die „Heiligung des göttlichen Namens“, das „Kiddush hashem“, (BWJ, 245 u.  ö.) durch den das Volk Israel sich selber heiligt und so zum Vorbild wird für die Menschheit. In ihm findet der „ethische Monotheismus“ (BWJ, 87), als den er das Judentum definiert, seine Erfüllung, in ihm überwindet das „sittliche Prinzip der Minderheit“ die „Siege der Macht“ (BWJ, 306). Mit diesen selbstbewussten Sätzen beendet Baeck seine Abhandlung, die ein lebensnahes Kompendium der jüdischen Religion darstellt und als solches auch von der jüdischen Gemeinschaft in Deutschand aufgenommen worden ist. Die Rechtsstellung der Juden Es gibt einen zweiten umfangreichen Text Baecks, in dem er sich mit der Geschichte des europäischen und insbesondere des deutschen Judentums befasst. In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, in der die Rechte der Juden in Deutschland durch die antisemitische Gesetzgebung des Reiches immer mehr in Frage gestellt wurden, ging es für den Repräsentanten des deutschen Judentums darum, dessen Rechtsstellung nach Möglichkeit zu sichern. Deshalb begann er im Jahr 1938 an einer großen rechtshistorischen Abhandlung über Die Entwicklung der Rechtsstellung der Juden in Europa, vornehmlich in Deutschland zu arbeiten, die er unter Mithilfe zweier Mitarbeiter, der 1942 in Riga ermordeten Soziologin Hilde Ottenheimer und des 1943 in Theresienstadt verstorbenen Rabbiners Leopold Lucas, im Jahr 1941 fertigstellen konnte. Es ist anzunehmen, dass sich Baeck aus Empörung über die Rechtlosigkeit der deutschen Juden, wie sie sich in den Novemberpogromen 1938 manifestiert hatte, dieser umfangreichen  – das fertige Typoskript umfasst mehr als 1600 Seiten – und anstrengenden Arbeit aus eigenem Antrieb unterzog. Er selbst hat geschildert, dass er für die Ausarbeitung der Abhandlung jeden Morgen um vier Uhr aufstand, um sie vor dem eigentlichen Tagesgeschäft zu erledigen.17 Welchen Stellenwert für Baeck das Recht im Rahmen seiner traditionalistisch-konservativen Weltanschauung hatte, hat er noch 1948 in einer Pressekonferenz in Frankfurt erklärt: „Wenn ich auf das Recht verzichte, verzichte ich auf mich selbst.“18 Mit seinem umfangreichen Text wollte er die Gleichberechtigung der Juden als Staatsbürger, die sich erst im Laufe



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langer Jahrhunderte herausgebildet hatte, historisch herleiten und unter den Bedingungen ihrer erneuten Gefährdung bekräftigen. In seinem mit wissenschaftlicher Präzision geschriebenen Werk, das sich auf zahlreiche bibliografische Nachweise und Anmerkungen stützt, untersucht er, wie sich die Rechtsstellung der Juden seit der Antike entwickelt hat, bis ihnen in der Französischen Revolution die völlige rechtliche Gleichstellung gewährt wurde. Des Weiteren geht er dann darauf ein, wie diese in der Folgezeit durchgesetzt und schließlich wieder eingeschränkt wurde. Gegen Ende der Abhandlung bezieht sich Baeck immer deutlicher auf die Gegenwart, wobei er den neugefundenen „Sinn der Geschichte und des Volkstums“ in der Auswanderung der Juden nach Palästina finden zu können glaubt: „Die stärkste, lebendigste Kraft […] wurde der Zionismus, die Idee und die Sehnsucht, ein jüdisches Gemeinwesen im Lande der Väter, in Palästina aufzubauen, Idee und Sehnsucht einer nationalen Wiedergeburt.“19 Baeck war schon immer einer der wenigen liberalen Rabbiner gewesen, die dem Zionismus positiv gegenüberstanden. 1897 hatte er sich gegen eine antizionistische Resolution des „Allgemeinen Rabbinerverbandes“ gewandt, in den zwanziger Jahren gehörte er zum Vorstand des Keren Hajessod, des jüdischen Aufbauwerks in Palästina, und zur Deutschen Sektion der Jewish Agency for Palestine20 und noch im März 1935 unternahm er mit seiner Frau eine Schiffsreise nach Palästina.21 Gegen Ende der dreißiger Jahre war die Auswanderung nach Palästina zu einer der wenigen Rettungsmöglichkeiten geworden, die den deutschen Juden noch offenstanden. So gewann Baecks positive Einschätzung des Zionismus, die auf einer langen Vorgeschichte beruhte, in der Zeit der Abfassung der Abhandlung eine höchst aktuelle Dimension. Nach seiner späteren Erinnerung sei selbst noch in Theresienstadt der „Palästinagedanke geradezu der Elan vital für uns alle“ gewesen.22 Baeck hat in dem schon zitierten Gespräch von 1955 seinen Text als eine Auftragsarbeit für den konservativen Widerstand bezeichnet. Sein Mittelsmann sei ein „bekannter Industrieller in Stuttgart“ gewesen, dessen Namen er nicht nennen könne, der aber inzwischen als Hans Walz, einer der Direktoren der Firma Bosch, identifiziert wurde.23 Über ihn sei er in Kontakt mit dem deutschen Widerstand um Carl Goerdeler gekommen. Diese Äußerung hat Verwirrung und Befremden ausgelöst.24 Zumal inzwischen Aktennotizen von Gesprächen mit der Gestapo aufgetaucht sind, aus denen hervorgeht, dass Baeck Anfang März 1942 von dem „Sturmbannführer SS Regierungsrat Suhr“, damals Leiter des „Referats IV B4 (Juden)“ im Reichssicherheitshauptamt in Berlin, den „Auftrag“ bekam, eine Darstellung der „Geschichte der Juden in Europa“ anzufertigen.25 Sie wurde innerhalb der nächsten Monate, wie die Aktennotizen ausweisen, abschnittweise übergeben. Ende des Jahres 1942, bevor Baeck im Januar 1943 deportiert

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wurde, war die Arbeit abgeschlossen und wurde dem Auftraggeber ausgehändigt. In der Forschung ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass ein so umfangreiches, auf Quellen und Dokumenten basierendes Werk mit wissenschaftlichem Anspruch unmöglich in einem so kurzen Zeitraum erarbeitet werden konnte.26 Allerdings lösen sich die Verwirrung und die Rätsel, die wohl auch dazu geführt haben, dass dieser wichtige und für Baecks Stellung zur damaligen historischen Lage des Judentums hoch signifikative Text bislang nicht veröffentlicht wurde,27 wenn man Baecks eigene Aussagen zur Sache, die er im August 1955 vor Zeitzeugen in London machte,28 genauer liest. Baeck spricht davon, es seien vier Kopien des Typoskripts in fünf Bänden angefertigt worden. Ein Exemplar habe er selbst behalten, habe es dank seiner Haushälterin nach Theresienstadt einschmuggeln können und nach seiner Befreiung mit ins Exil genommen. Ein zweites Exemplar sei durch den national-konservativen Widerstand an ein „Mitglied der Nationalsozialistischen Partei“ weitergeleitet worden.29 Zwei weitere, im Besitz des Stuttgarter Industriellen und eines weitläufigen Verwandten, seien aus Sicherheitsgründen von diesen vernichtet worden. Nun haben sich aber drei Exemplare erhalten, das persönliche des Autors, das heute im Archiv des Leo Baeck Instituts in New York deponiert ist, ein zweites das nach dem Krieg von dem SS Obersturmbannführer Richard Korherr an den Chronisten von Theresienstadt, H. G. Adler, übergeben wurde und das sich heute in der Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte befindet. Hierbei handelt es sich vermutlich um die Kopie, die über den Widerstand an das „aus falsch verstandenem Idealismus fehlgeleitete Parteimitglied“ gelangt ist, womit möglicherweise der SS-Statistiker Korherr gemeint sein könnte.30 Schließlich ein weiteres, das 1990 unter den Papieren des Gestapo-Archivs in Prag wieder aufgetaucht ist. Hierbei kann es sich nur um ein fünftes, von Baeck verschwiegenes Exemplar handeln,31 das als Abschrift und Zusammenfassung der schon vorliegenden umfangreicheren Abhandlung im „Auftrag“ des Leiters des „Judenreferats“ im Reichssicherheitshauptamt angefertigt wurde.32 Wie dem auch sei, auf jeden Fall stellt das fünfbändige Exemplar der ursprünglichen Abhandlung nach seinem frühen Buch Das Wesen des Judentums ein zweites wichtiges Zeugnis für Baecks Bemühungen dar, dem Judentum die ihm gebührende Geltung zu verschaffen. Mit seiner ersten Veröffentlichung hatte er die jüdische Religion gegenüber der christlichen Mehrheitsreligion in ihrer ursprünglichen Reinheit und Größe herausgestellt. In seinem zwischen 1939 und 1941 verfassten Werk wollte er die soziale Geschichte und die daraus sich ergebende rechtliche Gleichstellung der Juden dokumentieren, um für die Zeit nach der Beseitigung der Naziherrschaft einer durch die Propaganda verunsicherten und in Unwissen-



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heit gestürzten Öffentlichkeit die Geschichte und die daraus resultierende soziale Stellung der Juden in Europa in Erinnerung zu rufen. „Dieses Volk“ Als Baeck im Januar 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde, hatte er schon Teile eines dritten Werks zu schreiben begonnen, in dem er sich angesichts der Unmöglichkeit einer praktischen politischen Einflussnahme ganz darauf konzentrierte, die Würde und das menschheitsgeschichtliche Verdienst des jüdischen Volkes herauszustellen. Im „Vorwort“ des Buches berichtet er über dessen Entstehungsumstände: Die beiden ersten Kapitel seien „innerhalb der alten Wohnstätte“ in Berlin-Schöneberg entstanden,33 „die folgenden danach im Lager der Verschleppten, wann immer ein leeres Blatt sich fand und eine stille Stunde sich auftat“. (BDV, 7) Trotz der widrigen Umstände und ohne Rücksichtnahme auf die gegenwärtige verzweifelte Lage der Juden arbeitet Baeck so sub specie aeternitatis noch einmal heraus, was er als den Kern der geschichtlichen Sendung des Judentums ansieht.34 Unter der Hand verwandelt sich ihm sein Text dabei in einen Hymnus auf die Juden als das „Volk von Priestern“, auf das ‚Goj Kadosch‘ der Bibel, womit er die Einzigartigkeit und Exemplarität des jüdischen Volkes kennzeichnet. Daher auch der Titel Dieses Volk. Jüdische Existenz, dessen Formulierung er einer Wendung aus Jesaias 43, 21 entnimmt, die er dem Buch als Motto voranstellt: „…dieses Volk, das Ich mir gebildet | habe, Meinen Ruhm wird es künden.“ Das Demonstrativpronomen hat Verweischarakter. Es deutet auf die Verfolgungsgeschichte des Volkes seit Ägypten und Babylon hin und auf seine Errettung durch Gott, wie sie in Jesaias 43 resümiert wird, das mit der tröstenden Versicherung JHWHs beginnt: „Jetzt aber, | so spricht ER, | Dein Schöpfer, Jaakob, | dein Bildner, Jisrael, | fürchte dich nimmer, | denn ich habe dich ausgelöst, | ich habe dich mit Namen berufen, | du bist mein.“35 So spricht er unter den grundlegend veränderten historischen Bedingungen erneut vom ‚Wesen des Judentums‘. Der Titel seines grundlegenden Buches von 1905 wird in diesem Zusammenhang nicht zufällig ins Gedächtnis gerufen. Hatte er dort das Judentum unter Berufung auf die Thora gegen die Abwertung durch den Protestantismus eines Adolf von Harnack und dessen impliziten Antisemitismus verteidigt,36 so stemmt er sich hier gegen dessen Herabwürdigung und Verächtlichmachung, mehr noch gegen den Versuch seiner Auslöschung aus dem Gedächtnis der Menschheit durch den Nationalsozialismus. So ist es nicht von ungefähr, dass in dem neuen Buch, wie schon der Titel andeutet, das „Volk“ in den Mittelpunkt seiner Reflexionen rückt. Damit wird der Begriff, der in Berlin im Zentrum der nationalsozialistischen Propaganda steht, auch für ihn zur zentralen Kategorie seiner

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„Dieses Volk“

Argumentation, im Gegensatz zu der in Deutschland herrschenden Ideologie jedoch unter biblischer Perspektive. Darauf weist schon der unmittelbare Kontext des als Motto zitierten Verses hin, in dem „der HERR, euer Erlöser, der Heilige Israels“ das Volk daran erinnert, dass er es aus „Babel“ befreit und die Ägypter bei seinem Auszug mit „Wagen und Rosse[n], Heer und Macht“ vernichtet hat, und ihm verspricht, er wolle „ein Neues schaffen“. (Jes 43, 14–20) Für dieses Versprechen einer neuen Welt, in der die Willkürherrschaft der Macht vernichtet sein wird, steht für Baeck das kleine Volk der Juden trotz seiner derzeitigen Bedrängnis und tödlichen Verfolgung ein. Die aus der Bibel und damit aus der Geschichte des Volkes Israel geschöpften Erinnerungen an dessen kollektives Gedächtnis sind auch, so darf vermutet werden, eine Selbstvergewisserung des unter schwierigsten Umständen schreibenden Autors. Wie unzählige Generationen vor ihm beruft sich Baeck für seine heilsgeschichtliche Zuversicht auf die Befreiung Israels aus Ägypten und stellt damit das Ereignis, das alljährlich am Sederabend ins Gedächtnis gerufen und rituell gefeiert wird, in den Mittelpunkt seiner Abhandlung. Durch die Befreiung aus dem Sklavendasein erst habe dieses Volk zu sich selbst gefunden. „An Ägypten und ebenso dann an denen, die ihm glichen, an den Babels und Ninives und Sidons hat es gelernt, sich nicht blenden und betören zu lassen.“ (BDV, 62) Die Aufzählung der weltlichen Reiche, die Feinde Israels waren und längst vergangen sind, soll der Leser in die Gegenwart verlängern und damit auch das ‚Dritte Reich‘ als ein dem Untergang geweihtes staatliches Gebilde ins Auge fassen, während das ‚kleine Volk‘ überleben wird. Und dann spricht Baeck noch deutlicher auf die Gegenwart bezogen: „‚Von Ägypten bis hierher‘ hatte es [das jüdische Volk] immer wieder zu zeigen, ob es imstande war sich abzukehren; in immer wechselnden Gestalten traten die Anziehung und die Verlockung heran. Wohl hat der Widerstand die Opfer verlangt: die vielen, vielen seiner Menschen, die die Gewalttat und der Wahn hinrafften […]. Dieses Volk blieb sich treu. Daß es an sich festzuhalten vermochte, auch das ist seine Geschichte.“ (BDV, 63) Mit diesen Worten stellt Baeck die Selbstbehauptung des Volks der Juden gegen alle vergangene und gegenwärtige Verfolgung in die lebendige Tradition des Judentums. So prägt seine Theresienstädter Erfahrung auch das Bild, das Baeck von den Juden in Dieses Volk zeichnet. Schon mit seiner demonstrativen Formulierung des Titels weist er darauf hin, dass hier die Schlussfolgerungen aus der gegenwärtigen Geschichte des Judentums, die sich für ihn als eine Geschichte des Widerstands gegen die Versuchungen der Macht darstellt, für die Zukunft gezogen werden. So ist es nicht verwunderlich, dass sein Buch, das unter den bedrückenden Bedingungen des Lagers und mit der ständigen Todesdrohung und dem millionenfachen Mord an den Juden vor Augen geschrieben wurde, in einer neuen Bestimmung der Identität dieses seines



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Abb. 32: Moses mit den Gesetzestafeln und Davidsstern. Ersatzgeld 100 Kronen aus Theresienstadt.37

„eigenwilligen Volks“ endet. In ihm sei die „Menschheitspersönlichkeit“ Gestalt geworden; es sei „bedeutungsvoll schon damit, daß es da ist“. (BDV, 148) Das ist Selbstvergewisserung, Ermahnung an sein Volk und Zeugnis für spätere Zeiten in einem. Es ist vor allem ein Hymnus auf das Judentum, damit aber zugleich ein Gegenbild zu dem Volk, das sich als ‚Herrenrasse‘ die Eroberung des europäischen Kontinents zur Aufgabe gemacht hatte. Das jüdische Volk – das hat Baeck aus dessen uralter wie aus dessen jüngster Geschichte erfahren – ist anders: es ist „das verbundenste und das einsamste Volk, das konservativste sicherlich und vielleicht das radikalste, das geduldige und das ungeduldige, das gläubige und das kritische, das Volk der Väter und das Volk der Kinder, das lebensfrohe und das asketische, […] das Volk, das mehr als andere nach außen und weit mehr als andere nach innen horcht und blickt, fast möchte man sagen: Volk des Landes und der Wüste in einem.“ (BDV, 147) Den Ursprung dieser Sonderstellung findet Baeck in der Gestalt des Moses verkörpert, „des Mannes mit dem ägyptischen Namen und der israe­ litischen Seele“. Seine geschichtliche Gestalt lasse sich nicht mehr fassen, wohl aber „die Kraft der Wirkung, die von ihm auf sein Volk ausgegangen ist“. (BDV, 106) Er habe dem Volk dadurch, dass er es aus Ägypten geführt hat, seine Freiheit und durch die doppelte Offenbarung am brennenden Dornbusch und am Berg Sinai seinen Gott gegeben, „Ursprung und Ich und Sein in einem“. (BDV, 111) „So hat er dieses Volk für die Sendung geformt“. (BDV, 108) Hier erscheint Moses als das heimliche Gegenbild zu jenem anderen ‚Führer‘, der mit seinem Sendungsbewusstsein das eigene ‚Volk‘ zu den ungeheuerlichsten historischen Verbrechen antreibt. Damit stilisiert Baeck Moses zur Idealgestalt der jüdischen Tradition,38 der des Weisen, apostrophiert ihn als „Moscheh rabbenu“,als „Moses unser Lehrer“, wie er im Volk genannt wird. (BDV, 110) So ist er der erste und ursprüngliche in der

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Der Lehrer der Menschheit

Reihe der Propheten und Lehrer des Volkes, zu denen sich auch der Rabbiner Baeck noch rechnen darf. Der Lehrer der Menschheit Baecks Wirken in Theresienstadt wie seine dort verfasste Schrift Dieses Volk. Jüdische Existenz haben also einen aktuellen Anlass. Gegenüber dem nationalsozialistischen Vernichtungsfuror besteht er – wie schon in seiner ersten Schrift – auf der in seiner Geschichte manifestierten Einmaligkeit des jüdischen Volkes und seinem historischem Verdienst um die Menschheit. Dabei betont er nachdrücklich, dass die humanitären Werte, das Ethos, das eine friedfertige und gerechte Gesellschaft auszeichnet, in der Offenbarung ihren Ursprung haben, die dem jüdischen Volk am Berg Sinai zuteilgeworden ist. In seiner großen Monographie über Theresienstadt hat Hans Günther Adler die „Sonderstellung“ Baecks, der im Gegensatz zur jüdischen Lagerleitung und dem „Judenältesten“ Paul Eppstein „allgemein geachtet“ wurde, darin sehen wollen, dass er „die Würde des Alters […] zu behaupten“ vermochte. „Baeck verkörperte das Gewissen des Lagers und stand im Zentrum einer sittlichen Widerstandsbewegung gegen die Korruption und Erbärmlichkeit der jüdischen Leitung.“39 Es ist jedoch mehr als „die Würde des Alters“, die Baeck mit seiner Haltung in Theresienstadt verteidigt. Es ist die Würde des Judentums, die er angesichts der nationalsozialistischen Verfolgungen und Bedrohungen behauptet, und damit ist es die Würde der gesamten Menschheit, deren soziale und ethische Werte seiner Auffassung nach zuerst dem Judentum offenbart und in dem von ihm gelebten ‚ethischen Monotheismus‘ lebendig gehalten wurden. Leo Baeck hat in seiner Zeit in Theresienstadt, wie zahlreiche Zeugen bestätigen und wie eine erhaltene Liste der von ihm behandelten Themen belegt, neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit vor allem durch seine Vorträge über einzelne Gestalten der jüdischen Kulturgeschichte und über die Geschichte und Identität des Judentums gewirkt, in die auch seine Überlegungen aus Dieses Volk eingegangen sind. Die von Baeck eigenhändig verfasste Titelliste seiner Vorträge führt neunundzwanzig Themen auf, darunter solche zu großen jüdischen Religionsphilosophen wie Maimonides, Spinoza, Mendelssohn und Hermann Cohen, aber auch zu wichtigen Figuren der allgemeinen Philosophiegeschichte wie Plato und Kant, dann solche zur jüdischen Geschichte von der Zerstörung des ersten Tempels bis zu den Anfängen des 19.  Jahrhundert und allgemein zum „Sinn der Geschichte“ oder zur „messianischen Idee“.40 Die ermutigende und identitätsstiftende Wirkung von Baecks Reden kommt in dem enthusiastischen Zeugnis Ruth Klügers zum Ausdruck, die damals mit ihrer Mutter in The-



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resienstadt gefangen gehalten wurde. Sie berichtet in ihrer Autobiographie weiter leben. Eine Jugend über einen Vortrag, den Baeck an Rosch HaSchana 1943 auf dem Dachboden einer Baracke für die Kinder des Lagers hielt: „Wir saßen zusammengedrängt und hörten den berühmten Berliner Rabbiner. Er erklärte uns, wie man die biblische Geschichte von der Schöpfung der Welt in sieben Tagen nicht verwerfen müsse, weil die moderne Wissenschaft von Millionen Jahren weiß. Relativität der Zeit. […] Ich war ganz bei der Sache, berührt erstens von der festlichen Stimmung, wie wir eng unter den nackten Balken saßen, und zweitens von diesen so schlicht und eindringlich vorgetragenen Ideen. Er gab uns unser Erbe zurück, die Bibel im Geiste der Aufklärung.“41 Das Manuskript einer dieser Reden, die Baeck im Lager an die Häftlinge richtete, hat sich erhalten. Unter dem unauffälligen Titel Die Geschichtsschreibung stellt er zunächst deren zwei idealtypische Ausprägungen vor, „die griechische und, in ihrer Schule die römische auf der einen Seite und die israelitische, die jüdische auf der anderen Seite“. (BW 6, 353) Für die Griechen sei Geschichte die Darstellung von Machteroberung, Machterhalt und Machtverfall, für die Juden, deren Geschichtsbegriff von den Propheten geformt wurde, gehe es dagegen um die Stellung jedes einzelnen Volkes zu „einem allein Bleibenden, einer ewigen sittlichen Gerechtigkeit“. (BW 6, 353) Aus der Identifikation mit den Propheten entwickelt Baeck auch seine eigene Definition der Aufgabe des Geschichtsschreibers. Er müsse „das lebendige Gewissen seines Volkes“ (BW 6, 357) sein, das diesem die je eigene Aufgabe, den Kern seiner Identität aufzuzeigen habe. Als prophetischer Sprecher seines Volkes kommt Baeck dieser „neuen Weise Geschichte zu schreiben“ (BW  6, 357), in seinen Theresienstädter Reden selber nach. Für das Volk der Juden definiert er dieses Ziel allgemein und formal, daher für die nationalsozialistischen Bewacher unangreifbar, für seine Zuhörer jedoch unmissverständlich dahin, dass es ihm aufgegeben sei, „in seiner Sache die Sache der Menschheit zu verteidigen und zu vertreten, für sich zu kämpfen und damit zugleich für die Menschheit zu kämpfen“. (BW 6, 358) Genauso allgemein, aber genauso eindeutig ist Baecks Urteil über das, was dem deutschen Volk zugestoßen ist: „Ein Volk stirbt, wenn seine Aufgabe in ihm erstorben ist. Und es ist das furchtbarste Sterben, wenn dann dem Volk noch eine Machtexistenz bleibt und nun alles, der Kreislauf des Daseins, der Kreislauf der Macht in das Geist- und Sinnlose hineindrängt“. (BW 6, 357) Warum steht das Nachdenken darüber, was ‚Volk‘ ist, bei den geistigen Leitfiguren des deutschen Judentums, bei Sigmund Freud, bei Leo Baeck, bei Martin Buber, seit 1933 im Mittelpunkt ihrer öffentlichen Stellungnahmen zur Verteidigung des Judentums? Und weiter: Warum wird die Gestalt des Moses gerade in der Zeit des Nationalsozialismus so wichtig

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für die Repräsentanten des deutschen Judentums? Sie berufen sich auf den ursprünglichen Bedeutungshorizont des Begriffs ‚Volk‘, der für sie nur zu denken ist in einer Beziehung zu dem einen und einzigen Gott. Damit entlarven sie die Wandlung, durch die das Wort im Deutschland des 19. Jahrhunderts zum zentralen Begriff eines aggressiven Nationalismus wurde, als eine gefährliche Fehlentwicklung, die schließlich zum Völkermord durch den Nationalsozialismus geführt hat. Der Inanspruchnahme für ein nihilistisches Weltbild, in dem es als höchster metaphysischer Wert inthronisiert wird und in dem lediglich das Recht des Stärkeren gilt, stellen sie eine Vision vom ‚Volk‘ als einer harmonischen, friedlichen Gemeinschaft entgegen, die als ‚messianische‘ imaginiert, nur dann verwirklicht werden kann, wenn die Gesellschaft von den am Sinai offenbarten Gesetzen regiert wird. Damit wird auch die auffällige Häufung der Beschäftigung mit Moses als der Gründergestalt des Judentums in diesen Jahren verständlich. Er ist das Gegenbild des Führers der Deutschen, er ist der Schöpfer eines anderen, eines heiligen Volkes. Die legendäre Gestalt des Moses, über deren Geschichtlichkeit Baeck sich keine Fragen stellt, wird so zum Gegenpol des höchst aktuellen Machthabers Hitler stilisiert. Moses als dieser Führer soll als weiser und gerechter Gesetzgeber das von ihm geführte Volk zu einer friedlichen Gemeinschaft formen, die als Vorbild – und das ist seine geschichtliche Sendung – für die gesamte Menschheit dienen kann.

9.  Moses der Führer und das Volk JHWHs Martin Buber in Jerusalem Das Volk, „Station“ auf dem Weg zu Gott Martin Buber, der sich schon als Student für die Sache des Zionismus engagiert und kurzzeitig 1901 auf Theodor Herzls Bitte hin die redaktionelle Leitung des zionistischen Zentralorgans Die Welt übernommen hatte, machte noch im selben Jahr mit seinem von den Schriften Achad Haams inspirierten Leitartikel im ersten Heft der neugegründeten Zeitschrift Ost und West deutlich, dass er dem politischen Zionismus herzlscher Prägung kritisch gegenüberstand. Unter der Überschrift Jüdische Renaissance gab sein Manifest nicht nur dem neu gegründeten Publikationsorgan das Programm vor, sondern verlieh gleichzeitig den Bestrebungen für eine kulturelle Erneuerung des Judentums im deutschen Sprachraum augenblicklich Namen und Richtung. Der dreiundzwanzigjährige Autor, der sich in diesem Artikel zum ersten Mal öffentlich zu Fragen des Judentums äußerte, ordnet dessen kulturellen Aufbruch in die allgemeine Kulturbewegung der europäischen Völker um die Jahrhundertwende ein, die er in neoromantischer Terminologie als „die Selbstbesinnung der Völkerseelen“ (MBW 3, 143) interpretiert. Schon hier, wie in allen späteren Äußerungen zum Thema, definiert er die Eigenart der Judenheit dadurch, dass sie ein ‚Volk‘ sei. Mit Hinweis auf die europäische Renaissance des 15. und 16.  Jahrhunderts möchte er „die neue Schönheitskultur“ auch für das Judentum in Anspruch nehmen, um den beiden gesellschaftlichen Formationen der zeitgenössischen europäischen Judenheit, dem Ghetto, als dem „Zwang einer ihres Sinnes entkleideten Tradition“, aber auch der „armseligen Episode der ‚Assimilation‘“ zu entkommen und so „das einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl der Juden wieder auf den Thron [zu] setzen“. (MBW 3, 146 f.) In seinem Manifest bestimmt Buber die Kunst, insbesondere die jungjüdische Dichtung als wichtigstes Instrument der Wiedergeburt des jüdischen Volkes. Was er hier zunächst allgemein als Ziel der jungjüdischen Bewegung definiert und im Dezember 1901 mit dem Referat über „Jüdische Kunst“ dem 5. Zionistenkongress in Basel vorgetragen hat, bezieht er in einem weiteren Aufsatz mit dem Titel Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung auf seine eigene Stellung innerhalb der jüdischen Renaissance. Auch hier gelingt es ihm, seinen Text an weithin sichtbarer Stelle zu platzieren, als

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programmatische Eröffnung des Jüdischen Almanachs, den der von ihm in Berlin mitgegründete Jüdische Verlag als seine erste Publikation im September 1902 veröffentlicht. Mit der Figur des ‚Schaffenden‘, die er von der des ‚Intellektuellen‘ und der des nur reproduktiven ‚Künstlers‘ abgrenzt, beschreibt er die Rolle, die er selbst bei der erhofften Erneuerung des Judentums erstrebt. In diesem Begriff kommt – wie auch in der enthusiastischen Redeweise des Textes  – der Einfluss Nietzsches zum Ausdruck, dessen Zarathustra sich, wie er in seinen „autobiographischen Fragmenten“ mit dem Titel Begegnung schreibt, des Studenten der Philosophie „bemächtigt“ hatte. (MBW  7, 283)1 Ihm, der in dieser Phase seines Lebens den althergebrachten Glauben verloren hatte, eröffnet sich im jüdischen ‚Volk‘ die neue metaphysische Größe, die für ihn eine Etappe auf dem Weg zu einer erneuerten, individuellen Religion werden sollte. Daher die für seine eigene Entwicklung geradezu prophetischen Sätze: „Aber wer seinen Gott verloren hat, mag tief verwaist sein. Auf seinem neuen Wege kann da das Volk eine erste Station werden.“ (MBW 3, 167) Der Aufsatz Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung ist stark von der ideologischen Terminologie der Zeit geprägt. Buber versucht in ihm die Eigenarten und Gemeinsamkeiten eines Volkes mit den drei Begriffen „Blut, Schicksal, kulturschöpferische Kraft“ (MBW 3, 167) zu umschreiben. Mit der Betonung von „Blut“ und „Schicksal“ übernimmt er Kategorien aus dem damals gängigen Populärdarwinismus, wie sie etwa in den Schriften Houston Stewart Chamberlains zu finden sind. Allerdings geht er in seinen Ausführungen nur auf die produktiven Kräfte des Volkes näher ein, die zu erwecken er den Schaffenden als deren originäre Aufgabe zuschreibt. Dabei grenzt er sich deutlich vom orthodoxen Judentum ab, wenn er fordert, dass der Schaffende „nicht vom seit jeher thronenden, sondern von dem werdenden Gotte das Gesetz empfangen“ solle. Diese abstrakte Zielsetzung konkretisiert er in „zwei Grundmächten des schöpferischen Lebens“, worunter er die Rückkehr in das angestammte Land Erez Israel und die Verbundenheit mit der zweitausendjährigen Leidensgeschichte der Juden versteht. Beides, von ihm als „Wurzelhaftigkeit“ und „gebundene Tragik“ definiert, sollen die Schaffenden in ihrer Kunst dem im Galut zerstreuten Volk vermitteln und dadurch in ihm ein neues Selbstbewusstsein und einen neuen Stolz erwecken. (MBW 3, 168 f.) Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Buber sich in den Jahren um die Jahrhundertwende selbst als ein solcher ‚Schaffender‘ versteht, das heißt als einer, der durch seine Aufrufe, aber auch durch sein dichterisches Wirken das jüdische Volk zu einem neuen Bewusstsein seiner selbst bringen will. Dieses neue Selbstverständnis ist aus dem Chassidismus der osteuropäischen Juden geschöpft, den Buber selbst in seiner Kindheit in Galizien erlebt und in den Büchern Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906) und Die



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Abb. 33: Titelblatt der Erstausgabe von Die Geschichten des Rabbi Nachman, ihm nacherzählt von Martin Buber. Druckanordnung, Schmuck und Einband von E. R. Weiss. Frankfurt/M. 1906.

Legende des Baalschem (1908) dem westeuropäischen literarischen Publikum als neoromantische Märchen vermittelt hat.2 Für ein Publikum junger mitteleuropäischer Juden hat er seine neue Auffassung vom Volk in seinen Drei Reden über das Judentum verkündet, die er auf Einladung des Vereins jüdischer Studenten „Bar Kochba“ 1910/11 in Prag gehalten hat. Sie wurden zur Wegweisung für eine ganze Generation junger Juden aus assimiliertem Milieu, die sich in ihnen ihrer eigenen Identität vergewissert sahen. In der ersten dieser Reden ruft er seine Altersgenossen zur „Selbstbejahung“ auf: „Wenn wir uns so aus tiefster Selbsterkenntnis heraus bejaht haben, wenn wir uns zu uns selbst, zu unserer ganzen jüdischen Existenz Ja gesagt haben,

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Das Volk, „Station“ auf dem Weg zu Gott

dann fühlen wir nicht mehr als Einzelne, dann fühlt jeder Einzelne von uns als Volk, denn er fühlt das Volk in sich.“ (MBW 3, 226) Dieser rhetorisch hoch aufgeladene Appell will den jungen, in der Diaspora zerstreuten Juden, die weder in der Religion noch in „Heimat, Sprache und Sitte“ ein Gemeinschaft stiftendes Band finden, (MBW 3, 222) in dem Bewusstsein eine neue Identität geben, einem Volk anzugehören. Buber bestimmt also von Anfang an die Eigenart der jüdischen Gemeinschaft nicht mit den Begriffen ‚Religion‘ oder ‚Nation‘, sondern mit dem biblischen Terminus ‚Volk‘. Dieser Begriff, der auch in der gleichzeitigen nationalen Ideologie der Deutschen eine wichtige Rolle spielt, wird in all seinen künftigen Reden und Schriften zur zentralen politischen und zugleich religiösen Kategorie seines Denkens. Dabei geht seine Definition dessen, was ein Volk ist, in zwei Richtungen, die beide der religiösen Tradition des Judentums entstammen. In der ersten der Drei Reden über das Judentum definiert er das Volk als den Generationen übergreifenden Zusammenhang verwandter Menschen von den Anfängen bis zur Gegenwart, gründet es also auf dem kollektiven Gedächtnis, das bis in die Zeiten der Patriarchen zurückreicht. „Jetzt ist ihm [dem Juden] das Volk eine Gemeinschaft von Menschen, die waren, sind und sein werden, eine Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen, die zusammen eine Einheit darstellen“. (MBW 3, 223) Damit zielt Buber aber nicht allein auf einen geistigen Zusammenhang, sondern auf einen leiblichen und zugleich geistigen, also einen ganzheitlichen. Diese transgenerationelle Kontinuität versucht er an gleicher Stelle als „Gemeinschaft des Blutes“ zu fassen. Der heutige Leser mag erschrecken, wenn ihm bewusst wird, dass Buber seinen Kulturzionismus auf einer Kategorie begründet, die in der Argumentation des Rassenantisemitismus eine zentrale Rolle spielt. Allerdings bedient Buber sich, wie schon andere vor ihm,3 vor allem einer biblischen Redeweise, wie sie in der kanonischen Schriftstelle Levitikus  17,10 ff. niedergelegt ist, in der das Verbot, Blut zu essen, damit begründet wird, dass es „die Seele alles Fleisches“ sei. Im Blut konkretisiert sich demnach nach Bubers Verständnis der Thora der leiblich-geistige Zusammenhang der Generationen, weshalb Buber es die „wurzelhafte, nährende Macht im Einzelnen“ nennen kann. (MBW 3, 222) Nur als Teil seines Volkes – und auch darin manifestiert sich noch einmal Bubers Verwurzelung in den ältesten Traditionen jüdischer Religiosität – kann der Einzelne seiner Aufgabe gerecht werden. So fasst er die erste Rede in Sätzen zusammen, die in ihrem appellativen Charakter seinen Zuhörern ein neues Gefühl ihrer Identität und ein neues Verständnis ihrer existentiellen Aufgaben vermitteln wollen: „Die Vergangenheit seines Volkes ist sein persönliches Gedächtnis, die Zukunft seines Volkes ist seine persönliche Aufgabe. Der Weg des Volkes lehrt ihn sich selbst verstehen und sich selbst wollen.“ (MBW 3, 223)



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In der dritten der Drei Reden über das Judentum (1911) sowie in der am 10. März 1915 im Berliner Preußischen Abgeordnetenhaus auf Einladung des Kartells Jüdischer Verbindungen gehaltenen Rede Der Geist des Orients und das Judentum, mit der er 1916 den Band Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte eröffnet, zielt Buber auf eine Abgrenzung des Judentums vom europäischen Kulturkreis und damit auf eine Abwehr assimilatorischer Tendenzen unter den jungen westeuropäischen Juden. Diesmal argumentiert er völkerpsychologisch, aber auch hier wieder leitet er die Eigenart des jüdischen Volkes von einem aus der jüdischen Tradition stammenden religiösen Grundsatz ab. Gegenüber der „Vielfältigkeit“ der Welt, die das „Weltbild“ des Okzidentalen bestimme, gehe es dem Juden als Orientalen um die „Einheit in der entzweiten Welt“. (MBW 2.1, 198  f.) Buber nimmt damit eine Grundauffassung des traditionellen Judentums über die Seinsweise Gottes auf: Er ist der Einzige und der Einige. So wird er im „Alenu“, dem Gebet, mit dem jeder askenasische Gottesdienst endet, mit einem Zitat aus dem Propheten Sacharja (14,9) apostrophiert: „Gott wird Herr sein über die ganze Erde; an dem Tage ist Gott der Einige, und sein Name – der Einzige.“4 Zuvor schon hatte Buber in seiner in Florenz 1906 geschriebenen Darstellung der jüdischen Mystik den Begriff der „Einung“ (Jichud) eingeführt und damit auf die chassidische Lehre des Baalschem hingewiesen, nach der Gott durch seine Vereinigung mit der untersten Sefira, die in der Welt verstreuten göttlichen Funken einsammelt und damit deren Vollkommenheit wieder herstellt. (MBW 2.1, 121) In seinen späteren Reden überträgt er diese mystische Lehre von der Wirkung des Gebets auf die tägliche Entscheidung, durch die der jüdische Mensch im Alltag zum „Träger der Welteinung“ wird. „Das Wesen der Welt ist es, das […] in der Entscheidung des Juden zu sich selber, zu seiner Einheit und Ganzheit kommt. Darin offenbart sich nicht bloß einem Menschen die Einheit seines Geistes mit dem Weltgeist, sondern es erfüllt sich die Einheit des Seins.“ (MBW 2.1, 194) Im Kontext seiner Rede vor den in jüdischen Verbindungen organisierten Studenten definiert Buber das „Einheitsverlangen der Juden“ als das charakteristische Merkmal ihrer Völkerseele, durch das sie sich als Orientalen erwiesen und sich von den Europäern unterschieden, als dessen Exponenten ihm die Griechen gelten. So konstruiert er die europäische Geschichte in polaren Gegensatzpaaren: „Der Grieche will die Welt bewältigen, der Jude will sie vollenden; für den Griechen ist sie da, für den Juden wird sie; der Grieche steht ihr gegenüber, der Jude ist ihr verbunden; der Grieche erkennt sie unter dem Aspekt des Maßes, der Jude unter dem des Sinns“. (MBW 2.1, 194) Diese Gegenüberstellung ist keineswegs neutral. Die Sympathie des Redners liegt eindeutig auf der Seite des Judentums, was schon daran abzulesen ist, dass er vom „Griechen“ sagt, er nehme die Welt als gegeben hin, während er dem „Juden“ die Suche nach dem Sinn der Welt

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zuschreibt. Damit erweist das Judentum sich für ihn als die jüngste und wichtigste Schöpfung „der großen religiösen Lehren“, die nach seiner Beobachtung alle vom Orient ausgehen; „das Abendland steht ihnen rezeptiv gegenüber“. (MBW 2.1, 195) Gegen Ende seiner Rede verengt sich die Perspektive Bubers aus der Weite eines weltgeschichtlichen Überblicks über den „Geist des Orients“ auf die Enge seiner kulturzionistischen Gegenwartsziele. Jetzt fordert er „die Einwurzelung im heimatlichen Boden, die Bewährung des rechten Lebens in der Enge, die vorbildliche Gestaltung einer Menschengemeinschaft auf der schmalen kanaanäischen Erde“. (MBW 2.1, 202) Damit hat er die biblische Bestimmung des jüdischen Volks als eines ‚Goj Kadosch‘, als eines heiligen Volks, auf die säkulare Utopie einer kleinen agrarischen Nation eingeengt.5 Die Stimme Gottes Die Gestalt des Gesetzgebers Moses hat von Anfang an eine wichtige Rolle in den kulturellen Aktivitäten des frühen Zionismus gespielt. Während des fünften Zionistischen Kongresses in Basel 1901, auf dem sich unter maßgeblichem Einfluss Bubers und Chaim Weizmanns die jungjüdische Fraktion der „Demokraten“ formierte, fotografierte einer ihrer Mitbegründer, der Grafiker Ephraim Moses Lilien, Theodor Herzl in der Geste des Volksführers Moses. Auf dem Balkon seines Hotels blickt der durch seinen ‚assyrischen‘ schwarzen Vollbart als ‚Orientale‘ charakterisierte Herzl als ‚neuer Moses‘ seherisch in eine ferne Zukunft. Als Markenzeichen der Bewegung war diese Aufnahme unter den frühen Anhängern des Zionismus weit verbreitet. Lilien hat sie zudem als Vorlage für einige seiner grafischen Illus­ trationen zionistischer und biblischer Publikationen benutzt. Der von der jungjüdischen Fraktion 1902 in Berlin gegründete „Jüdische Verlag“, dessen Programm in seinen Anfängen von Buber mitbestimmt wurde, brachte als eine seiner ersten Publikationen 1905 einen Prachtband mit dem schlichten Titel Moses heraus.6 In ihm wird die emblematische Figur des jüdischen Volksführers nicht nur durch die Reproduktion zahlreicher berühmter Gemälde und Plastiken der Moses-Figur gefeiert. Die in ihm gesammelten Aufsätze stellen Moses als sozialen Reformer und Begründer der jüdischen Nation dar, so der Beitrag Achad Haams, des geistigen Vaters der kulturzionistischen Bewegung, und noch deutlicher der Text von Henry George, eines nordamerikanischen Gewerkschaftsführers, der kurz darauf noch einmal als eigenständige Broschüre veröffentlicht wurde.7 Einige Jahre später hat auch Buber, wenn auch eher beiläufig, auf die Bedeutung der Gestalt des Moses für das jüdische Volk hingewiesen. In der Glosse Mose. Drei Zitate, die er im Mai 1916 in seiner neugegründeten Zeit-



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Abb. 34: Theodor Herzl als neuer Moses. 1901 während des Fünften Zionistischen Kongresses in Basel auf dem Balkon des Hotels „Drei Könige“. Aufnahme Ephraim Moses Lilien.

schrift Der Jude einrückt,8 weist er als Kommentar zu drei zeitgenössischen Publikationen auf die Antworten hin, die JHWH im Buch Exodus auf die zweifache Weigerung des Moses gegeben habe, öffentlich in seinem Namen zu sprechen. In der Episode des brennenden Dornbuschs (Ex  4,16) gibt Gott in der Übersetzung Bubers Moses die rätselhafte Anweisung: „Und er [Ahron] soll für dich zum Volk reden, und also wird er dir ein Mund sein und du wirst ihm ein Gott (Elohim) sein.“9 Wenig später, als JHWH Moses den Auftrag gibt, zum Pharao zu sprechen (Ex 7,1), heißt es erneut: „Ich habe dich zu einem Gott über Pharao gesetzt, und Aron dein Bruder wird dein Prophet (Nabi) sein.“ Buber nennt diese Formeln, die schon für die traditionellen jüdischen Kommentatoren Anlass zu unterschiedlichsten Auslegungen boten,10 „ein wundersames Gleichnis“. Er versteht demnach die Rede JHWHs als Metapher und interpretiert sie nach Maßgabe seines Verständnisses von der biblischen Offenbarung: „Elohim heißt die einsprechende Macht, Nabi der aussprechende Mensch, der Mensch, der sich als der Mund Gottes erlebt. Die Stimme redet nicht zu ihm (das Judentum kennt keine private Offenbarung), sondern durch ihn, sie braust durch ihn in die Welt, an das Volk hin.“ In seiner Bibelübersetzung wird Buber ein Jahrzehnt später das hebräische Wort ruach, das die abendländische Bibeltra-

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Abb. 35: Ephraim Moses Lilien: Mose. Illustration in: Die Bücher der Bibel. Überlieferung und Gesetz. Hrsg. von Ferdinand Rahlwes. Nach der Übersetzung von Reuss. Zeichnungen von Ephraim Moses Lilien. Braunschweig 1908.

dition mit „der Geist Gottes“ übersetzt, als „Braus“ wiedergeben: „Braus Gottes brütend allüber den Wassern.“ (Gen  1,2)11 Auch in seiner frühen Kommentierung von Exodus, so steht zu vermuten, bezeichnet er mit dem Verb ‚brausen‘ das Wirken des Geistes Gottes. Moses ist nach Bubers Verständnis erfüllt vom Geist Gottes, der erst durch den Mund seines Bruders Aron vernehmbares Wort wird. Allerdings bleibt auch diese Auslegung zweideutig. Was heißt es, dass sich in Moses der Geist Gottes manifestiert, ohne Wort zu werden? Ist die Gestalt des Moses selbst eine Manifestation, eine Emanation JHWHs? Buber bezeichnet diese nicht sprechende Moses-Gestalt, die nur durch den Mund ihres Bruders Aron sich äußert, als Schöpfer des Volkes Israel: „Mose, der Bildner des Judentums, lehnte das Bild ab, weil er ein Gefäß der Stimme war und sein Geist Gefäße der Stimme zeugen wollte.“ Auch damit belässt er die Bestimmung der Funktion des Moses noch einmal im Bereich des Meta-



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phorischen. Das mythische Bild von den ‚Gefäßen‘, in denen das ‚göttliche Licht‘ oder die Wirkmacht Gottes gefasst ist, entstammt der lurianischen Kabbala. In deren System spielt die Lehre vom „Bruch der Gefäße“ (Schehirat ha Kelim) eine zentrale Rolle.12 Bei der Erschaffung der Welt ergoss sich das göttliche Licht in die dafür von Anfang an vorgesehenen Gefäße, deren schwächste aber zerbrachen, insbesondere das für die unterste Sefira, die Schechina, die göttliche Liebe oder die Verbundenheit mit den Menschen, vorgesehene Gefäß, so dass sich die göttlichen Funken in der ganzen Welt zerstreuten. Man wird Bubers Rede von Moses als „Gefäß der Stimme“, womit er das hebräische elohim wiedergibt, im Sinne der jüdischen Mystik verstehen dürfen. Moses ist für ihn – wie der Urmensch, Adam Kadmon – ein vollkommenes Gefäß Gottes, das zur Mitteilung eines nabi, eines Propheten, bedarf, als der ihm sein Bruder Aron zur Seite tritt. Bubers talmudische Definition der Rolle des Moses führt ihn schließlich zu einer grundsätzlichen Wesensbestimmung des Judentums: Nach ihm garantiert Moses’ Rolle als „Gefäß der Stimme“ das Grundgesetz des jüdischen Monotheismus, wie es im zweiten der Zehn Gebote ausgesprochen ist: „Nicht mache dir | Schnitzwerk noch irgend Gestalt | des, was im Himmel ringsoben, was auf Erden ringsunten, was im Wasser ringsunter der Erde ist, | wirf dich ihnen nicht hin, | diene ihnen nicht“ (Ex 20, 1–5).13 Das vom Menschen gefertigte Bild wird hier als Vergöttlichung eines kreatürlichen Lebewesens verstanden und damit als Konkurrenz zu dem bildlosen, sich nur über die Stimme manifestierenden JHWH. „Das ist der Sinn der Bildfeindlichkeit des Judentums, daß es im Zeichen der Stimme stand“.14 Mit diesem Schlusssatz seines Kommentars begründet Buber den Vorrang des Wortes in der jüdischen Kultur vor dem Bild und damit das, was Sigmund Freud in Der Mann Moses und die monotheistische Religion „einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, strenggenommen einen Triebverzicht mit seinen psychologisch notwendigen Folgen“ genannt hatte. Die Figur des Mittlers: Führer, Prophet, Messias Eine neue, aktuelle Dimension gewinnt die biblische Gestalt des Moses für Buber gegen Ende der Weimarer Republik, als er zum maßgeblichen Berater und wichtigsten Autor des 1931 neu gegründeten Berliner Schocken Verlags wird. Dessen erster Verlagskatalog aus dem Jahre 1932 enthält unter den vierzig angekündigten Titeln allein neunundzwanzig von Martin Buber, darunter die ersten zwölf Bände der Bibelübersetzung und andere zuvor erschienene Werke in Titelauflagen. An den bis zur Liquidierung des Verlags im Jahre 1938 publizierten zweiundneunzig Bändchen der „Bücherei des Schocken Verlags“, in der die gesamte deutsch-jüdische Tradition vor ihrem

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Die Figur des Mittlers: Führer, Prophet, Messias

Untergang noch einmal wie in einer Arche Noah versammelt erscheint, ist er mit neun Titeln beteiligt. Mit diesen Schriften gibt er in den fünf Jahren, die er noch in Deutschland lebte, dem ‚Kulturzionismus‘ eine ganz neue Funktion und Dringlichkeit. Er bewahrt das vom Untergang bedrohte Erbe des deutschen Judentums und versucht damit den in Deutschland verbliebenen Juden Mut und Zuversicht zuzusprechen. In dem 1933 erschienenen Band Kampf um Israel, in dem er seine zwischen 1921 und 1932 geschriebenen Gelegenheitsarbeiten zu Gestalten und Problemen des modernen Judentums versammelt, hat er diese seine Wirkabsicht einleitend als den Versuch definiert, dem „in großer Not“ befindlichen deutschen Judentum durch die Geschichte des „verborgenen Israel“ beizustehen: „So kann eine Wiedererweckung des lebendigen Israel in den bedrängten ratlosen Seelen sie mit einem erneuten Vertrauen zum Weg, mit einem erneuten Mut zum DennochBewältigen des anscheinend aller Bewältigung Widerstrebenden begaben.“15 In demselben Band hat er auch den programmatischen Text mit dem Titel „Biblisches Führertum“ publiziert, in dem er die Moses-Gestalt politisch aktualisiert. In dieser 1929 in München gehaltenen Rede unterscheidet er fünf historische Führertypen im Judentum. Unter den Patriarchen, Richtern, Königen und Propheten ragt Moses, den er „im ursprünglichen Sinn als den Führer“ bezeichnet, als Einzelgestalt hervor.16 Auf ihn treffen alle von Buber herausgearbeiteten Charakteristika der biblischen Führergestalten zu. Sie sind „Schwache und Geringe“, ihr Führertum ist „wider die Natur“.17 Ihr Handeln ist in den meisten Fällen durch „Erfolglosigkeit“ im weltlichen Sinne gekennzeichnet, deshalb vollzieht sich ihr Führertum auch „wider die Geschichte“.18 Alle aber sind Vermittler im Gespräch zwischen Gott und seinem Volk. Buber entwirft sie so nach dem von ihm in seiner Jugend selbst erfahrenen Vorbild der Zaddikim, der chassidischen Gerechten, die als Führerfiguren ihre Jünger mit Gott in Verbindung bringen.19 „Die biblischen Führer sind Entwürfe des dialogischen Menschen, des Menschen, der mit seinem Wesen im Zwiegespräch Gottes mit der Welt steht und diesem Zwiegespräch standhält.“20 Moses, der „das Volk aus Ägypten“ führt und es durch seinen Dialog mit Gott am Sinai erst zum Volk werden lässt, ist demnach für Buber der Archetyp eines Führers, in dessen „großen Erfolg sehr viel Erfolglosigkeit gemischt“ ist.21 Diese „immer größere Geschichtswidrigkeit des Führers im Sinn der uns geläufigen Geschichte“22 wird in der Gestalt des Moses an vielen Stationen des Gangs durch die Wüste sichtbar und in seinem Tod vor Erreichung des Ziels endgültig besiegelt. Damit aber verweist er – wie auch die anderen biblischen Führer – darauf, dass die Vollendung dieser biblischen Figur erst mit der Konzeption des „messianischen“ Führers erreicht wird.23 Denn erst durch ihn wird das Volk in eine friedliche Gemeinschaft unter der unmittelbaren Führung Gottes verwandelt und damit die säkulare Geschichte endgültig aufgehoben.



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In diesen Entwurf dessen, was Buber „primitive Theokratie“ nennt, (MBW 15, 124) geht ebenso sehr seine höchst originelle Lesart der hebräi­ schen Bibel ein wie sein Widerspruch gegen die sozialen und politischen Zustände in Deutschland am Ende der Weimarer Republik. Das wird besonders deutlich an der Beschreibung des ‚Volks‘, das er als den Gegenpol der Führerfigur bestimmt. Von ihm wird gesagt: „Immer wieder fällt das Volk, in der Sprache der Bibel ausgedrückt, von Gott ab. Wir können es aber auch geschichtlich ausdrücken: das Volk zerfällt immer wieder.“ Das historische Gesetz, dass die irdische Herrschaft über ein Volk notwendigerweise vom Zerfall bedroht ist, wird durch die politischen Ereignisse im Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre mit erschreckender Deutlichkeit unter Beweis gestellt. Dieser aktuellen Erfahrung stellt Buber sein aus der Bibellektüre geschöpftes utopisches Modell des „Geschichtswidrigen“ entgegen, das darin besteht, „ohne Herrschaft eine Gemeinschaft aufzubauen“.24 In die in München, der späteren „Stadt des Führers“, gehaltene Rede sind die Erkenntnisse eingegangen, die Buber aus seiner in der Mitte der zwanziger Jahre zusammen mit Franz Rosenzweig begonnenen Übertragung der hebräischen Bibel gewonnen hatte. Sie hatte ihn zu einem der maßgeblichen Bibelwissenschaftler deutscher Sprache werden lassen, seit 1925 im Verlag Lambert Schneider in Heidelberg der erste Band dieser Bibelübersetzung, Das Buch im Anfang, erschienen war. Darin wie auch in den folgenden Bänden versuchen die beiden Autoren, die Thora in ein Deutsch zu übersetzen, das der hebräischen Originalsprache und deren literarischen Eigenheiten möglichst nahe kommt. Gleichzeitig damit beschäftigte sich Buber, der bis dahin vor allem durch seine Arbeiten über das ostjüdische, chassidische Erbe des Judentums bekannt geworden war, intensiv mit der hebräischen Bibel als Zeugnis der Offenbarung und des kulturellen Gedächtnisses des jüdischen Volkes. In einer ersten Skizze hat Buber die Ergebnisse dieser Arbeit in seine Münchener Rede über das ‚biblische Führertum‘ eingebracht. Ausführlicher, wenn auch auf unterschiedliche Weise, stellen die beiden Bücher vom Königtum Gottes (1932) und Moses (1944/1948) den Ertrag der detaillierten Lektüre der biblischen Texte dar. Über das Königtum Gottes, das als erstes eigenständiges Werk Bubers neben vielen Titelauflagen seiner Schriften 1932 im Schocken Verlag in Berlin erschienen ist, sagt Buber, er lege mit ihm „die Ergebnisse vieljähriger Bibelstudien“ vor.25 Seine grundlegende These: „Der messianische Glaube Israels ist […] seinem zentralen Gehalt nach das Ausgerichtetsein auf die Erfüllung des Verhältnisses zwischen Gott und Welt in einer vollkommenen Königsherrschaft Gottes“26, ist von ihm durchaus als politische Aussage gemeint. In seinen Kommentaren zum Buch der Richter, insbesondere zum „Debora-Lied“, die das Buch vom Königtum Gottes ausmachen, betont er ausdrücklich: „Die geschichtsläufige Trennung von Religion und Politik ist

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Philosophenkönige?

hier im realen Paradox aufgehoben.“27 Damit geht er hinter die seit der Aufklärung in den westlichen Gesellschaften weitgehende Trennung von Kirche und Staat zurück, allerdings in einer messianischen Perspektive, die sich im Kontext dieses Buches noch an die ganze Menschheit richtet. Das historische Paradox, das Buber in der biblischen Überlieferung ausmachen zu können glaubt, besteht darin, dass es nach dem Tod des Moses und seines Nachfolgers Joshua keine Institution mehr gegeben hat, die den Bund Gottes mit dem Volk Israel weiterpflegt und verteidigt. An deren Stelle treten die „Richter“, allen voran Debora,28 als „sicherndes Prinzip“, das „mit der Charis als politischer Urwirklichkeit, d.  h. mit dem Unbedingtheitsanspruch des Gotteskönigtums in einem politisch wirksamen Verfassungswillen Ernst macht“.29 Buber findet so schon in der Urgeschichte Israels die Figur des charismatischen Führers vorgebildet, der er selbst sein will. Denn auch er redet, wie er von den Richtern behauptet, „zur Welt von der heilig-politischen Korrelation JHWHs und derer die ihn lieben“.30 Der Kommentar der „primitiv-prophetischen Urkunde“31 des Debora-Lieds im Verbund mit neuzeitlichen soziologischen Kategorien, die Buber aus Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft entlehnt,32 dient ihm dazu, die Subjektivität der eigenen religiösen Erfahrung zu rechtfertigen. Mit „gewagten“ Analogien schreibt er sich selbst „ein prophetisches Ingenium“ zu,33 allerdings im Gegensatz zu dem anderen charismatischen Führer der Zeit, ohne einen Herrschaftsanspruch zu stellen: „JHWH ermächtigt ihn zu tun was er in dieser Stunde zu tun hat; er ermächtigt ihn nicht mächtig zu sein.“34 Philosophenkönige? Bubers letztes großes Werk, das noch im Deutschland des Jahres 1932 erscheinen konnte, ist schon durch seinen äußerst umfangreichen Anmerkungsteil als gelehrte Abhandlung ausgewiesen,35 die sich in erster Linie an Fachkollegen der Bibelwissenschaft und an kritische Bibelleser richtet, an jüdische und nicht-jüdische, wie die Widmung des Buches andeutet: „Den Freunden die mir geholfen haben die Schrift zu lesen Florens Christian Rang und Franz Rosenzweig“. Diesen beiden Toten, einem protestantischen Theologen und seinem jüdischen Mitarbeiter an der Bibelübersetzung, weiß er sich verpflichtet, ihren Zeit- und Gesinnungsgenossen stellt er eine prophetische Gestalt vor Augen, die aus der genauesten Lektüre und Kommentierung der Heiligen Schrift sich für die politische Verwirklichung einer auf dem „Königtum Gottes“ basierenden Gesellschaftsordnung einsetzt. Damit stellt er sich nicht nur in Opposition zum sich 1932 schon abzeichnenden Führerstaat der Nationalsozialisten, sondern auch zum Herrscher eines geistigen Reiches, dessen Autorität aus der Antike abgeleitet ist und



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der bald von dem realen Führer in Berlin überblendet sein wird. 1933 veröffentlicht Kurt Hildebrandt sein umfangreiches Werk Platon – der Kampf des Geistes um die Macht, das im Berliner Verlag Georg Bondi mit dem Signet von Stefan Georges „Blättern für die Kunst“ erscheint und in dem die zahlreichen Äußerungen des George-Kreises zu Platon ihren Höhepunkt und Abschluss finden. Um Platons Vision vom ‚Philosophenkönig‘ zentriert, wird hier ein Herrscher im Reich des Geistes verherrlicht, dessen Züge nur allzu deutlich auf George als den Meister des Kreises verweisen. Aber anders als Buber, dessen Richter-Propheten das „Königtum Gottes“ verkünden, geht es Hildebrandt darum, „die Herrscher im geistigen Reiche zu denken auch als Herrscher im wirklichen Staate“, und damit Platons „Philosophenkönig“ als ideales Vorbild und als Vorläufer des national­sozia­ listi­schen Führers in Berlin.36 Er selbst läuft denn auch schon im April 1933 zur Partei des neuen Machthabers in Deutschland über.37 In den kulturellen Wirren am Ende der Weimarer Republik, die sich unter anderem in der Hinwendung einiger der Jünger Georges zum Nationalsozialismus abzeichnen, gerät auch der Philhellenismus, wie er seit der deutschen Klassik das kulturelle Leben beherrscht hatte, in eine lebensbedrohliche Krise. Paradoxerweise sind es gerade die Schriften des sogenannten Neuhumanismus, die davon Zeugnis ablegen.38 Dessen einflussreichster Vertreter, der Berliner Altphilologe Werner Jaeger, publiziert unter dem Titel Die geistige Gegenwart der Antike 1929 ein Manifest, in dem er das Griechentum nach dem Zerfall des Christentums als „Urform des europäischen Geistes“ definiert.39 In einem Zeitalter, in dem es kein einheitliches Weltbild mehr gebe, müsse man auf „die menschenbildnerischen Kräfte des griechischen Genius“40 zurückgreifen, eine These, die er anschließend in seinem dreibändigen Hauptwerk Paideia. Die Formung des griechischen Menschen ausgeführt hat.41 Jaeger behauptet, dass es die Altertumswissenschaft sei, der in der gegenwärtigen Krise bei der Suche nach politischer und ethischer Orientierung eine Führungsrolle zukomme: „Unser Humanismus ist in hohem Grade ethisch und praktisch gemeint.“ Worin diese Leitfunktion der im 19. Jahrhundert führenden, in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts aber zur Bedeutungslosigkeit abgesunkenen „Klassischen Philologie“ allerdings besteht, bleibt in Jaegers Ausführungen offen. Die Formulierung, mit der er sie begründet, lässt unfreiwillig die Schwäche des Neuhumanismus durchscheinen: „In dieser Lage fällt zwangsläufig der Altertumswissenschaft alle humanistische Initiative zu.“42 Das Wort „zwangsläufig“ fasst die mangelnde Reflektiertheit wie auch die Hilflosigkeit der Neuhumanisten angesichts der politischen Bedrohungen der Zeit wie in einem Brennpunkt zusammen. Schon bevor der Nationalsozialismus das kulturelle Judentum und seine wichtigsten Repräsentanten aus Deutschland vertrieben hat, hatte

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In Palästina

das Griechentum seine beispielgebende Funktion eingebüßt, war zur hohlen Phrase verkommen, dessen neuhumanistische Vertreter weltfremd und verloren den alten Idealen nachhingen. In der deutschsprachigen Öffentlichkeit hatte sich längst ein anderes Griechenlandbild durchgesetzt, das des kriegerischen, Menschen züchtenden Sparta. So mag man es als eine Ironie des Schicksals ansehen, dass auch Werner Jaeger, der so sehr auf die „menschenbildnerischen Kräfte des griechischen Genius“ vertraute und aus seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus keinen Hehl machte, 1936 freiwillig seinen Berliner Lehrstuhl aufgab und in die USA emigrierte. In Palästina Martin Buber hatte so lange wie möglich im nationalsozialistischen Deutschland ausgeharrt, allerdings aus anderen Gründen als Leo Baeck, der andere maßgebliche Repräsentant der deutschen Juden. Während dieser als offizieller Vertreter des liberalen deutschen Judentums und als Vorsitzender der „Reichsvertretung“ sich weigerte zu emigrieren, um den ihm anvertrauten Gemeinden auch in der Extremsituation der nationalsozialistischen Judenverfolgung beizustehen, setzte Buber nach 1933 unter erschwerten Bedingungen die Ausarbeitung und Propagierung dessen fort, was er im Sinne des Kulturzionismus als das eigentliche Judentum verstand. Er trat von seiner Professur an der Frankfurter Universität zurück und baute unter dem organisatorischen Dach der „Reichsvertretung“ das Netz der jüdischen Erwachsenenbildung aus. Unter seiner Leitung veranstaltete die „Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung“ sogenannte „Lernzeiten“, in denen vor allem Multiplikatoren einer jüdischen Erziehung wie Rabbiner, Lehrer und Leiter von Jugendorganisationen auf die Aufgabe vorbereitet wurden, die durch die nationalsozialistischen Ausgrenzungsmaßnahmen tief verunsicherten Menschen in ihrer jüdischen Identität zu festigen oder ihnen eine neue jüdische Identität zu schenken. „Biblischer Humanismus war nach Bubers Worten das Bildungsziel.“43 Buber siedelte erst 1938, als das Ende des deutschen Judentums schon absehbar war, gedrängt von seinen Schülern und Freunden, endgültig nach Jerusalem über. Die ‚Heimkehr‘ in das auch von ihm als ‚Heimatland‘ der Juden verstandene Palästina stellte für ihn einen tiefen sowohl existentiellen wie geistigen Einschnitt dar. Einerseits war er an seinem neuen Wirkungsort keineswegs uneingeschränkt willkommen. Die von ihm mit geplante und mit gegründete Hebräische Universität wies ihm erst nach langen Diskussionen einen Lehrstuhl zu, der keineswegs seinen religionsphilosophischen Interessen entsprach, sondern allgemein der Sozialphilosophie gewidmet war. Darin kommt schon zum Ausdruck, dass Buber auf Grund seiner



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höchst individuellen Auffassung vom Judentum sowohl unter gesetzestreuen Juden wie unter Zionisten als Außenseiter galt. Aber auch von der jüdischen Leserschaft in Deutschland musste er in realistischer Einschätzung der Lage Abschied nehmen. Seine philosophischen und politischen Aufsätze und Grundsatzerklärungen wenden sich, auch wenn er sie weiterhin hauptsächlich in deutscher Sprache verfasst, seit 1938 nicht mehr an sein bisheriges Publikum, sondern vornehmlich an die deutschsprachigen Juden in Palästina. Dabei findet er sich mit seiner religiös bedingten Auffassung von der Aufgabe des ‚Volkes Israel‘ in offensichtlichem Widerspruch zu den sich immer stärker abzeichnenden Tendenzen, einen säkularen jüdischen Staat zu schaffen. Die radikale Wende in Bubers politischem Wirken – weg von Europa hin zu Palästina – wurde durch das bewirkt, was er als „Krisis des Judentums“ und „als eine große Heimsuchung“ erfahren hat.44 Ihren programmatischen Niederschlag hat sie in der Rede Der Geist Israels und die Welt von heute gefunden, die Buber zuerst 1939, also kurz nach seiner Einwanderung, in Jerusalem gehalten hat.45 Der Text beginnt mit der jüdischen Erzählung von den siebzig Engeln, die als Fürsten über die Nationen der Welt herrschen und als solche Kampf und Unruhe unter ihnen stiften. Von ihnen unterscheidet sich das „Volk Israel“ durch seine Sonderstellung, weil es allein „das [Joch] des Königtums Gottes“ trägt. Angesichts des sich abzeichnenden Zweiten Weltkriegs kehrt Buber sich vom europäischen Schauplatz ab. In Anspielung auf die jüdische Legende stellt er fest, dass die anderen Völker ihre „Nation in einen Götzen“ verwandelt haben und „gegeneinander kämpfen, bis sie alle vernichtet sind“.46 Hingegen schreibt er den Juden als Volk eine beispielgebende Sonderrolle zu. Nur sie sind „beauftragt“, für das messianische Ziel der Geschichte, den „Bau des großen Friedens“ zu wirken, nur dieses Volk „war betraut, auf dem Weg dahin voranzugehen“.47 Allerdings, so Bubers Kritik, hat das auserwählte Volk seine hohe Aufgabe nicht erfüllen können. „Das Volk wurde nicht zu einem wahren Volk, das den Völkern der Welt in der Verwirklichung der Wahrheit vorangeht.“48 Wohl gebe es Ansätze eines „brüderlichen Zusammenlebens“, wozu er den frühen Chassidismus sowie die neuen Formen der „Gemeinschaftssiedlung“ in Palästina zählt, aber auch in Erez Israel würden diese Ansätze durch Tendenzen zur „nationalen Assimilation, welche die schlimmste und gefährlichste“ ist, konterkariert.49 Am Ende dieser pathetischen Rede steht die rhetorische Frage: Wie ist die „Konstituierung eines Volkes, dessen König er [JHWH] ist“, möglich, „wenn nicht, indem wir die rechte Gemeinschaft unseres Volkes in seinem Land erbauen“.50 Was hier zunächst als religionsphilosophisch begründetes Programm entworfen wird, hat Buber dann zu Beginn der vierziger Jahre auf die konkrete welthistorische Situation bezogen. Das wird besonders deutlich in

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In Palästina

seiner Rede „Das Volk und der Führer“, die er am 17. Februar 1940 in der Reformsynagoge „Beith Jisrael“ gehalten hat und deren Niederschrift sich im Jerusalemer Martin-Buber-Archiv erhalten hat.51 Immer noch in deutscher Sprache wendet sich der Redner hier an ein Publikum von nach Palästina ausgewanderten deutschsprachigen Juden, um ihnen seine Erfahrung mit dem Leben unter dem Hitler-Regime nahezubringen und daraus – das ist das Erstaunliche – seine Schlüsse für die Situation in Palästina zu ziehen. Ausgehend von seiner Lektüre des „neuen Buchs von Rauschning über Hitler“,52 zeichnet er in der Person Hitlers das Bild eines falschen Führers, dessen Verantwortungslosigkeit, dessen nihilistisches Machtstreben und dessen alle menschlichen Werte leugnende Gewissenlosigkeit das von ihm verführte Volk ins Unglück stürzen werden. An Hitlers Ausspruch, das Gewissen sei „eine jüdische Erfindung“ und „ein Makel wie die Beschneidung“, knüpft er den Hinweis, dass ein Führer ohne Lehre auch ein Führer ohne Gewissen und ohne Wahrheit sei. „Führung ohne Glauben an eine Wahrheit ist keine Führung mehr.“ Hitler folge nur seinem eigenen Machtstreben, er habe sich selbst zum Gott erhoben. „Der werdende Gott ist die schlimmste aller Phrasen.“   Im zweiten Teil seiner Rede zieht Buber in einem überraschenden historischen Vergleich eine Parallele zwischen Hitler und der historischen Figur des falschen Messias Jakob Frank. Wie dieser habe der deutsche Führer „Millionen“ mit den falschen Versprechungen des Erfolgs und der Gesetzlosigkeit verführt. Die Pointe dieses Vergleichs enthüllt sich allerdings erst im Schlussabschnitt seiner Rede. Sie endet nämlich in einer Warnung an seine deutsch-jüdischen Landsleute in Palästina vor der Gefahr, selbst „hitlerisch“ zu werden. „Hitlerisch ist der Mensch, der nur glaubt, es gibt die Macht und den sogenannten Erfolg.“ Damit knüpft er an seine Münchner Rede an, in der er von der weltlichen „Erfolglosigkeit“ der wahren jüdischen Führerfigur gesprochen hatte. Hier nun warnt er davor, dass auch die jüdischen Politiker in Palästina sich allein dem historischen Erfolg verschreiben und den neuen „Baal“ anbeten könnten. Daher seine rhetorische Frage gegen Ende der Rede: „Wollen wir auf die Stirne fallen und anbeten den Gott Erfolg? Oder haben wir einen anderen Gott, der nicht so handgreiflich operiert, der stiller und langsamer arbeitet und auf den man sich verlassen kann?“ Mit diesen Sätzen deutet er auf seine Vorstellung einer „Gestaltung eines Volkslebens auf einer hohen Stufe“ hin, wie er sie in dem Ideal einer Theokratie in seiner Schrift vom Königtum Gottes vorgezeichnet hatte und deren Vision er bei der gegenwärtigen Führung seines Volkes vermisst. So endet die Rede mit den wenig optimistischen Sätzen: „Aber immerhin, es gibt eine kleine Führung im Zionismus. Aber was uns eigentlich fehlt, ist eine jüdische Führung in dieser schwersten Stunde unserer Existenz.“  



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Die Moses-Legende Die Regeln, nach denen der neue von JHWH geführte Staat gestaltet werden soll, führt Buber seinen Landsleuten dadurch vor Augen, dass er die Offenbarung der göttlichen Gesetze am Berg Sinai durch eine detaillierte und intensive Kommentierung des Buches Exodus ins kollektive Gedächtnis der Juden in Palästina zurückzurufen versucht. Im Jahr 1944 – zur gleichen Zeit also, als Leo Baeck in Theresienstadt unter unmenschlichen Bedingungen Dieses Volk konzipiert und darin betont, dass die „Offenbarung“ darin ihre unveräußerliche Wahrheit habe, dass durch sie „das Volk zur heiligen Gemeinde, zum Reiche von Priestern werde“ (BDV, 86 f.) – hat Buber in Jerusalem in seinem mit dem schlichten Titel Moses in hebräischer Sprache publizierten Buch die Besonderheit des Judentums von der Gestalt seiner Gründungsfigur her zu fassen gesucht. In seinem zunächst in deutscher Sprache verfassten Buch, das jedoch 1945 zuerst auf Hebräisch, 1946 auf Englisch53 und erst 1948 im deutschen Original erschienen ist, entwirft er die Gestalt eines von Gott beauftragten, in seinem Namen zu seinem Volk sprechenden Führers. An der Publikationsgeschichte schon lässt sich ablesen, dass es ihm jetzt nicht mehr  – wie noch im Königtum Gottes  – in erster Linie um das deutsche Judentum, um dessen Befindlichkeit und Rettung geht. Jetzt schreibt er, der von seinem Freund Gustav Landauer schon 1911 als „Verkünder des Judentums an die Nationen“ apostrophiert worden war,54 zur Belehrung seiner Landsleute in Palästina und der Juden in der anglophonen Welt, denen er seine in den zwanziger und dreißiger Jahren bei der Übersetzung der hebräischen Bibel ins Deutsche gewonnenen Erkenntnisse vermitteln will. Schon im Vorwort des Buches wird der Gott des Moses in einer Weise apostrophiert, die ihn aufs engste an die Geschichte des Volkes Israel bindet: „Er ist Herausholer, Führer und Vorkämpfer; Volksfürst, Gesetzgeber und der Entsender großer Botschaft; er handelt auf der Fläche der Geschichte an den Völkern und zwischen den Völkern; um Volk ist es ihm zu tun, Volk fordert er an, das es ganz und gar ‚sein‘ Volk, ein ‚heiliges‘ Volk werde, und das heißt, ein Volk, dessen Gesamtleben durch Gerechtigkeit und Treue geheiligt ist, ein Volk für Gott und die Welt.“ (M 12) Diese hymnische Beschwörung der Verbundenheit Gottes mit dem Volk Israel ist weniger als Provokation gemeint, denn als ‚Rettung‘ eines Bedeutungshorizonts, der von Anfang an das Judentum in seiner Eigenart definiert. Buber, der genau wusste, welche rassenideologische Aufladung das Wort ‚Volk‘ im Deutschen damals hatte und wer im Deutschland des Jahres 1944 ‚Führer‘ genannt wurde, nutzt diese Begriffe, um sie ihrem Ursprung zurückzugeben. Gott ist der wahre Führer, verbunden mit seinem heiligen Volk, den Juden. Der

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Die Moses-Legende

„Führer“ in Berlin mit seinem Volk der Deutschen erweist sich lediglich als deren teuflisch verzerrte Fratze. In diesem seinem gewichtigsten Buch verzichtet Buber auf das ‚dichterische Denken‘, das seine Methode in den frühen chassidischen Schriften gewesen ist, und wendet sich, wie schon in Königtum Gottes, der kommentierenden Auslegung der Heiligen Schrift zu. Dabei wird sie, in diesem Fall das Buch Exodus, selbst als literarischer Text analysiert, dessen tiefere Bedeutung vor allem aus ihrer dichterischen Gestaltung abzulesen ist. Auf Bubers literarische Hermeneutik, die er im ersten mit „Sage und Geschichte“ überschriebenen Kapitel seines Buches expliziert, trifft dabei in eminentem Maße zu, dass er die Bibel als Poesie behandelt, die nur unter Berücksichtigung ihrer ästhetischen Verfasstheit angemessen zu verstehen ist. Der Kommentator setzt dabei voraus, „das Geschichtswunder könne von keiner anderen Sprache als von der rhythmisch gegliederten, natürlich in mündlicher Äußerung, erfasst werden“. (M 17) In seinen in Deutschland publizierten Übersetzungen der Thora und der anderen biblischen Bücher hat er versucht, deren poetischen Charakter, der durch die abgeschliffene Lutherübersetzung verblasst war, wieder aufleuchten zu lassen. In dem 1945 zuerst in Palästina veröffentlichten Moses hat er durch seine Interpretation, die auch die literarische Form seines hebräischen Urtextes, des Buches Exodus, berücksichtigt, dessen religiösen Gehalt als Begegnung Gottes mit seinem heiligen Volk sichtbar gemacht. Von Moses vermittelt, entfaltet sich die geheiligte Ordnung der Welt von der Offenbarung am Sinai her. Deren Gesetzen soll das ‚auserwählte Volk‘ die Treue halten. So ist das ganze Buch ein Versuch, das kulturelle Gedächtnis Israels zu erneuern, indem seine Urgeschichte von der Gegenwart her neu gelesen wird, um dadurch das Volk seiner im Laufe der Geschichte immer wieder angestrebten und immer wieder verfehlten Heiligung näherzubringen. Seiner eigentlichen Intention nach hat Buber sich hier vom europäischen Schauplatz, auf dem er bis dahin aktiv war, abgewandt. Er spricht nur noch zu seinem eigenen Volk, dem er selber wie ein Prophet den Weg weisen will zur gerechten und damit Vorbild gebenden Gemeinschaft in Palästina. Indem er „nach dem Traditionskern“ (M 91) der biblischen Überlieferung fragt, sucht er aus ihr eine Handlungsanleitung für den künftigen Aufbau des Staates Israel abzuleiten. Dabei setzt er sich methodisch das Ziel, „zum Geschichtskern der Sage vorzudringen“ (M 23, ähnlich M 20), die nach seiner Auffassung die biblische Erzählung über Moses ist. Was kann das heißen, aus den kanonischen Schriften, hier aus dem Buch Exodus, den geschichtlichen Kern herauszuarbeiten? Darauf antwortet Buber im einleitenden „Sage und Geschichte“ überschriebenen Kapitel seines Buches, dass er nicht mehr nach der Historizität der erzählten Ereignisse frage,



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sondern versuche, aus der sprachlichen Gestaltung der Heiligen Schrift deren Wirkung im Fortgang der Glaubensgeschichte und der Realgeschichte Israels darzustellen. So gilt ihm die Thora vor allem als Dokument des „Geschichtsgedächtnisses des Volkes“. (M 257) Damit fungiert seine Geschichte des Moses im Grunde schon als „Gedächtnisgeschichte“,55 die neben die Titelfigur das Volk als den Träger des kulturellen Gedächtnisses in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rückt. Auf dieser methodischen Grundlage kann Buber behaupten, die in den erzählten Vorgängen „einwohnende Glaubensgeschichte“ sei „in all ihren Zügen authentisch“. (M 24) Im Buch selbst wird JHWH „als erscheinender, anredender und offenbarender Gott“ apostrophiert. (M 12) Der Adressat seiner Anrede ist das Volk Israel, das so in den Mittelpunkt des Interesses rückt und damit zugleich Moses als dessen Schöpfer. Er ist es, von dessen Begegnung mit Gott das Buch Exodus Zeugnis ablegt. Er ist es aber auch, der durch seine Begegnung mit dem Volk Israel die Traditionskette in Gang setzt, durch die das ‚Du‘, mit dem in den Zehn Geboten der Empfänger von Gottes Wort angeredet wird, sich als Ansprache an das ganze Volk richtet, ein Vorgang, der es im Laufe der Geschichte ermöglicht, dass auch Buber die Spuren dieser Begegnung in der Heiligen Schrift wiederfindet. So werden im Verlauf der von Buber entfalteten „Geschichtssage“ (M 90) die Eigenschaften Gottes auf seinen Abgesandten Moses übertragen. So bezeichnet Buber seinen Helden als „beauftragten Führer von Israel“, als einen „Mann von führerischer Art und Bestimmung“ oder als „Führer des Volkes“, spricht ihm also dieselben Eigenschaften zu, mit denen er im „Vorwort“ Gott apostrophiert hatte. (M 127, 101, 265) Das trifft besonders auf das zentrale Kapitel „Die Worte auf den Tafeln“ zu, in dem der Dekalog als „Grundverfassung“ (M 197 f.) Israels gedeutet wird. Die Zehn Gebote in der Form, wie sie in Exodus  20 geschrieben stehen, sind nach Buber notwendig, „damit das zustande komme, was zustande kommen soll, ein Volk, Jhwh’s Volk. Damit es wahrhaft sein Volk werde, muss es wahrhaft Volk werden und umgekehrt; die Anleitung dazu sind die Zehn Worte.“ (M 202) In den ersten drei Geboten setze Gott sich als König über Israel ein, während er in den übrigen, „ethischen“ Gesetzen in der direkten Ansprache an den Menschen die Regeln gebe, durch die „die Konstituierung eines Volkes aus Clans und Stämmen, die Moses unternahm,“ erst möglich wurde. (M 197) Hier ist der Dekalog nicht mehr so sehr das ethische Grundgesetz der Menschheit als ganzer, sondern zunächst und vor allem der partikulare Kodex Israels, der die „Gottesherrschaft über das Volk“ und den „inneren Zusammenhalt des Volkes“ gleichermaßen garantieren soll. (M 199) Bubers Auslegung der Schriftmetaphorik in der Szene, in der Gott am Sinai Moses die Gesetze auf steinernen Tafeln aufzeichnen lässt, enthält Sätze, die – vielleicht gegen die bewusste Absicht ihres Autors – eine Tendenz zur

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Heimat Zion

Säkularisierung des Geschehens der Offenbarung erkennen lassen. Für ihn liegt die göttliche Wirkmächtigkeit des Dekalogs unter anderem auch in dem Medium begründet, in dem der Text überliefert ist. Es ist „das Wundermittel der Schrift, das für das frühe Israel noch vom Geheimnis des Ursprungs, vom Hauch Gottes, der es dem Menschen schenkte, umwittert ist“. (M 204) Hier deutet sich an, dass die Göttlichkeit und weiterwirkende Macht der Zehn Gebote in der Schrift als Medium des kulturellen Gedächtnisses des Volkes zu suchen ist. Das Göttliche wird so zur Metapher für die Wirkmächtigkeit der spezifisch jüdischen Schrifttradition, eine Auffassung, die schon Moses Mendelssohn in Jerusalem oder religiöse Macht und Judentum vertreten hatte. Gleichzeitig damit postuliert Buber, dass sie auch heute noch ihre Gültigkeit für das Volk Israel besitze. Nach ihm sind die Schrifttafeln „‚Tafeln der Vergegenwärtigung‘ (Ex 32,15), deren Amt es ist, was einst zu Worte ward, den Generationen Israels immer neu gegenwärtig zu machen, das heisst: als etwas in dieser Stunde zu ihnen Gesprochenes vor sie zu stellen.“ (M 205) Deutlicher kann er nicht darauf hinweisen, dass er mit seiner Aktivierung der „geschichtliche[n] Erinnerung“ dasselbe Ziel verfolgt, (M 16) wie vor ihm Moses mit seiner Gesetzgebung. Wie der „beauftragte Führer von Israel“ will auch er aus den „Clans und Stämmen“, aus den unterschiedlichen Gruppen der nach Israel Eingewanderten ein Volk formen, ein „heiliges Volk“, das in den Zehn Geboten die „Grundsätze des Gemeinschaftslebens unter der Gottesherrschaft“ findet. (M 182) Heimat Zion Auch hier, wie stets, zielt Bubers Schreiben darauf, den beschwerlichen Weg hin zu einer friedlichen Gesellschaft zu weisen, als deren anfängliche Verwirklichung und als deren utopisches Ziel ihm Zion gilt. Aber kann in einer Zeit, in der die Religion durch die Säkularisierung der westlichen Gesellschaften ihren Einfluss auf die Öffentlichkeit eingebüßt hat, diese messianische Zeit, die Buber in seinem Buch beschwört, auf die sich seine heimliche Sehnsucht richtet, noch in Gott ihren Ursprung finden? Ist die Anleitung zu einem gerechten und friedlichen ‚Gemeinschaftsleben‘, die sich in den Zehn Geboten niedergeschlagen hat, nicht vielmehr – darauf scheint auch Buber mit seinem etwas undeutlichen Hinweis auf die Göttlichkeit der Schrift anspielen zu wollen – der Erfahrung und Weisheit unserer Vormütter und Vorväter zu verdanken? Und ist nicht in der zentralen gesellschaftlichen Bestimmung des Dekalogs, die da lautet: ‚Du sollst nicht töten!‘, das Grundgesetz aller menschlichen Vergesellschaftung gegeben? Ein Jahr bevor Buber die hebräische Version seines Moses-Buches veröffentlichte, hatte er sich mit dem Buch Israel und Palästina. Zur Geschichte



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einer Idee 1944 an die jüdischen Siedler in Palästina gewandt. Wie schon die Einleitung „Zion und die nationalen Ideen“ andeutet, ist hier noch einmal von der Utopie einer „vorbildlichen Gestaltung einer Menschengemeinschaft auf der schmalen kanaanäischen Erde“ die Rede, wie sie Buber schon dreißig Jahre zuvor in Berlin entworfen hatte. Seit 1938, seit seiner Einwanderung in das britische Mandatsland, hatte er in den Vereinen Brith Shalom und Ichud auch praktisch politisch für den Frieden in Palästina zu wirken versucht und in zahlreichen tagespolitischen Stellungnahmen und Zeitungsartikeln in hebräischer Sprache für seine Vision von „einem Land und zwei Völkern“ geworben.56 1944, auf dem Höhepunkt des tagespolitischen Kampfes, versucht er mit dem zunächst in hebräischer Sprache publizierten Band Israel und Palästina seine Aktivitäten von der Geschichte „eines Glaubensgeistes“ her noch einmal zu begründen.57 Die im Untertitel angesprochene „Idee“ trägt bei ihm den Namen „Zion“. Das schon soll – so Buber – darauf verweisen, dass es sich hier nicht um „eine der nationalen Ideen“ handelt, wie sie andere Völker inspirieren. „Zion ist die ‚Stadt des großen Königs‘ (Ps. 42,3), das heißt Gottes als des Königs Israels.“58 Aus dem von Achad Haam inspirierten Kulturzionismus aus Bubers Jugendzeit, der Palästina als „geistiges Zentrum“ für die kulturelle Erneuerung des Judentums verstand,59 ist nach seiner ‚Heimkehr‘ nach Erez Israel bei ihm ein religiöser Fundamentalismus geworden, der die Gebote Gottes unmittelbar als gesellschaftliche Ordnungsprinzipien anerkennt und die seit der Aufklärung geltende Trennung von Politik und Religion, von Öffentlichem und Privatem überspringt. Damit einher geht im neuen kulturpolitischen Programm Bubers eine Verengung der ursprünglichen Botschaft Gottes. Die Zehn Gebote, die den Anspruch erheben, das religiöse und ethische Grundgesetz der ganzen Menschheit zu sein, werden nun auf einen spezifischen „Auftrag“ Gottes an „einen kleinen und verachteten Teil des Menschengeschlechts, auf einen kleinen verödeten Teil des Erdballs“ eingeschränkt.60 So ist das von Gott gegebene Gesetz für Buber „seinem Wesen nach Anweisung für die Begründung einer ‚heiligen‘ Volksgemeinschaft in dem zu besiedelnden Land“.61 Noch immer fasst er die neu zu konstituierende Gesellschaft mit dem in Deutschland inzwischen völlig kompromittierten Begriff der „Volksgemeinschaft“, obwohl er damit, wie das zugehörige Adjektiv ausweist, auf das ‚Goj Kadosch‘ der Bibel anspielt. Er fasst dieses Gesetz als etwas Urjüdisches auf, wobei er die differenzierte Theorie Freuds vom Anteil des Fremden an der Entstehung der jüdischen Religion explizit abweist: „unmöglich, diesen Glauben als vorher und außerhalb bestehend zu konstruieren.“62 Zudem bindet er die Wiederherstellung des ‚Goj Kadosch‘ an den Besitz des Landes in Palästina: „Wie das Volk, um sein volles Leben zu gewinnen, des Landes bedarf, so bedarf das Land des Volkes, um sein volles Leben zu gewinnen.“63

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In diesem Satz ist Bubers geistige Nähe zu den Anfängen des politischen Zionismus immer noch wirksam. Aus den Riten des jüdischen Festkalenders leitet er die Einsicht ab, dass sie aus den kultischen Festen von Ackerbauern entstanden sind. So bleibt die vorrationale Bindung einer gerechten Gesellschaft an den Besitz eines bestimmten, von Gott versprochenen Landes bei ihm weiterhin ein auf die kanonischen Texte sich stützendes, unhinterfragtes Apriori, desgleichen der imperiale Anspruch, dass Palästina nur durch die Besiedlung der Juden „sein volles Leben […] gewinnen“ könne. Der Gedanke liegt nahe, dass sich hier eine uneingestandene Sehnsucht nach der Heimkehr in eine ursprüngliche, nie gekannte Heimat ausspricht. Damit weitet sich die kurze „Einleitung“ von Israel und Palästina zu einem theosophischen und theopolitischen Manifest aus, das seine tagespolitische Aktualität darin findet, dass es sich gegen den säkularen Zionismus wendet, der in Palästina inzwischen in der öffentlichen Meinung vorherrschend ist. An die dortigen Landsleute sich wendend, warnt Buber in prophetischem Ton: „Eine freie Entfaltung der Kräfte ohne einen höchsten Wert […] bedeutet nicht Auferstehung, sondern das Spiel einer gemeinsamen Selbsttäuschung, hinter dem der Tod der Seele lauert.“64 Und er ruft seine Landsleute auf, trotz aller aktuellen Probleme, trotz der „Oberhoheit einer fremden Macht“, womit die Mandatsmacht der Engländer gemeint ist, und trotz der „Koexistenz eines anderen Volkes“, evidentermaßen der Palästinenser, ohne Verzug „eine gerechte Lebensordnung aufzurichten“.65 Diese auf das Volk Israel bezogene, aber zugleich den ganzen Kosmos mit einbeziehende Utopie ruft für seine Warnungen und Mahnungen „die Gewissheit der Geschlechter Israels zum Zeugnis“ auf. Wenn er zur Bekräftigung seines „Glaubens an einen unmittelbaren Zusammenhang von Mensch und Erdreich“, „einen Zusammenhang von kosmisch-ethischem Charakter“, Jesaja (Kap. 24) zitiert,66 dann versetzt auch er sich in die Rolle eines Propheten der kommenden, erst zu errichtenden Herrschaft Gottes in Palästina. So ist es keineswegs befremdlich, dass diese rückwärtsgewandte, am biblischen Mythos als einer unmittelbar übertragbaren politischen Handlungsanweisung sich orientierende Utopie in den aktuellen Tageskämpfen der Zeit in Palästina, in denen arabische Nationalisten, jüdische Zionisten und die englische Protektoratsmacht sich mit Waffengewalt auseinandersetzten, keinen Einfluss gewinnen konnte.

10.  Aboda – Vom Dienst Gertrud Kantorowicz in Theresienstadt und Margarete Susman in Zürich Die Dichterin Während die Schrecken der nationalsozialistischen Verfolgung und des Lagerlebens die meisten Menschen in elementarer Weise auf ihr Judentum zurückverwiesen oder andere zum Abfall bewogen, gab es einige wenige, die auch in dieser existentiellen Krisensituation noch an ihrem homerischen Weltbild festhielten, zugleich aber das ‚Gesetz‘ ihres Judentums in der gesellschaftlichen Praxis zu bewähren suchten. Zu ihnen zählt Gertrud Kantorowicz. Für sie war die Faszination durch die griechischen Statuen stärker als Freiheitsberaubung und menschenunwürdige Behandlung in The­re­sien­ stadt, wohin sie am 6.  Juli 1942, also ein halbes Jahr vor Leo Baeck, mit dem „15. Alterstransport“ verschleppt worden war. Zugleich aber wurde für sie die Bedrohung durch den nationalsozialistischen Terror auch zum Anstoß einer Rückbesinnung auf ihre jüdischen Wurzeln und damit die Bewahrung ihrer Menschenwürde unter den erniedrigendsten äußeren Umständen. Aus wohlhabender jüdischer Familie in Posen stammend – ihr Vetter war der berühmte Historiker Ernst Kantorowicz –, ging sie 1897 nach Berlin, wo sie von 1898 bis 1903 Kunstgeschichte studierte. Da damals Frauen in Deutschland noch nicht promovieren durften, siedelte sie 1903 nach Zürich über, wo sie im selben Jahr mit der Studie Über den Meister des Emmausbildes in San Salvatore zu Venedig ihren Doktortitel erwarb.1 In Berlin hatte sie den Philosophen Georg Simmel kennen gelernt und war mit ihm eine auf seine Bitte hin vor der Öffentlichkeit verheimlichte Liebesbeziehung eingegangen,2 die beide auch vor der mit ihnen befreundeten Margarete Susman geheim hielten. 1906 widmete Simmel beiden Frauen seine Schrift über Die Religion, die als Band 2 der von Martin Buber herausgegebenen Reihe „Die Gesellschaft“ erschien.3 1907 brachte Gertrud Kantorowicz ihre und Simmels Tochter Angela in Italien zur Welt und ließ sie aus Rücksicht auf ihren Geliebten bis zu dessen Tod im Jahr 1918 von fremden Pflege­ eltern großziehen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, den sie im August 1914 im Taumel der allgemeinen Begeisterung als „ein grosses Schicksal“ begrüßt hatte,4 meldete sie sich freiwillig zum Dienst als Krankenschwester

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Die Dichterin

und übernahm ab 1916 die Leitung eines Lazaretts in Konstantinopel. Schon hier hat die Sorge für den Körper, das Interesse an seinem Wohlbefinden und an seiner Ganzheit, ein urbiblisches, also jüdisches und christliches Motiv, das noch ihr Leben und ihre Arbeit in Theresienstadt bestimmen wird, ihren ersten praktischen Ausdruck gefunden. Im Spätsommer 1918 kehrte Gertrud Kantorowicz aus der Türkei zurück und wachte am Krankenbett Simmels bis zu dessen Tod am 26.  September. In ihren Briefen an die Freundin Margarete Susman beschreibt sie, wie Simmel sich allmählich aus dem Leben verabschiedet, zugleich aber seinen Tod grundsätzlich akzeptiert habe: „Sein Leben sei geschlossen, sei übervoll gewesen, es gehöre zu seinem Reichtum, zu seinem Vollkommenwerden, daß das Ende jetzt komme, wo es an der Zeit sei und gegeben sei, was er hätte geben können.“5 Was die junge Frau in diesen Worten als Akzeptanz der Endlichkeit eines in seiner Fülle bejahten Lebens als letztes Vermächtnis Simmels formuliert, verwandelt sich in ihrer eigenen Einstellung in eine grundsätzliche Sinnstiftung durch den Tod. In den beiden Gedichten, die Kantorowicz kurz nach Simmels Ableben schrieb, wird dessen Tod als Erweckungserlebnis zum eigentlichen Leben stilisiert: „Fühltest du da, wie Tod Lebendiges weckte? || Wie lähmend er die leichtgewohnten Schritte | Einwurzeln liess, wie er Dein Sein das schweifte | […] || Mitriss ein Müssendes, ein Ding das litte | das wie geborener Leib in Ängsten reifte | Das wie Erlöstes sich dem Licht erschloss.“6 Nach dem Tod Simmels nahm sie ihre Tochter zu sich und zog mit ihr nach Herrlingen auf die Schwäbische Alb, wo sie sich um den Nachlass des Philosophen kümmerte und seine bislang unveröffentlichten Fragmente und Aufsätze herausgab.7 Ihre evangelisch getaufte und konfirmierte Tochter Angela, die klassische Philologie studiert und das Staatsexamen für das Höhere Lehramt abgelegt hatte, kehrte 1932 zum Judentum zurück und schloss sich einer Gemeinde in der von chassidischen Ostjuden frequentierten Berliner Grenadierstraße an.8 In einem Brief an Edith Landmann, die Freundin ihrer Mutter, betont die junge Frau im Sinne des Zionismus „das grosse Glück, ein Volk zu haben – für mich ganz neu – und aus der Bibel und dem Chassidismus neues Wissen und Aufgabe, alles ist verwandelt und neu“.9 Im November 1933 emigrierte sie mit der eben erst gegründeten Jugend-Alija nach Palästina. Am 26. Dezember 1933 schrieb Gertrud Kantorowicz ihrer Tochter bei Übersendung eines Gedichts auf den Tod ihres Neffen Max Kantorowicz einen Brief, in dem sie sich zu deren neuer Heimat bekennt: „Und Du Geliebtes bist nun in ‚unserem‘ in Deinem Lande, das erst das Land werden muss. Es macht meinen Glauben nicht geringer, dass die Gemeinschaft noch nicht da ist, die Sinn und Recht dieses Volkes zu sein scheint.“10 Angela, die sich jetzt Esther nannte, arbeitete in Palästina als Gärtnerin, wo sie 1936 von ihrer Mutter besucht wurde. Im



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Januar 1944 starb sie in dem von ihr geliebten Land an den Folgen eines Unfalls.11 In Berlin begegnete Gertrud Kantorowicz kurz vor der Jahrhundertwende durch die Vermittlung Simmels auch dem dreißigjährigen Stefan George. Am  11.  November 1897 hatte der Philosoph dem Dichter seine Freundin brieflich vorgestellt „als ein noch junges, ungewöhnlich ernsthaftes Mädchen, dem Höchsten zugewandt, dem Feinsten zugängig, dichterisch sehr begabt u. eine warme Verehrerin von Ihnen“.12 Kurz darauf nahm sie zum ersten Mal an den geselligen literarischen Abenden im Hause des Malerehepaars Sabine und Reinhold Lepsius teil, bei denen der Dichter vor einem kleinen Zirkel von Freunden und Eingeweihten aus seinen Werken vortrug. Schon zehn Tage nach ihrer ersten Begegnung schickte sie George die ersten acht Gedichte ihres Zyklus „Einer Toten“, die sie ein Jahr später im Hinblick auf die Veröffentlichung um acht weitere ergänzte. George publizierte die umfangreiche Gedichtfolge 1899 im IV. Band seiner Zeitschrift Blätter für die Kunst unter dem Pseudonym „Gert. Pauly“, das die Dichterin selbst unter Verwendung des Geburtsnamens ihrer Mutter ihm vorgeschlagen hatte. Es waren die einzigen Gedichte einer Frau, die George jemals in seinen Blättern publizierte. Unabhängig davon, wer mit der im Titel angesprochenen Toten gemeint sein kann, erweist sich schon in diesen in der Nachfolge Hofmannsthals und Georges stehenden Texten die Anerkennung des Todes als Grundlage einer ästhetischen Vollendung des Lebens, wie sie in diesen Versen gefeiert wird.13 Zwischen Stefan George und der jungen, ihn als ‚Meister‘ bewundernden Frau entwickelte sich sehr schnell ein freundschaftliches Verhältnis. Bei seinen Aufenthalten in Berlin wohnte der Dichter zeitweilig im Haus von Kantorowicz im Berliner Westend. Vom November 1903 an, als George den ganzen Winter bei ihr verbrachte, bis Oktober 1911 sind solche Aufenthalte im Haus der Kantorowicz immer wieder bezeugt.14 Aus dieser Zeit eines engen sozialen Umgangs der beiden stammt auch ein erstes, überraschendes Zeugnis über Kantorowicz’ Haltung zum Judentum. Sabine Lepsius berichtet ihrem Mann Reinhold in einem Brief vom 1.  November 1910, man habe „gestern Abend Jom Kippur oder Versöhnungsfest bei Gertrud Kant[orowicz] mit St. George“ gefeiert und der Dichter und seine Freundin hätten sie „nach dem offenbar besonders harmonischen Abend nach Hause“ gebracht.15 Hier ist natürlich nicht von der orthodoxen Begehung eines der höchsten jüdischen Feiertage die Rede, den der gesetzestreue Jude einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang unter Gebet und Fasten in der Synagoge zubringt. Wohl aber scheint Gertrud Kantorowicz, wie viele assimilierte Juden, den religiösen Bräuchen ihrer Herkunft wenigstens im Gedächtnis die Treue gehalten zu haben und dies auch vor ihren eher weltlich gesinnten Freunden und sogar vor dem ‚Meister‘ nicht verborgen zu

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haben. So tut man ihr sicher nicht Unrecht, wenn man sie – mit einem Ausdruck Franz Rosenzweigs – zu dieser Zeit als Anhängerin eines „bloßen […] Jomkippur-Judentums“ bezeichnet.16 Im Jahr 1912 scheint es noch einmal zu einer längeren Begegnung zwischen Kantorowicz und George gekommen zu sein, nach der sie bekennt: „Zum ersten Mal habe ich wirklich ein ganzes Gefühl von ihm. […] Die Größe, die er ganz und gar ist, und den Zusammenhang seines Wesens, die Notwendigkeit und dadurch irgendwie auch überzeugende Wahrheit auch seiner mir fremdsten Vorstellung – das habe ich diesmal ganz rein empfinden können.“17 Erst 1924, nach einer langen Zeit der Trennung, hat sich Gertrud Kantorowicz noch einmal brieflich an den Dichter gewandt und ihn um ein Treffen gebeten. Sie sei sich bewusst, „dass ich zu irgendeiner Zeit zu Ihnen kommen und Rechenschaft über mich und mein Leben ablegen müsste“.18 Die erwünschte Begegnung fand zwei Jahre später statt und hat ihr, wie sie in ihrem Dankesbrief schreibt, „neue Kraft und Sicherheit“ gegeben.19 Umso schmerzlicher musste sie der Tod des ‚Meisters‘ am 4. Dezember 1933 treffen. In einem Brief vom 9. Dezember 1933 schreibt sie an ihre Jugendfreundin Edith Landmann, eine ebenfalls zum Kreis um Stefan George gehörige Philosophin, dies sei „wie das Ende der Welt“ für sie: „Und welche Arbeit gibt es noch, welcher Dienst ist noch zu leisten? Es ist das Ende der Welt […].“20 Das „individuelle Gesetz“. Statuen II Die neue ‚Arbeit‘, in der Gertrud Kantorowicz nach dem Tod Georges ihr Eigenstes gefunden hat, ist ihre Studie Vom Wesen der griechischen Kunst, an der sie seit Mitte der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre gearbeitet hat. Bald nach 1933 brach sie jedoch die Niederschrift dieses Textes ab, ohne dass sie das letzte Kapitel vollendet hatte. Erst im Jahr 1961 wurde er von dem Philosophen Michael Landmann, dem Sohn Edith Landmanns, veröffentlicht.21 In diesem Buch, mit dem sie nach dem Tod Georg Simmels ihre kunsthistorischen Arbeiten wieder aufgenommen hatte, beschwört sie noch einmal, wie vor ihr schon Johann Joachim Winckelmann, die Gegenwart des schönen Körpers in Gestalt der klassischen griechischen Statuen. Aus der konkreten Anschauung der gegenstrebigen Bewegungsabläufe in diesen Figuren, etwa in dem Diskobolos, dem Diskuswerfer des Bild­hauers Myron, den auch Leni Riefenstahl 1936 in der Eingangssequenz ihres Olympiafilms zeigen sollte,22 leitet sie das ab, was sie mit einem von ihr selbst geprägten Ausdruck „das Einverleibte Gesetz“ (K 26) nennt.23 Damit ist gesagt, dass die menschliche Gestalt, wie sie in der Plastik der griechischen Klassik Form geworden ist, als Ausdruck des autonomen Individuums zu gelten hat, das sich selbst von der Anerkennung seiner Leiblichkeit her das Gesetz gibt.



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„Dem einverleibten Gesetz aber unterstehen heißt: auf sich selbst stehen.“ (K 26) Dies nicht als isolierter Einzelner, sondern in der Öffnung zum umgebenden Raum, als Eingefügt-sein in die umgebende Welt. „Ichhaft sein heißt ihnen [den griechischen Gestalten] welthaft sein.“ (K 29) In diesen Sätzen findet sich in gewandelter Form Georg Simmels Versuch einer Definition des „individuellen Gesetzes“ wieder, wie er sie in seiner letzten zu Lebzeiten publizierten Abhandlung unter Berufung auf Goethes Naturanschauung entwickelt hatte. In ihr postuliert der Philosoph, gegen die „fortspukende Normierungsidee des Dekalogs“ wie gegen Kants „kategorischen Imperativ“ gewandt, ein „ideelle[s], lebensbegleitende[s] Sollensgesetz“, aus dem heraus sich jedes Individuum seiner Natur gemäß zu der ihm möglichen Vollkommenheit entwickeln soll.24 Dieses „schlechthin von innen bestimmte Verhalten“, das Simmel auch als „religiöses“ definiert, ist für ihn der Garant dafür, dass der Mensch „das ganze Leben zu leben“ vermag.25 In diesem Begriff, den Kantorowicz wörtlich übernimmt (K 87), ist für die Jüngere auch das enthalten, was ihr in der Gestalt Georges im Leben begegnet ist und was sie mit den Augen des Dichters in den Griechen zu finden meint: der „ganze Mensch“ (K 81 u. 89). In der Zeit, in der sie ihm zum ersten Mal begegnet war und er ihre Gedichte in den Blättern für die Kunst veröffentlicht hatte, entwarf George in Der Teppich des Lebens (1899) eine Vision „des großen Lebens“, die er auf einer idealisierten Anschauung des antiken Griechenland gründet und die er im „Vorspiel“ von einem Engel als Boten verkünden lässt: Eine kleine Schar zieht stille bahnen Stolz entfernt vom wirkenden getriebe Und als losung steht auf ihren fahnen: Hellas ewig unsre liebe.26

Dieser „kleine[n] Schar“ durfte sich seit 1899 auch Gertrud Kantorowicz zurechnen, und so führt für sie noch in ihrer späten Abhandlung über das Wesen der griechischen Kunst eine ganzheitliche Anschauung des Menschen und der Welt von den Griechen über Goethe, dem sie den „Aufbau eines runden gegenwärtigen Daseins“ (K 82) zuschreibt, bis zu Georges in der Nachfolge Hölderlins stehender Charakterisierung der Griechen aus dem „Hyperion-Zyklus“ in Das neue Reich, die sie ohne den Autor zu nennen zitiert: „Die ihr in fleisch und in erz | muster dem menschtum geformt“.27 In diesen Worten komme, so Kantorowicz, „das ganze griechische Dasein“ (K 82) zum Ausdruck. Trotz dieser in vielen Aspekten spürbaren Anlehnung an die Anschauungen ihrer männlichen Vorbilder hat Gertrud Kantorowicz in ihrer Abhandlung etwas ganz Eigenes und radikal Neues geschaffen, indem sie den Leib als das eigentliche Fundament der menschlichen Existenz ernst nimmt und

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damit eine Grenzüberschreitung sowohl gegenüber der griechischen Philosophie wie jüdisch-christlichen Vorstellungen vollzieht. Mit einer bis dahin unbekannten Konsequenz begründet sie ihre Welt- und Lebensanschauung von der Leiblichkeit des Menschen her. Ihr Vorbild und ihre Bestätigung dafür findet sie in der griechischen Kunst: „Was der Grieche tat, war nur, daß er sich ganz auf diese Grundtatsache stellte, daß er wirklich vom Menschenleibe ausging.“ (K 29) Zuvor schon hatte Winckelmann den nackten Körper zum Fundament seiner Kunstanschauung gemacht, und so hebt auch sie hervor, dass es beim „Polykletischen Kontrapost“ dem „Meister“ um „die klarste, einfachst durchschaubare, sozusagen nackteste Darlegung griechischer Leiblichkeit ging“. (K 13) Was für Winckelmann jedoch lediglich ästhetisch von Relevanz war, wird bei Kantorowicz zur Basis des griechischen Seinsverständnisses erklärt und zugleich für das eigene Selbstverständnis in Anspruch genommen. „Leibsein und Menschsein“, so ihre Grundthese, sind bei den Griechen „dasselbe“. (K 29) Und dies bis zur letzten Konsequenz, das heißt unter Einbeziehung der Erkenntnis, dass der Leib sterblich ist und daher das Leben tragisch. „Nun erst wird ganz deutlich, was es heißt, den Leib bejahen […]: Leib sein im unbedingten, im griechischen Sinne heißt die Furchtbarkeit und Größe, heißt die Wahrheit der tragischen Existenz besitzen.“ (K 70) Damit ist gesagt, dass der Einzelne im Angesicht der Vergeblichkeit allen menschlichen Handelns, das als vom Leib abhängiges im Tod sein unabwendbares Scheitern erfährt, seine Größe darin bewährt, dass er diese absurde Situation aushält und sich trotzdem seiner Verantwortung als Mensch und das heißt vor allem seiner Verantwortung für den Mitmenschen und dessen Leiblichkeit stellt. So leitet Kantorowicz in einer entscheidenden Neubestimmung gegenüber der traditionellen Griechenverehrung der Deutschen aus der Anschauung des Leibes das Ethos des Humanen ab. In dem von ihr geprägten Ausdruck „das Einverleibte Gesetz“ ist die Einsicht gefasst, dass man den Körper nur dann als Teil des menschlichen Wesens ernst nimmt, ihn zum Leib macht, wenn man ihn als einen lebendigen Organismus wahrnimmt, der eigenen Gesetzen gehorcht, die von denen des Geistes unabhängig sind, ja ihnen zuwiderlaufen. Zwar hatte schon das Christentum in seiner ‚Frohen Botschaft‘ verkündet, dass „das Wort Fleisch geworden“ sei. (Joh 1,14) Doch dessen Ausrichtung auf den Opfertod Christi hatte einen unvoreingenommenen Blick auf das Phänomen Leib verhindert. Beginnend mit Winckelmann war der Leib – gleichzeitig mit der Ablehnung des Monotheismus und der Propagierung einer ‚natürlichen Religion‘ – zum ersten Mal als das erkannt worden, was er ist: das Gravitationszentrum des Menschen. Die grundsätzliche Anerkennung seiner Andersheit und Unabhängigkeit verbarg sich hier noch in der Rede von der ‚Göttlichkeit‘ des schönen Leibes. In Goethes Betonung der zärtlichen Berührung als der angemessenen Annäherung an



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den Leib des Anderen hatte sich jedoch schon angedeutet, dass nur die liebende Begegnung eine wahre Erkenntnis des Leibes ermöglicht. Während die Klassiker die Schönheit des Leibes nur in der Ausnahmesituation der künstlerischen Darstellung oder des Liebesakts wahrgenommen hatten, fasst Gertrud Kantorowicz dessen Andersheit in der alltäglichen Praxis ins Auge und entdeckt damit seine grundsätzliche Bedürftigkeit, die aus seiner Sterblichkeit herrührt. Sie weiß, dass der Leib der Zuwendung bedarf, der der eigenen Person, mehr noch aber der der Anderen. Diesem Wissen war sie schon in ihrer Tätigkeit als Krankenschwester im Ersten Weltkrieg gefolgt. Nach 1933, vollends aber als sie 1942 nach Theresienstadt verschleppt wurde, war es zur Direktive ihres Handelns geworden, die fortan ihr ganzes Leben beherrschte. Bis zu ihrem eigenen Tod kam sie dem Leib der Anderen unter Hintansetzung der eigenen Schwäche mit Tatkraft zu Hilfe und verstand in der Erneuerung ihres jüdischen kulturellen Erbes diesen Dienst mit dem Begriff ‚aboda‘ als Gottesdienst. Damit erst kommt das voll zum Tragen, was für sie „das Einverleibte Gesetz“ heißt und was ihr das „ganze Leben“ ermöglichen soll: die uneingeschränkte Akzeptanz und das Gutheißen von Scheitern und Tod. „Wir und das Fremde. Und so ganzes Leben wird nur gewonnen, wo wir auch das noch aufnehmen, was uns vernichtet.“ (K 78) Erst in Theresienstadt sollte sich diese tragische Lebensanschauung vollends im Leben bewähren. Jüdische Frauen „Ernst machen mit dem Schicksal, wissen, daß und wie wir in der Welt stehen – daß sie nicht für uns ist und nicht gleich uns, aber immer um uns und in uns und eins mit uns: Ganze Seele, Ganzer Mensch, Ganze Welt sein, in Wahrheit Schicksal haben und Tragik ist das gleiche.“ (K 67) In dieser höchsten, existenziell ernsthaftesten Anschauung des Griechentums, die auf „nichts als die einfache Tatsache [der] Leiblichkeit“ (K 69) des Menschen rekurriert, kommt die Neuartigkeit und Radikalität von Kantorowicz’ Menschenbild zum Ausdruck. Es ist jedoch überraschend und trotzdem nur folgerichtig, dass sie es gleichzeitig von ihrem Verständnis des Judentums her begründet. In der Rezension des Buches Die Frauen der Romantik ihrer Freundin Margarete Susman, die sie in der Zeitschrift Der Morgen. Monatsschrift der Juden in Deutschland im Juni 1930 veröffentlicht, hat sie in der kritischen Betrachtung der Darstellung des Lebens von Dorothea Schlegel, Rahel Varnhagen und anderer Romantikerinnen den Lebensmittelpunkt dieser emanzipierten, aber dennoch von ihrem Judentum geprägten Frauen zu fassen versucht und dabei zugleich ein Idealporträt ihrer eigenen Existenz gezeichnet. Darin deutet sie an, dass die Zentrierung ihrer Auf-

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merksamkeit auf den menschlichen Leib und die daraus resultierende Auffassung von der Tragik des menschlichen Lebens im Zusammenhang „mit dem Wesen der Frau“ zu sehen sei. Denn – so ihre These – „einzig die Frau […] in ihrer Ganzheit kann die Ganzheit des Seins leben“.28 An Dorothea Schlegel hebt sie hervor, dass „deren weibliches Schicksal die ‚liebende Verlegung des eigenen Lebenszentrums in ein fremdes‘ bedingte“. Diese in die Worte Margarete Susmans gefasste Feststellung stellt sie aus ihrer eigenen Perspektive in den Kontext des Judentums: „Ganz tief freilich begründet sich diese Selbstaufgabe erst im religiösen Kern von Dorotheas Natur, die – dem Sinn jüdischen Wesens gemäß – keine Erfüllung in der bloßen eigenen Immanenz finden kann.“29 Auch wenn die Autorin das nicht ausdrücklich sagt, darf man vermuten, dass sie hier eine Parallele zu ihrem eigenen Leben zieht: Wie die aus dem Judentum stammenden Frauen sich den christlichen Romantikern verbunden fühlten, so war es auch dem Sinn ihres „jüdischen Wesens gemäß“ ihr Leben lang dem Dichter Stefan George verbunden zu bleiben und ihre existenziellen Entscheidungen vor der Gestalt des ‚Meisters‘ zu verantworten. Bei Rahel Varnhagen, mit deren „Größe“ sie sich am stärksten identifiziert, stellt sie deren „Mut zum Leiden“ ins Zentrum, betont jedoch zugleich, sie sei „zu jener reinen Freude an der gesetzhaft göttlichen Welt“ gelangt, „die keinem großen Vertreter jüdischen Geistes gemangelt“ habe.30 Hier trägt Kantorowicz an unscheinbarer, aber signifikativer Stelle die Stichworte ihrer eigenen Lebensbewältigung vor. Die von ihr in Anschauung der griechischen Statuen geforderte Einheit des Daseins, die aus deren Betrachtung gewonnene Auffassung des Todes als einziger möglicher Erfüllung eines ganzen Lebens findet sich in ihrer Identifikation mit den Romantikerinnen in der Bestimmung wieder, dass „deren Ganzheit wirklich nur im Tode zu sich gelangt“.31 Hier erweist sich: Das Gesetz, unter das Gertrud Kantorowicz ihr Leben stellt, wird von ihr zwar von den Statuen der griechischen Klassik abgelesen und als „griechisches“ benannt, doch insgeheim stellt es auch eine weitere, durch die Griechenverehrung des deutschen Klassizismus und des George-Kreises hindurchgegangene Verwandlung des Gesetzes dar, auf dessen Befolgung das Judentum sein Gott- und Weltverständnis gründet. Aus ihrer innersten Bindung an das von Gott dem Moses am Sinai geoffenbarte Gesetz, die ihr Handeln auch noch in ihrer radikalen Zuwendung zur Welt, in ihrer Sorge um den Leib und das Leben des Anderen, bestimmt, fließt das ein, was sie selbst bei Caroline Schlegel und Rahel Varnhagen als „Dämonie des Schicksals“ bezeichnet. Auch bei ihr gewinnt „Leben aus eigenem Trieb und Vollendung der eigenen Gestalt […] schicksalhafte Bedeutung“.32 In ihrem Text über die Romantikerinnen hat Kantorowicz den auf Rahel Varnhagen bezogenen Satz formuliert: „Die tiefste Zerrissenheit aber folgt



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aus ihrer religiös-heimatlosen jüdischen Seele selbst, die den Abgrund der Transzendenz mit der Raserei einer ziellos gewordenen Liebe füllen muß.“33 Dieser Satz kann auch als die genaueste Beschreibung ihres eigenen Seelenzustands gelesen werden, nachdem ihr Geliebter seit zwölf Jahren tot war und George sich von ihr distanziert hatte. Nur einmal noch und wiederum im unscheinbaren Rahmen einer Rezension hat sie im Jahr 1936 in der in Zürich erscheinenden Zeitschrift Schweizer Annalen unter ihrem alten Pseudonym „Gert Pauly“ öffentlich über die Spannung zwischen ihrer GeorgeJüngerschaft und ihrem Judentum reflektiert.34 In ihrer Besprechung der im selben Jahr im Berliner Schocken Verlag erschienenen erweiterten Fassung des Buchs von Karl Wolfskehl Die Stimme spricht verhandelt sie die Problematik des sich einem anderen ‚Meister‘ als dem irdischen zuwendenden Dichters. Wolfskehl hatte in seinem Gedichtbuch an die erste Stelle das Gedicht „Herr! Ich will zurück“ gestellt, das mit den Versen beginnt: Herr! Ich will zurück zu Deinem Wort. Herr! Ich will ausschütten meinen Wein. Herr! Ich will zu Dir – ich will fort. Herr! Ich weiß nicht aus und nicht ein! Ich bin allein.35

Diese Verse waren allgemein als Anspielung Wolfskehls auf sein früheres dionysisches, rauschhaftes Dichtertum, als eine Absage an seine Nähe zum ‚Meister‘ und eine Hinwendung zum Gott der Thora verstanden worden. So werden sie auch von Kantorowicz gedeutet: „[…] er, der ein Leben hindurch Stefan George angehört hat, scheint mit diesem Werk seinem Meister abzusagen und damit allem, was er bisher bekannt hat, was er war […]. Nun spricht ein anderer Gott zu ihm“.36 Aber mit dem Zitat der letzten Strophe eines der letzten Gedichte des Bandes, „Aufbruch. Aufbruch III“,37 setzt sie ein ‚dennoch‘, das eine alternative Deutung von Wolfskehls Rückwendung zum Judentum einleitet: „Der Worte Wort, vom Meister stammend“, bleibe für Wolfskehl auch jetzt noch bestimmend. Und so stehe er weiterhin in einer „gefügte[n] schicksalhafte[n] Ordnung“. Das Wort ‚Schicksal‘, dessen Bedeutungsschwere Kantorowicz in ihrer Studie über die griechische Kunst etabliert hatte, wird in dem kurzen Text zur Charakteristik der neuen Daseinsform und Dichtkunst Wolfskehls sechsmal aufgerufen. Es dient dazu, kenntlich zu machen, dass er als Dichter von Anfang an von George geformt worden ist und dass er nur so, „als Stefan Georges Gefährte und Jünger“, den anderen, den „fremde[n] Gott“ hat „entziffern können“. Der aber ist: „Der fast vergessene Gott jüdischer Urzeit, jenseits der Propheten, wie ER in den Büchern Mosis und der Richter uns anrührt, damals, als ER noch bei seinem Volk in seinem Lande war.“38 Das Pathos dieses Satzes bezeugt, dass das Andenken an den Ursprungs-

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gott des Judentums für die George-Jüngerin, die diese Worte geformt hat, zwar aus der fernsten Vergangenheit erinnert werden muss, aber dennoch in der Gegenwart von neuem seine Gültigkeit besitzt. Für sie bleibt er in dieser Zeit der Gottferne trotzdem „der fremde Gott – der Eine, Eifersüchtige, Hinwegführende“, das heißt der biblische Gott. So kann sie, ihre Deutung von Wolfskehls Konversion resümierend, voller Stolz schreiben, dass es „ein tröstlicher Gedanke sein mag, daß der erste wirklich große und neue Dichter, der dem ‚Kreise‘ erwächst, ein deutscher Jude ist. Ein Zeichen dafür, daß die Bindungen der Geschichte ewig sind und auch dann verborgenen Sinn tragen, wenn sie im Sinnlosen zu münden scheinen.“39 Das im Berlin des Jahres 1936, das sich auf die Olympischen Spiele vorbereitet, die dem Nationalsozialismus internationale Geltung verschaffen sollten. Spätestens in dieser Umgebung hat die Jüdin Gertrud Kantorowicz ihre Zugehörigkeit zu diesem Volk und seinem Gott erkannt und anerkannt. Bekenntnis zum Judentum. Briefe an Margarete Susman Gertrud Kantorowicz hat ihr Judentum nie verleugnet, wohl aber hat sie es stets mit äußerster Diskretion und innerer Distanz behandelt.40 Nur im Briefwechsel mit ihrer Freundin Margarete Susman, die schon 1933 in die Schweiz geflohen war und sich in Zürich niedergelassen hatte, spricht sie offen über diese Fragen, die sie beide existentiell betreffen. Schon mit ihrer Wolfskehl-Rezension hatte Kantorowicz auf eine Besprechung von Die Stimme spricht geantwortet, mit der die seit dem Beginn des Jahrhunderts als Lyrikerin und Kulturphilosophin im deutschen Sprachraum präsente Susman ein Jahr zuvor in der Zeitschrift Der Morgen auf Wolfskehls Sinneswandel reagiert hatte. Darin hatte auch sie den neuen Gedichtband als „göttliches Wunder“ gefeiert, zugleich aber auf die in ihm beschlossene „menschliche Problematik“ verwiesen.41 Die Spannung zwischen diesen beiden Polen vermochte sie nur dadurch aufzulösen, dass sie Wolfskehls neues Werk als „Absage an das Vergangene“ interpretierte. Seine Größe bestehe darin, dass in ihm die „Stimme des Einen […] sein ganzes bisheriges Leben wie einen farbigen Nebel zerreißend, in leuchtender Sieghaftigkeit durch es hindurchbricht“.42 Indem Susman mit diesen Worten vom Standpunkt des Judentums aus den Wert von Wolfskehls gesamter früherer Dichtung leugnet, sieht sie sich gezwungen, Die Stimme spricht als „reines unberührbares Wunder“ zu interpretieren, bei dem der Autor nur als Sprachrohr fungiert, an dem er aber als Mensch und Dichter keinen Anteil hat. So werden die Verse Wolfskehls, obwohl sie ganz im Sprachgestus Georges gestaltet sind, von Susman lediglich „als ein Stück gesungener Wahrheit unseres Volkes“ interpretiert.43



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Gegen diese Inanspruchnahme richtet sich der Einspruch der in Deutschland zurückgebliebenen Gertrud Kantorowicz. Indem sie das Weiterwirken des georgeschen Erbes auch in dieser neuen Dichtung betont, bekräftigt sie ihre eigene Zugehörigkeit zur deutschen Tradition, aber zugleich auch ihre Zuversicht, auch in dieser vom Nationalsozialismus bedrohten Kultur ihr jüdisches Erbe zur Geltung bringen zu können. Wie stark dieser Disput im persönlichen Erleben der beiden Frauen verwurzelt ist, zeigt der Briefwechsel zwischen ihnen. Zwar sind nur die Antwortbriefe der Kantorowicz erhalten, doch geht aus ihnen hervor, dass Margarete Susman in den Jahren 1934 und 1935 eine tiefe gesundheitliche und psychologische Krise durchgemacht hat. In einem Brief vom 7. April 1934 zitiert Kantorowicz ein Wort ihrer Freundin, um dem, was diese geschrieben hatte, zu widersprechen: „Und wenn Du sagst: Werk der Hölle, so ist das nicht wahr.“44 Als „Werk der Hölle“ hatte Susman offensichtlich ihre Begegnung mit Karl Wolfskehl bewertet, die sie in eine tiefe Lebenskrise gestürzt hatte. Zum Trost stellt Kantorowicz dieser negativen Deutung der Ereignisse durch die Adressatin, die sie mehrfach mit Kosenamen bedenkt – „Geliebteste Susa“ und „Susali, Geliebtes“ –, ihre Auffassung von dem entgegen, was der Freundin zugestoßen ist: „Du bist durch die Hölle gegangen, weil Du nur so vielleicht das ganze Leben gewinnen konntest wie die grossen Menschen es müssen. Selbst Dante musste es – wie viel mehr die von König David stammen.“45 Unvermittelt spricht sich in diesem Satz der Stolz Gertrud Kantorowicz’ auf ihre Zugehörigkeit zum und ihre Identifikation mit dem biblischen Judentum aus, dessen Leiden sie jedoch in einem eher christlichen Sinne als Weg zur Erlösung versteht. In ihren Lebenserinnerungen berichtet Margarete Susman über ihre nähere Bekanntschaft mit Karl Wolfskehl, der sie in den Jahren 1934 und 1935 mehrfach in Zürich besuchte. In ihren Gesprächen war es offensichtlich seine Gefolgschaft gegenüber dem Geist Georges, die sie mit seiner Hinwendung zum biblischen Gott in seinem jüngsten Werk nicht vereinbaren konnte. In dem Band Die Stimme spricht habe sie „ein leidenschaftliches Ringen um Gott“ gefunden,46 aber nicht verstehen können, wie der Dichter zugleich weiterhin seiner Liebe zur Schönheit der diesseitigen Welt habe treu bleiben können. Dieser von ihr als Zwiespalt empfundene Widerspruch in der Gestalt des von ihr verehrten Dichters muss sie aufs Tiefste verstört und in eine existentielle Krise getrieben haben, die sich schließlich in einer ernsthaften, langandauernden Erkrankung manifestierte: „[…] ich verstand die Dinge, die um mich waren, nicht mehr. Unmittelbar zwischen Leben und Tod, ohne zeitliche Vermittlung lebend, war ich jedem Anspruch des Fast-Blinden [Wolfskehl] ausgeliefert, war ich allem preisgegeben, was von mir gefordert wurde, und brach zuletzt unter dem ungeheuren Anspruch dieses Doppelgeschehens zusammen.“47

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Auf diesen physischen und geistigen Zusammenbruch ihrer Freundin antwortet Kantorowicz mit dem Hinweis auf ihrer beider Zugehörigkeit zum Judentum. Mit Stolz verweist sie darauf, dass die in Deutschland verfolgten und verachteten Juden Nachkommen Davids sind und dass diese uralte Abstammung aus dem Königsgeschlecht ihnen Mut geben müsse, ihr Schicksal zu tragen. Nur so könne Susman das „ganze Leben“ erringen, womit sie auf ihr eigenes, von George herkommendes Lebensideal anspielt.48 Zugleich aber verweist Kantorowicz auf Susmans Einsicht in das Verhältnis des Menschen zu Gott, die sie schon 1929 am Beispiel der biblischen Gestalt des Hiob formuliert hatte. Über ihn hatte Susman in ihrem Essay Das Hiob-Problem bei Kafka notiert: „Aber er erreicht diesen ganz nahen, diesen seinen eigenen Gott nicht – weil er zugleich der unermeßlich Ferne, ihm vollkommen ungreifbare, ist.“49 An diese Aussage erinnert Kantorowicz in ihrem Brief vom April 1934 die Freundin in Zürich: „Denn das eben müssen wir doch von Hiob lernen, dass ihn [Gott] wissen und Sinn wissen heisst: seine Grösse ehren, der wir nicht gleich sind u. die wir daran fassen, dass wir sie nicht begreifen.“50 Ein kurzer Text, den Susman unter dem Titel Trost im Oktober 1934 veröffentlichte, liest sich schließlich wie eine Antwort auf diesen Trostbrief aus Berlin. In ihm geht sie noch einmal auf ihre persönliche Erfahrung ein, zugleich aber spricht sie von der „Sinaioffenbarung“ und enthüllt damit den theologischen Hintergrund, vor dem der Dialog der beiden Briefpartnerinnen sich vollzieht: „Nicht daß wir die Worte verstehen, sondern daß wir sie erfüllen, ist ihr Sinn. Und was es bedeutet sie in Wahrheit zu erfüllen, das erfahren wir wiederum nur in den Augenblicken, in denen der Grund, den wir uns geschaffen hatten, unter unseren Füßen einbricht.“51 Mit diesen Worten pflichtet Susman ihrer Freundin darin bei, dass nicht Erkenntnis, sondern Erfüllung der Thora den Sinn jedes gesetzestreuen Judentums ausmacht. Wenn sie in einem Brief an Wolfskehl vom 27. Dezember 1935 rückblickend ihre Krankheit als „Genesungsprozeß eines Ringens zwischen Leben und Tod, in dem der Tod […] der Mächtigere war“,52 charakterisiert, lässt sie zugleich erkennen, dass sie zunächst sich selbst in der Rolle des von einem übermächtigen Gott geschlagenen und daher grundlos leidenden Hiob sieht, ein Motiv, das sie dann während des Krieges in der Arbeit an ihrem Buch über Hiob auf „das Schicksal des jüdischen Volkes“ übertragen wird.53 In einem Brief vom Juli 1938 hat Kantorowicz noch einmal das Leiden Susmans als von Gott gewollt zu deuten versucht, dieses Mal vor dem Hintergrund der durch den Propheten Jesaja aufgerufenen Gestalt des leidenden Gottesknechtes. In ihrem umfangreichen, zu einem kleinen Traktat sich ausweitenden Brief geht sie zunächst auf das Schicksal ihrer Freundin ein, in einem zweiten Teil, der Mitteilung zweier Gedichte, spricht sie dann von ihrem eigenen inneren Leben, um schließlich das die Freundin verstörende



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Erlebnis mit dem Dichter Karl Wolfskehl neu zu bewerten, indem sie ihn nun als den „Wandernde[n]“ und den „Liebende[n]“ apostrophiert.54 Um die Freundin zu beruhigen, weist sie zunächst noch einmal darauf hin, dass das von Gott verhängte Schicksal unbegreiflich sei: „Was geschieht, in Dir, mit Dir, durch Dich geht nach den dunklen göttlichen Gesetzen vor sich, nur willst Du mehr davon wissend ins Licht heben, als gewährt ist.“ Mit der Evokation des messianischen Leidensmannes bei Deuterojesaja, von dem in der Übersetzung Martin Luthers gesagt wird: „Darum dass seine Seele gearbeitet hat | wird er [der Knecht Gottes] seine Lust sehen | und die Fülle haben“,55 versucht Kantorowicz ihre Freundin ein weiteres Mal zu ermutigen: „Denn wessen Seele hätte gearbeitet wenn nicht die Deine? Sie wird ihre Lust sehen.“ Sie begründet diese Verheißung mit einem Verweis auf „dies wunderbare Wort: ‚Awodah = Dienst u. Arbeit‘“. Durch die zweifache Übersetzung des hebräischen Begriffs lässt sie erkennen, dass sie weiß, dass aboda im ursprünglichen Kontext den Gottes- und Tempeldienst meint, inzwischen aber vor allem im osteuropäischen Chassidismus für die Gott dargebrachte Arbeit im Leben des Alltags steht. Im Babylonischen Talmud (Traktat Aboth I. 2) ist überliefert: „Simon der Gerechte war einer der letzten der Gross-Synode; er tat den Ausspruch: Auf Dreierlei hat die Welt Bestand: auf der Thora, dem Gottesdienste (aboda) und den Liebeswerken (gemillut chassadim).“56 Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem wurde der Begriff aboda dann auch über den sakralen Bereich hinaus auf die als Gottesdienst vollzogene Fürsorge für die Welt und den Menschen übertragen und ist so in die Weisheitslehre der Chassidim eingegangen, wie sie durch Martin Buber in Westeuropa bekannt gemacht wurde. In seiner 1908 publizierten Legende des Baal-Schem steht aboda für „das Gottdienen in der Zeit und im Raume“. Sie ist „das mystische Opfer“, durch das der gesetzestreue Mensch seine tägliche Arbeit in Gottesdienst verwandelt: „Alles ist Gott. Und alles dient Gott.“ Als Beleg führt Buber die Legende an, in der von einem Zaddik, einem chassidischen Heiligen, gesagt wird: „Bei ihm ist Lehre und Gebet und Essen und Schlafen, alles Eines, ein Dienst“.57 Was bei Buber im erzählerischen Kontext der ostjüdischen Legende gesagt wird, überträgt Kantorowicz für ihre im westlichen Kulturkreis beheimatete Freundin in die abstrakte Begrifflichkeit der Lehre: „Im Hebräischen nämlich steht das gleiche Wort für ‚Arbeit‘ wie für ‚Dienst‘ – grade sakraler Dienst. Und damit wäre dies Wort nicht nur von der Seele des Menschen gesagt […] sondern es spricht von Geschehen, Seiendem und Wirkendem; Zusammentreffen von Göttlichem und Menschlichem.“58 Für Kantorowicz bezeichnet das Wort aboda mithin die Heiligung der Mühen, die jeder Fromme nach der chassidischen Lehre, wie Buber sie formuliert, in seinem Alltag auf sich nehmen muss. Kantorowicz, aus Posen stammend, war von früh auf mit der chassidi-

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schen Tradition und ihrer Erneuerung durch Buber vertraut. In einem Brief an Susman aus dem Jahr 1918 oder 1919 zitiert sie aus den Geschichten des Rabbi Nachman,59 also aus Bubers erster chassidischer Veröffentlichung, „ein Wort“, durch das auch der „böse Trieb“ als Teil des „vollkommenen Dienstes“ verstanden wird.60 Schon damals also hat sie im Dialog mit Susman die chassidische Legende und deren Gott- und Weltverständnis zur Deutung des menschlichen Tuns herangezogen und schon damals bezeichnet sie die Gott dargebrachte Arbeit des Menschen als „Dienst“. In der Auslegung von „Aboda“ in ihrem Brief vom Juli 1938 sind die drei entscheidenden, die Welt erhaltenden Werke nicht mehr unterschieden. Sie sind in der Welt der Moderne eins geworden: das ‚Gesetz‘, der ‚Dienst‘ als dessen Erfüllung und schließlich die ‚Arbeit‘ als dessen Praxis in der Verantwortung für den Anderen. In dem Brief, auf den Kantorowicz antwortet, hatte Susman offenbar Gottes Befehl an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern, als „Gnade“ bezeichnet, weil er „die Botschaft so deutlich vernehmen durfte“. Dem widerspricht Kantorowicz vehement, nennt Gottes Befehl „grauenhaft – böse – sinnlos“, weil er sich „gegen alles Gottgegebene menschliche Gesetz“ richte. Mit dieser ihrer Unterscheidung zwischen dem „großen“, unbegreif­lichen Gesetz Gottes und dem von ihm geoffenbarten „menschlichen“ Gesetz steht eine Neudeutung dieses Begriffs – einer Übersetzung des hebräischen Wortes Thora – im Mittelpunkt von Kantorowicz’ Ausführungen. Er wird in dem kurzen Abschnitt des Briefs an Susman nicht weniger als sechsmal wiederholt: „Es ist zu schwer in unserer Zeit, weil eben die Führung durch dies grössere Gesetz fehlte, von dem man wohl getragen sein muss, um es zu hören. Dann bleibt für den treusten Dienst, der das Gesetz vollführen will, grade nur die heilige Verantwortung […] er muss das göttliche Gesetz prüfen, und es lässt sich nicht prüfen. Es ist zu viel auf den Menschen gelegt; er kann dem nicht genügen, weil er das ja gar nicht darf, weil er ja auf sich hören muss statt hin zu lauschen.“61 In diesen Worten findet die durch das Vorbild Georges und die Philosophie Simmels verwandelte Auffassung des jüdischen Gesetzes ihren Ausdruck. Demnach ist es für den Menschen in der Moderne unmöglich geworden, das von Gott geoffenbarte Gesetz wahrzunehmen und zu erfüllen. Stattdessen soll er „auf sich hören“, also auf das „individuelle Gesetz“ und die Verantwortung auf sich nehmen für sich und die Anderen. Erfüllung des „Gesetzes“ als „Dienst“ am Menschen, das ist das Programm, nach dem Kantorowicz seit 1933 bis zu ihrem Tod in Theresienstadt handelt. Schon in ihrer Arbeit Vom Wesen der griechischen Kunst hatte sie diese Weltsicht mit Bezug auf eben diese beiden Begriffe „Dienst“ und „Gesetz“ „tragisch“ genannt: „Die ganze erlebte menschliche Wirklichkeit ist tragisch; sagt man ja zu ihr, will man das ganze Leben, die ganze Fülle der Welt und unsere Einfügung in die Welt, unsere Beherrschung und



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unsere Unterwerfung, unsern Dienst am Gang ihrer Gesetze […].“ (K 87 f.) So wird man das, was sie 1938 ihrer Freundin als Trost zuschreibt, auch als Sinngebung ihrer eigenen Arbeit im nationalsozialistischen Deutschland lesen dürfen: Sorge für den Menschen als Gottesdienst. Allerdings ist der zitierte Brieftext auch von der spezifischen Problematik im Selbstverständnis der deutschen Jüdin gezeichnet. In dem von ihr zitierten Spruch aus Deuterojesaja, der durch das Verb „gearbeitet“ erst die Assoziation zum chassidischen Bedeutungsfeld „Awodah = Dienst u. Arbeit“ heraufruft, ist nur in der deutschen Übersetzung Martin Luthers von „Arbeit“ die Rede. Im hebräischen Text steht an dieser Stelle ‚amal/Mühe, Pein‘, und so übersetzen Buber/Rosenzweig die Stelle auch ganz anders: „Der Pein seiner Seele los | wird ers einsehn, | wird sich sättigen“.62 Die Konstruktion einer Welt- und Lebensanschauung, durch die Kantorowicz die alltägliche Arbeit, die Fürsorge für Mensch und Welt, in Gottesdienst verwandelt, wird ermöglicht durch die Beziehung der beiden Zitate aufeinander. Doch nur in der irreführenden deutschsprachigen Übersetzung Martin Luthers verweist der Spruch des Deuterojesaja auf den chassidischen Begriff aboda. Die Argumentation der Briefschreiberin beruht demnach auf einer für die deutschjüdische Geisteswelt symptomatischen Kontamination der Sphären. Im zweiten Teil des Briefs stellt Kantorowicz den Gang ihres geistigen Lebens anhand zweier ihrer Gedichte dar, eines älteren, das die Suche der Seele nach ihrem Leib schildert und mit einer verfehlten Begegnung endet: die Seele „sah nicht ihren Leib und glitt vorüber“.63 Dem stellt sie nun ein zweites Gedicht aus der Zeit der Abfassung des Briefs zur Seite,64 in dem sie die „Stunde“ evoziert, in der die Vereinigung des Leibes mit der Seele Gestalt gewonnen habe. Diese Stunde ist ihr „Leib und Gnade […] Gesang und Atemholen Tod und Werde | Trink Deine Seele ein! Dein ist die Erde.“ In diesem Bild feiert die Sprecherin in hymnischen Tönen die Wiederentdeckung der anderen, der seelischen Dimension des Menschen. Zuvor hatte sie vor allem ihre Einsicht in die grundlegende existentielle Bedeutung des menschlichen Körpers und damit die Geburt einer ihr ganz eigenen Welt- und Lebensanschauung betont, die sie in dem unvollendeten Schlussabschnitt ihres Werks Vom Wesen der griechischen Kunst zum ersten Mal ins Wort gefasst hatte: „Welches Gefühl des Leibes, welche Ehrfurcht vor ihm, welche Liebe zu ihm, welcher glühende Eros, welche Verzauberung durch seine Herrlichkeit, welches Wissen um seine Göttlichkeit mag notwendig gewesen sein, um jene Entscheidung zu treffen, um die Wahrheit und Wirklichkeit des Daseins zu wählen, um als ganzer Mensch leben zu wollen.“ (K 88) Nirgendwo sonst in der deutschen Literatur seit Winckelmann ist die metaphysische Bedeutung des menschlichen Leibes in derart triumphierende Worte gefasst. In ihnen, die ganz und gar vom Erlebnis des ‚Meis-

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ters‘ George durchtränkt sind, ist allerdings heimlich auch schon die andere Weltsicht präsent, die vom Chassidismus buberscher Prägung herrührt, in dem das Seelenleben eine zentrale Rolle spielt. Nach 1933, in einer Zeit der höchsten geistigen und dann auch physischen Bedrohung durch den Nationalsozialismus, hat ihr jüdisches Erbe für Kantorowicz neue Aktualität und neue Bewusstheit gewonnen. Das feiert das Gedicht von 1938 als Vereinigung von Leib und Seele und damit als die Vollendung einer ganzheitlichen Existenz und einer souveränen Weltsicht. Ihre deutsch-jüdische, ihre tragische Auffassung vom Leben, das, was man in ihrer Terminologie „das individuelle Gesetz jüdischer Frauen“ nennen könnte, kommt darin zum Ausdruck. Diesem ihrem Gesetz ist sie durch ihren Einsatz für Verfolgte und Bedrohte bis ans Ende treu geblieben. Die Tragik deutsch-jüdischer Existenz In ihrer Rezension von Margarete Susmans Buch über die Romantikerinnen hatte Kantorowicz die „Größe“ der Verfasserin darin sehen wollen, dass „sie die Idee einer Gestalt und ihren historischen Augenblick, ihr Schicksal und ihre momentansten Züge als untrennbare Lebenseinheit zeigt“.65 Wer diese Methode auf die Darstellung ihrer eigenen Gestalt anwenden wollte, sieht sich auf Grund mangelnder schriftlicher Zeugnisse mit beinahe unüberwindlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Die Autorin hat selbst nur ganz Vereinzeltes publiziert. Ihre umfangreichste Schrift, die Untersuchung Vom Wesen der griechischen Kunst, ist unvollendet geblieben und erst nach ihrem Tod von Michael Landmann veröffentlicht worden. Ihre eigene existentielle Weltsicht, vor allem ihre Stellung zum Judentum hat sie niemals systematisch dargestellt. Die meisten ihrer Briefe sind verloren gegangen, nur wenige in Archiven in Deutschland, England und den USA erhalten geblieben. So ist der Historiker, will er die „Idee ihrer Gestalt“ sichtbar machen, darauf angewiesen, sie gleichsam aus verwehten Blättern zu rekonstruieren.66 Seit 1934, seit sie die Arbeit an ihrer Schrift über die griechischen Statuen hatte ruhen lassen, hat die in ihr entworfene existentialistische, von einem mystischen Judentum grundierte Ethik das Leben von Gertrud Kantorowicz mehr und mehr bestimmt, indem sie gefährdeten Menschen aus ihrem sozialen Umfeld Unterschlupf gewährte oder ihnen zur Ausreise verhalf. In ihrer unauffälligen Widerstandsarbeit gegen die Barbarei der Naziherrschaft widmete sie sich ganz der Hilfe für die vom Terrorregime Verfolgten. In einem Brief an Margarete Susman vom Mai 1937 führt sie zur Entschuldigung für ihr ausbleibendes Schreiben an: „dann waren wie immer in Berlin so viele Fragen u. Schicksale, denen man sich nicht entziehen konnte, Hilfe



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u. Rat so weit man ihn hat, dass ich nicht zur Ruhe kam“.67 In ihrem Alltag sah sie es offenbar als ihre Hauptaufgabe an, in Not geratene oder vom Tode bedrohte Menschen zu retten. Wie Landmann, der durch seine Mutter über heute nicht mehr zugängliche Quellen verfügte, zu berichten weiß, nahm sie sich, selber bedroht, „auch ganz Fremder“ an, „die sie in aufgelöstem Zustand an der Telephonzelle oder auf der Straße getroffen hatte“.68 Unter anderem überliefert Landmann die abenteuerliche Anekdote, Kantorowicz habe durch ihr furchtloses Auftreten und mit gefälschten Papieren den George-Jünger Ernst Gundolf im Winter 1938/39 aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit.69 In einem Brief vom März 1941 schreibt sie selber aus Berlin nach New York, wie gerne sie wieder ein persönliches Gespräch mit dem Adressaten führen würde und fährt fort: „[…] es käme dann auch die Stunde des Sinns. Ich habe es ja insofern gut, als der hier immer nah ist. Was man auch zu tun hat, Kleines und Großes und Schönes, jedes ist unmittelbar nah an Entscheidendem.“70 Aber auch von ihr gilt, was sie von „Rahels tragische[r] Gestalt“ sagt: „daß hier das Schicksal verstörenden Sinn hat“. Obwohl sie nach 1933 weiterhin die Möglichkeit hatte, ins Ausland zu reisen – sie fuhr nach Italien, besuchte ihre Tochter in Palästina und lebte eine Zeitlang bei Freunden in England, die ihr ein Aufenthaltsvisum verschafft hatten –, wollte sie in Deutschland bleiben, um ihre Hilfsaktionen fortsetzen zu können. Als die Lage im nationalsozialistischen Berlin mit Beginn des systematischen Völkermords an den Juden für sie aussichtslos wurde und der Versuch, mit Hilfe von Ernst Kantorowicz und weiteren Bekannten in die USA auszuwandern, gescheitert war, plante sie, mit drei älteren Frauen, darunter ihre Tante Clara, die Mutter von Ernst Kantorowicz, bei Hohenems illegal die Grenze in die Schweiz zu überschreiten. Dort wurde sie am 7. Mai 1942 verhaftet und am 6. Juli zusammen mit ihrer Tante in einem der ersten sogenannten „Alterstransporte“ nach Theresienstadt deportiert.71 Kantorowicz hat die Fahrt, die sie über Dresden ins Konzentrations­ lager führte, in einem Gedicht evoziert, das in zwei Fassungen vorliegt, einer wohl unmittelbar während oder nach der Fahrt geschriebenen und auf den „6. VII 42“ datierten und einer späteren, sorgfältig überarbeiteten.72 In der endgültigen Fassung wird die Natur des Elbtals in ihrer Pracht mit Farben und Adjektiven geschildert, die ihre Herkunft aus dem Umkreis Georges nicht verleugnen können: Dorf Burg Berg Wald – alles Lebens Stufen – Traum durchfliegt sie göttlich goldgefiedert – Und ein Tal blüht weiss blau überfliedert –

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Diesem Bild einer Welt, deren Schönheit in den ungewöhnlichen Adjektiven eingefangen ist und die als Ausfluss des ‚wachsenden Lebens‘ charakterisiert wird, kontrastiert die Verfasserin in der letzten Strophe ihre „bange“ Ahnung einer unheilvollen Zukunft, die sie im „dunkle[n] Strom“ der Elbe gespiegelt findet, so dass sich am Ende der farbenprächtige Glanz der Landschaft in eine „Welt in Nacht“ verwandelt. Auf diese Weise entwirft sie ein Bild von ihrer Gemütsverfassung auf der Fahrt ins Konzentrationslager und dem Wissen, das sie von ihrem künftigen Schicksal hat. Sie fährt offenen Auges dem Unheil entgegen, mit der ihr eigenen Unbeirrtheit stimmt sie jedoch in der letzten Zeile auch dem zu: „nimm an was Dir verhängt“. In den fast drei Jahren, die Kantorowicz in Theresienstadt leben musste, hat sie ihre frühere Arbeit als Krankenschwester wieder aufgenommen. Sie selbst schreibt in dem einzig erhaltenen Brief aus dem Konzentrations­ lager an ihre Verwandten in New York: „Ich übernahm gleich meine alte Krankenpflege-Arbeit, was sich dann zur allgemeinen Hilfe, wo’s gerade trifft, entwickelt. Dabei werde ich stets kräftiger und frischer, der Tag hat Sinn, die Arbeit wirkt.“73 In dem übertriebenen Optimismus, mit dem sie die optimistischen Wendungen aus ihrem Schreiben vom März 1941 aus Berlin wieder aufnimmt, mag der Brief zur Beruhigung der Adressaten intendiert gewesen sein, dennoch wird man davon ausgehen können, dass er grundsätzlich die Einstellung der Verfasserin zu den Lebensumständen in Theresienstadt wiedergibt. Maria Wundsch, eine Cousine Gertrud Kantorowiczs, die am Berliner Jüdischen Krankenhaus tätig war, berichtet in einem umfangreichen Brief, der auf der mündlichen Mitteilung der Theresienstädter Mitgefangenen Eva Noack-Mosse beruht, im Dezember 1945 an die beiden New Yorker, Gertrud sei „in einem Siechenheim als Sta­ tions­schwester beschäftigt worden“.74 Die Arbeitsbedingungen in dieser „größte[n] Krankenstation mit 400  Betten in 12  Krankenstuben“75 seien katastrophal gewesen. Dennoch sei sie „immer bereit [gewesen] zu helfen, von ihren schmalen Rationen noch abzugeben, geistig alle überragend und doch mit ihnen lebend, hat sie Liebe und Verehrung geerntet“.76 Ihr außerordentliches Wirken, ihr unermüdliches Engagement für die Kranken und Sterbenden ist von mehreren unabhängigen Quellen bezeugt. Resi Weglein etwa, die ab August 1942 als Krankenschwester in Theresienstadt arbeiten musste, berichtet in ihren sehr detaillierten „Erinnerungen“, Kantorowicz habe eine ungarische Kranke gepflegt, die an „Unterleibskrebs im letzten Stadium“ litt. Der Dienst an ihr sei „für jede Schwester eine Strafe“ gewesen. Sie fährt fort: „Hier muß ich Frau Kantorowicz mit ihren 68 Jahren loben, die mit wirklicher Aufopferung ihren Dienst an Frau Roth versah.“77 An anderer Stelle berichtet sie über den „Nachtdienst“ in den ungeheizten Krankensälen im Dezember 1944, bei dem es jedes Mal „mehrere Todesfälle“ gab und der so anstrengend war, dass man „morgens […] ausgepumpt“



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aufs Lager fiel. Auch hier erwähnt sie, dass die „68jährige Frau Dr. Kantorowicz aus Berlin den Dienst“ übernahm, wenn es anderen Schwestern zu viel wurde.78 In dieser ihrer Tätigkeit manifestiert sich in einer Extremsituation die Sorge für den Leib, die Gertrud Kantorowicz schon in den zwanziger Jahren in ihren antiklassizistischen Überlegungen zu den griechischen Statuen in den Mittelpunkt gestellt hatte. Damals hatte sie am „Griechenwerk“ abgelesen, „daß der Mensch nicht erniedrigt und nicht geringer wurde, wenn man ihn ganz und gar mit Stofflichkeit und Erdenleib ins Bild aufnahm“. (K 81) In ihrer Fürsorge für die kranken und sterbenden Leiber hat sie, die an sich auf Grund ihres Alters von der Arbeitsverpflichtung freigestellt war, sich selber radikal beim Wort genommen. Man darf vermuten, dass sie ihre Tätigkeit in der Siechenstation als „Awodah = Dienst u. Arbeit“ aufgefasst hat. So hatte sie schon 1938 an Margarete Susman geschrieben und auch in ihrer Abhandlung über das Wesen der griechischen Kunst hatte sie diese „nicht nur herrliche, sondern auch […] furchtbare Entscheidung“ für den Leib in religiösen Termini beschrieben: „durchzustoßen durch alles Heutige bis in den Kern allen Seins, heißt sich um und um kehren, um sich selbst als ganzen Menschen zu empfangen und zu formen“. (K 81) Diese Metanoia, diese Umkehr hat sie mit ihrer als ‚Dienst‘ am menschlichen Leib verstandenen ‚Arbeit‘ in Theresienstadt verwirklichen wollen. Damit hoffte sie das wahre, das ‚ganze Leben‘ zu erreichen, worin dem individuellen menschlichen Leib seine volle Würde und seine Dignität zurückgegeben wird, seine Verheißung eines anderen Lebens im Augenblick des Todes. Das ist das Gegenmodell zur ästhetischen Feier des heroischen Körpers im Faschismus, die nur dazu dient, ihn auf die Vernichtung im Krieg vorzubereiten. Dennoch hat Kantorowicz in den weniger als zwanzig Gedichten, die von ihr in Theresienstadt geschrieben und von der schon genannten Eva Noack-Mosse gerettet wurden,79 auch an ihrer an George und seiner Auffassung vom Griechentum orientierten Weltsicht festgehalten. Das auf den 28.–29. November 1942 datierte und ihrer Tante Clara gewidmete dreiteilige Gedicht „Ruhr“ zitiert mit seinem Titel eine der im Ghetto endemischen Krankheiten. Zur Überraschung des Lesers fasst die Autorin dann im ersten Teil die berühmte Geschichte, die der Sänger Demodokos im Achten Buch der Odyssee (V. 266–332) vorträgt und die Goethe in seinem Gedicht „Künstlers Morgenlied“ zitiert hatte, in wenigen Zeilen zusammen und erzählt, wie Hephaistos, „der hinkende Gatte“, Mars und Venus beim Liebesspiel überrascht und dem „Lachen“ der Götter preisgibt. Dieses „Lachen“ ist es, von dem Kantorowicz im zweiten Teil des Gedichts sagt, dass es „zerflattert die Narrheit von Dingen und Menschen“ und damit die „Enge“ und den „Staub“ des unseligen Orts überwindet. So kann der zweite Abschnitt mit dem elegischen Distichon enden:

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Uns aber gängelt den leichten Flügel und Fuss ein Gelächter – Ach und die Sonne Homers spielt um die dumpfeste Stadt.80

In der letzten Zeile bezeugt sich noch einmal die Verehrung des assimilierten Judentums für den Dichter Friedrich Schiller, der am Ende seiner Elegie „Der Spaziergang“ geschrieben hatte: „Und die Sonne Homers, siehe sie lächelt auch uns.“ Im Mittelpunkt von Schillers Gedicht stand der „Traum“ von einer friedfertigen, glücklichen Gesellschaft, die die Spartaner durch ihren Tod bei den Thermopylen errungen hatten. Kantorowicz konterkariert diese Vision mit einem sardonischen „Gelächter“, der Theresienstadt als Dystopie der von der deutschen Klassik erträumten schönen Welt erscheinen lässt. Angesichts der grauenhaften Wirklichkeit des Konzentrationslagers wird die Sehnsucht nach einer schöneren Welt im Zeichen des Griechentums, wie sie die Weimarer ersehnten, endgültig vernichtet. Im Mittelpunkt der zentralen, in Theresienstadt entstandenen Gedichtfolge mit dem von Friedrich Nietzsche erborgten Titel „Amor Fati“, der auf die Schicksalsgläubigkeit der Dichterin verweisen soll, steht  – wie schon in der 1899 in den Blättern für die Kunst publizierten – wiederum der Tod. Im vierten der acht zu verschiedenen Zeiten entstandenen Gedichte wird unter dem Motto „Post Encephalitem“, womit Kantorowicz auf ihre Erkrankung im Februar 1944 anspielt,81 der Tod schon in der ersten Zeile als „Herr des Endes – Spender Tänzer Töter“ apostrophiert.82 In den folgenden Zeilen wandelt sich seine Gestalt jedoch mit der Nennung seiner Attribute „Epheukranz“, „Flöten“ und „Traube“ in die des Gottes Dionysos, dessen doppelgesichtige Erscheinung als rauschhafter Tänzer und als Vernichter des Lebens in den weiteren Strophen beschworen wird. Von seiner Erscheinung her schreibt die Dichterin der todgetränkten Atmosphäre des Lagers einen schicksalhaften Sinn zu. Die Sprecherin, die sich dem Gott anheimgibt, wird wie Dionysos im „Boden“ und zugleich „in seine[m] Arm“ geborgen, während er „die Schergen“ narrt, von denen es heißt, dass sie „der Tod zu Spreu verdirbt“. Aus der Gestalt des griechischen Gottes entfaltet Kantorowicz so einen rettenden Mythos, weshalb sie das „schaurige“ Geschehen in den letzten beiden Zeilen mit ihren Assonanzen und Vokalwiederholungen in Schönheit enden lassen kann. In ihnen evoziert sie die triumphale Epiphanie des Dionysos als Naturgott: Sein Haar sein Laub sein Haupt verjüngt berauscht Im Veilchenkranz drin die Cikade zirpt.83

Wie in allen im Lager entstandenen Gedichten beschwört Kantorowicz so noch einmal die Majestät, aber auch die Unbegreiflichkeit des Todes. Einige Tage bevor Theresienstadt am 5. Mai 1945 von der Roten Armee befreit wurde, starb Gertrud Kantorowicz, die bis dahin viele Krankheiten



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überlebt hatte,84 am 19. April an einer Meningitis. Eva Noack-Mosse, die als Partnerin eines Nicht-Juden erst im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert wurde, erwähnt in ihrem „Theresienstädter Tagebuch“ unter dem Datum des 12. März 1945 einen letzten Besuch bei Gertrud Kantorowicz kurz vor ihrem Tod: „Wie ich sie wiedersah, geschwächt von vielen schweren Krankheiten, wog sie kaum 80 Pfund. Ihr kleiner, kluger Kopf war von kurzen weißen Haaren umrahmt, sie hatte kaum mehr Zähne, ihre Haut war fleckig. Sie lag auf ihrem Bett […], ihren Homer im griechischen Originaltext lesend […].“85 In Theresienstadt auf ihrem Totenbett „ihren Homer im griechischen Originaltext lesend“, diese erschütternde Beobachtung legt Zeugnis davon ab, dass die Faszination durch das homerische Griechentum für Kantorowicz stärker war als die menschenunwürdige Behandlung, als Freiheitsberaubung und elender Tod im Lager. Als letzte Gewissheit in dieser Praxis einer Existenz im Zwischenraum des Jüdischen und des Griechischen bleibt nur ihre Überzeugung, dass auch das Scheitern und der Tod zu akzeptieren sind als eine Station auf dem Weg zum ‚ganzen Leben‘. Die tragische Lebensanschauung, die in dieser Haltung zum Ausdruck kommt, hatte Kantorowicz auch in ihren von der chassidischen Tradition inspirierten Briefen an die Freundin Margarete Susman verkündet. Sie hat ein zerrissenes, ein ‚tragisches‘ Leben gelebt, das mit seinem Ende im Konzentrationslager wie kein anderes exemplarisch ist für die Vernichtung der deutsch-jüdischen Kultur durch den Nationalsozialismus, aber auch deren höchsten Triumph bezeugt.

11.  Odysseus und Abraham Erich Auerbach in Istanbul Die Heimkehr des Odysseus Ein Exilant, der schon 1933 aus der deutschen Universität vertrieben wurde, fand 1935 Zuflucht in der Türkei und schrieb dort in den vierziger Jahren das Buch, mit dem er berühmt werden sollte. Ohne das Hilfsmittel einer wissenschaftlichen Bibliothek machte sich Erich Auerbach daran, in Istanbul seine zum Klassiker gewordene, weithin als Grundbuch und Meisterwerk einer europäischen Literaturwissenschaft gepriesene Essaysammlung Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur zu schreiben.1 Nicht verwunderlich, dass er, der in Briefen immer wieder seine Sehnsucht nach der verlorenen Heimat zum Ausdruck bringt und der noch im Jahr 1937 trotz der damit verbundenen Gefährdung mit der Familie seinen Urlaub in Deutschland verbrachte,2 sein Werk mit einem Kapitel über Homers Odyssee beginnt, in dem die Heimkehr des Helden nach Ithaka besungen wird. Zwanzig Jahre war Odysseus aus seiner Heimat abwesend, zehn Jahre, um Trojas ‚heilige Stadt‘ zu zerstören, zehn Jahre auf der Heimreise umhergetrieben auf allen Meeren der damals bekannten Welt. Dann kehrt er unter dem Schutz der Göttin Athene in der Maske eines Bettlers in die Heimat zurück, trifft den treuen Sauhirten Eumaios und findet seinen Sohn Telemach wieder, der von der Suche nach seinem Vater auf die Insel Ithaka zurückgekehrt ist. Seine alte Amme Eurykleia wäscht dem Bettler die Füße und erkennt ihren Herrn an einer Narbe seines Beins. Überrascht ruft sie aus: „Wahrhaftig! Du bist Odysseus, liebes Kind!“ (O 19, 474)3 Er aber muss zunächst sein Werk vollenden und die Männer töten, die als Freier sein Gut verprasst und um Penelope, seine Frau, geworben haben. Als sie alle in ihrem Blut im Staub liegen, ruft er die Alte: „Da fand sie den Odysseus unter den erschlagenen Toten, von Blut und Schmutz besudelt wie einen Löwen, der da kommt und hat von einem Rinde auf dem Feld gefressen und die ganze Brust und die Backen auf beiden Seiten sind ihm voll Blut und furchtbar ist er von Angesicht anzusehen.“ (O 22, 401) Dann lässt Odysseus sich von der Amme die untreuen Mägde bezeichnen. Die müssen jetzt die Leichen ihrer Liebhaber aus der Halle tragen und den Boden von Blut säubern. Danach übergibt er sie seinem Sohn zur Hin-

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richtung. Telemach drängt die Frauen im Hof zusammen und kündigt ihnen einen ehrlosen Tod an: „Und er band das Tau von einem schwarzbugigen Schiffe an den großen Pfeiler und zog es rings um das Rundhaus, es in die Höhe spannend, damit keine mit den Füßen an den Boden reichte. Und wie flügelstreckende Drosseln oder Tauben sich in einem Netz verfangen […], so aufgereiht hielten diese ihre Köpfe und Schlingen waren um alle ihre Hälse, damit sie auf erbärmlichste Weise stürben. Und sie zappelten mit den Füßen, ein weniges nur, nicht gar sehr lange.“ (O 22, 465 ff.) Schließlich wird das Werk der Rache vollendet, indem der Sohn mit seinen Gefolgsleuten den untreuen Ziegenhirten Melanthios zu Tode foltert. Sie „schnitten ihm Nase und Ohren ab mit dem erbarmungslosen Erze und rissen ihm die Schamteile aus: für die Hunde, um sie roh zu fressen, und hieben ihm die Hände und die Füße ab mit ergrimmtem Mute“ (O 22, 475 ff.). Erst nach diesen archaischen Exzessen begegnet Odysseus seiner Gemahlin Penelope wieder. Sie erkennt ihn an seinen Worten über das von ihm selbst gezimmerte Ehebett. In dessen Zeichen findet nach der zwanzigjährigen Trennung die Wiedervereinigung der Gatten statt. Erst jetzt ist Odysseus endgültig heimgekehrt. Erich Auerbach hat dieses Motiv aus der Darstellung der Heimkehr des Odysseus durch Homer zum Ausgangspunkt des ersten Kapitels seines Werks gemacht. Unter der Überschrift „Die Narbe des Odysseus“ ruft er dem Leser die idyllische Szene in Erinnerung, in der die alte Amme mit Schrecken ihren Herrn wiedererkennt. Schon in diesem „als Einleitung gedachten“ Kapitel ist Auerbachs analytische Methode voll ausgearbeitet.4 An einem relativ knappen, von ihm als paradigmatisch erachteten Ausschnitt des zu untersuchenden Textes liest er Form und Stil von dessen ‚Wirklichkeitsdarstellung‘ ab. Für Homers Odyssee, die er stillschweigend als einen der kanonischen Ursprungstexte der ,abendländischen‘ Literatur identifiziert, kommt er zu dem Befund: „Klar umschrieben, hell und gleichmäßig beleuchtet, stehen oder bewegen sich Menschen und Dinge innerhalb eines überschaubaren Raumes.“ (AM 5) Das Epos, schreibt er weiter, kenne „nur Vordergrund, nur gleichmäßig beleuchtete, gleichmäßig objektive Gegenwart“. (AM 9) Durch diese ausschließliche Konzentration auf formale Aspekte gerät Auerbach in seinem im Istanbuler Exil seit 1942 geschriebenen Text die von Homer in den letzten zwölf Gesängen der Odyssee „dargestellte Wirklichkeit“ völlig aus dem Blick. Sie besteht darin, dass der nach langer Abwesenheit aus dem Trojanischen Krieg heimgekehrte Held seine Herrschaft und das eigene Territorium zurückerobert. Damit zugleich – das ist in dieser archaischen Gesellschaft untrennbar miteinander verbunden – seine Heimat, seine Familie, ja sogar das Ehebett, worauf Homer mit Nachdruck in einer eigenen Episode hinweist. Die wiedergewonnene Herrschaft aber beruht auf blutiger



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Machtausübung, auf der Ermordung und Vernichtung der jungen Adeligen, die ihm den Thron und die Gattin streitig machen und die nur durch die List des Alten und mit Hilfe seiner Schutzgöttin besiegt werden, ihm aber in Homers Darstellung an Mut und Tapferkeit durchaus ebenbürtig sind,5 während sie in den modernen Übersetzungen als „Freier“ moralisch diskreditiert werden. Aus heutiger Sicht wird in den letzten zwölf Gesängen der Odyssee ein mit aller Leidenschaft ausgetragener Bürgerkrieg besungen, der in Mord und Folter der Gegner und der grausam ausgemalten Hinrichtung der Schwachen seinen Höhepunkt findet.6 Wie selbstverständlich steht in diesen Szenen der Erzähler auf Seiten des Siegers und setzt damit die Weltsicht fort, die schon in der Ilias herrschte. Dort wird ein fremdes Territorium mit einem Eroberungskrieg überzogen, dessen Kämpfe Mann gegen Mann den vorzüglichen Inhalt ihrer vierundzwanzig Gesänge ausmachen. Hier ist es der Kampf zweier Generationen um die Macht. Das archaische Epos legt so die Fundamente aller Herrschaft offen. Herrscher ist derjenige, der den Gegner überlebt, weil er in einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod den Anderen vernichtet hat. Von all dem ist allerdings bei Auerbach nicht die Rede. Zwar hält auch er beiläufig fest: „Es geschieht viel Schreckliches in den Homerischen Gedichten“, doch nur um daraus einen positiven Befund abzuleiten: „niemals geschieht es stumm“, denn immer „geben die Menschen ihr Inneres in der Rede kund“. (AM 8) Wohl wahr! Doch die Schreie der Opfer hört man nicht, stumm sinken sie in die Unterwelt hinab. Dem heutigen Leser aber, dem sich die Grausamkeiten des 20.  Jahrhunderts ins Gedächtnis gebrannt haben, wollen sie nicht verstummen. Und wenn er vom Zappeln der Gehenkten liest, das mit einem Realismus dargestellt wird, den Auerbach im hohen Stil des Epos nicht für möglich hält, stellen sich ihm unwillkürlich die Bilder der Exzesse ein, die die SS und die deutsche Wehrmacht an den Partisanen und der jüdischen Zivilbevölkerung in Osteuropa verübten, oder die entehrenden Hinrichtungen, die Hitler für die Attentäter des 20. Juli 1944 befahl. Die Versuchung Abrahams Auerbach stellt dem homerischen Epos eine andere Erzählung aus der Vorzeit gegenüber, die von einem Mann berichtet, der auf göttlichen Befehl aus seiner Heimat, Ur in Chaldäa, aufbricht, weil ER zu ihm gesprochen hat: „Geh aus deinem Land, aus Deinem Geschlecht, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (G 12,1 f.) Auch dieser Mann wandert viel umher, kommt zunächst in das Land Kanaan, von dort „ins Südland“ (G 12,8) und, als dort eine Hungersnot ausbricht, zieht er weiter

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nach Ägypten. Von da nimmt er den Weg zurück und an jeder Station macht er Halt an den Altären, die er Gott zuvor errichtet, und Gott erneuert ihm den Bund und das Versprechen, ihn in das verheißene Land zu führen. Und wie ER ihn aus seiner natürlichen Herkunft gerissen hat, so setzt ER ihm ein Zeichen des Bundes, das seine Lostrennung von allem natürlichen Leben bezeichnet: „Am Fleisch eurer Vorhaut sollt ihr beschnitten werden, das sei zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch.“ (G 17,10) Erst danach macht er sein Versprechen vollkommen und verheißt Abraham und Sara in ihrem fortgeschrittenen Alter einen Sohn. Und weiter zieht Abraham auf Wanderschaft und überall ist er nur Gast. Er selbst spricht von der Zeit, als „die Gottesmächte mich aus dem Haus meines Vaters auf die Irrfahrt schickten“. (G 20,12) Auf seinen Wanderungen kommt er in den Süden, in die Wüste, eine Gegend, in der schon andere Hirten ihre Herden weiden. Abraham legt den Streit mit Abimelech, ihrem Anführer, gütlich bei, indem er ihm sieben Lämmer schenkt. So darf er einen Brunnen nutzen, den er selbst gegraben hat und nach dem der Ort noch heute „Ber Sheva“ genannt wird, das heißt „Brunnen des Sieben-Schwurs“. (G 21,22–32) Dort lässt er sich nieder, pflanzt eine Tamariske und ruft den Namen seines Gottes aus: „ER der Ewige Gott. Und Abraham gastete lange Zeit im Land der Philister.“ (G 21,33 f.) Nun ist er, begleitet von seinem einzig geborenen Sohn Isaak, angekommen in der Heimat der Fremde.7 Dort unterwirft Gott Abraham einer letzten Prüfung. Von Angesicht zu Angesicht spricht ER mit dem Menschen, ruft ihn: „Abraham!“ Und der antwortet: „Hier bin ich.“ (G 22,1) Gott befiehlt ihm seinen Sohn, „deinen Einzigen, den du liebst, Jizchak“ zu opfern. Abraham nimmt Holz und einen Feuerbrand und macht sich mit dem Sohn auf den Weg ins Gebirge, schichtet den Altar, bindet Isaak, legt ihn oben auf und greift zum Schlachtmesser. Da wird er erneut vom Himmel her angerufen; „Abraham! Abraham!“ und wieder antwortet er: „Hier bin ich.“ (G 22,11) Und Gott zeigt ihm einen Widder, den er an Sohnes statt opfert. Dann kehren Vater und Sohn zurück. Ein für alle Mal ist das Menschenopfer ersetzt durch den Gehorsam des Menschen gegenüber dem Gebot Gottes. So kann sich Abraham in der heimatlichen Fremde niederlassen: „Und Abraham blieb in Ber-Schaba.“ (G 22,18) Wie Geoffrey Hartman sich erinnert, sei er in dem einleitenden HomerGenesis-Kapitel Auerbachs „durch mehr als Exaktheit, nämlich durch seinen Wagemut und seinen Esprit de finesse“ beeindruckt gewesen.8 In der Tat ist es mutig und zeugt von einem unabhängigen Geist, dem in der westlichen Kultur als kanonisch geltenden Text der homerischen Epen die Episode der Versuchung Abrahams durch Gott entgegenzustellen, einen Text, der in der säkularen Kultur des 20. Jahrhunderts mehr und mehr an Bedeutung verloren hat. Allerdings wird diese Kontrastierung wiederum nur auf einer rein



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formalen Ebene vorgenommen. Auerbach konstatiert: „Nicht leicht lassen sich größere Gegensätze vorstellen als zwischen diesen beiden, gleichermaßen antiken und epischen Texten.“ (AM 13) Bei dem formalen Vergleich werden jedoch die markanteren Gegensätze nicht berücksichtigt, die auf der inhaltlichen Ebene auftreten. Nachdem er seine Irrfahrt auf dem Meer beendet hat, erobert Odysseus seine Heimat zurück und eignet sich ein Territorium wieder an, das er zuvor besessen hat.9 Abraham hingegen zieht aus der Heimat in die Fremde. Auch als seine Irrfahrt ein Ende findet und er sich mit seiner Familie an einem Ort niederlässt, bleibt er in der Fremde. Der eine siegt in einem blutigen Gemetzel über seine Gegner, der andere erwirbt sich ein Bleiberecht durch Gabentausch und friedliche Einigung. Der zentrale Gegensatz aber besteht darin: Das Epos berichtet von Kampf, Tötung und Hinrichtung von Männern und Frauen, die Bibel von der endgültigen Aufhebung des Menschenopfers. Es erscheint kaum vorstellbar, dass ein so feinsinniger Leser wie Auerbach in der Zeit des Zweiten Weltkriegs diese grundlegenden Gegensätze zwischen beiden Texten nicht wahrgenommen haben sollte. Nur die Tatsache, dass er in der deutschen Tradition einer klassizistischen Betrachtungsweise von Kunst und Literatur stand, die in Homers Dichtung das kanonische Vorbild plastischer Schönheit fand,10 und deshalb nur deren rein ästhetische Maßstäbe anzulegen vermochte, kann diese Blindheit gegenüber der „dargestellte[n] Wirklichkeit“, die zugleich eine gegenüber der damals aktuellen historischen Realität ist, einigermaßen plausibel machen. Ein zweiter, methodischer Grund kommt hinzu: Auch bei der Bezugnahme auf die Genesis wählt Auerbach – wie schon bei der Odyssee – aus der in den Kapiteln 12 bis 22 erzählten Geschichte Abrahams lediglich eine kurze, aber markante Episode aus. An ihr liest er einerseits die Unbestimmtheit des Raumes in der Genesis ab: „Abrahams Worte und Gesten richten sich […] nach einem unbestimmten, dunklen, auf jeden Fall nicht vordergründigen Ort.“ (AM 11) Stattdessen werde das Handeln des Helden ganz von der Geschichte bestimmt. „Abrahams Handlungsweise erklärt sich […] aus seiner früheren Geschichte; er erinnert sich, es ist ihm dauernd bewusst, was Gott ihm verheißen und was er an ihm schon erfüllt hat.“ (AM 14) Diese Sätze belegen, dass Auerbachs Lektüre auch im Falle des biblischen Textes höchst selektiv ist. Von einer Undeutlichkeit der topografischen Bestimmungen in der Bibel kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Gegenüber den höchst vagen Ortsangaben der Odysseus-Sage ist die Abrahams-Geschichte topografisch genau situiert, von ihrem Ausgangspunkt in Ur in Chaldäa angefangen, über die verschiedenen Wegstationen bis hin zu dem „Brunnen des Sieben-Schwurs“, Ber-Sheva, in dessen Nähe der Patriarch sich schließlich niederlässt. Allerdings hält er sich an all diesen Orten nur als „Gast“ auf, „gastet“ er in ihnen, wie Martin Buber und Franz Rosenzweig, den

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hebräischen Urtext imitierend, in ihrer Übersetzung schreiben. Selbst noch das Erscheinen Gottes ist genau situiert, spricht ER doch in der Gegenwart des Menschen, der sich an einem genau bestimmbaren Ort aufhält. Auch die Zeit hat in dieser Erzählung einen anderen Stellenwert als den ihr von Auerbach zugeschriebenen. Das Geschehen zwischen Gott und Abraham ist eines von akuter Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft aufgehoben sind. Drei Mal wird in der Schilderung des Opfergangs ein formelhafter Austausch wiedergegeben. Gott ruft zwei Mal den Menschen bei seinem Namen: „Abraham!“, beim zweiten Mal dringlicher: „Abraham! Abraham!“ Und beide Male antwortet der Angerufene: „Hier bin ich.“ (G 22,1 bzw. 22,11) Den Sinn dieses Wortwechsels macht der in der Mitte der Episode eingeschaltete Austausch zwischen Vater und Sohn deutlich: „Jizchak sprach zu Abraham seinem Vater, er sprach: Vater! Der sprach: Hier bin ich, mein Sohn.“ (G 22,7) Der Text der Genesis ist – das erweist sich an dieser genau austarierten Wiederholung – eine literarische Komposition, deren Bedeutung als solche zu entziffern ist. Sie weist zunächst darauf hin, dass der so Angeredete im Angesicht Gottes steht, und dann – und das ist zugleich literarisch raffinierter und inhaltlich schwerwiegender – dass Gott, von dem sich der Mensch kein Bild machen darf, dennoch wie ein Vater dem Menschen gegenübertritt. Wir haben es also auch in der Genesis keineswegs mit einem Text zu tun, der – wie Auerbach formuliert – „einen absoluten Anspruch auf Wahrheit“ (AM 16) stellt, sondern mit einer streng komponierten Erzählung, deren „Wahrheit“ von dem gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick des Lesers her je neu zu deuten ist.11 Statt der auf Grund stilistischer Kriterien getroffenen Unterscheidung – hier Sage (Homer), dort ‚Weltgeschichte‘ (Genesis) – stellt sich damit die Frage, was die Abrahams-Erzählung dem heutigen Menschen, auch wenn er keine religiöse Bindung kennt, bedeuten kann. Die Patriarchen-Geschichte steht zwischen der von Abels Ermordung durch seinen Bruder Kain, die Gott mit seinem Fluch gegen den Mörder und dem Verbot der Tötung Kains belegt, (G 4,8–16) und der Gesetzgebung am Sinai, deren erstes und wichtigstes das menschliche Zusammenleben betreffende Gebot lautet: ‚Du sollst nicht töten!‘ (Ex 13; wiederholt Dtn 17). Durch diese Bezugnahme unterstreicht das Alte Testament die grundlegende Bedeutung des Tötungsverbots für das soziale Zusammenleben der Menschen. Die in der Mitte angeordnete Episode von der Versuchung Abrahams gibt darüber hinaus durch ihre Komposition implizit die anthropologische Begründung für dieses Verbot und untermauert sie theologisch. Abraham gibt seinem Sohn auf dessen Anruf: „Vater!“ die Antwort: „Hier bin ich.“ Durch sie weist der Erzähler darauf hin, dass die beiden sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Das menschliche Gesicht setzt zugleich den Wahrnehmenden und dessen Gegenüber in unaufhebbarer Andersheit und



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unaufhebbarer Gleichheit. Damit legt es die Regeln und das Fundament aller friedlichen gesellschaftlichen Ordnung fest. Deshalb hat Emmanuel Lévinas in Schwierige Freiheit nicht nur die Grundlegung aller Ethik, sondern auch „das Prinzip der Rede und des geistigen Lebens selbst“ in dem im Anblick des Gesichts sich manifestierenden Tötungsverbot gesehen. „Ein Gesicht sehen, heißt bereits hören: ‚Du sollst nicht töten.‘ Und wer ‚Du sollst nicht töten‘ hört, der hört ‚Soziale Gerechtigkeit‘.“12 In dem Bericht der Genesis wird diese Grundregel allen sozialen Miteinanders dadurch theologisch überhöht, dass der menschliche ‚Augenblick‘ zwischen Vater und Sohn durch den vorgängigen und nachfolgenden Anruf Gottes in dieselbe Perspektive gerückt wird. Auch ihm antwortet Abraham: „Hier bin ich.“ Dadurch gibt er zu verstehen, dass er sich als im Angesicht Gottes stehend weiß, auch wenn dieses, wie das Bilderverbot der Bibel will, unsichtbar bleibt. Diese theologische Überhöhung einer anthropologischen Grundtatsache kann sich biblisch auf die ursprüngliche Bestimmung des Menschseins berufen, von dem es in der Genesis heißt: „So schuf Gott den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn.“ (G 1,27) Allein durch seine literarische Komposition lässt der Text das unsichtbare Gesicht Gottes hinter dem menschlichen aufscheinen und gibt damit der anthropologischen Erfahrung des im menschlichen Gesicht ausgesprochenen Tötungsverbots metaphysische Autorität. So verweisen der dreifache Anruf, der an Abraham ergeht, und seine stets gleichlautenden Antworten auf dieses Geheimnis allen Menschseins. Zu Beginn der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als die Welt in einen mörderischen Krieg mit Nazideutschland verwickelt war, hätte der Exilant in Istanbul sehen können, dass die von ihm zitierte Episode des Alten Testaments für die Abschaffung des Menschenopfers steht. Die höchste Autorität, Gott selbst, verbietet das Töten, auch das Töten um seinetwillen, ‚das Brandopfer‘. Dieses in einer dreitausendjährigen Kulturgeschichte tradierte Grundgesetz der sozialen Ethik haben die Nationalsozialisten endgültig rückgängig zu machen versucht. Auch darin liegt die ungeheure Provokation ihrer Untaten. Ist schon die Tötung eines einzelnen Menschen ein Verbrechen, das die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zerstört, so gilt das umso mehr für den millionenfachen Mord, den die Nazis und ihre willentlichen Helfer auf der Grundlage rassistischer Theorien und mit der Präzision moderner industrieller Organisationsformen an Kindern, Frauen und Männern verübt haben. So gesehen, hat die Bezeichnung Holocaust, Brandopfer, für dieses Geschehen einen historischen Sinn. Abraham will seinen Sohn Isaak auf Gottes Geheiß zum ‚Brandopfer‘ bringen und Gott unterbindet es ein für alle Mal.

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,Abendländische‘ Irrwege Auerbach nennt sein Buch im Untertitel „Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur“. Was bedeutet dieses merkwürdige Adjektiv ‚abendländisch‘? Auch darauf gibt schon das Homer-Genesis-Kapitel, das Auerbach mit „Die Narbe des Odysseus“ überschrieben hat, erste Hinweise. Die ausschließliche Bezugnahme im Titel auf die Episode aus der Odyssee unter Hintanstellung der Abrahams-Geschichte lässt erkennen, dass er der Sage Homers literarisch den Vorzug gibt. Auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt, die positive Bewertung der Odyssee legt es nahe, dass er sie stilistisch und ästhetisch dem Buch Genesis für überlegen hält. Aber auch inhaltlich erscheint es durchaus verständlich, dass der exilierte Hochschullehrer an den Anfang seiner umfangreichen literaturhistorischen Untersuchung eine Heimkehrer-Geschichte stellt. Zu fragen bleibt allerdings, warum er ihr die Opfergeschichte aus der Genesis kontrastiert. Eine Antwort auf diese Frage mag von der Beobachtung ausgehen, dass Auerbach selbst in der Erzählung von Abrahams Versuchung Bezug nimmt auf die damalige politische Aktualität, indem er dem Text „geschichtliche Wahrheit“ (AM  16) zuspricht und behauptet, dass „der Stoff des Alten Testaments, je weiter die Erzählung fortschreitet, sich immer mehr dem Geschichtlichen nähert“. (AM  21) Diese Einordnung der ‚Wirklichkeitsdarstellung‘ der Bibel als ‚Weltgeschichte‘ eröffnet ihm die Möglichkeit, in einem einigermaßen überraschenden Einschub auf die damals aktuelle politische Geschichte anzuspielen: „In der Märtyrersage etwa stehen hartnäckige fanatische Verfolgte einem ebenso hartnäckigen fanatischen Verfolger gegenüber; […]. Und das ist ein noch vergleichsweise einfacher Fall. Man denke an die Geschichte, welcher wir selbst beiwohnen; wer etwa das Verhalten der einzelnen Menschen und Menschengruppen beim Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland, oder das Verhalten der einzelnen Völker und Staaten während des gegenwärtigen (1942) Krieges erwägt, der wird fühlen, wie schwer darstellbar geschichtliche Gegenstände überhaupt, und wie unbrauchbar sie für die Sage sind.“ (AM 22) Wieder ist es die ‚Darstellungsweise‘, die das tertium comparationis bildet und die es dem Autor erlaubt, ein winziges Fenster auf das aktuelle Zeitgeschehen zu öffnen. Man darf annehmen, dass hier ein Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik in so verdeckter und objektivierender Weise von Hitlers Angriffskrieg spricht, um seinen Status als politischer Flüchtling nicht zu gefährden. Wenn er allerdings noch verdeckter und auf ein antikes Beispiel zurückgreifend auf die „Märtyrersage“ eingeht und dabei Verfolgte und Verfolger durch ihre gleich lautende Qualifizierung als ‚hartnäckig‘ und ‚fanatisch‘ auf eine Stufe stellt, so erweist sich diese Anspielung bei näherem Hinsehen



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als eine groteske Fehleinschätzung. In seiner 1943, also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Einleitungskapitel der Mimesis geschriebenen und 1949 in Frankfurt publizierten Introduction aux études de la philologie romane schreibt Auerbach über die Beamten, die nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem die römische Provinz Palästina zu verwalten hatten: Sie „scheinen dieses schwierige, unassimilierbare und fanatische Volk offen verachtet zu haben“.13 Diese Formulierung lässt die Vermutung plausibel erscheinen, dass er ein Jahr zuvor mit den gleichen Worten ebenfalls auf die Juden als auf „hartnäckige fanatische Verfolgte“ anspielt und ihnen damit mindestens eine Mitschuld an den Verfolgungen zuschreibt, deren Zeuge und zugleich Opfer er selber ist. Was er hier als Beispiele für die Schwierigkeit einer möglichen Geschichtserzählung der Episode von der Versuchung Abrahams an die Seite stellt, nämlich die zeitgenössischen Ereignisse der Judenverfolgung und des Zweiten Weltkriegs, verkehrt die inhaltliche Bedeutung des biblischen Textes in sein genaues Gegenteil. Die Vermittlung zwischen der biblischen Aufhebung des Menschenopfers und der Ausgrenzung und massenhaften Ermordung der europäischen Juden, die nur über die formal gefasste Kategorie ‚Geschichte‘ möglich wird, verkennt die ‚Wirklichkeit‘ beider geschichtsmächtiger Ereignisse. An dieser Verkennung hat Auerbachs literaturwissenschaftliche Methode nicht unerheblichen Anteil. Er nimmt aus einem größeren Erzählzusammenhang eine kurze Episode heraus, um aus ihr in einer intensiven Lektüre ihre formale Machart und dadurch die Besonderheit ihrer „Wirklichkeitsdarstellung“ herauszulesen. Damit scheint er die kommentierende Schreibweise anzuwenden, wie sie für die talmudische Kommentierung der Thora charakteristisch ist.14 Allerdings behält er dabei nicht das große Ganze des Textes im Auge, wie es für eine sachgerechte Kommentierung notwendig wäre, sondern isoliert einen winzigen Textausschnitt, der seinem eigenen Erkenntnisinteresse Genüge tut. Deshalb übersieht er die Zeichen, die in den ausgewählten Episoden auf den größeren Zusammenhang verweisen. So in der Szene der Wiedererkennung des Odysseus durch die Amme. Auf dessen Ankündigung, er werde „die erlauchten Freier überwältigen“, antwortet sie mit dem Angebot, sie werde ihm „die Frauen in den Hallen herzählen, die dich missachten“, Verse, die deutlich auf die späteren Gräuel vorverweisen. (O 19, 488–498) Diese unmissverständlichen Vorausdeutungen auf die spätere Bluttat an den Freiern und die Hinrichtung der Mägde passt nicht in das Konzept eines Epos, das „nur Vordergrund, nur gleichmäßig beleuchtete, gleichmäßig objektive Gegenwart“ (AM 9) kennt. Ebenso wenig wie sich die ‚Ortlosigkeit‘ Gottes mit den zahlreichen und präzisen Ortsangaben in der Abrahams-Erzählung vereinbaren lässt. Das close reading einer kurzen Textpassage, das zeigt sich hier, setzt sich ohne die Einbeziehung des weiteren Kontextes grundlegenden Fehldeutungen aus.

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Noch stärker wird Auerbachs Essay in seinem Erkenntniswert durch einen methodischen Fehler beeinträchtigt, den er mit der Mehrzahl der literaturwissenschaftlichen Analysen der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts teilt. Er projiziert ein vorgefasstes System in den zu interpretierenden Text hinein, indem er ihm seine Gegenüberstellung von Sage und Geschichtsdarstellung überstülpt. Im gleichen Jahr 1942, in dem Auerbach in Istanbul der „Narbe des Odysseus“ eine kommentierende Auslegung widmet, haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im kalifornischen Exil die Odyssee zu einem der Grundtexte ihrer Reflexionen über die Dialektik der Aufklärung gemacht. Sie meinen, in diesem kanonischen Text die Geschichte der „europäischen Zivilisation“ in ihrer „Verschlungenheit von Aufklärung und Mythos“ wiedererkennen zu können.15 So wird ihnen der „listige Einzelgänger“ Odysseus zum Urbild des „homo oeconomicus, dem einmal alle Vernünftigen gleichen“.16 In der Episode mit dem einäugigen, Menschen fressenden Polyphem trägt Odysseus für sie gar „Züge des Juden, der noch in der Todesangst auf die Überlegenheit pocht, die aus der Todesangst stammt“.17 Diese pauschale und aller historischen Plausibilität Hohn sprechende Identifizierung ist nur möglich, weil sie das vorgewusste System einer materialistisch inspirierten Klassengeschichte auf das klassische Epos übertragen. So wird der archaische Sänger Homer für sie zu einem Vordenker von Karl Marx und zu einem frühen Kritiker der Kulturindustrie. In dieser Perspektive halten sie abschließend selbst die kritiklose Darstellung der Rache, die Odysseus an den Freiern und den Mägden nimmt, für einen positiven Ausblick auf eine Überwindung des Mythos. „Hoffnung aber knüpft sich im Bericht von der Untat daran, dass es schon lange her ist. Für die Verstrickung von Urzeit, Barbarei und Kultur hat Homer die tröstende Hand im Eingedenken von Es war einmal.“18 Nein, der Mythos als bewusstlose Verherrlichung der Gewalttat und des Rechts des Stärkeren findet gerade in dieser Szene seine intensivste, seine dunkelste Ausprägung. Auerbachs Charakteristik der ‚Darstellungsweise‘ der Odyssee ist keineswegs originell, sondern unbewusst von der Ästhetik der Klassik geprägt, die in den Texten des ionischen Sängers den Ursprung aller Poesie gesehen hat. Herder, Goethe, Schiller und ihre Nachfolger im 19. Jahrhundert haben im Epos das vollendete Kunstwerk gefunden, das in all seinen Teilen auf eine Ganzheit verweist und deshalb als kanonisches Vorbild für die eigene Kunstproduktion dienen kann. Nirgendwo ist dieser Zusammenhang verführerischer formuliert als in der Eingangspassage der Theorie des Romans des jungen Georg Lukács aus dem Jahr 1920, der „das Weltzeitalter des Epos“ durch die „absolute Lebensimmanenz Homers“ gekennzeichnet weiß und dessen Hymnus auf das homerische Griechentum mit dem poetisch geformten Satz anhebt:19 „Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege



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das Licht der Sterne erhellt.“20 Lukács überträgt den aus der Goethezeit stammenden Begriff der ‚Totalität‘, der bei Friedrich Schlegel die Ganzheit der Welt, der Geschichte und des Kunstwerks zugleich bezeichnet, auf das griechische Epos. „Denn Totalität als formendes Prinzip jeder Einzelerscheinung bedeutet, daß etwas Geschlossenes vollendet sein kann; vollendet, weil alles in ihm vorkommt, nichts ausgeschlossen wird und nichts auf ein höheres Außen hinweist.“21 Diese Auffassung vom Kunstwerk ist die Grundlage des von Auerbach praktizierten methodischen Verfahrens. Close reading setzt voraus, dass in jedem Teil das Ganze enthalten ist. Die ‚Seinstotalität‘, die von Goethe bis Lukács die Bedingung der Möglichkeit dieser Methode darstellt, bleibt jedoch in Auerbachs Kommentaren gänzlich ausgeblendet. Durch die ausschließliche Konzentration der klassischen Ästhetik und ihrer Nachfolger im 20. Jahrhundert auf das „formende Prinzip“ bleibt auch verborgen, dass das homerische Epos als Gründungstext der „abendländischen“ Kultur einen ganz bestimmten Inhalt hat. Seine Feier der Aneignung eines Territoriums und damit der Begründung der Herrschaft durch Krieg und Bürgerkrieg war schon die mythische Gründungssage des römischen Imperiums und bildete später den kulturellen Hintergrund, um nicht zu sagen, die mythische Rechtfertigung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Seine radikale Zuspitzung hat der Mythos von der Begründung der Herrschaft auf einer Bluttat in der Ödipussage gefunden, wobei Sigmund Freud die Ermordung des Vaters durch den Sohn in Totem und Tabu zur Ermordung des Urvaters durch die Sohneshorde und damit zum Ursprungsmythos aller Kulturentwicklung erweitert hat. Der Erzählung von der Begründung aller Kultur auf dem Recht des Stärkeren findet ihren Gegenpol in der Erzählung von der lebenserhaltenden Kraft des Gehorsams gegenüber dem Gesetz. Auszug aus dem angestammten Ort, aus der irdischen Heimat und damit zugleich Verzicht auf kriegerische Aneignung eines Territoriums, friedliche Ordnung der Gesellschaft und Aufhebung des Menschenopfers sind die zentralen Motive der Erzählung von Abraham, die zur Gründungsgeschichte der monotheistischen Religion gehört. Doch diesen Ursprungstext hat Europa mehr und mehr aus seinem kulturellen Gedächtnis verdrängt. Dem Vergessen der kulturellen Tradition des strikten Monotheismus scheint auch die ungeheure Naivität Auerbachs geschuldet, der eine „realistische Wirklichkeitsdarstellung“ nur dadurch für möglich hält, dass „die Geschichte Christi, mit ihrer rücksichtslosen Mischung von alltäglich Wirklichem und höchster, erhabenster Tragik […] die antike Stilregel überwältigte“. (AM 516) Das ist es, was für ihn das ,Abendländische‘ der europäischen Literatur ausmacht: die Mischung des hohen Stils klassischer Schönheit mit dem existenzialistischen Ernst des Christentums, das die individuelle Rettung

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des Einzelnen durch den Glauben zum höchsten religiösen Akt erhebt. Wie sehr sich diese Vorstellung dem restaurativen Zeitgeist der unmittelbaren Nachkriegszeit verdankt, erhellt blitzartig der letzte Satz des Nachworts zu Mimesis und damit der letzte Satz des ganzen Buches: „Möge meine Untersuchung […] dazu beitragen, diejenigen wieder zusammenzuführen, die die Liebe zu unserer abendländischen Geschichte ohne Trübung bewahrt haben.“ (AM 518) Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, der mit beinahe vierzig Millionen Toten allein in Europa und sechs Millionen Opfern des nationalsozialistischen Genozids an den europäischen Juden und anderen Minderheiten mörderischer war als jeder Krieg zuvor, hinterlässt dieser Satz auch beim gutwilligen Leser fassungsloses Staunen und Ratlosigkeit.

12.  Ein letztes Mal: „das Volk der Griechen“ und die Deutschen Martin Heidegger in Freiburg Polemos. Der Kampf ums ‚Seyn‘ Inzwischen ist es still geworden um Moses und Homer, nicht nur in Deutschland, in der Kultur der westlichen Hemisphäre insgesamt sind sie als Leitfiguren ästhetischer, sozialer und politischer Legitimationsdiskurse in den Hintergrund getreten. Mehr noch: Mit der Ablösung der Schrift als Leitmedium der kulturellen Öffentlichkeit und der Übermacht des Bildes im Zeichen der Vorherrschaft der elektronischen Medien kann es so etwas wie einen allgemein akzeptierten Legitimationsdiskurs, der sich auf die Lektüre und Interpretation eines kanonischen Textes stützt, nicht mehr geben. Die weltgeschichtlichen Epochen werden kürzer. Ausgehend von der Offenbarung am Sinai, hat der Monotheismus seit der Durchsetzung des Christentums als Staatsreligion im Römischen Reich das kulturelle Gedächtnis Europas für beinahe anderthalb Jahrtausende geprägt. In der Schwellenzeit um 1800 wurde er abgelöst durch die Gegenreligionen des produktiven Subjekts und der ‚wachsenden Natur‘. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts sind auch diese Leitbilder im öffentlichen Bewusstsein kaum noch präsent. Die allgemeine Orientierungslosigkeit, in der die westliche Gesellschaft dahindämmert, nur noch getrieben von einem bewusstlosen Wachstumsfetischismus, gewährt dem Wuchern subjektiver Mythen Raum, die keinen Anspruch mehr auf öffentliche Geltung erheben können und nur noch für einzelne gesellschaftliche Gruppen handlungsleitend wirken können. Als „abendländischer“ Mythos, als ein „Wort, das Weisung gibt“, hat im 20. Jahrhundert vor allem die Philosophie Martin Heideggers ihre Wirkmächtigkeit erwiesen. (GA  36/37, 116) Mit diesem Begriff hat Hei­deg­ ger selbst in seiner späteren Philosophie seine Lehre vom planetarischen Kampf um die Offenbarung des ‚Seyns‘ und deren Verhinderung durch die ‚Machenschaften‘ des Seienden bezeichnet und dabei den welthistorischen Gegensatz zwischen Griechen und Juden noch einmal radikalisiert. In den für die Nachwelt bestimmten Aufzeichnungen der Schwarzen Hefte interpretiert er die politische Situation des Jahres 1933 als geistigen Aufbruch und verherrlicht dabei zugleich die griechische Frühe als den „Anfang unseres abendländischen geschichtlichen ‚Da-Seins‘“. (GA 96, 85) In ähn-

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licher Weise begründet er in der Einleitung zu seiner Vorlesung des Sommersemesters 1933 mit dem Titel Die Grundfragen der Philosophie eingangs diesen Zusammenhang zwischen der politischen Aktualität in Deutschland und dem anfänglichen Griechenland: „Wann aber und wo fiel die erste und einzige Entscheidung zur Grundfrage der Philosophie und damit zu dieser selbst? Damals, als das Volk der Griechen, deren Stammesart und Sprache mit uns dieselbe Herkunft hat, in seinen großen Dichtern und Denkern sich aufmachte, eine einzigartige Weise des menschlichen volklichen Daseins zu schaffen. Was da anfing, ist bis heute nicht eingelöst. […] Der Anfang ist noch und besteht als ferne Verfügung, die unserem abendländischen Schicksal weit vorausgreift und das deutsche Geschick an sich kettet.“ (GA 36/37, 6) Hier wird – wie seit Herder in der deutschen romantischen Tradition – nicht nur die Nähe der Deutschen zu den archaischen Griechen und damit ihre Auszeichnung als ‚auserwähltes Volk‘ behauptet. Mehr noch, wie die nationalsozialistischen Ideologen setzt Heidegger zugleich eine Identität zwischen beiden Völkern voraus, die er allerdings nicht von einem biologistischen Rassismus her zu begründen scheint. Den rechnet er der Sphäre des Rationalen, der „Machenschaften“ zu. Hingegen haben die Deutschen, so Heidegger, den Auftrag, das „Geschick“ des Abendlandes zu vollenden, weil in ihnen dasselbe „menschlich volkliche Dasein“ weiterlebt wie in den Griechen. (GA 36/37, 6) Was besagt dieser außerordentlich vage Ausdruck, der das Bindeglied zwischen den archaischen Griechen und den Deutschen des 20. Jahrhunderts darstellen soll? In der Vorlesung des Wintersemesters 1933/34 beschwört Heidegger unter dem Titel Vom Wesen der Wahrheit die kämpferische Aufbruchsstimmung der Zeit schon in der Einleitung, indem er in der Auslegung des berühmten Fragments von Heraklit, der Krieg sei „aller Dinge Vater, aller Dinge König“ (22 B 53 Diels-Kranz), eine ontologische Bestimmung des ‚Seins‘ zu finden glaubt. Dieses Vorgehen wird erst dadurch möglich, dass er den historischen Kontext dieser Worte, ihren direkten Bezug auf die homerischen Epen, unberücksichtigt lässt.1 Wie überhaupt Homer, der Ursprung aller frühen griechischen Mythologie, Literatur und Philosophie, in Heideg­ gers Bezugnahme auf den Vorbildcharakter des Griechentums keine Rolle spielt. Für ihn beginnt und endet die griechische Frühe mit den nur fragmentarisch überlieferten Schriften der Vorsokratiker, ohne dass er eine Begründung für diese Einschränkung gibt. Wohl aber ermöglicht sie ihm, den Satz Heraklits, losgelöst von jeglichem historischen Kontext, in sein eigenes philosophisches System zu übertragen: „Der Kampf“ – so Heideggers Übersetzung für das griechische Wort polemos – „stellt ins Sein und hält darin; er macht das Wesen des Seins aus.“ (GA 36/37, 94) Damit nicht genug: Hei­ degger treibt seinen antihistorischen Ansatz dadurch ins Extrem, dass er die so gefundene Bestimmung des Seins mit dem nationalsozialistischen Auf-



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bruch seiner Gegenwart in eins setzt: „Dieser kämpferische Entscheidungscharakter alles Seins bringt in das Seiende eine Grundstimmung, die sieghafter Jubel und Wille, Furchtbarkeit des ungebändigten Andrangs (Widerstandes) zugleich ist.“ (GA 36/37, 95) Was sich hier vor einem akademischen Publikum mit Berufung auf Heraklit als ontologische Fundamentalanalyse gibt, ist nichts anderes als der nackte Mythos der Macht, die Feier der nationalsozialistischen Machtergreifung und der sie begleitenden Aufbruchsstimmung samt ihrer mörderischen Exzesse, auf die mit den Worten „Furchtbarkeit des ungebändigten Andrangs“ deutlich genug angespielt wird. In seiner Vorlesung begründet Heidegger seine Parteinahme mit der „germanischen“ Herkunft der Griechen wie der Deutschen: „Es ist nicht Willkür oder gar irgendein gelehrter Brauch, sondern tiefste Notwendigkeit unseres deutschen Daseins, wenn wir in diesen griechischen Anfang zurückhören, […] um die Grundmöglichkeiten des urgermanischen Stammeswesens auszuschöpfen und zur Herrschaft zu bringen.“ (GA 36/37, 89) Wie seine ‚gelehrten‘ Kollegen Ernst Buschor, Helmut Berve und Paul SchultzeNaumburg in ihrer Darstellung der ‚dorischen Welt‘ Spartas2 – nur direkter und gleichzeitig historisch vager –, verkündet Heidegger die Zusammengehörigkeit des archaischen Griechenland und seiner agonalen Streitkultur mit der aktuellen politischen Situation in Deutschland und überhöht damit zugleich die Gegenwart zu einer Zeit ‚ontologischer‘ Entscheidung, in der das, was den Griechen ursprünglich widerfuhr, dem ‚deutschen Dasein‘, das heißt in Heideggers Terminologie, den deutschen Menschen, noch einmal als Möglichkeit sich eröffnet und zugleich als ‚Geschick‘ aufgegeben ist. In diesen Sätzen manifestiert sich weniger philosophisches Denken des ‚Seins‘ als vielmehr unbedenkliche Anpassung an die politische Aktualität und platteste völkische Mythologie, in der die archaischen Griechen als ein ‚von Norden eingewanderter‘ germanischer Stamm erscheinen.3 Mit dieser Feststellung soll nicht so sehr gegen Heidegger als Person und seine vielfach geäußerte Abneigung gegen Juden in seinem Umfeld argumentiert werden. Durch seine Bemerkungen in Briefen an seine Frau und in gutachterlichen Stellungnahmen über seine Kollegen, in denen immer wieder wie selbstverständlich ein alltäglicher Antisemitismus aufscheint, hat er sich selbst zur Genüge dekuvriert.4 So etwa, wenn er „die Psychoanalyse des Juden Freud“ als „reine[n] Nihilismus“ disqualifiziert (GA  96, 218), ohne sich argumentativ mit ihr auseinanderzusetzen, oder wenn er seinem Lehrer Husserl die Fähigkeit abspricht, in die „künftigen Entscheidungen“ (GA 96, 46) im Kampf um das Sein eingreifen zu können. Statt auf diesen gewöhnlichen Antisemitismus hinzuweisen, soll im Folgenden sichtbar gemacht werden, dass Heideggers Denken, das bis heute noch immer von vielen Intellektuellen als Höhepunkt der Philosophie des 20. Jahrhunderts angesehen wird, nach 1933 nur eine epigonale und politisch aktualisierte

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Das „Weltjudentum“

Fortführung der Tradition des deutschen Idealismus und seines Antijudaismus ist und dass es wie dieser fatale Folgen in der historischen Realität Europas gehabt hat. Das „Weltjudentum“ Der Verherrlichung des Deutschtums im Zeichen des Kampfes entspricht im Negativen Heideggers Konstruktion des ontischen Nihilismus der Juden. Sie stellen in seinem System den Gegenpol zu den „anfänglichen“ Griechen und damit auch zu den gegenwärtigen Deutschen dar. Für ihn hat die „zeitweilige Machtsteigerung“ der Juden ihren Grund im „Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenhaftigkeit“. Sie sind also die Verursacher der „Ermächtigung der Machenschaft“, durch die das Zeitalter der Moderne und insbesondere die aktuelle Gegenwart gekennzeichnet sind. (GA 96, 46 bzw. 48) Selbst wenn Heidegger diese Diagnose in sein eigenes ontologisches Vokabular überträgt, scheut er nicht davor zurück, den eindeutig antisemitisch geprägten Begriff des ‚Weltjudentums‘ zu gebrauchen: „Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche ‚Aufgabe‘ übernehmen kann.“ (GA  96, 243) Mit dem höchst ungebräuchlichen und sprachlich ungeschickten Substantiv „Menschentümlichkeit“ legt Heidegger die Juden ein für allemal auf eine Wesenheit fest, die sie zum Gegenspieler der um das Sein kämpfenden Deutschen macht. Was er in diesem Satz als die Funktion der Juden in der Geschichte des Kampfes ums Sein bezeichnet, bezieht er in einer der zehn „Feststellungen“, die er „am Beginn des dritten Jahres des planetarischen Krieges“, also Anfang 1942, trifft, auf die politische Aktualität seiner Zeit: „Das Welt­ judentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emi­ gran­ten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.“ (GA 96, 262) Das Weltbild, das in diesen Worten seinen Ausdruck findet, ist gekennzeichnet durch die Ausschließung der Anderen. Hier das ‚wir‘ des deutschen Volkes, dort das ‚Weltjudentum‘ und die „Emigranten“, die wir „hinausgelassen“ haben, das heißt, nur wenig überspitzt gesagt: die wir besser in Deutschland behalten und unterdrückt oder vernichtet hätten. Hier der alte Opfermythos mit seiner unterschwelligen Anspielung auf den Tod der dreihundert Spartaner, die sich bei den Thermopylen für ihr Vaterland geopfert haben, dort das vagabundierende, keinem heimatlichen Boden verbundene ‚Weltjudentum‘,



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das im planetarischen Ringen um das Sein eine dunkle verschwörerische Gegenmacht darstellt. Diese Berufung auf den Thermopylen-Mythos in einem nationalistischen Kontext hat seit Schiller eine lange Tradition in der deutschen Mythologie. Heidegger spielt auf ihn zur gleichen Zeit an, als Gottfried Benn ihn in seiner Rundfunkrede Der neue Staat und die Intellektuellen erneuert.5 Wie der Dichter in Berlin bekennt auch der Philosoph im Schwarzwald mit nationalem Pathos seine kriegerischen Überzeugungen: „Die verborgene Deutschheit – unantastbar sei das Opfer der Gefallenen; jeder […] soll wissen, daß der Krieger wesentlicher ist als der Schreiber je sein kann.“ (GA 96, 29) Der Krieg als der Weltzustand, in dem der Kampf um das ‚Seyn‘ entschieden wird, der Krieger als vorbildliche menschliche Gestalt, unverkennbar ist diese Philosophie nicht nur von der historischen Aktualität der Zeit durchtränkt, sondern sieht sich auch in der Tradition des frühen Griechentums und des dunklen heraklitischen Wortes vom Krieg als dem „Vater aller Dinge“. In seinem gnostischen Weltbild, in dem die Juden das absolute Böse verkörpern, geht Heidegger sogar so weit, sie zu Erfindern des „Rassegedankens“ zu erklären. Er schreibt ihnen die Erfindung der „Züchtbarkeit“ des Menschen zu, „die eine Art der Berechnung darstellt“. (GA 96, 56) Mit dem Begriff der ‚Züchtung‘, der eines der ideologischen Fundamente der nationalsozialistischen Rassenpolitik darstellt, glaubt er die absolute Steigerung der „Machenschaften“ eines Volkes stigmatisieren zu können, das die Gegenwart mit einer die Welt umspannenden Verschwörung beherrscht. So konstatiert er in den Schwarzen Heften: „Die Juden ‚leben‘ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch gegen die uneingeschränkte Anwendung zu Wehr setzen.“ (GA 96, 56) Wie in Gottfried Benns Essay Züchtung von 1933 werden auch hier die Opfer zu Tätern gemacht. Diese zynische „Inversion“, die Frank Schirrmacher als grundlegendes Verfahren des intellektuellen Antisemitismus offengelegt hat,6 steigert Heidegger noch dadurch, dass er den wehrlosen Opfern vorwirft, sie „setzten sich“ gegen die sie bedrohende Mordmaschinerie, von dem „Philosophen“ als „uneingeschränkte Anwendung“ des Rasseprinzips bezeichnet, „zur Wehr“. Heideggers Vorlesungen der dreißiger Jahre und seine Eintragungen in die Schwarzen Hefte belegen, dass sein die philosophische Diskussion noch heute, besonders in Frankreich und den USA, dominierendes Denken in der direkten Nachfolge der Griechenbegeisterung und des zugehörigen Antijudaismus steht, die im deutschen Idealismus ihren Ursprung haben. Desgleichen setzt seine Auszeichnung der Deutschen als der im ‚Kampf‘ um das ‚Seyn‘ an vorderster Front Stehenden die seit Fichte und der Romantik vorherrschende Ideologie der Deutschen als des auserwählten Volks fort. So gesehen, verkündet Heidegger in den Jahren 1933/34 also nicht so sehr einen

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Hölderlin, der „Dichter der seynsgeschichtlichen Dichtung“

„metaphysischen“,7 sondern einen, wie er selbst sagt, „volklichen“ Antisemitismus. (GA  36/37, 6) Zwar vermeidet er offensichtlich das rassistisch konnotierte Adjektiv ‚völkisch‘, das im Nationalsozialismus dazu gebraucht wird, die Herrschaftsideologie der ‚arischen Rasse‘ zu untermauern und alle anderen, insbesondere die Juden, auszugrenzen. Stattdessen führt er das an sich wertneutrale und wenig gebräuchliche Adjektiv ‚volklich‘ ein. Durch den Kontext jedoch, in den er es stellt, verweist er darauf, dass er sich damit auf die Hochschätzung der Deutschen als des ‚auserwählten Volkes‘ bezieht, wie sie von Herder inauguriert wurde und dann im deutschen Idealismus und im Nationalismus des 19. Jahrhunderts vorherrschend war.8 In dieser historischen Kontinuität gesehen, erweist sich Heideggers Ontologie als Radikalisierung des in der deutschen Tradition angelegten Superioritätsdünkels einer deutschnationalen Ideologie. Die Vorrangstellung der Deutschen wird nun aber nicht mehr – wie etwa bei Fichte – durch ihre ursprüngliche Sprache begründet, sondern zunächst – wie gleichzeitig im Nationalsozialismus – durch ihre ‚volklich‘ bedingte Nähe zum anfänglichen Griechentum und damit ihre mögliche Nähe zum Ereignis des ‚Seyns‘. Hölderlin, der „Dichter der seynsgeschichtlichen Dichtung“ Was Heidegger im Rausch der Begeisterung für den nationalen Aufbruch der Deutschen noch im Jahr 1933 unverbrämt als „volklichen“ Mythos zu stiften versucht, zentriert er nach den enttäuschenden Erfahrungen seines Rektoratsjahres 1933 in einer zweiten Phase auf den Dichter Hölderlin. Schon Hegel und Hölderlin hatten im Ältesten Systemprogramm eine „neue Mythologie“ gefordert. Diesem Programm folgt Heidegger nun in seinen Auslegungen von Hölderlins späten Gedichten. In der Vorlesung des Wintersemesters 1934/35 interpretiert er Hölderlins Hymnen ‚Germanien‘ und ‚Der Rhein‘, wobei er als der ‚Denker‘ sich zum Sprecher des ‚Dichters‘ stilisiert: „Jenes schwer zu tragende Glück ist dem Volke dieses Landes aufgetragen: ein Zeichen zu sein, eine Mitte, aus der und in der Geschichte gegründet. Das kann aber nur so geschehen, daß dieses Volk selbst sein Dasein gründet und stiftet, d.  h. erst wieder ursprünglich das Seyn nennt, dichterisch-denkerisch stiftet.“ (GA 39, 289) Damit etabliert Heidegger zum ersten Mal eine Denkfigur, die für ihn in den folgenden Jahren in den vielen Vorträgen zu Hölderlin den direkten Bezug auf die politischen Vorgänge ersetzt und die er bis an sein Lebensende in seinen öffentlichen Äußerungen beibehalten wird. In ihr figuriert Hölderlin als der Seher, der in seinem Werk das ‚Seyns-Geschick‘ der Deutschen dunkel zur Sprache gebracht hat. Dem Denker, also ihm, Heidegger, ist es aufgetragen, die Lichtung des ‚Seyns‘ durch seine Auslegung der dichterischen Sprache Ereignis werden zu lassen.



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In seinem frühesten Vortrag über Hölderlin, den er unter dem Titel Hölderlin und das Wesen der Dichtung „am 2. April 1936 in Rom gehalten“, 1937 erstmals veröffentlicht und später in seinen Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1. Aufl. 1951, 6. Aufl. 1996) immer wieder unverändert hat drucken lassen, bringt Heidegger diesen Zusammenhang in einer leitmotivisch wiederholten und abgewandelten Definition dessen, was Dichtung sei, zum Ausdruck. Im faschistischen Rom, das seinen Herrschaftsanspruch auf die Kontinuität des Imperium Romanum gründet, betont der Philosoph auf diese Weise die Überlegenheit der Deutschen als des Volkes der ‚Dichter und Denker‘. In zwei Versen Hölderlins, von denen bis heute nicht völlig geklärt ist, ob sie als authentische dem Werk des Dichters zuzurechnen sind,9 liest er seine eigene Definition dessen, was Dichtung ist. Aus dem von Norbert von Hellingrath in seiner Ausgabe der hölderlinschen Werke rekonstruierten Gedicht „In lieblicher Bläue …“ zitiert er die ‚Verse‘: Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet Der Mensch auf dieser Erde.

Aus diesen Worten leitet Heidegger eine Abfolge strikt definitorischer Kurzsätze ab: „Dichtung ist worthafte Stiftung des Seins. […] Dichtung ist der tragende Grund der Geschichte. […] Dichtung ist die Ursprache eines geschichtlichen Volkes.“ (Erl, 41, 42, 43) Zusammen gelesen, konzentriert sich in diesen Sätzen die Begründung Heideggers dafür, dass Dichtung bei ihm eine so zentrale Rolle für die Geschichte des Denkens übernimmt, die für ihn zugleich die wahre Geschichte des ‚Seins‘ und die des deutschen Volkes ist. Die „Stiftung des Seins“, die sich in der Dichtung vollzieht, bedarf nach ihm sowohl des Zuspruchs der Götter als auch der „‚Stimme des Volkes‘“. Und schließlich bedarf sie noch eines Dritten, „Eines, die heiligen [Sagen des Volkes] auszulegen“ (Erl, 46). Mit diesen Worten aus der zweiten Fassung von Hölderlins Gedicht „Stimme des Volkes“ inszeniert der Denker den Dichter als maßgeblichen Interpreten der vom Volk gegebenen Winke zur Geschichte des ‚Seins‘, die er allein als tragenden Grund der Realgeschichte anerkennt. Als solcher ist der Dichter in jenem „Zwischen, zwischen den Göttern und den Menschen“ (Erl, 47) angesiedelt. Die Rede des Philosophen bedient sich der Sprache des Dichters und schafft so ein mythisches Konglomerat, in dem die Grenzen zwischen dichterischer Sprache und denkerischer Auslegung verschwimmen. Ihr liegt eine Vision des ‚Seins‘ zugrunde, das in seiner Wahrheit inhaltlich nicht bestimmt wird, von dem nur sein dreifacher Ursprung in der Sphäre des Göttlichen, in den „Sagen des Volkes“ und den Worten des Dichters gesagt werden kann und von dem Heidegger behauptet, dass er es „denkerisch auseinandergelegt“ habe. (Erl, 48)

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Denken der Shoah. Völkermord und Monotheismus

Dabei bleibt vor allem im Unklaren, wer mit den mehrfach beschworenen ‚Göttern‘ gemeint sein kann. Es sei denn, sie ließen sich als die von Hölderlin in seinen Gedichten, etwa in der zum Schluss des Vortrags von Heidegger zitierten Elegie „Brod und Wein“, als Mächte des Kosmos evozierten, als das große ‚Hen kai pan‘ der ‚wachsenden Natur‘ identifizieren. Hölderlins Götter, vom Dichter mit Namen aus der griechischen Mythologie benannt, waren in der Frühe anwesend, sind in der Gegenwart geflohen und werden einer unbestimmten Zukunft als Aufgabe zugesprochen. Diese endzeitliche Vision und die auf ihr gegründete Geschichtsdialektik werden von Heidegger in sein ontologisches System übernommen. Durch diese Verwandlung der Sphäre des Göttlichen, die vom Dichter noch als solche charakterisiert wird, in ein anfängliches ‚Sein‘ verliert jedoch der historische Prozess jede Kontur, wie sie für Ursprung und Wiederkunft von Hölderlins antiken Göttern in Anlehnung an den christlichen Messianismus maßgeblich war. Dennoch wird Hölderlin in den Schwarzen Heften schließlich als „Dichter der seynsgeschichtlichen Dichtung“ bezeichnet, dem der Philosoph Heidegger mit seiner „Lichtung“ der Wahrheit des Seins „vordenken“ will. (GA  96, 98) Aus den vielen Gestalten, in denen sich bei Hölderlin das Göttliche manifestiert, wird bei ihm wieder das Eine, das ‚Seyn‘. Hier schon deutet sich die Rückwendung des späten Heidegger zu dem einen Gott seiner Jugend an. Denken der Shoah. Völkermord und Monotheismus Zu Beginn der vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die von den Nationalsozialisten geplante ‚Endlösung der Judenfrage‘ geschichtliche Realität wird, ordnet Heidegger die Ermordung der europäischen Juden in den Rahmen der von ihm entworfenen Geschichte des Kampfs um das ‚Seyn‘ ein. In den Schwarzen Heften, in denen er seine Gedanken für eine künftige Publikation niederlegt, reflektiert er über den „seynsgeschichtlichen“ Stellenwert dessen, was sich in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten Europas ereignet. Dabei treten die Juden in zweierlei Gestalt auf: als das „wesenhaft ‚Jüdische‘“, in Anführungsstriche gesetzt, weil der Denker damit das Judentum in seinem Wesen als Motor der Moderne und Verursacher des Ausuferns der Technik bezeichnen will, und als „das Jüdische“ ohne Anführungsstriche, worin die realen jüdischen Menschen zusammengefasst werden. Diese Differenzierung zieht in Heideggers Denken eine tödliche Dialektik nach sich: „Wenn erst das wesenhaft ‚Jüdische‘ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, daß das ‚Jüdische‘ überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat, so daß auch



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die Bekämpfung ‚des Jüdischen‘ und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt.“ (GA 97, 20) Heidegger beschreibt hier die Shoah als historisch zwingende Folge der vom ‚Jüdischen‘ verursachten Vormacht des ‚Gestells‘ und der ‚Technik‘ in der Moderne und weist damit einerseits darauf hin, dass die „Mühlen des Todes“ (Paul Celan) ohne die Durchdringung der Gesellschaft durch die technische Rationalität nicht denkbar seien. Zugleich aber denkt er die Ökonomisierung und Technisierung der Gesellschaft als Ausfluss des ‚Jüdischen‘ in der Geschichte. Mit dieser ungeheuerlichen Konstruktion wird jedoch nicht nur dem Tod der Opfer seine letzte Würde geraubt, nicht nur wird alle historische Verantwortung der Deutschen für ihr maßloses Verbrechen geleugnet.10 Mehr noch, hier greift noch einmal die Figur der Inversion, durch die der Antisemitismus alles historische Geschehen in sein Gegenteil verkehrt. Für Heidegger hat das ‚Jüdische‘, haben die von diesem machinierten Machenschaften der Moderne die realen Juden vernichtet. Durch sie selbst also, durch die von ihnen heraufbeschworene gesellschaftliche Moderne, sind die sechs Millionen Menschen, die Opfer der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten wurden, ermordet worden. Die Opfer werden als die eigentlichen Täter identifiziert. Das nennt Heidegger den „Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte“ und fährt fort: „Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken in das verborgene anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes das Andenken an den ersten Anfang im Griechentum bedeutet, das außerhalb des Judentums und d.  h. des Christentums geblieben.“ (GA 97, 20) Schlagender als mit dieser Bezeichnung des Judentums als der Ursprungs­ religion, die das Christentum erst hervorgebracht und dadurch das anfäng­ liche Griechentum verdrängt habe, lässt sich die These nicht belegen, dass der Kampf gegen das Judentum in der deutschen Literatur und Philosophie der Moderne nichts anderes ist als der Versuch einer Verdrängung des Monotheismus. In den Worten Heideggers, die noch einmal die Vorrangstellung des „Abendlandes“ auf dem „Andenken an den ersten Anfang im Griechentum“ begründen wollen, wird am Endpunkt der Tradition des deutschen Idealismus unmissverständlich ausgesprochen, wogegen dieser von Anfang an gerichtet war, gegen den einen und einzigen Gott, der sich gemäß der jüdischen Überlieferung den Menschen am Berg Sinai offenbart und ihnen die Normen einer menschenwürdigen Gesellschaft gegeben hatte. Damit ist auch impliziert, dass die negativen Folgen von Aufklärung und gesellschaftlicher Moderne eine direkte Folge des vom Judentum erfundenen und im Christentum perpetuierten Monotheismus sind. Nach 1945 spricht Heidegger in seinen „Anmerkungen“ in den Schwarzen Heften seine Verurteilung der monotheistischen Religionen offen aus. „Die modernen Systeme der totalen Diktatur entstammen dem jüdischchristlichen Monotheismus.“ (GA 97, 438) Für ihn ist es die Vorstellung

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Der „verborgene“ und der „abwesende“ Gott

von dem „einen und einzigen Gott“ (GA 97, 369), der in seiner Ausschließlichkeit das Modell eines jeden Totalitarismus darstellt. Dieses Denkschema hat in der aktuellen ‚Gedächtnisgeschichte‘ auch ohne die philosophische Begründung durch Heidegger durchaus Parallelen. So hat Jan Assmann die These vertreten, die „mosaische Unterscheidung“, nach der die Welt in Wahr und Falsch aufgeteilt werde und die jeden Menschen zur Entscheidung zwinge, sei der Ursprung allen politischen Unheils. Hingegen sei der antike Polytheismus mit seiner Göttervielfalt die Grundlage für einen gesellschaftlichen und politischen Pluralismus gewesen.11 Zwar sieht auch er, dass „der Kampf gegen die Mosaische Unterscheidung antisemitische Obertöne annehmen kann“,12 aber dieses Eingeständnis trifft die Sache nicht. Es verkennt, dass der Kampf gegen den Monotheismus und für eine ‚natürliche‘ Gegenreligion eine der wesentlichen Wurzeln des Antisemitismus in Deutschland gewesen ist. Der „verborgene“ und der „abwesende“ Gott Nach dem Zweiten Weltkrieg interpretiert Heidegger die Zeilen aus dem Gedicht „In lieblicher Bläue…“ noch einmal – in seiner spätesten HölderlinInterpretation mit dem Titel „…dichterisch wohnet der Mensch …“, die 1954 im ersten Heft der Zeitschrift Akzente an prominenter Stelle veröffentlicht wurde. Offensichtlich ist dem Denker jetzt das Fehlen eines kanonischen Textes, der auszulegen wäre, bewusst; denn er erwähnt beiläufig, dass das zu interpretierende Gedicht „eigentümlich überliefert“ (GA 7, 191) sei, ohne jedoch auf die Fragwürdigkeit von dessen Textkonstitution näher einzugehen. Auf dieser unsicheren Textbasis baut er eine gänzlich subjektive Suprastruktur auf. Zunächst definiert er das in der ersten Zeile genannte „Wohnen“ als „Bauen“ im doppelten Sinne des „aedificare“ und der „cultura“, also des Bauens von Häusern und zugleich der etymologisch verstandenen „Kultur“, d.  h. der Kultivierung der Natur. (GA 7, 194) Allerdings ist bei Hölderlin nirgendwo vom „Bauen“ die Rede, wie Heidegger selbst eingesteht: Hölderlin „bringt das Wohnen doch nicht […] in den Zusammenhang mit dem Bauen. Trotzdem denken wir dasselbe, was Hölderlin dichtet.“ (GA 7, 196) Diese widersprüchliche Bemerkung, mit der Heidegger selbst das Willkürliche seiner Auslegung betont, nimmt er schließlich zum Anlass, sich völlig vom Wortlaut des dichterischen Textes zu entfernen: „Das Wohnen des Menschen beruht im aufschauenden Vermessen der Dimension, in die der Himmel so gut gehört wie die Erde.“ (GA 7, 199) Das „Wohnen“ des Menschen vollzieht sich demnach darin, dass er Erde und Himmel in den Blick nimmt. Und was sieht er da? „Alles, was am Himmel und somit unter dem Himmel und somit auf der Erde glänzt und blüht, tönt und duftet,



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steigt und kommt, aber auch geht und fällt, aber auch klagt und schweigt, aber auch erbleicht und dunkelt.“ (GA 7, 204) Mit dieser Akkumulation von Verben bedient sich Heidegger selber einer dichterischen Ausdrucksweise. In seinen „singende[n]“ Worten versucht er die Schönheit des Universums, aber auch dessen Verschattung durch den Tod einzufangen. In der wachsenden und vergehenden Natur sieht der Dichter, so der Denker weiter, zugleich das Fremde des Gottes, er „ruft in den Anblicken des Himmels Jenes, was im Sichenthüllen gerade das Sichverbergende erscheinen läßt und zwar: als das Sichverbergende“ (GA 7, 200). Da ist es wieder: das Unfassbare, auf das mit dem kapitalisierten Demonstrativpronomen „Jenes“ als auf ein Transzendentes hingewiesen wird, das die Auffassungsgabe der Menschen übersteigt, sich aber gleichzeitig ihnen geoffenbart hat. Das aber ist nach traditioneller Sprechweise Gott, hier aber wird es durch die Gleichzeitigkeit von ‚enthüllen‘ und ‚verbergen‘ mit dem heideggerschen ‚Seyn‘ identifiziert, weshalb Heidegger denn auch fortfahren kann: „Das Maß besteht in der Weise, wie der unbekannt bleibende Gott als dieser durch den Himmel offenbar ist. Das Erscheinen Gottes durch den Himmel besteht in einem Enthüllen, das jenes sehen läßt, was sich verbirgt, […] das Verborgene in seinem Sichverbergen hütet. So erscheint der unbekannte Gott als der Unbekannte durch die Offenbarkeit des Himmels.“ (GA 7, 201) In dieser dritten Phase, in die Heideggers Denken nach dem Zweiten Weltkrieg einmündet, transzendiert seine Rede offen ins Theologische. Durch die Gründung seiner Ontologie auf dem ‚Ereignis des Seyns‘ hatte er versucht, dem Subjektivismus der Moderne zu entkommen. Am Ende verfängt er sich jedoch um so mehr in einer höchst subjektiven Mythologie, je mehr sich seine Philosophie des Seins dem christlichen Gottesglauben wieder annähert, von dem er einst in Meßkirch ausgegangen ist. Indem er der ‚eleusinischen Religion‘ Hölderlins nachbetet, verkürzt er sie zugleich. Aus deren Motto des „Eins und Alles“ blendet er das Alles weitgehend aus. So bleibt dieser Religion nur das ‚Eins‘, ‚Jenes‘, das ‚Seyn‘, womit die Gegenreligion, die Hölderlin zu stiften versucht hatte, wieder auf ihren christlichen Hintergrund zurückgeführt ist. Wie zu jeder Theologie gehört auch zu dieser die dunkle Seite des Bösen, die Heidegger im „Übermaß eines rasenden Messens und Rechnens“ (GA 7, 207) findet. Damit nimmt er unter einer neuen Perspektive die mit negativen Vorzeichen versehene Analyse des ‚Verfallenseins‘ des Daseins an das Man wieder auf, die in einem der eindrucksvollsten Abschnitte von Sein und Zeit unter der Überschrift „Das alltägliche Selbstsein und das Man“ die ‚Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit‘ der überwiegenden Mehrheit der Menschen beschreibt.13 Nunmehr ist jedoch nicht mehr das anonyme ‚man‘ der Widersacher, der das Dasein hindert, zu seiner ‚Eigentlichkeit‘ durchzudringen; auch einen konkreten Agenten des Verderbens, den Heidegger

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Der „verborgene“ und der „abwesende“ Gott

nach 1933 im ‚Weltjudentum‘ identifiziert hatte, benennt er nun nicht mehr. Stattdessen ist ein anonymer, automatisch ablaufender Prozess, den der Denker nun das ‚Ge-stell‘ nennt, die Ursache allen Übels. In der Dichtung Hölderlins allerdings wird immer noch, so die Auslegung Heideggers von 1954, das Dasein gerettet, jetzt durch die Gnade, in seinen Worten durch die ‚Huld‘. Mit diesem Wort übersetzt er das griechische Wort charis, das er aus Sophokles’ Aias beizieht. Auch damit ist Hölderlins Gegenreligion wieder zurückgewendet ins Christliche. Der Philosoph ist zurückgekehrt zu seinen Anfängen im katholischen Priesterseminar. Das wird vollends deutlich in dem Spiegel-Interview, das Heidegger 1966 dem Nachrichtenmagazin gegeben hat und das zehn Jahre später als sein philosophisches Testament veröffentlicht wurde. In diesem Gespräch beurteilt Heidegger die Möglichkeiten der Philosophie außerordentlich skeptisch: „Die Philosophie löst sich auf.“ An ihrer Stelle setzt er noch einmal „das andere Denken“, das sich an der Dichtung Hölderlins orientieren soll. Auf die Frage: „Sie messen speziell den Deutschen eine besondere Aufgabe zu?“, antwortet er: „Ja, in dem Sinne, im Gespräch mit Hölderlin.“14 Hier begründet er diese Sonderstellung der Deutschen nicht mehr auf der ‚volklichen‘ Nähe zu den anfänglichen Griechen, sondern auf der Exzellenz ihrer Sprache und deren Nähe zur griechischen: „Ich denke an die besondere innere Verwandtschaft der deutschen Sprache mit der Sprache der Griechen und deren Denken.“15 Die ontologischen Argumente des Philosophen haben sich seit 1933 grundsätzlich nicht mehr geändert, wohl aber ist ihre Begründung eine andere geworden. Im Alter ist seine denkerische Haltung von tiefer Resigna­ tion geprägt. Daher seine offene Flucht in die Theologie, wie sie in dem Resümee zum Ausdruck kommt, das er in dem Interview aus der Geschichte seines Denkens zieht. Es kommt einer Abdankung des Denkers als eines autonomen, selbstbestimmten Individuums gleich. Wie sein Gewährsmann Hölderlin bekennt er am Ende seines Lebens, dass der Mensch sich aus eigener Vollmacht Gott nicht zu nähern vermag: „Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit Gottes im Untergang: daß wir im Angesicht des abwesenden Gottes vergehen.“16 Aus diesen seinen letzten Worten spricht nur noch die tiefe Todessehnsucht des am Ende seines Denkwegs angekommenen Philosophen. In Johann Joachim Winckelmanns Theorie des schönen Scheins hatte die Ästhetisierung der Wahrheit ihren Anfang genommen, in Martin Heideggers Hölderlin-Paraphrasen ist sie gleichzeitig mit der Ästhetisierung der Politik an ihr Ende gekommen. So stellt sich zum Schluss die Frage, aus welchem Grund dieser an seinen Ort, die Hütte im Schwarzwald, gebundene



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Denker, in der Welt des 20. Jahrhunderts so einflussreich werden konnte. Eine Ursache ist sicherlich in der innovativen Analyse der neuzeitlichen Massengesellschaft sowie der radikalen existenziellen Grundierung des in seine Einsamkeit entlassenen Einzelnen durch das ‚Vorlaufen in den Tod‘ zu suchen, die Heidegger in seinem die bisherige Systemphilosophie re­vo­lu­tio­ nie­ren­den Hauptwerk Sein und Zeit von 1927 vorgelegt hat. Des Weiteren mag die gewaltsame Behandlung der deutschen Sprache, diese falsche Poetisierung des Denkens in Sein und Zeit sowie in den späteren Schriften eine gewisse Faszination ausgeübt haben. Heidegger ist im eigentlichen Sinne wortmächtig. Hinzu kommt, dass diese Philosophie, die alle bisherigen Denksysteme zu revolutionieren und zugleich mit dem dunklen Hinweis auf das sich entbergend verbergende ‚Seyn‘ eine unverbrüchliche Orientierung zu versprechen schien, in einer Zeit, in der alle Sicherheiten und Wertsysteme durch den totalen Krieg zerstört waren, sich als ein Denken präsentieren konnte, das von höchster Aktualität war. Überraschend erscheint allerdings, dass sich Heideggers Einfluss besonders stark in den intellektuellen Debatten der Nachkriegszeit in Frankreich ausgewirkt hat, dem Land, in dem Jean Beaufret die Person des Philosophen unmittelbar nach dem Krieg bei einflussreichen Intellektuellen eingeführt hatte. Heidegger hat sich ihm gegenüber dadurch bedankt, dass er ihm seinen Brief über den Humanismus (1947) widmete, in dem er in wenigen einfachen Sätzen sein spätes Denken des Seins expliziert: „Das Denken ist, schlicht gesagt, das Denken des Seins. […] Noch wartet das Sein, daß Es selbst dem Menschen denkwürdig werde. […] Sprache ist lichtend-verbergende Ankunft des Seins selbst. […] Vielmehr ist die Sprache das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört. […] Das Denken sammelt die Sprache in das einfache Sagen. Die Sprache ist so die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind.“17 Wie lassen sich diese Tag-Gedanken, die vielfach an Tautologie grenzen, mit den mörderischen Nacht-Gedanken der Schwarzen Hefte vereinbaren? Ein Satz im Brief über den Humanismus mag einen Fingerzeig geben: „Sein erst gewährt dem Heilen Aufgang in Huld und Andrang zu Unheil dem Grimm.“18 Vielleicht liegt in dieser rhetorischen Figur, in diesem Chiasmus, der auch alles Böse dem ‚Sein‘ zuschieben will, der Schlüssel zum Verständnis des ‚grimmigen‘ Denkers, der Heidegger zwischen 1933 und 1945 geworden ist.

13.  Coda: „Von Angesicht zu Angesicht“ Emmanuel Lévinas in Paris Zur gleichen Zeit, als Heideggers Einfluss sich in Frankreich in den fünfziger Jahren durchsetzte, hatte sich die kulturelle Energie des europäischen Judentums, die in der Zeit der Weimarer Republik in Deutschland zentriert war, nach Frankreich verlagert, das nach dem Zweiten Weltkrieg die zahlenmäßig größte jüdische Bevölkerungsgruppe in Europa beherbergte. So ist es nicht verwunderlich, dass zwei der bekanntesten und einflussreichsten französischen Intellektuellen, Jacques Derrida und Emmanuel Lévinas, die in ihrem Denken maßgeblich auf die jüdische Tradition zurückgehen, auf unterschiedliche Weise ihren Denkweg als Heideggerianer begonnen haben. Lévinas, der sich als Freiburger Student im Sommer 1928 und im Winter 1928/29 zunächst mit Husserls Phänomenologie vertraut gemacht hatte und 1930 mit einer Dissertation über La Théorie de l’ Intuition dans la Phénoménologie de Husserl promoviert wurde, nahm im Wintersemester 1928/29 an den Seminaren des gerade erst nach Freiburg berufenen Hei­degger teil. Im Frühjahr 1929 wurde er dann als einer von zwei französischen Studenten zu den zum zweiten Mal stattfindenden Davoser Hochschulkursen eingeladen und wohnte dort dem historisch gewordenen Disput zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger über die Frage „Was ist der Mensch?“ bei. Lévinas nahm in dieser grundlegenden Auseinandersetzung offen Partei gegen den neukantianischen Humanisten aus Hamburg und für das junge Genie aus dem Schwarzwald, als das sich der Verfasser von Sein und Zeit präsentierte. Während er am letzten Tag der Veranstaltung in einer satirischen Abschlussrevue den Verfasser der Philosophie der symbolischen Formen karikierte, hatte er am gleichen Nachmittag den französischen Teilnehmern einige Seiten aus dem eben erschienen Hauptwerk Heideggers übersetzt und kommentierend erklärt. Wie Maurice de Gandillac, einer der Teilnehmer der französischen Delegation, sich in seinen Memoiren erinnert: „Er sprach von Heidegger voller Verehrung, offenbarte uns alle Nuancen eines Denkens, das ihm bereits wohlvertraut war.“1 Lévinas war demnach der erste, der einer philosophisch interessierten Öffentlichkeit Frankreichs das Denken Heideggers nahezubringen versuchte. Noch fast sechzig Jahre später, wenige Jahre vor seinem Tod im Jahr 1995, hat Lévinas bezeugt, dass er sich nur schwer der Faszination der heideggerschen Philosophie zu entziehen vermochte. In einem seiner letzten Vorträge am Collège International

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de Philosophie vom März 1987 gesteht er ein: „Ungeachtet des Entsetzens das eines Tages mit dem Namen Heidegger verbunden war, […] konnte nichts meine Überzeugung erschüttern, daß ‚Sein und Zeit‘ aus dem Jahre 1927 ein unwiderrufliches Ereignis ist.“2 Der Denker und gesetzestreue Jude, der sich erst mit seinen Talmudlektüren ganz aus dem Dunstkreis des deutschen ‚Meisterdenkers‘ gelöst hat,3 hatte sich jedoch spätestens seit seiner Habilitationsschrift Totalité et Infini (1961) (Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität) von Heidegger abgewandt. Mehr noch, man kann sagen, dass dieses Buch mit seiner Polemik gegen das Denken der „Totalität“ geradezu die Wasserscheide zwischen der abendländischen Philosophie des Seins und einer von der jüdischen Tradition inspirierten Metaphysik darstellt. Aus dieser Perspektive gesehen, erweist sich, dass der „Philosophie des reinen Denkens, wie sie von Parmenides bis Hegel die abendländische Philosophie beherrscht hat“ und wie sie noch Heideggers Fundamentalontologie bestimmt, „die Kraft zur Lösung des Lebens und zur Erlösung vom Tode“ abgeht.4 Sie ist eine einzige mythische Großerzählung, so Lévinas, die das Wesen des Menschen verkennt, indem sie seine Andersheit und seine Geschiedenheit vom Kosmos leugnet und ihn in dessen imaginierte ‚Ganzheit‘ einsperrt, dabei die Vielheit der menschlichen Gesellschaft und der natürlichen Welt dem abstrakten Sein unterordnet. Lévinas beginnt seine philosophische Abhandlung über „Totalité et Infini“ überraschenderweise mit einem Hinweis auf den Krieg als den möglichen Ursprung der Philosophie. Schon im ersten Abschnitt des Buches wird der Zustand der Welt als das entlarvt, was er ist, Krieg und räuberischer „Frieden der Imperien“ (TuU, 21), Polemos eben, wie er ursprünglich und exemplarisch im homerischen Epos gestaltet und von Heraklit in seinem von Heidegger zitierten Fragment benannt worden ist. Sicherlich spielt für diesen Befund eine Rolle, dass der Philosoph, aus Kaunas in Litauen stammend, wo seine Eltern und seine Brüder den nationalsozialistischen Eroberern zum Opfer gefallen sind, den Krieg als Gefangener in einem deutschen Kriegsgefangenenlager erlebte und überlebte. So wird es verständlich, dass er schon auf der ersten Seite des Vorworts seines Buchs konstatiert: „Daß sich dem philosophischen Denken das Sein als Krieg zeigt: daß der Krieg als die offenkundigste Tatsache […] die eigentliche Offenbarkeit des Wirklichen – oder seine Wahrheit – ausmacht, dazu bedarf es keines Beweises anhand dunkler Heraklitischer Fragmente.“ (TuU, 19) Dieser Satz besagt zweierlei: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert hat sich der Krieg als der „natürliche“ Zustand der Welt erwiesen, was allen Menschen dieser Epoche als Erfahrung unmittelbar gegenwärtig ist. Gleichzeitig aber polemisiert Lévinas mit dieser Formulierung am Beginn seiner Untersuchung offen gegen seinen Lehrer Heidegger, der unter Bezug auf Heraklit den Krieg



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als das Ereignis bezeichnet hatte, in dem das ‚Seyn‘ sich verbergend entbirgt. Damit ist von vorneherein die Richtung vorgezeichnet, in die Lévinas die eigene Philosophie im strikten Gegensatz zu Heideggers Fundamental­ ontologie ausrichtet. Totalität und Unendlichkeit kennt nur einen Widersacher: die Ontologie Heideggers, die Lévinas zu Recht als die Vollendung der abendländischen Faszination mit der ‚Totalität‘ begreift. Die Kategorie der ‚Ganzheit‘, die er als den Ursprung des heideggerschen Denkens ausmacht, ist seit ihrer Erfindung im 18. Jahrhundert eine zutiefst ästhetische Kategorie, in der das Weltall, der Kosmos, mit allem, was in ihm vorhanden ist und lebt, als schönes Ganzes nach Art des vollendeten symbolischen Kunstwerks begriffen wird. Nicht umsonst sind der Pantheismus und das klassisch-romantische Kunstwerk Geschwister, die zur gleichen Zeit das Licht der Welt erblickt haben wie der hegelsche Weltgeist, den der letzte große Systemdenker in Analogie zu solch einem ganzheitlichen Gesamtkunstwerk konstruiert hat. Gegen diese abendländische Denktradition, die seit der Philosophie eines Parmenides alles Seiende einem großen, abstrakten Ganzen, dem Sein, ein- und unterordnet und die ihre Vollendung im 20. Jahrhundert in Heideggers Fundamentalontologie gefunden hat, wendet sich Lévinas von Anfang an. Er kritisiert sie als eine ‚Philosophie der Macht‘, durch die alles Seiende dem Sein und damit dem denkenden Ich unterworfen und so dessen ‚Besitz‘ wird. In diesem Zusammenhang verweist Lévinas scharfsichtig auf die Beziehung zwischen Heideggers Denken und seinem voraufklärerischem Bezug zur Welt. Die Bindung des in seiner Hütte im Schwarzwald Philosophierenden an den heimatlichen Boden erweist sich ihm nicht als die Idiosynkrasie eines provinziellen Denkers. In ihr deckt er vielmehr die Identität des heideggerschen ‚Seyns‘ mit dem auf, was Hölderlin die ‚wachsende Natur‘ genannt hatte: „Die Ontologie wird Ontologie der Natur, der Natur als unpersönlicher Fruchtbarkeit, großmütiger Mutter ohne Antlitz, Gebärerin des besonderen Seienden, unerschöpflicher Muttergrund der Dinge.“ (TuU, 56) Von Anfang an negiert Lévinas so die Möglichkeit der ‚Totalität‘, auf die von Homers Dichtung über den Trojanischen Krieg bis zu Heideggers Krieg um das ‚Seyn‘ die menschliche Geschichte als auf ihre Vollendung in einem Ganzen hin gedacht wurde. Stattdessen stellt er den lebendigen Menschen in seiner Nacktheit und Bedürftigkeit in den Mittelpunkt seines Denkens, aber damit auch dessen ethische Forderung an das ihm begegnende Ich. Diese Sicht auf den Anderen, die Anderen, in der aus der Begegnung „von Angesicht zu Angesicht“ das biblische Gebot: ‚Du sollst nicht töten!‘ entspringt, belegt er allenthalben mit Zitaten aus den kanonischen Schriften des Judentums.5 „Die eigentliche Epiphanie des Anderen besteht darin, uns durch

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sein Elend im Antlitz des Fremden, der Witwe und des Waisen zu fordern.“ (TuU, 107) Der Philosoph spielt in diesem Satz, in dem er den „Anderen“ zum Kronzeugen seines neuen Denkens bestimmt, auf eine biblische Formel an, die geradezu als Topos des für den gesetzestreuen Juden geltenden Gebots der Nächstenliebe gelten kann. Nicht nur wird das Tun Gottes dadurch charakterisiert, dass er „der Waise und Witwe Recht schafft“, dass er „den Gastsassen liebt, ihm Brot und Gewandtuch zu geben“. Mit der gleichen Formel wird auch das Gott gefällige Tun Israels beschrieben: „du hast dem Leviten, dem Gastsassen, der Waise und der Witwe gegeben, daß sie in deinen Toren essen und ersatten“.6 Der Andere – das zeigt sich hier – ist aus Lévinas’ Sicht in Übereinstimmung mit der jüdischen Tradition der Unterprivilegierte und der Fremde. In dessen Antlitz leuchtet die ethische Verpflichtung des Menschen auf, ihn als Gast zu empfangen. Indem die Begegnung „von Angesicht zu Angesicht“ jeden einzelnen Menschen vor seine Verantwortung stellt,7 setzt sie die von den Propheten verkündete „Eschatologie des messianischen Friedens“ (TuU, 21) in ihr Recht ein. Nicht mehr aus dem Nachdenken über Troja, Sparta oder Athen entspringt in dieser Philosophie die Wahrheit, sondern aus dem Bedenken der Heiligen Schrift. Lévinas’ Philosophie kulminiert in der phänomenologischen Lektüre des Gesichts. Worin besteht dann der Unterschied zu Schillers Ekphrasis des Gesichts der Juno Ludovisi, von der unsere Analyse des Legitimationsdiskurses der Moderne ausgegangen ist? Letztere ist ästhetisch, beschwört den schönen Schein als ihre letzte Wirklichkeit. Lévinas’ Lesart hingegen ist sinnlich, wendet sich dem lebendigen Leib zu, dessen Anschauung von der vorgängigen Lektüre der Heiligen Schrift ,erleuchtet‘ ist.8 „Epiphanie als Angesicht“ (TuU, 280 u. 288), dieses mehrfach von ihm beschworene Phänomen hat einen doppelten Charakter. Als ethisches ruft es die erste und grundlegende soziale Verpflichtung der Zehn Gebote in Erinnerung. Von dem Anderen sagt Lévinas: „Diese Unendlichkeit, die stärker ist als der Mord, widersteht uns schon in seinem Angesicht, ist sein Angesicht, ist der ursprüngliche Ausdruck, ist das erste Wort: ‚Du wirst keinen Mord begehen.‘“ Aber auch im positiven Sinne stellt das Angesicht des Anderen eine ethische Herausforderung dar. So kann es als „Ersuchen“ gelesen werden, das „meine Güte hervorruft“. (TuU, 286 f.) Auch diesen Grundsatz seiner Philosophie leitet Lévinas von der jüdischen Tradition her, indem er Rabbi Yochanan aus dem Traktat Synhedrin (104 b) des Babylonischen Talmuds zitiert: „Die Menschen ohne Nahrung lassen – das ist ein Vergehen, das kein Umstand mildert“. (TuU, 288) Diese Begründung einer Ethik in der Phänomenologie des Angesichts kehrt den Weg der Erkenntnis um. Erst die Lektüre der Schrift gibt der Begegnung mit dem Anderen ihre ethische Dimension und ihre metaphysische Würde. In der „Unendlichkeit“, die sich im Angesicht des Anderen



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präsentiert, ist der menschlichen Wahrheitssuche ein Ziel gesetzt, das für immer unerreichbar bleibt. Denn der Andere bleibt bei aller menschlichen Nähe „unendlich transzendent, unendlich fremd“. (TuU, 278) Gerade darin widerspricht Lévinas Heidegger „auch grundsätzlich“; denn „der Andere affiziert uns nicht als jemand, den es zu überwinden, einzunehmen, zu beherrschen gilt – sondern als Anderer, der von uns unabhängig ist.“ (TuU, 123 f.) In der Beziehung zu ihm als einem absolut Anderen „vollzieht die Beziehung zum Unendlichen die Erfahrung schlechthin“ (TuU, 26). Insofern gilt: „Der Andere ist der eigentliche Ort der metaphysischen Wahrheit und für meine Beziehung zu Gott unerläßlich.“ (TuU, 108) So wird der Andere zum Stellvertreter eines Gottes, der dem Menschen sein Angesicht nicht zeigt. Auch in dieser Letztbegründung seiner Metaphysik lässt Lévinas deren Ursprung in der Thora noch einmal aufscheinen. Im Buch Exodus, zwischen der ersten Verleihung der Gesetzestafeln an Moses, die dieser wegen der Verfehlung des Volkes Israel vernichtet, und der zweiten, von ihm selbst aufgeschriebenen Fassung, bittet Moses darum, Gottes Namen vor seinem ‚Angesicht‘ anrufen zu dürfen. Worauf ER erwidert: „Mein Angesicht kannst Du nicht schauen, | denn nicht schaut mich der Mensch und lebt. […] wenn meine Herrlichkeit vorüberfährt, | setze ich dich in die Kluft des Felsens | und schirme meine Hand über dich, | bis ich vorüberfuhr. | Hebe ich dann meine Hand weg, | schaust du meinen Rücken, | aber mein Angesicht wird nicht erschaut.“9 Wie der Gott des Sinai, der an Moses vorüberzieht, aber ihm ausdrücklich den Anblick seines Angesichts verweigert, stattdessen ihn anspricht und ihm so sein Wesen offenbart, spricht Gott zum Menschen nur durch die „Sprache“ des Angesichts des „absolut anderen Anderen“. (TuU, 292) Er selbst, der Unendliche, zeigt sein Gesicht dem Menschen nicht, bleibt unsichtbar und kann im Unterschied zu Heideggers ‚Seyn‘ auch nicht gedacht werden. Aus dieser absoluten Negation leitet Lévinas seine Definition einer reinen Religion ab, deren Letztbegründung dem Verstand nicht mehr zugänglich ist. „Die Idee des Unendlichen, die metaphysische Beziehung, ist der Aufgang einer Menschheit ohne Mythos. Aber der von Mythen gereinigte Glaube, der monotheistische Glaube, setzt seinerseits den metaphysischen Atheismus voraus.“ (TuU, 106) Aus der kommentierenden Lektüre der Thora gewinnt der Philosoph so den Begriff eines gewandelten, eines von aller physischen und metaphysischen Verunreinigung befreiten Gottes, der ausschließlich durch den Blick auf das menschliche Du in seiner ethischen Dimension sichtbar wird. Die Berufung auf das ‚Angesicht des Anderen‘, die in vielfacher Variation Totalität und Unendlichkeit durchzieht und den eigentlichen metaphysischen Gehalt des Buches ausmacht, ist kein bloßer „Empirismus“, wie Jacques Derrida am Ende seines Essays „über das Denken Emmanuel

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Lévinas’“ unterstellt. Nach Derrida ist der Entwurf eines Monotheismus, dessen Gott der Vernunft nicht zugänglich ist, nichts anderes als „der Traum eines in seinem Ursprung rein heterologischen Denkens. Reines Denken der reinen Differenz.“10 Traum deshalb, weil in ihm der Logos der Sprache noch nicht erwacht sei, und daher „Empirismus“. Allerdings hat auch Derrida erkannt, dass Lévinas’ Denken sich aus der jüdischen Tradition als aus seiner tiefsten Quelle speist. Er nennt diese Begründung der Philosophie in der religiösen Erfahrung, die aus der Thora spricht, „Judaismus“ („judaism“) und fordert den Philosophen auf, „das Griechische in der autistischen Syntax seines eigenen Traums zu wecken“.11 Damit deutet er an, wie er den Gegensatz zwischen Judentum und Griechentum, zwischen den Propheten und den Philosophen zu versöhnen gedenkt. Wenn er am Schluss seines Essays die Frage stellt: „Sind wir Juden? Sind wir Griechen?“, gibt er darauf die Antwort: „Wir leben im Unterschied des Jüdischen und des Griechischen, der vielleicht die Einheit dessen ist, was man Geschichte nennt. Wir leben in und aus der Differenz […].“12 Der Unterschied zwischen der Sprache der Philosophen, also dem Griechischen, und der religiösen Sprache der Bibel, die im Judentum ihren Ursprung hat und von ihm tradiert worden ist, soll die „Einheit“ der „Geschichte“ darstellen. Wie ist das zu verstehen? Nur durch die Unterwanderung der historischen Trennung bei gleichzeitiger Beibehaltung der Differenz, meint Derrida, können ‚jüdisches Griechisch‘ und ‚griechische Judensprache‘ nebeneinander bestehen. Das unterstellt, dass alles sein Anderes in sich trägt und sich so in der Differenz befindet. Damit ist die Eigenart der beiden kulturellen Traditionen ihrerseits verwischt und in ihrer jeweiligen Andersheit – das, was Lévinas das „absolut andere Andere“ nennt, (TuU, 292) – nicht wirklich ernst genommen. Mit einem Zitat aus dem Roman Ulysses von James Joyce, mit dem er seinen Essay beschließt: „Jewgreek is greekjew. Extremes meet“, versucht Derrida seine Synthese von Philosophie und Religion zu beglaubigen. Bei dem Romancier stehen diese Sätze allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang.13 Joyce nennt den von Derrida zitierten Spruch „Weiberlogik“, „woman’s reason“. In dem Satz, der in seinem ursprünglichen Kontext zudem noch als Hutband parodiert und damit in seiner Ernsthaftigkeit in Frage gestellt wird, möchte der Romancier den Gegensatz der beiden geistigen Welten in „der Vernunft der Frauen“, in der die „Extreme zusammenkommen“, aufgehoben sehen. In ihr herrsche weder das Identitätsprinzip der griechischen Metaphysik, noch der Ausschließlichkeitsanspruch des einzigen Gottes. Wie Gertrud Kantorowicz zugleich von der Schönheit der griechischen Statuen und des griechischen Originaltextes der homerischen Epen wie von der religiösen Bindung des Lebens an den einen geoffenbarten Gott durchdrungen war, so ließe sich auf der Ebene des Weiblichen,



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darauf scheint Joyce ironisch hindeuten zu wollen, eine Synthese der beiden Formen der abendländischen Vernunft denken. Anders Lévinas. Er ist dem schwerwiegenden Vorwurf des Autismus in Bezug auf die jüdische Tradition in einer seiner späten Talmudlektüren entgegengetreten, in der er unter dem Titel Die Übersetzung der Schrift eine Antwort auf die Aporie zu geben versucht, die sich in dem Paradox einer philosophisch argumentierenden Religion auftut. In seiner Auslegung des Traktats Megilla 8a/9a-b, vorgetragen auf dem XXIII. Colloque des Intellectuels Juifs de Langue Francaise 1984, hat er eine Unterscheidung zwischen der griechischen Sprache und der griechischen Weisheit vorgenommen. Ausgehend von der aggadischen Erzählung, die Septuaginta sei dadurch entstanden, dass der König Ptolemäus siebzig weise Männer in siebzig Häuser gesetzt und ihnen den Auftrag gegeben habe, die hebräische Bibel ins Griechische zu übersetzen, kommt er in seinem Kommentar dieser Erzählung auf Grund der Kongruenz aller siebzig Übersetzungen zu dem Schluss, es sei dem jüdischen Denker erlaubt, die griechische Sprache und die in ihr ausgebildete logische Begrifflichkeit zu benutzen, nicht aber die in der Philosophie niedergelegte griechische ‚Weisheit‘. Auf diese Weise nimmt Lévinas in dem Antagonismus zwischen Moses und Homer, zwischen Propheten und Philosophen eindeutig Stellung, wobei er die Inspiration seiner tiefsten Einsichten aus der jüdischen Tradition schöpft. Auch wenn er in seinem Buch, in dem er Heideggers Philosophie und deren Herkunft aus der griechischen Frühe grundsätzlich in Frage stellt, „die tiefe Zerrissenheit einer Welt, die zugleich auf die Philosophen und die Propheten hört“ (TuU, 24), beklagt,14 lässt er sich auf keine voreilige Synthese ein. Was Derrida „Empirismus“ nennt, erweist sich bei genauem Hinsehen als kommentierendes Verfahren, das die in der Tradition niedergelegte Erfahrung lesend in die eigene Sicht der Dinge einbringt. Denn in dem Sinnlichen des menschlichen Angesichts, das von dem Denker in den Blick genommen wird, drückt sich ein Übersinnliches aus, das jedoch erst dadurch sichtbar wird, dass der Blick seinen Richtungssinn aus der Tradition der Schrift empfängt. Erst die Begegnungen „von Angesicht zu Angesicht“ mit den lebendigen Anderen und die Begegnungen in der Schrift mit denen, die vor uns gelebt haben, also mit den radikal Anderen, welche die Toten sind, setzen dem Macht- und Besitzstreben Grenzen, welches in der ontologischen Ordnung des Kosmos als ‚Totalität‘ seinen Ausdruck gefunden hat. Grenzen, die von einem anderen Bezirk als dem der ‚wachsenden Natur‘ her gesetzt werden, Grenzen, die ihre Autorität aus der im kollektiven Gedächtnis der kanonischen Schriften aufbewahrten Erfahrung unserer Vorfahren schöpfen. Denn „nur um der Hoffnungslosen willen“ – und das sind die Toten – „ist uns die Hoffnung gegeben“, so Walter Benjamin im Schlusssatz seines tiefsinnigen Essays über Goethes Wahlverwandtschaften. (GS 1, 201)

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Und nun? Bei nüchterner Beschreibung der gegenwärtigen Lage müssen wir zugestehen: Wir leben im Vergessen sowohl des Jüdischen wie des Griechischen. Auch die Epoche der Gegenreligion, die sich auf die griechischen Götter berufen zu können glaubte, ist schon wieder zu Ende. Geblieben ist der Polemos, der Krieg, in einer von Nomaden überrannten und tyrannisierten räuberischen Gesellschaft, wie sie Franz Kafka in seinem kurzen Prosatext Ein altes Blatt beschreibt. Im gleichen Band Ein Landarzt, in dem er 1919 die Erfahrungen mit dem Massenmorden des Ersten Weltkriegs literarisch verarbeitet,15 evoziert er auch den Zustand des öffentlichen Bewusstseins, der dieses fortdauernde Unheil erst möglich macht: Der alte Kaiser ist tot und die Botschaft des Toten ist nicht mehr zu uns gedrungen, die wir sie träumerisch am Fenster erwarten, „wenn der Abend kommt“.16 Wenn Homer also einen Pyrrhussieg über Moses errungen hat, weil er schließlich selbst vergessen wurde, bleibt uns dann nur die Resignation? Ist es nur noch das in Tod und Vernichtung endende Gesetz des ‚natürlichen Wachstums‘, das unbegrenzt und unreflektiert Geschichte und Gesellschaft vorantreibt? Oder gibt es einen Weg, den Monotheismus erneut zu denken und zu leben, wenn er einmal aus der Öffentlichkeit verdrängt ist? Sicherlich nicht in seiner historischen Form, als monolithischen Block mit Riten, Gesetzen und überlieferten Glaubens- und Kultformen. Auch hier kann es – wie in allen Lebensbereichen – nur um Verwandlung gehen. Lévinas’ Philosophie stellt die Frage, ob nicht in der zentralen gesellschaftlichen Bestimmung des Dekalogs, die da lautet: ‚Du sollst nicht töten!‘, das Grundgesetz aller menschlichen Vergesellschaftung gegeben ist? So jedenfalls hat er es in Schwierige Freiheit (1963) auf eine knappe Formel gebracht: „Ein Gesicht sehen heißt bereits hören: ‚Du sollst nicht töten.‘ Und wer ‚Du sollst nicht töten‘ hört, der hört ‚Soziale Gerechtigkeit‘.“17 Wo sehen wir das Gesicht des Menschen? Wir sehen es in jeder wirklichen Begegnung mit der Anderen, dem Anderen. Wir sehen es zudem in der Literatur, die eine Sprache ist, in der uns das Gesicht des individuellen Menschen vor Augen geführt wird. Aus jedem so wahrgenommenen ‚Angesicht‘ aber, so Lévinas, tritt uns das Gesetz entgegen, dessen Befolgung eine gerechte und friedliche, das heißt, eine messianische Gesellschaft vorbereitet. Unter dieser Perspektive gesehen, scheint Philosophie, wie Lévinas sagt, nur noch als ethisch begründete denkbar zu sein. Das heißt aber: Nur im Zusammenspiel von Halacha und Aggada, von Gesetz und Literatur, und von beiden gemeinsam – nach dem methodischen Vorbild des Talmud – ist vielleicht noch eine Hoffnung gegeben. Also wäre Göttliches und Menschliches zusammen zu denken, die jüdische Weisheit mit der Achtung des konkreten individuellen Lebens und so mit dem offenen Blick auf das Geheimnis des menschlichen Angesichts.

Anmerkungen Vorwort   1 Eliza M. Butler: The Tyranny of Greece over Germany. Cambridge 1935.   2 Heraklit  22  B 53  Diels-Kranz. Vgl. auch 22  B 80  Diels-Kranz: „Man muss aber wissen, dass der Krieg allgemein ist.“     3 Formulierung nach dem Titel des Buches von Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Berlin 1919.   4 Martin Hengel: Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr. Tübingen 1969, 3.   5 Zur Genese des Verbs ‚verjuden‘ vgl. Steven Aschheim: The Jew Within. The Myth of ‚Judaization‘ in Germany. In: Ders.: Culture and Catastrophe. German and Jewish Confrontations with National Socialism and Other Crises. New York 1996: „The theory of ‚Verjudung‘ was the negative mirror image of assimilation.“ (48) Das Verb ‚vergriechen‘ wird zum ersten Mal, allerdings in positiver Bedeutung, von Friedrich Gottlieb Klopstock in seinen Grammatischen Gesprächen gebraucht, in denen er von Johann Heinrich Voss sagt: „nun könnte Homer, auch wenn er untergienge aus dem verdeutscher wieder vergriecht werden“. DWB 25, Sp. 492.   6 Franz Rosenzweig: Fragmente aus dem Nachlaß. In: Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5699. Berlin 1938/39, 55.

1.  Aufklärung durch Kunst   1 [Johann Joachim Winckelmann:] Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Zweyte vermehrte Auflage. Dresden und Leipzig. Im Verlag der Waltherischen Handlung. 1756, 1–44. (Faksimile in: Johann Joachim Winckelmann: Kunsttheoretische Schriften  I. Baden-Baden/Strasbourg 1962.) Künftig im Text nachgewiesen mit der Sigle WG.   2 Vgl. hierzu Verf.: Christian Fürchtegott Gellert. Schriftsteller und Universitätslehrer in Sachsens goldenem Zeitalter. In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 4 (2010), 30–49.   3 Vorlesungen des Herrn Professor Gellert über Stockhausens Bibliotheck der schönen Wissenschafften. In: Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften Bd. VII. Berlin, New York 2008, 203–264. Moralische Vorlesungen.In: Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften Bd. VI. Berlin, New York 1992, 1–286.   4 In: Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften Bd. II. Berlin, New York 1997, 89 f.   5 In: Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften Bd. V. Berlin, New York 1994, 213–222.   6 Gellert, wie Anm. 5, 215.

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  7 Gellert, wie Anm. 5, 214.   8 Gellert, wie Anm. 5, 221.   9 Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. WG, 47–89. Und: Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst und Beantwortung des Sendschreibens über diese Gedanken. WG, 101–172. 10 Vgl. hierzu Harald Marx: Sehnsucht und Wirklichkeit. Malerei für Dresden im 18. Jahrhundert. Köln 2008. 11 Zum Zeitpunkt der Entdeckung vgl. Jens Daehner: Fundgeschichte und archäologischer Kontext. In: Ders. (Hg.): Die Herkulanerinnen. Geschichte, Kontext und Wirkung der antiken Statuen in Dresden. München 2008, 22–24. 12 Kordelia Knoll: Winckelmann und die „drei Vestas aus dem Herculano“. In: Jens Daehner (Hg.), wie Anm.  11, 39 f. überliefert den Bericht des Oberkammerherrn von Eckstädt, die Statuen seien seit 1747 „in einem Pavillon und zwei Schuppen“ deponiert. 13 Letzteres nimmt Luca Giuliani an: Winckelmanns Laokoon. Von der befristeten Eigenmächtigkeit des Kommentars. In: Glen W. Most (Hg.): Commentaries – Kommentare. Göttingen 1989, 306: „Was Winckelmann vor Augen hatte, war nicht das dreidimensionale, plastische Werk, sondern eine graphische Reproduktion: sei es ein loser Kupferstich, sei es die Abbildung in einem Tafelwerk.“ Ähnlich Helmut Pfotenhauer: Winckelmann und Heinse. Die Typen der Beschreibungskunst im 18. Jahrhundert oder die Geburt der neueren Kunstgeschichte. In: Gottfried Boehm u.  a. (Hg.): Beschreibungskunst. München 1995, 313–338. Doch schon Carl Justi: Winckelmann in Deutschland. Leipzig 1866, 451 hatte darauf hingewiesen, dass es als „Nr. 71 in der Antikensammlung“ eine „kleine Bronzenachbildung“ gab, wie sie im Barock weit verbreitet waren. Das wird neuerdings auch von Helmut Pfotenhauer: Winckelmanns Ästhetik und die Moderne. In: Elisabeth Décultot u.  a. (Hg.): Winckelmann. Moderne Antike. Weimar, München 2017, 69 vertreten. 14 Der Kaiser Vespasian (9–79 n. Chr.), dessen Geburtsname Titus Flavius Vespasianus lautete, war ein beim Volk beliebter Herrscher, der die unter Nero ruinierten Staatsfinanzen sanierte und Rom in neuer Pracht wieder aufbauen ließ. Möglicherweise ist auch dessen Sohn Titus gemeint, der die Bautätigkeit seines Vaters in seiner kurzen Regierungszeit fortsetzte. Beide sind als Eroberer Jerusalems und Zerstörer des dortigen Tempels in die Geschichte eingegangen und haben ihren Wiederaufbau Roms teilweise mit der Kriegsbeute aus dem Jüdischen Krieg finanziert. 15 Vgl. Wolfgang Schadewaldt: Winckelmann und Homer. In: Ders.: Hellas und Hesperien. Zürich u. Stuttgart 1960, 610: „Diese ‚Seelengroßheit‘ nun in ihren vielfältigen Brechungen und Gestalten […] las Winckelmann schon zu Seehausen aus seinem Homer heraus“. 16 Ilias XI, 784. Übersetzung Wolfgang Schadewaldt. Horst Rüdiger: Winckelmanns Persönlichkeit. In: Der Deutschunterricht 8.5 (1956), hat als erster darauf hingewiesen, dass dieser Vers aus der Ilias Winckelmanns Lebensmotto gewesen sei. 17 Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Bd. VII. Berlin u. New York 2008, 15–140. 18 C. F. Gellerts Briefwechsel. Hg. von John F. Reynolds. Bd. III (1760–1763). Berlin, New York 1991, 228. 19 Die Villa Albani, heute Villa Torlonia, vor der Porta Pia gelegen. 20 Wolfgang Leppmann: Winckelmann. Ein Leben für Apoll. Berlin 1996, 187.



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21 Es handelt sich bei dem geplanten Werk um eine Vorform des Werks Monumenti Antichi Inediti spiegati et illustrati. Roma 1767, das im Zweiten Band mit 208 Kupferstichen illustriert ist. 22 Gellerts Briefwechsel. Bd.  III, wie Anm.  18, 230. In einem Brief an den Verleger Walther in Leipzig vom 9. April 1763 trägt Winckelmann dem Empfänger auf, „dem Herrn Professor Gellert meinen herzlichen Gruß zu machen“, was doch wohl auf eine persönliche Bekanntschaft schließen lässt, insbesondere da Winckelmann diese Bekanntschaft bei den anderen beiden, die gegrüßt werden sollen, besonders hervorhebt: „ingleichen dem Hrn. Prof. Böhme und dem Hrn. Baron von Hohenthal, welche ich von hier aus kenne“. (WB 2, 306.) Walther Rehm ist anderer Ansicht: „über persönliche Beziehungen W.s zu Gellert ist nichts bekannt“. (WB 2, 491.) 23 In seinem Brief vom 26. Februar 1759 an Johanna Erdmuth von Schönfeld, in dem er dem adeligen Fräulein eine „kleine deutsche Bibliothek“ zusammenstellt, führt er unter der Überschrift „Moralische und witzige Schriften“ neben Lessings „Theatralischer Bibliothek“ und seiner eigenen Briefsammlung auch Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung“ auf, die er als ein „schönes Werk zum Geschmacke in der Malerey“ qualifiziert. (Gellerts Briefwechsel. Bd. II. 1756–1759. Berlin, New York 1987, 225.) 24 Gellerts Briefwechsel. Bd. III, wie Anm. 18, 230. 25 Vgl. die Briefe Winckelmanns an Wille und an Stosch, Mitte August 1757. WB 1, 294–299. 26 Der Begriff wurde vom Rudolf Otto (Das Heilige. München 1917) für das Anziehende des göttlichen Geheimnisses geprägt. 27 Christoph Kolumbus: Das Bordbuch. Leben und Fahrten des Entdeckers der Neuen Welt 1492. Wiesbaden 2013, 86–88. Ähnlich 204: „Der König und alle seine Volksgenossen liefen vollkommen nackt umher, einschließlich der Frauen, ohne irgendeine Scham zu zeigen. Sie gehörten zu den schönsten Eingeborenen, den wir bisher begegnet waren; ihre Hautfarbe war ziemlich hell, und würden sie sich kleiden und vor Wind und Wetter schützen, so wären sie so weiß wie die Bewohner Spaniens.“ Hier ist der entscheidende Unterschied zu Begegnungen mit anderen indigenen Völkern markiert. Die Indianer werden als unbekleidete ‚Weiße‘, das heißt, als Europäer wahrgenommen. 28 Leppmann, wie Anm. 20, 75 nennt sie „eine der besten Privatbibliotheken Europas“. 29 „Es ist auch bekannt, wie sorgfältig die Griechen waren, schöne Kinder zu zeugen. Quillet in seiner Callipädie zeiget nicht so viel Wege dazu, als unter ihnen üblich waren. Sie giengen so gar so weit, daß sie aus blauen Augen schwarze zu machen suchten.“ (WG 6) 30 Vgl. hierzu Verf.: Die Wissenschaft des Guten und Bösen. Interpretationen zu Platons Charmides. Berlin 1970. 31 Johann Gottfried Herder, der in vielen seiner ästhetischen Schriften auf Winckelmann rekurriert, hat in seiner Abhandlung Plastik von 1778 dies erkannt und zu Recht auf den Zusammenhang von bildender Kunst und Darstellung des nackten Körpers hingewiesen. An Winckelmanns zentrale Beispiele antiker Kunst knüpft er die rhetorischen Fragen an: „Apollo […] vom Siege Pythons kam er unbekleidet? Laokoon […] bei einem Opfer, vor dem versammelten Volke, war er nackt?“ Gegen die Verhüllungstendenzen der damaligen Kunst stellt er die Behauptung: „Wie anders die Griechen! Sie […] bildeten, was gebildet werden konnte, schöne Körper“. (HW 261) 32 Plin. Nat. 35, 128: „hic primus videtur expressisse dignitates heroum“.

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33 Die Übersetzung von dignitates heroum ist in der Forschung äußerst umstritten. Vgl. Otto Zwierlein: Kunsturteile des älteren Plinius und Euphranors dignitates heroum. In: Dorothee Gall u.  a. (Hg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Berlin 2009, 67–98. Die zitierte Übersetzung von Otto Zwierlein, ebd., 75. 34 Plin. Nat 35, 67 f.: „Parrhasius […] in liniis extremis palmam adeptus. Haec est picturae summa subtilitas. […] extrema corporum et desinentis picturae includere rarum in successu artis invenitur. Ambire enim se ipse debet extremitas et sic desinere ut promittat alia et post se ostendatque etiam quae occultat.“   35 Winckelmann schreibt: „Sie wurden im Jahr 1706, in Portici in einem verschütteten Gewölbe gefunden“. (GW  19) Heute datiert die Archäologie die Auffindung im Zusammenhang mit dem Bau der Villa d’Elboeuf auf das Jahr 1711. Vgl. Jens Daehner: Fundgeschichte und archäologischer Kontext. In: Jens Daehner (Hg.), wie Anm. 11, 24. 36 Der italienische Bildhauer Lorenzo Matielli (1687–1748) schuf die Statuen an den Außenwänden der Dresdener Hofkirche, deren Gewänder in ihrem Faltenwurf denen der „drey Vestalen“ nachempfunden sind. Vgl. Moritz Woelk: Von der Menagerie in den Gipssaal: Die Herkulanerinnen in Dresden. In: Jens Daehner (Hg.), wie Anm. 11, 161–163. 37 Ganz und gar unzutreffend ist die Feststellung Leppmanns, wie Anm.  20, 99: „Welchen Eindruck diese Bildwerke auf ihn gemacht haben mögen, es dürfte feststehen, daß sie zur Bekehrung Winckelmanns, des Saulus unter den Altphilologen, zum Paulus der Kunsthistoriker nicht beitrugen.“ Auch Giuliani, wie Anm.  13, 304, behauptet, Winckelmann gehe „in seiner Arbeit nur am Rand auf die Dresdner Statuen ein: Besprochen werden nur einige Frauenstatuen, an denen ihn vor allem die Art der Gewandbehandlung interessiert.“ Die Interpreten setzen damit nur die durchgängige Nichtbeachtung der Bedeutung der Herkulanerinnen für Winckelmanns ästhetische Theorie in der Rezeption seiner Zeit fort. 38 Die drei Herkulanerinnen waren in der scenae frons des Theaters von Herkulaneum aufgestellt. Allein von der großen Herkulanerin sind rund um das Mittelmeer bis heute 207 antike Kopien gefunden worden. Die kleinen Herkulanerinnen sind „gegenwärtig von 376 Statuenrepliken vertreten“. So Jens Daehner: Die Statuentypen der Herkulanerinnen in römischer Zeit. In: Jens Daehner (Hg.), wie Anm. 11, 101–127, Zitat 103. 39 Christiane Vorster: Griechische Ursprünge: Die Vorbilder der Herkulanerinnen. In: Jens Daehner (Hg.), wie Anm. 11, 152. 40 Hingegen hat die archäologische Forschung überzeugend nachgewiesen, dass die Laokoon-Gruppe von denselben Künstlern geschaffen wurde, die auch die SkyllaGruppe in der Sperlonga-Höhle geschaffen haben, dass es sich also um ein Werk des „ausgehenden Späthellenismus“ aus der Zeit um 30/20 v. Chr. handelt. Vgl. Christian Kunze: Zwischen Pathos und Distanz – Die Laokoongruppe im Vatikan und ihr künstlerisches Umfeld. In: Dorothee Gall, Anja Wolkenhauer (Hg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Berlin, New York 2009, 32–53 (Zitat 42). Neuerdings hat Bernard Andreae (in FAZ, 9.  8. 2017, Seite N3) die These aufgestellt, die Skulptur sei „eine zur Zeit des Kaisers Tiberius um 20 bis 30 nach Christus gemeißelte Marmorkopie nach dem verlorenen hellenistischen Bronzeoriginal von circa 140 vor Christus“. 41 So die überzeugende Übersetzung, die Andreae, wie Anm. 40, von Plin. Nat. 36, 37: „sicut in Laocoonte, qui est in Titi imperatoris domo, opus omnibus picturae et



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statuariae artis praeferendum“ vorgeschlagen hat. Kunze, wie Anm. 40, 35 f., weist zu Recht darauf hin, dass die Bewertung des Laokoon durch Plinius nicht absolut zu verstehen sei, sondern sich taktischen Überlegungen verdanke. Vgl. deren Darstellung bei Giuliani, wie Anm. 13, 301–304. So Giuliani, wie Anm. 13, 306 mit Bezug auf die von Winckelmann möglicherweise konsultierten Graphiken: „Auffällig ist aber, wenn man die in Frage kommenden Kupferstiche durchblättert, daß viele von ihnen […] einen sehr gedämpften Eindruck von der Mimik des Laokoon vermitteln.“   Vgl. z.  B. Ilias II, 144 f.: „Und aufgerührt wurde die Versammlung wie die großen Wogen des Meeres, | Der Ikarischen See, die der Ostwind und der Südwind | Erregte, herangestürmt aus den Wolken des Vaters Zeus.“ Übersetzung Wolfgang Schadewaldt. Jacopo Sadoleto: Carmen de Laocoonte. V. 23 f.: „ille dolore acri et laniatu impulsus acerbo | dat gemitum ingentem“. Anja Wolkenhauer: Vergil, Sadoleto und die ‚Neuerfindung‘ des Laokoon. In: Dorothee Gall, Anja Wolkenhauer (Hg.), wie Anm. 40, 160–181 druckt das Gedicht in Gänze ab und gibt eine Prosaübersetzung. (Zitat 166) Allerdings löst das Gedicht Sadoletos das statische Raumbild der Statue in eine zeitliche Abfolge auf, so dass es wenige Zeilen später heißt: „ferre nequit rabiem, et de vulnere marmor anhelum est.“ (V. 28) „Er vermag das Wüten nicht zu ertragen, und wegen der Wunde versagt dem Marmor der Atem.“   Dass dieser Blick Winckelmanns auf die Statue durch deren Faktur gerechtfertigt ist, betont Kunze, wie Anm. 40, 52: „Man kann […] die Gruppe als Exempel der angeblich idealen Grundhaltung der antiken Kunst betrachten und sogar eine Tendenz zum gedämpften Pathos und zum seelischen Ausdruck in ihr entdecken, wie dies von Winckelmann und seinen Zeitgenossen nahezu einhellig empfunden worden ist.“  Plin. Nat. XXXV, 135. Übersetzung Roderich König. Hierbei ist vor allem an die ausführlichen Homerexzerpte, die Winckelmann schon in Seehausen zur Klärung der eigenen Position angelegt hatte, sowie an die hier im unmittelbaren Zusammenhang genannten platonischen Frühschriften zu denken. Hingegen scheint die stoisch beeinflusste Beschreibung der „Seelengröße“ (magni­ tudo animi) in Ciceros Tuskulanischen Disputationen (Cic. Tusc. 2. 53–57), auf die Giuliani, wie Anm.  13, 306 f. hinweist, für Winckelmann keine Rolle gespielt zu haben. Vgl. hierzu Balbina Bäbler: Laokoon und Winckelmann. In: Dorothee Gall, Anja Wolkenhauer (Hg.), wie Anm. 40, 232. Zu Recht verweist sie darauf, dass für Winckelmanns Betonung der „Stille“ eher der „Wortschatz des Pietismus“, der „Stillen im Lande“, eine Rolle gespielt haben dürfte. Ebd., 234. Sie war von Papst Julius II., also von demselben Papst, der auch den Laokoon erworben hatte, in Auftrag gegeben und 1512 für den Hochaltar der Klosterkirche in Piacenza bestimmt. Die Mönche von San Sisto hatten das Original Raphaels durch eine Kopie ersetzt und das Original an den polnischen König und sächsischen Kurfürsten August III. verkauft. Der historischen Sage nach hat Papst Leo I. im Jahr 452 die Hunnen vor Mantua dazu bewogen, nicht nach Rom zu marschieren, und so die Stadt gerettet. Das Historienbild Raffaels sollte zugleich eine Hommage an den Auftraggeber Julius II. sein und an seine Siege über die Franzosen in Norditalien erinnern. Allerdings war Julius II. 1513 vor Vollendung des Freskos gestorben und Raphael übermalte das Gesicht des Papstes mit der Physiognomie seines Nachfolgers Leo X., der aber in der ursprünglichen Konzeption den Papst schon als Kardinal begleitete, so dass er nun in dem fer-

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tigen Bild zweifach auftritt. Wie weit Winckelmann diese Zusammenhänge bekannt waren und woher er das Fresko überhaupt kannte, ist heute nicht mehr eruierbar. „Laocoon, nebst seinen beyden Söhnen, […] ist nach aller Wahrscheinlichkeit aus dieser Zeit [der des Menander] ob man gleich dieselbe nicht bestimmen […] kann.“ Der Nebensatz deutet an, dass Winckelmann keine Begründung für seine Behauptung anzuführen weiß, sie nur aufstellt, um den Laokoon noch der griechischen Klassik zurechnen zu können. Zitiert nach dem Faksimile von Johann Winckelmanns, Präsidentens der Althertümer zu Rom, und Scrittore der Vaticanischen Bibliothek, Mitglieds der Königl. Englischen Societät der Alterthümer zu London, der Maleracademie von St. Luca zu Rom, und der Hetrurischen zu Cortona Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden 1764. Faksimile in: Johann Joachim Winckelmann: Kunsttheoretische Schriften V. Baden-Baden, Strasbourg 1966, 347. Winckelmann gebraucht in seinen Gedanken über die Nachahmung den Ausdruck „in dem Stande der Ruhe“ innerhalb weniger Zeilen gleich zweimal, parallel dazu „in dem Stande der Einheit“ und „in Eines zu vereinigen“, zuerst allgemein auf die „Seele“ bezogen, beim zweiten Mal auf die Figur des Laokoon selbst angewandt. (WG, 23) Diese Aussage widerspricht angesichts der komplexen, in höchst kunstreichen Drehungen und Windungen aufgebauten Skulptur aller Evidenz. Winckelmann wendet sich mit ihr polemisch gegen die barocke Skulptur und Malerei, obwohl diese wie etwa der Christus des Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle oder die Figuren Berninis deutlich vom Laokoon beeinflusst sind. Seine Betonung der „Ruhe“ steht im Gegensatz zum „gemeinste[n] Geschmack der heutigen, sonderlich angehenden Künstler“, deren Werke nichts als „Parenthyrsis“, „hohles Pathos“, seien. (WG, 23) Dies ein Begriff, den Winckelmann aus der Schrift Vom Erhabenen des Pseudo-Longinus übernimmt. Vgl. Ulrich Port: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte. München 2005, 116. Wenn man beachtet, dass die Darstellung und Bewertung des Laokoon bei Lessing mit der in der Geschichte der Kunst des Alterthums übereinstimmt, wird man seine Behauptung, Winckelmanns Hauptwerk erst nach der Vollendung seines Essays gelesen zu haben, kaum für zutreffend halten. Das neuerdings „zum ersten Mal öffentlich präsentierte“ Exemplar des Buchs aus dem Besitz Lessings belegt durch „zahlreiche Anmerkungen von seiner Hand“, dass „Lessing Winckelmanns Kunstgeschichte bereits 1764 in Breslau gelesen und […] kritisch kommentiert“ hat. In: Elisabeth Décultot u.  a. (Hg.): Winckelmann. Moderne Antike. Weimar, München 2017, 177. „Laocoon ist ein Bild des empfindlichsten Schmerzens, welcher hier in allen Muskeln, Nerven und Adern wirket; […] In Vorstellung dieses äußersten Leidens aber erscheinet der geprüfete Geist eines großen Mannes, der mit der Noth ringet, und den Ausbruch der Empfindung einhalten und unterdrücken will“. (WKA, 170) H.B. Nisbet: Laocoon in Germany: The Reception of the Group since Winckelmann. In: Oxford German Studies 10 (1979), 22–63 gibt einen ausführlichen Überblick über die Laokoon-Diskussion im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland. Ebenso Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945. Berlin 2004. Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseligen Inseln. Hg. von Max L. Baeumer. Stuttgart 1992, 240. Hierzu Nisbet, wie Anm. 55, 52–59. Inka Mülder-Bach: Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Goethes Aufsatz ‚Über Laokoon‘. In: Inge Baxmann u.  a. (Hg.): Das Laokoon-



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Paradigma. Berlin 2000, 465–479 liest Goethes Essay, der die Laokoon-Gruppe als „skulpturales Drama“ beschreibe, zu Recht als „kritische Revision von Lessings Grenzziehungen“. Ihre Feststellung, der Text setze „einen Schlußpunkt unter die Laokoon-Debatte des 18.  Jahrhunderts“, ließe sich auch auf das 19.  Jahrhundert ausdehnen, da in ihm der weitläufigen Diskussion keine wirklich neuen Aspekte hinzugefügt wurden. 58 Die Zuschreibung an den griechischen Bildhauer Leochares wird neuerdings in Frage gestellt. Zudem hat die archäologische Forschung herausgearbeitet, dass die Statue in der Antike wenig bekannt war. Es gibt von ihr so gut wie keine Repliken. Des Weiteren wird die moderne Erscheinungsform der römischen Marmorkopie entscheidend von den Überarbeitungen und Ergänzungen bestimmt, die nach ihrer Auffindung um 1530 von Giovanni Angelo Montorsoli vorgenommen wurden. Zum heutigen Stand der Forschung vgl. Décultot u.  a. (Hg.), wie Anm. 53, 168. 59 Idee von einer Beschreibung des Apollo im Belvedere aus dem 2ten Theil der Schrift [gemeint ist die Geschichte der Kunst des Alterthums] als Beilage zum Brief vom August 1757 an Wille. In: WB 1, 296 f. Fast gleichlautend im Brief an Stosch, Mitte August 1757. In: WB 1, 298 f. Die Varianten gegenüber der Geschichte der Kunst des Alterthums in: WB 1, 572 f. 60 Vgl. Eliza M. Butler (wie Vorwort. Anm. 1).

2.  Juno Ludovisi und das Zeremonialgesetz   1 Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. München 1978, 371.   2 Vgl. hierzu Verf.: Politik, Ökonomie und Religion im Zeitalter der Globalisierung. In: Bernd Witte u. Mauro Ponzi (Hg.): Theologie und Politik. Walter Benjamin und ein Paradigma der Moderne. Berlin 2005, 9–19.   3 Die Büste, die seit der Renaissance in der Antikensammlung des Kardinals Cesi nachweisbar ist, befand sich seit dem 18. Jahrhundert in der Sammlung des Kardinals Ludovico Ludovisi in dessen römischer Villa. Hier haben Winckelmann und Goethe sie in Augenschein nehmen können. Seit dem Abriss der Villa im 19. Jahrhundert wurde sie im Depot des Palazzo Massimo alle Terme in Rom aufbewahrt und war der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Erst seit der Neugestaltung des Antikenmuseums im Palazzo Altemps, wo sie zusammen mit dessen bekanntestem Exponat, dem Ludovisi-Thron, im Saal mit dem Moses-Fries ausgestellt ist, wird sie wieder an prominenter Stelle präsentiert. Vgl. Soprintendenza Archeologica di Roma: Museo Nazionale Romano. English Edition. Milano 2005, 140 f.   4 Friedrich Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung. In: Die Horen. 1. Jg. 1795. 2. St, 89. Sperrung im Original.   5 In NA 21, 266 lautet die Erläuterung. „Schiller nennt diese Plastik wahrscheinlich unter dem Einfluß Goethes, der sie in seiner ‚Italienischen Reise‘ am 6. Januar 1787 beschreibt.“ (Anm. zu NA 20, 359 f.) Diese Anmerkung ist insofern irreführend, als Goethe die Italienische Reise erst 1816/1817, also lange nach Schillers Tod, veröffentlicht hat. Ähnlich Wolfgang Düsing, der in seinem Kommentar anmerkt: „Die Prosa­ hymne auf diese Plastik wird mit dem Einfluß Goethes in Verbindung gebracht, der den ‚kolossalen Junokopf‘ in der ‚Italienischen Reise‘ (6. 1. 1787) erwähnt.“ Wolf-

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gang Düsing: Friedrich Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Text, Materialien, Kommentar. München, Wien 1981, 119. So die zutreffende Interpretation von Roberto Zapperi: Das Inkognito. Goethes ganz andere Existenz in Rom. München 1999, 160–164. Johann Heinrich Meyer an Goethe, 22.  Juli 1788: „Der Madame Angelica ist die große Maske der Ludovisischen Juno ordentlich zugestellt worden. Sie will dieselbe als eine Sache, die von Ihnen herkömmt, sorgfältig aufbewahren und in hohem Werte halten.“ (Briefe an Goethe. HA. 3. Aufl. München 1988. Bd. 1, 102.) Johann Heinrich Meyer an Goethe, wie Anm. 7. Meyer scheint sich, wie es seinem klassizistischen Kunstverständnis entspricht, auch nach seiner Ankunft in Deutschland als Fürsprecher der Juno Ludovisi betätigt zu haben. Vgl. Johann Heinrich Meyer an Goethe, Dresden  9.  9. 1794. In: Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Weimar 1980. Bd. 1, 330: „Seit G.s Abreise von Dresden seien die von M. mit Entzücken bewunderten Gipsabgüsse antiker Bildwerke aus dem Nachlaß A. R. Mengs’ zu sehen. Leider kenne man hier die Ludovisische Juno nicht“. Anm. hierzu (NA  35, 504): „Diese Abbildung der Juno Ludovisi ist in Schillers Nachlaß nicht überliefert.“   Inventar-Nr.: Gr-2005/997. Künstler: Meyer, Johann Heinrich (Zürich 1760–1832 Jena) Gegenstand: Juno Ludovisi, Datierung:1788/1789. Technik: Graphit, Feder in Braun, Material: Bütten, Maße: Blatt: 660x658 mm. [Johann Heinrich Meyer]: Ideen zu einer künftigen Geschichte der Kunst. In: Die Horen. 1. Jg. 1795, 2. St, 29–50, Zitat 46. Wilhelm von Humboldt: Ueber die männliche und weibliche Form. In: Die Horen. 1. Jg. 1795. 3. St, 80–103; die Beschreibung der Juno 85–90. Humboldt, wie Anm. 12., 87. Humboldt, wie Anm. 12., 86. Humboldt, wie Anm. 12., 88. Meyer, wie Anm. 11, 46 f. Museo Nazionale Romano, wie Anm. 3, 140. Von anderen als Livia, Frau des Kaisers Augustus, identifiziert. Humboldt, wie Anm. 12, 86. Diese Charakterisierung trifft auch schon auf Winckelmanns Herkulanerinnen zu, wenn er sie als die „drey Vestalen“, also als menschliche Priesterinnen, identifiziert. Am 7. 10. 1823 vermeldet Goethe im Tagebuch: „Büste der Juno Ludovisi“. (WA III 9, 126) Sie war ihm an diesem Tag von dem Berliner Staatsrat Ch. L. F. Schultz als Geschenk übergeben worden. Am 8. 3. 1824 schreibt er an diesen: „Nun aber zu dem A und O das ich Ihnen ewig verdanke. Mehrere Wochen war ich nicht in das große und durchkältete Zimmer gekommen, und als ich wieder hineintrat erstaunt ich zum Erschrecken, so trat mir das erhabene einzige Götterbild entgegen. Nun sehe ich es wieder täglich und immer wieder mit neuem Eindruck.“ (WA IV 38, 67). Zu dieser Problematik vgl. Verf.: Bilder und Texte. Über die Urszene der Visualität, das Bilderverbot und das Bild in der Literatur. In: links VIII (2008), 29–40. Ähnliches notiert Goethe im Rückblick der Italienischen Reise unter dem Datum des 10. Januar 1788: „Ich bin nun recht im Studio der Menschengestalt, welches das non plus ultra alles menschlichen Wissens und Tuns ist. […] Jetzt seh’ ich, jetzt genieß ich erst das Höchste, was uns vom Altertum übrigblieb: die Statuen.“ (WA I 32, 212.) Vgl. oben S. 266–269.



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23 Im Babylonischen Talmud findet sich folgender Wortlaut der Geschichte: „Abermals ereignete es sich, daß ein Nichtjude vor Sammaj trat und zu ihm sprach: Mache mich zum Proselyten unter der Bedingung, daß du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuße stehe. Da stieß er ihn fort mit der Elle, die er in der Hand hatte. Darauf kam er zu Hillel und dieser machte ihn zum Proselyten und sprach zu ihm: Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora und alles andere ist nur Erläuterung; geh und lerne sie.“ (Der Babylonische Talmud. Neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt. Berlin 1929. Bd.  1, 521 f.) Wie der Vergleich zeigt, ist Mendelssohns Wiedergabe kein wörtliches Zitat, sondern eine im Sinne des Alten Testaments erläuternde Paraphrase. 24 Hervorhebung im Original. 25 Die Tora nach der Übersetzung von Moses Mendelsohn mit den Prophetenlesungen im Anhang [1783]. Hg. im Auftrag des Abraham Geiger Kollegs und des Moses Mendelsohn Zentrums Potsdam von Annette Böckler. Berlin 2001, 226. 26 Das Zitat entspricht Ex  34,6 f. in: Die Tora, wie Anm.  25, 176 f. Kursivierung im Original. 27 Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Hg. von der Württembergischen Bibelanstalt. Stuttgart 1970, 100. 28 Diese Bemerkung steht noch ganz in der Tradition der aufklärerischen Mythenkritik. Mendelssohn zitiert mit dem ersten Satz das kurz zuvor erschienene Buch einer damaligen wissenschaftlichen Autorität (Christoph Meiners: Geschichte des Ursprungs, Fortgangs und Verfalls der Wissenschaften in Griechenland und Rom. 2 Bde. 1781–1782. Zitat Bd. 2, 77), um im Schlusssatz sein eigenes Urteil über Homer hinzuzufügen. 29 Lediglich Hans Rudolf Vaget hat ihm eine längere Analyse gewidmet: Eros und Apoll. Ein Versuch zu Künstlers Morgenlied. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30 (1986), 196–217. Vaget meint, das Gedicht sei die Gestaltung „eines künstlerischen Versagens, das jedoch sogleich in kühnem Phantasieflug überspielt wird“. (Zitat 214) 30 Schönborn an Gerstenberg, 12. 10. 1773. In: Wilhelm Bode: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Berlin und Weimar 1979. Bd. 1, 51: „Er [Goethe] zeichnet und malet gut. Seine Stube ist voller schönen Abdrücke der besten Antiken. […] Er will nach Italien gehn, um sich recht in den Werken der Kunst umzusehn.“   31 So etwa Karl Eibls Kommentar in FA I, 1, 919: „Ab hier [V. 17] Phantasie des von der Lektüre gepackten Künstlers, bis er schließlich – V. 33 – selbst malend in das Geschehen eingreift.“   32 [Carl Leonhard Reinhold]: Die hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey. Hg. von Jan Assmann. Neckargmünd (2. erw. Aufl.) 2006, 13. 33 Reinhold, wie Anm. 32, 34. 34 Reinhold, wie Anm. 32, 16. 35 So gibt Reinhold, wie Anm. 32, 41, die biblische Erzählung (Ex 3,14) wieder. 36 Reinhold, wie Anm.  32, 35. Reinhold zitiert zunächst eine längere Passage aus „Gegen Apion“, Kap.  22, deren letzter Satz lautet: „Der erste Unterricht betrifft die Gottheit und lehrt, daß Gott alle Dinge enthält, ein durchaus vollkommenes und seliges Wesen und die einzige Ursache alles Daseyns ist.“ Dies ist im Grunde eine hellenisierende Umformung des „Schma Israel“, die in der Wiederaufnahme bei Warburton dann schon auf die ägyptischen Mysterien bezogen ist. Die gesamte Diskussion gehört, wie Jan Assmann zu Recht betont (wie Anm. 32, 162 ff.) in den

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Zusammenhang des zeitgenössischen Streits um die Spinoza zugeschriebene, von Lessing zuerst gebrauchte Formel des „Hen kai pan“, des All–Einen, die noch der Auseinandersetzung Goethes mit Friedrich Heinrich Jacobi über dessen Veröffentlichung von Goethes Gedicht „Prometheus“ zugrunde liegt und für Hölderlins Vorstellung von einer neuen Religion eine zentrale Rolle spielt. 37 Reinhold, wie Anm. 32, 32. 38 Reinhold, wie Anm. 32, 33. 39 Reinhold, wie Anm. 32, 73. 40 Reinhold, wie Anm. 32, 36. 41 Reinhold, wie Anm. 32, 77. 42 Ex 19,6. 43 Reinhold, wie Anm. 32, 32. 44 Friedrich Schiller: Die Sendung Moses. In: NA 17.1, 377–397. – Schillers Text hat in den letzten Jahren mehrfach Beachtung gefunden: Norbert Oellers: Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum. In: Hans Otto Horch u. Horst Denkler (Hg.): Conditio Judaica. Tübingen 1988, 108–130. Wolf-Daniel Hartwich: Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann. München 1977, 29–40. Alexander Mathäs: Faith and Reason: Schiller’s “Die Sendung Moses“. In: The German Quarterly 81.3 (2008), 283–301. Martha B. Helferich: The Word Unheard. Legacies of Antisemitism in German Literature and Culture. Evanston 2011, 23–56: Friedrich von Schiller’s The Legation of Moses. 45 Vgl. Reinhold, wie Anm. 32, 41 ff. und Schiller, NA 7.1 S 394. 46 Durch den Kontext bedingt, erscheint „Tier“ hier als Begriff für die „unvernünftige Kreatur“. In einem anderen Zusammenhang hatte Schiller das Wort weniger pejorativ als Ausdruck für die „bedauernswerte Kreatur“ gebraucht. In dieser idiomatischen Verwendung, die noch heute im rheinischen Dialekt gebräuchlich ist, („Dat arme Dier!“) hatte er in seinem Brief vom 18. Jenner 1796 an Goethe gegenüber dem Juden Salomo Michaelis, dem Verleger seines „Musen-Almanachs für das Jahr 1796“, Abbitte wegen einer früheren Beschuldigung getan: „Wir haben dem armen Thiere, dem Michaelis, doch Unrecht gethan.“ Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe: Der Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. u. komm. von Norbert Oellers. Stuttgart 2009. Bd. I, 162. 47 Angesichts der zitierten Sätze wird man der Schlussfolgerung von Martha Helferichs Analyse zustimmen müssen: „the universal historical theory expressed in this essay anticipates racial anti-Semitism.“ Wie Anm. 44, 55. 48 Im Original gesperrt. 49 Erschienen in der Thalia 1790. H. 10. Die erste Vorlesung „Etwas über das erste Menschengeschlecht“ erscheint im selben Jahr im Heft 11, ebenso „Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon“. 50 Im Original gesperrt. 51 Friedrich Schiller. Die Künstler. In: Gedichte. Hg. von Norbert Oellers. Stuttgart 1999, 248–262. Hier, V. 42–45. 52 Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. Zweyter Brief. In: Die Horen. 1. Jg. 1795. 1. St, 12. 53 So schon Ludwig Geiger: Die deutsche Literatur und die Juden. Berlin 1910, 125, der seine Darstellung von Schiller und die Juden mit dem Satz beginnt: „Im Leben Schillers haben die Juden keine hervorragende Rolle gespielt, in seinen Dichtungen hat er ihnen keine bedeutende Stelle eingeräumt“.



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54 Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte. Hg. von Wolfgang Herwig. Zürich u.  a. 1965 ff. Bd. 2, 669. 55 Zum Teil gesammelt bei Andreas B. Kilcher: Geteilte Freude. Schiller-Rezeption in der jüdischen Moderne. Mit einer Edition der hebräischen und jiddischen Übersetzungen der Ode An die Freude. München 2007. 56 Kilcher, wie Anm. 55, 19. 57 Gershom Scholem: Juden und Deutsche. In: Ders.: Judaica 2. Frankfurt/M. 1970, 30. 58 Geiger, wie Anm. 53, 27 u. 160. 59 Oellers, wie Anm.  44, 121: „Es kann als sicher gelten, daß Schillers superlativistische Exklamationen [!] keine antisemitischen Ausfälle sein sollten.“ Stattdessen meint Oellers feststellen zu können, Schillers „Verhältnis zum Judentum“ sei „nicht bestimmt“ gewesen. (115) Dieses Urteil scheint inzwischen die communis opinio der Schillerforschung geworden zu sein. Vgl. Otto Dann im Kommentar zu Schiller, Historische Schriften und Erzählungen. Werke, Bd. 6. Frankfurt/M. 2000, 872: „Schillers Urteil über die ‚Hebräer‘ bzw. die ‚Juden‘ ist ambivalent.“ Ähnlich Kilcher, wie Anm. 55, 26, der Schillers Aussage, „dass wir der Mosaischen Religion einen großen Theil der Aufklärung danken […]“, zitiert und daraus ableitet, Schiller habe sein Urteil „in seiner Darstellung der Juden höchst ambivalent formuliert“. 60 Goethes Gespräche, wie Anm. 54, 669. In diesen Sätzen ist die in sich widersprüchliche Haltung Goethes zum Judentum und zu den Juden schon angedeutet. Einerseits ist er fasziniert von der Treue der Juden zur Bibel und überhaupt von der Kontinuität ihrer eigenständigen Kultur, andererseits versucht er, sich im sozialen und politischen Kontext sowohl in seinen literarischen Texten (Wilhelm Meisters Wanderjahre 2. B. 2. K.; 3. B. 9. u. 11. K.) wie auch in seiner Polemik gegen die Judenemanzipation und gegen jüdisch-christliche Mischehen vom Judentum abzugrenzen. Zum Thema hat es in den letzten Jahren eine umfangreiche Spezialliteratur gegeben. Der erste, der es nach 1945 aufgegriffen hat, war Wilfried Barner: 150 Jahre nach seinem Tode: Goethe und die Juden. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 63 (1982), 75–82. Seitdem: Günter Hartung: Goethe und die Juden. In: Weimarer Beiträge 40 (1994), 398–416. Ders.: Artikel Judentum. In: Goethe Handbuch. Hg. von Bernd Witte u.  a. Bd. 4. 1. 1998, 581–590. Oellers, wie Anm.  44. Jürgen Gidion: Goethe und die Juden. In: Neue Sammlung  40. 2000, 537–554. Anette Weber (Hg.): Außerdem waren sie ja auch Menschen“ – Goethes Begegnung mit Juden und Judentum. Frankfurt/M. 2000 (Schriftenreihe des Jüdischen Museums). Keiner der zitierten Aufsätze geht bezeichnenderweise auf Israel in der Wüste ein. 61 Konrad Burdach: Faust und Moses. In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie, philosophisch-historische Classe vom 2. Mai 1912 und Gesamtsitzung vom 11. und 25. Juli 1912. Berlin 1912, 358–403, 627–659, 736–788. 62 Die Ermordung selbst wird in den Papieren von 1797 noch nicht erwähnt, doch die Charakteristik der Gestalt des Moses als eines Mörders und unfähigen Feldherrn, die sich hier wie in dem 1819 publizierten Text findet, deutet schon auf die dann im endgültigen Text ausgesprochenen Todesumstände hin. 63 Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung in das Alte Testament. 3 Bde. Leipzig 1780/83. Zur Gegenüberstellung „Elohist“ – „Jehowist“ vgl.: Einleitung Bd. 3. Zweite Aufl. 1797, 22. Zu Goethes Lektüre von Eichhorn vgl. sein Tagebuch vom 13. 4. 1797 und seinen Brief an Schiller vom 19. 4. 1797: „Ich studier jetzt in großer Eile das alte Testament und Homer, lese zugleich Eichhorns Einleitung ins erste und Wolfs Prolegomena zu dem letzten. Es gehen mir dabei die wunderbarsten Lichter auf […].“

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64 So in der 1819 publizierten Version. Im Manuskript von 1797 sind es noch 4 Jahre. Vgl. WA I.7, 334: „Werfen wir aber jene in mehr als einem Sinne verdächtigen Stationen, jene todten und unfruchtbaren 36 Jahre weg, erzählen wir die Geschichte ganz rein in der Reihe, wie sie uns das Pentateuch darstellt, so sind auf einmal alle Schwierigkeiten gelöst.“   65 Goethe unterstreicht in seiner Darstellung die aggressiven Züge im Charakter des Moses. Er sei „ein gewaltsamer Mann“ gewesen, habe sich durch „seine kühne Faust“ die „Neigung“ des Midaniter-Fürsten erworben. (WA I.7, 160 f.) Darin ähnelt er dem Renaissance-Menschen Benvenuto Cellini, der ebenfalls als Mörder in die Geschichte eingegangen ist und dessen Lebensbeschreibung Goethe übersetzt und in den Horen (4. St. des Jahrgangs 1796 bis 6. St. des Jahrgangs 1797) in Fortsetzungen veröffentlicht hatte. Er selbst weist auf diese Inspirationsquelle für seine Moses-Figur in einem Brief an Schiller vom 27. Mai 1797 hin: „Die beyden handfesten Pursche Moses und Cellini haben sich heute zusammen eingestellt wenn man sie nebeneinander sieht so haben sie eine wundersame Aehnlichkeit. Sie werden doch gestehen daß dieß eine Parallele ist, die selbst Plutarchen [in seinen Parallelbiographien] nicht eingefallen wäre.“ Worauf Schiller antwortet: „Moses sowie sie ihn genommen haben ist dem Cellini wirklich gar nicht so unähnlich, aber man wird die Parallele greulich finden.“ Goethe, Schiller: Briefwechsel, wie Anm. 46, Bd. 1, 400. 66 Eine weitere überraschende Parallele zu Freuds Faszination mit der Moses-Figur besteht darin, dass auch Goethe die Statue des Michelangelo kannte und schätzte, die Freuds Überlegungen zum „Mann Moses“ inspiriert haben. Am 27. 7. 1812 schreibt er aus Böhmen an seine Frau: „ich habe eine Nachbildung des Moses von Michelangelo in Bronze gekauft“. (WA IV.23, 46 f.) Auch in den Tag- und Jahresheften 1812 ist von diesem Kauf die Rede, wobei Goethe seine Kopie als „im Einzelnen durch Grabstichel und andere ciselirende Instrumente fleißigst vollendet“ charakterisiert:„ein schönes Denkmal sorgfältiger, beinahe gleichzeitiger Nachbildung eines höchst geschätzten Kunstwerkes jener Epoche“. (WA  I.36, 77) 1830 ist in dem Aufsatz Christus nebst zwölf alt- und neutestamentlichen Figuren den Bildhauern vorgeschlagen noch einmal die Rede von der Statue des Michelangelo: „Moses. Diesen Heroen kann ich mir freilich nicht anders als sitzend denken […] Wahrscheinlich hat die überkräftige Statue des Michel Angelo am Grabe Julius des Zweiten sich meiner Einbildungskraft dergestalt bemächtigt, daß ich nicht von ihr loskommen kann“. (WA I.49,2, 91) Das ist nun allerdings eine ganz andere Konzeption als der aufbrausende „Thatmensch“, den Goethe in Israel in der Wüste zeichnet. 67 In einem Brief vom 12.  April 1797 an Schiller kündigt Goethe an, er sei „in das alte Testament gerathen“ und habe sich „aufs neue nicht genug über die Confusion und die Widersprüche der fünf Bücher Mosis verwundern können“. In ihm sei der „verwegne Gedanke“ aufgetaucht, der vierzigjährige Aufenthalt der Kinder Israel sei „eine spätere Erfindung“. Darüber wolle er „in einem kleinen Aufsatz“ berichten. Goethe, Schiller: Briefwechsel, wie Anm. 46, Bd. 1, 370. Am 3. Mai berichtet er sodann, er habe angefangen, „an meinem Moses zu dictieren“. Ebd., 389. Für die baldige Veröffentlichung in den Horen, die Schiller am 5. Mai anmahnt, will er sogar eine Karte Palästinas anfertigen lassen. Im Juni 1797, dem Monat, in dem sein letzter Beitrag (Benvenuto Cellini. Beschluß) in Schillers Horen erscheint, verschiebt er sodann die Fertigstellung auf die lange Bank: „der Moses und andere werden schon nach und nach reif werden“. Ebd., 408.



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68 Schon Geiger, wie Anm. 53, der sehr ausführlich alle Erwähnungen von Juden und Judentum bei Goethe sammelt und analysiert, erwähnt Israel in der Wüste mit keinem Wort. So auch die neueren Untersuchungen zum Thema, wie Anm.  59. Einzig Burdach, wie Anm. 61, geht ausführlich auf den Text ein, allerdings ohne ihn zu kritisieren. Stattdessen ordnet er ihn in den Beweisgang seiner These ein, Goethe habe den Schluss von Faust II nach Motiven der talmudischen Legende vom Tod des Moses gestaltet. 69 Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Leipzig 1841: „Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst. […] Gott ist der Spiegel des Menschen.“ In: Gesammelte Werke. Hg. von Werner Schuffenhauer. Bd. 5. Berlin 2. Aufl. 1984, 127. 70 Obwohl Goethe in seinem Briefwechsel mit Schiller dessen Vorlesung über Moses nicht erwähnt, insinuiert er doch die völlige Übereinstimmung mit ihm in der Anschauung der Moses-Geschichte: „Zugleich habe ich noch immer die Kinder Israel in der Wüste begleitet, und kann, bey ihren Grundsätzen hoffen, daß dereinst mein Versuch über Mose, Gnade vor Ihren Augen finden soll.“ Im selben Brief vom 15. 4. 1797 nennt Goethe seine „kritisch historisch-poetische Arbeit“ etwas, „bey dem ich, mit Interesse, im eigentlichen Sinne spielen kann“. Zuvor hatte er behauptet, dass er sich damit einen „Spaß […] mache“. Goethe, Schiller: Briefwechsel, wie Anm. 43, Bd. 1, 373. 71 „Geschichte“ und „Religion“ werden hier von Goethe gleichgesetzt, wenn er seinen Helden Wilhelm sich nach den „übrigen Vortheilen dieses Volks [der Juden], oder vielmehr seiner Geschichte, seiner Religion“ erkundigen lässt. „Vor dem Richterstuhl des Gottes der Völker“ hätten die Juden das größte Verdienst. (WA I.24, 248) Diese Formulierungen kommen Hegels Vorstellung von der „Weltgeschichte als Weltgericht“ nahe. 72 Houston Stuart Chamberlain: Goethe. München 1912, 688–697. 73 Chamberlain, wie Anm. 72, 691 f. 74 Chamberlain, wie Anm. 72, 698 f. 75 Moritz Oppenheim: Erinnerungen. Hg. von Alfred Oppenheim. Frankfurt/M. 1924, 20 f. 76 Von Moses wird in Ex 7,7 berichtet, er sei bei seinen Gesprächen mit dem Pharao schon 80 Jahre alt. 77 Ex 34,29: „Als nun Mose vom Berg Sinai herabstieg, hatte er die zwei Tafeln des Gesetzes in seiner Hand und wußte nicht, das die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte.“   78 Oppenheim hat ihn in dem bekannten Bild „Lavater und Lessing bei Moses Mendelssohn“ 1856 als Verteidiger eines gesetzestreuen Judentums in Szene gesetzt. Abbildung in Georg Heuberger u. Anton Merk (Hg.): Moritz Daniel Oppenheim. Die Entdeckung des jüdischen Selbstbewußtseins in der Kunst (Frankfurt/M. 1999), 215. 79 Heine wurde von Oppenheim zwei Mal, 1830 und 1831, porträtiert. Abbildung in Heuberger u. Merk, wie Anm. 78, 107 und 109. 80 So Georg Heuberger u. Anton Merk im Untertitel ihres Werkkatalogs, wie Anm. 78. 81 Vgl. Anette Weber: Moritz Daniel Oppenheim und die Familie Rothschild. In: Heuberger u. Merk, wie Anm. 78, 170–186. 82 Oppenheim reiste im Mai 1827 nach Weimar, wo er Goethe besuchte und ihm einige seiner Gemälde vorstellte. Goethe revanchierte sich, indem er veranlasste, dass

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Oppenheim der Titel eines Honorarprofessors verliehen wurde. Nach seiner Rückkehr aus Weimar entwarf Oppenheim zwischen 1827 und 1828 eine Serie von zehn Illustrationen zu Goethes Hermann und Dorothea, die als Lithografien eine weite Verbreitung fanden. Vgl. Liliane Weissberg, Georg Heuberger: Der Rothschild der Maler und der Dichterfürst. In: Heuberger u. Merk, wie Anm. 78, 131–152. Erst 1864 hat Oppenheim sein bekanntestes Gemälde aus dem goetheschen Motivkreis vollendet: „Felix Mendelssohn-Bartholdy spielt vor Goethe“, heute im Jüdischen Museum Frankfurt/M. Abbildung in: Heuberger u. Merk, wie Anm. 78, 220. Das Gemälde schildert eine Episode aus dem Jahr 1830. Der junge Mendelssohn, am Flügel sitzend, musiziert für den vor ihm im Sessel sitzenden Goethe und schaut ihn dabei verehrungsvoll an. Goethe blickt sinnend in die Ferne. An der Wand im Hintergrund eine Büste Schillers. Mehr noch als Historienbild muss dieses Gemälde als Ausdruck von Oppenheims Bewunderung für die und Sehnsucht nach der Weimarer Klassik gelesen werden. So vor allem „Moses verkündet die Zehn Gebote“ 1827, „Die Auffindung des Mosesknaben“ 1833 und „Moses überträgt Josua die Befehlsgewalt“ 1841. Abbildungen in: Heuberger u. Merk, wie Anm. 78, 87–89. Vgl. Andreas Gotzmann: Das neue altjüdische Leben – Moritz Daniel Oppenheims Vision eines modernen Judentums. In: Heuberger u. Merk, wie Anm. 78, 232–250. Heinrich Heine: Geständnisse. In: DHA 15, 43: „denn die Juden, die dasselbe [das heilige Buch] aus dem großen Brande des zweiten Tempels gerettet, und es im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten, das ganze Mittelalter hindurch, sie hielten diesen Schatz sorgsam verborgen in ihrem Ghetto.“ Vgl. oben S. 286 u. 289. Vgl. zum Beispiel zur Schillerrezeption der deutschen Juden: Kilcher, wie Anm. 55. Zur Goetherezeption der ausgezeichnete erste Überblick von Wilfried Barner: Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933. In: Stéphane Moses, Albrecht Schöne (Hg.): Juden in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1986, 127–151. Gottfried Benn: Provoziertes Leben. In: Ausdruckswelt. Essays und Aphorismen. Wiesbaden 1949, 53.

3. ChristusDionysos   1 Christoph Theodor Schwab: Hölderlin’s Leben. In: FHA 17, 14.   2 Von Sattler u.  a. auf September 1788 datiert. Vgl. FHA 17, 167.   3 Noch 1799 nimmt Hölderlin das Motiv in der Elegie „Achill“ wieder auf, worin der Dichter den Wunsch ausspricht, wie der homerische „Göttersohn“ den „Himmlischen“ sein Leid klagen zu können, damit er nicht „allzufrühe verstummt“. (FHA 6, 125) Wie sehr schon die frühe Übersetzungsarbeit die späteren Hölderlinverehrer beeindruckt hat, lässt sich an Wilhelm Michels 1940 erschienener Biographie „Das Leben Friedrich Hölderlins“ ablesen: „Hier tut sich im Hölderlinschen Wort eine durchleuchtete südliche Welt auf, eine feingliedrige, helltönige Sprache bewegt sich mit gymnastischer Leichtigkeit in einfachen Verbänden; Luft der Haine und des jonischen Himmels spielt durch sie hin.“ (Frankfurt/M. 1967, 71) Vor Begeisterung ob solch authentischen Griechentums wird der Historiker selbst zum Poeten!



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  4 Wolfgang Schadewaldt: Hölderlin und Homer I (1949). In: Ders.: Hellas und Hesperien. Zürich und Stuttgart 1960, 681–705. Zitat 691. Zu Recht betont Schadewaldt die Zäsur, mit der die Hymne Hölderlins Leben und Werk markiert: „Das griechische Wesen, bisher ein verehrtes und geliebtes Bildungsgut, ergriff ihn nun mit lebenbestimmender Gewalt. Und die griechischen Daseinsmächte gewannen Macht über seine Dichtung, die fortan nicht mehr Jugenddichtung, sondern Werk war.“ Ebd., 699.  5 So auch in Goethes großem Dialoggedicht „Der Wanderer“ von 1774, V. 54 f.: Glühend webst du über deinem Grabe, | Genius!“ und V. 124 f.: „Natur, du ewig keimende, | schaffest jeden zum Genuß des Lebens.“ In: GG, 44 und Kommentar hierzu 519.   6 Womit Klopstock wiederum die Anfangszeilen von Horaz: Oden IV, 3 variiert.  7 In antiken Biographien wird Homer zuweilen als Sohn des Maion charakterisiert, weshalb Hölderlin ihn hier, ohne seinen eigentlichen Namen zu nennen, als „Mäonide“ bezeichnet. Über diesen Maion ist jedoch nichts Näheres bekannt. Hölderlins Anspielung setzt beim Leser eine detaillierte Kenntnis der antiken Überlieferung voraus.   8 So interpretiert Schadewaldt, wie Anm. 4, 701: „Homers ‚Ersehen‘ von Aphrodites Gürtel meint den umfassenden kosmischen Blick, der sich das Ganze der Welt zu eigen macht, so wie dies Ganze ein Ganzes durch Liebe ist.“ Unkritisch fasst er seine Interpretation zusammen: „Es war die Liebe als das lebendige innere Prinzip des Allund Einsseins, in dem dem jungen Hölderlin Homer begegnet ist.“ (ebd., 703) Das verkennt, dass Hölderlin das Prinzip der Liebe von seiner christlichen Sozialisation her in die homerische Welt hineinprojiziert hat.   9 Friedrich Schiller: Einem jungen Freund als er sich der Weltweißheit widmete. Die Horen. 1. Jg. 1795. 11. St, 41–42. 10 Friedrich Hölderlin: Griechenland. Neue Thalia Jg. 1793, 6. St, 331–333 (erschienen Februar 1795). 11 Friedrich Schiller: Die Götter Griechenlandes. Der Teutsche Merkur. März 1788, 250–260. Hier zitiert nach: Friedrich Schiller: Gedichte. Hg. von Norbert Oellers. Stuttgart 1999, 190–193. 12 Schiller, wie Anm. 9, 41. 13 Johann Wolfgang Goethe: Zwölfte Elegie. Die Horen. 1. Jg. 1795. 6. St, 21–23. Der zitierte Vers lautet im Erstdruck der Horen: „Voll Erstaunen vernahm der Eingeweihte das Mädchen“. (ebd., 23) Hierbei handelt es sich jedoch um einen eindeutigen Druckfehler, der schon im Druckfehlerverzeichnis (Die Horen. 1.  Jg. 1795. 12. St. vor 1) korrigiert ist. Ebenso in allen späteren Drucken. Hier zitiert nach: GG, 164–165. 14 Auch in diesem Vers verbirgt sich eine Reminiszenz an Goethes Zwölfte Elegie, in der es im sechsten Vers von der Göttin Ceres geheißen hatte, dass sie „statt Eicheln zur Kost goldenen Weizen verlieh“. 15 Friedrich Schiller: Bürgerlied. Musen-Almanach für das Jahr 1799, 189–199. Unter dem Titel Das Eleusische Fest in: Gedichte von Friedrich Schiller. Erster Theil. 2. Aufl. 1804, 78–88. Hier zitiert nach: Friedrich Schiller: Gedichte. Hg. von Norbert Oellers, wie Anm. 11, 59–65. Den Hinweis auf dieses Gedicht verdanke ich Norbert Oellers. 16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: [Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus]. In: HFS, 234–236.

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17 Franz Rosenzweig: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund (1917). In: Christoph Jamme u.  a. (Hg.): Mythologie der Vernunft. Hegels ‚ältestes Systemprogramm‘ des deutschen Idealismus. Frankfurt/M. 1987, 79–125 geht von der Autorschaft Schellings aus. Wilhelm Böhm und andere schreiben das Fragment Hölderlin zu, während Ludwig Strauß 1927 erneut die These Rosenzweigs zu bekräftigen sucht. Schließlich hat Otto Pöggeler 1965 dargelegt, dass Hegel „nicht nur der Abschreiber, sondern auch der Verfasser des ‚Systemprogramms‘“ (ebd., 69) sei. Groddeck und Sattler, die Herausgeber der FHA, stellen 1997 in der FHA  14, 11 fest: „Unübersehbar stimmt Hölderlins Entwurf [Über Religion] in der Tendenz mit dem Systemprogramm überein; er legt gewissermaßen den Grund zu der dort erhobenen Forderung einer neuen Mythologie.“ Folgerichtig drucken sie das Systemprogramm als Einleitung des nachfolgenden „Fragments philosophischer Briefe (Über Religion)“. 18 Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie. Frankfurt/M. 1982, 185 betont zu Recht den subjektiven und daher vergeblichen Charakter des Versuchs, eine neue Mythologie zu schaffen: „Es ist der Traum, den Mythos […] synthetisch wiederherzustellen, nachdem die objektiven Bedingungen seiner Möglichkeit als naturwüchsigen Geschichtsprodukts abgestorben sind.“ Allerdings können sich Hölderlin und Hegel mit ihrem Bezug auf die Tradition der klassischen Antike schon auf so etwas wie einen „modernen Mythos“ stützen, die Mythisierung der griechischen Antike, ihrer mythischen Erzählungen, ihrer Kunst und ihrer Geschichte, wie er seit Winckelmann von der Allgemeinheit aller Denkenden in Deutschland mitgetragen wurde. 19 Alle Kursiva in den vorhergehenden Zitaten im Original. 20 In den früheren Ausgaben der Werke Hölderlins unter dem Titel „Über Religion“ überliefert. Groddeck und Sattler (FHA 14, 45–49) drucken es als Fortsetzung des „Ältesten Systemprogramms“. 21 Friedrich Schiller: Sieben und zwanzigster Brief. In: Die Horen. 1. Jg. 1795. 6. St, 123. 22 Über die „Kritik am Maschinenstaat“ im 18. Jahrhundert vgl. Frank, wie Anm. 18, 169–176. Allerdings verkennt er, dass sich die Kritik des „Systemprogramms“ spezifisch gegen Schillers Projekt eines „ästhetischen Staates“ richtet. 23 Hölderlin kann den menschlichen Ursprung der Religion nicht genug betonen. Unmittelbar vor den zitierten Sätzen lässt er seinen Helden verkünden: „Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott so ist er schön.“ FHA 11, 678 f. 24 „Das große Wort, das εν διαφερον εαυτω (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie.“ FHA 11, 681. Ähnlich FHA 11, 683: „das Göttliche εν διαφερον εαυτω“. Hölderlin zitiert hier in verkürzter Form Platons Symposion 187a. Vgl. die ähnliche Formulierung Heraklits an Hand des Beispiels von „Bogen und Leier“ im Fragment B 51 (Diels-Kranz). 25 Vgl. das Kapitel „Abraham und Odysseus“ oben S. 287  ff. 26 „Die Sicht des Frankfurter Hegel auf das Judentum überbietet an Feindseligkeit und Verachtung alles, was Kant und Schleiermacher anzuführen wußten“. So Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß. München 2000, 208. Ähnlich Joseph Cohen: Le Spectre Juif de Hegel. Paris 2005, 24, der von einer „condamnation radicale du judaisme“ spricht.



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27 Vgl. z.  B. Jan Assmann: Moses der Ägypter. München, Wien 1998. 28 Ex  20,4: „Nicht mache dir Schnitzwerk noch irgend Gestalt […].“ (Übersetzung Buber/Rosenzweig) 29 Zu Hölderlins Brief an Casimir Böhlendorf vom 2.  12. 1802, in dem Hölderlin von seiner Erfahrung mit der „südlichen“ Natur und dem „Anblick der Antiken“ bekennt, dass ihn „Apollo geschlagen“ habe, schreibt Benjamin einleitend: Hölderlin vermesse „die Länder, welche ‚die ‚Herzens- und Nahrungsnot‘ ihm eröffnete als Provinzen des griechischen. Nicht des blühenden idealen, sondern des verödeten wirklichen, dessen Leidensgemeinschaft, mit dem abendländischen und vor allem dem deutschen Volkstum das Geheimnis der historischen Wandlung, der Transsubstantiation des Griechentums ist, das von Hölderlins letzten Hymnen den Gegenstand bildet.“ (Walter Benjamin: GS IV, 171 f.) Die Identifikation Hölderlins mit dem Griechentum wird von Benjamin also mit der „Leidensgemeinschaft“ begründet, der die Griechen des 18.  Jahrhunderts wie die Deutschen Hölderlins angehörten und die Benjamin auch den Deutschen seiner Zeit zuschreibt. Diese Aktualisierung verkennt jedoch ganz und gar den positiven, utopischen Charakter von Hölderlins Griechenbegeisterung. 30 Frank, wie Anm. 18. 31 Jacobi behauptet, Lessing Goethes Gedicht „Prometheus“ gezeigt zu haben, woraufhin dieser geantwortet habe: „Das Gedicht habe ich nie gelesen; aber ich find es gut. Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen: εν και παν! Ich weiß nichts anders.“ In: Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Spinozastreit. Hg. von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske. Werke. Bd. 1.1. Hamburg 1998, 16. 32 Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München 1989, 215. 33 Vgl. die Exzerpte in Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd. 4.1. Hg. von Friedrich Beißner. Stuttgart 1961, 207: „1. Leßing war Spinozist. pag. 2. Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit waren nicht für ihn. Er konnte sie nicht genießen. εν και παν! Anders wußte er nichts.“   34 Zu Hölderlins Weigerung, Pfarrer zu werden, vgl. Pierre Bertaux: Friedrich Hölderlin. Frankfurt/M. 1978, 559 ff. 35 Unter anderem schreibt er ihr, dass seine Lektüre ihn „auf Gedanken führte, die Sie vielleicht unruhig gemacht hätten, wenn Sie sie gekannt hätten.“ FHA 19, 119. 36 Diesen Glauben schreibt Hölderlin in seinen Exzerpten Jacobi zu: Was Jacobi polemisch gegen Lessing gewandt hatte: „Mit der Idee eines persönlich schlechterdings unendlichen Wesens, in dem unveränderlichen Genusse seiner allerhöchsten Vollkommenheit, konnte sich Leßing nicht vertragen.“ (Jacobi, wie Anm. 31, 34), verwandelt Hölderlin in eine positive Aussage und schreibt damit Jacobi den Glauben an einen persönlichen Gott zu: „Jacobi glaubt eine verständige persönliche Ursache der Welt.“ Hölderlin, wie Anm. 33, 208. 37 Neue Thalia Jg. 1793. T. 4. 6. St. 38 Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glücklichen Inseln. Kritische Studienausgabe. Stuttgart 1975, 264. 39 Heinse, wie Anm. 38, 281 f. Kursiv im Original. Die pantheistische Kosmosformel wiederholt: ebd., 303. Aristoteles: Metaphysik 968 b18 berichtet in der Tat, Xenophanes habe „den ganzen Himmel anschauend gesagt, das Eine sei der Gott“. Vgl. auch das Fragment 21 B 23 (Diels-Kranz): „Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der Größte, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.“

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An diesem Fragment ist schon abzulesen, dass Xenophanes ein radikaler Aufklärer war, der – entgegen der Auffassung Heinses und Hölderlins, die homerischen Götter repräsentierten die vielfältige Gestalt der einen göttlichen Natur – diese als Produkte einer falschen menschlichen Einbildungskraft entlarvt. Vgl. Fragment 21 B 11 (Diels Kranz): „Alles haben den Göttern Homer und Hesiod angehängt, was nur bei Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen.“   Heinse, wie Anm. 38, 300. Hierzu vgl.: Max L. Baeumer: Hölderlin und das Hen kai Pan. In: Monatshefte 59.2 (1967), 131–147. Ähnlich schon ein Jahr zuvor an Christian Ludwig Neuffer: „So bleib ich meist in meiner Klause bis Abends. Oft in der Gesellschaft der heiligen Muse, oft bei meinen Griechen; jetzt gerade wieder in HE. Kants Schule.“ (FHA 19, 150) Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: HB 5, 591–606. Über „den Einschlag von Verstellen, Verstecken und Verheimlichen“ des revolutionären Umbruchs, der mit der Tötung des alten Gottes verbunden war, vgl. Matt, wie Anm. 32, 217. Martin Heidegger: „Wie wenn am Feiertage …“. (1939) In: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt/M. 4. Aufl. 1971, 56 hat diese etymologische Deutung übernommen: „Natur, natura heißt griechisch Φυσις. Dieses Wort ist das Grundwort der Denker im Anfang des abendländischen Denkens. […] Φυσις, φυειν bedeutet das Wachstum. […] Φυσις ist der Aufgang der Lichtung des Lichten und so der Herd und die Stätte des Lichtes.“ In „Hölderlins Erde und Himmel“ dekretiert er: „Aufgang ist Φυσις‚ ‚die Natur‘“. (ebd., 179) Bei Heidegger ist die Liebe zu den frühen Griechen zum blinden Glauben an den Wahrheitsgehalt des griechischen „Grundwortes“ verkommen, auf das er seinen eigenen neuzeitlich raunenden Mythos von der „Lichtung des Seyns“ projiziert. Hölderlin hingegen habe, meint Heidegger, „die auch heute noch kaum ermessene Tragkraft des anfänglichen Grundwortes φυσις nicht gekannt“. (ebd., 57) Dieter Henrich: Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht. Stuttgart 1986. Über die Kennzeichnung des Krieges als „geflügelten Krieg“ ist viel gerätselt worden: Der Dichter spreche vom Seekrieg oder gar vom Kampf der Seeleute mit Wogen und Wetter, wobei die Segel der Schiffe metaphorisch als deren Flügel bezeichnet würden. So die gängige Erklärung der Kommentatoren. Vgl. z.  B. Hölderlin: Werke und Briefe. Hg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Frankfurt/M. 1969. Bd. 1, 123 oder Detlev Lüders: Friedrich Hölderlin Sämtliche Gedichte. Bad Homburg 1970. Bd. 2, 347. Vollends verharmlosend Martin Heidegger im Jahre 1943 (!): „Der geflügelte Krieg ist der Kampf mit dem Widrigen der Winde und der Ungunst der Wetter.“ (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt/M. 1971, 135 f.) Stattdessen müsste eine ernsthafte Lektüre konstatieren, dass Hölderlin damit auf die επεα πτεροεντα anspielt, die „geflügelten Worte“, die als feststehende Wendung jedem Leser Homers vertraut sind. Die gemeinsame Prädikation von „Wort“ und „Krieg“ hat Verweischarakter. Sie bestimmt die Sprache, die im Kontext der Männerstrophe ausdrücklich nicht erwähnt wird, als die eigentliche Gegenspielerin des Kriegs. O 7, V. 103–116. Übersetzung von Johann Heinrich Voß.



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49 Roland Reuß: „…/ Die eigene Rede des anderen. Hölderlins Andenken und Mnemosyne. Basel, Frankfurt/M. 1990, 102: Das Gedicht „vermeidet […] jeglichen expliziten Bezug auf die Antike und deren Mythologie.“   50 Ilias XXII, 145 f. Übersetzung Johann Heinrich Voß. 51 Ilias VI, 419 f. Übersetzung: Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt/M. 1975, 107. 52 Ilias XIII, 388–394. Wie Anm. 51, 218. Derselbe Vergleich Ilias XVI, 482 ff. 53 Der „Hyperion“ wie die Gedichte „Der Tod fürs Vaterland“, „An die Deutschen“ und „Archipelagus“ sind von der nationalistischen und nationalsozialistischen Hölderlinrezeption vielfach missbraucht worden. Ohne näher auf die menschenverachtenden Töne der Hölderlinrezeption in der Zeit des Zweiten Weltkriegs einzugehen (vgl. Hölderlin: Heldentum. Leipzig, Wien 1943. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten. Bd. 2. Marbach 1983, 322: Hölderlins Hyperion als „Sinngebung unseres Kampfes“ im Russlandfeldzug), sei hier nur ein Satz aus dem hochgestimmten, pathetischen Kapitel „Hölderlin. Das Volk“ in Max Kommerells Buch „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“. Berlin (Bondi) 1928 zitiert: „Die Geheimkunde von deutscher Zukunft, die der Archipelagus für uns birgt, ist die Vergöttlichung eines ganzen Volkes im Kriege. Den Krieg hat dieser als lebensscheu gescholtene Dichter […] unerschrocken als oberste völkische Wirklichkeit gepriesen  … freilich nur den Krieg den ein erwachtes Volk führt.“ (474) In diesen Sätzen eines Mannes, der sich zu der Elite des „geheimen Deutschland“ rechnen durfte, hallen nicht nur die Schreie der Nazis: „Deutschland erwache!“ wieder, sondern auch deren kriegstreiberische Propaganda. Sollte man den Dichter auch für solchen Missbrauch verantwortlich machen? Nein, wohl aber für die Texte, die solche Kommentare provozierten. 54 Vgl. z.  B. O 5. 265 und 8. 196, 346. 55 Darauf verweist schon Friedrich Beißner, Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Bd. 2, 2. Stuttgart 1951, 803. 56 Jules Michelet: Histoire de la Révolution Française. Ed. Gérard Walter. Paris 1952. Bd. 2, 636: „le culte de la raison pure“. 57 Jules Michelet, wie Anm. 56, 650, der ein Wort des Revolutionärs Anacharsis Clootz zitiert: „Le discordant fédéralism des sectes s’evanouit dans l’unité, l’indivisibilité de la Raison.“ (Kursive im Original) 58 Hierzu Michelet, wie Anm. 56, 642–650: Fête de la Raison (10 Novembre 93) und 868–871: La Fête de l’Être Suprême (8 Juin 94). Zum Einfluss dieser zeithistorischen Ereignisse auf Hölderlin vgl. Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution. Frankfurt/M. 1969, 64–84: Die Neue Religion. 59 Michelet, wie Anm. 56, 871: „Le b….! il n’est pas content d’être maître! Il lui faut encore être Dieu!“   60 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M. 1979, 433–604: Gegen einen Gott nur ein Gott. 61 Blumenberg, wie Anm. 60, 436. 62 Zur Datierung vgl. FHA 6, 203. 63 Brod und Wein zitiert nach FHA 6, 248–260. Im Text mit der jeweiligen Verszahl nachgewiesen. 64 Vgl. die nur ein Jahr zuvor im „Athenäum“ (August 1800) veröffentlichten „Hymnen an die Nacht“ von Novalis, die mit ähnlichen Motiven einsetzen: „Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnißvollen Nacht. Fernab liegt die Welt […] Fernen der Erinnerung.“ In: Novalis: Schriften. Hrsg. v. Paul Kluckhohn

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u. Richard Samuel. 3., nach den Handschriften ergänzte, erw. u. verb. Aufl. in vier Bänden u. e. Begleitband. Bd. 1. Stuttgart 1977, 131. Vgl. auch Friedrich Schillers Abhandlung „Über das Erhabene“ von 1801, in der er mit ähnlichen Beispielen wie Kant auf die „simple Majestät der Natur“ hinweist. Dabei betont er den metaphysischen Charakter des Erhabenen dadurch, dass er sagt, es verschaffe dem Menschen „einen Ausgang aus der sinnlichen Welt“. Er werde durch das Erhabene „aus dem Bedingten ins Unbedingte getrieben“. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. 5. Bd. München 1958, 792–808; Zitate 801, 799, 804. Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden. Darmstadt 1968. Bd. 8, 349. Kant, wie Anm. 66, 353. So sieht er sich genötigt, kurz vor dieser Definition das landläufige Verständnis von „Erhabenheit“ abzuwehren: „Allein diese Gemütsstimmung ist bei weitem nicht mit der Idee der Erhabenheit einer Religion und ihres Gegenstands an sich und notwendig verbunden.“ Kant, wie Anm. 66, 352. Kant: Werke in zehn Bänden. Darmstadt 1968. Bd. 6, 300. Ilias II, 412. Heinse, wie Anm. 38, 304. Heinse, wie Anm.  38, 266 f. Keines der von Heinse seinem Helden in den Mund gelegten Zitate ist zutreffend. Das von Euripides angeführte Zitat: „Siehst du über und um uns den unermeßlichen Äther [….] Das ist Gott!“ lässt sich so bei dem Tragiker nicht nachweisen. Das von Aristophanes angeführte Zitat, auf das die von Heinse und Hölderlin gebrauchte Formel zurückgeht: „Unser Vater Äther, heiligster, aller Lebengeber“ steht in der Komödie offensichtlich in satirischem Zusammenhang. Der Chor der Wolken ruft die olympischen Götter an und schiebt dabei diese Apostrophe ein, offensichtlich, weil die Wolken sich selbst als Teil des Äthers sehen. (Wolken 569 f.) Von einer Äther-Metaphysik wie bei Heinse und Hölderlin kann in der Antike keine Rede sein. Aus den Praeterita „riefs und flog“ (V. 65) wird im nächsten Satz ein futurisches Präsens: „wirds ein Jubel“ (V. 68). Zitiert mit Verszahl nach FHA, Einleitung. Nein, der Gott des Dichters. Frankfurt/M. 1975, 67 f. Vgl. auch die ausführlichere Darstellung des Manuskriptbefundes im sogenannten „Homburger Folioheft“ in FHA 8, 734 ff. Zur Datierung siehe FHA, Einleitung, 55. FHA, Einleitung, 58, Z. 12. Reuß, wie Anm. 49, 606. Vgl. unten S. 116‌‌f. Ilias II, 768 Vgl. Reuß, wie Anm. 49, 615: „Die ‚Grotten der See‘ sind jene von der an sich formlosen Gewalt der Natur, der Brandung der See, ausgewaschenen ortlosen Orte, auf die die Gestalt des Wahnsinns und des Suizids als gescheiterte und unerlöste bezogen ist.“  Zu Recht spricht Reuß, wie Anm. 49, 631 f. in diesem Zusammenhang von der „Brüchigkeit des Gesagten“, die durch die „radikale In-Frage-Stellung der Rede durch den Tod“ bedingt sei. Zuerst in Bertaux, wie Anm. 58, 114–139: „In verschwiegener Erde“. Matt, wie Anm. 32, 211. Matt, wie Anm. 32, 221.



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85 Der durch Spinoza in die neuere philosophische Diskussion eingeführte Begriff wurde seit Lessing, F. H. Jacobi und Goethe zum Markenzeichen eines Pantheismus, der die Welt als göttlichen, sich selbst hervorbringenden Kosmos auffasst. 86 In: GG, 446 und Kommentar 1038. 87 Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. München 2015, 25. 88 Assmann, wie Anm. 87, 26. 89 Vgl. hierzu Verf.: Abendländischer Mythos und kapitalistischer Kultus. Das Ende der monotheistischen Religion. In: Mauro Ponzi u.  a. (Hg.): Der Kult des Kapitals. Kapitalismus und Religion bei Walter Benjamin. Heidelberg 2017, 217–236.

4.  Das „Volk des Buches“   1 An Heinrich Laube, 25. 1. 1850.   2 Jan-Christoph Hauschild, Michael Werner: „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst“. Heinrich Heine. Eine Biographie. Köln 1977, 534.   3 An Julius Campe, 1. 6. 1850.   4 Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. VI. 1938–1940. Frankfurt/M. 2000, 113.   5 Vgl. hierzu eingehend: Verf.: Der Ursprung der deutsch-jüdischen Literatur in Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach. In. Emile G. L. Schrijver u.  a. (Hg.): Die Von Geldern Haggadah und Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“. Wien, München 1997, 37–47.   6 Dass Heine hier tatsächlich schon den Kapitalismus als ein die ganze Welt beherrschendes System begriffen hat, lässt sich daran ablesen, dass er in einer beiläufigen Bemerkung die Diagnose, die er für das Frankreich der Rothschilds fällt, in beinahe identischen Worten auf „die Amerikaner“ ausdehnt: „Der weltliche Nutzen ist ihre eigentliche Religion und das Geld ist ihr Gott, ihr einziger, allmächtiger Gott.“ Am Beispiel eines zeitgenössischen Lynchmordes analysiert der Paria Heine, wie dieses System zu Rassismus und politischer Unfreiheit führen kann: „O Freiheit! du bist ein böser Traum!“ (HB 7, 39).   7 Das Grimmsche Wörterbuch kennt nur das Substantiv „das Portativ“, das „ein tragbares musikinstrument, eine handorgel“ bezeichnet (DWB 13, Sp. 2005). Heine hat das Adjektiv wahrscheinlich als Lehnwort aus dem Französischen „portatif/tragbar“ gebildet. (Für seinen mündlichen Hinweis hierzu danke ich Frank Stern.)   8 Koran, Sure 4,153: „Verlangen wird das Volk der Schrift von dir, ihnen ein Buch vom Himmel hinabzusenden. Aber etwas Größers wie dies verlangten sie schon von Moses.“ (Übersetzung Max Henning). Vgl. auch Sure 3,65 u.  ö.   9 Der Babylonische Talmud. Übers. von Lazarus Goldschmidt. Berlin 1930. Bd. 2, 191. 10 Vgl. zum folgenden: Moshe Halbertal: People of the Book. Canon, Meaning and Authority. Harvard University Press 1997. 11 Der Babylonische Talmud. Übers. von Lazarus Goldschmidt. Bd. 7. Berlin 1933, 637 f. 12 Vgl. Halbertal, wie Anm. 10, 19: „But after the sealing of the text, the Scriptures became also an object of interpretation and contemplation, like an artistic creation.“   13 Vgl. Gershom Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala. In: Ders.: Judaica 3. Frankfurt/M. 1970, 51: „das Wort Gottes, das in alle Welten gelangt, ist zwar unendlich bedeutungsschwanger, hat aber keine feste Bedeutung. Selber bedeutungslos, ist es das Deutbare schlechthin.“  

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14 Der Babylonische Talmud. Übers. von Lazarus Goldschmidt. Bd. 12. Berlin 1936, 49 f. 15 Das ist vor allem in dem Verb „kötern“ impliziert, das nach DWB 11, Sp. 1890 „herumlaufen wie köter, hunde“ bedeutet und in der Literatur nur an dieser Stelle nachgewiesen ist. Was hier im Bild vom „köternden“ Hund eingefangen ist, hat Heine in den „Bädern von Lucca“ in der Figur des Moses Lump realistisch geschildert: „der läuft die ganze Woche herum, in Wind und Wetter, mit seinem Packen auf dem Rücken, um seine paar Mark zu verdienen; wenn der nun Freitag Abends nach Hause kömmt, findet er die Lampe mit sieben Lichtern angezündet, den Tisch weiß gedeckt und er legt seinen Packen und seine Sorgen von sich, und setzt sich zu Tisch […] singt dabei die prächtigsten Lieder vom König David, freut sich von ganzem Herzen über den Auszug der Kinder Israel aus Ägypten“. (HB 3, 430) 16 Im Text mit den Verszahlen nachgewiesen nach HB 11, 125–129. 17 Vgl. hierzu Andreas Gotzmann: Das neue altjüdische Leben – Moritz Daniel Oppenheims Vision eines modernen Judentums. In: Georg Heuberger u. Anton Merk (Hg.): Moritz Daniel Oppenheim. Die Entdeckung des jüdischen Selbstbewußtseins in der Kunst. Frankfurt/M. 1999, 232–250. Motive, die Heines Sabbat-Darstellung verwandt sind, finden sich etwa in „Freitag Abend“ (Abbildung, ebd., 245) und „Sabbath-Ausgang“ (ebd., 293). 18 Gebetbuch der Israeliten. Sonderausgabe für die Israelitische Kultusgemeinde. Wien [o. J.], 137. In Heines Nachlass hat sich eine vollständige Übersetzung des Liedes von fremder Hand erhalten, deren erste Zeile lautet: „Komme, Freund, der Braut entgegen, laß uns den Sabbat begrüßen!“ Zitiert nach DHA 3/2, 880. 19 Der Babylonische Talmud. Neu übertragen von Lazarus Goldschmidt. Bd. 1. Berlin 1929, 801. 20 Gebetbuch der Israeliten, wie Anm.  18, 138: „Du königlicher Tempel, du heilige Residenz! Steh’ auf und geh’ heraus aus deiner Verstörung.“   21 Gebetbuch der Israeliten, wie Anm.  18, 138: „Kommt erst der Mann aus Perez Stamm, ist Freud und Fröhlichkeit in Israel.“ Damit wird auf den Stammbaum Davids (nach Rut 4,18 ff.) angespielt, aus dessen Haus der Messias kommen soll. 22 Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Schlomo ha-Levi Alkabez: Lecho Daudi. In: Neukirchener Theologische Zeitschrift  28 (2013), 167 identifiziert als „Paare“, die in dem Lied zu finden sind: „Bräutigam und Braut, Israel und Schabbat, die Schechina und das Volk Israel, Gott und Jerusalem oder der Messias und die jüdische Gemeinschaft“. 23 In der Bedeutung von „ermüdend“ – wie „portativ“, ein von Heine nach dem Französischen gebildetes Lehnwort. 24 Das Gedicht wird mit der römischen Zahl der vier Abschnitte und der arabischen Ziffer für die Zahl des jeweiligen Verses zitiert nach: HB 11, 129–158. 25 So Gerhard Sauder mit einem von Heine selbst geprägten Ausdruck in: Blasphemisch-religiöse Körperwelt. Heinrich Heines ‚Hebräische Melodien‘. In: Wolfgang Kuttenkeuler (Hg.): Heinrich Heine. Artistik und Engagement. Stuttgart 1977, 126. 26 „Pumpeditha“, Name einer Ortschaft in Babylonien, in der im 10.  Jahrhundert n. Chr. eine bedeutende Talmudschule existierte. 27 Gershom Scholems Übersetzung wurde zunächst in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude (4. Jg. 1919/20, 61–77) publiziert, dann in: Chaim Nachman Bialik: Essays. Berlin 1925, 82–107. Die hier entwickelten Kategorien spielen in den dreißiger Jahren in der Diskussion zwischen Scholem und Walter



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Benjamin über die Interpretation von Franz Kafkas Schriften eine zentrale Rolle. Vgl. Benjamins großen Brief über Kafka an Scholem vom 12. Juni 1938. Wie Anm. 4, 105–115. Brief an Moses Moser vom 18. 5. 1823: „Sehr drängt es mich in einem Aufsatz für die Zeitschrift [des Vereins für Cultur und Wissenschaft des Judentums] den großen Judenschmerz (wie ihn Börne nennt) auszusprechen.“   Heines Hauptquelle, Michael Sachs: Die religiöse Poesie der Juden in Spanien. Berlin 1845 nennt den Dichter richtig „Jehudah ben Samuel Hallewi“ (287), während Heine fälschlicherweise „Halevy“ zum Patronym macht. Nach der talmudischen Legende stirbt Moses „im Kusse Gottes“. Vgl. Micha Josef Bin Gorion (Hg.): Die Sagen der Juden. Mose. Frankfurt/M. 1926, 371: „In dieser Stunde drückte der Herr einen Kuß auf Moses Lippen und nahm ihm die Seele durch den Kuß seines Mundes. Und Gott weinte und sprach: ‚Wer wird mir wider die Gottlosen beistehen‘ […].“ Nach Midrasch Debarim Rabba XI. 8. In III, 101 ff. erinnert Heine sich der Phase seiner Griechenbegeisterung, wobei er sich zum Dionysos stilisiert, um dieses Bild mit einem „Still davon“ (III, 109) zu beenden, woraufhin sich sein gegenwärtiger Zustand: „Wälze mich am Boden elend,/ Krüppelelend“ (III, 114 f.) ins Bewusstsein drängt, was dann mit einem doppelten „still davon – | Still davon“ (III, 116 f.) abgebrochen wird. Der Babylonische Talmud. Neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt. Bd.  8. Berlin 1933, 788. Die Geschichte von dem goldenen Kästchen, das Alexander dem Großen nach der Eroberung Gasas, der Hauptstadt Syriens, zugefallen war und in dem er als sein „Kostbarstes“ Homers Ilias aufbewahrt habe, wird von Plutarch in seiner Vita Alexanders des Großen, Kap. XXXV erzählt. Heine variiert das Motiv drei Mal: „Denn es sind die Tränenperlen | Des Jehuda ben Halevy“ (III, 169 f.); „Perlentränen, die verbunden | Durch des Reimes goldnen Faden“ (III, 173 f.), „Perlentränenlied“ (III, 177). Unter der Überschrift „Östliche Poeten“ heißt es da zum Beispiel: „Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Schiras stehlen, | essen sie zu viel, die Armen, und vomieren dann Ghaselen.“ (HB 3, 242) Platen fühlte sich durch diese harmlosen, aber auf sein dichterisches Epigonentum abzielenden Epigramme persönlich beleidigt, wie er in seinem Brief vom 12. 3. 1828 an einen Freund gesteht: „Dass Immermann sie gemacht hat, ist verzeihlich, daß aber Heine sie aufnimmt, sie vertritt, daß er mir Sottisen durch die dritte Hand sagt, ist nicht verzeihlich und ist nebenbei eine echt jüdische Handlungsweise.“ (HB 4, 830) Zitiert nach dem Abdruck in: HB 4, 832. Schon in dem oben (Anm. 35) zitierten Brief ist der antisemitische Ton unüberhörbar. So parodiert er etwa dessen Drama Der romantische Ödipus: Platen hätte es „so einrichten sollen, daß Ödipus seine Mutter tötet und seinen Vater heiratet. Das dramatische Drastische in einem solchen Gedichte hätte einem Platen meisterhaft gelingen müssen“. (HB 3, 468.) Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt/M. 1975, 221. Neuer Eulenspiegel 1832. In: Eberhard Galley u. Alfred Estermann (Hg.): Heinrich Heines Werke im Urteil seiner Zeitgenossen. Hamburg 1981. Bd. 2, 99. Julian Schmidt: Börne, Heine und das Judenthum unserer neuen Literatur. In: Die Grenzboten 9 (1850), 841–848. Einleitend bemerkt Schmidt: „In einer musikalischen Zeitschrift war behauptet worden, die Juden hätten keinen rechten Sinn für die Kunst

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[…]“ (841). Damit verweist er auf Richard Wagners nur zwei Monate zuvor unter dem Pseudonym „K. Freigedank“ in der Neuen Zeitschrift für Musik erschienene Polemik „Das Judentum in der Musik.“ (vgl. unten S.  174  f.) Obwohl Schmidt Wagners Urteil als „falsche und einseitige Behauptungen“ zurückweist, argumentiert er selbst gegen Heine und Börne mit denselben Vorurteilen. „Wir Liberalen haben, wie es unsere Schuldigkeit war, nach Kräften dahin gearbeitet, daß der Staat nach Kräften sein Unrecht gegen die Juden wieder gut mache, und wenigstens die Hauptsache ist bereits geschehen.“ Deshalb müsse man mit der „Empfindsamkeit“ gegenüber den Juden ein Ende machen und sie „einer freien historischen Kritik“ unterwerfen. Schmidt, wie Anm. 40, 842. Sechs Jahre später hat Gustav Freytag, Schmidts Mitstreiter bei den Grenzboten, in seinem Roman Soll und Haben, dem Lieblingsbuch des deutschen Bürgertums bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, diese Ressentiments in der fiktiven Gestalt des hässlichen Juden Veitel Itzig einem nach Hunderttausenden zählenden Publikum nahe gebracht. Zit. nach DHA 3/2, 868. Zit. nach HB 12, 35. So der dänische Schriftsteller Meir Aron Goldschmidt, der glaubt, „daß das breite Publikum nur unvollkommen die tiefe Innerlichkeit und lyrische Energie erfassen kann, mit denen diese Gesänge gedichtet wurden“. (Zit. nach DHA 3/2, 870) Zit. nach DHA 3/2, 498. Zit. nach HB 12, 158 f. Zit. nach HB 12, 161–165. Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Litteratur. 2. Bd.: Das neunzehnte Jahrhundert. Leipzig 1902, 322. Klaus Briegleb: Bei den Wassern Babels. Heinrich Heine, jüdischer Schriftsteller in der Moderne. München 1997, 8: „Unter den neuen Bedingungen der marranischen Assimilation unterlagen die Juden den Beschränkungen ihrer ungetauften Brüder nicht mehr, sondern konnten ihre ‚angestammten‘ Fähigkeiten frei entfalten – und umso mehr wurden sie gehaßt. […] Darin ist er [Heine] Marrane: ein Wahrer des jüdischen Besonderen in der europäischen Diaspora, der im Besonderen die Negation der christlichen Taufe schreibend zu maskieren versteht.“  – Nein, Heine ist gerade als Schreibender kein Marrane, der sein Judentum maskieren würde. Er stellt es ostentativ aus, um es in der Öffentlichkeit zur Wirkung zu bringen. In seinen einführenden Erläuterungen zu „Prinzessin Sabbat“ betont der Herausgeber Alberto Destro wiederholt, dass Heines Interesse vor allem „ästhetischer Art“ sei: „die religiösen Gefühle der dargestellten Juden [seien] nicht seine eigenen“. Die Darstellung des Sabbat sei „eine ‚kollorirte‘ Szene, […] der der religiöse Bezug fast völlig fehlt“. „Dieser Darstellung aber fehlt das eigentlich religiöse Gefühl, das vielmehr durch das ästhetische Wohlgefallen an der liturgischen Handlung ersetzt erscheint.“ (DHA  3/2. 1992, 876 f.) Es ist, als müsse der Interpret sich durch die dreifache Wiederholung selbst zu seiner unzutreffenden Interpretation überreden. – Ähnlich heißt es von „Jehuda ben Halevy“: „Es in erster Linie als Ausdruck von Heines Zugehörigkeit zum Judentum aufzufassen, wäre weitgehend verfehlt.“ (DHA 3/2, 904)



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5.  Juden und Deutsche   1 Ex 19,6 und Dtn 7,6.   2 Vgl. DWB, s. v. Volk: „die älteste bedeutung ist geschlossene abtheilung von krigern, heerhaufe; so wurde es von den Slaven entlehnt (altslav. pluku, kriegsschaar) und kam als fremdwort (ein pulk Kosaken) wieder zurück; ahd. folc glossiert cuneus, cohors, agmen“. DWB 26, Sp. 455.   3 Ex 19,5–6. In: D. Martin Luther: Biblia: das ist: Die gantze Heilige Schrifft: Deudsch. Wittenberg 1545. Faksimile Darmstadt 1973, 157.   4 Ex 20, wie Anm. 3, 158  f.   5 Ex 20, wie Anm. 3, 158  f.   6 Dtn 7,6–7. Die Verheißung wird unmittelbar an die Bedingung geknüpft: „So behalte nu die Gebot | und Gesetz | und Rechte | die ich dir heute gebiete | das du darnach thust.“ Wie Anm. 3, 349. Wörtlich wiederholt Dtn 14,2 unmittelbar vor der Darlegung der Speisevorschriften. Ebd., 362.   7 Vgl. dazu David Nirenberg: Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. München 2015.   8 Johann Gottfried Herder: Homer, ein Günstling der Zeit. In: Die Horen. 1.  Jg. 1795. 9. St, 64.   9 Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Ders.  u.  a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Stuttgart 1992, 141–431. Zitat 149. „Die von Herder inaugurierte Nobilitierung des Begriffs ‚Volk‘ [muss] als der wohl folgenreichste semantische Wandel in der Geschichte dieses Begriffs gewertet werden.“ Ebd., 316. 10 Wie Anm. 9, 151. 11 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Fünfte, durchgesehene Aufl. nach dem Erstdruck von 1808. Hamburg 1978, 121. Ähnlich und mit expliziter Anspielung auf die Etymologie des Wortes „deutsch“ ebd., 106: „die Grundzüge der Deutschen, als eines Urvolks, und als eines solchen, das das Recht hat, sich das Volk schlechtweg, im Gegensatz mit andern von ihm abgerissenen Stämmen zu nennen, wie denn auch das Wort Deutsch in seiner eigentlichen Wortbedeutung das soeben Gesagte bezeichnet.“   12 Johann Gottlieb Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution. In: Ders.: Werke Gesamtausgabe. Bd. 1. Stuttgart, Bad Cannstatt 1964, 292. 13 Fichte, wie Anm. 12, 292. 14 Fichte, wie Anm. 12, 292. 15 Vgl. Vivian Liska, Bernd Witte: Artikel „Europa“. In: Dan Diner (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Stuttgart, Weimar 2012. Bd. 2, 278. 16 Fichte, wie Anm. 12, 293. 17 Auch der Zusammenhang von „Volk“ und Sprache ist schon von alters her in der Bibel vorgegeben. Als Gott sich anschickt, die Menschen zu bestrafen, die ihn durch den Turmbau zu Babel herausfordern, hebt er hervor, dass ihre Einheit als Volk auf der Einheit ihrer Sprache beruhe: „Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen“. (Gen  11,8) Dass sie viele Völker bilden und in „alle Länder zerstreut“ werden, bewirkt er dadurch, dass er ihnen eine je eigene Sprache gibt. Schon in den ersten mythischen Erzählungen der hebräischen Bibel bezeichnet der Begriff „Volk“ demnach eine nationale Gemeinschaft, deren Einheit nicht durch

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eine staatliche Struktur, sondern vor allem durch die gemeinsame Sprache garantiert ist. Fichte, wie Anm. 11, 72. Fichte, wie Anm. 11, 75: Die Deutschen seien „in dem ununterbrochenen Fortflusse einer aus wirklichem Leben sich fortentwickelnden Ursprache geblieben“. Fichte, wie Anm. 11, 76. Fichte, wie Anm. 11, 79  f. Fichte, wie Anm. 11, 129. Fichte, wie Anm. 11, 86  f. Das geschilderte Syndrom, der Zusammenhang zwischen völkischer Ideologie und kunstreligiöser Ästhetik, wird, von Richard Wagner ausgehend, bis in die Zeit des Nationalsozialismus detailliert dargestellt von Andrea Mork: Richard Wagner als politischer Schriftsteller. Weltanschauung und Wirkungsgeschichte. Frankfurt/M. 1990. Richard Wagner: Gesammelte Schriften. Hg. von Julius Kapp. Leipzig o.  J. [1914], Bd. 13, 8. Wagner, wie Anm. 25, 9. Wagner, wie Anm. 25, 9: „instinktmäßige Abneigung“. Ebd., 11: „instinktmäßiger Widerwille gegen das jüdische Wesen“. Wagner, wie Anm. 25, 10. Wagner, wie Anm. 25, 13. Siehe auch ebd., 19: „Gegurgel, Gejodel und Geplapper“. Über die seit dem Mittelalter zu einem durchgängigen Topos gewordene Kontrastierung von jüdischem „Lärm“ und christlicher „Harmonie“ in der Musik vgl. Ruth HaCohen: The Music Libel Against the Jews. Yale University Press 2011. Wagner, wie Anm. 25, 18. „Nur aber, wann der Dämon, der jene Rasenden im Wahnsinn des Parteikampfs um sich erhält, kein Wo und Wie zu seiner Bergung unter uns mehr aufzufinden vermag, wird es auch – keinen Juden mehr geben. || Uns Deutschen könnte, gerade aus der Veranlassung der gegenwärtigen, nur eben wieder unter uns denkbar gewesenen Bewegung, diese große Lösung eher als jeder anderen Nation ermöglicht sein“. Wagner, wie Anm. 25, Bd. 14, 192. Zu der Deutungskontroverse, die sich um diese rätselhaften Sätze entwickelt hat, vgl. Mork, wie Anm. 24, 118. Schon 1939 hat Theodor W. Adorno geschrieben: „Der Wagnersche Antisemitismus versammelt alle Ingredienzien des späteren in sich. […] Selbst den Gedanken von der Vernichtung der Juden hat er bereits konzipiert. Von seinen ideologischen Nachfahren unterscheidet er sich dabei nur, indem er die Vernichtung der Rettung gleichsetzt.“ Jetzt in: Ders.: Versuch über Wagner. Frankfurt/M. 1981, 22. Wagner, wie Anm. 25, Bd. 14, 190. Wagner, wie Anm. 25, Bd. 14, 191. Wagner, wie Anm. 25, Bd. 13, 166. Wagner, wie Anm. 25, Bd. 13, 163. Wagner, wie Anm. 25, Bd. 14, 197. Wagner fasst die These des gobineauschen Buches in dem Satz zusammen: „Wir können uns der Anerkennung der Richtigkeit dessen nicht verschließen, daß das menschliche Geschlecht aus unausgleichbar ungleichen Rassen besteht, und daß die edelste derselben die unedleren wohl beherrschen, durch Vermischung sie aber nicht gleich, sondern sich selbst nur unedler machen konnte.“ Wagner, wie Anm. 25, Bd. 14, 193.



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38 Wagner, wie Anm. 25, Bd. 14, 196. 39 Max S. Hering Torres: Rassismus in der Vormoderne: die „Reinheit des Blutes“ im Spanien der Frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 2006, 260. 40 George  M. Fredrickson: Rassismus. Ein historischer Abriß. Hamburg 2004, 173 definiert: Rassismus liege vor, „wenn eine ethnische Gruppe oder ein historisches Kollektiv auf der Grundlage von Differenzen, die sie für erblich und unveränderlich hält, eine andere Gruppe beherrscht, ausschließt oder zu eliminieren versucht“. 41 So auch Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie. Frankfurt/M. 1971, 134: „Was unpolitische Bildungsbürger der Weimarer Republik verkündet hatten, ohne je an die Folgen zu denken, wird nun zum Kernstück faschistischer Ideologie und, in der Konsequenz, Machtausübung.“   42 DWB s. v. Volk: volksthum, noch nicht bei CAMPE; von JAHN eingeführt […] Jahn braucht das Adjektiv volkstümlich im Sinne von national, wobei aber doch von selbst ein besonderes gewicht auf die eigenart des unbefangenen, von internationaler bildung unberührten theiles des volkes gelegt“ wird. 43 Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volksthum. Lübeck 1810, 7. Vgl. hierzu Emmerich, der bei Jahn die Geburt des Mythos vom Völkischen ausmacht: „Volkstum als biologischer Organismus, der das geschichtliche Wesen des Menschen auf die Stufe der Natur zurücknimmt. Hier konnte später die Rasseideologie ansetzen.“ Emmerich, wie Anm. 41, 49. 44 Jahn, wie Anm. 43, 24. 45 Jahn, wie Anm. 43, 26. 46 „Mischlinge von Thieren haben keine echte Fortpflanzungskraft, und ebenso wenig Blendlingsvölker ein eigenes volkthümliches Fortleben.“ Jahn, wie Anm. 43, 25. 47 Jahn, wie Anm. 43, 21. Schon in seinem Vorwort betont Jahn die Überlegenheit der Deutschen in der Welt: „Deutschland, wenn es einig mit sich, seine ungeheuren, nie gebrauchten Kräfte entwickelt, kann einst der Begründer des ewigen Friedens in Europa, der Schutzengel der Menschheit sein.“ Ebd., XV. 48 Adolf Hitler: Mein Kampf. München (538.–542. Aufl.) 1940, 432  f. 49 Hitler, wie Anm. 48, 434. 50 Vgl. z.  B. Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie. Berlin 1973, 733: „Hitler musste schon deshalb auf das Mittel der verneinten Vergangenheit zurückgreifen, weil er keine deutsche Epoche bewunderte: seine ideale Welt war die Antike“. 51 Hitlers Tischgespräche, zitiert nach Fest, wie Anm. 50, 734. Selbstverständlich gab es im Nationalsozialismus, etwa bei Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler, auch weiterhin den Mythos von der Kontinuität der Germanen mit den Deutschen. 52 Albert Speer: Erinnerungen. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1969, 110. 53 Adolf Hitler in Franken. Reden aus der Kampfzeit. Nürnberg 1939, 115. Zitiert nach Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. München, Zürich 1984, 500. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Johann Chapoutot: Rassistischer Staat und ganzheitliche Gesellschaft: Platon als Philosophen-Herrscher oder: Das „Dritte Reich“ als zweites Sparta. In: Johann Chapoutot: Der Nationalsozialismus und die Antike. Darmstadt 2014, 206–240. 54 Hitler, wie Anm. 48, 322, 330, 334. 55 Hitler, wie Anm. 48, 336. 56 Hitler, wie Anm. 48, 342.

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57 Unter dem Titel „Programmatische Kulturrede des Führers“ im Völkischen Beobachter vom 19. 7. 1937. Jetzt in: Robert Eikmeyer (Hg.): Adolf Hitler: Reden zur Kunst- und Kulturpolitik 1933–1939. Frankfurt/M. 2004, 119–143. 58 „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, 130. 59 „[K]leine Kunstkleckser“, „Kunstzwerge“, „Kunstmißhandler“, „prähistorische Kunststotterer“, „Kunststeinzeitler“, „Kunstschwadroneure“, „Kunstschmierantentum“, „Kunstgestammel“ sind nur einige der von Hitler gebrauchten Schmähungen, deren Vielzahl auf das emotionale Engagement des Redners in Fragen der Kunst verweist. „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, passim. 60 „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, 128. 61 „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, 125. 62 „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, 139. 63 „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, 141: „Wir werden von jetzt ab einen unerbittlichen Säuberungskrieg führen gegen die letzten Elemente unserer Kulturzersetzung.“   64 Vgl. URL: http://www.gdk-research.de/de/obj19400882.html. Ansonsten wurden dort nach Ausweis des offiziellen Ausstellungskatalogs vornehmlich Porträts von Parteigrößen, Kriegshelden und Bauern gezeigt. 65 Nach dem Krieg von den Alliierten den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen übergeben, ist es heute Teil der Schausammlung der Neuen Pinakothek in München (Inv. Nr. 11925). 66 „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, 140. 67 In seiner Eröffnungsrede konstatiert Hitler, dass nur die „Kämpfer […] die wirklich gestaltenden, völkerführenden und damit geschichtemachenden Erscheinungen“ seien. „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, 137. 68 „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, 130. 69 „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, 135. 70 „Programmatische Kulturrede des Führers“, wie Anmerkung 57, 136.

6.  „Berlin sey Sparta!“   1 [Johann Wilhelm Ludwig Gleim:] Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier. Berlin 1757. Neudruck Heilbronn 1882, 7: Krieg ist mein Lied! Weil alle Welt Krieg will, so sey es Krieg! Berlin sey Sparta! Preussens Held Gekrönt mit Ruhm und Sieg!   2 Schon 1917 hatte Hofmannsthal den dreiteiligen Aufsatz „Augenblicke in Griechenland“ veröffentlicht, der Eindrücke seiner Griechenlandreise vom Mai 1908 einfängt: Die prosaischen Schriften gesammelt. Bd. 3. Berlin 1917. Er war damals in Delphi mit Harry Graf Kessler und Aristide Maillol zusammengetroffen.   3 Hugo von Hofmannsthal: Griechenland [1922]. In: Ders.: Prosa IV. Frankfurt/M. 1955, 153.   4 Hofmannsthal, wie Anm. 3, 153.   5 Die Sparta-Begeisterung hatte schon früh im Frankreich des 18. Jahrhunderts eingesetzt. So hatte Fénelon in seinen „Dialogues des morts“ (1712) in einem Totenge-



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spräch zwischen Leonidas und Xerxes die Stärke der spartanischen Republik gegenüber der persischen Tyrannis betont. In ähnlicher Weise hält Jean-Jacques Rousseau die Spartiaten für das größte Exempel der Bürgertugend. In der Mitte des Jahrhunderts findet sich diese Tradition dann zusammengefasst in dem vom Chevalier de Jaucourt verfassten Artikel „Lacédémone, république de“ in der Encyclopédie. Vgl. Anuschka Albertz: Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart. München 2006, 146 ff. Diese französische Sparta-Begeisterung im Zeichen der Republik hat Barrès dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts umgewandelt und aus Sparta das Vorbild eines autoritären Krieger- und Züchtungsstaats gemacht. Maurice Barrès: Voyage de Sparte [1906]. Paris 1922, 197 f. Die heutige Altertumswissenschaft spricht auf Grund archäologischer Funde von einer „späten“, das heißt „nach-trojanischen“ Einwanderung, die zwischen 1000 und 800 vor Christus stattgefunden habe. Vgl. Paul Cartledge: Spartan Reflections. London 2001, 169. Plutarch: Lykurg, Kap.  16. In: Ders.: Lebensbeschreibungen. Bd.  1. München u. Leipzig 1913, 127–129. Plutarch, wie Anm. 8, 127, Anm. 42: „Apothetai, bedeutet ein Ort, wo Kinder ausgesetzt werden.“   Barrès, wie Anm. 6, 199: „Lycurgue proposa aux gens de cette vallée la formation d’une race chef. […] Quant à moi, j’admire dans Sparte un prodigieux haras.“   Hofmannsthal, wie Anm. 3, 162. Anschließend (163–164) das Zitat der Beschreibung des Taygetos-Gebirges durch Barrès. Hofmannsthal, wie Anm. 3, 162 f. Hofmannsthal stellt der Beschreibung des Taygetos durch Barrès eine verkürzte Neuschreibung des ersten Teils seines Aufsatzes „Augenblicke in Griechenland“ gegenüber. Der 1908 erstmals in „Der Morgen“ publizierte Text, der dort den Titel „Ritt durch Phokis“ trägt, heißt bei seiner Publikation in Buchform 1917 „Das Kloster des Heiligen Lukas“. Vgl. „Augenblicke in Griechenland“. In: Ders.: Prosa  III. Frankfurt/M. 1953, 7–15 mit „Griechenland“. In: Ders.: Prosa IV, wie Anm. 3, 164–167. Während der ältere Prosatext ein vor alle literarische Erinnerung zurückgreifendes Urgriechenland aus „Stunde, Luft und Ort“ abzulesen versucht, – „Homer ist noch ungeboren“ – stellt der spätere Essay mit seiner Erwähnung „des Knaben Ion des Sophokles“ eine unmittelbare Beziehung zur Literatur der klassischen Antike her. Hofmannsthal, wie Anm. 3, 157. Werner Jaeger an Rudolf Borchardt, 9. 11. 1931. In: Bernhard Zeller (Hg.): Borchardt, Heymel, Schröder. Marbach a. N. 1978, 291. Rudolf Borchardt: Pindar. In: Corona 3.2 (Dez. 1932), 241. Jaeger, wie Anm. 15, 291. Borchardt, wie Anm. 16, 240. Borchardt, wie Anm. 16, 241. Borchardt, wie Anm. 16, 244, bzw. 237. Borchardt, wie Anm. 16, 238. Borchardt, wie Anm. 16, 242. Das Motiv kommt in den Chorliedern Pindars so gut wie nicht vor. Pindar besingt in seinen Chorliedern die Sieger in den Wettkämpfen der panhellenischen Spiele, wobei seine Texte sehr stark mit typisch homerischen Vokabeln durchsetzt sind.

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Pindar betont den agonalen Charakter der griechischen Kultur, der durch ihn auch in dessen europäische Rezeption übernommen wird. Homers Epen hingegen handeln durchgängig von der kriegerischen „Landnahme“. Borchardt, wie Anm. 16, 241. Borchardt, wie Anm. 16, 244 f. Borchardt, wie Anm. 16, 236. Jaeger, wie Anm. 15, 292. Dass Borchardts Ausführungen keine größere Resonanz gefunden haben, mag daran liegen, dass sie nur als Nachwort zu dem in 100 Exemplaren aufgelegten Privatdruck der Übersetzung einiger pindarischer Gedichte durch Borchardt (München 1931) und verkürzt in der bibliophilen Zeitschrift „Corona“ im Dezember 1932 publiziert wurden. Vgl. Verf.: Der Philosoph und der Führer. Über Ernst Noltes Apologie Martin Heideggers aus dem Geist der Zeit. In: Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 41.3 (1994), 283–287. Erste Zeile des Gedichts „Teils – teils“. In: BG, 443. Friedrich Schiller: Gedichte. Hg. von Norbert Oellers. Stuttgart 1999, 46. Erstdruck in: Die Horen. 1. Jg. 1795. 10. St, 72–85, dort unter dem Titel „Elegie“. Vgl. Lukas Thommen: Sparta. Verfassungs- und Sozialgeschichte einer griechischen Polis. Stuttgart 2003, 3: „Das Grabepigramm für die gefallenen Spartaner steht stellvertretend für ein weit verbreitetes Spartabild und reflektiert ein bis in die Schulbücher propagiertes Staats- und Erziehungsideal.“   Paul Cartledge: Spartan Reflections. London 2001, 169 spricht von „the idealisation of Sparta in Greek antiquity, that is, the distorted or entirely imaginery literary tradition about ancient Sparta“. Erst die neuere Altertumswissenschaft hat auf Grund archäologischer Funde das von den antiken Schriftstellern überlieferte Bild korrigieren können. Im griechischen Original lautet der zweite Vers des Distichons: „dass wir hier liegen, den Befehlen (rhémasi) jener (der Lakedaimonier) gehorchend.“ Albertz, wie Anm. 5, 175 stellt fest, Schiller habe in seinem Gedicht das Distichon aus der konkreten historischen Situation herausgenommen und „in einen symbolisch-allgemeinen Zusammenhang übertragen“. Tusculaner Gespräche  1, 101  f.: „sanctis patriae legibus“. Vorher schon bei Dio­dor 11.33.2: „nomimois“. Klaus Mann: Brief an Gottfried Benn, 9. 5. 1933. In: Ullrich Ott (Hg.): Gottfried Benn 1886–1956. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. N. 1986 (Marbacher Kat. 41), 198–201. Zitat 199. BP, 300: „denn die Volksgemeinschaft ist kein leerer Wahn“. In: Ullrich Ott (Hg.): Else Lasker-Schüler 1869–1945. Bearb. v. Erika Klüsener u. Friedrich Pfäfflin. (Marbacher Magazin 71) Marbach/N. 1995, 219. Frank Schirrmacher hat dieses Verfahren in seiner Rede zur Entgegennahme der Joseph-Neuberger-Medaille als „Inversion“ bezeichnet und als eines der grundlegenden formalen Verfahren des Antisemitismus ausgewiesen. Vgl. Frank Schirrmacher: Den Schmerz verdoppeln. Was ist Inversion? In: FAZ, 22. 9. 2012, 31. Eine genaue Charakterisierung des Wochenblattes und der Sondernummer mit zugehörigen Faksimiles bei Klaus Theweleit: Das Buch der Könige Bd. 2x. Orpheus am Machtpol. Frankfurt/M. 1994, 575–584. Theweleit, wie Anm. 39, 575.



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41 Das hat bis zu geradezu graphischer Evidenz nachgewiesen: Holger Hof: Montagekunst und Sprachmagie. Zur Montagetechnik in der essayistischen Prosa Gottfried Benns. Diss. Mainz 1991, 162–249. 42 Schon in seinen frühen expressionistischen Gedichten richtet Benn seine Aufmerksamkeit vornehmlich auf körperliche Vorgänge. Vgl. das Gedicht „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“. In: BG, 28. Auch in seinem Essay „Zur Problematik des Dichterischen“ von 1930 erhebt er den Körper zur Grundlage alles Dichterischen: „Von weither liegt in ihm ein Traum, ein Tier, von weither ist er mit Mysterium beladen […]. Der Körper ist der letzte Zwang und die Tiefe der Notwendigkeit, er trägt die Ahnung, er träumt den Traum. […] Alles gestaltet sich aus seiner Hieroglyphe: Stile und Erkenntnis, alles gibt er: Tod und Lust.“ In: BE, 95. 43 Der zweite Abschnitt des Essays trägt die Überschrift „Sie ruhte auf den Knochen der Sklaven“. (BE, 288–292). Der erste Abschnitt ist überschrieben: „Eine Welt in einem Licht, das oft beschrieben ist“, (BE, 283), womit Benn unter anderem auf Hugo von Hofmannsthals Reisebericht Griechenland und dessen Feier des griechischen Lichts anspielt. Man kann Benns Essay auch als zynische Widerlegung von Hofmannsthals allzu abgeklärtem Griechenland-Bild verstehen. 44 Unter „Arbeitsteilung“ [!] versteht Benn einerseits die generelle Rechtlosigkeit der Sklaven. Der Sklavenhalter durfte sie „verschenken, verpfänden, verkaufen, züchtigen mit Stöcken, Riemen, Peitschen, Fußblöcken, Halskrallen, Brandmarkung“. Andererseits bezieht er sich auf „erzieherische Maßnahmen“ in Sparta, zu denen es seiner Meinung nach gehörte, dass „die heranwachsenden Knaben […] Heloten überfallen und töten mussten“. (BE, 289) 45 Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze 1932–1934. Frankfurt/M. 1979, 36. Ähnlich an Ina Seidel, 27. 8. 1934: „Ich lebe mit vollkommen zusammengekniffenen Lippen, innerlich und äußerlich. Ich kann nicht mehr mit. Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! […] Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus.“ In: Gottfried Benn: Lyrik und Prosa. Briefe und Dokumente. Eine Auswahl. Wiesbaden 1962, 121. 46 Der Band „Kunst und Macht“, in dem „Dorische Welt“ programmatisch an erster Stelle steht, erschien sogar erst im Oktober 1934. 47 BP, 129–148: „Es handelt sich nicht um Züchtung in eine nicht mehr erwartbare und auch nicht mehr verwertbare Zukunft, sondern um Haltung in einer nur noch abstraktiv erlebbaren, finalen Gegenwart.“ (146) – „Es gibt keine Verwirklichung. Der Geist liegt schweigend über den Wassern. Ein Weg ist ausgegangen, ein Urtag sinkt, vielleicht barg er andere Möglichkeiten als diese Abendstunde, aber nun ist sie da – ecce homo, – so endet der Mensch.“ (148) Nach seinem enthusiastischen Aufbruch in die „Volksgemeinschaft“ ist Benn zu Nietzsche und dessen „Nihilismus“ zurückgekehrt und dies mit einer Anspielung auf Gen 1,2. 48 Ernst Buschor: Die Plastik der Griechen. Mit einhundert Abbildungen. Berlin 1936, 6 f. Das Buch erlebte 1942 eine zweite Auflage und wurde nach dem Krieg 1958 in einer „völlig überarbeiteten Neuauflage“ zu einem Klassiker. Bei der Identifizierung der Griechen als eines „nordischen“ Volks waren ihm schon Walter Darré: Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse (1929) und der maßgebliche Rassentheoretiker des Dritten Reiches Hans F. K. Günther: Rassengeschichte des hellenischen und römischen Volkes (1929) vorausgegangen. Vgl. hierzu: Albertz, wie Anm. 5, 266.

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49 Buschor stellt fest: „Der große Wandel, der sich um die Jahrtausendwende, bald nach der Dorischen Wanderung […] vollzog“ sei „nur an den Tongefäßen abzulesen“. Wie Anm. 48, 8. 50 Buschor, wie Anm. 48, 8. 51 Zu Berve vgl. Stefan Rebenich: Alte Geschichte in Demokratie und Diktatur. Der Fall Helmut Berve. In: Chiron 31. 2001, 457–496: „Helmut Berve, der wichtigste Althistoriker im Dritten Reich, schilderte Sparta mit der elitären Mentalität, der Idealisierung der militärischen Pflicht, dem Begehren nach einem starken Führer und der Verherrlichung des Volkes als das ideale Modell für die NS-Regierung.“   52 Helmut Berve. Sparta. Leipzig (Bibliographisches Institut) 1937. (Meyers kleine Handbücher Bd. 7). 53 Berve, wie Anm. 52, 7. 54 Berve, wie Anm. 52, 39 bzw. 41. 55 Berve, wie Anm. 52, 45. 56 Berve, wie Anm. 52, 27. 57 Berve, wie Anm. 52, 36. 58 Berve, wie Anm. 52, 58: „Die Kriege, welche Sparta in der Zeit von 750 bis 550 mit seinen Nachbarn geführt hat, haben der notwendigen [!] Erweiterung des Bodens gedient und diesen Zweck trotz mancher, nicht unbeträchtlicher Rückschläge erfüllt.“   59 So die Präambel des „Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. 9. 1935, in dessen § 1 „Eheschließungen“ und in § 2 „außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ verboten werden. In: documentArchiv. de (Hrsg.), URL: http://www.documentArchiv.de/ns/nbgesetze01.html, Stand 17. 1. 2018. Im Vorgriff auf die Novemberpogrome schreibt Julius Streicher im „Stürmer“ vom Januar 1938: „Höchster Zweck und höchste Aufgabe des Staates ist es also, das Volk, das Blut, die Rasse zu erhalten.“ Zitiert nach Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin, New York 2. verb. Aufl. 2007, 521. 60 Woher dieser auffallende Enthusiasmus für den schönen männlichen Körper? Woher – muss man sich fragen – diese unterschwellige Kriegsbegeisterung? Benns Gedicht antwortet: Sie sind auf dem „trojanische[n] Feld“ geboren. Das heißt: die homerischen Epen sind ihre erste kanonische Wortwerdung. Vgl. BG, 246: „Mann –, Du alles auf Erden, fielen die Masken der Welt, fielen die Helden, die Herden,-: weites trojanisches Feld –,“   61 Adolf Hitler: Mein Kampf. München (538.–542. Aufl.) 1940, 458. 62 Hitler, wie Anm. 61. 63 Vgl. hierzu Jürgen Trimborn: Riefenstahl. Eine deutsche Karriere. Berlin 2002, 217 ff. 64 Trimborn, wie Anm. 63, 243. 65 Der moderne Diskuswerfer in der gleichen Pose schmückt auch den Schutzumschlag von Riefenstahls Werk „Schönheit im olympischen Kampf“. Deutscher Verlag (Ullstein), Berlin 1937. 66 Trimborn hält Riefenstahls Film für unideologisch. „Ihr Blick auf die Athleten der Olympiade wurde so durch eine grundlegende Faszination der Schönheit und Vollkommenheit des menschlichen Körpers geprägt und ging weit über die beschränkten rassistischen Vorstellungen des Nationalsozialismus hinaus.“ Trimborn, wie



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Anm. 63, 271. Hingegen arbeitet Daniel Widmann: Begehrte Körper. Konstruktion und Inszenierung des „arischen“ Männerkörpers im „Dritten Reich“. Würzburg 1998, der den Prolog des Olympia-Films detailliert analysiert, dessen ideologische Indienstnahme auf das genaueste heraus: „Beim Entzünden der Flamme, dem abschließenden Höhepunkt des offiziellen Zeremoniells und des Prologs, verknüpft Riefenstahl visuell und akustisch Sport mit Tod und dem Aufgehen in der ‚Volksgemeinschaft‘ [… ] In diesem Raum zirkuliert die nationalsozialistische, mythische, genealogische Erzählung, die aus sich selbst entsteht, zu sich selbst hinführt und nur für sich selbst immer wieder erzählt wird. Alles ‚Nichtarische‘ ist in ihm a priori ausgeschlossen.“ (54 u. 61) Pressefoto in: Illustrierter Beobachter. 14. 7. 1938. Das Zitat ist der dortigen Bildunterschrift entnommen. Abbildung in: Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945. Berlin 2004, 309, Abb. 132. Zur Geschichte des Ankaufs des „LancelottiDiskuswerfers“ für „fünf Millionen Reichsmark“ vgl. Johann Chapoutot: Der Nationalsozialismus und die Antike. Darmstadt 2014, 188 f. Siehe auch die Karteikarte des „Central Collecting Point München“ in der Datenbank des Deutschen Historischen Museums (Berlin): „bought 1938 from the family Lancelotti for 6  485  000 Lire. Export licence given“. Die Statue wurde 1948 an Italien restituiert und ist seit 1953 im römischen Thermenmuseum zu sehen. Vgl. Sopraintendenza Archeologica di Roma (Hg.): Museo Nazionale Romano. English Edition. Milano 2005, 42 f. Abbildung 39 bei Trimborn, wie Anm. 63, nach 448. München 1928. 4. Aufl. 1942. Mit 159 Abbildungen, 87: „wesentlichstes Charakteristikum […], daß in der deutschen Kunst die Darstellung der nordischen Menschen heute nur noch als ganz seltene Ausnahme anzutreffen ist. […] Es ist eine wahre Hölle des Untermenschen, die sich hier vor uns ausbreitet“. Von Abb.  109–140 werden „Ausschnitte aus Bildern der ‚modernen‘ Schule“ [u.  a. von Pablo Picasso] mit Fotos aus „Idiotenanstalten, psychiatrischen Kliniken“ usw. konfrontiert. Zur Rolle von Schultze-Naumburg im ästhetischen Diskurs der Nationalsozialisten vgl. Chapoutot, wie Anm. 67, 200–203. So im „Weimar, im Herbst 1937“ unterzeichneten Vorwort zur ersten Auflage von Paul Schultze-Naumburg: Nordische Schönheit. Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst. Mit 190 Abbildungen. Berlin 2. verm. Aufl. 1943. Wobei „Wunschbild“ hier wie im folgenden Zitat offensichtlich der „germanisierende“ Ersatz für das „Fremdwort“ „Ideal“ ist. Schultze-Naumburg, wie Anm. 70, 9 f. Die Bösartigkeit dieses politisch-ästhetischen Programms findet ihren Widerhall in der unnatürlich verzerrten Hässlichkeit von dessen sprachlichem Ausdruck. Schultze-Naumburg, wie Anm. 70, 127–137: Abbildung 79–90. Schultze-Naumburg, wie Anm.  70, 138: Abbildung  91 und 139–141: Abbildung 92–94. Dem entspricht 173–175: Abbildung 105–107: „Aphrodite anadyomene, genannt nach dem Fundort Kyrene. Thermen-Museum, Rom.“ Der Archäologe Ludwig Curtius hatte der Statue 1925 eine Monographie (Die Aphrodite von Kyrene. Berlin 1925) gewidmet und sie als römische Kopie eines hellenistischen Originals identifiziert. Hans F. K. Günther war im Jahr 1930 von dem nationalsozialistischen Minister Wilhelm Frick auf einen eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Sozialanthropologie an der Universität Jena berufen worden. 1935 wurde er Professor für Ras-

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senkunde an der Universität Berlin. Zu seinem „Nordismus“ vgl. Chapoutot, wie Anm. 67, 37–40. 75 Schultze-Naumburg, wie Anm. 70, 150. Möglicherweise denkt Schultze-Naumburg bei den „nordischen Edelhöfen“ an die „Niederdeutschen Hallenhöfe“, wie sie in der 1934 erfolgten Gründung des Museumsdorfs Cloppenburg zu musealen Ehren kamen. 76 Schultze-Naumburg, wie Anm. 70, 177. 77 Schultze-Naumburg, wie Anm. 70, 215. 78 Die vier von einem Mitglied des ‚Sonderkommandos‘ in Auschwitz aufgenommenen Fotos werden ausführlich als Akt des Widerstands interpretiert von Georges DidiHuberman: Bilder trotz allem. München 2007. Seitdem hat Didi-Huberman den Fotografen als den griechischen Juden Alberto Israel Errera identifiziert, der maßgeblich an der Vorbereitung des Aufstands vom 15. August 1944 in Birkenau beteiligt war und der dort schon am 9.  August einen Ausbruchsversuch unternahm, aber wieder eingefangen und von der SS ermordet wurde. Vgl. Georges Didi-Huberman: Alex et Jonas. In: Ders.: Aperçus. Paris 2018, 242–246. 79 www.nationalsozialismus.de/dokumente-heinrich-himmler-posener-rede-vom04–10–1943-volltext/html. Abgerufen am 9. 1. 2013. 80 Zitiert nach Schmitz-Berning, wie Anm. 59, 490.

7.  Moses und Ödipus   1 Sigmund Freud an Arnold Zweig, 30. 9. 1934. In: Sigmund Freud, Arnold Zweig: Briefwechsel. Hg. von Ernst L. Freud. Frankfurt/M. 1968, 102. Die Anfangsseite des auf den 9. 8. 1934 datierten und „Der Mann Moses. Ein historischer Roman“ überschriebenen Manuskripts findet sich als Faksimile gegenüber der Titelseite von Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum. Berlin 1992.   2 Vgl. hierzu Yerushalmi, wie Anm. 1, passim.   3 Freud: Gesammelte Werke, Bd. XVI. Frankfurt/M. 1950, 34.   4 Ludwig Philippson: Israelitische Bibel. Leipzig 1854.   5 Reproduziert als Abb. 2 in Ilse Grubrich-Simitis: Michelangelos Moses und Freuds „Wagstück“. Eine Collage. Frankfurt/M. 2004, 15.   6 An Edoardo Weiss vom 12. 4. 1933. In: Sigmund Freud: Briefe 1873–1939. Frank­ furt/M. 1960, 431.   7 Freud selbst hat die Mehrheitsmeinung der Interpreten so resümiert: „Michelangelo hat den Moment der letzten Zögerung, der Ruhe vor dem Sturm, zur Darstellung gewählt; im nächsten wird Moses aufspringen – der linke Fuß ist schon vom Boden abgehoben – die Tafeln zu Boden schmettern und seinen Grimm über die Abtrünnigen entladen.“ Sigmund Freud: Der Moses des Michelangelo. In: Ders.: Studienausgabe in zehn Bänden. Hg. von Alexander Mitscherlich u.  a. Bd. X: Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt/M. 1969, 201.   8 Freud, wie Anm. 7, 214.   9 Freud, wie Anm. 7, 199. 10 Freud, wie Anm. 7, 217. 11 Freud, wie Anm. 7, 217.



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12 So Freud (wie Anm. 1) in seinem Brief vom 30. 9. 1934 an Arnold Zweig und als Untertitel des ursprünglichen auf den 9. 8. 1934 datierten Manuskripts. 13 FMM, 463. Freud zählt auf: „Ödipus, Karna, Paris, Telephos, Perseus, Herakles, Gilgamesch, Amphion und Zethos u.  a.“, wobei er ausdrücklich bemerkt, die Mehrzahl dieser Gestalten „stamme aus der griechischen Sagenwelt“. 14 Freuds Mitarbeiter Karl Abraham hatte schon in seinem Aufsatz „Amenophis IV. (Echnaton)“, Imago 1 (1912), die Gestalt des Pharao als Rebell gegen den Vater und Begründer des Monotheismus gewürdigt. Eigenartigerweise erwähnt Freud ihn in „Der Mann Moses“ mit keiner Silbe. Marthe Robert vermutet, dass er sich „an diese Arbeit nicht erinnert“ habe. Die Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1967, 348 Anm. 12. Hingegen weist Wolf-Daniel Hartwich: Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann. München 1997, 190 f. darauf hin, Freud habe die Niederschrift des Aufsatzes durch seinen Schüler angeregt, aus dem er wörtliche „Formulierungen“ übernehme, „ohne zu zitieren“. Freud hat diese Episode gewiss nicht „vergessen“, zumal er mit Mitarbeitern und Kollegen im November 1912 in München über den Aufsatz diskutiert und dabei seinen zweiten Ohnmachtsanfall erlitten hatte, den er kurz darauf selbst in Briefen an die Augenzeugen des Vorfalls vielfach analysiert hat. (Vgl. Franz Maciejewski: Der Moses des Sigmund Freud. Ein unheimlicher Bruder. Göttingen 2006, 86 ff.) Seine Übernahmen in der späten Abhandlung sind für die Eingeweihten ein Hinweis darauf, dass er selbst schon 1912 die These von Echnaton als Erfinder des Monotheismus aufgestellt habe. 15 FMM, 486: „Im Jahre 1922 hat dann Ed. Sellin eine Entdeckung gemacht, die unser Problem entscheidend beeinflusst. Er fand beim Propheten Hosea (zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts) die unverkennbaren Anzeichen einer Tradition, die zum Inhalt hat, daß der Religionsstifter Moses in einem Aufstand seines widerspenstigen und halsstarrigen Volkes ein gewaltsames Ende fand.“ – Warum Freud den Vornamen Ernst als „Ed.“ abkürzt, erscheint unklar. 16 FMM, 486 f. Hartwich, wie Anm. 14, 195, hält die Zitierung wissenschaftlicher Literatur lediglich für eine „rhetorische Strategie“: „Freud zitiert die Arbeiten ohne Rücksicht auf den Kontext wie ihre teilweise konträre Ausrichtung und verkehrt ihre Intention bis zur Travestie.“   17 Dabei übernimmt Freud auch eine sozialhistorische These, die in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu seiner These von der Übertragung des Monotheismus auf die israelitischen Nomadenstämme steht. Nach ihm ist der Monotheismus aus der ägyptischen Reichsidee entstanden, deren „Imperialismus“ nicht nur ein einheitliches Großreich, sondern auch eine einheitliche Religion gefordert habe. Daraus sei die „religiöse Intoleranz geboren [worden], die dem Altertum vorher – und noch lange nachher – fremd geblieben“ sei. (FMM, 471 f.) Vgl. Jan Assmann: Moses der Ägypter. München 1998. 18 FMM, 537: „Die von Sellin aus ihren Spuren in der Tradition erkannte, merkwürdigerweise auch vom jungen Goethe ohne jeden Beweis angenommene Tötung des Moses durch sein Judenvolk wird so ein unentbehrliches Stück unserer Konstruktion“. Warum der ausgewiesene Goethekenner Freud, der in einer Fußnote die richtige Quellenangabe „‚Israel in der Wüste‘; Bd. 7 der Weimarer Ausgabe, 170“ macht, diesen Text, den Goethe 1797, also immerhin im Alter von 48 Jahren verfasst und erst 1819 in den „Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan“ veröffentlicht hat, dem „jungen Goethe“ zuschreiben kann, bleibt rätselhaft. Es sei denn, man nimmt an, er wolle diese seine zentrale These dem „alten Goethe“, der für ihn

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Identifikationsfigur und Konkurrent in einem war, nicht zuerkennen. Zu Goethes Text vgl. unten S. 83  ff. Siehe unten S. 158. Freud: Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis. In: Ders.: Werke. Studienausgabe in zehn Bänden. Bd. IV. Frankfurt 1970, 286. Freud, wie Anm. 20, Kursive im Original. So Jakob Hessing in seiner brillanten Analyse: Der Fluch des Propheten. Drei Abhandlungen zu Sigmund Freud. Frankfurt/M. 1993, 307. Beispiele bei Hessing, wie Anm. 22, 306 f. Siehe hierzu die erhellenden Ausführungen bei Yerushalmi, wie Anm. 1, 103 ff. Freud: Erinnerungsstörung, wie Anm. 20, 293. FMM, 472: „Maat, die Göttin der Wahrheit, Ordnung, Gerechtigkeit war eine Tochter des Sonnengottes Re.“   Traktat Menahoth: Von den Speiseopfern 29b. In: Der Babylonische Talmud. Neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt. Bd.  10. Berlin 1935, 486 f. Vgl. hierzu: Verf.: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München 2007, 17 f. und Anm. 14. Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd. III. Die letzte Phase 1919–1939. Bern 1962, 428 ff. resümiert die zeitgenössische Reaktion auf das Buch, die vor allem von jüdischer Seite außerordentlich negativ war. Er selbst ist ebenfalls kritisch: „Wie die Kritiker schnell herausgefunden haben, finden sich in den eben besprochenen Überlegungen schwache Stellen. Die schwächste von allen aber haben sie übersehen: Freuds Theorie der unbewußten Übertragung historischer Geschehnisse.“ (ebd., 430) Auch heute hat man den Eindruck, dass die Mehrzahl der FreudLeser und -Interpreten, den „Mann Moses“ eher als peinliches Alterswerk empfindet.

8.  Moshe Rabenu   1 „In den ersten Monaten nach seiner Ankunft wurde Baeck wie alle Arbeitsfähigen zu körperlicher Arbeit eingeteilt und mußte einen der Transportkarren für Abfälle ziehen. Nach seinem siebzigsten Geburtstag am 23. Mai 1943 wurde er jedoch für seelsorgerische Aufgaben freigestellt und wirkte seitdem vor allem als Rabbiner im Ghetto.“ Fritz Backhaus: „ein Experiment des Willens zum Bösen“  – Überleben in Theresienstadt. In: Georg Heuberger u. Fritz Backhaus (Hg.): Leo Baeck 1873– 1956. Aus dem Stamme von Rabbinern. Frankfurt/M. 2001, 111–128, 115. Allerdings wurde er nach dem Tod Eppsteins, als Benjamin Murmelstein dessen Nachfolger als „Judenältester“ wurde, am 13.  12. 1944 zum Vorsitzenden des „Ältestenrats“ ernannt. (Faksimile des Erlasses ebd., 124) Seit Oktober 1944 gab es keine Todestransporte nach Auschwitz mehr.   2 Dennoch ist er von Hannah Arendt in der ersten Auflage ihre Buches Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil. New York 1963, 105 als „Jewish Führer“ verunglimpft worden. Gershom Scholem verwahrt sich in seinem Brief vom 23. VI. 1963 an Arendt gegen diesen „Gebrauch des Nazibegriffs“: „Für niemand, von dem ich gehört oder gelesen habe, war Leo Baeck, den wir beide gekannt haben, ein Führer in dem Sinne, den die Leser Ihres Buchs assoziieren müssen.“ In: Marie Luise Knott (Hg.): Hannah Arendt, Gershom Scholem: Der Briefwechsel. Frankfurt/M.



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2010, 430. Arendt hat in den späteren Auflagen ihres Buchs und in der deutschen Übersetzung diese Kennzeichnung fallen gelassen Begriffe bei Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/M. 2002. Zu einer ähnlichen Bewertung der Rolle Baecks für die Zeit vor 1943 kommt auf Grund der heute verfügbaren Zeugnisse und Dokumente Beate Meyer: Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939–1945). Göttingen 2010: „Baeck hat sich innerlich aus der Arbeit der Reichsvereinigung zurückgezogen, die immer stärker Zuarbeit zu den Deportationen geworden war. […] Er predigte, wo Gottesdienste erlaubt waren, lehrte in den Seminaren der Hochschule für Wissenschaft des Judentums […]. (143) Schalom Ben-Chorin: Interview mit Dr. Leo Baeck. Zitiert nach Leonard Baker: Hirt der Verfolgten. Leo Baeck im Dritten Reich. Stuttgart 1982, 406. Meyer, wie Anm. 4, 233. Faksimile in: Georg Heuberger u. Fritz Backhaus (Hg.), wie Anm. 1, 94. Jetzt in: BW 6, 213 f. „In den zahlreichen Dokumenten der ‚Reichsvereinigung‘ in den Archiven der ehemaligen DDR sind genauestens alle persönlichen Kontakte und Telephongespräche mit der Gestapo aufgezeichnet. Der Name Leo Baeck taucht dort jedoch nur äußerst selten auf.“ Avraham Barkai: Im Schatten der Verfolgung und Vernichtung. Leo Baeck in den Jahren des NS-Regimes. In: Heuberger u. Backhaus, wie Anm. 1, 91. Barkai, wie Anm. 8, 91. Nathan Peter Levinsohn: Erinnerungen an Leo Baeck. In: Heuberger u. Backhaus, wie Anm. 1, 186 f. Herbert A. Strauss: Erinnerungen an Leo Baeck. In: Heuberger u. Backhaus, wie Anm. 1, 193. „Mein eigenes Urteil schwankte in den frühen Nachkriegsjahren erheblich […].“ Strauss, wie Anm. 11, 193. – Ähnliche Fragen wurden nach 1945 zu Baecks Entscheidung gestellt, in Theresienstadt seinen Mithäftlingen die Wahrheit über Massenmorde in Auschwitz verschwiegen zu haben, die er von einem entflohenen Häftling erhalten hatte. Vgl. Heuberger u. Backhaus, wie Anm. 1, 120. Das Buch erschien 1921 in einer zweiten, wesentlich erweiterten Auflage, die der Autor als „ein neues Buch“ charakterisiert, 1925 in der vierten Auflage. 1960 brachte der Kölner Verlag Melzer die sechste Aufl. heraus. Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin. Leipzig 1900. Der Babylonische Talmud. Neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt. Bd.  10. Berlin 1935, 486 f. Zum ganzen Zusammenhang vgl. Verf.: Jüdische Tradition und literarische Moderne. München 2007, 17 f. Baecks Schilderung seiner Arbeit an der Abhandlung, wie er sie im Gespräch mit Robert Weltsch und Hans Reichmann im August 1955 gegeben hat, ist zitiert bei Hans Reichmann: The Fate of a Manuscript. In: Leo Baeck Year Book 3 (1958), 361 f. Zitiert bei Arno Lustiger: Leo Baeck, der Hirte der Verfolgten. In: FAZ 5. 11. 2007, 41.

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19 Leo Baeck: Die Entwicklung der Rechtsstellung der Juden. Kap. Das Wiederaufleben im Judentum. In: Reichmann, wie Anm. 17, 371. Ebd., 363–371 wird ein weiteres Kapitel der Arbeit unter dem Titel „Wandlungen der Weltanschauungen und der Parteien“ abgedruckt. 20 Vgl. Daniela Eisenstein: „Neutralität ist ein Boden der Freien“. Leo Baeck in den jüdischen Organisationen der zwanziger Jahre. In: Heuberger u. Backhaus, wie Anm. 1, 72. 21 Vgl. das Faksimile eines Zeitungsberichts „Besinnliche Fahrt ins Land der Juden“. In: Heuberger u. Backhaus, wie Anm. 1, 87. 22 Schalom Ben-Chorin: Interview mit Dr. Leo Baeck. Zitiert nach Leonard Baker: Hirt der Verfolgten. Leo Baeck im Dritten Reich. Stuttgart 1982, 406. 23 Barkai, wie Anm. 8, 77–102. Zitat 92 f. Walz habe u.  a. über eine Million Mark „zur Unterstützung für die Auswanderung von in Konzentrationslagern festgehaltenen Juden überwiesen“. Als Quelle bezieht sich Barkai u.  a. auf die Akte Hans Walz im Archiv von Yad Vashem (Nr. 1214 497). 24 Arnold Paucker, Konrad Kwiet: Jewish Leadership and Jewish Resistance. In: David Bankier (Hg.): Probing the Depth of German Antisemitism. Jerusalem 2000, 390: „Based on this documentary evidence there are compelling grounds to assume that Leo Baeck was indeed acting here on Nazi orders. This would seem to stamp him as either a liar or ashamed to tell the truth, or as someone suffering from psychological stumbling blocks or confused memories.“ Es erscheint fraglich, ob die Autoren, die den Text mehrfach als „Rechtslage transcripts“ bezeichnen, diesen überhaupt je in Augenschein genommen haben. 25 Die Aktennotizen, die Paul Eppstein, Vorstandsmitglied der „Reichsvereinigung“ für Moritz Henschel, den Vorsitzenden der Berliner Jüdischen Gemeinde, über seine Gespräche im Reichssicherheitshauptamt anfertigte und die dieser in einer Handakte zusammenfasste, sind, soweit sie Baecks Abfassung der „Rechtsstellung“ betreffen, zum ersten Mal publiziert von Hermann Simon: Bislang unbekannte Quellen zur Entstehungsgeschichte des Werkes „Die Entwicklung der Rechtsstellung der Juden in Europa, vornehmlich in Deutschland“. In: Heuberger u. Backhaus, wie Anm. 1, 103–110. 26 Arnold Paucker: Deutsche Juden im Widerstand 1933–1945. Tatsachen und Probleme. Berlin 1999, 27: „So halten wir es für gänzlich ausgeschlossen, dass dieses voluminöse Werk in den wenigen Monaten vor Baecks Deportation entstanden sein soll.“   27 Baeck stellt 1955 fest. „I wrote and practically finished the book myself.“ Reichmann, wie Anm. 17, 362. Dennoch bringt auch die sechsbändige Ausgabe der Werke Baecks von 2006 (BW) nicht einmal einen Hinweis auf das wichtige Werk. 28 Anwesend waren „die früheren Centralvereinsfunktionäre Hans und Eva Reichmann, der Historiker Hans Liebeschütz und der ehemalige Chefredakteur der ‚Jüdischen Rundschau‘ Robert Weltsch“. Paucker, wie Anm. 26, 27. 29 Baeck charakterisiert das Parteimitglied folgendermaßen: „Among them [den Männern der Widerstandsbewegung] was also a member of the National Socialist Party, whose misguided idealism had brought him into Nazi circles, but who nevertheless enjoyed the confidence of the members of the Resistance.“ Reichmann, wie Anm. 17, 361. 30 „After Auschwitz Korherr presented himself as an opponent to Hitler.“ Paucker, Kwiet, wie Anm. 24, 391.



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31 Das würde auch erklären, warum in den Aktennotizen neben Leo Baeck und Leopold Lukas „Dr. Lucie Sara Dresel“ als Mitarbeiterin bei der Abfassung des „GestapoExemplars“ genannt wird und nicht mehr Hilde Ottenheimer, die schon im September 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet worden war. Lucie Dressel war eine Historikerin, die 1930 mit einer Arbeit über „Die Weltgeldidee bis zur französischen Revolution“ promoviert wurde. Sie wurde am 19. April 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. 32 Es wäre interessant, das Prager Exemplar mit den Exemplaren Eins oder Zwei zu vergleichen, um eventuelle Abweichungen zu registrieren und zu überprüfen, ob sie auf die in der Handakte dokumentierten „Anregungen“ und Befehle zurückgehen, die Suhr bei der Übergabe der einzelnen Teile an die Verfasser richtete – eine historisch-kritische Untersuchung, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann. Jedenfalls ist in den Notizen über die Besprechungen mit Suhr nur von drei historischen Teilen der Arbeit und einer Gesamtzusammenfassung die Rede, was darauf schließen lässt, dass das für die Gestapo angefertigte Exemplar eine kürzere Fassung der ursprünglich fünfbändigen Arbeit darstellt. Vgl. Aktennotiz vom 39. 9. 1942: „Der dritte Teil der Arbeit (1830–1930) wird übergeben“ und Aktennotiz vom 2. 10. 1942: „Der vierte Teil der Arbeit, der Überblick über die Entwicklung der Rechtsstellung der Juden in Europa als Gesamtzusammenfassung wird übergeben.“ Zitiert bei Simon, wie Anm. 25, 107. 33 Er wohnte noch im Januar 1943 in Berlin in der Nähe des Schöneberger Parks. Vgl. Strauss, wie Anm. 11, 193. 34 Albert H. Friedländer und Bertolt Klappert: Der Midrasch aus Theresienstadt und das Testament des Leo Baeck. In BW 2, 15: „Dennoch wurde dieses kleine Buch aus Theresienstadt die eigentliche Vollendung seiner Lehre. […] Wie die Texte im L.B.I.-Archiv deutlich machen, brachte Baeck einen Teil des Textes bereits mit nach Theresienstadt, wo er immer weiter Veränderungen unterworfen wurde.“   35 Das Buch Jeschajahu. Verdeutscht von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Berlin [1930], 173. 36 Harnack, wie Anm. 14. Baeck wendet sich gegen den Antijudaismus Harnacks, der sich dort vor allem in dessen Ablehnung der kultischen und rituellen Aspekte der jüdischen Religion niederschlägt. 37 Die Gestapo ließ für Theresienstadt ein eigenes „Ersatzgeld“ in Denominationen von 1 bis 100 Kronen ausgeben. Diese Maßnahme gehörte auch zu den Täuschungsmanövern der Nationalsozialisten, die das Lager als Vorzeigeghetto konzipiert hatten. Der Entwurf wurde von dem tschechisch-jüdischen Künstler Peter Kien angefertigt (geb. 1919, ab Dez. 1941 in Theresienstadt, am 16. Okt. 1944 mit Frau und Eltern nach Auschwitz deportiert, wo er kurz darauf an einer ansteckenden Krankheit verstarb). „Alles wurde bis ins Detail ausgearbeitet. So wurde die erste von dem Gefangenen Peter Kien stammende Moses-Darstellung für die Banknoten vom „Ältestenrat“ und dem Lagerleiter genehmigt, nicht jedoch von Adolf Eichmann, dem Referatsleiter der Gestapo, der für die jüdischen Angelegenheiten verantwortlich war. Er fand, dass Moses auf den Banknoten zu arisch aussähe. Moses mußte also ein semitischeres Aussehen erhalten: Seine Nase wurde etwas gebogener und er erhielt lockige Haare.“ (Museum der Belgischen Nationalbank (Hg.): Theresienstadt: Banknoten als Blendwerk. Abgerufen unter: http//www.nbmuseum.be/de/2009/06/theresienstadt. htm am 20. 8. 2017). Die ‚gebogenere‘ Nase und die ‚lockigen Haare‘ sind auf dem 100-Kronen-Geldschein deutlich sichtbar.

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38 Der Name „Rabbenu“ wurde von den Gesetzeslehrern und Weisen zur Zeit der Entstehung des Talmud geprägt, um darin ihre eigene charismatische Ausnahmestellung zu fassen und diese zugleich auf Moses als den ersten ihrer Art zurück zu projizieren. Vgl. Daniel Jeremy Silver: Images of Moses. New York 1982, 194: „When these same sages began to call Moses Rabbenu they were in effect creating him after their own image so they could ascribe to themselves Moses’ authority in Torah matters and, at the same time, claim that Moses’ power, if not his person, was still present and available.“   39 H. G. Adler: Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte, Soziologie, Psychologie. 2. verb. Aufl. Tübingen 1960, 254. 40 Die Liste ist abgedruckt in: BW 6, 341 f. Faksimile in: Heuberger u. Backhaus, wie Anm. 1, 118. 41 Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, 100.

9.  Moses der Führer und das Volk JHWHs  1 Schon Gershom Scholem: Martin Bubers Auffassung des Judentums. In: Ders.: Judaica 2. Frankfurt/M. 1970, 140 hat festgestellt: „Nietzsches Rede von den ‚Schaffenden‘ durchzieht alle seine frühesten Schriften.“     2 Vgl. hierzu Verf.: Jüdische Tradition und literarische Moderne. München 2007, 114– 125: Der Weg nach innen: Bubers chassidische Geschichten.   3 So etwa Richard Beer-Hofmann, der in der letzten Strophe seines äußerst populären „Schlaflieds für Mirjam“ schon 1897 geschrieben hatte: „Schläfst Du, Mirjam? – Mirjam mein Kind, | Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt | Blut von Gewesenen – zu Kommenden rollts, | Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz. | In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein? | Du bist ihr Leben – ihr Leben ist dein – – | Mirjam, mein Leben, mein Kind – schlaf ein!“ In: Ders.: Werke. Bd. 1. Oldenburg 1998, 12.   4 Gebetbuch der Israeliten. Wien [o. J], 122. Wörtlich: „An jenem Tag wird Gott ein/ einzig sein und sein Name ein/einzig.“ Diesen Hinweis verdanke ich meiner Mitarbeiterin Simone Pöpl.   5 Im Erstdruck der Rede zielt Bubers Argumentation schließlich auf eine Synthese, die für ihn als „eine neue Ära der Erhaltung des Orients und des Einvernehmens zwischen ihm und dem Abendland zu gegenseitiger Förderung und gemeinsamer menschheitlicher Arbeit“ zu realisieren wäre. Hierzu sei „unter allen Nationen Europas“ vor allem Deutschland aufgerufen, wie Buber im vaterländischen Enthusiasmus des ersten Kriegsjahrs glaubt konstatieren zu können. Schon in der zweiten Auflage hat er diese Sätze als verfehlt zurückgenommen: „In der Neuauflage habe ich […] die Sätze gestrichen, in denen das deutsche Volk aufgerufen wurde, in der Umkehr voranzugehen und eine neue Ära des Einvernehmens mit dem Orient zu begründen. Das deutsche Volk hat die ihm in jenen Sätzen zugedachte Funktion nicht auf sich genommen und kann sie nun nicht mehr auf sich nehmen.“ Martin Buber: Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte. Leipzig 1916. Viertes bis fünftes Tausend, [7].  6 Moses. Berlin (Jüdischer Verlag) 1905. Der Band enthält folgende Texte: Adolf Gelber: Moses, der Befreier; Henry George: Moses, der Gesetzgeber; J. G. Herder: Moses und die Dichtung; Achad Ha-Am: Moses, der Prophet. Zudem 12 ganzseitige Illustrationen nach Bildern berühmter Maler wie Dürer, Rembrandt u.  a.



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  7 Henry George: Moses der Gesetzgeber. Berlin 1920. (Die Weltbücher. Eine jüdische Schriftenreihe 7)   8 Martin Buber: Mose. Drei Zitate. In: Der Jude I.3 (1916/1917), 207. Wieder abgedruckt in: Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen. 2.  Folge 1916–1920. Berlin 1920, 21–25.   9 Dieser rätselhafte Ausspruch wird von Moses Mendelssohn in seiner Bibelübersetzung rationalistisch aufgelöst: „Er soll deinetwegen mit dem Volk reden, sodass er dir als ein Mund dienen (das heißt, deine Worte vorbringen) soll, und du sollst ihm wie ein Gott sein (das heißt, Gedanken eingeben).“ (Die Tora nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn. Hg. von Anette Böckler. Berlin 2001, 123) 10 So z.  B.: Schir Ha-Schirim raba, 1: Aron als „Übersetzer“, und Moses als „elohim“ = Urquelle. – Tanchuma, wa-’ere, 12: Aron als „Mitglied des Ältestenrats“, Mose „Präsident des Ältestenrats“, der die Gesetze verabschiedet, welche die Ratsmitglieder zu befolgen haben. – Ibn Esra zu Genesis (Kap. 1) differenziert zwischen dem rein abstrakten „Wort“ (Logos) und dem vom Menschen ausgesprochenen Wort. Ersteres ist das unverkörperte Wort Gottes im Unterschied zum konkreten Wort. („Das Wort Gottes [stellt sich dar] als Form der Wahrheit, die keinen Körper hat und nicht in Körpern ist.“) – Diesen Hinweis verdanke ich Efrat Gal-Ed. 11 Das Buch im Anfang. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Berlin 1925, 7. 12 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt/M. 1967, 291–295. 13 Übersetzung Martin Buber, Franz Rosenzweig: Das Buch Namen. Berlin 1926, 80. 14 Buber, Mose. Drei Zitate, wie Anm. 8, 207. 15 Martin Buber: Kampf um Israel. Reden und Schriften (1921–1932). Berlin 1933, 14. 16 Buber, wie Anm. 15, 97. 17 Buber, wie Anm. 15, 91 u. 92. 18 Buber, wie Anm. 15, 92 u. 93. 19 In „Mein Weg zum Chassidismus. Erinnerungen“ (Frankfurt 1918) erzählt Buber über seine Kindheitseindrücke in Sadagora: „Aber als ich den Rebbe durch die Reihen der Harrenden schreiten sah, empfand ich: ‚Führer‘, und als ich die Chassidim mit der Thora tanzen sah, empfand ich ‚Gemeinde‘.“ (13) Er sieht im „Zaddik“ den „Mittler“ (11), und schon hier verweist er vage auf den biblischen Ursprung dieser Vorstellung: „der lebendige Doppelkern des Menschentums: wahrhafte Gemeinde und wahrhafte Führerschaft. Uraltes, Urkünftiges war hier, Verlorenes, Ersehntes, Wiederkehrendes.“ (12) Jetzt in MBW 17, 44. 20 Martin Buber: Biblisches Führertum, wie Anm. 15, 102 u. 103. 21 Buber, wie Anm. 20, 93. 22 Buber, wie Anm. 20, 104 u. 105. 23 Buber, wie Anm. 20, 106. 24 Buber, wie Anm. 20, 98. 25 Martin Buber: Königtum Gottes. Das Kommende. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des messianischen Glaubens I. Berlin (Schocken) 1932. Hier zitiert nach der zweiten, vermehrten Auflage. Berlin 1936, IX. Das Werk war zunächst als Trilogie geplant. Von der Fortsetzung sind jedoch nur einzelne Kapitel erschienen. 26 Buber, wie Anm. 25, XI. 27 Buber, wie Anm. 25, 107. 28 Ri 4 u. 5.

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Buber, wie Anm. 25, 175. Buber, wie Anm. 25, 163. Buber, wie Anm. 25, 166. Buber, wie Anm. 25, 176, Anm. 73. Buber, wie Anm. 25, 169: „Ich wage anzunehmen […]“ u. 173. Buber, wie Anm. 25, 178. Die zweite Auflage des Werks enthält 182 Seiten Text und 110 Seiten petit gesetzte Anmerkungen. Kurt Hildebrandt: Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht. Berlin 1933, 12. Im Kontext gelesen, weisen diese Worte unmittelbar auf die Gegenwart des Jahres 1933 hin: „das neue Bild und Gesetz zu bringen in einer Zeit des Widerstreites aller entfesselten Gedanken und Instinkte, die nicht fähig ist, die Herrscher im geistigen Reiche zu denken auch als Herrscher im wirklichen Staate.“ In Hildebrandts Interpretation der „Politeia“ sind die Anspielungen auf den „neuen Staat“ des Nationalsozialismus unüberhörbar: „Nicht das formale Recht, sondern die Kraft, die echte Männer und Staaten schafft, ist Gerechtigkeit (443 B).“ (ebd., 271) Vom Philosophenkönig heißt es: „Die geheimnisvolle Zahl, von der die Erhaltung der Rasse abhängt, hat Er in seinem Besitz – nur Er weiß die rettende Formel, kann den neuen Staat gründen, der für einen neuen Weltumlauf beständig bleibt.“ (ebd., 272) Vgl. zum Platonbild des George-Kreises mit vielen bisher unveröffentlichten Materialien Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009, 120–139: Hildebrandts Lied. In der Forschung gelegentlich auch als „Dritter Humanismus“ nach dem ersten der Renaissance und dem zweiten des deutschen Klassizismus bezeichnet. So bei Barbara Stiewe: Der ‚Dritte Humanismus‘. Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis bis zum Nationalsozialismus. Berlin, New York 2011. Werner Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike. Berlin 1929, 29. Jaeger, wie Anm. 39, 24. Berlin 1934–1947. 3 Bde. Jaeger, wie Anm. 39, 21. Robert Weltsch: Nachwort. In: Hans Kohn: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Vierte um ein Nachwort erweiterte Aufl. Köln 1961, 422. Martin Buber: An der Wende. Reden über das Judentum. Köln, Olten 1952, Vorwort, 9. Buber, wie Anm. 44, 9: Gehalten „erst 1939 in Jerusalem […] mit einigen durch das inzwischen Geschehene bedingten Änderungen 1947 in London“. Buber, wie Anm. 44, 15 f. Buber, wie Anm. 44, 20. Buber, wie Anm. 44, 21. Buber, wie Anm. 44, 24. Buber, wie Anm. 44, 32. Nach dem Typoskript im Jerusalemer Martin-Buber-Archiv wird die Rede hier zitiert. In verkürzter Form wurde sie im Mitteilungsblatt von Beth Israel [Haus Israel Vereinigung für die Religion und die Kultur des Volkes]. Tel Aviv Februar 1940 veröffentlicht. Erheblich erweitert und in der Tendenz verallgemeinert, hat Buber sie in Hinweise – Gesammelte Essays (Zürich 1953) veröffentlicht. Gemeint ist Herman Rauschning: Hitler speaks. London 1939. Martin Buber: Moses. Oxford. East and West Library. 1946.



Aboda – Vom Dienst (Anmerkungen)

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54 Gustav Landauer: Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum. Hg. von Martin Buber. Potsdam 1921, 244. 55 Wie sie Jan Assmann: Moses der Ägypter. München 1998 methodisch begründet und ausgeführt hat. 56 Gesammelt in: Martin Buber: Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage. Hg. von Paul Mendes-Flohr. Frankfurt/M. 1993. 57 Martin Buber: Israel und Palästina. Zur Geschichte einer Idee. Zürich 1950. 58 Buber, wie Anm. 57, 7. 59 Vgl. hierzu Verf.: Jüdische Tradition und literarische Moderne. München 2007, 111. 60 Buber, wie Anm. 57, 11. 61 Buber, wie Anm. 57, 10. 62 Buber, wie Anm. 57, 9. Noch brüsker weist Buber Freuds Theorie in seiner Analyse der Moses-Legende zurück: „Dass ein auf seinem Gebiet so bedeutender Forscher wie Freud sich entschliessen konnte, ein so völlig unwissenschaftliches, auf grundlosen Hypothesen haltlos gebautes Buch wie ‚Der Mann Moses und die monotheistische Religion‘ (1939) zu veröffentlichen, ist verwunderlich und bedauerlich.“ (M 7) 63 Buber, wie Anm. 57, 11. 64 Buber, wie Anm. 57, 2. 65 Buber, wie Anm. 57, 13. 66 Buber, wie Anm. 57, 28.

10.  Aboda – Vom Dienst   1 Dissertation Neu-Ruppin 1904.   2 Simmel war seit 1890 verheiratet. Seine Frau Gertrud publizierte als Schriftstellerin unter dem Pseudonym Marie Louise Enckendorf.  3 Georg Simmel: Die Religion. Frankfurt/M. 1906. (Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien. Hg. von Martin Buber. 2.  Bd.) Widmung: „Meinen Freundinnen Gertrud Kantorowicz und Margarete von Bendemann“.  4 Brief an Rudolf Pannwitz vom 9.  August 1914. Zitiert bei Philipp Redl (Hg.): Gertrud Kantorowicz: Lyrik. Kritische Ausgabe. Heidelberg 2010, 15.   5 Gertrud Kantorowicz an Margarete Susman, 31. 8. 1918. Deutsches Literaturarchiv Marbach.   6 Gertrud Kantorowicz: [An Gudrun Bucher]. Zuerst publiziert von Robert E. Lerner: Poetry of Gertrud Kantorowicz: Between ‚Die Blätter für die Kunst‘ and Theresienstadt. In: George-Jahrbuch 5 (2004/2005), 98–109. Zitat 107 f.   7 Georg Simmel: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre. Hg. von Gertrud Kantorowicz. München 1923.   8 Käte Ledermann: Esther in Freundschaft zu ihrem 50. Geburtstag. In: Simmel Newsletter 4.1 (1994), 83 ff.   9 Angela Kantorowicz an Edith Landmann, circa 20. Juli 1933, George Archiv Stuttgart. Zitiert nach Robert E. Lerner: The Secret Germany of Gertrud Kantorowicz. In: Melissa S. Lane, Martin Ruehl (Hg.): A Poet’s Reich. Politics and Culture in the George Circle. Rochester 2011, 65. 10 Gertrud Kantorowicz an ihre Tochter Angela, 26. 12. 1933. Zitiert nach Redl, wie Anm. 4, 194.

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11 So Angela Rammstedt: „Wir sind des Gottes der begraben stirbt…“ Gertrud Kantorowicz und der nationalsozialistische Terror. In: Simmel Newsletter 6 (1996), 163, Anm. 104 auf Grund eines zeitgenössischen brieflichen Zeugnisses. Anders Michael Landmann: [Nachwort] in: Gertrud Kantorowicz: Vom Wesen der griechischen Kunst. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Michael Landmann. Heidelberg, Darmstadt 1961, 96, der davon spricht, Angela habe „sich 1942 von einem morschen Ölbaum, auf den kein anderer sich hinaufwagte, zu Tode“ gestürzt. 12 Georg Simmel an Stefan George, 11. 11. 1897. In: Klaus Christian Köhnke (Hg.): Georg Simmel Briefe. Frankfurt/M. 2005, 268 f. 13 Gertrud Kantorowicz: Einer Toten. In: Blätter für die Kunst IV.4 (1899), 119–124. Jetzt in: Redl, wie Anm. 4, 59–67. 14 Seekamp, Hans-Jürgen u.  a. (Hg.): Stefan George Leben und Werk. Eine Zeittafel. Amsterdam 1972, 145, 185, 191, 229. 15 Sabine Lepsius an Reinhold Lepsius, 1. November 1910. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach. Zitiert nach Lerner, wie Anm. 9, 74 Anm. 58. Vgl. auch Seekamp, wie Anm. 14, 217. 16 Franz Rosenzweig: Bildung und kein Ende [1920]. In: Ders.: Kleinere Schriften. Berlin 1937, 85: „Und wer da weiß und etwa an sich selber erfahren hat, was selbst in einem bloßen, ich möchte sagen, Jomkippur-Judentum, wie es heute viele als einziges vollwichtiges Goldstück aus dem ererbten Schatze sich aufbewahren, für Kräfte schlummern können, der wird sich hüten, geringschätzig von der Synagoge zu sprechen.“   17 Zitat bei Landmann, wie Anm. 11, 95, dort ohne Angabe der Quelle. 18 Gertrud Kantorowicz an Stefan George, 3. 5. 1924, Stuttgarter George Archiv. Hier zitiert nach Michael Philipp: „Was ist noch, wenn Er nicht lenkt“. Gertrud Kantorowicz an Stefan George. In: Ute Oelmann u.  a. (Hg.): Frauen um Stefan George. Göttingen 2010, 132. 19 Gertrud Kantorowicz an Stefan George, 23. 2. 1926, Stuttgarter George Archiv. Hier zitiert nach Philipp, wie Anm. 18, 132. 20 Gertrud Kantorowicz an Edith Landmann, 9. 12. 1933, Stuttgarter George Archiv. Hier zitiert nach Philipp, wie Anm. 18, 134. 21 Gertrud Kantorowicz: Vom Wesen der griechischen Kunst (Anm. 11), 11–106. Das unvollendete VI. Kapitel, in dem der Einfluss Stefan Georges besonders spürbar ist, wurde aus den im Manuskript vorhandenen „Fragmenten“ vom Herausgeber Michael Landmann zusammengestellt. Vgl. ebd., 79. 22 Vgl. hierzu unten Kap. 6, 202  f. 23 So im Original. 24 Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. In: Ders.: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. Berlin 1918, 154–245. Zitate 167 u. 170. 25 Simmel, Das individuelle Gesetz, wie Anm. 24, 170. 26 Stefan George: Gesamtausgabe der Werke. Bd. V. Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. Berlin 1932, 35 u. 18. George schenkte Kantorowicz die von Melchior Lechter ausgestattete Erstausgabe des Buches mit einer handschriftlichen Widmung aus dem Gedicht Der Erkorene. Landmann, wie Anm. 11, 94 f. berichtet, sie habe das Buch noch „in ihrer letzten Berliner Wohnung am Lützowplatz“ offen ausgelegt. 27 Stefan George: Gesamtausgabe der Werke. Bd. IX. Das neue Reich. Berlin 1928, 116. Zu Georges Faszination durch die griechische „Darstellung nackter Jünglinge“ vgl.



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Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2007, 403. Dort auch der Hinweis auf den George-Jünger Woldemar von Uxkull, der in seinem 1919 erschienenen Bildband „Frühgriechische Plastik“ deren Bedeutung „in der Erkenntnis des menschlichen Leibes als der statuarischen Urbildlichkeit“ gesehen habe. An solche Vorstellungen im George-Kreis knüpfen Kantorowicz’ Überlegungen an. Gertrud Kantorowicz: [Rez.] Margarete Susman: Die Frauen der Romantik. In: Der Morgen 6.2 (1930/1931), 207– 209, Zitat 208. Kursivierung im Original. Kantorowicz, wie Anm. 28, 208. Kantorowicz, wie Anm. 28, 208 f. Kantorowicz, wie Anm. 28, 209. Kantorowicz, wie Anm. 28, 208. Kantorowicz, wie Anm. 28, 208. Gert Pauly [Gertrud Kantorowicz]: [Rez.] Die Stimme spricht von Karl Wolfskehl. In: Schweizer Annalen 36 (1936), 65–66. Karl Wolfskehl: Die Stimme spricht. Erweitertes Werk. Berlin [1936], VIII. In der ersten Ausgabe des Buches Die Stimme spricht. Berlin [1934]. (Bücherei des Schocken Verlags  17) steht dasselbe Gedicht an dritter Stelle nach „Die Stimme zum Menschen“ und „Mensch und Er“. (8) Kantorowicz, wie Anm. 34, 65. Wolfskehl, wie Anm. 35, LXVII. Kantorowicz, wie Anm. 34, 66. Kantorowicz, wie Anm. 34, 66. Deswegen ist in den zahlreichen Artikeln über sie auch so gut wie nie von ihrem Judentum die Rede, fast immer wird sie als Jüngerin Georges gewürdigt, so von Philipp, wie Anm. 18, 117–141. Ähnlich Jürgen Egyptien: Schwester, Huldin, Ritterin: Ida Coblenz, Gertud Kantorowicz und Edith Landmann – Jüdische Frauen im Dienste Stefan Georges. In: Andrea  M. Lauritsch (Hg.): Zions Töchter. Jüdische Frauen in Literatur, Kunst und Politik. Wien 2006, 157–172. Barbara Hahn: Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne. Berlin 2002: Seltsame Wesen, 149–172 begreift Griechentum und Judentum als zwei aufeinander folgende Phasen in der Entwicklung von Kantorowicz. Sie habe mit ihrem Brief von 1938 an Margarete Susman plötzlich nicht mehr „in der Welt der griechischen Kunst“ ihre Heimat gefunden, sondern in der jüdischen Tradition. (Zitat 172) Diese These widerlegen schon die Theresienstädter Gedichte. Zu einem angemessenen Verständnis ihres Lebens wäre insbesondere die Spannung zwischen ihrer „griechischen“ und ihrer „jüdischen“ „persona“ zu analysieren. Ganz unzutreffend scheint mir Robert E. Lerners Feststellung, Kantorowicz’ „Jewish turn“ sei vor allem dem Bemühen geschuldet, ihre zum Judentum konvertierte Tochter zu verstehen. Wie Anm. 9, 65. Margarete Susman: [Rez.] Karl Wolfskehl. Die Stimme spricht. In: Der Morgen XI.10 (Januar 1935), 471–473, Zitat 471. Susman, wie Anm. 41, 473. Susman, wie Anm. 41, 473. Gertrud Kantorowicz an Margarete Susman, [Berlin] Westend, 7. IV. 34. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Susman. Gertrud Kantorowicz an Margarete Susman, wie Anm. 44. Margarete Susman: Ich habe viele Leben gelebt. Erinnerungen. Stuttgart 1964, 146. Susman, wie Anm. 46, 148 f.

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Aboda – Vom Dienst (Anmerkungen)

48 K 87. Der Brief ist auch sonst voller Anspielungen, die die Empfängerin vermutlich zu entziffern wusste. Die Erinnerung an Dantes Gang durch die Hölle verweist auch auf George, der Dantes Göttliche Komödie ins Deutsche übertragen hatte (1909) und der in einer berühmten Fotografie vom Münchener Karneval 1904 als Dante verkleidet mit dem Dichterlorbeer auf dem Haupt zu sehen war. Wolfskehl wiederum bezeichnete sich und seine jüdischen Freunde gern als „Davididen“, als Nachkommen des Königs David. In: „Römisch, jüdisch, deutsch zugleich…“ Karl Wolfskehl. Briefwechsel aus Italien 1933–1938. Hg. von Cornelia Blasberg. Hamburg 1993, 122. 49 Margarete Susman: Das Hiob-Problem bei Kafka. In: Der Morgen 5.1 (1929). Jetzt in: Margarete Susman: „Das Nah- und Fernsein des Fremden“. Essays und Briefe. Hg. von Ingeborg Nordmann. Frankfurt/M. 1992, 183–203. Zitat 184. 50 Gertrud Kantorowicz an Margarete Susman, wie Anm. 44. 51 Margarete Susman: Trost (Okt. 1934). In: Dies.: Vom Geheimnis der Freiheit. Hg. von Manfred Schlösser. Darmstadt 1965, 313–319. Zitat 314. 52 Wolfskehl, wie Anm. 48, 146. 53 Margarete Susman: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes [1946]. Frankfurt/M. 1996. 54 Gertrud Kantorowicz an Margarete Susman, Fideris, 20. 7. 38. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Susman. Hieraus im Folgenden alle Zitate. Der erste Teil des Briefes wird zitiert von Hahn, wie Anm. 40, 170–172, der zweite Teil von Redl, wie Anm. 4, 149 u. 195. 55 Jes 53,11. 56 In: Der Babylonische Talmud. Neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt. Bd. 9. Berlin 1934, 665. Ähnlich heißt es in Pirke Awot: „Auf drei Dingen steht die Welt, auf der Tora, auf dem Gottesdienst (aboda) und auf Liebestätigkeit (gemillut chassadim).“ (mAv I. 2.) Zitiert nach Israels Gebete. Übers. und erl. von Samson Raphael Hirsch. Zürich, Basel 1992, 421. 57 Martin Buber: Aboda: Von dem Dienste. In: Die Legende des Baal-Schem. Frankfurt/M. 1908, 10–21. Zitate 10 u. 12. 58 ‚Dienst‘ spielt jedoch auch in der Ideologie des George-Kreises eine entscheidende Rolle. Vgl. die Schrift von Friedrich Wolters „Herrschaft und Dienst“ (Einhorn Presse 1909. Buchschmuck von Melchior Lechter), die im George-Kreis vielen als offizielle Verlautbarung galt. Dass Gertrud Kantorowicz das Wort im jüdischen Kontext gebraucht, macht die Vielschichtigkeit, mehr noch, die unbewusste Ambivalenz ihrer Weltsicht deutlich. 59 Brief Gertrud Kantorowicz an Margarete Susman. Undatiert, 1918 oder 1919. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Nachlass Susman. Landmann, wie Anm. 9, 97 zitiert mit Auslassungen und ohne Quellenangabe einige Sätze aus diesem längeren Brief. 60 Kantorowicz zitiert wörtlich einen Abschnitt aus Martin Buber: Die Erzählungen des Rabbi Nachman. Frankfurt/M. 1906, 37. 61 Gertrud Kantorowicz an Margarete Susman, 20. 7. 1938, wie Anm. 54. 62 Das Buch Jeschajahu. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Berlin 1930, 218. 63 Brief Gertrud Kantorowicz an Margarete Susman, 20.  7. 38, wie Anm.  54. Die Gedichte bei Redl, wie Anm. 4, 149. 64 In ihrem Brief vom 20. Juli 1938 ordnet Kantorowicz das Gedicht von der „Leiblosen Seele“ in die Zeit ihrer „Jugend“ ein, während sie von dem zweiten Gedicht



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sagt: „Und jetzt plötzlich erschien es“, was auf eine Entstehungszeit in den späten dreißiger Jahren schließen lässt. Kantorowicz, wie Anm. 28, 208. Vgl. Redl, wie Anm. 4, 213 f., der die „Sackgassen“beschreibt, in die er bei seiner vergeblichen Suche nach weiteren Nachlassteilen geraten ist. Gertrud Kantorowicz an Margarete Susman, 1. Mai 1937. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Susman. Landmann, wie Anm. 11, 102. Landmann, wie Anm. 11, 103. Dieselbe Geschichte wird auch von Rammstedt, wie Anm. 11, 138 geschildert. Die Berichte der Beteiligten, auf die sie sich stützt, 159, Anm. 29. Gertrud Kantorowicz an Soscha [Salz] (?), Berlin 9. 3. 1941. Archiv des Leo Baeck Instituts New York. E. Kantorowicz Collection AR 7216 box II folder 5/4. Die abenteuerliche Flucht und die Umstände ihres Scheiterns werden ausführlich anhand der amtlichen Dokumente und Zeugnisse geschildert von Rammstedt, wie Anm.  11, 135–177. Dort (171, Anm.  255) auch die Angabe, Kantorowicz sei mit dem 16.  Alterstransport als Nr.  92 nach Theresienstadt deportiert worden. Anna Hájiková: Mutmaßungen über deutsche Juden: Alte Menschen aus Deutschland im Theresienstädter Ghetto. In: Andrea Löw u.  a. (Hg.): Alltag im Holocaust: Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941–1945. München 2013, 179–198 berichtet: Die deutschen Juden „kamen erst seit Juni 1942 an“ (185). Insgesamt wurden „32  077 mehr als sechzig Jahre alte deutsche Juden“ nach Theresienstadt deportiert, „von ihnen haben 2510 überlebt“. (179, Anm. 2) In Redls Ausgabe, wie Anm. 4, 168 u. 169. Rammstedt, wie Anm. 11, 154 kehrt die Reihenfolge der beiden Fassungen um. Brief von Gertrud Kantorowicz an Franz Hartwich Kantorowicz und Else Milch, undatiert. Der Brief muss nach dem 10. Februar 1943 geschrieben sein, da in ihm der Tod von Clara Kantorowicz erwähnt wird. Zitiert nach Rammstedt, wie Anm. 11, 156. Maria Wundsch an Franz Hartwich Kantorowicz und Else Milch, 12. 11. 1945. Leo Baeck Institute New York. Ernst Kantorowicz Collection. Box II Folder 5/4. So Rammstedt, wie Anm. 11, 171, Anm. 267 auf Grund des amtlichen Theresienstädter Tätigkeitsberichts. Maria Wundsch, wie Anm. 74. Resi Weglein: Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt. Erinnerungen einer Ulmer Jüdin. Hg. von Silvester Lechner u.  a. Stuttgart 1988, 85. Die Episode muss sich also, wenn man die Altersangabe berücksichtigt, im Jahr 1944 abgespielt haben. Weglein, wie Anm. 77, 75. Im Brief von Maria Wundsch (wie Anm. 74) heißt es: „Eine mir unbekannte Frau Eva Noack aus Oberstdorf/Allgäu, Freundin von Monica Lepsius, hat mir das alles berichtet. Sie versprach, mir das wenige was Gertrud hinterlassen hat, zuzusenden, einige Aufzeichnungen, Gedichte, ihre Rote-Kreuz-Auszeichnungen, leider habe bis jetzt nichts davon bekommen.“ Die Gedichte müssen dann später doch noch an die Verwandten in den USA gelangt sein. Franz Kantorowicz und Else Milch haben auf dieser Grundlage einen Privatdruck veranstaltet: Gertrud Kantorowicz: Verse aus Theresienstadt. [Stockton] [1948]. Jetzt bei Redl, wie Anm. 4, 153–172, der auch die weitere Textgeschichte beschreibt, 198–202. Die Originale werden im Leo Baeck Institut in New York, Ernst Kantorowicz Collection, aufbewahrt.

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Redl, wie Anm. 4, 154 f. So Redl, wie Anm. 4, 20 u. 31, Anm. 70. Redl, wie Anm. 4, 163. Redl, wie Anm. 4, 163. Wundsch, wie Anm. 74: „Sie hat dann angefangen zu kraenkeln, Lungenentzündung, Enteritis, eine Encephalitis, nach der sie mir schrieb, sie sei zum ersten Mal ernstlich krank gewesen, erhole sich aber. Das war im Februar, die Karte mit sehr veraenderter Schrift […] Anfang April wurde sie im dortigen Krankenhaus, das sehr gelobt wird, eingeliefert, eitrige Meningitis, vom Anfang an wohl hoffnungslos. 8 Tage spaeter, starb sie, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.“   85 Zitiert nach Rammstedt, wie Anm. 11, 155, die sich auf ein Typoskript der überarbeiteten Tagebuchfassung von 1975 in der Wiener Library (London) bezieht. (172, Anm. 270) Die gedruckte Fassung „Tagebuch einer Überlebenden“ in: Frankfurter Hefte 7.3 (März 1952), 163–164 ist stark gekürzt und enthält die Passage nicht.

11.  Odysseus und Abraham   1 Vor allem in der amerikanischen Literaturwissenschaft wurde das schon 1953 ins Englische übersetzte Buch als richtungweisende Studie gepriesen, wohl auch deshalb, weil man bei ihm beispielhaft das „close reading“ lernen konnte. Bezeichnend hierfür ist die Einschätzung Geoffrey Hartmans, der in Yale Auerbachs Kollege war. Er nennt Mimesis „perhaps the only true literary history we have“. (Criticism in the wilderness. New Haven, London 1980, 235) Ähnlich René Wellek in A history of modern Criticism: „displaying so much erudition, insight and wisdom that it was hailed as the most important and brilliant book in the field of aesthetics and literary history that has been published in the last fifty years.“ (Bd. 7. New Haven 1991, 113) William Calin, in den fünfziger Jahren einer der Studenten Auerbachs, stellt fest: „Many of us would say that Mimesis remains the most important single work of criticism in the modern age“. (Erich Auerbach’s Mimesis – ’Tis fifty years since: A reassessment. In: Style 33.3 (1999), 463. Edward Said schreibt 2003 in seiner Einleitung zur Jubiläumsausgabe der englischen Übersetzung: „Mimesis is also an attempt to rescue sense and meaning from the fragments of modernity.“ Princeton, Oxford 2003, XXI. Neuerdings bewerten Martin Treml, Karlheinz Barck (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Berlin 2007, 9–29 Auerbachs Buch als kanonisches Vorbild einer „Philologie als Kulturwissenschaft“.   2 Vgl. das Zeugnis seines Sohnes Clemens Auerbach, der sich an einen fünfwöchigen Sommeraufenthalt der Familie in Deutschland im Jahr 1937 erinnert und sie in der Rückschau als „Blindheit“ klassifiziert. Der eigentliche Beweggrund für diese riskante Reise sei „the desire to be in and see the ‚Heimat‘ again“ gewesen. Summer 1937. In: Treml u. Barck, wie Anm. 1, 495.   3 Zitate aus Homers Odyssee werden im Text nachgewiesen mit der Sigle O, der Nummer des Gesangs und der Verszahl. Ich zitiere die Prosaübersetzung meines Lehrers Wolfgang Schadewaldt: Homer: Die Odyssee, übersetzt in deutsche Prosa. Reinbek 1958.   4 Brief Erich Auerbachs an Martin Buber, 12. 1. 1957: „Aber Mimesis ist ein Buch ohne Einleitung; das Homer-Genesis-Kapitel ist als Einleitung gedacht; theoretische



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Auseinandersetzungen zu Anfang würde der Absicht des Buches widersprechen.“ In: Treml u. Barck, wie Anm. 1, 490. In der Odyssee werden sie stets mit dem epischen Beiwort „edel von Geburt, adelig“ (agauos) ausgezeichnet. Die Bedeutung der Hinrichtungs- und Folterszenen am Ende des Epos ist in der Forschung umstritten. Gilbert Murray ist der Ansicht, sie hätten etwas Tröstliches, da der Dichter versichere, die Qual habe nicht lange gedauert. (The Rise of the Greek Epic. Oxford 1911, 146) Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff findet nichts Anstößiges an ihnen und ist der Meinung, sie seien vom Dichter „mit Behagen ausgeführt“. (Die Heimkehr des Odysseus. Berlin 1927, 67) G. S. Kirk hält „die Grausamkeiten am Ende der Odyssee für nicht normal“ und beurteilt sie als „emotionale Archaismen“. The Songs of Homer. Cambridge 1962, 383 f. Auch Emmanuel Lévinas hat in Die Spur des Anderen (Freiburg/München 1983, 215 f.) Abraham als den in die Fremde Aufbrechenden und in ihr Verweilenden mit dem Heimkehrer Odysseus kontrastiert: „Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.“ Lévinas fasst in dieser gegensätzlichen Haltung den Gegensatz zwischen einer Philosophie, die „das Sein als mit sich identisch“ denkt, und seiner eigenen, vom Judentum herrührenden, die sich „als Bewegung des Selben zum Anderen“ begreift. Erinnerungen an Erich Auerbach. In: Treml u. Barck, wie Anm. 1, 74. Roberto Esposito weist mit Bezugnahme auf Carl Schmitt zu Recht darauf hin, dass „das Territorium gerade durch die Kategorie der ‚Aneignung‘ als Ursprungsmatrix jedweden nachfolgenden Eigentums bestimmt wird“. Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Berlin 2004, 10. Ein ausführliches Dokument aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zum Thema vgl. Thassilo von Scheffer: Die Schönheit Homers. Berlin 1921. Seine These: „Homer ist die Bibel Griechenlands in weitumfassenderem Sinne, als die uns ursprünglich kulturfremden Heiligen Schriften es für das Abendland bedeuten.“ (ebd., 16) Auerbach selbst stellt fest, „der biblische Erzählungstext [sei] aus seinem eigenen Inhalt heraus deutungsbedürftig“. (AM 18) Jedoch beschränkt sich seine „Deutung“ auf die Art und Weise der „Wirklichkeitsdarstellung“ (AM 27), geht nicht auf die dargestellte Wirklichkeit ein. Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Frankfurt/M. 1992, 18. „semblent avoir franchement détesté ce peuple difficile, inassimilable et farouche“ (Frankfurt/M. 1949, 50). Vgl. hierzu Verf.: Geschichtswahrheiten und kanonischer Text. In: Ders.: Jüdische Tradition und literarische Moderne. München 2007, 20–26. Hartman, wie Anm. 1, 78 ist in diesem Punkte wesentlich skeptischer und lässt die Frage offen: „Es muß offenbleiben, ob Auerbach aus der Literatur seiner eigenen Tradition eine ähnliche Sicht hätte gewinnen können, wäre er mit ihr vertrauter gewesen. In der jüdischen Tradition, dem Midrasch, steht die exegetische und phantasievolle Ergänzung der elliptischen biblischen Erzählungen im Dienste einer einfallsreichen Gesetzesfindung und ethischen Exemplifizierung […].“ Treml u. Barck, wie Anm. 1, 29 stellen ihn in die Tradition christlicher Homilie.

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Ein letztes Mal: „das Volk der Griechen“ und die Deutschen (Anmerkungen)

15 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947, 61. 16 Horkheimer u. Adorno, wie Anm. 15, 78. 17 Horkheimer u. Adorno, wie Anm. 15, 87. 18 Horkheimer u. Adorno, wie Anm. 15, 99. 19 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied, Berlin 1971, 27. 20 Lukács, wie Anm. 19, 21. 21 Lukács, wie Anm. 19, 26.

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Siehe hierzu unten „Vorwort“ S. 10. Siehe unten „Sparta“, S 198–205. Vgl. unten „Sparta“, S. 198  f., zu Ernst Buschor: Die Plastik der Griechen. 1936. Vgl. die bei Donatella di Cesare: Heidegger, die Juden, die Shoah. Frankfurt/M. 2016, 116–125 unter der Überschrift „Antisemitismus und die nie verscheuchten Zweifel“ gesammelten Äußerungen Heideggers, der in Briefen schon 1916 und 1929 von der „Verjudung“ der deutschen Universität“ spricht. Vgl. unten „‚Dorische Welt‘ – Gottfried Benn in Berlin“, S. 190  f. Vgl. unten „‚Dorische Welt‘ – Gottfried Benn in Berlin“, S. 192, Anm. 38. Di Cesare, wie Anm.  4, 9: „Ich qualifiziere Heideggers Antisemitismus mit dem Adjektiv ‚metaphysisch‘. […] Er beansprucht in Heideggers Denken einen philosophischen Rang.“   Vgl. unten S. 165–184 das Kapitel „Juden und Deutsche. Der Mythos vom Volk“. Das mit den Worten „In lieblicher Bläue blühet […]“ beginnende Prosafragment ist als Rede des Bildhauers Phaeton, des wahnsinnig gewordenen Helden in Friedrich Wilhelm Waiblingers Roman „Phaeton“ (Stuttgart 1823, 2. Th, 153–156), überliefert. Waiblinger hat für die fiktionale Rede seines Helden möglicherweise Notizen des späten Hölderlin verwandt. Was davon jedoch Waiblingers Erfindung ist und was aus Hölderlins Notizen stammt, ist bis heute unentschieden geblieben. Erst Norbert von Hellingrath hat im 6. Bd. seiner Ausgabe (2. Aufl. 1923) aus dem Romantext dem späten Hölderlin ein Gedicht restituiert, das dann 1937 von Heidegger als Text des Dichters kanonisiert wird. Jetzt auch von D. E. Sattler in FHA 8, 1011 f. als triadisches Gedicht Hölderlins identifiziert. Zu Recht betont di Cesare in ihrem Kommentar zu diesem Zitat: „In diesem Gedanken zerbricht alle Verantwortlichkeit.“ Wie Anm. 4, 311. Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung. In: Ders.: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München, Wien 1998, 17–23. Assmann, wie Anm. 11, 22. Neuerdings hat Assmann seine Thesen grundlegend revidiert und in der Offenbarung am Sinai, wie sie im Buch Exodus überliefert ist, einen „Monotheismus der Treue“ diagnostizieren wollen. Vgl. Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. München 2015. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 9. Aufl. 1960, 126–130. „Nur ein Gott kann uns retten.“ Gespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966. In: Der Spiegel 31. 5. 1976. 30. Jg. Nr. 23, 193–219. Zitat 212.



Coda: „Von Angesicht zu Angesicht“ (Anmerkungen)

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15 Gespräch mit Heidegger, wie Anm. 14, 217. 16 Gespräch mit Heidegger, wie Anm. 14, 209. 17 Martin Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanismus“. Bern 1947, 56 f., 65, 70, 79, 119. 18 Heidegger, wie Anm. 17, 114.

13.  Coda: „Von Angesicht zu Angesicht“   1 Maurice de Gandillac: Le siècle travérsé. Paris 1998, 134. Zitiert nach: Salomon Malko: Emmanuel Lévinas. Eine Biographie. München 2003, 63.   2 „Sterben für…“ Vortrag am Collège International de Philosophie. März 1987. In: Ders.: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. München, Wien 1995, 241.   3 In der ersten seiner „Talmudlektüren“ mit dem Titel „Envers autrui“ (1963), in der er einen Text aus dem Babylonischen Talmud, Yoma 85a–85b über das Verzeihen und das Zugehen auf den Anderen kommentiert, bezeugt er: „On peut pardonner à beaucoup d’Allemands, mais il y a des Allemands à qui il est difficile de pardonner. Il est difficile de pardonner à Heidegger.“ (Quatre lectures talmudiques. Paris 2005, 56.)   4 Formulierung von Margarete Susman: [Rez.] Der Stern der Erlösung. In: Der Jude 6 (1921/1922), 261–264.   5 Vgl das Kapitel „Das Von-Angesicht-zu-Angesicht als irreduzible Beziehung“ in: TuU, 109–112.   6 Deut. 10, 17 bzw. 26, 13. In: Martin Buber: Das Buch Reden. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Berlin 1927, 50 bzw, 102.   7 Lévinas verwendet durchgehend das Substantiv ‚visage‘, das in der deutschen Übersetzung mit ‚Antlitz‘ wiedergegeben wird. Vgl. das Kapitel „Le visage et l’extériorité“ in: Totalité et Infini. La Haye 1961, 161–231, mit der deutschen Version „Das Antlitz und die Exterriorität“ (TuU, 267–365). Damit wird aber die in dem französischen Wort gegebene etymologische Nähe zu dem Verb ‚voir‘ (lat.: videre) verfehlt. Zudem widerspricht der hohe Stil des Wortes ‚Antlitz‘ dem alltäglichen Gebrauch von ‚visage‘ = ‚Gesicht‘. Daher sollte man ‚visage‘ in diesem Zusammenhang eher mit ‚Angesicht‘ übersetzen. Die deutsche Übersetzung des Buches wird von uns unverändert übernommen, hingegen wird ‚visage‘ in unserem eigenen Kontext mit ‚Angesicht‘ wiedergegeben.   8 So hat schon Richard Kearney in einem Interview mit dem Journal of Philosophy and Scripture (Issue 1–2, ed. John Caputo. 2004) über Lévinas’ Philosophie bemerkt: „But I think it is evident that Judaism deeply informs his work, especially when he speaks of […] the stranger in Totality and Infinity.“     9 Ex  33, 20–23. Das Buch Namen. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Berlin 1926, 140. 10 Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1976, 231. 11 Derrida, wie Anm. 10, 233. 12 Derrida, wie Anm. 10, 234. 13 „Derrida’s use of the specific quotation from Ulysses is extremely questionable. By providing only the rudiments of a context […], he suggests that this statement in

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Coda: „Von Angesicht zu Angesicht“ (Anmerkungen)

some ways represents Joyce’s philosophical views.“ Geert Lermont: The French Joyce. University of Michigan Press 1992, 59. Von Derrida, wie Anm. 10, 234 zitiert. Franz Kafka: Ein Landarzt. München u. Leipzig 1919. Franz Kafka: Eine kaiserliche Botschaft. Wie Anm. 15, 94. Auch in: Ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Wolf Kittler u.  a. Frankfurt/M. 1994, 280–282. Vgl. Emmanuel Lévinas: Ethique et Esprit [1952]. In: Ders.: Difficile Liberté. Essais sur le judaisme [1963]. Paris 1976, 21. Deutsch: Ethik und Geist. In: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Frankfurt/M. 1992, 18.

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Verkleinerte Kopie der Laokoon-Gruppe. Bronze. 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Skulpturensammlung H4 155/043. Quelle: © bpk-Bildagentur. Abb. 2: Giovanni Piranesi: Die Villa Albani. Kupferstich, 1767. Quelle: Opere di Giovanni Battista Piranesi, Francesco Piranesi e d’altri. Firmin Didot Freres, Paris, 1835– 1839. Bd. 16–17: Giovanni Piranesi: Vedute di Roma. Bd. I, Tafel 44. Abb. 3: Theodor de Bry: Kupferstich, Columbus als er in India erstlich ankommen | wird von den Einwohnern mit grossem Geschenck verehret und begabet aufgenommen. Theodor de Bry: Americae pars quarta. Frankfurt 1594. Quelle: Wikimedia Commons. Abb. 4: Große Herkulanerin. 40–60 n.  Chr. Marmor. Seit 1736 in Dresden. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Skulpturensammlung. Quelle: © bpk-Bildagentur. Abb. 5: Marco Dente: Laokoon. Kupferstich, um 1520. Quelle: Wikimedia Commons. Abb. 6: Joachim von Sandrart: Laokoon. Rötelzeichnung, (nach 1632). Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. C 4252. Quelle: © bpkBildagentur. Abb. 7: Raffael: Sixtinische Madonna. Ölgemälde, 1512/13. Seit 1754 in Dresden, Ge­mälde­galerie Alter Meister, Gal.-Nr. 93. Quelle: Wikimedia Commons. Abb. 8: Die dorischen Tempel in Paestum, um 450 v. Chr. 1752 wiederentdeckt. Im Vordergrund der Poseidontempel. Quelle: Wikimedia Commons. Abb. 9: Apollo von Belvedere. Römische Marmorkopie einer griechischen Bronzestatue aus der Zeit zw. 340 und 325 v. Chr. © Marie-Lan Nguyen/Wikimedia Commons. Abb. 10: So genannte „Juno Ludovisi“. Marmor. 1. Jahrhundert nach Chr. Idealporträt der Mutter des Kaisers Claudius, Antonia der Jüngeren. Palazzo Altemps. Museo Nazionale Romano. Quelle: Wikimedia Commons. Abb. 11: Johann Heinrich Tischbein: „Das verfluchte zweite Küssen“. Federzeichnung, Papier, 1786/1787. Quelle: © Klassik Stiftung Weimar. Abb. 12: Johann Heinrich Meyer: Juno Ludovisi. Graphit, Feder, 1788/1789. © Klassik Stiftung Weimar. Abb. 13: Moritz Daniel Oppenheim: Moses mit den Gesetzestafeln. 1817/18. Jüdisches Museum Frankfurt. Abb. 14: Moritz Daniel Oppenheim: Selbstbildnis, um 1819. The Israel Museum Jerusalem. Abb. 15: Adolf Ziegler: Die vier Elemente, Öl auf Leinwand, 1937. Bayerische Staatsgemäldesammlungen. © bpk-Bildagentur. Abb. 16: Ausstellungsführer „Entartete ‚Kunst‘“. Berlin 1937. Umschlagseite 1. Abb. 17: Lovis Corinth: Ecce Homo. Öl auf Leinwand, 1925. In der Ausstellung ‚Ent­ artete Kunst‘ vorgeführt. Heute Kunstmuseum Basel. Quelle: Wikimedia Commons. Abb. 18: „Jungbäuerinnen aus der Dr. Rudolph Bode-Schule auf Burg Neuhaus, die durch den Reichsbauernführer R. W. Darré gegründet wurde. Prachtvolle nordische Haltung und Körperbildung.“ Quelle: Paul Schultze-Naumburg: Nordische

Abbildungsnachweis

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Schönheit. Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst. 2. verm. Aufl. Berlin 1943, 126. Abb. 19: „Die heilige Flamme lodert wieder in der Jugend. Ihrer ist der Glaube, sie sind bereit, das Schicksal des Volkes auf sich zu nehmen und zu erfüllen.“ In: Die Woche. Sondernummer „Das Dritte Reich“. 23. September 1933, 1095. Quelle: Staatsarchiv Ludwigsburg. Abb. 20: Der Diskobolos des Myron. Römische Marmorkopie der Kaiserzeit eines griechischen Bronzeoriginals aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Museo Nazio­ nale Romano, Palazzo Massimo alle Terme. Quelle: Carole Raddato, Wikimedia Commons. Abb. 21: Der Diskuswerfer in der Eröffnungssequenz von Leni Riefenstahls Film „Olympia“ (1936). Abb. 22: Hitler mit dem Discobolus Palombara, 9. Juli 1938, Glyptothek München. Fotograf: Heinrich Hoffmann. Völkischer Beobachter vom 10. Juli 1938. Abb. 23: Leni Riefenstahl in Konskie. Anonym. Bildbeschriftung: „Leni Riefenstahl fällt beim Anblick der toten Juden in Ohnmacht.“ Quelle: IPN Archiv, Warschau, public domain. Abb. 24: „Aphrodite anadyomene, genannt nach dem Fundort Kyrene. Marmor römische Kopie eines hellenistischen Originals.“ Quelle: Paul Schultze-Naumburg: Nordische Schönheit. Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst. Mit 190 Abbildungen. 2. verm. Aufl. Berlin 1943, 173. Abb. 25: „Edelgeformter Mädchenkörper, der in allem dem nordischen Schönheitskanon entspricht.“ Quelle: Paul Schultze-Naumburg: Nordische Schönheit. Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst. Mit 190 Abbildungen. 2. verm. Aufl. Berlin 1943, 138. Abb. 26: „Derselbe Mädchenkörper in der Stellung der Aphrodite von Kyrene, der er in erreichbaren Grenzen nahekommmt.“ Quelle: Paul Schultze-Naumburg: Nordische Schönheit. Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst. Mit 190 Abbildungen. 2. verm. Aufl. Berlin 1943,139. Abb. 27: Anonym (Mitglied des Sonderkommandos von Auschwitz): Einäscherung Vergaster in den Verbrennungsgräben unter freiem Himmel vor der Gaskammer des Krematoriums V in Auschwitz. August 1944. Oswiecim, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Negativ Nr. 280). Quelle: Wikimedia Commons. Abb. 28: Frontispiz der Philippson-Bibel. Die israelitische Bibel: enthaltend: Den heiligen Urtext, die deutsche Ubertragung, die allgemeine ausführliche Erläuterung mit mehr als 500 englischen Holzschnitten hrsg. von Ludwig Philippson. Erster Theil: Die fünf Bücher Moscheh. Leipzig 1844. Abb. 29: Michelangelo Buonarrotti: Statue des Moses, zw. 1513 und 1515. Rom, San Pietro in Vincoli, Grabmonument Julius II. Quelle: Jörg Bittner, Wikimedia Commons. Abb. 30: Sigmund Freud [Auftraggeber]: Skizzen der Mosesfigur. Aus: [Sigmund Freud:] Der Moses des Michelangelo. In: Imago 3.1 (1914),15–36, Fig. 1–3, 28 f. Abb. 31: Baeck als Zuhörer bei einem Vortrag von Prof. Emil Utitz. Standfoto aus dem NS-Propagandafilm „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ (1944), Sequenz 33. Abb. 32: Moses mit den Gesetzestafeln und Davidsstern. Ersatzgeld 100 Kronen aus Theresienstadt. Quelle: Milan Wölfl, Wikimedia Commons. Abb. 33: Titelblatt der Erstausgabe von Die Geschichten des Rabbi Nachman, ihm nacherzählt von Martin Buber. Druckanordnung, Schmuck und Einband von E. R. Weiss. Frankfurt/M. 1906.

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Abbildungsnachweis

Abb. 34: Theodor Herzl als neuer Moses. 1901 während des Fünften Zionistischen Kongreß in Basel auf dem Balkon des Hotels „Drei Könige. Aufnahme Ephraim Moses Lilien. Quelle: Wikimedia Commons. Abb. 35: Ephraim Moses Lilien: Mose. Illustration in: Die Bücher der Bibel. Überlieferung und Gesetz. Hrsg. von Ferdinand Rahlwes. Nach der Übersetzung von Reuss. Zeichnungen von Ephraim Moses Lilien. Braunschweig 1908.