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German Pages 407 [408] Year 1985
Emil Angehrn · Geschichte und Identität
Emil Angehrn
Geschichte und Identität
w DE
G 1985 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften I der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
CTP-Kur^titelaufnahme der Deutschen
Bibliothek
Angehtn, Emil: Geschichte und Identität / Emil Angehrn. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1985. ISBN 3-11-010122-X
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)
©
1985 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30, Genthiner Str. 13. Printed in Germany. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30. Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61.
Die vorliegende Untersuchung ist die für den Druck leicht gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift, die im November 1983 vom Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften I der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Dank schulde ich meinen Lehrern und Kollegen am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin für Förderung und Anregungen, namentlich Michael Theunissen, Ernst Tugendhat, Georg Lohmann und Ursula Wolf; ebenso der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Heinrich-Heine-Stiftung (Freiburg i. Br.) für die finan2ielle Unterstützung des Projekts, der DFG zusätzlich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Berlin, im Juli 1985
Ε. A .
Inhaltsverzeichnis Einleitung
Teil I: Geschichte und Erzählung
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Der Ansatz bei der Erzählung
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1. Die narrative Konstitution von Geschichte
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1.1. Erzählende Sätze und historisches Ereignis A. Die These des Narrativismus B. Die narrative Struktur C. Vergangenheitsbezug der Erzählung 1.2. Erzählung und geschichtlicher Zusammenhang A. Erzählung und Beschreibung B. Konsistenzkriterien und Stufen der Beschreibung 2. Die praktische Funktion der historischen Erzählung
15 15 18 21 24 24 28 31
2.1. Sprache und Praxis
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2.2. Praktische Funktion der Erzählung A. Drei Stufen der narrativen Zeitlichkeit und ihre Beziehung zum menschlichen Selbstverhältnis B. Sprechhaltung Erzählung; Engagement, Distanz und Betroffenheit C. Illustration anhand von zwei Beispielen: Kritische Theorie und narrative Theologie
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2.3. Geschichte als Konstitution und Vergegenwärtigung persönlicher Identität A. Geschichte und Identität bei Lübbe; Systemindividualisierung und Identitätspräsentation; .Beschreibung' und .Erklärung' der Identität B. Kritische Auseinandersetzung mit Lübbe; die Gegenüberstellung von Geschichte und Handeln C. Historische Identität und praktisches Selbstverhältnis 2.4. Das Interesse am Erzählen als Interesse an Kontinuität A. Geschichte und Kontinuität (im Anschluß an Baumgartner); das Interesse an Kontinuität B. Einseitigkeit der Kontinuitätsidee
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51 59 65 68 68 74
VIII
Inhaltsverzeichnis
3. Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie 81 3.1. Grenzen des Narrativismus 81 Einseitigkeiten in der sprachlichen, temporalen und handlungstheoretischen Bestimmung der Geschichte; die Frage des historischen Zukunftsbezugs 3.2. Erzählbare und nicht-erzählbare Geschichte 96 A. Historische Ontologie und Konstruktivität der Historie 98 B. Historische Faktizität und Erzählbarkeit 103
Teil II: Das Erklären und Verstehen von Geschichte 1. ,Theoretische' Erklärung: deduktiv-nomologische und integrative' Erklärung 1.1. Das Problem der historischen Erklärung A. Methodologische Vorüberlegungen; ,externe' Gesichtspunkte der Methodendiskussion B. Ausgangspunkt: Zwei Paradigmen: DN-Erklärung (Hempel) und rationale Erklärung (Dray) 1.2 Die .integrative' (Teil/Ganzes-)Erklärung A. Wie-möglich- und warum-notwendig-Erklärung B. Die integrative Erklärung (im Anschluß an Dilthey) C. Gemeinsame Merkmale der theoretischen nicht-DN-Erklärungen; 1. Nähe zum ,Verstehen' und Retrospektivität; 2. Grenze der integrativen Erklärung 2. .Rationale Erklärung' 2.1. .Relative Rationalität' A. Drays Modell der rationalen Erklärung B. von Wrights Modell der .teleologischen' Erklärung C. Die .sinnrationale' Erklärung bei Schwemmer 2.2. .Absolute Rationalität' A. Die Erweiterung der rationalen Erklärung; 1. im Ausgang vom Begriff der Zweckrationalität; 2. im Hinblick auf den Gegenstand Geschichte; 3. im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse der Historie B. Verallgemeinerung und Diversifizierung der rationalen Betrachtung (im Anschluß an Habermas) C. Grenzen der rationalen Betrachtung; 1. Abstraktheit, Subjektivismus, Dezisionismus, 2. Faktizität, Kontingenz, Normativität . . . 2.3. .Historische Rationalität' A. Rationalitätsanspruch und historische Veränderung; das Modell des Theorienwandels
109 111 111 111 115 119 119 125
133 144 144 144 146 150 155
155 161 164 173 173
Inhaltsverzeichnis
IX
Β. Begründung in der Geschichte und historische Erfahrung; das Modell der ästhetischen Argumentation und die praktische Argumentation in der Geschichte 176 C. Historische Innovation; Zukunftsbezug und historische Begründung 185 D. Merkmale der .historisch-rationalen' Erklärung; 1. Zeitstruktur; 2. Handeln und geschichtliche Objektivität; 3. Faktizität und Rationalität 191 3. .Hermeneutische Erklärung' Zur Terminologie von .Erklären' und .Verstehen'; zwei Übergänge zur Verstehensproblematik; Problemskizze anhand der Verstehenstheorie von Droysen 3.1 .Subjektives' Verstehen Das Sinnverstehen als Grundlage; Grenzen des subjektiven Verstehens 3.2. .Objektive Hermeneutik' A. Implikation des Erklärens im Verstehen: Explanatorisches Verstehen B. Implikation des Verstehens im Erklären: .Verstehende Erklärung' 3.3. .Historische Hermeneutik' Das geschichtliche Verstehen (im Ausgang von Dilthey, Gadamer, Ricoeur, Kritische Theorie)
Teil III: Identität und Geschichte Theoriekontexte der Identitätsproblematik; Differenzierung des Identitätsbegriffs
199
199 203 208 208 212 221
231 logisch-begriffliche
1. Individualität und Geschichte 1.1. Logische und personale Individualität A. Logische und ontologische Bestimmung der Individualität B. Personale Individualität 1.2. Exkurs: .Persönliche Identität' in der Sozialpsychologie 1.3. Historische Individualität Individualität, Faktizität, Selbstverwirklichung
233
....
2. .Qualitative Identität', personales Selbstverhältnis und Geschichte 2.1. .Qualitative Identität' und personales Selbstverhältnis Qualifikation und qualitative Identität; .theoretische' und .praktische' Dimension personaler Identität und ihr Verhältnis zur historischen Identität 2.2 .Historische Identität' A. Temporale Konstitution historischer Identität
239 239 239 247 255 264
275 276
284 285
χ
Inhaltsverzeichnis
Β. ,Theoretische' Konstitution historischer Identität und die Idee der Ganzheit 289 C. Praktisches Selbstverhältnis und historische Identität 296 3. Selbigkeit und historische Kontinuität 3.1. Identität und Selbigkeit Selbigkeit und Identität-in-der-Zeit; Person und Subjekt; Identität und Kontinuität 3.2. Geschichtliche Identität und Kontinuität Α. ,Inhaltliche' Bestimmung der Kontinuität; das ,Interesse an Unvergänglichkeit' und die Idee der Selbstverwirklichung B. Konstitutionsmedium und Status der Kontinuität; Konstitution und Objektivität der Geschichte C. Die Objektivität der historischen Zeit
306 306
Schlußbetrachtung
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Das Konzept historischer Identität und die Kritik des geschichtlichen Bewußtseins 1. Hauptlinien der Verweisung von Geschichte und Identität 2. a) Interne Kritik: aa) gegenseitiger .Überschuß' der beiden Begriffe . . . . 3. bb) Fragen der begrifflichen Konsistenz des Konzepts historischer Identität 4. b) Externe Kritik: Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens; aa) Kritik der Geschichtsphilosophie. Geschichte vs. Natur (Löwith) 5. bb) Kritik der historischen Auffassungsweise. Historie vs. Genealogie, Geschichte vs. Leben (Nietzsche, Foucault) 6. c) Gegenwartsdiagnose; Transformation des Geschichtsverständnisses / des menschlichen Selbstverhältnisses 7. Historische Identität als ästhetische Figur; die drei Leitideen geschichtlicher Identität 8. Verzichtbarkeit der historischen Identität? Die .Frage nach dem Glück' als Kriterium
315 317 322 331
341 342 343 346 350 352 358 361 366
Literaturverzeichnis
375
Namenregister
393
Sachregister
396
Einleitung 1. Wozu Geschichte? Wer heute diese Frage stellt, wird die vielfältigsten Antworten erhalten — vom unverlierbaren Wert der Tradition, der Treue zur Herkunft, der Flucht ins Vergangene, bis hin zur Antwort, daß uns Geschichte zu nichts mehr dient, daß sie längst überflüssig, ja eigentlich inexistent geworden sei. Als eine der klassischen Antworten galt lange Zeit, daß wir Geschichte — und Geschichten, die je eigenen Geschichten — brauchen, um uns über uns selber zu verständigen. Geschichten sagen uns, wer wir sind. Daß sie dies tun, ist unbestritten; wie sie es tun, und ob dies ihre eigentliche Aufgabe sei, eine offene Frage. Jedenfalls scheint das Phänomen wohlvertraut, welches Wilhelm Schapp in seiner These anspricht, daß jeder Mensch „immer in Geschichten verstrickt" sei und wir „den letzten Zugang" zu ihm „über Geschichten von ihm haben" (1953, 1, 103) 1 . Erst dann scheinen wir jemanden wirklich zu kennen, zu wissen, ,wer' er ist, wenn wir nicht nur, beispielsweise, seine Charaktereigenschaften oder sozialen Rollen kennen, sondern etwas aus seiner Geschichte, aus seinem Leben wissen. Schon die einfachste .Vorstellung' einer Person enthält im Abriß Elemente einer Geschichte; erst recht bedeutet das Vertrautwerden mit jemandem immer auch, seine Geschichte kennenzulernen. Gleiches gilt für das Verhältnis zu sich selber. Mit mir selber vertraut zu werden — oder gar mit mir ins Reine zu kommen — heißt auch, mich selber in dem, was ich faktisch bin und geworden bin, zu kennen, mir meiner Geschichte bewußt zu werden und sie nicht als ein Fremdes von mir abzulösen, zu vergessen oder zu verdrängen. Daß Nationen, Staaten und Gemeinschaften sich über ihre Geschichte identifizieren, ist ein bekanntes Faktum. Die Anlässe, w o sie sich das Gefühl von dem, was sie sind und als was sie sich verstehen, geben und bestätigen, sind typischerweise immer auch Anlässe der Reminiszenz und des Gedenkens. Auch Kulturgegenstände verschiedenster Art, Traditionen, Kunstrichtungen und Weltanschauungen scheinen wir erst dann wirklich zu identifizieren, wenn wir nicht nur über ihre charakteristischen Merkmale, sondern auch über ihren historischen Ort und ihren Werdegang Bescheid wissen. Indessen kann die Vertrautheit des Phänomens nicht über seine Ungeklärtheit hinwegtäuschen. Der Geschichts- wie der Identitätsbegriff zeigen Sachkomplexe an, deren Konjunktur quer durch verschiedene Disziplinen, Theorieansätze und Kulturbereiche hindurch auch darin begründet ist, daß sie reale Probleme der Gegenwart benennen. Ihrer vielfältigen Verwendung entspricht ihre Vieldeutigkeit. Wenn insbesondere der Identitätsbegriff, theoriegeschichtlich neueren Datums und
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Zur Zitierweise s. Literaturverzeichnis.
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Einleitung
in den vielfältigsten Kontexten etabliert, der Aufklärung bedürftig erscheint, so ist doch auch vom Geschichtsbegriff zu sagen, daß er seine scheinbare Klarheit zum großen Teil nur seiner umgangssprachlichen Vertrautheit verdankt. Gleiches gilt sodann vom Verhältnis beider Begriffe. Die Verbindung von Geschichte und Identität benennt ein eigenes Thema, das seinerseits ebenso kontrovers wie vieldeutig und ungeklärt ist. 2. Daß die Verbindung beider Begriffe keine Selbstverständlichkeit bedeutet, zeigt ein Blick auf ihren theoriegeschichtlichen Stellenwert. Nicht nur ist die Relevanz des Geschichtsdenkens keine Konstante der abendländischen Kultur- und Philosophiegeschichte; selber historisch enstanden, ist sie heute ihrerseits in Frage gestellt. Auch das Selbstverhältnis von Einzelnen und Gruppen ist nicht immer so gedacht worden, daß es sich von sich aus in Beziehung zur Geschichtlichkeit setzen ließ. Wohl haben große Geschichtsbilder für die Selbstverständigung der Menschen immer eine prägende Bedeutung gehabt. Wie das Volk Israel in der Geschichte sein Auserwähltsein bestätigt fand, konnte Kant in der Idee einer Weltgeschichte die Bestimmung des Menschengeschlechts ausgedrückt sehen. In dem engeren, strikteren Sinne jedoch, wonach der Geschichtsbezug für die Formbestimmung des menschlichen Selbstverhältnisses zur Geltung gebracht wird, benennt der Zusammenhang von Geschichte und Identität eine Thematik, die erst auf dem Hintergrund des neuzeitlichen Subjektivitätsdenkens in den Blick kommt. Die neuere Aufarbeitung der Theorie der ,Selbsterhaltung' hat den Zusammenhang nachgezeichnet, in dem zugleich mit der Erfahrung von Geschichtlichkeit die neuzeitliche Auffassung von Subjektivität sich herausbildet (s. Ebeling [Hg.] 1976a). Er findet seinen Reflex in der Entfaltung des neuzeitlichen Subjektbegriffs selber. Zunehmend wird die Bestimmung von Subjektivität dynamisiert und in die Dimension der Geschichte eingerückt. Wenn wir den Gedanken, daß sich Individuen und Gesellschaften über ihre Geschichte identifizieren, daß sie zunächst einmal ihre Geschichten ,sind', in ihnen ihr Unterscheidungs- wie ihr Einheitskriterium haben, allgemeiner fassen, so bedeutet er eine Ergänzung der reinen Formbeschreibung durch eine prozessualgenetische Beschreibung. Die volle Explikation der Form verweist in die Dimension ihrer Konstituierung. Die ,Wesensbeschreibung' vollendet sich selber in einer ,historischen' Beschreibung — dies nicht nur im Sinne einer externen Ergänzung durch Herkunftsgeschichte oder als Ergänzung dessen, ,was' etwas ist, durch die Erkärung, ,warum' es das ist, was es ist. Der Subjektbegriff selber wird als einer gefaßt, dessen strukturelle Beschreibung in den logischen/relationalen Kategorien von .Beziehung', .Verhältnis', .Reflexion' einseitig bleibt und durch die Beschreibung des Konstitutionsprozesses, in dem sich das menschliche Selbstverhältnis herstellt, ergänzt werden muß. Wie weit diese Konstitution im eigentlichen Sinn mit ,Geschichte' zu tun hat, bleibt dabei noch offen. Gerade dort, wo der Zusammenhang von Subjektivität und temporal-genetischer Konstitution in radikaler Form zum Ausdruck kommt — wie etwa in Husserls Analyse des transzendentalen Zeitbewußtseins —, bleibt der Bezug auf Geschichte im Hintergrund. Allerdings findet auch innerhalb der Husserlschen Theorie ein Entwicklungsgang statt, der von
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der Wesensanalyse zur genetischen und schließlich geschichtlichen Betrachtung führt und der hinsichtlich der Selbstbewußtseinsproblematik eine Frontstellung gegen einen formalen Subjektbegriff markiert, welcher das Subjekt als abstrakten Einheitspol hinter seine Lebens- und Erkenntnisvollzüge zurücknimmt. Wenn Schapp, nach Heideggers These von der grundsätzlichen Geschichtlichkeit des Daseins, die konkrete Verknüpfung von Menschsein und Verstricktsein-in-Geschichten wieder in den Vordergrund rückt, so benennt er gleichsam einen der Endpunkte in der Entfaltung dieser Begriffskonstellation. Geschichte wird generell zum Zentralbegriff der Spätphänomenologie und Existenzphilosophie. Doch wird damit innerhalb der phänomenologischen Bewegung nur eingeholt und auf den Begriff gebracht, was einer längerfristigen Tendenz in der Entfaltung des modernen Subjektivitätsbegriffs entspricht. Die verabsolutierte Selbstbezüglichkeit und Autarkie erweist sich als Prätention, die ihre eigenen Fundamente verschleiert. Die ,Krise der Reflexion', die ,Dezentrierung des Subjekts', das Offenkundigwerden des Eingebundenseins in Gesellschaft und Sprache sind Momente des Prozesses, in welchem sich Geschichte als unüberholbarer Horizont menschlichen Selbstseins herausstellt. Allerdings bleibt, solange etwa die Rede vom ,Verstricktsein' in Geschichten die letzte Auskunft bleibt und nicht auf Grundfragen des menschlichen Selbstverhältnisses zurückgegangen wird, dieser Zusammenhang selber unterbestimmt. Der Einrückung des Subjekts in Geschichte kommt von der Gegenseite her eine andere Verweisung entgegen, die ihren Ausgang von der Reflexion auf Geschichte nimmt. Schon für den klassischen Historismus bestand die Funktion der Historie unter anderem darin, als institutionalisierte Erinnerung zugleich das Medium des Selbstbewußtseins der Menschheit zu sein, das Medium ihrer Selbstbesinnung, ihrer Selbstvergewisserung und Selbsterkenntnis. Es scheint ein elementares Bedürfnis des Menschen zu sein, sich seine Geschichte zu vergegenwärtigen und sich darin über sich selbst zu verständigen, sich darüber Rechenschaft abzulegen, wer man wirklich ist und inwiefern man im Laufe der Zeit derselbe geblieben ist. Es gibt ein Bedürfnis, vergangene Geschichte als Teil seiner selbst in der Erinnerung festzuhalten. Die Tradition der Autobiographien, der Confessiones, Tagebücher und Memoiren legt davon beredtes Zeugnis ab. Ebenso offenkundig ist der Konnex auf sozialer Ebene, etwa bei Staaten und Nationen; daß deren gestörtes Verhältnis zu sich selber mit einem ungeklärten Verhältnis zur eigenen Geschichte zusammengehen kann, ist ebenso eine Tatsache wie daß die Aufarbeitung' der Vergangenheit oft ausdrücklich als Basis einer neuen Selbstverständigung gefordert wird. Auch wo das Gedächtnis der Geschichte nicht dem je Eigenen, sondern dem Fremden und Fernen, der Vielfalt menschlichen Lebens und Treibens in seiner mannigfachen Besonderheit gilt, nimmt Historie indirekten Bezug auf die eigene Geschichtlichkeit, das geschichtliche Selbstverständnis des Erinnerten; und auch dort bringt sie das Interesse geschichtlichen Denkens zum Ausdruck, das Einzelne und Besondere vor dem Vergessen und Entgleiten der Zeit zu bewahren. In methodologischer Hinsicht hat diese Orientierung ihre Entsprechung in der Lehre von Nacherleben und der Ausrichtung aufs Individuelle gefunden, welche lange Zeit als distinktives Merkmal historischer
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Wissenschaft galt. Diese Motive sind in neueren Positionen der Historik reformuliert worden. So versteht etwa H. Lübbe Geschichte als Prozeß einer Individualisierung', durch welchen Personen oder Gesellschaften ihre unverwechselbare Gestalt erhalten; Historie ist Medium der Vergegenwärtigung und Präsentation eigener und fremder Identität. Die Diskussion, die sich im Umkreis dieser und verwandter Thesen herausgebildet hat, bezeugt bei aller Kontroverse, daß damit ein Punkt berührt ist, der für geschichtliches Denken weder äußerlich noch kontingent ist. Diese Bestimmung der Geschichte gewinnt in der Gegenwart zum Teil neue Dringlichkeit durch ihr Zusammentreffen mit einer anderen Fragerichtung, die ihrerseits primär an den Erfordernissen subjektiver Identitätsbildung interessiert ist und ihre einflußreichste Prägung durch die aus den Sozialwissenschaften stammende Theorie persönlicher und sozialer Identität erhalten hat. Dabei stellt diese Konvergenz keineswegs von vornherein eine Selbstverständlichkeit dar. Wie die Prosperität der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung vorerst mit einem generellen Zurücktreten des historischen Bewußtseins Hand in Hand zu gehen schien, so präsentierte sich auch die sozialpsychologisch oder tiefenpsychologisch explizierte Identität zunächst als Ablösefigur der quasi-naturwüchsigen, durch historische Verwurzelung bestimmten Identität. Es wurde gerade zur Sachfrage — und ist es bis heute geblieben —, ob und inwiefern Individuen und Gesellschaften zur Stabilisierung ihres Selbstverhältnisses der historischen Besinnung bedürfen, inwiefern für sie die Ausbildung von so etwas wie,historischer Identität' eine sinnvolle Aufgabe darstellt. Während für viele Theoretiker mit der Destruktion des traditionellen Geschichtsverständnisses (und der traditionellen Geschichtsschreibung) auch die Rückbindung persönlicher Identität an Geschichte jegliche Berechtigung verlor, betonen andere gerade angesichts der Orientierungslosigkeit der Gegenwart die Notwendigkeit einer Rehabilitierung jenes Zusammenhangs. 3. Der Zwiespalt in der theoretischen Diskussion widerspiegelt sich in der Diagnose des gegenwärtigen Bewußtseins. Einerseits ist die Gegenwart fraglos durch eine Konjunktur des historischen Bewußtseins und eine zunehmende Rückbindung individueller wie kollektiver Identitätsbehauptungen an Geschichte gekennzeichnet. Regionalistische Bewegungen wehren sich im Namen historischer Eigenständigkeit gegen die Vereinnahmung durch diffus gewordene Nationalstaaten. Das Bemühen um die Bewahrung der historischen Substanz von Städten wehrt sich gegen die Verschleifung gewachsener Eigenarten in der funktionellen Anonymität der technischen Welt. Und auch das Anwachsen nicht-fachwissenschaftlicher historischer Literatur scheint ein wachsendes Bedürfnis an historischer Besinnung anzuzeigen. All diesen Indizien eines zunehmenden Geschichtsinteresses eignet ein gemeinsamer reaktiver Zug. Historische Selbstbehauptung artikuliert sich zumindest teilweise als Antwort auf einen Verlust. Der Konvergenz von Identitätsverlust und Geschichtsverlust korrespondiert die Bemühung, in der Wiedergewinnung von Geschichte neue Grundlagen der Selbstverständigung zu finden. Im Bereich der Pathologie wird dieser Zusammenhang von der Psychoanalyse exemplarisch expliziert und zum Ausgangspunkt praktischer Verfahren gemacht. Doch auch wenn gerade sie oft zum Paradigma historischer Aufarbeitung stilisiert wird, bleibt es eine
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offene Frage, wie weit das in ihr Exemplifizierte zur Verallgemeinerung taugt. Jedenfalls stehen die Anzeichen der Aktualisierung des historischen Bewußtseins in eigenartigem Kontrast zu entgegengesetzten Symptomen. Nach Meinung vieler tendiert die moderne Zivilisation geradezu dahin, sowohl das Geschichtsbewußtsein wie das ihm entsprechende Bewußtsein von der Verschiedenartigkeit der Individuen, Kulturen und Gesellschaftsformen unwiderruflich auszulöschen. War ein Idealtypus historischer Identifikation die Erzählung einer individuellen Lebensgeschichte, so stehen dem in der Gegenwart das Verdikt vom Absterben der Erzählkunst, die These von der Destruktion des Individuums und die These vom nachgeschichtlichen Zeitalter, in dem wir uns angeblich schon längst befinden, gegenüber. Dabei sind es nicht nur die Kritiker des gegenwärtigen Bewußtseins, die auf solche Tendenzen hinweisen und sie entweder als Verfallserscheinungen der bürgerlich-kapitalistischen Welt denunzieren oder einfach als unwiderbringlichen Verlust beklagen. Für viele Sozialwissenschaftler gelten diese Erscheinungen, wenn nicht als begrüßenswerte, so doch als durchaus folgerichtige und zeitgemäße Entwicklungen. Gegenwärtige Gesellschaften tendieren offensichtlich dazu, sich in einer Weise zu reproduzieren, die von der Vermittlung über die Individualität der einzelnen und über Geschichte entlastet. Das Verschwinden des historischen Bewußtseins wird dann gedeutet als sein Überflüssigwerden in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr traditional definiert, sondern, sei es auf bloßer Legalität, sei es — im Prinzip — auf einer universalistischen Moral aufruht. Und der Rückgang der Individualität ist dann nur Kehrseite der erhöhten Mobilität und Kapazität einer — in diesem Sinn fortschrittlicheren — Gesellschaftsform, die sich durch ein Zusammenspiel von Funktionen definiert, deren individuelle Träger bedeutungslos, austauschbar geworden sind. Wie immer wir diese Entwicklungen werten, ob als Fortschritt oder Verlust, jedenfalls lassen sie es als zweifelhaft erscheinen, ob wir heute ohne weiteres uns auf Geschichte berufen können, ohne hinter den Bewußtseinsstand zurückzufallen. Wir stehen vor einer in sich zwiespältigen Gegenwartsdiagnose, die zugleich die Aktualität und Inaktualität des historischen Bewußtseins herausstreicht. Auch wenn wir der Kosten und Folgelasten der Abkoppelung gesellschaftlicher Reproduktion von Geschichte, der damit einhergehenden Bedrohung personaler Identität gewahr werden, ist nicht ausgemacht, ob (und gegebenenfalls in welchem Sinn) die ,Rettung des Individuums' an die Restauration des historischen Bewußtseins gebunden ist. Und auch wenn Geschichtlichkeit als irreduzibles Moment menschlichen Daseins aufzuweisen ist, bleibt unklar, inwiefern sie in einem präzisen Sinn mit unserer .Identität' zu tun hat. In der Ambivalenz der geschichtlichen Bindung reflektiert sich die der Historie selber; was für Thukydides noch das Festhalten des eigentlich Denkwürdigen war, ist Nietzsche zum .Karneval der Masken' geworden. Doch bei aller Strittigkeit stellt das Verhältnis von historischem Bewußtsein und Selbstsein fraglos eine Herausforderung an unsere Gegenwart und Zukunft dar. Nach W. Oelmüller braucht man „kein Prophet zu sein, wenn man sagt, daß das Thema Geschichte und Identität in den entwickelten Industrieländern in der inner- und außerwissenschaftlichen Diskussion von zentraler Bedeutung sein wird" (1976 b, 153).
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Einleitung
Der Strittigkeit des Phänomens geht seine Ungeklärtheit noch voraus. Wenn wir uns die Beiträge vergegenwärtigen, die in der neueren Geschichts- und Sozialwissenschaft zum Themenkomplex .Geschichte und Identität' vorgebracht worden sind, so sehen wir uns nicht nur mit einer äußerst heterogenen Ansammlung von Theoremen und Deskriptionen konfrontiert. Eine Auseinandersetzung zwischen ihnen wird zusätzlich dadurch erschwert, daß auch das, was von einzelnen Positionen als ,der' Zusammenhang von Geschichte und Identität vorgestellt wird, oft begrifflich unterbestimmt ist. Unklar bleiben oft die korrelierten Begriffe selber. Namentlich gilt dies für den Identitätsbegriff, der zuweilen in einem rudimentär-deskriptiven Sinn, zuweilen in assoziierender Anlehnung an den — seinerseits nicht auf eine Bedeutung zurückzuführenden - Sprachgebrauch der Sozialpsychologie verwendet wird. Wenn wir dann die ebenfalls schillernde Mehrdeutigkeit des Geschichtsbegriffs hinzunehmen, so kann es nicht erstaunen, daß die Verhältnisbestimmung beider, sei es in logisch-begrifflicher, sei es in praktisch-interesseorientierter Sicht, die verschiedensten Variationen erfährt. Eine erste Vorverständigung über die beiden Begriffe — deren wirkliche Klärung mit zur Aufgabe ihrer Verhältnisbestimmung gehören wird — soll die Ausgangslage der Problemstellung verdeutlichen. 4. Was ist Geschichte? Wer so fragt, dem kann es ergehen wie Augustinus bei der Frage nach der Zeit: „Wenn mich niemand fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht" (Confessiones XI, 14). Die Selbstverständlichkeit unseres Umgangs mit dem Wort .Geschichte' täuscht über die Schwierigkeiten hinweg, in die wir geraten, sobald wir unser natürliches Vorverständnis einer begrifflichen Klärung zuführen wollen. Nicht erst im philosophisch-historischen Fachdisput werden wir der Vielfalt der Konnotationen, ja der Mehrdeutigkeit des Terminus selber gewahr. Auch die umgangssprachliche Verwendung umfaßt divergierende Aspekte und Bedeutungen, deren Einheit jedenfalls nicht von vornherein auf der Hand liegt. Zu nennen sind hier vor allem zwei Dichotomien; daß sie keine Zufälligkeiten des Sprachgebrauchs sind, zeigt sich darin, daß sie gleichzeitig zentrale Sachfragen der Geschichtstheorie benennen. Gemeint ist zum einen der Unterschied von pluraler und singularer Verwendung — die Geschichte und die Geschichten —, zum andern der Gegensatz von .objektiver' und .subjektiver' Bedeutung — Geschichte als Ereignisfolge und Geschichte als Erzählung. Signifikant ist dabei der Umstand, daß beide .Zweideutigkeiten' erst neueren Datums sind, ja daß ihre Entstehung — und genauer: die Herausbildung des Kollektivsingulars ,die Geschichte' und die Etablierung der .objektiven' Bedeutung der Geschichte als Geschehen — zeitlich zusammenfallt mit der Entstehung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Das Sachproblem ergibt sich daraus, daß es nicht möglich scheint, in dieser Vielfalt schlicht eine Äquivokation zu sehen und sie zugunsten einer begrifflichen Distinktion zu beseitigen. Daß ein Auseinanderhalten der Bedeutungen den ersten Schritt zur begrifflichen Klärung darstellt, ist selbstverständlich; nur kann es offensichtlich nicht deren letzter sein, da die divergierenden Aspekte der Sache nach aufeinander bezogen bleiben.
Einleitung
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So ist der Unterschied von Ereignis und Erzählung — oder ,Geschichte' und .Historie' — zwar zunächst ganz unproblematisch. Doch zeigt die nähere Betrachtung der Begriffe — wenn wir unser Verständnis nicht einfach durch Festlegungen ersetzen wollen —, daß wir keinen von ihnen in Absehung vom andern angemessen bestimmen können. Ihr Verhältnis ist nicht nur das von Deskription und Gegenstand. Und nicht nur ist die historische Darstellung auch in ihrer inneren Logik selber historisch bedingt, auf reale Geschichte bezogen. Auch was ihr gegenüber .Geschichte' heißen kann, ist nicht eine gegenständliche Größe, die rein für sich, in Abstraktion von den Formen historischer Vergegenwärtigung festzustellen wäre. Dies zeigt sich in den einfachen Fragen, die der Ausgrenzung des Gegenstandsbereichs gelten: Können wir zur Geschichte umstandslos und im gleichen Sinne alles zählen, was sich in der Zeit erreignet, oder sollen wir dazu nur die menschliche Geschichte rechnen; gibt es ein Kriterium dessen, was zu einer Geschichte gehört, wird Geschichte nur durch die großen Ereignisse gebildet oder durch alles, was sich innerhalb bestimmter (raum-zeitlicher, kultureller, staatlicher etc.) Grenzen abspielt? Auch wenn wir zunächst einen gänzlich .neutralen', rein gegenständlich explizierten Begriff von Geschichte definieren, so bleibt es eine Tatsache, daß jedenfalls nach modernem Verständnis nur dort von Geschichte — von geschichtlichem Leben, von Völkern, die ,eine Geschichte haben' — zu sprechen ist, wo gleichzeitig Geschichtsbewußtsein, und d.h. eine bestimmte Form historischer Vergegenwärtigung vorhanden ist. Gerade wenn wir das Verhältnis von Geschichte und Identität zum Thema machen, werden wir uns offensichtlich nicht bloß mit einer der beiden .Seiten' von Geschichte zu befassen haben. Auch was die zweite Dichotomie, die zwischen der Geschichte und den Geschichten angeht, so werden wir durch sie mit einem Sachproblem des Geschichtsbegriffs selber konfrontiert. Offenkundig handelt es sich hierbei ja nicht um eine einfache Pluralbildung: mit den Geschichten meinen wir nicht eine Vielzahl von dem, was die Geschichte ist. Eher wäre hier umgekehrt von einer Singularbildung zu sprechen. Daß diese gleichzeitig mit der universalhistorischen und geschichtsphilosophischen Reflexion aufkommt, bezeugt ihre Nähe zu deren Problemstellung. Die Frage ist, was die unendlich vielfältigen Geschichten mit der ,einen' Geschichte zu tun haben, ob wir vielleicht nur im Hinblick auf das, was das Anliegen der Geschichte ist, einen angemessenen Zugang zu den einzelnen Geschichten haben, oder ob umgekehrt jener Singular nur eine durch nichts mehr zu legitimierende Hypostasierung, eine spekulative Extrapolation darstellt. Auch wenn diese Verhältnisbestimmung für den normalen Wortgebrauch weniger dringlich sein mag als jene erste Polarität, so stellt sie doch für die Geschichtsphilosophie bis zum heutigen Tag eine unumgängliche Fragestellung dar, und dies auch dort, wo sie das Projekt einer umfassenden Deutung der Menschheitsgeschichte längst hinter sich gelassen hat. So führt uns denn diese Vorverständigung nicht zu dem .einen' Begriff von Geschichte, den wir nun mit seinem Gegenüber, dem Identitätsbegriff in ein Verhältnis zu setzen hätten. Wir sehen uns einer Mehrzahl von Bedeutungen gegenüber, in der allerdings schon deutlich wird, daß das Problem einer Bestimmung des Geschichtsbegriffs nicht zuletzt in der Bestimmung ihres Verhältnisses bestehen
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Einleitung
wird. Das Problem der Geschichtsphilosophie ist unter anderem das des Geschichtsbegriffs. Und es ist klar, daß auch die Klärung des Zusammenhangs von Geschichte und Identität ganz unmittelbar mit der Klärung des Geschichtsbegriffs selber befaßt sein muß. 5. Auf selten des Identitätsbegriffs ist die Ausgangslage beinahe noch verwirrender. Auch hier haben wir auf der einen Seite mit einer Art natürlichem Vorverständnis zu tun. So gibt uns beispielsweise die Geschichtstheorie Beschreibungen vor, die etwas unmittelbar Einleuchtendes und Plausibles haben — so wenn gesagt wird, daß mich die Geschichte lehrt, wer ich eigentlich bin, oder daß ich des historischen Bewußtseins bedarf, um wirklich ich selber zu sein, um eine eigene ,Identität' zu haben. Ebenso unproblematisch scheint es, wenn Schapp seine Ausführungen in der einfachen These zusammenfaßt: „Die Geschichte steht für den Mann" (1953, 103). Und doch geraten wir auch hier in ähnliche Schwierigkeiten, wenn wir genauer zu bestimmen versuchen, was in solchen Behauptungen wirklich enthalten ist. Vielleicht ist es hier weniger die gewöhnliche Umgangssprache als der verbreitete geistes- und sozialwissenschaftliche Sprachgebrauch, in dem die Entdifferenzierung des Terminus stattfindet. Man kann sich sogar fragen, ob der Identitätsbegriff für unsere Problemstellung nicht ein unglücklicher Begriff ist. Worum es geht, ist das menschliche Selbstverhältnis in seinem Bezug auf Geschichte, ein Selbstverhältnis, das in der Philosophie eher unter Titeln wie .Subjektivität', ,Selbstbewußtsein', ,Selbstbeziehung' abgehandelt worden ist. Es ist das in der Philosophie beheimatete Problem der Subjektivität, das in diesem Punkt das eigentliche Thema der Untersuchung darstellt. Und es sind auch subjektivitätstheoretische Bestimmungen, die dem Identitätsbegriff im Rahmen dieser Untersuchung seine begriffliche Konkretion verleihen sollen. Dennoch ist der Ausgang von ihm nicht als bloße Konzession an einen gängigen Sprachgebrauch zu sehen. Nicht nur erlaubt er es, die Fragestellung zunächst in einer weiteren und weniger belasteten Fassung aufzunehmen und artikuliert er, in seiner sozialpsychologischen Version, Bestimmungen, die in ähnlicher Weise das Problemfeld der Geschichte definieren und von sich aus in Affinität zur Frage des historischen Subjekts stehen. Darüber hinaus legt er begriffliche Differenzierungen nahe, die sich gerade für die Explikation der verschiedenen Aspekte des Selbstverhältnisses in der Geschichte als Anknüpfungspunkte anbieten. Als Grundraster hat dabei die Unterscheidung dreier Verwendungen von .Identität' zu gelten. In einer ersten Bedeutung meint .Identität' die numerische Identität (Individualität): einer wird dadurch identifiziert, daß seine Unterschiedenheit von andern herausgestellt wird, daß gesagt wird, ,νοη wem' in einem bestimmten Zusammenhang die Rede, ,wer' gemeint ist. Dem steht als zweites die qualitative Identität gegenüber: sie bildet dort den begrifflichen Hintergrund, wo gefragt wird, ,als was' sich einer selbst versteht, ,als was' er sich .identifiziert' (oder von andern identifiziert wird). Und schließlich ist die .Identität' im wörtlichen Sinn der .Selbigkeit' zu nennen: Thema ist hier, ob zwei zunächst Unterschiedene nicht doch nur .ein und dasselbe' sind, oder, in konkreterer Anwendung auf unsere Thematik, ob beispielsweise einer im Lauf der Zeit ,mit sich identisch', derselbe
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geblieben ist. Ersichtlich sind alle drei Verwendungen sowohl weiter zu präzisieren wie auch zu differenzieren; dies wird zum Teil in der Ausarbeitung des Geschichtsbegriffs und sodann ausdrücklich zu Beginn des dritten Teils geschehen. Es liegt auf der Hand, daß alle drei Verwendungen für das Thema von Geschichte und Identität von Bedeutung sind. In der Literatur, die das Konzept historischer Identität erörtert, finden sich substantielle Beiträge zu jeder der drei Bedeutungen von .Identität'. Ihr Thema ist zum einen die Individualität und Unterschiedenheit von anderen, die jedem durch seine eigene Geschichte zuwächst; zum andern das konkrete (qualitative) Selbstverständnis, das einer über die Reflexion auf Geschichte von sich gewinnt; schließlich die Frage, in welchem Sinn das mit-sich-Einsbleiben im Lauf seiner Geschichte zur Bestimmung subjektiven Selbstseins gehört. Natürlich stellt uns die Disparatheit der Bedeutungen unmittelbar vor ein zusätzliches Problem. Handelt es sich hier überhaupt um einen einheitlichen Begriff, oder müssen wir sagen, daß der Gebrauch des gleichen Terminus für so verschiedene Fragestellungen schlicht auf eine Äquivokation hinausläuft? Für die Beziehung von Geschichte und Identität oder für das Konzept historischer Identität schließt sich daran die Frage an, ob wir es hier überhaupt mit einem einheitlichen Phänomen zu tun haben. Es scheint klar, daß sich die verschiedenen Begriffe nicht umstandslos einem übergreifenden Identitätsbegriff als Teilaspekte unter- oder zuordnen lassen. In diesem Sinn ist der sachliche Zusammenhang hier keineswegs so naheliegend wie im Fall des Geschichtsbegriffs. Gleichwohl ist der Umstand bemerkenswert, daß das Problem historischer Identität in allen drei Hinsichten als nicht-kontingente Fragestellung formuliert werden kann und formuliert worden ist. So werden wir auch hier vor der gleichen Notwendigkeit stehen, die internen Verweisungen nachzuzeichnen; erst aufgrund der Differenzierungen, die dazu erforderlich sind, wird es möglich sein, eventuelle Prioritäten des einen oder anderen Aspekts herauszuarbeiten und die Frage nach der Einheitlichkeit des Themas zu beantworten. Es liegt auf der Hand, daß die Uneinheitlichkeit in der Verwendung sowohl des Geschichts- wie des Identitätsbegriffs auch für das Verhältnis beider, für das Thema .Geschichte und Identität' zu erheblichen Differenzierungen führen wird. Es scheint wenig wahrscheinlich, daß die Untersuchung in eine einfache Korrelation oder Implikation der beiden Begriffe münden wird, die dann als die Beziehung von Geschichte und Identität, als das Konzept historischer Identität zu gelten hätte. Wahrscheinlicher ist, daß wir zu einem Geflecht von Beziehungen gelangen, innerhalb dessen wir dann allerdings vor der Aufgabe stehen, die Zusammenhänge dieser Beziehungen aufzuweisen und die entscheidenden Schwerpunkte zu markieren, von denen her die Thematik als ganze in den Blick kommt. 6. Für das Vorgehen erscheint es deshalb wenig aussichtsreich, unmittelbar das Verhältnis von Geschichte und Identität selber zum Thema zu machen und eine Konkretisierung dieses Verhältnisses als solchen anzustreben. Sinnvoller scheint es, vom komplexen Sachverhalt des Verhältnisses zunächst zurückzutreten und die Klärung der einen Seite aufzunehmen. Anzusetzen ist dabei beim Geschichtsbegriff. Es ist der Geschichtsbegriff, der materialiter die Grenzen der vorliegenden Untersuchung absteckt. Die Komplementärseite, das Problem des menschlichen
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Einleitung
Selbstverhältnisses, wird, wenn auch vor dem Hintergrund der Subjektivitätsproblematik als solcher und im Ausgriff auf das Problem menschlichen Selbstseins überhaupt, nur insoweit Gegenstand einer ausdrücklichen Ausarbeitung sein, als es innerhalb des Rahmens, der durch die Reflexion auf Geschichte markiert ist, als Sachproblem zur Diskussion steht. Dabei soll bereits die Erarbeitung der Logik des Geschichtsbegriffs, zwar nach dessen eigener Binnenstruktur, doch zugleich im Blick auf das über Geschichte sich herstellende menschliche Selbstverhältnis geschehen. Allerdings wird es dann unumgänglich sein, nach der Analyse des Geschichtsbegriffs dessen Beziehung zur Identitätsproblematik auch aus der Perspektive des subjektiven Selbstverhältnisses zu beleuchten und nach dessen eigener Logik zu strukturieren. Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile. In einem ersten wird jene elementare Konstitution von Geschichte erörtert, die im Erzählen von Geschichten stattfindet. Zu fragen ist sowohl nach der inneren Logik dieser Konstitution wie auch danach, inwieweit diese überhaupt als Basis unseres Geschichtsverständnisses gelten darf. In einem zweiten Teil sollen die verschiedenen Formen unserer Verständigung über Geschichte — des Erklärens und Verstehens von Geschichte — diskutiert werden. Zu klären ist, welches Gewicht diesen verschiedenen Formen zukommt und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen; gleichzeitig ist zu verdeutlichen, wie in der Verständigung über Geschichte die im Geschichtsbezug implizierte menschliche Selbstverständigung sich artikuliert. Im dritten Teil wird das menschliche Selbst Verhältnis als solches zum Thema werden und von ihm aus die Funktion unseres Verhältnisses zur Geschichte zu diskutieren sein. Im Blick auf die systematische Exposition wie auf den Stand des gegenwärtigen Bewußtseins soll die Schlußbetrachtung versuchen, etwas über die grundsätzliche Bedeutung wie über die Grenzen des Verhältnisses von Geschichte und Identität auszumachen.
Teil I: Geschichte und Erzählung
Geschichten werden erzählt. Die Geschichten, in die einer verstrickt ist und die uns sagen, wer er ist, sind Geschichten, die er von sich zu erzählen weiß oder die andere von ihm erzählen. Auch die Geschichtsschreibung hat lange Zeit die Erzählung gleichsam als Normalform historischer Darstellung behandelt; wichtige Strömungen der gegenwärtigen Geschichtstheorie sehen in ihr geradezu die kategoriale Grundbestimmung von Geschichte und Geschichtsbewußtsein. Die im Wort .Geschichte' gelegene Doppelbedeutung — Geschehen und Erzählung — scheint einen Zusammenhang in der Sache selbst zu benennen. Gleichwohl ist es alles andere als selbstverständlich, eine Untersuchung des Geschichtsbegriffs über eine Analyse des Erzählbegriffs zu beginnen. Es bleibt eine offene Frage, ob und inwiefern uns die Reflexion auf die Erzählung Aufschluß darüber geben kann, was Geschichte sei — zumal ja den oben genannten andere Traditionen entgegenstehen, welche die narrative Verfaßtheit von Geschichte entweder als sekundär ansehen oder direkt bestreiten. Nun wäre es aussichtslos, über das Recht des narrativistischen Ansatzes im voraus Entscheidendes sagen zu wollen; die Auseinandersetzung darüber gehört mit zum Thema der narrativistischen Geschichtsphilosophie selber. Wichtig ist an dieser Stelle allein eine kurze Besinnung darüber, was mit diesem Ansatz vorausgesetzt bzw. ausgeschlossen wird und welche vorläufigen Gründe für seine Plausibilität sprechen. Im konkreten sind es zwei Vorentscheidungen, die durch den Ansatz bei der Erzählung getroffen sind: die allgemeinere, Geschichte von selten ihrer Darstellung, von ihrer sprachlichen Gestalt her zum Thema zu machen; die spezifischere, als Prototyp der sprachlichen Verfassung von Geschichte die Erzählung zu wählen. Was durch die erste Vorentscheidung ausgeschlossen — oder zunächst in den Hintergrund gerückt — wird, ist zweierlei. Zum einen steht sie gegen den Versuch, das spezifisch Geschichtliche auf der ,Gegenstandsseite' festzumachen, es anhand bestimmter Inhalte, typischer Verlaufsformen, historischer Gesetzmäßigkeiten usw. zu definieren. Geschichte kommt im Narrativismus unmittelbar in der Dimension ihrer subjektiven Aneignung und Verarbeitung in den Blick. Wie weit damit ein für den Begriff der Geschichte selber wesentlicher Aspekt getroffen ist, wird zu sehen sein; jedenfalls legt sich eine solche Zugangsweise im Rahmen unserer Thematik besonders nahe, da sich der .subjektive' Geschichtsbezug sozusagen von sich aus in ein Verhältnis zu Phänomenen der Identitätsbildung stellt. Allerdings ist es auch dann noch keine Selbstverständlichkeit, das Geschichtsbewußtsein primär auf seine sprachliche Gestalt hin auszulegen. Das menschliche Verhältnis zu Geschichte hat ja ebenso — für viele sogar vorrangig — mit Handlungen und Zwecksetzungen zu tun; wieso sollte sich die philosophische Reflexion auf Geschichte nicht von vornherein als Reflexion auf menschliche Praxis, als Teildisziplin der praktischen Philosophie verstehen? Oder, um an einem andern Aspekt geschichtlichen Existierens anzuset-
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Geschichte und Erzählung
zen, wieso sollte nicht eine konsequent phänomenologische Analyse, die sich an Erfahrungsformen des Zeitbewußtseins orientiert, das Spezifische des menschlichen Geschichtsbezugs herausarbeiten können? Wenn diesen Orientierungen gegenüber dem Ansatz bei der Sprache der Vorzug gegeben werden soll, so vielleicht am ehesten mit Bezug auf jene Motive, die der Wende zur Sprache in verschiedenen Bereichen der Sozialwissenschaft zugrundeliegen. In zunehmendem Maße ist die Sprache als das Medium ernst genommen worden, in dem menschliche Lebenswelt nicht nur ihren Ausdruck findet, sondern sich allererst konstituiert. In der Sprache kommen Interessen, theoretische und praktische Einstellungen zum Tragen, welche auch dem menschlichen Handeln, dem menschlichen Welt- und Selbstbezug zugrundeliegen. Teils sind sie im sprachlichen Text explizit mitformuliert, teils in seiner formalen Struktur mitgesetzt und durch eine Sprach- oder Kommunikationstheorie zu erschließen. Eine Analyse der Geschichtssprache wird unmittelbar eine Analyse der praktischen Ausrichtungen wie auch der Verständlichkeits- und Rationalitätskriterien einschließen müssen, die in die Konstitution von Geschichte eingehen. Damit bestätigt und verstärkt sich erneut die Verknüpfung von historischem Bewußtsein und menschlichem Selbstverständnis, von Geschichte und Identität. Zugleich hat der Ansatz bei der Sprache im Fall der Geschichte eine besondere Bedeutung. Er bringt unmittelbar dasjenige in den Blick, was faktisch, selber historisch konstituiert, als Geschichte vorhanden ist: die verbal artikulierte Geschichte, ob als mündlich überlieferter Mythos, als Chronik oder als wissenschaftliche, methodisch reflektierte Geschichtsschreibung. Die Nähe zur Historiographie bietet uns zudem die Möglichkeit, in direktem Anschluß an die Analyse der historischen Konstitution auch jene — begriffliche, methodologische und sachliche — Reflexion über Geschichte aufzunehmen, welche in der Geschichtswissenschaft selber artikuliert worden ist. Was der philosophischen Reflexion als Gegenstand vorgegeben ist, ist nicht nur die Dimension transzendentaler Geschichtlichkeit, sondern das historisch entstandene Gebilde Geschichte, das als sedimentierte geschichtliche Reflexion in Kulturen, Texten und Überlieferungen seinen Niederschlag gefunden hat. Alle diese Überlegungen zugunsten des Ansatzes bei der Sprache können, wie gesagt, nur die Funktion einer Plausibilisierung haben, die ihre Bestätigung in der inhaltlichen Ausarbeitung zu finden hat. In noch stärkerem Maße gilt dies für die zweite Vorentscheidung, den Ansatz bei der Erzählung: mit ihr treten wir unmittelbar in eine in der geschichtstheoretischen Diskussion selber kontroverse Sachfrage ein. Die Austragung dieser Diskussion wird zu zeigen haben, daß die Erzählung zwar sinnvoll als Basis der Geschichtssprache und in einem bestimmten Sinn auch als deren Horizont und weitester Rahmen gelten kann, aber keineswegs deren Ganzes ausmacht. Die Analyse der historischen Erzählung soll in drei Schritten geschehen. In einem ersten soll die innere Sprachstruktur der Erzählung und deren Beitrag zur historischen Darstellung geklärt werden. Zweitens ist zu untersuchen, inwieweit von der Erzählung aus das praktische Interesse an Geschichte zu bestimmen ist. Im dritten Abschnitt schließlich ist auf die Grenzen des narrativistischen Ansatzes einzugehen.
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Die narrative Konstitution von Geschichte 1.1.
Erzählende Sät^e und historisches
Ereignis
A. Ausgangs- und Bezugspunkt der neueren Diskussion über Geschichte und Erzählung ist A. C. Dantos „Analytische Philosophie der Geschichte" (1974; engl. 1965). Die Stoßrichtung seines Konzepts einer „analytischen" Geschichtsphilosophie läßt sich zunächst an ihrer Gegnerschaft zur traditionellen, als „substantialistisch" titulierten Geschichtsphilosophie ableiten. Die klassische Geschichtsphilosophie, so Danto, versucht eine umfassende Theorie des Ganzen der Geschichte zu sein, sie macht explizite oder implizite Aussagen über die Zukunft oder beschreibt doch die Gegenwart unter einer Perspektive, die erst der Zukunft zugänglich ist, und sie deutet den gesamten Geschehensverlauf der Weltgeschichte auf einen ,Sinn' oder gar einen ,Plan' hin, der sich in ihr verwirklichen soll. Diese Kritik könnte den Eindruck erwecken, als ob Danto daran gelegen wäre, Geschichte auf den Boden der Empirie zurückzuholen, sie auf das Feld der direkt oder indirekt beobachtbaren Tatsachen einzuschränken. Indes verfehlt auch ein positivistischer Geschichtsbegriff nach seiner Meinung den spezifischen Bereich der Geschichte völlig. Nicht nur tritt Geschichtsschreibung faktisch nicht in der Gestalt einer objektiven Chronik auf, sondern eine solche verfehlte auch im Idealfall, als simultane und vollständige Aufzeichnung dasjenige, was den Geschichtscharakter der erlebten Welt und des historischen Wissens ausmacht. Substantialistische Geschichtsphilosophie und .Ideale Chronik' stellen zwar in ihrem Gegenstandsbezug extreme Gegenpositionen dar. In einer wesentlichen Hinsicht jedoch fallen sie für Danto unter die gleiche Kritik: Beide implizieren ein objektivistisches Geschichtsverständnis, welches sich über den konstruktiven Charakter von Geschichte hinwegsetzt. Diesen herauszuarbeiten, ist die erste Aufgabe einer kritischen Geschichtstheorie. Die Unterstellung der Geschichte als eines .gegebenen' Zusammenhangs, den die Erkenntnis ähnlich aufzunehmen hätte wie räumlich-dinglich vorhandene Komplexe, nur eben in einer andern Dimension und über andere erkenntnismäßige Instanzen, diese Unterstellung übersieht nicht nur die Unvergleichlichkeit von Raum und Zeit, sondern verkennt grundsätzlich die eigentümliche Natur der Geschichte. Geschichte ist ein Gebilde, das nicht nur auf seine Konstitution in menschlichen Handlungs- und Bewußtseinsprozessen hin analysiert werden muß, sondern das selber in ganz spezifischer Weise auf seine Rekonstruktion im geschichtlichen Wissen bezogen ist; diese Rekonstruktion hat eher den Charakter der Konstruktion als der Reproduktion 1 . In der traditionellen Geschichtsphilosophie wird der Konstitutionsprozeß von Geschichte
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Die narrative Konstitution von Geschichte
unbesehens verobjektiviert und darüber hinaus universalisiert: Gegenwart und Zukunft werden gleicherweise geschichtlich integriert wie die Vergangenheit 2 . Auf dieses Überspringen der spezifisch geschichtlichen Konstitutionsleistung zielt der Vorwurf des ,Substantialismus', der damit zugleich die Bedeutung eines Metaphysikvorwurfs annimmt 3 . Nun gibt der Hinweis auf Konstruktivität noch keine nähern Bestimmungen an die Hand, sondern bezeichnet allenfalls eine Fragerichtung. Als Medien historischer Konstitution hat die Geschichtstheorie ganz Verschiedenes herausgestellt: quasinaturhafte Entwicklungsprozesse, reale Handlungszusammenhänge, Bewußtseinsleistungen, Zeitbewußtsein, Erzählen, Verstehen und Erklären von Geschehenem, Rationalisierungen, wert- und sinnorientierte Deutungen. Auch die analytische Geschichtsphilosophie will keineswegs bestreiten, daß mit Bezug auf konkrete Geschichte die verschiedensten Arten solcher Leistungen in Rechnung zu stellen sind. Als fundamentale Konstitutionsstufe aber, die den andern nicht nur vorausgeht, sondern sie auch gewissermaßen übergreift, indem sie erst ihr gemeinsames Medium Geschichte herstellt, begreift Danto den Akt des Erzählens. Geschichte erzählt Geschichten: History tells stories (1974, 184). Während in früheren Geschichtstheorien die Erzählung allenfalls als Moment des historischen Bewußtseins (Hegel, Gesch.ph. 83 ff.) oder als Typus historischer Darstellung (Droysen 1937, § 91) Erwähnung findet, stellt die Erzählung für den geschichtsphilosophischen Narrativismus 4 „den Grundbegriff des Historischen, nicht bloß eine Weise seiner Darstellung" dar (Baumgartner 1976 b, 300). Geschichtliche Existenz impliziert über den Geschehensprozeß hinaus, sozusagen als Minimal-
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Die Erarbeitung des konstruktiven Charakters von Geschichte — im Anschluß an Danto — findet sich am konsequentesten durchgeführt in den Schriften von Η. M. Baumgartner. Auf sie ist hier des öftern implizit Bezug genommen; zur ausführlichen Auseinandersetzung s. 2.4. und 3.2.A. D. h. es werden Zeit- und Erzählformen, die nur auf Vergangenheit applikabel sind, auf Gegenwart und Zukunft angewendet. Nach Baumgartner fällt allerdings auch Danto in Elemente einer metaphysischen Theorie zurück, indem er letztlich auf eine historische Ontologie rekurriert (1972 b, 290 ff.); umgekehrt versucht W. Hardtwig, Baumgartner metaphysische Voraussetzungen nachzuweisen (1974, 66). Damit sind hier im wesentlichen A. Danto, Η. M. Baumgartner und H. Lübbe gemeint. — Auch andere Autoren aus der analytischen Tradition haben sich schon vor dem Erscheinen von Dantos Geschichtsphilosophie mit der Rolle der Erzählung für die Geschichte befaßt, so u.a. Walsh 1951, White 1963 (dazu die Diskussionsbeiträge von Morrow und Nadel in: Hook [Hg.] 1963), Gallie 1964. — In Anknüpfung an Danto hat in der Zeitschrift History and Theory eine Auseinandersetzung über Geschichte und Erzählung stattgefunden: vgl. Mandelbaum 1967, Ely/Gruner/Dray 1969, Louch 1969, Olafson 1970, Dray 1971. — Aus dem französischen Sprachraum stammen wichtige Studien zur Linguistik der Narration (auch im Kontext der Historie), so u.a. Barthes 1966, Genette 1966, Todorov 1966, Faye 1977. Zum Zusammenhang von Geschichte und Erzählung vgl. Ricoeur 1983. — Zur Diskussion im deutschen Sprachraum vgl. Koselleck/Stempel (Hg.) 1973a, Kocka/ Nipperdey (Hg.) 1979.
Erzählende Sätze und historisches Ereignis
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bedingung, ein Element von Selbstvergegenwärtigung, das diesen Prozeß dem geschichtlich Existierenden vorstellig, gewissermaßen verfügbar macht. Diese Selbstvergegenwärtigung läuft über Sprache und des nähern, so die These des Narrativismus, über die spezifische Sprachform der Erzählung; die Autobiographie, die dies exemplarisch illustriert, mag auch als Paradigma für die Art und Weise gelten, wie Gesellschaften und Völker ein bewußtes Verhältnis zu ihrer eigenen Existenz herstellen. Dieses Erzählen ist nicht nur das Erinnern vergangener Geschichte als erkenntnismäßige Leistung, sie ist nicht Reproduktion von etwas, sondern wesentlich Herstellung von Geschichte für jemanden, Geschichte ist von ihrem ersten Auftreten an nur reflexiv zu verstehen. Diese zugrundeliegende Reflexivität — nicht etwa eine besondere Wichtigkeit, die den Ereignissen an sich zukäme — gibt der erinnerten Geschichte ihre besondere Bedeutsamkeit, eine Bedeutsamkeit, an welcher dann auch die Erzählung als solche, ob historisch oder fiktional, partizipiert; „um das banalste Ereignis zu einem Abenteuer werden zu lassen, ist es erforderlich und ausreichend, es zu erzählen" 5 . Für die radikalen Vertreter der narrativen Geschichtsauffassung sind Geschichtsbildung und Erzählung in ihrer grundlegenden Leistung konvergent: „Wenn wir erzählen, sehen wir die Ereignisse in geschichtlicher Perspektive und formulieren Geschichten. Andererseits: konzipieren wir etwas als eine mögliche Geschichte..., so unterstellen wir einen erzählbaren Zusammenhang der Ereignisse mit Anfang, Mitte und Ende" (Baumgartner 1976 b, 279). Fragt man sich, welcher ihrer Qualitäten die Erzählung diese geschichtskonstitutive Leistung verdankt, so ist in erster Linie ihre temporale Verfaßtheit zu nennen. Im Gegensatz zur abbildenden Deskription wie zur begrifflichen Analyse faßt die Erzählung den historische» .Gegenstand in seiner spezifischen, genetischen Bestimmtheit; sie stellt ihn, nach dem Wort Droysens, „in der Mimesis seines Werdens" dar (1937, 361). Darin kommt sie ihm, als historischem, am nächsten, konstituiert sie ihn als geschichtlichen. Sie schmiegt sich der inneren Temporalstruktur des Gegenstandes dadurch an, daß sie ihn zum einen in seiner Zeitlichkeit überhaupt, unter dem Gesichtspunkt der Bewegung darstellt und daß sie zum andern diesen Bewegungscharakter in der Perspektive des zeitlichen Zusammenhangs oder, mit einem geschichtstheoretischen Grundbegriff ausgedrückt: der Kontinuität begreift. Erst dieser zweite Charakter macht das eigentliche Spezifikum der erzählenden Sprache aus. Geschichtliche Bewegung meint eine Entwicklung, die in irgendeinem Sinne ein Ganzes bildet und in einer inneren Beziehung zu einem Anfang und einem Ende steht; genau diese Beziehung soll die Erzählsprache nach vollziehen. Der mimetische Darstellungsakt stellt gleichsam selber eine „Geschichte im Kleinen" dar, „deren Struktur mit derjenigen des .Gegenstandes' identisch ist" (Kaulbach 1978, 63). Der narrative Grundzug, in welchem die konstitutive Leistung historischer Darstellung gründet, kennzeichnet diese als ganze. Auch noch historische Begriffe als solche — Begriffe, die ein historisches Ereignis oder einen Zusammen-
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Sartre, Der Ekel (zitiert nach Danto, S. 6).
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Die narrative Konstitution v o n Geschichte
hang bezeichnen — sind „nichts anderes als Ausdrücke für Erzählzusammenhänge"; „sie stehen für erzählbare Geschichte" (Baumgartner 1976 b, 295)6.
B. Die bloße Grundbestimmung der Erzählung als Mimesis ans Werden führt nun allerdings noch nicht über die traditionelle Vorstellung hinaus. Insbesondere sagt sie noch nichts darüber aus, wie die genannte Kontinuität in der Erzählung hergestellt werden soll; so verhilft sie auch noch nicht dazu, über die narrative Konstitutionsform etwas über die Geschichte selber auszumachen. Zur weiteren Bestimmung der historischen Erzählung gehören zunächst offensichtliche Minimalbedingungen wie etwa die beiden folgenden: Sie muß ,,a) Ereignisse berichten, die wirklich geschehen sind; und b) sie in der Reihenfolge ihres Eintretens berichten oder vielmehr uns in die Lage versetzen, anzugeben, in welcher Reihenfolge sich die Ereignisse zugetragen haben" (Danto 1974, 192f.). Doch geben auch diese beiden Voraussetzungen noch keine zureichende Bestimmung ab, auch wenn sie durch eine weitere ergänzt werden: zu erklären, was geschehen ist. Ausgeschlossen ist damit noch nicht die völlige Disparatheit der berichteten Ereignisse; Erzählung wie Geschichte aber scheinen unter bestimmten Einheitskriterien zu stehen, die die Identität des Themas, des Subjekts — oder wessen auch immer — festlegen. Die Frage nach der Einheitlichkeit von Geschichte führt unmittelbar in einen zentralen Problembestand der Geschichtstheorie; in einem ersten Schritt läßt auch sie sich von der spezifischen Temporalstruktur der „narrativen Organsation" (230) her angehen. Das „allgemeinste Merkmal" erzählender Sätze besteht nach Danto darin, „daß sie sich auf mindestens zwei zeitlich voneinander getrennte Ereignisse beziehen, obwohl sie nur das frühere der beiden beschreiben (oder Aussagen darüber machen), auf die sie sich beziehen. Gewöhnlich bedienen sie sich der Vergangenheitsform" (232). Die ,Dynamisierung', durch welche sich geschichtlicher Bericht und Erzählung von einer statischen Beschreibung ebenso wie von einer bloßen Chronik abheben sollen, zeigt sich schon in der Beschreibung oder gar Benennung des einzelnen historischen Ereignisses. Historische Sätze wie „Petrarca leitete die Renaissance ein" oder Ausdrücke für historische Ereignisse wie „der Ausbruch des ersten Weltkriegs" sprengen die punktuelle Zeitbestimmung und den eigenen Zeithorizont der Fakten, auf die sie Bezug nehmen. Die für Prozessualität wie für Narrativität konstitutive Differenz zeitlicher Referenzpunkte — zumindest im relativen Sinn von früher/später — betrifft bereits das Einzelereignis als solches, sofern es in historischer oder erzählender Perspektive gesehen wird. Schon dieser einfache Tatbestand hat für die geschichtsphilosophische Reflexion bedeutsame Konsequenzen. Er destruiert das Dogma von der Abgeschlossenheit und Unveränderbarkeit der
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Die gleiche These findet sich in universalisierter Form bereits bei Schapp: Begriffe schlechthin sind Abbreviaturen für Geschichten (1959, X I V , 210, 273f., 323f.).
Erzählende Sätze und historisches Ereignis
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Vergangenheit, an dem die naturalisierte (auf der metaphorischen Übertragung räumlicher Relationen beruhende) Zeitvorstellung einseitig festhält. Der Bezug, in den vergangene Ereignisse zu späteren gesetzt werden, variiert mit den jeweiligen Referenzpunkten und ist somit von einer Selektion abhängig, die nicht durch das Ereignis selber vorherbestimmt ist. Wovon diese Wahl auch abhängen mag, jedenfalls ist das Ereignis nicht schon im Zeitpunkt seines Auftretens das, wozu es erst durch diesen Bezug wird. Der „Ausbruch des ersten Weltkriegs" ist, paradox formuliert, erst dann möglich, wenn ihm ein zweiter gefolgt ist. Das Paradoxe einer solchen Formulierung für das natürliche Verständnis gründet in dem quasinaturalistischen Tatsachenbegriff, den dieses Verständnis impliziert und der die Tatsache mit den möglicherweise äußerst komplexen Vorgängen identifiziert, aus denen sie sich real zusammensetzt 7 . Die in Dantos These enthaltene Kritik am objektivistischen Tatsachenbegriff setzt auf zwei Ebenen an. Erstens betont sie, daß das Faktum, das für die natürliche wie für die wissenschaftliche Sprache überhaupt in Betracht kommen kann, immer schon das Faktum in einer bestimmten Beschreibung ist: es gibt nicht so etwas wie ein factum brutum, das von der Erkenntnis originär anvisiert würde und dem dann, je nach Perspektive und Umständen, verschiedene Eigenschaften zuzusprechen wären. Die physikalistische oder phänomenalistische Reduktion verfehlt, gerade indem sie eine Beschreibung der .eigentlichen' Fakten intendiert, die Ebene der wirklichen Tatsachen. Zweitens aber, und dies ist der spezifische Punkt, gibt es unter den verschiedenen möglichen Beschreibungen solche, die erst nach Eintreten eines weiteren Ereignisses möglich sind; sie sind, so Danto, die spezifisch historischen Beschreibungen. Durch die Herstellung solcher Zeitrelationen wird aber das Ereignis selber neu qualifiziert, ja es wird im strikten Sinn erst im nachhinein zu dem so bestimmten Ereignis; dies meint die These von der ,Veränderbarkeit' der Vergangenheit. Diese In-Bezug-Setzung und damit die .Bildung' neuer Ereignisse und .Veränderung' der Vergangenheit ist nicht in der Sprache als solcher begründet, wohl aber wird sie von ihr geleistet. Die Sprache der Geschichte hat für Danto in ähnlichem Sinn eine „rückwirkende Kraft" wie für Nietzsche die Taten großer Individuen, die ihre Vergangenheit in einem neuen Licht erscheinen lassen8. Erst im Medium Sprache — und näher durch die Erzählung — wird Geschichte als solche, wird auch das historische Ereignis konstituiert. In diesem Sinn kann die hier vorgelegte Auffassung mit Baumgartner konstruktivistisch genannt werden. Geschichte ist retrospektive Konstruktion. Diese Auffassung wendet sich schon von ihrem Ansatz her gegen alle jene Theorien, welche den Zugang zur Geschichte über ein Verstehen suchen, das so etwas wie Einfühlung oder Identifizierung mit fremden
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Dieses Verständnis stellt auch die wissenschaftstheoretische Begründung der Objektivität historischer Aussagen v o r erhebliche Schwierigkeiten. — Vgl. dagegen Patzig 1977, 329f.: „Die Tatsache kann nicht in Einzeltatsachen zerlegt werden, jedoch wird man einen Vorgang aus Einzelvorgängen zusammengesetzt denken können. Die Tatsache ρ ist genau das, was den Satz ,p', wenn er wahr ist, wahr macht, nicht mehr und nicht weniger." S. W. 3, 404; vgl. 5, 313 ff.
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Die narrative Konstitution von Geschichte
Subjekten voraussetzt (Danto 1974, Kap. XII). Geschichte ist für die an ihr Beteiligten nicht wahrnehmbar und deshalb auch für den Historiker nicht .nachvollziehbar'. Sie rückt Ereignisse in eine Perspektive, zu der Zeitgenossen nicht nur keinen privilegierten Zugang haben, sondern die ihnen im Gegenteil per definitionem verschlossen bleibt. Die Eigenart dieser retrospektiven Neuqualifizierung wird deutlich in der Abhebung von ähnlichen Phänomenen. Sie unterscheidet sich etwa von jener Neubeschreibung von Sachverhalten, die in der Theorieentwicklung oder kategorialen Veränderung gründet. Sie ergibt sich aus dem Bezug auf partikulare spätere Ereignisse, die mit dem Früheren in ganz kontingentem Zusammenhang stehen können, und sie nimmt als Neuqualifizierung — etwa eines zunächst harmlosen Ereignisses als Beginn einer Katastrophe — ausdrücklichen Bezug auf den Prozeß, durch welchen Früheres in einen Zusammenhang mit Späterem zu stehen kommt. Sie unterscheidet sich aber auch von intentionalen Handlungsbeschreibungen, die einen solchen Bezug gerade zu artikulieren scheinen. Sagen, daß jemand Rosen pflanzt oder ein Buch schreibt, impliziert einen ähnlichen Vorgriff wie der erzählende Satz, daß im Jahre 1452 ein Universalgenie geboren wurde (Danto 1974, 259 ff.). Beide Sätze beziehen sich auf künftige Ereignisse und beschreiben Früheres im Lichte des Späteren, beide verwenden einen Beschreibungstypus, der eine phänomenalistische Reduktion ausschließt. Doch während dieser Ausgriff im einen Fall intentional, durch ein ,Projekt' definiert ist, wird er im andern erst aufgrund eines späteren Ereignisses möglich; dessen faktisches Eintreten gehört zu den Wahrheitsbedingungen des zweiten, nicht des ersten Satzes (264 f.) 9 . Das heißt: Der in der Sprache der Geschichte artikulierte Vorgriff ist nur retrospektiv möglich, er ist ebensosehr Rückgriff. Man mag in dieser Verpflichtung auf Retrospektivität ein erstes Indiz der prinzipiellen Asymmetrie der historischen Zeit sehen. Was dieser erste Schritt der Erzählanalyse für den Begriff der Geschichte einbringt, ist somit zweierlei. Sie stellt erstens den spezifischen Zeitcharakter der Geschichtssprache heraus, und sie erweist zweitens den nicht-intentionalen Charakter des historisch-temporalen Zusammenhangs. Daß die Geschichtssprache in nichtreduzierbarer Weise Zeitsprache ist, möchte der Narrativismus noch an den einzelnen Prädikaten aufweisen, die für die Historie typisch sind. Eine phänomenalistische Übersetzung zeitbezogener Prädikate in tempus-neutrale Beschreibungen ist nicht ohne Bedeutungsverlust möglich: Wie die richtige Verwendung vergangenheitsbezogener Begriffe (wie ,Narbe', .Kanone aus dem ersten Weltkrieg') „logisch eine Beziehung zu irgend einem zeitlich früheren Objekt oder Ereignis einschließt" (Danto 121 f.), so enthält die Verwendung zukunftsbezogener historischer Begriffe (wie ,Anfang des dreißigjährigen Krieges') einen — seinerseits erst in der Retrospektive möglichen — Vorgriff. Allerdings ist klar, daß das Sprengen des 9
Allerdings läßt sich diese Differenz nur festhalten, solange das .Projektverb' im Präsens steht; in Vergangenheitsform, dem eigentlich narrativen Tempus, muß der entsprechende Satz entweder umformuliert werden („x beabsichtigte...") oder er gleicht seine Wahrheitsbedingungen denen des erzählenden Satzes an.
Erzählende Sätze und historisches Ereignis
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Präsens und Ausgreifen auf einen Zeithorizont keinen semantisch expliziten Aspekt aller historischen Texte oder Textteile darstellt. Wohl aber soll es als ein Merkmal geltend gemacht werden, welches die narrative Sprechhaltung als solche kennzeichnet. Was darin zum Ausdruck kommt, ist eine allgemeine Bestimmung von Geschichtlichkeit, die im übrigen nicht nur jene Erfahrung affiziert, die sich explizit als geschichtliche deklariert, sondern weitgehend auch „unsere Erfahrung der Gegenwart" (156). Schon ein großer Teil der sogenannten Erfahrungsbegriffe sind Abbreviaturen für Geschichten, und demgemäß variiert auch die Erfahrung der Gegenwart mit dem unterschiedlichen Vergangenheitshorizont der Subjekte. Ebenso bedeutsam wie die basale Zeitstruktur der Geschichtssprache aber ist der nichtintentionale Charakter des darin konstituierten temporalen Zusammenhangs. Der retrospektive Vorgriff der historischen Erzählung folgt nicht dem Entwurf- oder Antizipationsgehalt des Handelns, sondern einem — jener Intention gegenüber möglicherweise kontingenten und zuwiderlaufenden — Ereigniszusammenhang; als Konstitutionsmedium dieses Vorgriffs — und damit jenes spezifischen zeitlichen Zusammenhangs, der Geschichte und geschichtliche Kontinuität ausmacht - muß dann die historische Erinnerung oder Erzählung selber angesetzt werden10.
C. Die Nicht-Eliminierbarkeit von Zeitbezügen zeigt sich neben der .internen' Zeitdifferenz des Erzählten auch in der allgemeinen Vergangenheitsform der erzählenden Sprache. Für den Erzählsatz heißt das, daß er drei Zeitpunkte unterscheidet: Das Bezugsereignis ist später als das mit Beziehung auf es beschriebene Ereignis, aber früher als der Akt des Erzählens selbst. Die Frage, ob diese zweite Zeitdifferenz eine kontingente Sprachform darstellt, wird von Danto prinzipiell erörtert in seiner im Anschluß an Aristoteles (De Interpretatione 19 a) geführten Auseinandersetzung mit dem sogenannten ,logischen Determinismus'. Dieser vertritt die These, daß Wahrheitswerte zeitlose Eigenschaften von Sätzen darstellen. Allerdings sind dabei Sätze nur dann wirklich als Sätze — und nicht als bloße Satzfunktionen — anzusehen, wenn sie den Zeitpunkt des geschilderten Ereignisses spezifizieren, wenn sie also mit absoluten Zeitindizes versehen sind (1974, 317). Zeitförmige Aussagen ließen sich demnach, unter Hinzufügung entsprechender Indizes, in zeitneutrale Sätze transformieren; der Vergangenheitsbezug bestimmter Sätze hat dann keine besondere Auszeichnung gegenüber Sätzen in Zukunfts- oder Gegenwartsform. Doch eine solche Substitution „zeitloser Äquivalente für zeitför-
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Gegen Danto und Baumgartner weist W. Schiffer die ausschließliche Fixierung der Historie auf erzählende Sätze zurück; gegen sie möchte er gerade die Interferenz von „intentionalen" und „retrospektiv bezugnehmenden Beschreibungen" geltend machen. Allerdings wird in dieser — an sich berechtigten — Korrektur der sprachlichen Basis die Pointe der narrativistischen These — der konstruktive und nicht-intentionale Charakter der Geschichte — zu unrecht aufgegeben (1980, 34 ff.).
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Die narrative Konstitution von Geschichte
mige Aussagen" (319), so die Gegenthese des Narrativismus, wäre nur unter Informationsverlust möglich, und zwar unter Verlust des hier wesentlichen Informationsteils, welcher die zeitliche Stellung des Sprechers zu dem von ihm berichteten Ereignis angibt. Nur im Vergangenheitstempus ist jene zuerst genannte Zeitdifferenz so möglich, daß der .Vorgriff vom ersten auf das zweite nicht ein spekulativer oder bloß intentionaler ist, sondern auf historischem Wissen beruht. Außer dem relativen Vergangenheitsbezug des früher/später enthält die Sprache der Geschichte den .absoluten' Vergangenheitsbezug des Erzählakts selber. Was darin, außer der Möglichkeit empirischen Wissens, zum Ausdruck kommt, bleibt noch zu klären. Die erste Konsequenz, die der Narrativismus aus der grundsätzlichen Retrospektivität der Geschichtssprache zieht, ist die, daß der Begriff einer künftigen Geschichte entweder leer oder inkonsistent ist. Zur Zukunft, ja zur Gegenwart selber, sofern sie nicht den Charakter des bereits Abgeschlossenen für uns hat, können wir in diesem Sinne kein geschichtliches Verhältnis haben, und dies nicht deshalb, weil wir faktisch kein Wissen von der Zukunft haben, sondern weil dasjenige, was wir von ihr wissen oder wissen können, nichts Geschichtliches ist. Allerdings mag diese Limitierung als nicht unproblematisch erscheinen. Es wird zu fragen sein, ob sich hier nicht eine Einseitigkeit anzeigt, die dem narrativistischen Ansatz als solchem anhaftet; auch die strikte Zurückweisung eines zumindest auch zukunftsbezogenen Geschichtsbegriffs, der von Danto im Anschluß an den Kritischen Rationalismus schlicht als .Prophetie' abgetan wird, braucht nicht schon die ganze Wahrheit zu sein. Möglicherweise lassen sich auch von einer am Erzählbegriff orientierten Geschichtstheorie aus Perspektiven entwickeln, welche die Bedeutung der Zukunftsdimension in ganz anderer Weise zur Geltung bringen 11 . Doch unabhängig von der Fraglichkeit dieses Ausschlusses der Zukunft bleibt die Asymmetrie des geschichtlichen Zeitbezugs als ein wichtiger Aspekt der narrativen Analyse festzuhalten, der in späteren Kontexten seine Bestätigung wie seine Konkretisierung finden wird. Für den Geschichtsbezug hat er eine unmittelbar .praktische' Bedeutung. Nach Weinrich fungiert das Vergangenheitstempus weniger als Auskunft „über den Zeitpunkt des Geschehenen" denn als Indiz einer bestimmten „Sprechhaltung Erzählung" (1973a, 416, 419), einer Sprechhaltung, die ein bestimmtes Verhältnis des Erzählers (Hörers, Lesers) zur erzählten Geschichte markiert. Was darin als erstes bedeutsam ist12, ist vor allem der „Zusammenhang von Abgeschlossenheit und Vergangenheit" (Stierle 1973a, 355). Die Zeitform narrativer Texte ist „das Tempus der Abgeschlossenheit", welches eine „Perspektive der Überschau" ermöglicht, in der sich erst Zusammenhänge und Ganzheiten zu bilden vermögen (ebd.) 13 . Das Subjekt, das seine Geschichte narrativ-restrospektiv vergegenwärtigt oder konstituiert, macht Vergangenheit für sich zu einem Überschauba-
» Vgl. 1.3.1. 12 13
Dazu grundsätzlicher: 1.2.2. Vgl. Gadamer 1960, 282.
Erzählende Sätze und historisches Ereignis
23
ren, in bestimmtem Maß auch Versteh baren oder Deutbaren; die — je vorläufige — Abgeschlossenheit des Vergangenen gewährleistet gewissermaßen seine Verfügbarkeit für den geschichtlich existierenden Menschen, die Möglichkeit der Aneignung von Geschichte. Wie sich ein konkretes Selbstverhältnis im Ausgang von der so .verfügbaren' Geschichte herstellt, bleibt damit noch unbestimmt. Auch diese Unbestimmtheit gründet zum Teil in der narrativen Struktur als solcher und genauer: in der mit ihr notwendig verbundenen Partikularität und Selektivität. Die verschiedenen Perspektiven, in welche Ereignisse durch ihre Inbezugsetzung zu anderen gerückt werden, sind nicht durch sie selber festgelegt; die Wahl der Bezugspunkte hängt zum Teil von der Eigenbedeutung der späteren, auf die ersten .rückwirkenden' Ereignisse, zum Teil aber immer auch von Faktoren der Erzählsituation und der Erzählintention selber ab. Die herstellbaren Bezüge für das einzelne Ereignis sind vielfältig und prinzipiell nicht erschöpfbar; die Darstellung von Vergangenem ist immer partikular, nie abgeschlossen und definitiv. Α fortiori verbietet diese Partikularität die Konstitution der umfassenden, totalen Geschichte, der Universalgeschichte. Die unabdingbare Partialität der Geschichte — auch der Geschichte der Vergangenheit — ist letztlich Folge der Offenheit der Zukunft, welche auch die Unabgeschlossenheit der Gegenwart impliziert, unter deren Bedingungen Geschichte geschrieben wird. Ebenso beinhaltet die Partialität den Zwang zur Wahl: Geschichtskonstitution ist notwendigerweise selektiv. Nun kann es offensichtlich nicht genügen, solche Bestimmungen deskriptiv aufzuweisen. Vielmehr stellen gerade sie entscheidende Probleme der Geschichtsphilosophie dar. Es kann nicht befriedigen, die Idee einer umfassenden Geschichte einfach als wissenschaftlich unhaltbar abzutun, wenn sie faktisch gleichwohl eine bedeutsame Rolle in der praktischen Funktion von Geschichtsvorstellungen spielt. Ebenso bedarf die Bestimmung der Selektivität einer radikaleren Erörterung. Danto begnügt sich hier mit dem Hinweis, daß die narrative Organisation notwendig mit einem „unausrottbaren subjektiven Faktor" und damit einem „Moment reiner Willkürlichkeit" behaftet sei (231). Offenkundig deutet eine solche Auskunft eher eine Leerstelle an als daß sie ein Problem wirklich beantwortete. Für uns stellt sich auch hier die Frage, ob sich darin nicht eine prinzipielle Schranke anzeigt, die der geschichtsphilosophischen Reflexion im Rahmen des Narrativismus gesetzt ist. Um darauf antworten zu können, ist über die bisher nachgezeichnete Analyse der Erzählung hinauszugehen. Zum Übergang nötigt auch der Begriff der Geschichte selber. Was bisher thematisch war, war die Struktur narrativer Sätze, und, in deren Horizont, die retrospektive Einordnung eines Ereignisses in einen Bezugsrahmen, durch den es eine neue Bedeutung gewinnt und eigentlich erst als historisches Faktum konstituiert wird. Nun ist Thema der Geschichte die Darstellung dieses Zusammenhangs selber. Die historische Tatsache ist noch nicht die Geschichte. Erst auf der Ebene des historischen Zusammenhangs kommen die entscheidenden Fragen der Geschichtstheorie in den Blick: die Fragen nach der inhaltlichen Bestimmung, den Konstitutionsmedien, den Verlaufsmustern und Einheitskriterien historischer Prozesse.
24
Die narrative Konstitution von Geschichte
Dieser Perspektivenerweiterung entspricht eine Akzentverschiebung auf der Seite der narrativen Konstruktion. Der geschichtliche Prozeß kommt nicht mehr im ,erzählenden Satz' zur Darstellung, sondern nur in der Erzählung selber.
1.2.
Erzählung und geschichtlicher
Zusammenhang
A. Insbesondere die linguistische Erzähltheorie hat klargemacht, daß eine Theorie der Erzählung nicht auf der Ebene des Satzes, sondern nur auf der des Textes (Stierle 1973 a, 346) oder des Diskurses (Barthes 1966) geleistet werden kann. Von .erzählenden Sätzen' zu sprechen, ist in ihren Augen zumindest mißverständlich. Die Erzählung, als ein Typus des Diskurses, ist nach R. Barthes „jenseits des Satzes" (1966, 3). Für W.-D. Stempel gibt es „keine absoluten oder selbständigen narrativen Sätze" (1973 a, 327); für die Textlinguistik bildet der Text überhaupt das „originäre sprachliche Zeichen", wobei Sätze „nur instrumentalen Charakter als Textbildungsmittel haben" (P. Hartmann 1971, 10, 16). „Erzählende Rede setzt als Minimalbasis zwei zusammenhängende und als narrative Sequenz interpretierbare Sätze voraus; sie konstituiert sich erst in der sprachlichen Entfaltung des Wandels, den sie als Prozeß darstellt, nicht jedoch in seiner Erwähnung, Behauptung, Feststellung" (Stempel 1973 b, 525). Auch Danto selber geht an späterer Stelle seines Buches, in der Erörterung der erklärenden' Funktion von Erzählungen, zu einer umfassenderen Bestimmung der Erzählung über — allerdings ohne die Akzentverschiebung ausdrücklich zu vermerken 14 . Die Erzählung, so betont er gegen den üblichen Ansatz der Erklärungsdebatte, hat nicht einfach ein Ereignis zum Gegenstand, sondern eine „Veränderung' (371), in der es gerade „um die Verbindung ^wischen den Ereignissen" geht (374); sie erzählt eine Geschichte, die „einen Anfang, einen mittleren Teil und ein Ende" hat (372). Damit kommen Implikate der narrativen Struktur in den Blick, die sich aus dem narrativen Satz als solchen nicht ergeben. Sie betreffen insbesondere den Einheits- oder Einheitlichkeitsaspekt, der einer Geschichte zukommt: Als Darstellung einer Veränderung muß die Erzählung eine „implizite Beziehung auf ein kontinuierliches Subjekt" haben (375); als .erklärende' Darstellung hat sie, in Analogie zu einem Beweisgang, gewissen formalen „Bedingungen für die Einheit der Erzählung" (398) zu genügen. Als nähere Bestimmungen dieser Einheit schlägt W.-D. Stempel zunächst jene Bedingungen vor, „deren Erfüllung die Homogenität des Ablaufs im Sinne eines
14
Dies mag damit zusammenhängen, daß dem .erzählenden Satz' und der .Erzählung' gemeinsam ist, auf mindestens zwei verschiedene Zeitpunkte Bezug zu nehmen; dabei tritt die Differenz in den Hintergrund, daß im einen Fall die Aussage intentional nur auf das eine Ereignis, im andern auf beide (genauer auf die Verbindung zwischen ihnen) gerichtet ist. — Als Zwischenklasse kann man die Klasse der komplexen Ereignisse betrachten, die Danto als „temporale Strukturen" beschreibt (267).
Erzählung und geschichtlicher Zusammenhang
25
Wandels gewährleistet" (1973a, 328). Dazu zählen etwa die „Referenzidentität des Subjekts" als des einheitlichen Bezugspunktes eines Handlungs- oder Sinnzusammenhangs — womit weder die Konstanz eines ontologischen noch eines grammatischen Subjekts15 impliziert zu sein braucht —, die „Solidarität der Fakten", d. h. ihre Zugehörigkeit zum gleichen Abstraktionsgrad als Voraussetzung ihrer In-BezugSetzung, die „Korrelierbarkeit" und „Kontrastierbarkeit der Prädikate" als Voraussetzung der Darstellung einer Veränderung (Ausschluß der Synonymität) sowie die „chrono-logische Ordnung" (329 f.). Doch ist auch mit der Gesamtheit dieser Bedingungen, die so etwas wie eine „Verlaufskonsistenz" (336) sichern, die Einheit einer Erzählung noch nicht adäquat erfaßt. Eine Erzählung muß nicht nur etwas als möglichen Verlauf darstellen, sondern zeigen, wie spätere Stadien einer Entwicklung mit früheren zu tun haben, deren mögliche Resultate sind, auch wenn sie keineswegs aus ihren Antezedentien notwendig zu folgen brauchen. Für die Herstellung einer solchen Beziehung stellen die genannten Momente erst notwendige, nicht hinreichende Bedingungen dar. Sie sind durch andere Bestimmungen zu ergänzen, welche die Elemente einer narrativen Sequenz auf inhaltlicher Ebene so in Beziehung setzen, daß ihre Abfolge über die zeitliche Ordnung hinaus intelligibel wird. Dies geschieht etwa durch Einfügen von Informationen, die nicht selber,Stationen' der Ablaufskette darstellen, aber deren Zusammenhänge einsichtig und damit die Erzählung verständlich werden lassen16. Stempel — in Übereinstimmung mit zahlreichen anderen Autoren — führt solche komplementären Momente als Beschreibungse.lemente in die narrative Struktur ein17. Um das Zusammenspiel dieser beiden Sprachebenen genauer zu fassen, sind die jeweiligen Elemente in ihrer Leistungsfähigkeit zur Konstruktion von Zusammenhängen näher zu bestimmen. Im Fall der Erzählung besteht die basale Art einer solchen Konstruktion — neben dem Festhalten an einem identischen ,Subjekt' als Referenzpol der Erzählung — in der Abbildfunktion gegenüber dem realen Zeitverlauf. Nicht nur eröffnet die Erzählung einen abstrakten Zeitraum, sondern sie folgt einer ,gerichteten' Zeit; wo sie .rückwärts' erzählt, macht sie diese Umkehrung mit thematisch. Als Basis ihrer Organisationsform können Oppositionspaare gelten, „deren Richtungssinn" oder „Konsekutivverhältnis" festgelegt ist (wie „Leben — Tod, jung — alt, unerfahren — erfahren") (Stierle 1973 a, 353). Was diese Festlegung nun ihrerseits begründet und dem ,resultativen Bezug' zugrundeliegt, kann nicht selbst wieder als Zeitrelation definiert werden. Es ist eine logische Relation, die in der Geschichtstheorie (und namentlich in der Diskussion der historischen Erklärung) in
15 16
17
„X bat, Y gewährte" erfüllt die genannte Bedingung (ebd.). Dray 1969, 288: „Intelligible narrative requires knowledge of a background, whether actually sketched or only assumed." Komplementarität ist dabei in dem strikten Sinn zu verstehen, daß die Erzählung keinen für sich autonomen Sprachmodus darstellt. Auch wenn sie den letzten Bezugsrahmen der historiographischen Darstellung bilden mag, ist sie auf linguistischer Ebene der beschreibenden Rede als der allgemeineren Sprachform untergeordnet (1973 a, 343; vgl. 326; Genette 1966, 156f.).
26
Die narrative Konstitution v o n Geschichte
den verschiedensten Varianten gefaßt worden ist — vom Kausalbezug auf der einen bis zum Sinnbezug auf der andern Seite. Dem narrativen Schema besonders naheliegend scheint das Verhältnis von Teil und Ganzem zu sein, mit dem denn auch verschiedene Autoren aus der analytischen Tradition den Zusammenhang, den Geschichte narrativ herstellt, zu bestimmen suchen — sei es, daß sie darin eine strikte Alternative (Mandelbaum 1967, 418 f.) oder aber eine Ergänzung zu der von Danto primär betonten Zeitstruktur sehen (Ely/Gruner 1969, 280, 283). In einer radikalen und aufschlußreichen Fassung ist die Komplementarität zweier Dimensionen in der Erzähltheorie von R. Barthes ausgesprochen. Das Verstehen einer Erzählung impliziert nach ihm zwei grundverschiedene Verstehensoperationen, es bewegt sich sozusagen in zwei Richtungen, einer .horizontalen' (,distributioneilen') und einer .vertikalen' (.integrativen'); erst im Zusammenspiel beider Verhältnistypen konstituiert sich der ,Sinn' einer Erzählung (1966, 5 f.). Ihr Zusammenwirken kann im Text verschiedene Form annehmen. Entweder sie werden in distinkten Einheiten zur Geltung gebracht, etwa im Einfügen von Informationen, die nicht selber Elemente des narrativen Handlungsstrangs sind, aber eine Handlung näher qualifizieren, den weiteren Kontext von Ereignissen beschreiben oder den Ubergang zwischen den eigentlich narrativen Einheiten verständlich machen. Oder die beiden Ebenen werden nicht gegeneinander ausartikuliert. Es scheint sogar spezifisch für die Erzählung zu sein, die beiden Richtungen zu fusionieren, genauer: die vertikale Dimension auf die horizontale zu projizieren 18 . Gerade die Fusion von logischen und zeitlichen Relationen ist nach Barthes das eigentliche Prinzip der Erzählung: « Tout laisse ä penser, en effet, que le ressort de l'activite narrative est la confusion meme de la consecution et de la consequence, ce qui vient apres etant lu dans le recit comme cause par; le recit serait, dans ce cas, une application systematique de l'erreur logique denoncee par la scolastique sous la formule post hoc, ergo propter hoc" (10). Systematisch gesehen, stellt zwar die Beschreibung die allgemeinere Sprachform dar, die auch ohne Narration bestehen kann, während die Narration, soll sie nicht in Inkohärenz zerfallen, ohne deskriptive Elemente nicht auskommt. Doch trotz dieser Abhängigkeit spielt das narrative Element in der konkreten Erzählung die Hauptrolle, der gegenüber die Deskription eine bloße Hilfsfunktion erfüllt 19 . Konsequent folgert denn auch Barthes, daß eine strukturalistische Theorie der Erzählung die Subordination aufzuheben und die Projektion der Logik auf die Zeit rückgängig zu machen, die „illusion chronologique" aufzudecken hat: „C'est ä la logique narrative ä rendre compte du temps narratif" (12). Die erzähltheoretische Unterscheidung von .Logik' und .Zeit', Integration und Distribution, findet in der Geschichtstheorie eine Konkretisierung in der Unterscheidung von Ereignis und Struktur. Oder auf die beiden Sprachmodi bezogen: Strukturen werden beschrieben, Ereignisse werden erzählt (Koselleck 1973 c, 560). 18 19
Vgl. Todorov 1966, 130. Genette 1966, 157; Genette unterscheidet hier zwischen der Erzählung im weiten Sinn (recit) und ihren beiden Momenten, der Erzählung im engen Sinn (narration) und der Beschreibung (description).
Erzählung und geschichtlicher Zusammenhang
27
Insbesondere in der Tradition des Strukturalismus ist gegen die traditionelle ,Ereignisgeschichte' die Notwendigkeit einer Strukturgeschichte betont worden, welche dann als „Fundamentalgeschichte" der Ereignisgeschichte als Oberflächengeschichte systematisch vorgeordnet wird (Greimas 1973). Der Streit um die Strukturbetrachtung hat in den letzten Jahrzehnten, zum Teil gerade in der Antwort auf die Herausforderung durch den Strukturalismus, mit im Zentrum der Auseinandersetzungen nicht nur der Geschichtswissenschaft, sondern der Sozialwissenschaften überhaupt gestanden20. Für die meisten Autoren jedoch, auch wenn sie bestimmte strukturelle Gegebenheiten als Voraussetzung von Geschichte herausstellen (Tenbruck 1972, 49; Koselleck 1973 c, 526 ff.) und die Komplementarität beider Gesichtspunkte in der historiographischen Darstellung unterstreichen (Faber 1975, 25 ff.), bleibt Geschichte irreduzibel auf Strukturanalyse; es bleibt ein „Hiatus" und ein „unauflösbarer Rest" an Ereignishaftigkeit, ohne den das geschichtliche Phänomen der „Novität" nicht erklärbar wäre (Koselleck 1973c, 565 f.; vgl. Tenbruck a.a.O. 52). Angesichts der Komplementarität und Nicht-Reduzierbarkeit von Struktur und Ereignis mag die systematische Gewichtung beider zum Teil eine Frage der Einschätzung sein. Doch scheint die These von Habermas eine breiten Konsens auszusprechen, daß für Geschichte letztlich der Ereignisaspekt und somit das narrative System den allgemeinsten Bezugsrahmen darstellt. Die „Soziologisierung der Ereignisgeschichte" führt für ihn „nur zu einem andern Typus von Geschichtsschreibung", nicht jedoch etwas anderem als Geschichtsschreibung" (1976 b, 209). Es wird durch sie zwar etwa das Eigengewicht aggregierter Daten — und damit auch die „explanatorische Funktion der Erzählung" — stärker betont, nicht aber deren kategorialer Rahmen gesprengt (213). Es ist offensichtlich, daß eine solche Einordnung der Forderung Barthes' konträr entgegensteht, das Ereignis von der Struktur oder die ,Zeit' von der ,Logik' her aufzuklären. Ganz unverkennbar handelt es sich hier nicht um einen reinen Methodenstreit. Die Transformation der Sprache, die sich sowohl im Bereich der literarischen Erzählung wie der Geschichtsschreibung verfolgen läßt, ist selber ein historisches Faktum, das im Kontext umfassenderer geschichtlicher Veränderungen zu sehen ist. Das Plädoyer für eine nicht mehr narrative Historie (Szondi 1973) reflektiert gleichzeitig eine Gegenwartsdiagnose, in der menschliche Lebenswirklichkeit nicht mehr mit den Kategorien des traditionellen Geschichtsverständnisses faßbar scheint. Die Auseinandersetzung um die Grenze der Erzählung hat selber einen geschichtlichen Ort, und sie wird letztlich nicht losgelöst von einer selber historischen Reflexion auszutragen sein21. Unabhängig von der Frage des Primats der einen oder
20
Die Auseinandersetzung betrifft namentlich die strukturalistische Ethnologie (LeviStrauss) und die Historikerschule der,Annales' (Bloch, Febvre, Braudel), daneben auch den strukturalistischen Marxismus (Althusser, Godelier). Vgl. Conze 1957; verschiedene Aufsätze in Koselleck/Stempel (Hg.) 1973 b; Kocka/Nipperdey (Hg.) 1979; Schmidt 1971; zur Auseinandersetzung von Sozialwissenschaften und Geschichte vgl. Ludz (Hg.) 1972; Bühl (Hg.) 1975; Wehler (Hg.) 1972a.
21
Vgl. 1.3.2.
28
Die narrative Konstitution von Geschichte
andern Seite bleibt vorerst die Tatsache der .Zweidimensionalität' historischer Darstellung festzuhalten und ihre begriffliche Klärung einen Schritt weiter zu führen. B. Das Prinzip der Unterscheidung beider Seiten sieht Stempel darin, daß die narrative Ereignisdarstellung sich auf der „Ebene des temps de l'enonce" bewegt, während die beschreibenden Aussagen zur „Ebene der enonciation" gehören und somit „mit dem performativen Index (ich sage, daß) ausgestattet sind, der . . . für narrativ integrierte Sätze nicht in Frage kommen kann" (1973a, 333). Die Zurückführung der Beschreibungsrede auf den Aussageakt betont nicht nur den Wahrheitsanspruch der Aussage, obwohl auch dies ein wesentlicher Aspekt sein kann — so etwa wenn die Historie in ihren deskriptiven Partien u.a. die dokumentarische Absicherung des narrativ Entfalteten unternimmt. Durch den performativen Akt wird darüber hinaus ein Geltungsanspruch allgemeinerer Art in Kraft gesetzt, ein Anspruch auf Verständlichkeit — wenn nicht, in einem noch zu präzisierenden Sinn, auf Begründbarkeit und Rationalität — des Erzählten. Der durch die Narration ,horizontal' vorgezeichnete Zusammenhang wird erst durch die ,vertikale' Integration wirklich verstehbar. Die beschreibende Rede bringt in all ihren Formen „das Prinzip zur Geltung, nach dem sich ihre Ordnung bemißt: das Prinzip der gedanklichen Kohärenz" (344). Zwar leistet bereits die narrative Organisation, sofern sie die genannten formellen Homogenitätsbedingungen erfüllt, mehr als die zeitreferentielle Abbildung des Geschehens; sie interpretiert dieses anhand „bestimmter vorgegebener Verlaufsmuster" (336) und konstituiert so etwas wie eine „resultative Beziehung" (328) — eine in bestimmtem Sinn ,logische' und einsichtige, aber als solche nicht notwendige Beziehung („X wurde krank und starb"). Die „innere Notwendigkeit" ist demgegenüber „Gegenstand der Beschreibungsrede, die gerade auf Fragen eingeht, die sich auf der narrativen Achse ergeben, indem sie durch entsprechende Qualifikationen Quasi-Syllogismen . . . nahelegt oder gar formuliert". Der Anspruch auf eine höhere Intelligibilität als die einer bloßen „Verlaufskonsistenz" bleibt dabei unberührt von der Frage, inwieweit die gelieferte deskriptive Begründung „als zureichend empfunden" wird (336). Es ist nun allerdings wichtig zu präzisieren, wie ein solcher Anspruch in der Erzählung zum Tragen kommt. Stempel nennt drei Grundtypen der in der Erzählung vorkommenden Beschreibungsrede: die Qualifikation, die Explikation und die explizite Stellungnahme (332 f.). Die erste ergänzt das Ereignis durch Zustandscharakterisierungen, nennt nähere Umstände seines Zustandekommens; es sind Daten, die nicht selber in die Ereigniskette eintreten und nicht im gleichen Maß zeitreferentiell gebunden sind wie die Ereignisse. Der zweite Typus, die Explikation, kann als Umkehrung der Narration, als Erzählung ,νοη hinten' aufgefaßt werden, welche durch Bezug auf ein vorausgehendes Geschehen ein Ereignis näher charakterisiert, in seiner Genese verständlicher macht. In der interpretatorischen Stellungnahme schließlich wird der metanarrative Status und performative Index der
Erzählung und geschichtlicher Zusammenhang
29
Beschreibung explizit artikuliert. Auf der inhaltlichen Ebene ist der Unterschied zwischen den beiden ersten Stufen, die eine „gedankliche Vertiefung der Erzählung" (343) intendieren — und in deren Fluchtlinie das steht, was üblicherweise als .Erklärung' in der Geschichte thematisiert wird —, und der dritten Stufe augenfällig. Er widerspiegelt sich in einem verbreiteten Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft, welches zwar die Explikation des Geschehens als Aufgabe der Historie betrachtet, aber jede urteilende oder wertende Stellungnahme ablehnt. Gemeinsam ist allen drei Formen, die zeitlich-resultative Beziehung durch eine andere Verhältnisweise zu ergänzen und sie gegebenenfalls in dieser zu fundieren (oder etwa im negativen Fall das Fehlen einer solchen Fundierung und damit die Zufälligkeit des Verlaufs zu indizieren). Offenkundig aber ist, daß diese ,Fundierung' ganz verschiedene Gestalt annimmt, je nachdem ob sie eine Verlaufsschilderung nur genauer vorstellig macht, sie plausibler macht, sie durch eine Kausalanalyse als notwendig erweist oder gar durch rationale Begründungen als gerechtfertigt oder .vernünftig' erscheinen läßt. Gleichwohl, so Stempel, kommt dieser Differenz bezüglich des grundsätzlichen Status der nicht-narrativen Elemente „keine ausschlaggebende Bedeutung" zu (344). Die ausdrückliche Stellungnahme bringt lediglich das Prinzip zum Ausdruck, nach dem sich auch die andern deskriptiven Aussagen bemessen, das Prinzip der gedanklichen Kohärenz. Die narrativ nicht integrierten Momente der Erzählung stellen insgesamt „potentielle Faktoren der Erklärung und des Verständnisses" (1973 b, 525) dar und bilden so die Voraussetzung dafür, daß Geschichte aufgearbeitet, angeeignet und in das Selbstverhältnis von Personen und Gesellschaften integriert werden kann 22 . Auf die prinzipielle Komplementarität von Erzählung und explizierender Beschreibung hinzuweisen ist gerade dann bedeutsam, wenn der narrativistische Ansatz in einer radikalen, konstruktivistischen Fassung — wie etwa bei Baumgartner — zur Geltung gebracht werden soll. Der konstruktive Aspekt, soweit er zu Recht betont wird, muß über die narrative Seite hinaus erweitert werden. Es ist nicht so, daß Geschichte in der narrativen Artikulation .konstituiert* würde, und daß sich dann nebenbei und darüber hinaus auch noch die Frage stellte, wie das so artikulierte Geschehen zu .erklären' sei. Dantos Geschichtsphilosophie erweckt in gewissem Maß tatsächlich den Eindruck, mit zwei getrennten Sachfragen befaßt zu sein: auf der einen Seite mit Grundfragen der Geschichtskonstitution, die im Rückgriff auf die Erzähltheorie abgehandelt werden, auf der andern mit der .wissenschaftstheoretischen' Problematik der historischen Erklärung; nicht zufallig wird auf das, was im Text der Geschichte an nicht-narrativen Zwischenformen vorkommt, kaum eingegangen 23 . Seinem Ansatz wie dem Baumgartners gegenüber ist festzuhalten, daß zur 22
23
Eine andere Unterscheidung deskriptiver Elemente innerhalb der Erzählung findet sich bei Lämmert (1955), 87—90. Unterscheidungskriterium ist die Ferne oder Nähe zum erzählten Gegenstand; an den Extremen der Skala befinden sich die eigentliche .Beschreibung', die „aus allernächster Perspektive" darstellt, und die .Sentenz', die Reflexionen „sub specie aeternitatis" anstellt. Gemeinsam ist der ganzen Skala das Auflösen der „zeitlichen Ordnung zugunsten eines thematischen bzw. sachlichen Gefüges" (89). In anderem Kontext geht auch Danto auf die .Beschreibung' ein (als V o r f o r m der
30
Die narrative Konstitution v o n Geschichte
Konstitution von Geschichte ebensosehr die Beschreibungs- und Erklärungsmomente gehören24. Individuen, Gesellschaften oder Völker bilden ihre Geschichte und beziehen sich auf ihre Geschichte so, daß sie gleichzeitig mit deren (narrativer) Präsentation diese auch zu begreifen suchen, Geschichte so erzählen, daß sie intelligibel und damit zum möglichen Bezugspunkt des eigenen Selbstverständnisses wird — wie defizient, implizit oder verfälscht die faktisch gelieferten Erklärungen auch immer sein mögen. Gerade weil es aber keineswegs belanglos ist, von welcher Art und Reichweite diese Selbstverständigung ist, ist auch die Unterscheidung der verschiedenen Ebenen nicht-narrativer Rede in der Geschichtserzählung von Belang. Sie verweisen auf verschiedene Typen der Geschichtskonstitution, ja sie markieren darüber hinaus möglicherweise Grenzen von Geschichte und geschichtlicher Identitätsbildung — so wenn etwa bestimmte ,Erklärungsformen', die sich an Kriterien praktischer Vernünftigkeit orientieren, aus der historischen Erklärung ausgeschlossen (und ins Gebiet der Ethik verwiesen) werden. Die Klärung des Geschichtsbegriffs — und mit ihr die Reichweite von Geschichtsphilosophie und deren Bedeutung für die praktische Philosophie — hängt wesentlich davon ab, welche Verständlichkeits- und Rationalitätsimplikate für die .Konstitution' von Geschichte angenommen werden. Damit ist eine Frage benannt, die über die Erzähltheorie hinaus auf die historische Erklärens- und Verstehensproblematik verweist (Teil II). Zunächst aber soll im Ausgang vom narrativistischen Ansatz eine grundsätzliche Bestimmung dessen versucht werden, was man global als praktische Funktion' der Geschichtskonstitution bezeichnen kann. Damit rückt die thematische Leitfrage der Untersuchung wieder ins Zentrum. Gerade wegen des engen Zusammenhangs der .theoretischen' Konstitution von Geschichte mit ihrer lebensweltlich-praktischen Funktion scheint es geboten, die verschiedenen Schichten des sprachlichen Gebildes Geschichte unmittelbar im Horizont ihrer identitätsstiftenden Leistung zu betrachten. Die Leitfrage wird so in sukzessiven, sich teilweise überschneidenden Einsätzen zur Sprache gebracht; dabei führt die Frage nach der .praktischen' Funktion von Geschichte ihrerseits zur weiteren begrifflichen Explikation der Formen historischer Konstitution. Zunächst ist also von der Voraussetzung auszugehen, daß Geschichte narrativ konstituiert wird oder zumindest Erzählung als ihren äußersten Horizont voraussetzt, und zu fragen: Warum erzählen sich Individuen und Gesellschaften ihre Geschichten? Welches ist das Interesse an einer so entworfenen Geschichte, und welches ist die Leistung einer solchen Konstitution von Geschichte?
24
Erklärung: als ein Systematisierungsschema, das seinerseits erst durch Subsumtion unter Gesetze .erklärt' wird; so z.B. der Fortschritt von Kepler zu Newton) (13ff.). Von der Gegenseite her betont Habermas den gleichen Zusammenhang, wenn er meint, „daß historische Erklärungen nur hinreichend analysiert werden können, wenn man die logische Form der Erklärung im Zusammenhang mit den gegenstandskonstitutiven Grundbegriffen der historischen Darstellung untersucht" (1976 b, 252). — In einem späteren Aufsatz (1979) räumt Baumgartner der Erklärung einen wichtigeren Platz ein als in (1972 b); die These aber bleibt, daß Erklärung auf Erzählung ausgerichtet sei und daß diese konstitutionslogisch die Grundstruktur des Historischen ausmache.
2.
Die praktische Funktion der historischen Erzählung 2.1.
Sprache und Praxis
Um das Interesse an Geschichte im Rahmen des Narrativismus aufzuhellen, haben wir die Frage gleichsam von beiden Seiten her aufzunehmen: Wenn Erzählung eine nicht-kontingente Weise der Reflexivität der Lebenswelt darstellt, so können wir versuchen, so etwas wie ein fundamentales .Interesse am Erzählen' ausfindig zu machen; sofern wir darüber hinaus Erzählung als Grundmodus des Geschichtsbezugs betrachten, geht die Reflexion unmittelbar darauf, über das Interesse am Erzählen auch Aufschluß über das Interesse an Geschichte überhaupt zu erhalten. Dabei ist im voraus nichts darüber ausgemacht, inwieweit die beiden Interessen zur Deckung gelangen, ob etwa im Interesse am Erzählen ein Interesse an Geschichte durchscheint, das über das Erzählen hinausschießt, oder ob umgekehrt das Erzählen ein Interesse zum Tragen bringt, das gar nicht im Interesse an Geschichte aufgeht. Ansatzpunkt der Untersuchung ist der narrative Sprechakt und seine spezifische Konstitutionsleistung. Bevor dieser von seinen besonderen Merkmalen — der temporalen und .logischen' Organisationsform — her aufzunehmen ist, ist eine kurze Reflexion auf seine lebensweltliche Funktion als sprachliche Geschichtsaneignung überhaupt nötig. Was Sprache für den menschlichen Existenzvollzug und Weltbezug überhaupt bedeutet, bleibt auch für das Verhältnis des Menschen zu seiner Geschichte in Geltung und muß hier in seiner spezifischen Gestalt untersucht werden. Gefragt wird nach der spezifischen Leistung der erzählenden und, in einem weiteren Schritt, der historischen Sprache, sofern diese im Horizont der Sprachlichkeit des Lebensvollzugs betrachtet wird. Die praktische Funktion der Sprachverwendung zum Thema zu machen, erfordert ein Hinausgehen über die rein linguistische Betrachtung. Bereits der Übergang vom Erzählsatz zum erzählenden Text kann in dieser Linie gesehen werden, in der Linie einer Überwindung der formal-sprachlichen Analyse auf Gesichtspunkte der Sprachverwendung und Sprachhandlung hin — wie dies ζ. T. von Vertretern der Textlinguistik auch ausdrücklich betont wird 25 . Nicht nur stellt die Herstellung von Texten selber eine Handlung dar, die durch ein bedeutend weiteres Spektrum von Voraussetzungen bestimmt ist als die Konstruktion korrekter, wahrheitsfähiger Sätze und kohärenter Zusammenhänge. Im Anschluß an das Wittgensteinsche Sprachspielkonzept haben verschiedene Autoren die grund-
25
Vgl. die Aufsätze von Hartmann und Schmidt, in: Stempel (Hg.) 1971 a, 25, 3 7 , 4 0 ff.; Stierle 1975; Wunderlich 1976; Schneider 1975.
32
Die praktische Funktion der historischen Erzählung
sätzliche Konvergenz von Sprache und Handeln für den Bereich der gesamten Lebenswelt zur Geltung gebracht. Sprache zeigt sich als mitkonstitutiv für die Erfahrungswelt in ihrer kategorialen Differenzierung, vielleicht als das wesentliche Konstitutionsmedium der Lebenswelt — zumindest der sozialen — überhaupt. Dies gilt nicht nur für den Verhaltensbereich, der in einem spezifischen Sinn regelbeherrscht ist (Winch 1966), sondern für menschliche Realität schlechthin, sofern sie eben die menschlich-geschichtliche Welt, d.h. sinnhaft konstituiert und für den Menschen bedeutsam ist. Was diese Bedeutung und was somit menschliche Realität ist, kann nicht in Absehung von der Struktur, die durch die Sprache faktisch gegeben ist, bestimmt und identifiziert werden. Für die Erzählung — sofern man sie als grundlegendes Medium der Geschichtsbildung ansehen will — besagt das dann, daß die allgemeine Grammatik der Erzählung die Art und Weise konkretisiert, wie Geschichte für den Menschen bedeutsam, und d.h. wie sie überhaupt für den Menschen da ist. Hierin erfährt die These vom konstitutiv-konstruktiven Charakter der Geschichte zugleich eine nähere Bestimmung und eine Einschränkung. In ihrer allgemeinsten Form ist diese These ja keine Novität der analytischen Geschichtsphilosophie; sowohl die klassische Historik wie die klassische Geschichtsphilosophie wenden sich gegen die Vorstellung einer schlicht vorgegebenen geschichtlichen Wirklichkeit und einer entsprechenden, bloß reproduzierenden Wissenschaft. Droysens berühmte Invektive gegen die „eunuchische Objektivität" zielt nicht nur auf die vermeintliche Unparteilichkeit einer Wissenschaft, die „sine ira et studio" (1937, 287) „ihr Maß und ihre Norm an dem einst realen Verlauf dessen, was sie darstellt", nehmen will (286). Eine solche Methodenmaxime ist selber Konsequenz eines grundlegenderen epistemologischen MißVerständnisses, und die Kritik an der illusionären Überparteilichkeit weist zurück auf die Destruktion des „konfusen Begriffs" der „objektiven" oder „reinen" Tatsachen (133, 323; vgl. 139, 361, 420). Und schon Hegel hatte sich gegen einen objektivistischen Geschichtsbegriff gewandt, indem er die gleichzeitige Entstehungs von „Geschichtserzählung" und „eigentlich geschichtlichen Taten" als eine in der Sache selbst begründete ansah und nicht als „bloß äußerliche Zufälligkeit" gelten lassen wollte (Gesch.ph. 83). Die Akzentuierung des Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeitserfahrung impliziert jedoch eine bedeutsame Modifikation des konstruktivistischen Ansatzes gegenüber seiner abstrakten oder transzendentalphilosophischen Gestalt 26 . Sie betrifft insbesondere zwei Aspekte: die Überwindung einer subjektivistischen und einer ahistorischen Sichtweise. Sachverhalte der individuellen und sozialen Lebenswelt, so hat sich gezeigt, lassen sich nicht als data bruta identifizieren, sondern nur im Hinblick auf die Bedeutung, die sie für die Menschen haben. Diese Bedeutungen sind nicht Konnotationen, die sich mit einem feststehenden Tatbestand verbinden, sondern konstituieren erst den Tatbestand als so bestimmten; nach dem
26
Gerade im Ausgang von Danto entwerfen sowohl Kaulbach (1978) wie Baumgartner (1976 b) eine Historik in transzendentalphilosophischem Rahmen.
Sprache und Praxis
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Raum/Zeit/Körper-Raster identische Vorgänge können völlig verschiedene Handlungen oder Geschehnisse bedeuten. Was sie aber bedeuten, ist nicht nur des Handelnden oder Erlebenden Angelegenheit. Das Subjekt ist in seiner Sinngebung nicht autark, weil diese sich nicht im bedeutungsleeren Raum vollzieht. Die Art, wie der praktische Kontext den semantischen Raum einer Handlung bildet, ist im wesentlichen durch die gemeinsame Sprache bedingt, durch die Unterscheidungen und Kategorien, mittels derer die Handlungsträger ihre soziale Welt beschreiben, strukturieren, in ihr Identifizierungen vornehmen. Wie auf praktischer Ebene die Einzelhandlung durch ihre Situierung in einen Realkontext ihre Bestimmtheit erhält, so ist, sozusagen auf begrifflicher Ebene, dieser Realkontext selber in einen weiteren Zusammenhang eingebettet, in welchem Sprachmuster auf der einen und praktische Identifikationsleistungen auf der anderen Seite sich nur noch künstlich trennen lassen. Die solcherart konstitutive Sprachschicht aber entzieht sich dem Zugriff (oder zumindest der Herrschaft) des Individuums noch offenkundiger als der reale Handlungskontext. Die Befreiung der Konstitutionsfunktion von ihrer egologisch-transzendentalen Form und ihre Rückführung auf die Ebene sozialer Sprachspiele hat dann, sozusagen als Korollarium, die weitere Konsequenz einer Rückführung auf Geschichte. Zwar mag es so etwas wie einen Grundtypus erzählender Sprache geben, der durch gewisse minimale Gemeinsamkeiten wie etwa die erwähnten Zeitstrukturen gekennzeichnet ist. Ebenso bedeutsam aber sind die historisch divergierenden Erscheinungsformen, in denen dieser Grundtypus aktualisiert, konkretisiert und modifiziert wird, und die in diesem Typus zwar so etwas wie einen allgemeinen Rahmen haben, aber nicht von ihm aus theoretisch entworfen oder historisch antizipiert werden können (vgl. Lämmert 1955, Einl.). Wieso es zu einer bestimmten Konkretisierung des narrativen Elementarschemas kommt, kann gerade im Sinn der angedeuteten Konvergenz von Sprach- und Lebensform überhaupt nicht innersprachlich gedeutet werden. Wohl aber läßt sich umgekehrt von einer konkreten Erzählform her Aufschluß darüber gewinnen, wie in einer bestimmten Periode, einer bestimmten Gesellschaft, einem bestimmten Lebensbereich oder -abschnitt Geschichte erlebt und verarbeitet, was darin überhaupt als Geschichte aufgefaßt wird. Geschichtsphilosophisch relevant sind nicht nur die Grundstrukturen des Narrativen, sondern auch dessen besondere Ausformungen, wie Mythos, Märchen, Sage, historischer Bericht, Roman, Science Fiction, Utopien, religiöse Erzählung usf. Selbstredend kann unsere gegenwärtige Aufgabe nicht im Versuch einer systematischen oder literaturgeschichtlich/historiographischen Klassifikation von Erzählformen bestehen. Wohl aber ist es wichtig, auf die Tatsache dieser Differenzierungen hinzuweisen, weil nicht im vornherein ausgemacht ist, daß es sinnvoll ist, von der Erzählung zu sprechen, welche Geschichte konstituiert, und nicht vielmehr von bestimmten Erzählformen auszugehen, denen verschiedene Arten historischer Erfahrung entsprechen. Vielleicht ist auch das, was im modernen Verständnis als allgemeiner,Begriff von Geschichte und Erzählung gilt, nur ein bestimmter Modus des narrativen Weltbezugs unter anderen. Jedenfalls kann sich die geschichtsphilosophische Reflexion nicht der Frage verschließen, was das Speziflkum gegenwärtigen
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Die praktische Funktion der historischen Erzählung
Erzählens ausmacht und was dieses für die Geschichtserfahrung der Gegenwart bedeutet. Die Reflexion auf die Sprachlichkeit historischer Konstitution hat in dieser sozusagen zwei Schichten von Faktizität freigelegt: Intersubjektivität und historischkulturelle Bedingtheit. Beides gehört zu den Rahmenbedingungen, unter denen die .praktische Leistung' des geschichtskonstituierenden ,Sprechakts' zu bestimmen ist. Sprache hat ihren ursprünglichen Ort in der Kommunikation. Dies besagt allerdings nicht — und darauf hat eigentlich erst die jüngere Theorieentwicklung den Akzent gelegt —, daß ihre Hauptfunktion in der Informationsvermittlung bestünde. Die .Signalfunktion' der Sprache, ihr Informations- und Bezeichnungscharakter ist selber eine Funktion zwischenmenschlicher Interaktion, welche in viel allgemeinerer Weise, als ganze durch Sprache mitkonstituiert ist; darauf hatte der Zusammenhang von Sprachsystem und Lebensform, von .Semantik' und .Pragmatik' hingewiesen. Das Erfassen der .Bedeutung' von Sprache erfordert über die rein linguistische Kompetenz hinaus das Beherrschen einer „Handlungsgrammatik" (Schmidt 1973, 148 f.) oder einer „kommunikativen Kompetenz" (Habermas 1971, 101 ff.). Wenn wir nun, über die allgemeine These von der Sprachlichkeit der Interaktion hinaus, danach fragen, inwiefern das Sprechen selber ein praktischer Akt ist, so scheinen wir damit zunächst auf jene ausgezeichneten Sprechakte abzuheben, die als Äußerung gleichzeitig Vollzug einer sozialen Handlung sind (wie Verurteilen, Versprechen etc.) — oder, von der Gegenseite her gesehen, Handlungen, die im Normalfall gar nicht anders denn als sprachliche Äußerungen vorkommen. Indes scheint in solchen exemplarischen Sprechakten nur besonders deutlich zu werden, was für das Sprechen in einem viel allgemeineren Sinne gilt. Sprechen überhaupt bewegt sich in einem Bezugssystem theoretischer und praktischer Geltungsansprüche und kann als ein Inkraftsetzen von Geltungen verstanden werden, von denen die Erhebung des Wahrheitsanspruchs einer Aussage nur den einfachsten Fall darstellt. Sie systematisch auszuarbeiten wäre Aufgabe einer allgemeinen Kommunikationstheorie; J. Habermas hat dazu mehrere Vorschläge unterbreitet (1971,1973d, 1976c, 1981). Diese generellen Geltungsansprüche sollen die praktische Tiefenstruktur von Sprache überhaupt benennen; für die konkrete Handlung, die mittels einer Äußerung vollzogen wird, stellen sie gleichsam den ,Raum' oder die Dimension dar, innerhalb derer sie sich vollzieht. Diese Tiefenstruktur ist im kommunikativen Charakter der Sprache begründet, darin, daß Sprechen nicht einfach ein ,Äußern', sondern Sprechen zu jemandem (gegebenenfalls zu sich selber), Ansprechen ist. Jemanden ansprechen heißt, sich an ihn als Menschen wenden, ihn in einen gemeinsamen Handlungskontext einbeziehen, sich mit ihm auf eine gemeinsame Welt einlassen. Im Anredecharakter der Sprache wird das allgemeine Geltungsraster, das dem einzelnen Kommunikationsakt vorausliegt, in Kraft gesetzt, es werden darin, wenn man so will, die Grundstrukturen einer menschlichen Welt entworfen, der andere in seiner Menschlichkeit ernst genommen — auch wenn die konkrete Handlung gerade auf die Negation solcher Menschlichkeit gerichtet sein mag 27 . Innerhalb dieses allgemeinen, durch Sprache eröffneten praktischen Horizonts ist dann die spezifische Funktion jenes Sprechakts zu bestimmen, mittels dessen
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Menschen ihre Geschichte entwerfen und sich auf ihre Geschichte beziehen. Wenn wir von der — erst später argumentativ einzulösenden — Annahme ausgehen, daß Geschichtsbewußtsein idealtypisch reflexives Bewußtsein, Geschichte ursprünglich .Eigengeschichte' ist, so erscheint der Akt der historischen Vergegenwärtigung als der wesentliche Träger dieses Selbstbezugs. Wir berühren damit — noch vor aller Spezifizierung der historiographischen Sprachform — von selten der sprachlichen Konstitution der historischen Welt ein klassisches Theorem der Geschichtstheorie. Von vielen Geschichtsdenkern ist das Phänomen des Ausdrucks — des über den Ausdruck vermittelten Selbstbezugs, der über die Entäußerung vermittelten Reflexion — als Spezifikum geschichtlicher Existenz betrachtet worden. Für Droysen vollzieht sich die .Selbststeigerung', welche menschliche Geschichte gegenüber der animalischen Gattungsexistenz auszeichnet, über das Schaffen und Neuschaffen von Formen, in denen sich der Mensch „den Ausdruck und Abdruck, die Spiegelung seines eigensten Seins" gibt (1937, 10). Auch für Dilthey ist „Ausdruck" einer der Grundbegriffe der geschichtlichen Existenz wie des geschichtlichen Verstehens; ja der .Ausdruck' oder die .Objektivation des Lebens' definiert den Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften überhaupt (1974, 180; vgl. 2335 ff.). Und für Hegels Theorie des objektiven Geistes, die offenkundig im Hintergrund der Diltheyschen Konzeption steht, ist die Sittlichkeit als Substanz des geschichtlichen Lebens gerade dadurch von der bloßen Moralität unterschieden, daß sich hier die Selbstverwirklichung der Freiheit im Medium der Vergegenständlichung, der historisch geschaffenen institutionellen Realität vollzieht; dabei kommt das spezifisch Geschichtliche erst dadurch zum Tragen, daß ein bewußtes Verhältnis zu dieser sittlichen Welt hergestellt, die Selbstvergegenwärtigung selbst noch vergegenwärtigt, explizit gemacht wird. Diese zweite Selbstvergegenwärtigung aber ist vornehmlich die Leistung der Sprache. Zur geschichtlichen Existenz gehört über die Objektivation des Geistes hinaus die spezifische Reflexivität, die durch Sprache geleistet wird; darin gründet, daß das Wort „Geschichte ... in unserer Sprache die objektive sowohl als subjektive Seite" enthält und „ebensogut die bistoriam rerutn gestarum als die res gestas selbst" bedeutet (Gesch.ph. 83). In ihrem konkreten Vollzug leistet die Sprache der Geschichte so zweierlei zugleich: Das Entwerfen des transzendentalen Rahmens der menschlichen Welt und die konkrete Konstitution der geschichtlichen Welt. Die Idee praktischer Geltung und der Selbstbezug bilden den Horizont, in dem nun der narrative Sprechakt auf seine spezifische Leistung hin zu befragen ist.
27
Vgl. Jüngel 1974; 1977, 11 f., 208, 2 1 5 f . ; Jüngel operiert implizit gerade mit der sprachlichen Verwandtschaft von .Anspruch' und .Ansprechen' (208).
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Die praktische Funktion der historischen Erzählung
2.2.
Praktische Funktion der Erzählung A.
Die Erzählsprache ist wesentlich Zeitsprache, zeitlich affizierte Sprache, Zeitlichkeit entwerfende Sprache. In diesem Zeitbezug sind verschiedene .Schichten' zu unterscheiden; als deren erste und grundlegendste hat die Eröffnung der Zeitdimension überhaupt zu gelten. Der spezifischen Referenzzeit der berichteten Ereignisse liegt die allgemeine Zeitdimension voraus, die durch die narrative Sprache entworfen wird, und die auch da gegeben ist, wo das Narrative nicht ausartikuliert, sondern gleichsam als rudimentäre Erzählung einzelnen Begriffen immanent ist28. Erst durch die Eröffnung des Zeitraums, durch die Sprengung des Jetzt auf Zukunft und Vergangenheit hin konstituiert sich Gegenwart als Erfahrungsraum, in welchem dem Subjekt anderes „gegenwärtig" und es sich selber präsent werden kann. Gegenwart erhält so die Spannung von Anwesenheit und Abwesenheit, von Nähe und Ferne, und sie erhält dies zunächst in temporaler Hinsicht, als Überwindung der abstrakten, irrealen Punktualität des Augenblicks. Erst im Verweis auf das NichtGegenwärtige wird das ,hier und jetzt' zur erlebbaren Gegenwart, und erst dadurch stellt sich so etwas wie ein ,Geschichtsraum' her, in welchem das Subjekt seine .eigene' Zeit, seine Geschichte erhält. Auf diesen Zeitraum bezieht sich die Erzählung immer schon, indem sie ihren Gegenstand im Modus des Sich-Ereignens darstellt, als einen, der aus dem Dunkel des Nicht-Präsenten hervortritt und dazu bestimmt ist, wieder in dieses zurückzusinken. Im Blick auf die praktische' Funktion der Geschichtskonstitution und mit direktem Bezug auf unser Leitthema präsentiert sich dieses Entwerfen eines Zeitfeldes als die Basis, auf der das Erzählen als Medium von Selbstvergegenwärtigung zur Geltung kommt. Identitätsbildung ist in zweifachem Sinn auf Zeitlichkeit angewiesen, als ursprüngliches Selbstverhältnis und als reflexive Vergegenwärtigung des Selbstbezugs. Daß schon das ursprüngliche Verhältnis zu sich nicht so etwas wie ein unmittelbares Zusammenfallen mit sich, schlichte Selbstidentität ist, sondern sich als Prozeß, als Akt der Selbsterfahrung vollzieht, ist besonders von der Phänomenologie herausgearbeitet worden. Ihr Ausgangspunkt ist die Depotenzierung der cartesianischen Selbstgewißheit, oder allgemeiner: die „Krise der Reflexion" (Ricoeur 1965,45; cf. 50 ff.). Selbstgewißheit ist kein unmittelbarer Zugriff auf so etwas wie das Selbst, sondern Resultat einer Selbstvergewisserung, die das Ich im Spiegel seines Ausdrucks, seiner Vergegenständlichung zu erfassen sucht. Zwar mag es eine abstrakte Selbstgewißheit im Reflexionsakt des Cogito geben, aber sie ist iormell und leer, ihr kognitiver Gehalt erschöpft sich im Feststellen eines ,Daß'. Ein inhaltlich qualifizierter Selbstbezug läßt sich erst gewinnen im Prozeß des Zu-sichKommens aus einem Noch-nicht-bei-sich-Sein heraus, in der Vermittlung über den Ausdruck und im Bezug auf dasjenige, was ihm vorausgeht und in das hinein es sich 28
Dies gilt neben den .vergangenheitsbezogenen' Begriffen (Danto) etwa für das Symbol (Ricoeur 1969, 32) oder die Metapher (Jüngel 1977, 396).
Praktische Funktion der Erzählung
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fortsetzt. Nicht meint die ,Dezentrierung' die Restaurierung eines substantialistischen Subjektbegriffs. Doch ist die Tätigkeit des Subjekts nicht reines .Setzen', das aus sich heraus anfängt, sondern ein Setzen, das auf nicht-einholbare Voraussetzungen zurückgreift und sogar selber, als Akt,,vorausgesetzt' ist: Dies ist der Gedanke, den die Phänomenologie etwa im Begriff der passiven Genesis (Husserl), des Leibes (Merleau-Ponty) oder der Verwurzelung des Ich im Nicht-Ich ausspricht (Ricoeur 1965, 442). Der Weg von der zwar möglicherweise apodiktischen, aber leeren Selbst,gewißheit' zur gehaltvolleren Selbsterkenntnis' 29 entspricht dem Erfahrungsweg, in dem das Subjekt erst so etwas wie ein reales Selbstgefühl, ein Bewußtsein eigener Identität gewinnt. Auch wenn wir hier noch von allem absehen, was diese Identität inhaltlich bestimmt und ohne damit schon etwas über ihre logische Struktur auszumachen, bleibt die Zeitlichkeit als ihre erste Voraussetzung festzuhalten. Wenn Gegenwart nicht bloßes Mit-sich-Zusammenfallen (und damit leeres in sich Zurücksinken) sein soll, so erfordert sie — und hierin ist die temporale Bestimmung von .Gegenwart' der räumlichen analog — jene innere Differenz, in der etwas für ein anderes oder für sich selber da ist. Auf diese Zeitlichkeit des ursprünglichen Selbstverhältnisses bezieht sich nun auch dessen reflexive Vergegenwärtigung in der Erzählung. Die Erzählung vergegenwärtigt Identität so, daß sie diese nicht in ihrer formalen Struktur, als ein Mit-sich-Identischsein oder So-und-so-Bestimmtsein, sondern in ihrer Prozeßhaftigkeit, als ein zu sich Kommen thematisch macht. Daß die narrative Sprache wesentlich Zeitsprache ist, bedeutet indes nicht nur, daß sie ihren Gegenstand in der Mimesis seines Werdens, in seiner Gestaltung und Auflösung zu fassen sucht; es kennzeichnet in genuiner Weise den Er^ählakt selber. Wohl ist jede Rede ein zeitlich sich vollziehender Akt, dessen sprachliche Funktion auf den Zusammenhang von Retention und Protention angewiesen ist. Die Erzählung aber legt in stärkerem Maß als etwa die diskursive Sprache den Akzent auf den Geschehenscharakter des Sprechakts selber. Für eine argumentative Rede mag das Wichtigste das Resultat sein, für die Erzählung ist dasjenige, um dessentwillen ursprünglich erzählt wird, das Geschehen selber, die narrative Entfaltung; das .Erzählte' bleibt in einem ursprünglichen Sinn an den Erzählakt selber gebunden. Erzählungen können nicht auf ihr Fazit hin .gekürzt' werden; wohl aber können sie wiederholt werden, ohne ihre originäre Funktion einzubüßen. Für die narrative Selbstvergegenwärtigung heißt dies, daß sie nicht einfach die Gestalt eines vergegenständlichenden Ausdrucks und der ,Rückkehr' aus dieser Äußerlichkeit in sich hat. Was hier dem Menschen als Spiegel gegenübertritt, ist nicht sein Ebenbild als ruhendes Objekt, sondern selber Bewegung; zugleich ist der Darstellungsakt selber einer, dessen inneres Telos nicht im zu erstellenden Bild als abgeschlossenem Werk, sondern im Vollzug, in der Erstellung des Bildes selber liegt. Darstellung wie Dargestelltes kommen beide, wenn auch in verschiedener Weise, 29
Dieser Gegenüberstellung entspricht die Unterscheidung der beiden Momente im phänomenologischen Wahrheitsbegriff Husserls, Apodiktizität und Adäquatheit: vgl. Tugendhat 1967.
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primär in ihrem Prozeßcharakter zur Geltung. In Termini einer handlungstheoretischen Grundunterscheidung ausgedrückt, vollzieht sich der narrativ artikulierte Selbstbezug weder im Modus der reinen Praxis noch der Poiesis. Er ist nicht reiner Reflexionsakt, sondern zunächst Äußerung, Vergegenständlichung einer Intention in objektiver Gestalt, Herstellen eines (sprachlichen) Werks. Andererseits fungiert dieses nicht nur als Voraussetzung des Selbstbezugs, sondern es ist selbst dessen integraler Bestandteil. Das ,Werk' selber existiert nur in seinem Vollzug. Die ,Vergegenständlichung', Medium der narrativen Selbstvergegenwärtigung, ist nicht die geschriebene oder erzählte Geschichte, sondern das Erzählen selber. Gleichwohl ist dieses nicht ,bloßer' Vollzug, der sein Telos in sich hätte; der resultative und vergegenständlichende Effekt, der der sprachlichen Äußerung per se zukommt — das Reden hat zum Resultat das Gesagte — ist hier von grundlegender Bedeutung: Erzählen konstituiert Geschichte. Als so Produziertes, Herausgestelltes, ist sie das Gegenüber, zu dem das Subjekt erneut in Beziehung treten, das es verarbeiten, aneignen oder verwerfen kann. Diese Aneignung zweiter Stufe gründet dann auf jener ursprünglichen Aneignung, die in der narrativen Selbstvergegenwärtigung vor sich geht, und darauf, daß diese, als Selbstverhältnis, nicht reiner Prozeß, sondern konstituierende Tätigkeit, Erzeugung von Geschichte ist. Erzählung erweist so bereits durch den Zeitbezug überhaupt ihren besonderen Rang als Medium von Selbstvergegenwärtigung, einer zugleich reflexiven und konstitutiven Vergegenwärtigung. Das Selbstverhältnis, das dadurch sich herstellt, bestimmt sich nun genauer durch die spezifischen Momente des narrativen Zeitbezugs. Erzählung stellt ihren Gegenstand nicht nur als grundsätzlich zeitlich verfaßten, sondern in seiner konkreten zeitlichen Gliederung, als Sukzession und Bewegung dar, wobei die diachrone Folge zugleich als inhaltlich bestimmte und darin als in sich zusammenhängende zur Geltung kommt. Über die Sukzession hinaus soll so etwas wie narrative Konsistenz gebildet werden. Als deren basale sprachliche Operatoren wurden „kontrastive Einheiten" genannt, wie gegensätzliche Qualifikationen (jung/alt), korrelative Begriffe (Vergehen/Strafe) oder Varianten einer Serie (Stempel 1971b, 65; vgl. Stierle 1973b). Die Bestandteile eines geschichtlichen Verlaufs werden darin so aufeinander bezogen, daß nicht nur ihre Diskontinuität in eine temporale Kontinuität eingebettet wird, sondern ihre horizontale Folge selber zur Herausbildung einer .vertikalen' Dimension führt, in welcher narrative Einheiten sich zu Mengen höherer Ordnung zusammenschließen, die in ihrer hierarchischen Abstufung den Gesamt-,Sinnzusammenhang' einer Erzählung bilden; die chronologische Dimension gibt sich in ihrer semantischen Ausformulierung eine komplementäre, .logische' Schicht. Erzählung stellt die Peripetien und Wendepunkte einer Geschichte als Grundgerüst einer Einheit dar, die sich im Verlauf des Prozesses herausbildet. Diachronie wird als Bewegung der Vereinigung, des Zusammenwachsens thematisch. Im klassischen Fall wird als das eigentlich Zusammenhaltende dieser Bewegung das Intentionale, Sinnhafte angesetzt, ob dieses nun als intendierter Wirkungszusammenhang fungiere oder aber als bloßes Deutungskorrelat, welches nicht mehr auf realen Handlungszusammenhängen aufzuruhen braucht, sondern sich auf die ganze Kontingenz sich-ereignender
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Geschichte beziehen kann. Jedenfalls benötigt die Erzählung nicht den Rekurs auf den Bestand eines Substrats als einheitlichen Refrenzpunkt, sie definiert die Einheit ihrer Geschichte nicht durch die Identität eines vorausgesetzten Subjekts, sondern läßt „umgekehrt das Subjekt durch die Einheit der Geschichte sich erst konstituieren" (Fellmann 1973, 129). Die narrative Struktur bedingt selber, daß das Erzählte sich im Hinblick auf einen einheitlichen ,Sinn' ordnet und damit auch wesensmäßigen Bezug nimmt auf ein — vorerst noch ganz formal bestimmtes — .Subjekt', um ,dessen' Geschichte es geht und für welches allein es ,Sinn' als solchen geben kann. Wie nach Kantscher Auffassung die Zeit nicht Erfahrungsdatum, sondern -form ist, so gehört hier der Sinn und ,subjektive Fokus' der temporalen Organisation nicht primär als Eigenschaft zum Erzählten, sondern zur Art, wie Narration sich auf ihre Gegenstände bezieht. Von seifen des erzählenden Subjekts besagt dies, daß es sich in der temporalen Gliederung eine erste Form von Einheit gibt, und oft mag es scheinen, daß schon die Fähigkeit, die eigene Geschichte in solcher Weise erzählend zu organisieren, sowohl eine Bewältigung des Vergangenen wäre wie eine erste Form des mit-sich-Einswerdens — wie Robert Musil seinen ,Mann ohne Eigenschaften' sinnieren läßt: „Wohl dem, der sagen kann ,als', ,ehe' und ,nachdem'! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen" 30 . Das Interesse an Identität kann sich auf einer ersten Stufe als Interesse an zeitlicher Konsistenz ausdrücken. Zeitliche Konsistenz meint über die bloße Diachronie hinaus eine Art von Einheit, die durch die Einheitlichkeit ihres Sinn- oder Subjektbezugs charakterisiert ist. Damit kommt eine dritte Schicht der narrativen Zeitkonstitution in den Blick, die in Wahrheit jener Einheitlichkeit zugrundeliegt: über die Zeitlichkeit als solche und die zeitliche Gliederung hinaus die zeitliche ,Ganzheit', die innere Abgeschlossenheit oder Einheit einer Geschichte. Die ,Zweidimensionalität' der Erzählung, die Ergänzung der zeitlich-horizontalen durch eine inhaltlich-vertikale Integration ist zwar Voraussetzung dafür, daß sich die Erzählung in einsichtiger Weise zu einem Ganzen zusammenschließen kann. Doch ist sie ihrerseits nur möglich aus einer Perspektive, die sich an der,Ganzheit' einer Geschichte orientiert. Erzähltheoretisch heißt das, daß als ihre eigene Voraussetzung der grundsätzliche Vergangenheitsbezug der Erzählung zu gelten hat. Erst in der Retrospektive erscheinen Geschichten in ihrer Ganzheit, werden sie überschaubar, und nur mit der Zeitdistanz gewinnen sie den innern Zusammenhang, der sie erzählbar macht (Lämmert 1955, 60). Die Retrospektivität ist Voraussetzung dafür, daß das Erzählte sein narratives ,Profil' gewinnt, daß ein subjektiver Sinnbezug im berichteten Ereigniszusammenhang überhaupt sich herausbilden kann. Die ,vertikale' Integration ist dabei selber ein notwendiges Moment der retrospektiven Konstruktion: die nachträgliche Zeitraffung rekurriert unausweichlich auf Gesichtspunkte, die nicht dem Geschehensver-
30
Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, S. 650.
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lauf in seiner Erscheinungsgestalt entnommen sind, sondern ,spätere', konstitutive Zutat der Erzählung und der in ihr implizierten Deutung sind. Die retrospektive Konstruktion bildet auch dort noch implizit die narrative Grundstruktur, wo eine (historische oder fiktive) Erzählung im Präsens steht, sei es, daß die narrative Organisation in den Händen eines Erzählers liegt, der sich dem erzählten Präsens gegenüber sozusagen in der Zukunft befindet und das Gegenwärtige aus einer antizipierten Rückschau beschreibt — wie auch noch Zukunftsutopien sich normalerweise des Vergangenheitstempus bedienen —, sei es, daß durch das Fehlen dieses rückschauenden Moments gerade die Orientierungslosigkeit und Unstrukturiertheit der Gegenwart indiziert werden soll; nicht wenigen gilt das Fehlen einer solchen Überschau gerade für den gegenwärtigen Erzählstil als kennzeichnend. Unmittelbar auf der Hand zu liegen scheint der praktische' Gehalt der so qualifizierten narrativen Zeitlichkeit. Die Erzählung vergegenwärtigt unsere Identität nicht nur in ihrer temporalen Tiefenstruktur und orientiert sie nicht nur auf eine Idee der,Ganzheit' und sinnhaften Einheit hin; auch ihre Retrospektivität entspricht einer bestimmten Dominanz des Vergangenheitsbezugs in unserem Selbstverhältnis. Der Mensch ist das, was er geworden ist, er ist zunächst einmal, was er war. Das vergangene Geschehen ist gleichsam das Material, aus dem sich das Individuum sein Bild von sich selber verfertigt — oder zumindest dessen erste, zutiefst liegende Schicht, die dann durch Zukunftspläne, subjektive Einstellungen usf. ergänzt und modifiziert werden mag. Jedenfalls aber ist es dasjenige, was unser Bild für die andern in erster Linie bestimmt, für sie sind wir an unsere Vergangenheit gebunden, in welcher sich unser eigenes Sein und Wollen mit den Kontingenzen unserer Lebensgeschichte verwoben hat, und diese .soziale' Identität kann ihrerseits unserem Selbstverständnis nicht äußerlich bleiben. Daß wir uns auf unser vergangenes Werden erzählend beziehen, ist eine erste Identifikationsleistung, die bereits über den bloß konstatierenden Bezug hinausgeht. Nicht nur vergewissern wir uns darin unserer unverwechselbaren Individualität, und nicht nur sprechen wir uns vergangene Taten und Erfahrungen als Bestimmtheiten unserer selbst zu; die narrative Organisation ist Grundlage nicht nur eines feststellenden, sondern ebenso eines ordnenden, verstehenden oder rationalisierenden Verhältnisses zu unserer Vergangenheit. Allerdings ist mit diesem Vergangenheitsbezug insgesamt nur ein erstes Moment historischer Identitätsbildung benannt, und es wird zu fragen sein, ob mit der Festlegung der Erzählung auf den Vergangenheitsbezug nur eine Einseitigkeit der bisherigen Analyse oder aber eine prinzipielle Grenze der narrativen Konstitution von Geschichte und Identität sichtbar wird.
B. Nun ist bereits früher angedeutet worden, daß der Vergangenheitsmodus der Erzählung nicht so sehr — oder jedenfalls nicht ausschließlich — im Sinn eines Bezugs auf reale Vergangenheit verstanden zu werden braucht. Etwas im Vergangenheitstempus erzählen ist nicht gleichbedeutend mit sich auf einen objektiven
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Zeitpunkt der Vergangenheit beziehen. Diese These wird wohl am eindrücklichsten vorgetragen in H. Weinrichs Buch „Tempus. Besprochene und erzählte Welt" (1964), in dem er den Nachweis zu erbringen sucht, daß die Tempora im gesprochenen oder geschriebenen Text in erster Linie als Ausdruck einer „Sprechhaltung" fungieren, als Ausdruck der Einstellung des Sprechers zur Welt, von der er spricht, seiner Stellung zu ihr und in ihr. Damit soll einer Forderung nachgekommen werden, die auch von Seiten der Geschichtstheorie aufgestellt worden ist: den naturalisierten', verräumlichten Zeitbegriff aufzulösen und an seiner Stelle die originäre Dimension erst ausfindig zu machen, in der ,zeitliche' Konstitution in Erzählung und Geschichte sich vollzieht. Weinrichs Bestimmung der ,Sprechhaltung Erzählung' folgt einer Richtung, in die bereits Stempels Unterscheidung von Erzählung und Beschreibung gewiesen hatte. Die narrative Ereignisdarstellung bewegt sich nach Stempel auf der „Ebene des temps de l'enonce" und löst sich vom „performativen Index", der mit dem Redeakt, der „enonciation" verbunden ist (1973 a, 333). Der Erzähler übernimmt sozusagen nicht in eigener Person die Geltungsansprüche, wie sie mit einer Behauptung, einer Stellungnahme oder Erklärung verbunden sind; Erzählen stiftet ein eigentümlich indirektes,,distanziertes' Verhältnis zwischen Erzähler und erzählter Welt. So unterscheidet auch Weinrich die „Besprechung", welche ein „engagiertes Sprechen" darstellt, in dem sowohl der Sprecher Stellung bezieht wie er den Hörer zur Stellungnahme verpflichtet, von der Erzählung als einem distanzierten Sprechen, welches gleichsam vom Erzählten befreit. „Die Vergangenheit etwa, die ich erzähle, ist als erzählte Vergangenheit bereits verwandelt. Sie mag ,die gute alte Zeit' sein oder ,die böse Zeit, die wir durchmachen mußten'; sie ist als erzählte Zeit schon entschärft und ihres unmittelbar verpflichtenden Charakters entkleidet. Das weiß die Psychoanalyse, die den Patienten dazu zu bringen sucht, verborgene Vergangenheit zu erzählen . . . Denn Erzählen befreit" (1964, 74). Die Lösung aus existentieller Verflechtung affiziert auch die Beziehung von Sprecher und Hörer, die „Erzählsituation (ist) prinzipiell entspannt" (49). Ganz offensichtlich konvergiert dieses NichtEngagiertsein mit dem, wofür der zeitliche Abstand zur Vergangenheit einstand: als Möglichkeitsbedingung der,Überschau' über das Geschehene. Die innere Distanz ist die subjektive Entsprechung der zeitlichen, sie ist die eigentliche Basis des ErzählenKönnens. Sich aus der bedrängenden Gegenwart befreien, die Welt aus der Distanz, als .vergangene' erleben, dies ist die Grundfigur der narrativen Verarbeitung: „Erzählen bedeutet, sich aus der Faktizität der Lebenswirklichkeit lösen. Wer in .Geschichten' verstrickt ist, kann sie nicht erzählen, und wer sie erzählen kann, ist nicht mehr in sie verstrickt" (Fellmann 1973a, 136ff.). Wenn man diese Linie nun weiter auszieht, wie es der Autor des soeben angeführten Zitats tut, so scheint sich eine paradoxe Situation einzustellen. Für F. Fellmann ergibt sich letztlich eine Gleichsetzung des „Geschichten erzählenden Ich" mit Husserls „phänomenologisch eingestelltem Ich": Wie dieses rückt jenes in die Stellung des „uninteressierten Zuschauers" gegenüber der erlebten, natürlichen Welt (137 f.). Nun aber scheint eine solche Konsequenz dem phänomenalen Befund zu widersprechen, sowohl der Praxis des Erzählens als solcher wie auch dem Interesse,
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das Menschen an ihrer Geschichte nehmen. Die Wirkung und Ausstrahlungskraft, die von einer Erzählung auszugehen scheinen, lassen denn auch andere Autoren gerade zu umgekehrten Folgerungen kommen. So steht der Erzähler nach H. Halfbas keineswegs „außerhalb seiner Geschichte", und ebensowenig können die Zuhörer „passiv bleiben, sie fühlen sich begeistert oder erschreckt, abgestoßen oder bestätigt, müssen Stellung nehmen und tun es mit Herz und Kopf, weil die Geschichte sie zuvor ergriffen hat" (1975, 176). Auch Weinrich selber scheint in seinem späteren Entwurf einer narrativen Theologie der früheren These direkt zu widersprechen, wenn er nunmehr die „Betroffenheit" als eine generelle Kategorie des Narrativen festhält (1973d, 333). Direkt gegen Fellmanns Gleichsetzung des Gechichtenerzählers mit dem uninteressierten Zuschauer der Phänomenologie wendet Jüngel ein, daß die Loslösung aus dem „Verstricktsein in Geschichten" nicht für den epischen Dichter gilt und „schon gar nicht... für das Geschichten erzählende Ich des Glaubens" (1977, 423). Handelt es sich hier um zwei schlicht unvereinbare Auffassungen, oder muß eine zusätzliche kategoriale Unterscheidung angebracht werden, welche einsichtig werden läßt, was beide Positionen an Wahrheit enthalten? In der Tat scheinen sowohl die innere Distanz wie das Betroffensein zum Geschichtenerzählen zu gehören, aber in verschiedener Weise. Die beiden .Einstellungen' sind auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln. Global kann man sagen, daß die innere Distanz selber Voraussetzung des Betroffenseins ist. Was hier als Befreiung aus dem Verstricktsein in Geschichte — als .subjektives' Pendant zum Vergangenheitstempus — zunächst beschrieben wurde, ist ein Implikat der narrativen Struktur als solcher. Erzählen verlangt nach einem Überblick, weil sie nach einem Standpunkt verlangt, von dem aus die zeitliche Raffung, die Selektion und das Zusammenfügen des Verschiedenen zur Einheit vorgenommen werden können; idealtypisch kommt dies in der Figur des allwissenden Erzählers zum Ausdruck. Für das Subjekt, das sich seine Geschichte erzählend vergegenwärtigen will, bedeutet dies, daß es sich aus der Verflechtung in seine Lebenswelt zu lösen, von ihr zurückzutreten hat, um sie zum Ausdruck bringen zu können; als in sie verwickeltes ist es nicht schon ihr .Subjekt', sondern primär durch sie bestimmt, affiziert, gewissermaßen ihr .Objekt'. Der Übergang vom vorreflexiven Erleben, vom stummen Betroffensein zur bewußten Äußerung enthält eine solche ,befreiende' Wendung zur eigentlichen Subjektfunktion hin, und in diesem Sinn spricht Fellmanns These, daß Verstricktsein und Erzählen sich ausschließen, einen elementaren phänomenologischen Befund aus — einen Befund, der auch in der Methodenreflexion, in der Forderung nach einem bewußten Sichlösen von subjektiven Interessen und Wertungen seine Entsprechung gefunden hat31. Die Frage aber ist, ob jene innere Distanz, die noch vor aller methodischen Objektivität der narrativen Rede zukommt, die Erzählung als ganze zureichend charakterisiert.
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Vgl. Burckhardts Forderung nach einem „archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge", einem „freien Schweben" des Geistes über der Vergangenheit (1963, 8 f.).
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Daß sie dies nicht tut, erhellt bereits aus den früher genannten Merkmalen der narrativen Struktur: Erzählung ist wesensmäßig partikular und selektiv. Ob man die Selektionsleistung nun mit Danto der „subjektiven Willkür" anheimstellt oder sie in argumentativ begründbaren Interessen fundiert wissen möchte, jedenfalls wird mit ihr dem erzählenden Subjekt eine Aufgabe übertragen, die das transzendentale ego als uninteressierter Zuschauer prinzipiell nicht zu erfüllen vermag. Zwar mag man auch diesen Implikaten der narrativen Struktur — wie Partikularität und Selektivität — einen gewissen transzendentalen' Charakter zuschreiben, sofern sie Bedingungen der Möglichkeit narrativer Welterschließung sind (vgl. Baumgartner 1976b). Nicht aber sind sie Merkmale jenes Standpunkts, auf den die transzendentale Phänomenologie zurückgehen will, und von welchem aus sie gerade zum Gegenstandsbereich geschlagen werden müßten, als Merkmale des constitutums, des Ich in seiner Bestimmtheit als Erzähl-Ich. Erzählen ist in anderem und stärkerem Sinn konstituierende Tätigkeit als das reine ,Zuschauen' und ,Beschreiben' des phänomenologischen Ego, es kann per definitionem nicht dessen Leistung sein. Nun ist in dieser Sicht selbstredend auch jene vorausgehende Leistung der ,Distanzierung' nicht dem transzendentalen, sondern dem Erzähl-Ich zuzuschreiben. Gleichwohl ist zwischen ihr und dem ,Interessiertsein', das in jedes Erzählen eingeht und aus ihm als Wirkung hervorgeht, noch ein Ebenenunterschied, genauer: ein Bedingungsverhältnis festzuhalten. Die Befreiung aus dem realen Verstricktsein, das Sichfreimachen von den Sorgen des Alltags sind Voraussetzungen für jene Entspanntheit, welche Raum für das Angesprochenwerden, für wirkliches Betroffensein schafft; sie sind Voraussetzungen des Erzählens wie des Zuhörens. Der gelassene, innerlich gelöste Mensch ist nach Weinrichs Charakteristik der richtige Geschichtenerzähler, sein Prototyp ist der alte Mensch, die Großmutter, der Märchenonkel. „Er steht nicht, sondern er sitzt, und zwar im Sessel, auf dem Sofa oder am Kamin. Seine Stunde ist der Abend, der Feierabend. Er unterbricht gern seine Erzählung, um einen Zug aus der Pfeife oder Zigarre (selten der Zigarette!) zu tun. Seine Bewegungen sind langsam; er nimmt sich Zeit, seine Zuhörer der Reihe nach anzuschauen oder er blickt sinnierend zur Decke. Seine Gesten sind sparsam, sein Gesichtsausdruck eher versonnen als erregt. Er ist ganz entspannt" (Weinrich 1964, 49). Weinrichs Schilderung der Erzählsituation läßt förmlich spüren, wie sehr diese Entspanntheit den Rahmen für die , Spannung' der Geschichte, für das Verwickeltwerden ins Nicht-Präsente, Nicht-Alltägliche bildet. Die Freiheit ,νοη' der ursprünglichen Verstrickung ist Voraussetzung der neuen Bindung, Voraussetzung der Freiheit ,zum' neuen Betroffensein. Worin aber, ist nun zu fragen, besteht dieses Betroffensein, und worauf gründet seine Kraft? Meint jene ursprüngliche Verstrickung ein Außer-sich-Sein des Menschen, ein Aufgehen in gesellschaftlichen und geschichtlichen Bezügen, so scheint die ,Gelöstheit' zunächst ein In-sich-Zurückgehen, eine innere Sammlung zu implizieren, durch die das Subjekt gewissermaßen wieder ins Zentrum rückt, nicht notwendigerweise als Täter, wohl aber als Betroffener, als der Mensch, um den es im Geschehen letztlich geht. Allerdings ist diese Eröffnung der Dimension subjektiver Erfahrung nicht einfach als subjektivistischer Rückzug zu verstehen, sondern eher
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als dessen Gegenteil. Sie schafft den innern Raum für die eigentliche Dimension der Rede, das Angesprochenwerden. Angesprochen wird der Hörer nicht primär durch den Erzähler, sondern durch die erzählte Welt selber. Zuhören können heißt fähig sein, sich vom Fremden, Andern ansprechen zu lassen und gleichwohl das Andere als eines zu rezipieren, das dem Eigenen nicht schlechthin fremd gegenübersteht, sondern es angeht, mit ihm zu tun hat. Die innere Distanz zur unmittelbaren Umwelt ist Voraussetzung zur Aufnahme des Fremden, Fernen, zur Freiheit der Rezeption. Viel eher als die Errichtung der Herrschaft des Subjekts meint sie die Sprengung der Schranken der Individualität. In zeitlicher Hinsicht bedeutet sie die Öffnung auf Vergangenheit und Zukunft hin und damit erst die Stiftung lebendiger, erfahrener Gegenwart; logisch entspricht dem die Sprengung reiner Faktizität auf ihren Möglichkeitshorizont hin, damit die Konstitution (oder Restitution) der Wirklichkeit in jener Breite und ,Tiefe', in der sie erfahrbar wird. Erzählen ist ein Medium der Erfahrung der Welt, oder vielleicht vorrangig noch: ein Mittel zur Wiedergewinnung der Fähigkeit wirklicher Erfahrung. In diesem Sinne empfiehlt H. Halbfas die Rehabilitierung des Narrativen gerade als Korrektiv zu der von Marcuse beschriebenen ,Eindimensionalität' menschlicher Realität, die mit einer Verkümmerung der Erlebensfähigkeit einhergeht: dieser Verkümmerung soll durch Rückgewinnung einer Sprache begegnet werden, „in der existenzbezogene Erfahrung wieder konkret und beanspruchend erschlossen wird" — jene Erfahrung, die „statt von subjektivierender Distanz von persönlicher Betroffenheit bestimmt ist". Von ihr aber „kann nur erzählend, nicht begrifflich argumentierend gesprochen werden", sie kann „nicht bewiesen werden, sondern nur bezeugt und erhellt, bescheidener gesagt: erzählt und geglaubt" (1975, 174f.). Ganz ähnlich hatte schon Benjamin das Absterben der Erzählkunst als Erfahrungsverlust diagnostiziert: „Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter den Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen . . . Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? nicht reicher — ärmer an mitteilbarer Erfahrung" (1972ff., II 439). Bereits diese erste deskriptive Annäherung an das Phänomen des ,Betroffenseins' durch Erzählungen ermöglicht uns, die oben eingetretene Unklarheit aufzulösen. Zunächst erschien es ja so, als ob die Betroffenheit nicht dem ,distanzierten' Sprechmodus der Erzählung, sondern der,engagierten' Sprechart der Beschreibung, Erklärung oder Argumentation zuzuordnen wäre. Nun aber zeigt sich: Betroffensein und Engagement stehen sich viel eher als Gegensätze gegenüber. Die engagierte Stellungnahme ist die vom Subjekt ausgehende und auf das Subjekt rückbezogene Welterschließung, die Betroffenheit ist das Angesprochenwerden des Subjekts durch die es umgreifende geschichtliche Welt. In der ersten herrscht eine Tendenz zur Bemächtigung und Integration des Nicht-Subjektiven in den Eigenbereich des Subjekts vor, in der zweiten eine Tendenz zur Sprengung der Individualität auf eine umfassendere Wirklichkeit hin. Das Engagement verpflichtet auf die Gegenwart, befreit nicht von ihr auf eine Vergangenheit und Zukunft hin, die sich dem Zugriff des Subjekts entziehen. Damit aber zeigt sich im ursprünglichen Verhältnis von Distanz und Engagement eine eigentümliche Verkehrung. Der subjektivistische
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Zug, der im Engagement zum Vorschein kommt, läßt gerade dieses als .distanzierendes' Verhältnis zur Welt offenbar werden: Die Tendenz zur Herrschaft enthält das Bestreben, sich nicht an die Welt auszuliefern, sie nicht wirklich an sich herankommen zu lassen, sich nicht von ihr herausfordern zu lassen. Die objektivierende Distanz, die dem Besprechen eigen ist, verbürgt die .Entschärfung' jeder Erzählung, sobald diese mit Erklärungen durchsetzt ist. Was die Erklärung dem Menschen verständlich macht, das macht sie ihm gefügig, ungefährlich, harmlos; es ist nach Benjamin „schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten" (a.a.O. 445)32. Demgegenüber scheint gerade die Erzählung, indem sie vom unmittelbaren Zugriff des Subjekts auf die Welt und der Welt auf das Subjekt freimacht, ein Betroffensein zu ermöglichen, welches für den Erzähler wie für den Hörer Medium wirklicher Welterschließung ist. Die Überwindung der Schranken der Individualität in der narrativen Erfahrung scheint nun zwei gegenläufige Richtungen zu enthalten. Man könnte sie, in ,existentialistischer' Wendung, mit den Begriffen der ,Geborgenheit' und der ,Gefährdung' umschreiben; anvisiert ist zum einen das Einbezogenwerden in eine gemeinsame Welt, zum andern das Brüchigwerden vertrauter, bestehender Lebensverhältnisse. Das erste Moment ist schon in Halbfas' These mitangesprochen, die Erzählung könne nicht bewiesen, sondern nur „bezeugt und geglaubt" werden (1975, 175). Erzählen vollzieht sich in ganz anderer Weise in Gemeinschaft als Beschreiben und Räsonieren. Erzählen ist auf Gemeinschaft angewiesen und stiftet seinerseits Gemeinschaft. Die Gemeinsamkeit eines Kulturraums überliefert sich in ihren Geschichten, die großen Religionen sind wesentlich „Erzählgemeinschaften". Gerade sofern im Erzählen der Mensch nicht in seiner Verfügungsgewalt im Zentrum steht, sondern in dem, was ihn „zutiefst betrifft" (ebd.), teilt derjenige, der von sich erzählt, in einem radikalen Sinn ,sich selber' mit und eröffnet zugleich eine gemeinsame Welt, in die auch der Hörer hineinwächst. Man mag die durch Erzählung aktualisierte Erfahrungsfähigkeit in einem unmetaphysischen Sinn ein „Sensorium für Transzendenz" nennen (182). Dem Erzähler ,Glauben' schenken meint auch, die narrativ erschlossene Welt als eine erfahren, in die man selber eingebunden ist. Das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des Erzählers ist in gewissem Sinn auch ein Vertrauen in die erzählte Welt, ein Sichöffnen zur Welt hin — wogegen im rational kodifizierten Wissen und seiner Sprache gerade Mißtrauen sich ausspricht, das Bemühen, den Bereich der beherrschbaren ,Wißbarkeiten' in sich abzuschließen, ihn gegen jede Erfahrung des Unbekannten und Anderen „dicht zu machen" (ebd.). Die Verkümmerung der Erfahrung ist Verlust eines umfassenden Weltbezugs und der diesem vorausgehenden Fähigkeit des Vertrauens, der Widerstand gegen die narrative Rezeption zugleich ein Sichwidersetzen gegen eigene
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Vgl. S. 446: „Es gibt nichts, was Geschichten dem Gedächtnis nachhaltiger empfiehlt als jene keusche Gedrängtheit, welche sie psychologischer Analyse entzieht. Und je nachhaltiger den Erzählenden der Verzicht auf psychologische Schattierung vonstatten geht, desto größer wird ihre Anwartschaft auf einen Platz im Gedächtnis des Hörenden."
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Kreativität und Spontaneität, gegen Phantasie und Traum, ein Symptom der Angst. Mit diesem Verlust aber geht der Mensch der Humanität seines Weltbezugs verlustig. Nun ist damit, wie gesagt, erst die halbe Wahrheit ausgesprochen. Für viele Autoren steht gerade die Gegenseite im Vordergrund. Das Hineinwachsen in die Erzählwelt ist nicht die bruchlose Perpetuierung kindlicher Geborgenheit. Wenn die Abschirmung gegen die Welt des Erzählten als Ausdruck der Angst bezeichnet wurde, besagt das ebenso, daß das Sich-Einlassen aufs Erzählte Gefährdung bedeutet. Es bedeutet ein Herausgerissenwerden aus der unmittelbar vertrauten Welt, ein Sichtbarwerden ihrer Kontingenz und Zerbrechlichkeit. Indem die Erzählung das Faktische in den Horizont des Möglichen — auch der eigenen, vielleicht besseren Möglichkeiten — einrückt, ist sie der Einbruch des Negativen in die Positivität der bestehenden Welt.,Positiv' ist diese in der zwanghaften Reduktion von allem auf das, was es faktisch ist und als was es faktisch gilt — wie es sich nach der Kritischen Theorie etwa in der Sprache der Verwaltung widerspiegelt, aber auch in der von der technologischen Rationalität durchherrschten Alltagswelt, die durch Errichtung eines abgeschlossenen Universums der Rede und des Verhaltens Alternativen diffamiert und gegen Protest und Weigerung immunisiert (Marcuse 1967, 109). Das kritische Potential, das sich Marcuse vom dialektischen Begriff dagegen erhofft, wohnt gewissermaßen schon der Erzählung als solcher inne; auch sie gehört zu dem, was sich der Herrschaft des Faktischen widersetzt und gegen sie die Spannung von „Potentialität und Aktualität" (116) ins Spiel bringt. Im Lichte transzendierender Möglichkeiten wird auch das ursprüngliche Verstricktsein als gefährdet, als falsche Sicherheit erfahren. Insbesondere wird nun, was vom Erzählen gilt, für das Verhältnis zur Geschichte bedeutsam. In gewissem Maße definiert gerade dieses Hinausgehen über Positivität das Geschichtliche am menschlichen Weltbezug. So ist für Marcuse eben diese „,andere' Dimension des Denkens" die geschichtliche Dimension" (116), die eindimensionale Welt ist die radikal enthistorisierte. In diesem Sinn enthält bereits das Erzählen als solches einen Kern von Geschichtlichkeit. Gleichwohl erhält die Kontingenz des Faktischen, die darin zum Ausdruck kommt, ein ganz anderes Gewicht und eine neue Qualität im Falle der eigentlich historischen Erzählung, jener Erzählung, in der nicht mehr allein die Phantasie und innere Ansprechbarkeit gegen die abstrakt gewordene Erfahrung aufgeboten werden, sondern der Bezug auf eine reale Vergangenheit, welche — idealiter — die eigene ist, und das Sichöffnen auf eine Zukunft, die sozusagen der Ernstfall ist.
C. Es mag hier genügen, diese Konkretisierung am Beispiel zweier Ansätze zu illustrieren, für welche sie von zentraler Bedeutung ist. Die beiden Ansätze sind die der Kritischen Theorie und der Narrativen Theologie. Letztere greift dabei selber auf Motive der ersteren zurück und untersucht sie, stärker als die Kritische Theorie es tut, im Horizont des Phänomens des Erzählens. Gemeinsam ist beiden das Plädoyer
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für die Erinnerung. Erinnerung aber ist in zweifacher Weise auf Erzählung bezogen. Einerseits gehört Erinnerung im weitesten Sinn zum Interessenhorizont des Erzählens (Benjamin II 453 ff.), andererseits hat die Erinnerung selber eine narrative Tiefenstruktur (Metz 1973 a, 393 ff.). Erinnerung, so ein Topos der Kritischen Theorie, ist nicht inhaltsneutral. Vielleicht am prägnantesten bei Benjamin ausgeführt, findet sich auch bei Adorno und Marcuse der Grundgedanke, daß Erinnerung wesentlich Erinnerung des vergangenen Leidens ist. Gerade deshalb ist die moderne Traditionslosigkeit, das Vergessen, nicht nur „naiv", sondern zutiefst „inhuman", weil sie die „geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen", die immer die Spur „vergangenen Leidens" ist, zu tilgen sucht (Adorno 1967, 34 f.). Wenn Benjamin „Geschichte als Leidensgeschichte der Welt" (I 343) versteht, so verbindet sich damit für ihn die Forderung, gegen die klassische Fortschrittstheorie einen neuen Geschichtsbegriff zu entwickeln, der nicht mehr auf der „Einfühlung in den Sieger", sondern auf der „Tradition der Unterdrückten" beruht (I 696 f.). So „Geschichte gegen den Strich zu bürsten" (ebd.) meint aber nicht nur, ein Geschichtssubjekt gegen ein anderes einzutauschen. Die Umkehrung ist in dem Sinn viel radikaler, daß durch sie überhaupt erst das eigentlich Geschichtliche zu Wort kommen soll — dies auch im Hinblick auf Momente des Geschichtlichen, die sich uns bereits aus der Erzähltheorie ergeben haben. Auf dem Hintergrund der Marxschen These, daß das Leiden das eigentlich Treibende der Geschichte darstellt 33 , wird für den Geschichtsbegriff gefolgert, daß erst im realen Bezug auf Vergangenheit als „unterdrückte Vergangenheit" (703) jene „Unabgeschlossenheit" des Vergangenen wirklich zum Zuge kommt, die schon Dantos Analyse der erzählenden Sätze in ganz formaler Weise als Merkmal von Geschichte ausgemacht hatte. Daß auch die Toten noch zu ihrem Recht kommen sollen, ist letztes movens geschichtlichen Handelns. Unmittelbar wird damit aber auch ersichtlich, inwiefern der geschichtliche Vergangenheitsbezug nicht rein rückwärtsgewandt ist. Das Gedächtnis vergangener Unterdrückung ist auch Erinnerung vergangenen Freiheitsstrebens; gerade weil es sowohl „vergangene Schrecken wie vergangene Hoffnung" erinnert, sind seine Inhalte „subversiv" und seine Einsichten „gefährlich" (Marcuse 1967, 117) und hat die Gesellschaft allen Grund, Erinnerung „als eine Art irrationalen Rest" zu liquidieren (Adorno 1960). Das „Unerledigtsein" des Vergangenen ist die reale Öffnung der Gegenwart auf die Zukunft hin. Der Vergangenheitsbezug als Zukunfstverpflichtung bildet die prägnante inhaltliche Ausformulierung jener retrospektiven Neuqualifizierung durch die Erzählung. Die Zweideutigkeit des „Im-perfekts" als Vergangenheitstempus und Indiz der Unabgeschlossenheit stand schon Thomas Mann vor Augen, wenn er den Erzähler den „Beschwörer des Imperfekts" 34 nannte und ihm zutraute, notfalls auch die Zukunft zu erzählen, „sei es selbst in der Form der Vergangenheit" 35 .
33 34 35
Vgl. etwa MEW 1, S. 390. Der Zauberberg, Berlin 1925, 9. Joseph und seine Brüder, Ges. Werke, Bd. 3, Berlin u. Weimar 1965,431 f.; vgl. Mieth 1977,70, 109 f.
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Gerade in dieser Verweisung auf Zukunft wird nun der Topos der Kritischen Theorie — Geschichte als Leidensgeschichte — von der sogenannten Narrativen Theologie 36 aufgenommen und radikalisiert. Ihr Ausgangspunkt ist Weinrichs Feststellung, daß das Ende des Erzählens, das Adorno und Benjamin für die gegenwärtige Kultur im allgemeinen diagnostiziert hatten, offenbar auch für die Theologie eingetreten ist; auch sie hat, wie die Geschichtsschreibung und Dichtung, ihre „narrative Unschuld" verloren (Weinrich 1973 d, 331). Auch wenn man bezweifeln mag, ob sie eine solche jemals besessen hat (Mieth 1977, 63 f.), so ist doch die Akzentverschiebung unbestreitbar, die Weinrich damit ansprechen will: Indem die „Frage nach der Erzählung' durch die „Frage nach der Geschichte" abgelöst wird, verschiebt sich auch der Interessehorizont von der „Betroffenheit", dem „Mehr oder Weniger an Relevanz" zum „Ja oder Nein der Wahrheit" hin (1973 d, 330,333). Diese Verschiebung benennt einen Aspekt der Verwissenschaftlichung der Theologie, und näher: ihrer Anlehnung an die Historiographie. Was für die „Atrophie des Erzählens" (Metz 1973 b, 335) im allgemeinen hervorgehoben wurde, nämlich ihr Zusammenhang mit der Verarmung der Erfahrung, gewinnt im Bereich der Theologie bestimmtere Konturen. Die geschichtliche Erfahrung, die es vor allem ernst zu nehmen gilt, ist auch für sie die Erfahrung des Leidens, die „Erfahrung der Nicht-Identität durch Gewalt und Unterdrückung, durch Ungerechtigkeit und Ungleichheit, aber auch die Erfahrung der Nicht-Identität in der Schuld, im Geschick der Endlichkeit und des Todes" (338). Auch für die narrative Theologie hat die Erinnerung des Leidens emanzipatorische Kraft, ist sie zugleich „Freiheitserinnerung" (Metz 1973 a, 394). Doch fällt die Vermittlung beider Seiten für sie nicht mehr in die Kompetenz reiner Reflexion, sondern gründet auf dem spezifischen Gehalt des Erlösungsglaubens: darauf, daß die Leidenserinnerung zugleich Erinnerung an Kreuz und Auferstehung ist. Hebt sie sich durch dieses spezifische Fundament vom Konzept der Kritischen Theorie ab, so bleibt sie ihm doch darin verwandt, daß auch jenes Theologoumenon noch auf Narrativität zurückverweist. Die Vermittlung, die „begrifflich-argumentativ" nicht zu leisten ist, kann selber nur narrativ, als „erzählende Erinnerung" artikuliert werden. Die Theologie, die dieses ernstnimmt, muß sich „in fundamentaler Weise (als) memorativ-narrative Theologie" verstehen (Metz 1973 b, 339). In der Verknüpfung des narrativistischen Grundgedankens mit dem emphatischen Geschichtsbegriff der Theologie treten insbesondere zwei Züge prägnant hervor, welche sowohl die historische Erfahrung wie die erzählende Sprache auszeichnen. Der erste betrifft die Unableitbarkeit von Erfahrungen (vgl. Metz 1973 b, 335). Wirkliche Erfahrung machen heißt Neues, Nicht-Antizipierbares erfahren. Für die Theologie gründet dieser Zug darin, daß es um die „Selbstteilgabe
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Damit ist weniger eine Schule als eine Problemstellung bezeichnet, mit der sich verschiedene Theologen in den letzten Jahren auseinandergesetzt haben. Eingeführt wurde das Programmwort durch Weinrich (1973 d); vgl. Metz (1973 b), Wachinger (1974), Halbfas (1975), Mieth (1976, 1977), Peukert (1976), Jüngel (1974, 1977). Einen kurzen Überblick gibt Wacker (1977).
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Gottes" als des „von sich her Kommenden, . . . von sich aus redenden und anredenden Subjektes" geht (Jüngel 1977, 410). Wie der Mensch gar nicht der eigentlich Sprechende der religiösen Erzählung ist, so wird er auch als Hörer gleichsam seiner subjektiven Autonomie enthoben. Die von der Erzählung ausgehende Betroffenheit trifft ihn nicht unmittelbar als „Täter", sondern in einem eminenten Sinn als „Hörer", als Empfänger des Fremden, als einen, der zuallererst in die ihm sich darbietende und ,mit' ihm geschehende Geschichte einbezogen wird und der in der Erfahrung des Anderen „Freiheit von sich selbst" gewinnt (421 f.). Mit der unableitbaren Faktizität des Erzählten geht zweitens eine Umakzentuierung des narrativen Zeitbezugs einher. Die religiöse Erzählung berichtet nicht nur vom außergewöhnlichen, überraschenden Ereignis der Vergangenheit, sondern vom Neuen schlechthin: vom „Neuen, noch nie Gewesenen" (Metz 1973 b, 335), aber auch von immerzu Neuen, das sich bereits ereignet hat und gleichwohl seine „Neuheit" bewahrt, sich weiterhin ereignet. Die Erzählung, die überliefert, weitergeführt und weitererzählt wird, erzählt von einer Geschichte, die „auch als geschehene Geschichte nicht aufhört,geschehende Geschichte zu sein" (Jüngel 1977,415). Damit wird der von der Erzähltheorie formulierte Gedanke der Unabgeschlossenheit des Vergangenen radikalisiert und gleichsam zu Ende gedacht. Für die Theologie leitet die Offenheit der Vergangenheit direkt weiter in die Offenheit der Zukunft, die noch unerschlossene Möglichkeit des Vergangenen wird in zukünftige Wirklichkeit hinein weiter erzählt. Die Erzählung spricht ihren antizipatorischen Charakter offen aus, sie wird zur innovatorischen Sprache. Für die narrative Theologie wird die strikte Beschränkung auf Vergangenheit, der die Erzählung gemäß der analytischen Erzähltheorie unterliegt, aufgehoben oder zumindest auf die linguistische Erscheinungsoberfläche reduziert. Biblisches Erzählen ist eben „keineswegs nur ein Nacherzählen, sondern zugleich immer ein ,Vor-Erzählen'" (424). Was bei Danto nur im Horizont der subjektiven Interessen des Erzählers als möglicher Zukunftsbezug der Narration aufscheint, wird hier auf der Ebene des Vergangenen selber festgemacht, sei es ontologisch als Priorität der Möglichkeit vor der Wirklichkeit (ebd.), sei es real als Erlösungsbedürftigkeit vergangenen Leidens, als Glücksversprechen, als Verheißung. — Wir werden die Frage nach dem historischen Zukunftsbezug an späterer Stelle grundsätzlicher zu erörtern haben37. Festzuhalten an dieser Stelle ist die eigenartige strukturelle Affinität zwischen Zukunfts- und narrativistisch expliziertem Vergangenheitsbezug — eine Affinität, welche das Verhältnis zum Künftigen geradezu als Fortsetzung des in der Erzählung getätigten .retrospektiven Vorgriffs' sehen läßt, auch wenn sich die narrativistische Geschichtsphilosophie selber einer solchen Ausweitung dezidiert widersetzt. Narrative Theologie und Kritische Theorie haben für unsere Thematik in zweierlei Hinsicht modellhafte Funktion. Zum einen legen sie inhaltliche Interpretamente zur Konkretisierung jener ,praktischen' Bestimmungen vor, die wir als Pendant zu den formalen Merkmalen der Erzählsprache aufgenommen haben — so
37
S. 1.3.1. und II.2.3.C.
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etwa jener Sequenz von Momenten, die der ,Sprechhaltung Erzählung' zugeordnet wurde: ursprüngliches Verstricktsein — äußere und innere Befreiung — neue Bindung, Betroffensein. Zum andern ermöglicht es die Verwendung eines emphatischen Geschichtsbegriffs — oder gar dessen .Absicherung' in einem religiösen Weltbild —, formale Momente der narrativen Struktur pointierter herauszustellen, als dies im Rahmen der Erzählanalyse möglich war — so die Zeitstruktur der historischen Sprache oder die Unableitbarkeit von Geschichte. In beiden Hinsichten stellt gerade die narrative Theologie nicht nur eine mögliche Ausfüllung eines abstrakten Schemas, sondern zugleich eine Verschärfung der Konturen dieses Schemas selber dar. Sofern sie sich unumwunden zur Narrativität bekennt, ist diese erste Konkretisierung in ihrem Bereich leichter vorzunehmen als im Bereich dessen, was von der Sache her im Zentrum zu stehen hätte: die Geschichtsschreibung. Die Geschichtsschreibung, so ist von verschiedenen Autoren — mit unterschiedlicher Wertung — bemerkt worden, hat „im Laufe der Zeit zunehmend den Komplex entwickelt, sich ihres erzählenden Charakters zu schämen" (Weinrich 1973 a, 421). Auch wenn wir den tadelnden Ton dieses Verdikts zu hinterfragen haben — die Erzählung macht zumindest nicht das Ganze der Geschichtssprache aus —, so werden wir doch auch fragen müssen, ob nicht in der Abwertung des Narrativen in der Tat eine falsche Akzentsetzung stattfindet. Daß sich die Inhalte der narrativen Theologie so bruchlos in die Linien einfügten und sie fortsetzten, die unabhängig von ihr entworfen wurden, läßt allerdings bereits hier eine weitere, grundsätzlichere Frage aufkommen. Es ist die Frage, ob nicht auch im säkularisierten Geschichtsbegriff — vielleicht mit Notwendigkeit — implizite oder quasi-explizite Theologoumena enthalten sind, und dies nicht nur in inhaltlich konkretisierten Geschichtskonzepten wie etwa dem der Kritischen Theorie, sondern auch in dem, was der neuzeitlichen Tradition überhaupt als Geschichte gilt und in diesem Sinn auch formalen Rekonstruktionen wie etwa der der analytischen Geschichtsphilosophie zugrundeliegt. Diese Frage scheint unabweisbar und entscheidend sowohl für die theoretische Bestimmung des Geschichtsbegriffs wie für die zeitbezogene Diagnose der gegenwärtigen ,Geschichtslosigkeit', der Transformation oder Destruktion des Verhältnisses zur Geschichte. Allerdings wird diese Frage nur dann sinnvoll anzugehen sein, wenn sie sich der Reduktion auf eine .Verdachts'- oder ,Entlarvungsstrategie' entzieht. — Um zu unserer Leitfrage zurückzukehren, haben wir nun nicht nur über die inhaltliche Exemplifizierung des Erzählbegriffs durch eine bestimmte Theorietradition, sondern auch über die schwerpunktmäßige Einschränkung auf die Erzählung selber hinauszugehen. Über die Narrativität als solche hinaus muß wieder ins Blickfeld gelangen, inwieweit Erzählung Geschichte konstituiert, und auch, inwieweit sich über so konstituierte Geschichte Identität bildet. Wir können den anstehenden Komplex nach seinen innern Momenten in zwei Stränge aufteilen und diese sukzessiv abhandeln. Das Interesse an der Geschichtserzählung kann zum einen als Interesse an der erzählten Geschichte, zum andern als Interesse am Erzählen der Geschichte gefaßt werden. Zwei in der Literatur ausgearbeiteten Vorschlägen zufolge läßt sich dem ersten ein Interesse an Identität, dem zweiten ein Interesse an
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Kontinuität zuordnen; in einem weiteren Sinn wird auch das zweite im Horizont der Identitätsproblematik anzusiedeln sein. Es wird zu zeigen sein, daß die beiden mit diesen Stichworten angezeigten Richtungen sowohl grundlegende Intentionen des Geschichtsinteresses benennen wie sie auch spezifische Explikationsmuster für den Geschichtsbegriff selber bereitstellen. Ihre Erarbeitung soll in Auseinandersetzung mit zwei Theoriekonzepten geschehen, die sich jeweils an einem dieser Leitbegriffe orientieren: die geschichtsphilosophischen Ansätze von H. Lübbe (2.3.) und Η. M. Baumgartner (2.4.).
2.3. Geschichte als Konstitution und Vergegenwärtigung persönlicher Identität A. Geschichten sind nach H. Lübbe definiert „als Prozesse der Systemindividualisierung, durch die Systeme, infolge ihrer Umbildung unter externen Ereignis bedingungen, die zu Funktion oder Sinn dieser Systeme sich zufällig verhalten, unter ihresgleichen einzigartig und unverwechselbar werden" (1977, II) 38 . .Subjekt' solcher Geschichten sind ,Systeme'; der mit Bezug auf sie explizierte Geschichtsbegriff bleibt noch indifferent hinsichtlich der Unterscheidung von Natur und Kultur. Worauf der Akzent demgegenüber als erstes gelegt wird, ist der Prozeß der Individualisierung. Was mit diesem gemeint ist, expliziert Lübbe anhand der begrifflichen Unterscheidung von numerischer und geschichtlicher Individualität (145 ff.). Natürliche und kulturelle Systeme haben per se numerische Identität, sofern sie realiter einzelne sind; sie können unter .ihresgleichen' durch Abzählverfahren (z.B. Numerierung in technischen Serien) unterschieden werden. Geschichtliche Individualität gewinnen sie demgegenüber dadurch, daß sie verschiedenen äußern Umständen ausgesetzt werden, mit diesen interagieren und in dieser Interaktion ihre eigene Gestalt verändern. Was sie damit gewinnen, ist ihre pragmatische, reale Unterscheidbarkeit aufgrund individueller Kombinationen von Eigenschaften. Ihrer konkreten Singularität liegen somit Geschichten zugrunde, und nur mit Bezug auf sie ist es uns möglich, ihre Singularität zu .erklären' (146). Mit dieser Explikation historischer Individualität sucht Lübbe das auf den Begriff zu bringen, worauf schon Windelbands klassische Definition der Geschichtswissenschaft als .Idiographie' (1894, 11) oder Rickerts analoge Bestimmung des 38
Lübbes Überlegungen zum Thema .Geschichte und Identität' liegen in mehreren Aufsätzen vor (vgl. 1954, 1972, 1973 b); sie finden sich systematisch zusammengefaßt und weitergeführt im 1977 erschienenen Buch Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. — Schon das erste Zitat macht deutlich, daß Lübbe nicht im gleichen Sinn einen .konstruktivistischen' Geschichtsbegriff ansetzt, wie er hier, im Anschluß an Baumgartner, bisher zugrundegelegt wurde. Geschichte steht bei ihm für den objektiven Prozeß, von dem die sprachliche Vergegenwärtigung (.Historie') unterschieden wird. Diese Differenz der Positionen kann hier vorerst unberücksichtigt bleiben; es wird später auf sie zurückzukommen sein.
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.individualisierenden' Verfahrens der Geschichte (1926, 55 pass.) abzielten. Allerdings soll nach ihm damit alles andere als eine wissenschaftstheoretische Unterscheidung von Natur- und Humanwissenschaften begrifflich abgesichert werden. Zwar hängt die Eigenständigkeit der historischen Wissenschaften mit dem Interesse am Individuellen zusammen, aber nicht so, daß dieses genötigt wäre, sich in der Defensive gegen die Verfechter der ,Einheitswissenschaft', etwa gegen Hempels These, das deduktiv-nomologische Erklärungsmodell habe in Natur und Kultur gleichermaßen Gültigkeit, zu behaupten. Diesen Geltungsanspruch braucht die Historie schon deshalb nicht zu bestreiten, weil es ihr um etwas anderes als um theoretische Erklärung geht. Soweit sie selber theoretische Erklärungen enthält, bleibt es ihr unbenommen, sich jenes Modells zu bedienen. Ihre spezifische Intention geht jedoch auf die Verständlichmachung von Zusammenhängen, die gerade nicht durch Rekurrenzen, d. h. theoretisch durch .Gesetze' erklärt werden, sondern nur durch den Verweis auf die kontingenten Umstände, die einer Entwicklung zugrundeliegen. Eine solche Rekonstruktion von kontingenten Ereignisabfolgen leistet die Erzählung. Sofern auch in der Natur Ereignisfolgen dieses Typus vorkommen, werden auch hier Geschichten ,erzählt', und das ,narrativistische' Erklärungsmodell hat dann im gleichen Sinn uneingeschränkte, die verschiedenen Wissenschaftstypen übergreifende Gültigkeit wie das an experimentellen Anordnungen orientierte .theoretische' Erklärungsmodell. Daß Wissenschaften in verschiedenem Ausmaß auf das eine oder andere explikative Grundmuster zurückgreifen, tangiert nicht deren logische Selbständigkeit, sondern beruht auf Gründen, die nicht mit dem Erklärungsmodell selber, sondern mit .außertheoretischen' Theorieinteressen zu tun haben. Gleichwohl läßt sich nun auch von Lübbes Ansatz her ein Unterschied ausmachen, der in gewissem Maß mit dem von Natur und Kultur konvergiert. Alle Systeme werden über Geschichten individualisiert und über ihre geschichtliche Individualität real identifizierbar. Nun gibt es aber Systeme, die diese Identifikationsleistung in bezug auf sich selber vollbringen, reflexive Systeme — wie Gesellschaften und Personen. In ihrem Fall ist es dann angebracht, von geschichtlicher Identität' zu sprechen (146, 151). Die so verstandene Identität ist nicht nur über Geschichte vermittelt, sondern sie stellt selber das eigentliche intentionale Korrelat der Geschichtswissenschaft dar. Wenn Geschichten wesentlich Individualisierungsprozesse sind, so lassen sich deren sprachliche Repräsentationen, „Historien", als „Medien der Vergegenwärtigung eigener und fremder Identität" definieren (17). Auch hierin nimmt Lübbe zunächst nur einen klassischen Topos des Historismus auf (wie es ihm denn insgesamt um die Rettung des nicht-aufgebbaren Erbes des Historismus geht). Daß Menschen ihr Bewußtsein von sich wesentlich in der Verständigung über ihre Geschichte erlangen, ja daß die identitätsstiftende Funktion zum leitenden Interesse historischer Erkenntnis gehört, ist in verschiedener Akzentsetzung sowohl von Droysen, Dilthey und Litt wie von modernen Historikern ausgesprochen worden 39 . In der Art, wie Lübbe ihn aufnimmt und präzisiert, schaltet er allerdings wesentliche Aspekte dessen aus, was bei andern Autoren unter dem Zusammenhang von Geschichte und Identität thematisch wurde. Wie sein
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Geschichtsbegriff, so ist auch sein Identitätsbegriff ein bewußt unemphatischer: er ist nicht mit den ganzen Konnotationen der Subjektivitäts- oder Selbstbewußtseinsproblematik belastet, sondern wird aufgenommen „als ein Begriff des Personalregisterwesens sowie der Fahndung: Identität ist das, was als (richtige) Antwort auf die Frage erfolgt, wer wir sind" (168). Unsere Identität ist dasjenige, was unser Personalausweis, unsere .Identitätskarte' von uns aussagt (146 f.). .Identität' ist hier Korrelat eines ,Identifizierens': Die Identität von jemandem angeben heißt feststellen, wer er ist (oder auch wer mit einer bestimmten Beschreibung gemeint ist). Je nach Kontext mag hier die Angabe des Namens genügen, oder aber es sind zusätzliche Auskünfte nötig, wie sie etwa die Identitätskarte in minimaler Form präsentiert (Geburtsort, Alter, Wohnsitz). „In ihrem Ensemble bilden sie, wie man unschwer erkennt, stets eine Geschichte. Diese Geschichte macht unsere Identität aus und über sie werden wir identifiziert" (147). In diesen scheinbar so plausiblen Beschreibungen hat sich indes bereits eine erste Zweideutigkeit eingeschlichen, die sich in komplexeren Zusammenhängen reproduzieren wird. Sie haftet dem zentralen Begriff, dem Identitätsbegriff selber an. Lübbe blendet die psychologische und soziologische Identitätsproblematik aus (146), um zunächst ausschließlich so etwas wie eine logische Rekonstruktion der Wer-Frage zu unternehmen. Diese Rekonstruktion situiert er idealtypisch in einem bestimmten pragmatischen Kontext: im Kontext der verwaltungsmäßigen Feststellung' der Identität einer Person. Doch sind die in diesem Bereich zitierbaren Beispiele zu wenig homogen, um einen eindeutigen Identitätsbegriff abgeben zu können. Auf der einen Seite scheint die von Lübbe primär anvisierte Situation die zu sein, wo jemand „sich" einer andern Person oder einer Behörde „vorstellt"; Bewerbungsschreiben und Lebensläufe dienen ihm geradezu als Paradigmen von Identitätspräsentation (186ff.). Es sind Präsentationen, in denen wir etwas ,über' die betreffende Person erfahren. Auf der andern Seite bringt Lübbe Identifizierungs vorgänge ins Spiel 40 , die einer andern Logik gehorchen und die zuallererst darauf abheben, ,wer' die Person ist, über die wir gegebenenfalls Näheres erfahren, ,wer' mit einer Beschreibung gemeint ist, ,um wen' es in einem Gespräch geht: Es sind .Identifizierungen', die zunächst im elementaren .Auseinanderhalten' von Individuen, der Sicherung einer ,Referenz' bestehen und die im Standardfall durch Angabe des Namens, in andern Fällen durch Feststellung der Versicherungsnummer etc. erfolgen können — womit allerdings die Zugänglichkeit weiterer (biographischer etc.) Informationen meist vorausgesetzt ist. Wenn Lübbe davon spricht, daß man „sich" über seine „geschichtliche Individualität" „identifiziert" (146) und dadurch geschichtliche „Identität" gewinnt, so ist offensichtlich, daß er mehr als diesen formalen Identifikationsakt meint. Das Mißverständliche liegt in der anscheinend so klaren Wer-Frage, die einerseits als bloße Frage nach der Referenz fungiert (Wer ist das? Wer ist damit Μ Ζ. B. Droysen 1937, 364, 416; Dilthey 1974, 328, 348; Litt 1956, 72f.; Fellmann 1977, 98f.; Dray 1971, 156; Rüsen 1976b, 87. 40 Um im Verwaltungs- und Fahndungswesen zu bleiben: z.B. die Identifizierung einer Leiche.
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gemeint?) und andererseits, sozusagen als rhetorische Figur, in Pro2essen der Selbstverständigung oder der Verständigung über andere Verwendung findet (Wer bin ich? Wer will ich sein?). Ganz offensichtlich wird hier nicht nach der Referenz, sondern nach der Charakterisierung einer Person gefragt, deren numerische Identität feststeht. Was in .Identitätskrisen' fraglich wird, ist nicht primär die Identifizierung, sondern die Selbstverständigung — auch wenn es Fälle gestörter Identität gibt, in denen ebenso die Referenz unklar wird. Daß es Lübbe vorrangig um diese Verständigung über sich selber geht, zeigt sich nicht nur daran, daß er den Begriff der Identität für reflexive Systeme reserviert, in deren ,Selbstidentifikation' das Referenzproblem gerade nicht (oder zumindest in signifikanten Fällen nicht) auftaucht 4 1 . Ebenso zeigt es sich an der Art, wie Lübbe für die qualitative Selbstzuschreibung (und im erweiterten Sinn auch für die Fremdzuschreibung) die Notwendigkeit eines Geschichtsbezugs nachweist. Die Wer-Frage — hier symptomatisch in der ersten Person eingeführt: „wer wir s i n d . . . " — läßt sich nach ihm „nicht synchron" beantworten (334). Damit aber soll nicht über die einfache Identifikation hinaus das Problem der Reidentifikation über die Zeit, sondern der reale Bezug auf Geschichte ins Spiel gebracht werden. Genauer soll die Vergegenwärtigung der Vergangenheit für die eigene Identität in zweierlei Weise konstitutiv sein: Erstens versetzt nur sie uns in die Lage, angemessen zu „beschreiben", „wer wir sind", und zweitens läßt sich nur über sie „erklären und dann verstehen", „wieso wir es sind" (334). Beides, Beschreiben und Erklären, geht sowohl über die bloße Angabe wie über das Festhalten der Identität hinaus. Anhand der mit diesen beiden Stichworten angezeigten Fragestellungen läßt sich auch die Stoßrichtung von Lübbes These genauer bestimmen. Indem er die Antwort auf die Wer-Frage als eine .Beschreibung' faßt und diese als geschichtliche Vergegenwärtigung spezifiziert, stellt sich Lübbe in die Nähe der Schapp'schen Formel, von der er sich auch im weiteren Kontext inspirieren läßt: „Die Geschichte steht für den Mann" (Schapp 1953, 103; Lübbe 1977, 148f.; cf. Lübbe 1954). Wir mögen uns zwar in einem Gespräch darüber einig sein, von wem wir reden, ihn in diesem Sinn eindeutig identifizieren; wir scheinen aber erst dann ,wirklich' zu wissen, wer er ist, wenn wir mehr von ihm wissen, als zu seiner Identifikation nötig ist, und das heißt, so die These, wenn wir auch seine Geschichte im Umriß kennen. Wir können in dieser These zwei Aspekte, einen ,Form'- und einen ,Inhalt'-Aspekt unterscheiden. Auf inhaltlicher Ebene besagt sie zunächst, daß die Identität einer Person mehr „umfaßt" (17) oder „enthält" (154) als das, was gegenwärtiger Fremd- oder Selbstbeobachtung erschließbar ist. Was ich bin, läßt sich nicht zureichend meinem gegenwärtigen Selbstgefühl, meinen gegenwärtigen Absichten, den sozialen Rollen, die ich spiele, und den Normen, die ich befolge, entnehmen. „ Z u " mir „gehört" das Gewicht meiner Vergangenheit, was ich früher war und sein wollte, was ich, unabhängig von meinem Willen, geworden bin, was mir zugestoßen, widerfahren ist. N u r über die Vergangenheit haben wir einen
«· Dazu: III.l.l.B.
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Zugang zu uns und zu andern in der jeweiligen konkreten Bestimmtheit der Person. Auf der andern Seite betrifft die Rückbindung an Vergangenheit die Struktur des subjektiven Selbstverhältnisses als solchen. Nicht in einer logischen Formanalyse, sondern nur von seiner zeitlich-genetischen Struktur her läßt sich dieses aufklären, weil erst von ihr her einsichtig wird, was die Einheit des Subjekts ausmacht: Diese These der transzendentalen Phänomenologie muß auch in eine Theorie geschichtlicher Identität eingehen. Die Identität einer Person beschreiben heißt notwendig auch, ihr Selbstverhältnis — zumindest implizit — unter der Bestimmung temporaler Synthesis mitdenken. Allerdings — und damit geht Lübbe über das abstrakte Konzept des Erlebnisstroms hinaus 42 — kann sich diese nur über die Diversität von Inhalten vollziehen. Ich gewinne meine .Identität' erst, indem ich mich vergegenwärtigend auf meine Vergangenheit beziehe, sie mir zu eigen mache, sie mit dem, was ich jetzt bin, in eine Einheit zusammenschließe. Wie für die transzendentale Phänomenologie die ursprüngliche Einheit von Protention und Retention Voraussetzung für jeden Erinnerungsakt ist, so ist die Integration meiner Vergangenheit in meine gegenwärtige Identität — die konkrete, individuelle Konstitution meiner Subjektivität — gewissermaßen immer schon vorausgesetzt in allen Aspekten expliziter historischer Vergegenwärtigung. Lübbe spricht diesen Gedanken in der etwas enigmatischen Formel aus: „Wer einer ist, läßt sich einzig über seine Geschichte sagen; aber nur wer einer ist, kann das" (334). Nur im Medium historischer Reflexion kommt das Selbstverhältnis als der bestimmte Selbstbezug in den Blick, in dem das Subjekt von sich sagen kann ,ich bin der und der' (und nicht nur: ,ich bin ich' oder ,ich bin'), in dem also .Identität' als Antwort auf eine WerFrage erst thematisch wird. Wenn wir in der geschichtlichen Verfaßtheit von Identität nicht nur die inhaltliche Seite, sondern die Form des Selbstverhältnisses betonen, so kann man darin eine Spezifizierung der oben genannten These sehen, daß historische Identität die Identität reflexiver Systeme ist. Ja, sie scheint ursprünglich die selbstreferentielle Erfassung von Identität zu betreffen, die Beantwortung der in der ersten Person gestellten Wer-Frage. Man mag dies als Indiz dafür deuten, daß der Zusammenhang von Geschichte und Identität in erster Linie einer ist, der die jeweils eigene Identität und die eigene Geschichte betrifft, oder vielleicht noch schärfer formuliert: daß — wenn in jenem Zusammenhang der zentrale Punkt unseres Verhältnisses zur Geschichte angesprochen sein soll — Geschichtsbewußtsein überhaupt originär Bewußtsein der eigenen Geschichte ist. Nicht wird damit der Blick auf das Ferne und Fremde, der nach der Auffassung vieler Historiker zum eigentlichen Kern der historischen Neugier gehört, aus der Geschichtsbetrachtung ausgeschlossen, das Interesse historischer Betrachtung auf die eigene Identität reduziert. Wohl aber liegt darin, daß wir auch im Kennenlernen der Identität anderer — etwa durch Lektüre ihres Lebenslaufs — ihnen die gleiche Struktur des inneren Selbstverhältnisses
42
Zur Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Bewußtseinstheorie vgl. Lübbe 1972.
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zusprechen, wie es uns selber eignet. Ob der Blick aufs Andere noch in die Perspektive eigener Identität integriert wird als etwas, von dem diese, sofern sie wirklich geschichtlich existiert, selber angesprochen ist, oder aber als deren ausdrücklicher Gegenpart gesetzt wird, auf jeden Fall wird auch das Fremde vom historischen Bewußtsein als eines aufgefaßt, das seine,eigene' Geschichte hat und aus dieser heraus verstanden werden muß. Die Vergegenwärtigung fremder .Identität' schließt den Bezug auf fremdes ,historisches Bewußtsein' mit ein. Allerdings erscheint es in dieser Sicht dann als fraglich, ob der Geschichtsbegriff sinnvollerweise in einer so weiten Fassung wie bei Lübbe anzusetzen und unterschiedslos für reflexive und nicht-reflexive Systeme zu verwenden ist. Damit hängt die Unterbestimmtheit des Identifizierungsbegriffs zusammen, der nicht nur — wie der Geschichtsbegriff — gegenstandsindifferent angesetzt ist, sondern auch in seiner inhaltlichen Bedeutung schwankt: Ist er zunächst vom einfachen ,Unterscheiden' her gefaßt, so gewinnt in dem Maße, wie er zur historischen ,Identität' konkretisiert wird, die Frage nach der qualitativ-strukturellen Beschaffenheit die Oberhand. Zwar soll die Pointe von Lübbes Konzept gerade in der Verbindung beider Aspekte bestehen, und man wird darin nicht nur ein Schwanken oder eine Äquivokation zu sehen haben; gerade im Blick auf personale Individualität scheint das Auseinanderhalten von numerischer und qualitativer Identität, von Referenzsicherung und attributiver Zuschreibung nicht das letzte Wort zu sein43. Dennoch bleibt die logische Unterscheidung als Basis der Problemstellung unerläßlich. Die begriffliche Unterbestimmtheit der Identitätsproblematik wie des Geschichtsbegriffs bleibt eine Hypothek des Lübbeschen Konzepts im ganzen. Nun soll es diesem nicht nur um den Nachweis gehen, daß Identität nur mit Bezug auf Geschichte explizierbar ist, sondern ebenso und vorrangig darum, wie Identität sich geschichtlich konstituiert. Diese Frage kommt in den Blick, wenn wir den zweiten der oben genannten Gesichtspunkte aufnehmen und neben der ,Beschreibung, wer wir sind' die ,Erklärung, warum wir es sind' (334) zum Thema machen. In welchem Sinn läßt sich sagen, daß die Historie uns eine Identität, die „synchron betrachtet unverständlich" bleibt, erst adäquat „verstehen" oder „begreifen" läßt (152 f.)? Mit dem ,Begreifen' wird ein Erfordernis benannt, dessen Erfüllung zum vollen ,Erfassen' der Identität einer Person dazuzugehören scheint. Wenn wir wirklich wissen wollen, ,wer' jemand ist, so verlangen wir nicht nur nach der Kenntnis der verschiedenen Bestimmtheiten, die dieser Person zukommen, sondern auch danach, daß uns der innere Zusammenhang dieser Bestimmtheiten einsichtig werde. Worin dieser Zusammenhang besteht, d.h.: durch den Aufweis welcher Relationen uns eine Konstellation letztlich verständlich wird, dies ist die Frage, die im Zentrum der ganzen ,Erklärungsdebatte' steht. Verschiedene Erklärungsformen unterscheiden sich zum einen durch die Fragen, auf die sie antworten sollen, und zum andern durch die Art, wie sie auf diese Fragen antworten. Hinsichtlich der Frage selber bewegt sich Lübbes Vorschlag zunächst im Umkreis
43
Dazu grundsätzlicher, im Ausgang vom Identitätsbegriff: III.l.
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der klassischen Formulierung von Hempel-Oppenheim: etwas erklären heißt erklären, warum etwas das ist, was es ist, oder warum etwas (ein so und so Bestimmtes) eingetreten ist; in der Art, wie diese Warum-Frage beantwortet werden soll, untescheidet sich sein Vorschlag in signifikanter Weise von der positivistischen Erklärungstheorie. Wir haben sein Erklärungskonzept zunächst kurz in seiner allgemeinen Form zu vergegenwärtigen, um dann seine Applikation auf reflexive Systeme und seine Implikationen für den Begriff persönlicher Identität zur Diskussion zu stellen. In ihrer allgemeinen Form meint die ,Erklärung' einer Identität die Beantwortung der Frage, wieso unter verschiedenen, in ihrem Ausgangspunkt idealiter gleich beschaffenen Systemen das eine im Laufe der Entwicklung diese, das andere jene konkrete Gestalt angenommen hat. Es soll erklärt werden, wieso das eine so, das andere anders geworden ist, soweit diese Qualifizierung nicht durch Bestimmungen gesetzt ist, die in ihre ursprüngliche Definition eingehen. Historisch erklärt wird, was so geworden ist, aber auch anders hätte kommen können. Historie befaßt sich mit dem Nicht-Notwendigen, sie ist die Kultur der Kontingenzerfahrung (297 ff.). Das faktische So-und-nicht-anders-Werden ist der Prozeß der .Systemindividualisierung', als den Lübbe Geschichte definiert. Indem Historie diesen Prozeß nachzeichnet, .erklärt' sie die Individualität des Individuums. Sie tut dies konkret so, daß sie die Interaktion des Systems mit seiner Umwelt zum Thema macht und zeigt — oder eben: erzählt —, wie das System in dieser Interaktion seine anfängliche Gestalt verwandelt, konkretisiert, neu bestimmt. Die Außenwelt und ihre Eigenentwicklung ist von der Binnenstruktur des Systems her nicht antizipierbar, ihr Zusammentreffen mit diesem ist für es der Zufall. Was einer geworden ist, ist, soweit er es geschichtlich geworden ist, weder durch seine Wesensbestimmung noch durch irgendwelche Zielvorstellungen erklärbar. Ganz offensichtlich bildet eine solche Auffassung den striktesten Gegensatz zu jeder Art von teleologischer Geschichtsbetrachtung. Als Alternative zu dieser wird aber auch nicht ein kausal-deterministisches Geschichtsbild entworfen — oder zumindest nicht auf es der Akzent gelegt. Wohl mögen alle einzelnen Interferenzen und Entwicklungsschritte, für sich genommen, im Prinzip kausal (oder sonstwie gesetzmäßig) erklärbar sein; sie sind es aber nicht aus dem ursprünglichen System und seiner Eigenfunktionalität heraus, sondern nur unter Zuhilfenahme weiterer Einzelinformationen und jeweils spezifischer Gesetzeshypothesen. Nicht wird damit im strikten Sinn eine eigene Erklärungslogik behauptet, sondern primär auf ein der Historie eigenes Erklärungsinteresse verwiesen. Indem die Historie die Geschichte der Interaktionen des Einen mit dem Andern erzählt, sprengt sie gewissermaßen die eigene Perspektive des betrachteten Systems. Gerade die Darstellung solcher Interaktionen, die Lübbe mit den Metaphern der Interferenz oder der Gemengelagen beschreibt (54ff.), ist die spezifische Leistung der Narration, die darin eine gleichermaßen deskriptive wie explikative Funktion hat44. Die kritische Pointe seines Konzepts wird deutlich, sobald wir seinen Erklärungsbegriff auf reflexive Systeme anwenden. 44
Unschwer lassen sich Parallelen zu der in der strukturalistischen Erzähltheorie getroffenen
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Wenn die Identität einer Person historisch ,erklärt' werden soll, so meint dies auch hier zunächst ganz allgemein, daß Gründe für ihre individuelle Unterscheidbarkeit, für ihr So-und-so-Gewordensein angegeben werden. Sofern Personen aber handelnde Subjekte sind, enthält Lübbes These eine spezifische Pointe gegen eine bestimmte Auffassung vom historischen Subjekt und von menschlicher Geschichte. Die praktische Subjektivität, die moralische Selbstbestimmung einer Person, ihre Charaktereigenschaften und Zielsetzungen, ihr Wollen und zweckorientiertes Handeln, all dies gehört ja, abstrakt gesehen, zur ,Binnenstruktur' des Persönlichkeitssystems und demgemäß, entsprechend der vorgenommenen Abgrenzung, nicht zu ihrer Geschichtlichkeit. Jeder Mensch ist sowohl historisches Individuum wie praktisches Subjekt, aber daß er jenes ist, reduziert sich nicht auf dieses, oder vielmehr existiert er gerade nicht geschichtlich, sofern er praktisches Subjekt ist. Aus der logischen Bestimmung des Geschichtsbegriffs leitet Lübbe einen absoluten Gegensatz von Geschichte und Handeln, von historischer Erkenntnis und praktischer Vernunft ab. Erst mit Bezug auf reflexive Systeme kommt das theoriestrategische Motiv der (allgemeineren) Definition der ,Identitäts'-Erklärung als Darstellung eines Individualisierungsprozesses zum Ausdruck: es zielt auf die Abwehr jeder Kontamination von Geschichte und Ethik. Ihre Plausibilität zieht diese These daraus, daß sie zunächst nur ausspricht, was in der Tat (auch) zur geschichtlichen Erfahrung gehört: Wer ich bin, kann ich mir nicht zureichend von dem her verständlich machen, was ich sein wollte und zu sein beabsichtigte; meine praktische Selbstbestimmung erfüllt nicht die Konturen meiner konkreten Bestimmtheit. Die Unmöglichkeit eines .synchronen' Erfassens meiner selbst wird damit radikalisiert. Daß ich meine Identität allein über meine Geschichte erfasse, bedeutet nicht nur eine Sprengung des Augenblicks auf meine Vergangenheit hin, sondern eine Sprengung meiner innersubjektiven Bestimmtheit auf das hin, was mir widerfährt, zustößt, was sich meinem subjektiven Zugriff entzieht. Auch dieses Fremde gehört zu meiner Bestimmtheit, es .betrifft' mich. Was mir geschieht, habe ich in meine Identität zu integrieren, ja gerade es allein konstituiert meine Identität als geschichtliche. Meine geschichtliche Identität erfassen heißt, die Kontingenz meines Gewordenseins erfahren. Daß ich zwar (Referenz-)Subjekt, aber nicht Täter meiner Geschichte bin, folgt aus dem Geschichtsbegriff selber. Mich für das in Verantwortung zu setzen, was ich geschichtlich geworden bin, bedeutete gleichviel wie mich für mein Sein überhaupt zu verantworten; es wäre nichts anderes als eine Überstrapazierung meiner praktischen Subjektivität, eine Ausstattung des Subjekts mit übermenschli-
Unterscheidung von narrativen und deskriptiven Textelementen erkennen, welch letztere durch Einfügung anderer, nicht dem chronologischen Strang entnommener Faktoren dessen Verlauf verständlich machen, in einem gewissen Sinn also gerade die von Lübbe geschilderte Interferenz herstellen. Allerdings ist es in Lübbes Sicht natürlich nicht belanglos, ob diese Verknüpfung selber noch als Leistung der Narration bezeichnet wird oder nicht. — Eine analoge Bestimmung der historischen Erklärung enthält auch, fern von jedem narrativistischen Ansatz, Stegmüllers Konzept der ,historisch-genetischen' Erklärung: 1969, 352—360.
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eher Macht, Würde und Schuld. Dem antik-heroischen Selbstbewußtsein mag es angemessen sein, auch für das, was ihm zustößt, Schuld zu tragen. Im modernen Verständnis aber, so Lübbes zugespitzte These, mündet die Selbsthypostasierung zum Täter und Verantwortlichen der Geschichte nur noch im Totalitarismus.
B. Damit ist der Punkt benannt, von dem aus nach den Fundamenten der Argumentation zurückzufragen ist. Die kritische Befragung der Gegenüberstellung von praktischer und historischer Identität soll zugleich zu einem genaueren Verständnis historischer Konstitution führen. Ausgangspunkt ist die Ebene des historischen Textes und zunächst die These der Konvergenz von Erzählung und Erklärung. Das narrative ,Beschreiben, wer' jemand ist und das .Erklären, warum' er es ist, folgen letztlich der gleichen Stoßrichtung, weil schon die Erfassung historischer Identität immer mehr intendiert als die Präsentation des Materials, aus dem sich diese Identität .inhaltlich' zusammensetzt. Beschreibung und Erklärung bilden unterscheidbare logische Funktionen, aber keine abgetrennte Sprachebenen; die Erzählung, so schon Dantos These, beschreibt und erklärt zugleich (1974, 230) — man kann darin die erklärungslogische Grundthese des geschichtsphilosophischen Narrativismus sehen. Auch wenn damit manifesterweise nicht das Ganze der Sprache der Historie gekennzeichnet ist und fast jedes Werk der Geschichtsschreibung auch Erklärungen enthält, in denen die Warum-Frage nicht narrativ, sondern durch Rekurs auf Gesetze beantwortet wird — nach Lübbe: „theoretische" Erklärungen (116) —, soll doch das eigentlich Historische (und damit auch das HistorischExplikative) allein im „nicht-theoretischen" (25), narrativen Element der Geschichtssprache gründen. Diese These, die in Wahrheit nicht nur eine zum historischen Text, sondern zum Geschichtsbegriff selber ist, wirft Fragen auf, die über Lübbes Konzept hinausweisen und Voraussetzungen und Reichweite des narrativistischen Ansatzes überhaupt betreffen. Ob nicht andere Verständigungsformen mit ebensolchem Recht als konstitutive Momente von Geschichte behauptet werden müssen, ist an dieser Stelle allenfalls indirekt zu zeigen, soweit sich nämlich die Konsequenzen, die aus Lübbes Prämissen für den Begriff historischer Identität folgen, als fragwürdig erweisen. Der unmittelbare Akzent seines Ansatzes geht indes nicht so sehr auf jene erklärungslogische Grundthese als auf die spezifische Art von Erklärung, welche die Narration leisten soll. Narrative Integration hebt auf das Kontingente, nicht einer inneren Konsistenz Zugehörige ab 45 . Gegen Stempel, der „Vorgänge des Herstellens und Machens" als exemplarischen Gegenstand von Erzählungen ansieht, „weil sie die Konsistenz ihrer Abfolge gleichsam in sich selber tragen" (1973 c, 587), betont Lübbe, daß gerade nicht Handlungsabläufe, die sich intentional erklären und in Handlungsmaximen umformulieren lassen, erzählt
45
Zum Zusammenhang von Erzählung und Kontingenzerfahrung vgl. Nef 1970.
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werden, sondern solche, die sich dieser Transformation widersetzen; erzählt werden, so könnte man sagen, nur gestörte Handlungsabläufe. „Geschichten sind nicht Handlungen und Geschichten werden erzählt, nicht Handlungsabläufe" (77): Ich erzähle nicht, was ich tue oder getan habe, sondern war mir passiert ist. Klarerweise sind Geschichten Geschichten von jemandem, aber dieses ,νοη' indiziert viel eher einen genitivus obiectivus als einen genitivus subiectivus. Menschen sind nicht die Ursachen ihrer Geschichte, sondern die von ihr Betroffenen. Geschichten sind in diesem Sinn „Vorgänge ohne Handlungssubjekt" (69). Das Subjekt, das strukturell notwendig zu ihnen gehört, ist, wie Lübbe in Anlehnung an Stempel formuliert, ihr bloßes „Referenzsubjekt" (77). Zu fragen ist, ob diese scharfe Gegenüberstellung als definiens von Erzählen und Geschichte taugt. Wenn einer „auf den Markt geht, um Alexander zu treffen, statt seiner aber, dem zufällig etwas dazwischen gekommen war, Anaximander trifft, so hat er diesen zufällig getroffen". Wenn er aber, „wie er wollte, auf dem Markt tatsächlich Alexander getroffen hat, so hat er, nach Hause zurückgekehrt, insoweit nichts zu erzählen" (65). Gegen die Plausibilität des Beispiels regen sich Zweifel, wenn man ihm ein früher genanntes entgegenhält. Wenn Benjamin bemerkt, daß „bei Kriegsende . . . die Leute verstummt aus dem Felde kamen" (II 439), so wird man dies gewiß nicht dahingehend deuten, daß ihnen nichts zugestoßen wäre oder daß sie sich gar primär als Täter ihrer Geschichte identifiziert hätten. Und wenn heute allgemein vom Absterben des Erzählens und der Erzählkunst die Rede ist, so wird man ebenso bezweifeln, ob dies seinen Grund darin hat, daß die Menschen allesamt zu ,Subjekten' ihrer Geschichte geworden sind. Die logischen Distinktionen und klaren Grenzziehungen — intentionales Handeln versus zufälliges Geschehen — bieten nicht schon die Gewähr, daß ihre Anwendung als Kriterium des Narrativen, auch wenn sie auf den ersten Blick plausibel erscheint, den Gegenstand tatsächlich trifft. Die Fraglichkeit der erzähltheoretischen Thesen geht zusammen mit der Fragwürdigkeit jener strikten Gegenüberstellung, auf die sie abzielen und die ihnen in letzter Instanz zugrundeliegt: der Gegenüberstellung von Handeln und Geschichte, von praktischem Subjekt und historischer Identität. Wir können sie auf zwei Ebenen erörtern: auf der Ebene der Geschichte und auf der Ebene der Vergegenwärtigung von Geschichte, der Historie. a) Lübbe versteht seine Behauptung, daß Geschichten Prozesse ohne Handlungssubjekt seien, als bloße Strukturbeschreibung, nicht als eine ,materielle Behauptung über die Grenzen menschlicher Handlungsmacht" (70). Die Struktur, die damit erfaßt werden soll, ist die Struktur einer Geschichte, die typischerweise erzählt wird. Maßstab für die Angemessenheit der Beschreibung kann allein der normale Sprachgebrauch sein. Gerade dazu ist nun zu sagen, daß Lübbes Unterscheidung, auch wenn sie Wesentliches trifft, doch handlungstheoretische Unterscheidungen vernachlässigt, die auch umgangssprachlich durchaus geläufig sind. Geschichtliche Subjektivität situiert sich gewissermaßen im Zwischenbereich von Handlungssubjekt und Referenzsubjekt. Zwar ist offensichtlich, daß das Geschichtssubjekt nicht einfach Handlungssubjekt im idealtypischen Sinne ist. Zu dem, was ich geschichtlich bin, gehört mehr als was in meiner Absicht lag, und
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historische Erklärungen können deshalb nicht den reinen Status von intentionalen Handlungserklärungen haben. Trotzdem kann, was nicht in der Absicht des Subjekts lag, auch zu ihm gehören, und zwar nicht nur als zu einem objektiven Referenzsystem, sondern zu ihm als praktischem Subjekt. Um dies genauer zu fassen, ist es nötig, in dem, was ,nicht in seiner Absicht lag', zweierlei zu unterscheiden: nicht-intendierte Nebenfolgen einer Handlung und externe Ereignisse und Umstände, die einer Handlung schlicht äußerlich und kontingent gegenüberstehen. Nicht-intendierte Nebenfolgen gehören in dem Sinn zu einer Handlung, daß sie zum Verantwortungsbereich des Handelnden gehören können. Abstrakt gesehen, scheint zwar der Verantwortungsbereich gerade durch die Reichweite der Absicht abgesteckt zu sein. Es ist dies, nach Hegel, der Standpunkt des moralischen Bewußtseins, welches „nur dies als seine Handlung' anerkennen und „nur an dem Schuld" haben will, was „in seinem Vorsätze lag" (Rechtsph. § 117). Daneben aber gibt es die Praxis und Verantwortlichkeit des sittlichen Subjekts in seiner sozialen und geschichtlichen Existenz. Zumeist hat die Handlungstheorie sich auf jenen Bereich des .moralischen' Handelns beschränkt, zumindest soweit sie Handlungen nach ihrer Intentionalität analysiert und sie etwa nach der Logik des (im Anschluß an Aristoteles formulierten) praktischen Syllogismus' erklärt. Gegen eine solche Auffassung hat H. L. A. Hart mit der These opponiert, daß der Handlungsbegriff nicht von der Absicht oder allgemeiner: von der Intentionalität her definiert werden kann, sondern nur von der sozial und historisch begründeten und umgrenzten Verantwortung her. Meine Handlung ist das, wofür ich zur Verantwortung gezogen werden kann. Das in ,intentionalistischer' Sicht unterstellte Folgeverhältnis von Handlung und Verantwortung hat sich damit gerade umgekehrt. Doch es ist dies nicht einfach eine Gewaltsamkeit gegen die subjektive Innerlichkeit. Auch das Gewissen des sozialisierten Menschen richtet sich viel eher nach dem Prinzip der Verantwortlichkeit als der Absichtlichkeit, und eine Theorie, die dies ignoriert, bleibt auch phänomenologisch unzureichend. Totschlag ist nicht Mord, aber ich bin (und fühle mich) auch für einen unbeabsichtigten Totschlag schuldig. Ich kann Schuld durch Unvorsicht, durch Nichtwissen, durch Unterlassen einer Handlung auf mich laden, ohne das all dies im strikten Sinne Gegenstand einer Entscheidung geworden wäre. Wie schon Aristoteles in seiner Analyse der Nicht-Freiwilligkeit (Nikom. Eth. III) aufzeigt, hat die Entlastung durch Nichtwissen (oder durch Angst, Drohung usf.) einen andern Status als die Entlastung durch direkten physischen Zwang. Nichtwissen schützt vor Strafe nicht, sagt der Volksmund, und Strafe indiziert Schuld. Wie Eltern für ihre Kinder ,haften', obwohl sie für deren Taten nicht (notwendig) moralisch verantwortlich gemacht werden können, so leisten nachfolgende Generationen Reparationszahlungen für Kriege ihrer Väter. Nach Hart nötigt diese Einsicht zu einer grundsätzlichen Transformation im Status der Handlungsbeschreibung. Eine Handlung als die .meine' zu bezeichnen ist danach kein deskriptiver, sondern ein ,askriptiver' Akt, ähnlich jenem, in dem mir ein Eigentum als das meine zugesprochen wird 46 . Rechte und Verantwortungen 46
Es ist klar, daß daneben auch ein rein deskriptiver Gebrauch von Handlungsverben
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zuzuschreiben ist nicht ein theoretischer Akt, der als Beschreibung wahr oder falsch sein kann, sondern ein praktischer Akt, eine Entscheidung, die richtig oder falsch, ein Urteil, das gut oder schlecht sein kann, und das aus dem Munde des Richters soziale Verbindlichkeit und Endgültigkeit gewinnt, im Alltagsleben aber immer mit einer gewissen Vorläufigkeit behaftet ist (Hart 1948/49,184,193). Diese ,Askription' stellt im handlungstheoretischen Kontext ein Modell für jene Mitte zwischen Täterschaft und bloßer Referenz dar, wie wir sie auch für das Verhältnis des Menschen zur Geschichte zu bestimmen haben47. Wenn ich mir meine Geschichte als meine eigene zuschreibe, sie .aneigne' und mich gar über sie identifiziere', so ist dies zwar noch nicht gleichbedeutend damit, mir eine Handlung als eigene zuzuschreiben. Gleichwohl bedeutet es mehr als die bloße Herstellung einer einheitlichen Referenz. Die Geschichte ist nicht nur das, ,was für den Mann steht' (Schapp), gewissermaßen ,steht' auch er ,für' sie. Daß ich meine Geschichte nicht von mir werfen kann, heißt auch, daß ich für sie .einstehe', sie als die meinige ,anerkenne', daß sie für mich eine Verbindlichkeit darstellt, die ich auf mich nehme und mit der ich mich auseinanderzusetzen habe. Würde zu ihr nur das ehemals Intendierte gehören, bliebe unverständlich, welchen Sinn die Rede von einer .Aufarbeitung' oder gar .Bewältigung' der Geschichte haben sollte — gerade wo solches späteren Generationen (etwa den Schulen) als Aufgabe anempfohlen wird. Die Reduktion der geschichtlichen Selbstzuschreibung auf bloße Referenz ist das theoretische Modell der Entlastungsstrategie. Über nicht-intendierte Handlungsfolgen hinaus kommen dabei, wenn auch in anderer Weise und mit geringerem moralischem Gewicht, andere Kontingenzen in den Blick, mit denen Geschichte befaßt ist: äußere Ereignisse und Umstände, die in keinem einsehbaren Bezug mehr zu meinen vergangenen Handlungen und Absichten stehen, aber möglicherweise jene nicht-vorhersehbaren Folgen mitbedingen, Ereignisse, die mir schlicht zustoßen und meine Befindlichkeit und meinen Handlungsspielraum in entscheidender Weise mitbestimmen, letztlich die pure Faktizität, nicht nur meines So-und-so-Gewordenseins, sondern meines Seins schlechthin. Auch hier stellt sich die Frage, ob nicht all dies in gewisser Weise mit zu dem gehört, was meine praktische Bestimmung ausmacht, mit dem ich mich nicht nur pragmatisch-technisch, sondern auch praktisch-moralisch auseinanderzusetzen habe. Vielleicht ist es kein Zufall, daß Hegel die Prototypen historischer Existenz, die welthistorischen Individuen, auch mit Zügen des antiken Heros versieht, in dessen, zwar nicht moralische, aber ethische Identität auch das Schicksal eingeht, das er erleidet. Schuld durch Nichtwissen und äußeres Schicksal sind in seinem Fall, wie die Sage des Oedipus zeigt, nicht mehr trennscharf auseinanderzuhalten 48 . Natürlich
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möglich ist; die These ist nur, daß ihre grundlegende Funktion askriptiven Charakter hat: Hart 1948/49; vgl. Hart/Honore 1959. Auch Hart merkt an, daß der askriptive Charakter von Handlungsverben besonders deutlich im Vergangenheitstempus hervortritt (1948/49, 188). Wie die tiefenpsychologische Interpretation zeigt, gibt es auch Schuld auf der Ebene des Unbewußten (cf. Mitscherlich 1967, 265); vielleicht hat das, was als Geschichte erlebt wird, mehr mit diesen Tiefenschichten der Persönlichkeit zu tun als der aufgeklärte Mensch wahrhaben will.
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besagt dies nicht umgekehrt eine Totalverantwortung für Geschichte im gleichen Sinn, wie wir für unsere Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden. Wie das Verhältnis des Menschen zur Geschichte, die Integration historischer Kontingenz in die eigene (auch praktische) Identität positiv zu kennzeichnen ist, läßt sich an dieser Stelle noch nicht zureichend beschreiben. Negativ aber ist das Ungenügen einer Theorie festzuhalten, die diese Integration nur noch nach dem Modell einer bloßen Referenzeinheit zu verstehen vermag. b) Der restringierten Fassung dessen, ,was' zur Geschichte gehört, entspricht die Einseitigkeit, mit der Lübbe den Akt 4er historischen Vergegenwärtigung beschreibt. Ihrem logischen Status nach ist die Erzählung als Grundlage dieser Vergegenwärtigung ein rein .theoretischer' Akt. Seine praktisch-performative Leistung besteht im Erfassen dessen, was ist. Gewiß ist Erzählen nicht bloßes Konstatieren, sondern darüber hinaus um die Verständlichkeit des so Konstatierten bemüht. Doch ist die explikative Leistung dabei die gleiche, ob es sich um die Geschichte von Menschen oder die Geschichte der Natur handelt; sie besteht in der Darlegung der Geschichte als eines Interferenzzusammenhangs. Ihre Verständigungsform ist eine rein theoretische. Eine solche Festlegung jedoch widerspricht ebensosehr dem, was Menschen in der Vergegenwärtigung ihrer Geschichte faktisch tun, wie der Art, in der sie über Geschichte ihre Identität konstituieren. Menschen beziehen sich nicht nur kognitiv, sondern auch praktisch-wertend auf die Geschichte, die sie sich als die eigene zuschreiben. Es geht ihnen weder nur um die Unverwechselbarkeit noch um die bloße Verständlichkeit ihrer Lebensgeschichte, sondern ebenso um die Akzeptierbarkeit, um die mögliche Vernünftigkeit des geschichtlichen Zusammenhangs, über den sie sich identifizieren. Sich über Geschichte identifizieren heißt auch, sich im Medium der Geschichte über sich selber verständigen, und eine solche Selbstverständigung rekurriert notwendig auf mehr als theoretische Einsichten. Geschichte ist auch das, wovon ich betroffen bin und worauf ich mich urteilend und wertend beziehe. Würde sie mich nicht in meiner Eigenschaft als praktisches Subjekt betreffen, so wäre schwerlich einzusehen, wie ihre Aufarbeitung zum praktischen Problem werden könnte. Wenn wir uns, zunächst nur im Namen einer genaueren phänomenologischen Beschreibung, gegen die strikte Trennung von historischem Erzählakt und praktischer Vernunft wenden, so sprechen wir damit im übrigen nur Momente an, die von vielen Autoren ins Zentrum geschichtstheoretischer Erörterungen gestellt worden sind, und zwar nicht von bloßen Moralisten, sondern von solchen, die zu den Begründern und Bewahrern des historistischen Erbes zählen, das sich auch Lübbe angelegen sein lassen will 49 . Die Beantwortung der — idealtypisch in erster Person gestellten — Wer-Frage durch die Erzählung ist keine bloße Feststellung, sondern eine Zuschreibung im askriptiven Sinn, eine Anerkennung, eine ,Aneignung' von Geschichte. Zu dieser Einsicht kommt auch Lübbe, und sie führt ihn schließlich, wie es scheint, zu einer 49
Vgl. etwa Rickerts Theorie der Wertbeziehung oder Diltheys Definition des Lebenszusammenhangs als Sinnzusammenhang. — Zur Auseinandersetzung mit Lübbes ,Neohistorismus' s. Rüsen 1979 c.
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Die praktische Funktion der historischen Erzählung
eigenartigen Inkonsequenz. Während es zunächst so schien, als ob die Erzählung im Falle der reflexiven Identifizierung auch schon die Identität des so sich Identifizierenden gewährleistete (146 ff.), unterscheidet er am Schluß seiner Abhandlung zwischen der Präsentation der Vergangenheit und deren ,Aneignung'; erstere soll die Leistung des historischen Bewußtseins sein, die zweite dagegen ausschließlich in den Bereich der praktischen Vernunft fallen. Erst durch die Aneignung aber soll die Identität des Subjekts wirklich gestiftet werden (334; vgl. 214f.). Nun ist klar, daß Präsentation und Aneignung von Geschichte logisch unterscheidbare Funktionen darstellen. Nicht erwiesen aber ist damit, wieso sie in verschiedene Akte auseinanderfallen sollen und insbesondere, wieso dem ersten, dem Akt historischer Vergegenwärtigung, nicht selber schon der Charakter der Aneignung und Selbstzuschreibung zukommen soll. Zwar geht dies nicht aus der narrativen Struktur der Sprache, wohl aber aus der lebensweltlichen Funktion historischer Erzählungen hervor. Die unter praktischem Gesichtspunkt sich vollziehende Aneignung von Geschichte vollzieht sich gerade — wenn man am narrativistischen Ansatz festhalten will — im Erzählen von Geschichten oder geht zumindest konstitutiv in es ein. Es gibt nicht ein Erzählen und danach, als davon distinkter Akt, eine Selbstzuschreibung des Erzählten. Das Erzählen ist selber ein Akt „der identifizierenden Aneignung oder Zuschreibung dieser Vergangenheit" (334). Es ist intentional auf Aneignung ausgerichtet, wie die Aneignung ihrerseits sich narrativ vollzieht. Wiederum: Ginge die Aneignung nicht wesentlich in die — historische — Narration ein, so wäre nicht einzusehen, wieso die Nicht-Akzeptierbarkeit historischer Identität zur Störung der Erzählkompetenz selber führen müßte 50 . Wenn die Identität nicht zu unserer Disposition steht (170, 219), so bleibt eben nicht nur die Möglichkeit, sie außerhalb des Feldes praktischer Vernunft anzusiedeln; ebensogut kann man die entgegengesetzte Konsequenz ziehen, das Feld der praktischen Vernunft über das hinaus zu erweitern, „was zu unserer Disposition steht". Erst diese zweite Alternative scheint den Gedanken der Geschichtlichkeit wirklich ernst zu nehmen. Eine letzte Bemerkung ergibt sich aus dem Gesagten zur terminologischen Regelung der Begriffe ,Erzählung' und .Geschichte'. Schon früher wurde bezweifelt, ob ihre universale Fassung für reflexive wie nicht-reflexive Systeme nicht ein fragwürdiges Präjudiz darstellt. Was dort mit Bezug auf die Reflexivität als solche herausgestellt wurde (auf welche auch Lübbe verweist), verstärkt sich im Blick auf den Status des Erzählakts, der in der Beschreibung eines Naturgeschehens und in einem autobiographischen Bericht von völlig anderer Art ist. Auch wenn beide Begriffe in der normalen Sprache sowohl auf Natur wie Kultur Anwendung finden, scheint es dem Geist der Sprache zu entsprechen, an einem ursprünglichen Primat menschlicher Geschichte festzuhalten. Indes kann es hier natürlich nicht um einen Vorschlag zur Sprachregelung gehen; inhaltlich gilt das Interesse allein der Frage, ob die von Lübbe vorgeschlagene formal-funktionale Fassung des Geschichtsbegriffs in bezug auf Humangeschichte sinnvoll ist. Mit der Abspaltung des Geschichtsbegriffs
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Vgl. A. u. M. Mitscherlich 1967.
Konstitution und Vergegenwärtigung persönlicher Identität
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vom Handlungsbegriff steht zur Frage, ob hier nicht eine unzulässige Einschränkung der praktischen Vernunft vorgenommen wird, ob nicht eine aufklärerische Verdünnung der praktischen Vernunft zur Moralität dafür verantwortlich ist, daß für die Geschichte, da Moralität ja nicht schon Geschichte sein kann, nur noch der ebenso abstrakte Gegenpart einer Interferenzprozessualität übrig bleibt.
C. Die Auseinandersetzung mit der Theorie H. Lübbes — dem in der Literatur wohl am weitesten ausformulierten Vorschlag zur hier untersuchten Thematik — gibt uns zugleich Leitlinien für die Weiterführung der Problemexposition an die Hand. Es sind dies gewissermaßen die Fluchtlinien, die gerade in der Kritik an dieser Position sichtbar geworden sind. Persönliche Identität, so hat Lübbes Analyse gezeigt, ist etwas anderes als die formale Selbstbeziehung oder die bloße numerische Identität. Um mich meiner Identität zu vergewissern, brauche ich den Rekurs auf qualifizierende Selbstzuschreibungen, in denen ich mein Ich sozusagen inhaltlich bestimme. Wie sich weiterhin gezeigt hat, kann sich diese Bestimmung nicht in der Angabe meiner praktischen Einstellungen erschöpfen und auch nicht darin, daß ich diese durch eine Reihe von Qualitäten, die mir faktisch zukommen, ergänze (psychische und körperliche Verfassung, soziale Rollen etc.). Sowohl der Realitätsgehalt wie die Verständlichkeit einer solchen Beschreibung bleiben defizient ohne den Bezug auf Vergangenes, auf das, was ich sein wollte, wie auf das, was ich ohne mein Dazutun geworden bin. Um Vergangenes in meine Identität zu integrieren, bedarf es seiner ausdrücklichen Vergegenwärtigung. Meine Identität ist mir nicht in einer Art Totalpräsenz gegeben, auch wenn ich so etwas wie ein ,Selbstgefühl' haben mag, das über mein gegenwärtiges Erleben hinausgeht und das Ganze meiner Person betrifft. Wie vor allem Dilthey deutlich gemacht hat (1974, 235 ff.), bedarf das Selbstverhältnis — besonders augenfällig im Falle kollektiver Identität — des ,Ausdrucks' und ,Verstehens', des Akts der Erinnerung, der als Vergegenwärtigung der Objektivationen des Lebens über die subjektive Beschränktheit des Erlebens hinausgeht 51 . Sprachliches Paradigma dafür ist die Autobiographie, und in gewissem Sinn bildet gerade sie das Modell für geschichtliches Verstehen überhaupt wie für das, was als Interesse diesem Verstehen zugrundeliegt, die „Selbstbesinnung des Menschen" (247). Komplementär zur Rückbindung an Vergangenheit zeigt sich das umgekehrte Erfordernis, historisches Bewußtsein zum Gegenwartsbewußtsein, zum aktualen praktischen und wertenden Selbstverständnis in Beziehung zu setzen. In der Verständigung darüber, wer ich bin, geht es mir nicht nur um die explikative Erhellung des vergangenen Lebenszusammenhangs, sondern gewissermaßen auch um eine Qualifikation dieses Zusammenhangs selber und als ganzen, um einen Sinn, 51
Vgl. Ineichen 1975, 200; Wach 1933, III 164.
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Die praktische Funktion der historischen Erzählung
einen Inhalt meines Lebens als ganzen. Sofern diese Bestimmung des Ganzen gegebenenfalls auch gegen dessen faktische Bestimmtheit oder zumindest gegen gewisse Momente dieser Bestimmtheit zur Geltung gebracht wird, kommen formale Bestimmungen der Identitätsbildung in den Blick, die erst durch diesen Bezug aufs Ganze der Person gesichert werden: Selbständigkeit und Beständigkeit — Selbständigkeit gegenüber den einzelnen, momentanen Ansprüchen, die mit meinen verschiedenen Eigenschaften (etwa sozialen Rollen) verbunden sind, Beständigkeit im Wechsel der Selbstzuschreibungen, die diesen Eigenschaften entsprechen. Gerade im Blick auf sie wird deutlich, daß diese Selbstdefinition, die sich auf die Identität einer Person in ihrer Ganzheit bezieht, nicht ein rein kognitiv-konstatierender Akt ist, sondern zum Teil ebenso ein Entschluß, eine Wahl zwischen alternativen Selbstdefinitionen, die sich unter praktischem Gesichtspunkt vollzieht. Allerdings vollzieht sie sich nicht losgelöst von meiner faktischen Bestimmtheit. Soll das Selbstverständnis, das ich darin erreiche, identitätsstiftend sein, so muß es auf mehr als der Idealvorstellung von mir beruhen; die Identitätsstiftung ist weder die pure Wahl zwischen Existenzmöglichkeiten, reine Konstitution, noch das bloße Feststellen der Identität als schon konstituierter. Zur inhaltlichen Bestimmtheit des Ganzen eines Lebenszusammenhangs gehört die Vermittlung dieser beiden Ebenen; erst in dieser Vermittlung — die gewissermaßen eine Vermittlung zwischen Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsausrichtung ist — wird die Wer-Frage, wie sie typischerweise in der ersten Person gestellt wird, angemessen beantwortbar. Allerdings könnte man bezweifeln, ob damit die behauptete Verbindung wirklich hergestellt ist. Man mag die praktischen' Anteile der Geschichtsaneignung zugestehen und gleichwohl ihr gegenüber an der Eigenständigkeit der praktischen Selbstdefinition einer Person festhalten. Daß die Unterscheidung von historischer und praktischer Identität logisch unterscheidbare Aspekte benennt, ist in der Tat ebensowenig zu leugnen wie daß sie im konkreten nicht einfach zu identischen Größen konvergieren. Dennoch bleibt ihre Trennung künstlich und abstrakt. Die normativen Gesichtspunkte, unter denen ich meine Geschichte .verarbeite', mich mit ihr auseinandersetze, gehen ebenso in mein gegenwärtiges praktisches Selbstverständnis ein — genauer: sind erst von diesem her konkretisierbar — , wie sich dieses nicht losgelöst von meinem faktischen Sosein bestimmt. Schon früher hatte sich das Ungenügen des Danto'schen Konzepts erwiesen, das als Regulativ für die historiographische Selektion nur noch Momente .subjektiver Willkür' anzugeben weiß. Sofern jedenfalls historische Besinnung als Medium von Identitätsbildung thematisch wird, ist an der konstitutiven Funktion meiner praktischen Selbstdefinition festzuhalten — auch wenn sie dafür keineswegs das allein entscheidende Moment darstellt. In welcher Weise sie allerdings diese Funktion genau erfüllt, ist damit noch nicht ausgemacht; desgleichen ist die von der Sache her ebenso wichtige Frage, in welcher Weise umgekehrt das historische Bewußtsein in die Formen praktischer Verständigung und damit auch in die Bildung meiner praktischen' Subjektivität eingeht, an dieser Stelle erst als offene Frage zu formulieren. Bedeutsam ist die Betonung der praktischen' Seite historischer Konstitution nicht nur im Horizont der Identitätsproblematik, sondern auch im Blick auf den
Konstitution und Vergegenwärtigung persönlicher Identität
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Geschichtsbegriff selber. Zur Aneignung gehört eine .Verarbeitung' von Geschichte, die sich nicht nur um deren interne — theoretische' — Verständlichkeit bemüht, sondern auch auf ihre Vernünftigkeit und mögliche Akzeptierbarkeit abzielt. Selbstredend braucht dies nicht zur ,positiven' Wertung, zur historischen Selbstrechtfertigung zu führen. Wesentlich ist die Übernahme von Verantwortung für die eigene Geschichte52, soweit diese mit der eigenen Person zu tun hat, und vielleicht das Wichtigste ist gerade die Fähigkeit zum Ertragen von Schuld, von historischer, nicht mehr unmittelbar wiedergutzumachender Schuld, die Kraft zur Integration dessen, was nicht schmerzlos in unser gegenwärtiges Selbstbild sich fügen läßt, zur Übernahme der Geschichte auch dort, wo ihre entlastende Rationalisierung nicht durchführbar ist. Von höchster Bedeutung ist dieser Zusammenhang, weil in einem bestimmten Sinn erst durch diese .Übernahme' Geschehen zur Geschichte, und spezifischer: Vergangenes wirklich vergangen wird. Dies wird durch ein Theorem aus der Psychoanalyse illustriert, das Freud unter dem Titel „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten" erörtert hat (Ges. Werke X, 126 ff.). Solange Vergangenes nicht durchgearbeitet ist, wird es „nicht als Erinnerung, sondern als Tat" reproduziert (129). Insbesondere gilt dies natürlich von jenen Teilen des Vergangenen, die für das gegenwärtige Bewußtsein belastend und infolge ihrer Konfliktbeladenheit der Verdrängung anheimgefallen sind. Je stärker sich gegen ihre Bewußtmachung der Widerstand regt, „desto ausgiebiger wird das Erinnern durch das Agieren (Wiederholen) ersetzt" (130). Geschichtslosigkeit und Geschichtsverdrängung, die vielen als Symptom der Gegenwart erscheinen, bedeuten nicht in jedem Fall ein einfaches Sichlösen vom Vergangenen; ebensogut können sie gerade dessen Gegenteil, das schlichte Verhaftetsein im Vergangenen meinen, das unreflektierte Reproduzieren, den ,Wiederholungszwang'. Daß diesem psychoanalytischen Terminus ein geschichtlicher Befund entspricht, haben die Autoren gewußt, welche die Aufgabe der historischen Vergegenwärtigung gerade in der ,Befreiung' von der Vergangenheit sehen. Erst die bewußte Erinnerung befreit vom Verhaftetsein in der Vergangenheit, und erst das durcharbeiten', nicht schon die einfache Präsentation stellt mir das Vergangene gewissermaßen zur Verfügung, ermöglicht mir ein bewußtes und freies Verhältnis zu ihm. Erst dadurch aber wird das Vergangene zur Geschichte, erst dann bin ich auch in der Lage, „Vergangenes als wirklich Vergangenes zu erleben" 53 . Es ist kein Zufall, daß gerade jene Kulturen, die über ein (in unserem Sinne) eigentliches historisches Bewußtsein verfügen, auch Geschichte als offenen, auf Zukunft gerichteten Prozeß verstehen und gleichermaßen einen emphatischen Freiheitsbegriff entwickelt haben; in ihrem Licht erscheint die
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53
Die Bedeutung einer „verantwortlich übernommenen Lebensgeschichte" für die Identitätsbildung wird verschiedentlich von Habermas betont (1981, I 163; vgl. 151, 155, 162). Allerdings scheint die stereotype Wiederholung der Formel eher eine Ungeklärtheit oder eine Leerstelle zu indizieren. In welchem Sinne mit Bezug auf vergangene Geschichte (und nicht nur vergangene Handlungen) von Verantwortung zu sprechen ist, bleibt die Frage. Vgl. Teil III, Anm. 33. Lukacz, Von Nietzsche zu Hitler, Frankfurt/M. 1966, 21; cf. Mitscherlich 1967, 82.
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Die praktische Funktion der historischen Erzählung
Wiederkehr des Ewiggleichen gerade als der Bann, als Verbleiben im Unverfügbaren. Zwar haben wir gesehen, daß in sprachpragmatischer Sicht bereits das Vergangenheitstempus der Erzählung als Indiz eines ,Nicht-Engagiertseins', einer .Abgeschlossenheit' des Vergangenen, gewissermaßen eines Disponierens über das Vergangene gewertet wurde. Es zeigt sich nun, was dieser Deutung selber schon vorausliegt: daß der Vergangenheitsbezug eben nicht rein temporal qualifiziert ist, sondern daß die Erzählung, die sich normalerweise des Vergangenheitstempus bedient, ineins mit der Präsentation die Verarbeitung' des Geschehenen intendiert oder die schon geschehene Verarbeitung zum Ausdruck bringt. Daß erst die geschichtlich angeeignete Vergangenheit wirklich vergangen ist, widerstreitet dann auch nicht dem anderen, am Beispiel von Kritischer Theorie und narrativer Theologie illustrierten Merkmal historischer Erinnerung, nach welchem Vergangenes gerade in seiner Unabgeschlossenheit und Unerledigtheit, in seiner Verweisung auf Zukunft erinnert wird. Nur die aufgearbeitete' und ,übernommene' Geschichte, die gewissermaßen von ihr selbst, vom Zwang der Wiederholung befreit, läßt das im Vergangenen angelegte Potential erschließen, läßt Zukunft als offene und neue, nicht als Permanenz des Gewesenen erscheinen.
2.4.
Das Interesse am Erzählen als Interesse an Kontinuität A.
Es gibt einen signifikanten Punkt, in dem die Geschichtstheorie Baumgartners mit der von Lübbe konvergiert. Beide betonen die begriffliche Unterscheidung von Handeln und Geschichte: Geschichte kann nicht, wie verschiedene Geschichtskonzepte suggerieren oder ausdrücklich behaupten, in struktureller Analogie zum Handlungsvorgang gedeutet werden. „Von sich selbst her ist das Ereignis des Handelns ausschließlich die Realisation eines sittlichen Verhältnisses, nicht Realisation von Geschichte" (Baumgartner 1972b, 212). Ebenso konvergieren beide Theorien hinsichtlich eines Arguments, das sie zur Begründung dieser Unterscheidung anführen. Es ist die grundsätzlich verschiedene Zeitperspektive, auf die Geschichte und Handeln Bezug nehmen, der „Hiatus zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem" (253); Handeln ist zukunftsgerichtet, Geschichte grundsätzlich retrospektiv. Allerdings bleibt diese Gemeinsamkeit beider Theorien äußerlich. Sowohl die weitere Explikation dieser These und ihrer Begründung wie auch das Motiv, das sie leitet, zeigen sich bei näherem Zusehen als völlig verschieden, ja entgegengesetzt. Während es Lübbe darum geht, Geschichte dem Zugriff des handelnden Subjekts zu entreißen und sie ihm als das unabhängig von seiner praktischen Vernunft Konstituierte entgegenzustellen, verfolgt Baumgartner das entgegengesetzte Ziel: Geschichte ist für ihn eine Leistung, die das Subjekt gerade unter praktischem Gesichtspunkt vollbringt, die es aber nicht schon in seinem Handeln oder in seiner praktischen Selbstidentifizierung vollbringt. Woraus bei Lübbe eine Einschränkung des Praktischen folgt, ergibt sich bei Baumgartner dessen
Das Interesse an Kontinuität
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Ausweitung. Wieso Baumgartner zu einer solchen Schlußfolgerung gelangen kann, wird deutlich, wenn man die Motive verfolgt, die ihn zu seiner Fassung des Geschichtsbegriffs führen. Baumgartner expliziert den Geschichtsbegriff mit Hilfe jenes Begriffs, der für ihn der Grundbegriff der modernen Geschichtsphilosophie und -theorie ist: des Begriffs der Kontinuität. Schon bei seinem ersten Auftreten verbindet der Kontinuitätsbegriff zwei Motive, die in der weitern Geschichte des Begriffs klar hervortreten: das Bedürfnis einer Überwindung der Geschichtslosigkeit und das Bestreben, diese Uberwindung nicht durch ein metaphysisches Weltbild abzusichern. Droysen, der am Anfang dieser Begriffsgeschichte steht, teilt Hegels Anliegen, die Einheit des geschichtlichen Zusammenhangs zu bewahren angesichts des nach der französischen Revolution drohenden Verlusts der Herkunftsgeschichte. Während Hegel diese Einheit aber letztlich durch Rekurs auf ein metaphysisches Substrat, den in der Geschichte zu sich kommenden Geist, zu retten sucht, basiert der Kontinuitätsbegriff gerade auf der „ebenso aus geschichtlicher Erfahrung hervorgehenden Einsicht in die Unmöglichkeit, das Problem der Geschichtslosigkeit . . . spekulativ . . . zu lösen" (75). Kontinuität stellt gegenüber dem Entwicklungsgedanken ein restriktives Konzept dar, und die ganze Geschichte der Geschichtsphilosophie ist die Geschichte der zunehmenden Restriktion der Geschichtsidee. Läßt sich schon der spekulative Geschichtsbegriff als Säkularisierung der theologischen Heilsgeschichte auffassen, so stellt der Kontinuitätsbegriff ein geradezu antimetaphysisches und antispekulatives Konzept dar. Auch die weitere Theorieentwicklung — etwa hin zur Idee eines hermeneutischen Überlieferungsgeschehens oder einer existenziellen Geschichtlichkeit — läßt sich als sukzessive Zurücknahme der Vergegenständlichung verstehen, die dem unbefangen-emphatischen Geschichtsbegriff zugrundeliegt und die gerade den wirklichen Bezug von Geschichte und menschlicher Praxis verhüllt. Allerdings, so Baumgartner, behalten alle Nachfolgetheorien und -begriffe noch ein insgeheim metaphysisches Moment, sie alle stützen letztlich Geschichte auf etwas anderes ab und verfehlen damit das spezifisch Geschichtliche. Nur eine Theorie, welche sich von jedem außergeschichtlichen Fundament lossagt und Geschichte in einem radikalen Sinn als Konstruktion versteht, vermag nach ihm den Geschichtsbegriff konsistent zu formulieren. Die Kontinuität, auf welche geschichtliches Denken aus ist, steht zu überhaupt keinem Vorgegebenen, zu keiner Geschehens-, Handlungs- oder Erlebensform in Abbildfunktion, sondern ist Resultat einer reinen Konstruktion, die allein vom praktischen Interesse her aufzuhellen ist, das ihr als Konstitutionsakt zugrundeliegt; Geschichte, so verstanden, hat überhaupt keine theoretische, sondern „ausschließlich praktische . . . Bedeutung" (Anacker/Baumgartner 556). Es leuchtet unmittelbar ein, daß eine solche Sichtweise bedeutsame Konsequenzen für die Identitätsproblematik hat. Sie hinterfragt die natürliche Vorstellung, wonach jede Geschichte, da sie Geschichte ,νοη etwas' ist, auf irgendeiner Stufe sich durchhaltende Identitäten unterstellt 54 . Wenn als deren implizites Paradigma oft der 54
So Danto 1974, 375.
70
Die praktische Funktion der historischen Erzählung
Organismus gilt, so zeigt schon die soziologische Identitätstheorie, daß die eindeutigen raum-zeitlichen Kriterien des Organismus nicht nur für die Gesellschaft, sondern bereits für das Persönlichkeitssystem unzureichend sind. Die Einheit einer Lebensgeschichte kann nicht von der Identität der Person her definiert werden, weil sie durch anderes als Einheit konstituiert ist. Allgemeiner gesagt: Die Identität in der Zeit ist „zwar Voraussetzung im Substrat von Geschichte, aber nicht Ingrediens von Geschichte" (1972b, 300). Die Identität, um die es der Geschichte geht, ist nicht mehr vorausgesetzte, sondern „hervorgebrachte Identität"; als solche ist sie nichts anderes als die „Einheit eines Erzählzusammenhangs" (ebd.) 55 . Denn wenn die spezifisch geschichtliche Einheit, die wir mit dem Begriff der Kontinuität benennen, nicht auf ein selber zeitliches Substrat abgestützt werden kann, so bleibt nur übrig — so Baumgartner —, ihr Einheitskriterium in der Einheit eines Sinns, als „Sinnidentität" (48) zu fassen: Die Einheit einer Geschichte wird nicht festgelegt durch die Individualität des Subjekts (und sei es des bloßen Refrenzsubjekts), dessen Geschichte es ist, sondern durch die Einheit dessen, worum es in der Geschichte dieses Subjekts geht. Dies ist offenkundig im Fall der ,Geschichte der Französischen Revolution', es gilt aber gleichermaßen für die Geschichte eines Kollektivs, einer Familie oder auch eines Individuums, bei dem es um seine Entwicklung, Karriere, Abenteuer und Erfahrungen, oder eben im weitesten Sinn um seine historische Identität geht. Der Rahmen aber,,worum' es in einer solchen Geschichte geht, ist durch nichts anderes als die Erzählung selbst festgelegt. Es lassen sich von der gleichen Person und einem gleichen Zeitabschnitt ganz verschiedene Geschichten erzählen. Für Baumgartner folgt daraus, wie irreführend „die Präokkupation durch das geschichtstheoretische Paradigma der Biographie" oder gar der Autobiographie ist, suggeriert dieses doch gerade die „Einheit von Identität und historischer Kontinuität"; seine Paradigmafunktion mag „die merkwürdige Beirrung der Geschichtstheorie durch das Problem eines identischen Subjekts in aller Geschichte verständlich (machen), die auch nach der Destruktion aller spekulativen Geschichtsphilosophien selbst so kritische Denker wie Dilthey, Habermas und auch Danto noch in Bann hält" (299; vgl. 116 ff.). Beirrend ist das Paradigma durch die Unterstellung einer der Konstruktion vorausliegenden Einheit — auch wenn es in anderer Hinsicht einen wesentlichen Aspekt historischer Konstitution verdeutlicht 56 . Nun bestimmt die Erzählung nicht nur den Rahmen dessen, worum es in einer Geschichte geht, sondern sie soll nach Baumgartner auch das eigentliche Konstitutionsmedium der Einheit der Geschichte sein: Das Erzählen konstruiert einen
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Hull (1975, 272) versucht, beide Gesichtspunkte zu verbinden, indem er drei Ebenen unterscheidet: (1) „Individuais"; (2) „Historical entities are a special kind of individual — individuals integrated by a variety of particular relations including spatio-temporal unity and continuity"; (3) „A central subject is an historical entity functioning as the core of an historical narrative". Nämlich als Modell für den Stellenwert der historischen Vergegenwärtigung oder für die Reflexivität der Geschichte als solcher; vgl. Diltheys Deutung der Autobiographie als Modell der über Geschichte sich vollziehenden Selbstbesinnung'.
Das Interesse an Kontinuität
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zeitlichen Zusammenhang im Horizont der gewählten Sinnperspektive und verleiht dieser gerade dadurch lebensweltliche Bedeutsamkeit, daß es im Hinblick auf sie Geschichte als Kontinuität darstellt. Das Interesse am Erzählen ist das Interesse an Kontinuität. Kontinuität aber ist kein theoretischer Begriff, die Darstellung eines Zusammenhangs als kontinuierlich ist nicht von ihrer beschreibenden Funktion her zu definieren. Der Kontinuitätsbegriff drückt ein praktisches Interesse aus, ein Interesse, über alle Brüche und Diskontinuitäten hinweg an einem Zusammenhang festhalten zu wollen: „Kontinuität heißt Kontinuität soll sein" (32). In vielen Fällen scheint die Stoßrichtung eines solchen Interesses auf der Hand zu liegen. Im Verhältnis des einzelnen zu seiner Geschichte erscheint es in einem allgemeinsten Sinne als ein Interesse an Identität, als ein Interesse, im Lauf seiner Geschichte ,sich selber', ,mit sich identisch' zu bleiben. Damit ist mehr als die bloße Selbigkeit-in-derZeit angesprochen, wie sie zum Begriff realer Identität als solcher gehört. Zur Frage steht eine Reidentifikation, die mit der innern Einheitlichkeit der Geschichte zu tun hat und die in einem bestimmten Sinn auf der eigenen Leistung dessen beruht, der sich in der Geschichte als derselbe erhalten soll57; sie scheint etwas von dem beinhalten zu müssen, was nach Erikson dem „Gefühl der Ich-Identität" zugrundeliegt, etwas von dem „Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität... aufrecht zu erhalten" (1966,107). Es geht um die Dauerhaftigkeit einer Sinnorientierung, deren Dauer zumindest teilweise als Resultat einer subjektiven Erhaltungsleistung erfahren wird, die aber nicht auf das Durchhalten einer bloßen Absicht oder idealen Norm reduzierbar ist. Die reale Erfahrung der Kontinuität ist die Erfahrung einer Beständigkeit im Wechsel von Lebenssituationen; ob dies auch schon heißt, daß sie im Gegensatz zur bloßen Dauerhaftigkeit oder Wiederkehr des Gleichen so etwas wie die Erfahrung von Entwicklung oder Steigerung impliziert — wie etwa Droysens Fassung der Kontinuität als ,epidosis eis hautö' 58 oder auch Stempels Bestimmung der narrativen Konsistenz als „resultative Beziehung" (1973, 328) nahezulegen scheinen —, bleibt vorerst eine offene Frage. Um genauer zu bestimmen, worauf das Interesse an historischer Kontinuität als Interesse am zeitlichen Zusammenhang intentional abzielt, können wir zunächst an jene pragmatischen Kontexte anknüpfen, wo die Kontinuität als vitales Interesse erlebt und artikuliert wird — nicht primär als Interesse an äußerer Stabilität und Festigkeit als vielmehr in Ausrichtung an der innern Stabilität und Legitimität von Handlungsorientierungen. Wenn eine Regierung die Kontinuität ihrer Politik betont (Baumgartner 1972b, 312ff.), so ist der wertende Charakter dieser Aussage ebenso klar wie wenn ein konservativer Politiker die Sozialdemokraten zu .geschichtslosen
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Den Zusammenhang von Selbsterhaltung und Kontinuität untersucht H. Ebeling im Kontext der Voraussetzungen v o n Kommunikation (1976 b, 17 f.). Vgl. Historik 411: „Es ist eine Kontinuität, in der jedes Frühere sich in dem Späteren fortsetzt, ergänzt, erweitert (epidosis eis hautö), jedes Spätere sich als Ergebnis, Erfüllung, Steigerung des Früheren darstellt" (cf. 9, 1 2 f f . , 29f.); zum Begriff der ,epidosis eis hauto': Aristoteles, De Anima II.5 (417b).
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Die praktische Funktion der historischen Erzählung
Gesellen' deklariert. Allerdings weist Baumgartner mit Recht darauf hin, daß der in diesem Zusammenhang verwendete oder unterstellte Kontinuitätsbegriff zwar so etwas wie ein Bedürfnis historischer Legitimation zum Ausdruck bringt, aber noch nicht die eigentlich historische Kontinuitätsfrage trifft: „Versprochene oder in Frage gestellte Kontinuität des politischen Handelns formuliert nur die lebensmäßig interessierende Identität bestimmter Lebenszüge, nicht aber den erzählbaren Zusammenhang einer Geschichte" (315). Die Kontinuitätsbehauptung hat nur Legitimationsfunktion innerhalb eines akzeptierten Normensystems, als Behauptung der Weiterführung bereits akzeptierter Handlungsweisen. Trotzdem liegt auch dieser Verwendung vielleicht mehr zugrunde. Es mag Situationen geben, wo die Berufung auf Geschichte nicht mehr innerhalb eines tradierten Wertesystems geschieht, sondern tendenziell an dessen Stelle tritt; auch die eben genannte Berufung auf Kontinuität scheint im Unterton an dieses Moment zu appellieren. Dabei kann es um Situationen gehen, wo das Festhalten an zeitlosen Werten und Normen „als nicht mehr möglich" erscheint und wo dann die Kontinuitätsvorstellung zur Legitimationsinstanz wird, die allein den „Ausfall einer wie auch immer gedachten absoluten Rechtfertigung" des Handelns zu kompensieren vermag (163 f.). Zum andern kann es darum gehen, daß der Rekurs auf Geschichte nicht zur Legitimation allgemeiner Handlungsnormen, sondern für deren inhaltliche Konkretisierung in Anspruch genommen wird; Geschichte kompensiert hier die Unmöglichkeit einer „material" oder „inhaltlich absoluten Begründung gegenwärtigen Handelns" (163). Allerdings geht es, sofern hier ein Interesse an Kontinuität ins Spiel gebracht wird, nicht nur darum, Geschichte gleichsam als Entscheidungshilfe einzusetzen, welche bestimmte Handlungsformen als schon erprobte und bekannte nahelegt, sondern darum, wie die Berufung auf Geschichte und Kontinuität für die Orientierung gegenwärtigen Handelns selber rechtfertigende Funktion haben kann. Es ist klar, daß in einem strikten Sinn der bloße Rückgriff auf Vergangenes überhaupt in keiner Weise legitimierend sein kann. Das Vergangene mag Autorität und Würde haben, und man mag durch Geschichte klug, lebenserfahren, sogar weise, ja in gewissem Sinn auch sittlich erfahren und gut werden; gleichwohl ist klar, daß der Verweis auf Vergangenes nur unter Voraussetzung eines metaphysischen Geschichtsmodells per se normative Kraft hat. Trotz alledem scheint unbestreitbar, daß sowohl das Interesse an Handlungsorientierung und -Legitimation in vielen Fällen „die Konstruktion bestimmter Zusammenhänge im Vergangenen leitet" (269), wie auch umgekehrt zuweilen die Herstellung von Kontinuität selber als ethischer Vorzug, als sittlich-praktische Leistung angesehen wird. Es ist dieser zweifache Tatbestand, der zu interpretieren ist. Er wird uns nur dann verständlich, wenn wir annehmen, daß die Stiftung von Kontinuität überhaupt sinnvoll ist, daß der Mensch an der Kontinuität überhaupt ein Interesse haben kann. Genauer gesagt heißt dies, daß der Bezug auf Vergangenes für die Gegenwart nur dann sinnvoll ist, wenn diese Vergangenheit nicht nur als feststehender Bezugspunkt, sondern selber als sinnvoller Zusammenhang unterstellt wird: Die eigene Kontinuität des Vergangenen, die eigentliche historische Kontinuität, die in der retrospektiv erzählten Geschichte konstituiert wird, liegt der Kontinuität zwischen Vergangenheit und
Das Interesse an Kontinuität
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Gegenwart (und beabsichtigter Zukunft) zugrunde, wenn mit ihr mehr als die Perpetuierung bestimmter Normen und Verhaltensweisen gemeint ist. Was somit in letzter Instanz aufgehellt werden muß, ist der Gehalt jenes Interesses am Zusammenhang des Vergangenen selber. Vergangene Geschichte ist nicht per se sinnvoll oder gar legitimierende Appellationsinstanz; ihre Sinnhaftigkeit ist nichts anderes als das, was im Entwerfen ihres zeitlichen Zusammenhangs intendiert wird, das, worauf das Interesse an der narrativen Konstruktion selber ausgerichtet ist. Aufzuhellen ist, diesseits aller inhaltlichen Kontinuierung, das fundamentale Interesse an einer formalen Kontinuität, und das heißt für den Narrativismus: das Interesse an der auf Kontinuität ausgerichteten Formstiftung der Erzählung. Wieso erzählen die Menschen Geschichten, wieso wollen sie sich ihrer Geschichte erinnern? Das Erzählen soll Vergangenes ins Gedächtnis zurückrufen, es erhalten, in der Gegenwart und für die Zukunft bewahren. Was vergangen ist, soll nicht schlicht nicht mehr da sein, für immer vergangen, nichtig sein. Die Suche nach der verlorenen Zeit strebt danach, den Fluß des Geschehens, der Gegenwärtiges zum nicht-mehr-Seienden herabsinken läßt, anzuhalten, die alles Endliche vernichtende Zeit zu überwinden. Dem Erzählakt, sofern er Kontinuität stiftet — und er allein ist letzter Konstitutionsgrund historischer Kontinuität — hegt nach Baumgartner als tiefstes Motiv ein „Interesse an der Unvergänglichkeit alles Vergänglichen" zugrunde (324). Dieses Interesse, welches das Interesse der Geschichte ist, ist nach Baumgartner in der Wesensnatur des Menschen begründet: Es ist eine Variante jenes Strebens nach Totalität, das im theoretischen wie im praktischen Bereich konstitutive Voraussetzung aller menschlichen Tätigkeit ist, ein Streben, „das zugleich, sofern es durch kein Einzelnes befriedigt werden kann, Index einer letzten und strukturellen Fragwürdigkeit und Gebrochenheit des menschlichen Wesens ist" (1972b, 323). Sofern Geschichte unter der Leitidee der Kontinuität konstruiert wird, liegt ihr eine Intention zugrunde, die letztlich auf das Ganze geht. Deshalb ist der Wunsch, daß das Vergangene nicht auf immer vergangen sei, ein „Interesse an der Unvergänglichkeit als an der Totalität alles Vergänglichen" (324). Mit großem Nachdruck betont Baumgartner allerdings, daß die Idee der Totalität nach strikt Kantischem Verständnis als „regulative Idee" gefaßt werden muß, „als Idee der Totalität, ohne welche Erkenntnis des Einzelnen und Begrenzten unmöglich ist, die aber selbst keinen spezifischen Gegenstand besitzt" (323). Dem regulativen Charakter der Kontinuitätsvorstellung korrespondiert der des Geschichtsbegriffs selber. Die Vorstellung von der Geschichte ist nur als — allerdings konstitutive — transzendentale Voraussetzung jeder faktisch-partikularen Geschichtserzählung zu verstehen, ihr entspricht kein eigener Gegenstand — etwa die Universalgeschichte —, der selbst noch erzählbar wäre. Die Partikularität der Gesichtspunkte, unter denen erzählt wird, ist notwendiges Moment der narrativen Struktur und läßt sich ebensowenig in einem Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte aufheben wie die Besonderheit der Erzählung in einer Erzählung aller Erzählungen. .Geschichte als regulative Idee', dies ist letztlich die Geschichtsdefinition, die an die Stelle aller implizit metaphysischen Geschichtsmodelle tritt und damit die Reduktionsgeschichte des neuzeitlichen Geschichtsbegriffs zu ihrem konsequenten Abschluß bringt. Die Bedeutsamkeit
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Die praktische Funktion der historischen Erzählung
dieses Konzeptes liegt nicht nur in der theoretischen Korrektur der „objektivistischen Selbsttäuschung der totalisierenden Vernunft" (Anacker/Baumgartner 1973, 553), in der Zurücknahme aller falschen Vergegenständlichung. Vielmehr kann erst mit Bezug auf Geschichte als regulatives Prinzip die praktische Bedeutung des Geschichtsbezugs wirklich erhellt werden (556). Damit die Konstruktion von Geschichte praktisch bedeutsam werden kann, ist sowohl der Bezug auf Totalität wie deren nicht-metaphysische Fassung notwendig: „Nur unter dem Gesichtspunkt der Idee der Totalität kann der Rückgriff auf Vergangenes im Sinne einer Orientierung menschlichen Lebens und Handelns als orientierend und legitimierend, weil schon im voraus als bedeutungsvoll und sinnvermittelnd, konzipiert werden". Im Blick auf dieses Ganze ist jede „narrative Konstruktion eine Konstruktion in praktischer Absicht, da jedenfalls unter Gesichtspunkten der Transzendentalphilosophie das Streben nach Totalität im primären und höchsten Sinne selbst praktisch ist" (Baumgartner 1972 b, 328). Wäre das Ganze selber ein Gegebenes oder der Vorstellung Gebbares, so wäre die Einordnung des Einzelnen in einen Gesamtzusammenhang nicht mehr als ein theoretischer Akt. Geschichte als regulatives Prinzip hat demgegenüber ausschließlich praktische Bedeutung.
B. Es ist offenkundig, daß Baumgartners Konzept in einem entscheidenden Punkt über den narrativistischen Ansatz, wie er bei Danto vorliegt, hinausführt. Dieser vermag die zur Erzählung gehörige Selektivität nur als allgemeines Strukturmerkmal festzuhalten; ihre Relevanzkriterien bleiben außerhalb der Betrachtung und ganz in den Bereich der „topischen Interessen dieses oder jenes Individuums" verwiesen (1974, 231). Dem steht die These vom apriorischen Interesse am Erzählen in einem gewissen Sinne konträr gegenüber. Zwar macht auch sie noch keineswegs einsichtig, wieso in einer konkreten Erzählung gerade diese oder jene Ereignisse aufgegriffen und zu einem Zusammenhang verflochten werden; dazu ist erforderlich, die Situation des Erzählers und die pragmatische Funktion der Erzählung genauer zu bestimmen. Aber diese Bestimmungen gewinnen hier einen praktischen Horizont, der es erlaubt, sie nicht mehr allein als „Moment reiner Willkürlichkeit" (ebd.), sondern im Hinblick auf das zu fassen, was Geschichte grundsätzlich intendiert. Für Baumgartner ist die prinzipielle Fundierung der Erzählung in einem Interesse für den Geschichtsbegriff selber in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: zum einen wird damit eine Schicht subjektiver Interessiertheit freigelegt, welche die .Objektivität' von Geschichte nicht gefährdet, sondern allererst ermöglicht, weil sie konstitutivnotwendig in die Konstruktion von Geschichte eingeht (1977)59. Zum anderen wird erst damit der insgeheim metaphysische Geschichtsbegriff überwunden, der auch
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Zur .Objektivitätsfrage' historischer Erkenntnis vgl. Koselleck/Mommsen/Rüsen (Hg.) 1977 b, Rüsen (Hg.) 1975 a.
Das Interesse an Kontinuität
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Dantos Auffassung noch zugrundeliegt; erst dann ist der — für die Analyse der Erzählstruktur unausweichliche — Rekurs auf subjektive Interessen nicht mehr gleichbedeutend damit, willkürliche Selektionsakte auszumachen, die auf eine schon konstituierte, vorgegebene historische Wirklichkeit im nachhinein Bezug nehmen (1972b, 294). Allerdings will auch Baumgartner Geschichtsbewußtsein und Geschichtsinteresse nicht schlechthin auf transzendentaler Ebene ansiedeln. Während die Idee der Totalität und das dazugehörige Interesse „am Zusammenhang des Ganzen" (323) zur Wesensnatur des Menschen gehören und im strikten Sinn transzendental sind, ist das spezifische Interesse an Kontinuität „nicht selbst transzendental" (321); die Konstruktion von Geschichte ist ein freier Akt, der die transzendentale Konstitution der Subjektivität schon voraussetzt. Der Idee der Totalität als solcher könnte ebensogut „durch die Idee eines ungeschichtlichen absoluten Wesens, durch die Idee Gottes, genügt werden . . ., welche jedenfalls nicht eo ipso die Vorstellungsweit von Geschichte mit erzeugt" (325). Das Interesse an der Geschichte — sowohl das grundlegende Interesse an Kontinuität wie das darin fundierte Interesse an Handlungsorientierung — siedelt sich innerhalb des Bereichs an, der durch den freien Akt der Geschichtskonstruktion erst gebildet wird und mit der Konstitution des Subjekts nicht mehr in einem wesentlichen, transzendentalen Sinn zu tun hat. Baumgartner gelangt zu dieser strikten Trennung der Ebenen, indem er seine Auffassung in die Kantsche Systematik einzeichnet; er selber bezeichnet dies als „eine Art Experiment" (322), von dem er sich eine konsistente Formulierung des Geschichtsproblems erhofft. Die Folgerungen, zu denen er dabei gelangt, scheinen nun aber nicht unproblematisch und das .Experiment' eher in Frage zu stellen. Gewiß kann man, innerhalb des von Kant her entworfenen Rahmens, sagen, daß der Idee der Totalität auch durch anderes als die Vorstellung der Geschichte Genüge getan werden kann. Fraglich aber ist, ob in einem solchen Rahmen die Geschichtsproblematik überhaupt noch zureichend gefaßt wird. Fraglich ist nicht nur, ob das Interesse an der Geschichte durch anderes kompensiert werden kann, sondern vorrangig noch, ob es zu Recht als ein nicht-notwendiges bezeichnet werden kann, auf das sich das Subjekt, sozusagen beliebig, in einem freien Entschluß einlassen kann. Es scheint offensichtlich, daß Geschichte und Geschichtsbewußtsein notwendig zu dem gehören, was wir im Umriß als persönliche Identität ausgemacht haben. Man mag allerdings einwenden, daß sowohl diese Identitätsproblematik, die ja über die formale Definition des Selbstbewußtseins hinausgreift, wie der entsprechende Geschichtsbegriff nicht zur .ersten', sondern zur .zweiten' Philosophie gehören, daß wir hier somit in der Tat nicht mit einem basalen Tatbestand der Subjektivitätsphilosophie zu tun haben. Doch stellt sich die Frage, ob nicht das Ernstnehmen von Geschichte gerade auf die Aufhebung einer solchen Trennung abzielt. Diese Frage läßt sich auch im Hinblick auf die grundlegende — wenn man will: transzendentale — Subjektivitätsproblematik stellen. Wenn das Subjekt nicht nur als Referenzpol seiner Erlebnisse, sondern letztlich und in einem wesentlichen Sinn als sich selber zeitlich konstituierendes verstanden werden muß, so ist in der Tat zu fragen, ob jenes Streben nach einem Zusammenhang in der Zeit, nach Kontinuität, weiterhin als
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Die praktische Funktion der historischen Erzählung
zufällige, durch anderes ersetzbare Konkretisierung des selber fundamentalen Strebens nach Totalität angesehen werden darf, oder ob es nicht vielmehr dessen ursprünglichste und allgemeinste Artikulation darstellt. Eine solche Deutung, welche die Geschichtlichkeit in die Grundstruktur des Selbstverhältnisses zurückverlegt, würde, wenn man so will, die transzendentale Position Baumgartners noch radikalisieren. Doch soll es hier nicht primär um die Frage der Transzendentalität gehen. Wesentlich ist, daß in einer solchen Sicht die Idee der Kontinuität zu einer Konkretisierung der regulativen Idee der Totalität würde, welche für die Idee des Ich keine zufällige, sondern eine basale, notwendige Bestimmung wäre. Indes betrifft die Fraglichkeit des Ansatzes von Baumgartner nicht nur und nicht in erster Linie die systematische .Lokalisierung' des Kontinuitätsbegriffs in bezug auf das Geschichte entwerfende Subjekt; fraglich ist darüber hinaus, ob die Idee der Kontinuität ausreicht, um das Problem der Geschichte auf den Begriff zu bringen. Kontinuität meint zunächst Zusammenhang in der Zeit. Zwar verbinden sich damit bei Baumgartner von allem Anfang an Konnotationen, die nicht auf reine Zeitstrukturen reduzierbar sind. Über alle Zäsuren und Brüche hinweg an einem Zusammenhang festhalten, meint auch, an einer „positiven, sinngebenden Einheit" festhalten; das „Interesse am Zusammenhang der Geschichte" verweist auf ein „Interesse am Sinn der Geschichte" (1972 b, 48 f.). Doch wird nun nicht dieser Sinnbegriff seinerseits zum Interpretationsmuster für Kontinuität erhoben, eher rückt ein umgekehrtes Explikationsverhältnis in den Vordergrund. Gerade die Idee der Kontinuität soll klarmachen, inwiefern das Geschichtsbewußtsein auf Sinn ausgerichtet ist, inwiefern es für den Menschen ,sinnvoll' ist, einen Zusammenhang des Unzusammenhängenden zu postulieren, inwiefern ein Zusammenhang etwas Sinnvolles, für den Menschen Bedeutsames ist. Als Fluchtpunkt dieser Deutungslinie hatte sich das Interesse an der Unvergänglichkeit alles Vergänglichen gezeigt. Was so ,Sinn' heißt, wird letztlich wieder in Begriffen der Zeitlichkeit artikuliert, wenn auch nicht inhaltlich auf das bloße Zeitbewußtsein zurückgeführt. Nun fragt sich, ob eine so gefaßte Idee vom ,Sinn' und Interesse der Geschichte das Phänomen der Geschichte zureichend bestimmt. Wir hatten schon gegen Lübbe eingewendet, daß das Interesse an Geschichte über die innere Homogenität eines Zusammenhangs hinaus auch auf die Vernünftigkeit dieses Zusammenhangs geht. Diesem Gedanken kommt Baumgartner gewissermaßen entgegen, indem er das Interesse am Zusammenhang als selber praktisches' ausweist, als Interesse eines Subjekts, welches in der Kontinuitätsstiftung nicht so sehr eine theoretische' als vielmehr eine .praktische' Leistung vollbringt und sich damit, in einem weiten Sinn, unter Forderungen der praktischen Vernunft stellt. Die Idee der Kontinuität fungiert gleichsam als temporales Äquivalent für Normativität; der Standpunkt des historischen Bewußtseins ist der, daß Kontinuität ,sein soll'. Ähnlich hatte schon Droysens Verwendung des Kontinuitätsbegriffs mehr als die zeitliche Dauer im Blick: Im Gegensatz zur bloßen Reproduktion des Lebens meint historische Kontinuität eine Selbsterhaltung in der Form der Selbststeigerung, „ein stetes Streben nach dem Vollkommenen, ein stetes Fortschreiten" (1937, 13); Kontinuität ist das spezifische Allgemeine in der Geschichte und bezeichnet die Art, wie die Menschen „ihren
Das Interesse an Kontinuität
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Anteil an dem Göttlichen und Ewigen" haben (9), wie „die Menschenwelt zur sittlichen Welt" wird (13). Diese besondere Qualität der Kontinuität, nicht die bloße Überwindung der Zeit, ist nach Droysen definiens der Geschichte. Doch auch wenn wir Kontinuität sozusagen als Chiffre der praktischen Vernunft im Bereich der Geschichte anerkennen, bleibt zweifelhaft, ob sie das Interesse an Geschichte zureichend kennzeichnet. In der Fassung jedenfalls, die ihr Baumgartner gibt, bleibt sie trotz ihres grundsätzlich .praktischen' Charakters noch diesseits des eigentlich praktischen Vernunftinteresses, dieses außerhalb des originären Bereichs von Geschichte. Eine solche Ausgrenzung aber scheint angesichts von Phänomenen, wie sie schon in der Auseinandersetzung mit Lübbe genannt wurden — und insbesondere dann, wenn Geschichtsbewußtsein im Horizont der Identitätsbildung in Betracht kommt —, zumindest einseitig. Nicht nur wenn wir die Motive analysieren, aus denen sich Menschen mit ihrer Geschichte auseinandersetzen, sondern auch wenn wir die verschiedenen Arten dieser Auseinandersetzung selber betrachten, wird klar, daß in die Aufarbeitung von Geschichte zumindest auch Akte der wertenden Stellungnahme, der Rechtfertigung, Rationalisierung oder Verurteilung eingehen können. Die .Aneignung' der Vergangenheit ist dann nicht nur ein pragmatischer Akt im Sinne einer ,askriptiven' Selbstzuschreibung, sondern im eigentlichen Sinn Moment des .praktischen' Selbstverhältnisses, sofern der Mensch seine Geschichte unmittelbar auf sein gegenwärtiges Selbstverständnis bezieht und sich im Horizont dieses Selbstverständnisses mit ihr identifiziert. Man mag diesen Gedanken dahingehend weiterführen, daß das Interesse an Identität letztlich als Interesse an einer vernünftigen Identität zu fassen ist, und daß es als solches der Beschäftigung mit Geschichte zugrundeliegt. Auf dieser Linie würde etwa das ,emanzipatorische Interesse' liegen, das Habermas gerade anhand jenes Paradigmas illustriert, das vielen als Modell der historischen Reflexion gilt: die Psychoanalyse; die in Analogie zu ihr konzipierte Beschäftigung mit Geschichte wäre theoretische Erkenntnis und praktische Veränderung in einem, Anamnesis und Therapie zugleich. Baumgartners Kritik an einer solchen Konzeption geht im wesentlichen darauf, daß diese das Problem der historischen Kontinuität vorweg entscheidet, indem sie sich in zweierlei Hinsicht auf metaphysische Prämissen abstützt. Zum einen faßt sie Geschichte nach dem Vorbild des Selbstbewußtseins als einen Bildungsprozeß auf, der zudem in der Realgeschichte der Menschengattung fundiert sein soll; sie unterstellt damit ein Modell der „Prozeßstruktur von Geschichte", statt diese allein vom Akt ihrer Konstruktion her zu deuten. Und sie beansprucht zum andern „einen Einblick in das Wesen des Menschen", wenn sie „den freien Menschen als Maßstab und Telos der Geschichte behauptet" (1972 b, 245). Unabhängig von der Frage nach der Berechtigung dieser Kritik wäre die Gegenfrage zu stellen, inwiefern die .Annahmen', die die Formulierung eines emanzipatorischen Interesses macht, in stärkerem Maße metaphysisch belastet sind als jene, die etwa im Interesse an Kontinuität zum Ausdruck kommen. Dabei soll es hier in keiner Weise darum gehen, nun umgekehrt gegen Baumgartner das Vernunftinteresse als das Interesse des historischen Bewußtseins zu behaupten und ihm gegenüber die Ausrichtung auf Kontinuität als abgeleitet — oder gar als bloßes
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Die praktische Funktion der historischen Erzählung
Moment jenes Interesses — nachzuweisen; ja, es wird erst zu zeigen sein, in welchem Sinne das Interesse an Vernünftigkeit zur kategorialen Bestimmung von Geschichte gehört und in welchem genauen Verhältnis es zu anderen, ihm vielleicht noch vorausliegenden praktischen Leitideen der historischen Reflexion steht. Worum es hier am Beispiel des — der bloßen Ausrichtung auf Kontinuität vielleicht am weitesten entgegenstehenden — ,emanzipatorischen' Interesses geht, ist allein die Rechtmäßigkeit der von Baumgartner vorgenommenen Grenzziehung. Die Möglichkeit, ein Interesse an der Vernünftigkeit von Lebenszusammenhängen zu artikulieren, das sich nicht durch falsche Vergegenständlichungen ontologisch absichert, würde gewiß auch Baumgartner nicht bestreiten, nur möchte er sie außerhalb des Bereichs der Geschichte ansiedeln; sobald Geschichte selber mit (im engen Sinn) praktischen Deutungen belastet wird, verweist dies nach ihm auf ein implizites Substrat, das selber außergeschichtlich ist. Wie aber soll darüber entschieden werden, was wirklich zur Geschichtskonstitution dazugehört, und was auf ihr aufbaut oder ihr gegebenenfalls vorausliegt? Für Baumgartner ist das Kriterium klar: Einziger Referenzpunkt ist der „in seinem konstruktiven Sinn explizierte Begriff der Erzählung mit seinen Implikaten, und nicht eine ihn selbst noch einmal unterlaufende metaphysische Sinnidee von Geschichte" (247). Der Begriff der Erzählung aber, so die These Baumgartners, orientiert sich in letzter Instanz allein an der Idee der Kontinuität; das Interesse an der ,Sinnhaftigkeit' des Zusammenhangs, dem Geschichte nachgeht, kann sich selber nur als Interesse an Kontinuität konkretisieren. Doch gerade die als so eindeutig unterstellte Linie Geschichte — Erzählung — Kontinuität braucht nicht zu überzeugen. Beide ihrer Gelenke können in Frage gestellt werden, sowohl die Verbindung von Geschichte und Erzählung als auch die von Erzählung und Kontinuität. Wir haben schon an früherer Stelle auf die strukturalistische Erzähltheorie aufmerksam gemacht, welche die von der Erzählung geleistete Einheitsbildung gleichsam auf zwei Dimensionen aufteilt, eine horizontale und eine vertikale — wobei, wie R. Barthes angemerkt hat, die Erzählung gerade dazu tendiert, die ,logische' Dimension auf die ,Zeit' zu reduzieren. Gleichwohl bleiben beide Funktionen in ihrer logischen Eigenständigkeit erhalten, und eine Theorie der Erzählung hat gerade die Aufgabe, sie als solche herauszuarbeiten und ihre konkrete Verflechtung nachzuzeichnen. In der Herausstellung dieser Zweidimensionalität bilden die linguistischen Beiträge zur Narrationstheorie eine Ergänzung zur Konzeption Dantos — an der sich Baumgartners Erzähltheorie ausschließlich orientiert —, die auch von einer geschichtsphilosophischen Reflexion nicht vernachlässigt werden dürfen. Eine solche Erweiterung nötigt nicht schon zur Aufgabe des konstruktivistischen Ansatzes, wohl aber zur Differenzierung dessen, was als Basis historischer Konstitution zu gelten hat. Gerade eine konstruktivistische Betrachtung muß herausarbeiten, inwiefern der Geschichtstext das Geschehen auch in seiner innern Verständlichkeit — die an ganz verschiedenen Maßstäben gemessen sein kann — darzustellen sucht. Es kann nicht genügen, die Erzählung — dann im wesentlichen als temporale Synthesis gefaßt — sozusagen als äußersten Rahmen dieser Darstellung zu bestimmen, da doch alles Geschehen zunächst einmal zeitliche
Das Interesse an Kontinuität
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Abfolge sei. Wenn es sich zeigt, daß zur Darstellung von Geschichte ebenso wesentlich das Bemühen gehört, das Dargestellte verständlich (und vielleicht darüber hinaus: akzeptabel) zu machen, so gehört auch die deskriptive und explikative (vielleicht: rationalisierende) Funktion zur Konstitution von Geschichte. Die Korrektur des Baumgartnerschen Ansatzes darf, wie gesagt, nicht ihrerseits einseitig verabsolutiert werden. Wenn das .praktische' Interesse an der Geschichte nicht im Interesse an Kontinuität aufgeht, so heißt dies nicht umgekehrt, daß sich dieses auf jenes reduzieren ließe. Wie Lübbe mit dem Konzept geschichtlicher Individualisierung, so hat Baumgartner mit dem Begriff der Kontinuität — als Leitfaden des historischen Bewahrens, ausgerichtet am Ideal der Unvergänglichkeit — ein eigenständiges und irreduzibles Motiv der historischen Erinnerung herausgearbeitet, das sich auch für die volle Bestimmung historischer Identität als unverzichtbar erweisen wird. Die Kritik an Baumgartners These ist in diesem Sinn hauptsächlich negativ zu verstehen, als Hinweis auf die Grenze eines Ansatzes, die man vielleicht als Schranke des narrativistischen Ansatzes überhaupt betrachten darf. Generell sollte die Kritik die Einseitigkeit des Geschichtsbegriffs herausstellen, die sich aus der Fixierung auf den (temporal qualifizierten) Erzählbegriff und dessen Erhebung zum Konstitutionsprinzip von Geschichte schlechthin ergibt 60 . In einem engeren und direkteren Sinn richtet sie sich gegen eine bestimmte Fassung des praktischen Interesses an der Geschichte, gegen eine bestimmte Antwort auf die Frage, inwiefern Geschichte für den Menschen .sinnvoll', die Herstellung eines Zusammenhangs bedeutsam ist. Hier führt die Festlegung auf den Kontinuitätsbegriff zu einem vorzeitigen Abbruch der Frage, indem sie sich gewissermaßen gerade der erwähnten Tendenz der Erzählung zur Nivellierung ihrer Mehrdimensionalität anpaßt. Vielleicht kann die Erweiterung der Konstitutionsbasis von Geschichte über die im engen Sinn gefaßte Narrativität hinaus auch den Gesichtspunkt praktischer Vernunft letztlich so zur Geltung bringen, daß „Parteilichkeit für Vernunft" — auch wenn sie nicht selber vernünftig begründbar ist — doch nicht mehr nur als „selbstwidersprüchlich" abgetan oder aber als nichtkonstitutives Moment aus dem Bereich der Geschichte ausgeschlossen werden muß (1977, 437ff.). Zu den Folgeproblemen, die sich aus einer solchen Erweiterung ergeben, wird es somit gehören, die verschiedenen Darstellungsebenen und Interesseschichten, die für Geschichte als konstitutiv behauptet werden, nicht nur an ihnen selber, sondern auch in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu bestimmen. Mit der bisherigen Kritik ist noch nichts Bestimmtes über das vom Narrativismus Ausgeschlossene ausgemacht. Es wird erst zu klären sein, ob und in welcher genauen Weise die Zweidimensionalität von ,Logik' und ,Zeit' dahingehend weiterzuführen ist, daß im Verstehen des 60
Man könnte natürlich, im Sinne des Vorausgehenden, Erzählung in einem weiteren Sinn fassen (als narrative, deskriptive und explikative Momente einschließend) und ihr dann als regulative Leitidee außer dem Kontinuitätsbegriff auch etwa die Idee der Vernunft zuordnen; es wäre dann eine Frage der Terminologie, ob dies noch als narrativistisches Geschichtskonzept zu bezeichnen wäre. — Als Beispiel einer Theorie, für welche der Erzählbegriff in einem radikaleren Sinn Basis praktischer Vernunft ist, sei auf die oben erwähnte Narrative Theologie oder auf die Narrative Ethik (Mieth) verwiesen.
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Die praktische Funktion der historischen Erzählung
historischen Zusammenhangs nicht nur dessen .theoretische' Verständlichkeit, sondern Vernünftigkeit und Akzeptabilität zur Diskussion stehen. Im Zielpunkt einer solchen Ausweitung liegen Bestimmungen, wie sie im Geist der Aufklärung sozusagen als Ideal unseres Verhältnisses zur Geschichte formuliert worden sind, die Idee einer ,vernünftigen Identität', der Begriff eines ,emanzipatorischen Interesses', die Vorstellung einer nationalen Geschichte'. Doch auch wenn wir einen Begriff von Geschichte im Blick auf sie formulieren, bleibt zu klären, in welchem genauen Sinn sie in ihn eingehen. Ebensowenig ist damit die Frage präjudiziert, ob und in welcher Weise andere, theoretische oder auch ästhetische Apperzeptionsformen unseren Bezug zur Geschichte kategorial mitprägen. Im Zielpunkt dieser Erörterungen wird schließlich auch die Frage stehen müssen, ob all diese Bestimmungen einfach verschiedene Aspekte, Varianten und Schwerpunkte unseres Geschichtsbezugs benennen, die allenfalls in der Art eines Syndroms zusammengehalten werden, oder ob sich in ihrem Horizont ein nicht-reduktiver einheitlicher Begriff von Geschichte und geschichtlicher Identität formulieren läßt. Wenn wir, bevor wir in der angedeuteten Richtung weiter gehen, Gesichtspunkte einer systematischen Kritik an der narrativistischen Geschichtsphilosophie sammeln, so gilt das Interesse nicht so sehr der Kritik der referierten Theorievorschläge um ihrer selbst willen. Indem wir den Narrativismus auf die Rechtmäßigkeit seiner Grundoptionen hin befragen, geht es gleichzeitig darum, wesentliche, bisher nur implizit ins Spiel gebrachte Prämissen des Geschichtsbegriffs selber freizulegen.
3.
Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie 3.1.
Grenzen
des
Narrativismus
Auf den ersten Blick könnten die im Rahmen der Erzähltheorie herausgearbeiteten Momente zu heterogen erscheinen, um sinnvollerweise von der narrativistischen Geschichtsphilosophie sprechen zu können. Noch am leichtesten scheinen sich die verschiedenen Schichten der temporalen Strukturierung zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufügen: die grundsätzlich zeitliche Verfaßtheit des historischen Gegenstandes, die innere Gliederung des zeitlichen Zusammenhangs als gerichteter, irreversibler Prozeß, seine retrospektive Erfassung als abgeschlossenes und überschaubares Ganzes, schließlich seine Hinorientierung auf die Leitidee der Konstruktion temporaler Zusammenhänge überhaupt, die Idee der Kontinuität. Als weniger homogen präsentieren sich die verschiedenen Bestimmungen der ,logischen' Struktur des historischen Zusammenhangs: zu nennen wären hier sowohl die von der Linguistik vorgebrachten Ordnungsschemata (.narrative Oppositionen', .resultative Beziehung', die diversen Stufen der .Beschreibungsfunktion' der Erzählung) wie auch die von Danto und Lübbe formulierten Vorschläge zur .narrativen Erklärung'; anzufügen wäre auch Baumgartners Deutung der Kontinuitätsidee auf den .Sinn' oder die .Bedeutsamkeit' temporaler Einheitsbildung hin. Am weitesten scheinen sich die Interpretamente der lebensweltlich-praktischen Funktion der Historie auseinander zu bewegen: erinnert sei an die verschiedenen Qualifikationen der .Sprechhaltung Erzählung' (.Verstrickung', .Distanz', .Betroffenheit') sowie, in engerem Bezug auf Geschichte, an die Bestimmungen der historischen Intention als Interesse an Identität (Lübbe) oder an der Unvergänglichkeit des Vergänglichen (Baumgartner). Die Heterogenität der Motive macht augenscheinlich, daß wir es hier nicht einfach mit einem narrativistischen Geschichtskonzept zu tun haben. Gleichwohl scheinen die Gemeinsamkeiten stark genug, um sinnvollerweise, typisierend, von einer narrativistischen Geschichtsphilosophie sprechen zu können. Nicht nur lassen sich die verschiedenen Bestimmungen, gerade im Horizont des Problems geschichtlicher Identität, durchaus als miteinander vereinbare und in gewissem Maß auch komplementäre Aspekte begreifen. Die referierten Positionen bewegen sich in einem einheitlichen Rahmen, der durch den Ansatz bei der Erzählung abgesteckt ist. Insbesondere wird ihre Gemeinsamkeit deutlich im Blick auf bestimmte Einseitigkeiten, die sie teilen und die gewissermaßen die systematischen Grenzen der narrativistischen Geschichtsphilosophie markieren. In drei Hinsichten ist der narrativistische Ansatz als zu eng kritisiert worden. Zum einen ist die sprachliche Basis zu eng gefaßt, von der aus historische Darstellung und Konstitution definiert werden; zweitens wird das Interesse an Geschichte im
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Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie
Rahmen der narrativistischen Prämissen nur unzureichend artikuliert; schließlich wird der Vergangenheitsbezug des historischen Bewußtseins zu Unrecht verabsolutiert, die Retrospektivität des Erzählschemas zu unmittelbar und zu abstrakt als kategoriale Grundbestimmung von Geschichte genommen. Daß der Sache nach zwischen den drei Punkten ein Zusammenhang besteht, scheint offenkundig; das Wie des Zusammenhangs bleibt explikationsbedürftig. Die ersten beiden Punkte sind in der Auseinandersetzung mit Lübbe und Baumgartner verschiedentlich zur Sprache gekommen und sollen hier nicht mehr im einzelnen erörtert werden. Kritisiert wurden sowohl die Einschränkung auf die Erzählung wie die eingeschränkte Fassung der Erzählung selber. Die Doppelung von temporalen und logischen — oder auch: narrativen und deskriptiven — Elementen der Erzählsprache verbietet es, historische Konstitution allein temporalnarrativ zu qualifizieren, um dann die Erklärungsfrage aus der geschichtsphilosophischen Reflexion zu verabschieden und etwa der Wissenschaftstheorie zu überantworten. Doch auch die Ansätze zur narrativen Erklärung, die sich einer solchen Trennung widersetzen, bringen die explikative Funktion der Geschichtssprache nicht in ihrer vollen Breite zum Tragen, und es scheint, daß der Grund dafür in der ausschließlichen Orientierung an der Sprachform der Erzählung liegt. Zu den Konsequenzen dieser Fixierung gehört neben der kategorialen Unterbestimmung des Geschichtsbegriffs selber die Unterbestimmung des menschlichen Verhältnisses zur Geschichte. In welchem Maß die mangelnde Differenzierung der Sprachebene zu einem ungenügenden Verständnis jenes Verhältnisses führt, läßt sich an einer Position wie der von Wilhelm Schapp erkennen. Seine rigorose Festlegung aller formalen wie inhaltlichen Bestimmungen auf ihren Bezug zu Geschichten — der stereotype Verweis auf das ,Verstricktsein in Geschichten' — vermag weder über diesen Bezug noch über das dadurch Qualifizierte Klarheit zu verschaffen. Gerade im Hinblick auf die Identitätsproblematik ist es alles andere als belanglos, anhand welcher Kriterien Individuen oder Gesellschaften ihre Vergangenheit zu verstehen suchen. Zwar führt Lübbes Geschichtstheorie über die formale Konvergenz von Menschsein und Geschichte hinaus. Aber auch sie vermag den Stellenwert historischer Identität im Rahmen unseres Selbstverhältnisses nur unzureichend anzugeben, weil sie, gerade mit Berufung auf die Narrationslogik, Geschichte nur in theoretischen Kategorien und auch darin nur einseitig — als Interferenz- und Individualisierungsprozeß — zu formulieren erlaubt und unser .praktisches' Selbst allenfalls mit dem nachträglichen Umgang mit ihrer .Präsentation' befaßt sein läßt 61 . 61
Eine mögliche Radikalisierung der Kritik an der Narrativität ginge dahin, in der Erzählung nicht nur eine unzureichende Grundlage der praktischen Vernunft, sondern einen defizienten Modus der Vernunft überhaupt zu sehen. Für Hegel ist das Erzählen einer Geschichte die Art und Weise, wie die religiöse Vorstellung sich des Absoluten vergewissert; auf logischer Ebene entspricht dem das Auseinanderfallen des substantiellen Zusammenhangs in selbständige Reflexionsbestimmungen. Erst die Philosophie vermag in der logischen Form des spekulativen Begriffs Einheit adäquat zu denken. Während es der narrativen Vorstellung „nicht um die Wahrheit, sondern nur um die Historie zu tun ist", soll die Philosophie gerade „keine Erzählung dessen sein, was geschieht, sondern eine
Grenzen des Narrativismus
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Die Einseitigkeiten in der Bestimmung der sprachlichen Basis und praktischen Funktion von Geschichte stehen nicht nur in Affinität zu der von der Linguistik hervorgehobenen Tendenz der Erzählung, ihre Mehrdimensionalität zu verschleifen und logische Relationen auf zeitliche abzubilden. Darüber hinaus scheinen sie mit einer bestimmten Eigenart der narrativen Temporalstruktur zu tun zu haben, mit der grundsätzlichen Festlegung des historischen Zeitbezugs auf die Retrospektive. Damit ist ein Merkmal des narrativistischen Geschichtskonzepts genannt, das zwar zunächst ganz unproblematisch — oder jedenfalls nicht im gleichen Sinne wie die früher genannten problematisch — erscheint. Daß Geschichtsbewußtsein Vergangenheitsbewußtsein ist, scheint nicht nur dem natürlichen Verständnis, sondern auch dem Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft vollkommen zu entsprechen. Die Bindung des Geschichtsbegriffs an den Vergangenheitsbezug wurde in der Tradition aus ganz verschiedenen Motiven heraus betont. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei die Abwehr aller metaphysischen Geschichtsphilosophie oder säkularisierten Heilsgeschichte, welche im weltlichen Geschehen eine ,Richtung', einen waltenden ,Sinn' oder einen verborgenen Plan zu entdecken vermeint und sich dadurch zu Aussagen über die Zukunft oder zumindest über Ziel und Ende der Geschichte befähigt glaubt. Dieses Motiv bestimmte Dantos Kritik am ,substantialistischen' Geschichtsbegriff (1974, 11 ff.) ebenso wie Poppers Kritik am ,Historizismus' (1965). Die in unserem gegenwärtigen Zusammenhang interessierenden Gründe sind indes nicht primär erkenntnistheoretischer Art. Für den Narrativismus soll sich der Vergangenheitsbezug vielmehr kategorial aus dem Geschichtsbegriff selber ergeben. Anknüpfungspunkt ist zum einen die Struktur der historischen Sprache, die Retrospektivität der Erzählung, zum anderen die Art und Weise, wie Geschichte subjektiv erfahren wird. Lübbe nimmt aus dem normalen Sprachgebrauch jene Bedeutung von Geschichte auf, gemäß welcher die Geschichte einer Person dasjenige bezeichnet, was ihr passiert, was sie, unabhängig von eigenen Absichten und Handlungen, wird und geworden ist. Während ein Handlungsablauf idealiter durch die Zwecksetzung und Strategie der Mittelwahl bestimmt ist, also einer sogenannten teleologischen Erklärung zugänglich ist, läßt sich ein Geschichtsverlauf, ebenso idealtypisch gefaßt, von keinem dieser Bezugspunkte her bestimmen, sondern allenfalls durch deren Interferenz mit andern, in bezug auf sie zufälligen Faktoren. Die Handlung geht vom Subjekt aus, die Geschichte kommt ihm zu, es ist für sie bloßer Referenzpol, Referenzsubjekt. Während der Zweck die Handlung im voraus bestimmt, gewinnt die Geschichte ihre Gestalt erst im aktualen Vollzug und kann erst im nachhinein als (formal) einheitlicher Prozeß thematisch werden. Der
Erkenntnis dessen, was wahr darin ist" (Logik, ed. Lasson, II 226). Gleichwohl hält auch Hegel daran fest, daß das Absolute letztlich als .absolutes Geschehen' oder .absolute Geschichte' zu verstehen ist. Die Religion weiß ihren Inhalt „als etwas vollkommen Geschichtliches", desen „Wahrhaftes" und „Substantielles" aber ein „zeitloses Geschehen" ist (Rel.ph. I [Werke XVI], 142); ihr Unterschied zur Philosophie betrifft nicht den Geschehenscharakter des Absoluten, sondern dessen vorstellungsmäßig-narrative Erfassung.
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Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie
Geschichtsbegriff ist nicht deshalb retrospektiv, weil wir nichts von der Zukunft wissen können, sondern weil dasjenige, was wir davon wissen — und es ist trivial, daß wir einiges immer vorhersagen (und handelnd vorausbestimmen) können — , nicht Geschichte ist. Von dieser formalen Bestimmung her muß man Lübbes Kritik an der Marxschen Zielvorstellung eines Machens von Geschichte zustimmen. Wenn man nicht einfach die Begriffe umdefinieren will, ist nicht einzusehen, wieso das, was wir normalerweise Geschichte nennen, nur die „sogenannte" Weltgeschichte, bloße „Vorbereitungs-, Entwicklungsgeschichte" sein soll, während umgekehrt die völlig transparent gewordene .Geschichte', die unmittelbares Produkt des Handelns ist, zur „wirklichen Geschichte des Menschen" erklärt wird (MEW, Erg. bd. I, 546, 544, 570). Der begriffliche und historische Hintergrund der hier angesprochenen Problemstellung — wieso Marx seine Vorstellung von der Überwindung der NichtTransparenz und Nicht-Beherrschbarkeit sozialer Prozesse in dieser Weise mit dem Geschichtsbegriff koppelt — kann deutlicher werden durch einen Gedankengang, den Hannah Arendt in verschiedenen Publikationen vorgetragen hat. Er läuft zunächst auf eine Präzisierung und Korrektur der bei Lübbe getroffenen Unterscheidung von Handeln und Geschichte hinaus. Die „verhängnisvolle Verwechslung und Vermischung von Politik und Geschichte", die zur Gleichsetzung von Handeln und „Geschichte-Machen" führt (1957, 102), gründet nach H. Arendt in einer andern, basaleren Vermischung, welche „vielleicht die älteste Sünde aller politischen Philosophie des Abendlandes" ist, nämlich in der „Verwechslung von Herstellen und Handeln" (103; vgl. Arendt 1960). Diese Unterscheidung, die auf die aristotelische Unterscheidung zwischen Tätigkeiten, die ihr Ziel in sich haben (praxis), und solchen, die ihr Ziel außer sich haben (poiesis), zurückgeht, stellt bekanntlich eines der Fundamente der abendländischen praktischen Philosophie dar. Signifikant ist die im Lauf der Geschichte einsetzende und bei Marx dann konsequent durchgeführte Umkehrung der traditionellen Hierarchie dieser beiden Tätigkeitsmuster. „Die menschliche Arbeit, traditionell auf die unterste Stufe menschlicher Tätigkeit verwiesen, (wird) auf den obersten Platz" gehoben (111). Die historische Erfahrung, die hinter dieser Umkehrung steht, ist nach Arendt die gleiche, die auch dem modernen Geschichtsbewußtsein zugrundeliegt: die Enttäuschung über die Möglichkeiten des Handelns, über die .Machbarkeit' der Politik, eine Enttäuschung, die exemplarisch in der Verkehrung der Französischen Revolution zur Schreckensherrschaft erfahren wurde. Diese Erfahrung motiviert einerseits den Versuch, in der Geschichte einen ,Sinn' zu erblicken, der allen partikularen Handlungszwecken vorausliegt, sich unabhängig von ihnen und trotz ihres Mißlingens durchsetzt. Andererseits legt sie es nahe, dem kontrollierbaren Herstellungsprozeß den systematischen Vorrang einzuräumen über den Handlungsprozeß, der ein Sicheinlassen in nicht-kontrollierbare und nicht-vorhersehbare Zusammenhänge impliziert. Die Verbindung beider Seiten ergibt dann schließlich ein Geschichtskonzept, das als ganzes an das Herstellungsmodell angelehnt ist: die Vorstellung eines in der Geschichte seine Zwecke realisierenden übergreifenden Subjekts — ob dies nun im Gedanken der .Vorsehung' (Kant), des ,Weltgeistes' und der ,List der Vernunft' (Hegel) oder der .invisible hand' (Α. Smith) zum Ausdruck kommt.
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Allerdings besteht ein entscheidender Unterschied, ob die Auffassung der Geschichte als eines irgendwie .Gemachten', auf die ja schon Vicos Axiom „verum et factum convertuntur" — einer der erkenntnistheoretischen Leitsätze der modernen Geschichtsphilosophie — zurückgreift, sozusagen in theoretischer oder in praktischer Einstellung vertreten wird. Bei Hegel bleibt Geschichte noch „wesentlich ein Gegenstand kontemplativer Betrachtung". Allein der „rückwärts gewandte Blick des Historikers" vermag über den ,„beschränkten Zwecken' handelnder Menschen" die „höheren Ziele" der Geschichte zu erkennen, in der Retrospektive einen ,Sinn' der Geschichte auszumachen (103). Marx hingegen deutet die „von Vico oder Hegel nur erschauten .höheren Ziele' des geschichtlichen Prozesses in unmittelbar geplante Endzwecke politischen Handelns um" (103). Die Umbiegung des ,Sinns' in einen herstellbaren ,Zweck' führt zur Umkehrung der Zeitperspektive, in welcher die Einheitlichkeit eines Prozesses gesehen wird: Während der Sinn erst im nachhinein erfaßbar ist, bestimmt der Zweck im voraus die Linie, der ein Handlungsverlauf zu folgen hat. Die Vermischung von Sinn und Zweck geht ursprünglich auf die Verwechslung von Handeln und Herstellen zurück und überträgt sich dann auf das Verhältnis menschlicher Tätigkeit zur Geschichte. Aus dieser Sicht wäre dann gegen Lübbe festzuhalten, daß nicht schon die begriffliche Konvergenz von ,Handeln' (im strikten Sinn) und Geschichte, sondern erst die Deutung des Geschichtsbegriffs nach dem spezifischeren Modell herstellender Tätigkeit für die Geschichtsphilosophie fatal ist. Der Grundgedanke von Lübbes Kritik an der Machbarkeit von Geschichte bleibt von dieser Korrektur unberührt; auch Lübbe beschreibt ja das in diesem Kontext als Handlung Thematische vornehmlich nach dem Modell herstellender Tätigkeiten. Trotzdem bleibt die Differenzierung H. Arendts von eminenter Bedeutung, nicht nur weil sich mit ihrer Kritik am falschen Geschichtsbegriff das Plädoyer für eine angemessene Theorie der Handlung und damit für das „eigentlich Politische im Menschen" verbindet (116), sondern weil sie die Verfälschung des Geschichtsbegriffs, die Ausweitung subjektiver Herrschaft auf eine machbare Geschichte hin zurückführt auf eine allgemeinere, falsche Ermächtigung des Handelns, auf die Überformung des Handelns durch das in ganz anderer Weise über sein Werk verfügende Herstellen. Insbesondere aber erlaubt sie, das bisherige Verdikt über den ausschließlichen Vergangenheitsbezug von Geschichte in Frage zu stellen. Gründete dieses Verdikt doch, soweit es nicht auf das bloße Vergangenheitstempus der Erzählung zurückgriff, auf der Wesensdifferenz von Handeln und Geschichte. Wenn sich nun aber zeigt, daß der Zukunftsbezug, der dadurch ausgeschlossen werden sollte, im wesentlichen dem Poiesis-Modell entnommen ist, und daß die Frontstellung eigentlich dem Gegensatz von Geschichte und Herstellen gilt, so stellt sich erneut die Frage, ob nicht ein anderer Zukunftsbezug denkbar ist, der nicht vom Herstellen her gedacht ist, und der sich in irgendeinem Sinne als geschichtlicher auffassen läßt. Das kritisierte Modell gibt uns in negativer Form die Kriterien an die Hand, denen ein solcher Zukunftsbezug zu genügen hätte, ohne ungeschichtlich zu werden. Er darf nicht ein Vorgriff auf etwas sein, dessen Bewirkung in die Macht unseres Handelns gelegt ist, und er darf bewußtseinsmäßig nicht einfach ein Vorauswissen,
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eine theoretische Antizipation sein, worauf diese auch immer beruhen mag. Was Danto und Popper als ,Prophetie' kritisieren, fällt ebenso aus dem Rahmen des Geschichtlichen heraus wie die wissenschaftliche Prognose. Die Alternative von Erinnerung und Antizipation, die das Zeitbewußtsein in seinem Bezug auf Nichtgegenwärtiges vollumfänglich zu beschreiben scheint, bildet im Hinblick auf das Geschichtsbewußtsein keine vollständige Disjunktion. Zukunft als unableitbare aber meint das ,Neue' in der Geschichte, und dessen bewußtseinsmäßige Entsprechung als nicht-antizipatorisches Verhalten meint die Offenheit für das Neue, die Fähigkeit zur Rezeption dessen, was nicht vom Subjekt selber ausgeht, sondern auf es zukommt. Rezeptivität ist gleichzeitig der Gegenbegriff zu jenem Tätigkeitsmodell, das ausgeschlossen werden sollte, zum Begriff des Herstellens. Wichtig ist, darin nicht nur eine negative oder Grenzbestimmung des tätigen .Ausgriffs' auf Zukunft zu sehen. Auch Rezeptivität ist ein bestimmtes, aktualisierbares Vermögen, auch das Rezipierte affiziert mich in meiner Subjekteigenschaft, nicht nur als Referenzpol. Hoffnung und Angst sind zwei der prägnantesten Formen, in denen ein solcher Zukunftsbezug real stattfindet. Formal ist damit die Umkehrung jener Zerrform von Geschichte ins Spiel gebracht, die nach H. Arendt auf eine Ermächtigung des Subjekts zurückgeht. Allerdings wäre es nach dem Konzept von Arendt dann auch nicht nötig, den Handlungsbegriff so strikt vom Geschichtsbegriff fernzuhalten, den spezifischen Begriff eines (politischen) Handelns nämlich, der sehr wohl eine Zukunftsausrichtung hat, aber darin ein Sicheinlassen in gesellschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge bezeichnet, die nicht unter der Kontrolle des Handelnden verbleiben, sondern von diesem freigelassen' werden und sozusagen autonom einen ,Sinn' des Geschehens konstituieren, der erst im nachhinein festgestellt werden kann. Vielleicht wäre das Handeln in diesem Sinn sogar als das eigentliche Medium der Realkonstitution von Geschichte anzusehen. Jedenfalls aber scheint die begriffliche Differenzierung die Möglichkeit zu bieten, Geschichte in einer Weise auf menschliche Praxis zu beziehen, die nicht mehr mit Notwendigkeit in die genannten Aporien führt. Dabei ist, was sich als Bedingung der Geschichtlichkeit des Zukunftsbezugs herausgestellt hat — die Nichtmachbarkeit des Kommenden —, zunächst nur die Bestätigung eines Zugs am Geschichtskonzept, der zum Teil schon in dessen Vergangenheitsorientierung sichtbar geworden ist. Der Übergang vom (produzierenden) Handeln zur Erfahrung von Geschichte bedeutet, schematisch gesehen, eine tendenzielle Umkehrung in der Rangordnung von Subjekt und Objekt, eine Akzentverschiebung hin zur Eigengeltung historischer Objektivität, wie sie nicht nur dem natürlichen Geschichtsverständnis entspricht, sondern auch von der geschichtsphilosophischen Reflexion vielfach ausgesprochen worden ist62.
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Exemplarisch wird dies in Hegels Geschichtsphilosophie zum Ausdruck gebracht. Als Verbindungsglied zwischen objektivem und absolutem Geist markiert Geschichte bei Hegel den Ort, w o der Mensch seiner autarken Subjektfunktion enthoben wird; sie steht, v o n den Extremen her aufgefaßt, zwischen dem moralischen Subjektivismus und der Religion, in welcher dem Menschen das Absolute als das von sich aus sich Manifestierende entgegentritt. Daß sie gleichwohl, als Abschlußbestimmung, noch zur Theorie der
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Allerdings mag es trotz dieser Differenzierungen zweifelhaft erscheinen, ob, sofern nicht einfach auf einen ,substantialistischen' Geschichtsbegriff zurückgegangen werden soll, das angesprochene Problem des historischen Zukunftsbezugs wirklich lösbar ist. In der modernen Geschichtstheorie hat es seine E r ö r t e r u n g vor allem im Horizont einer andern klassischen Fragestellung gefunden: als Frage nach der Möglichkeit einer Universalgeschichte, und konkreter: als Frage nach dem Verhältnis zwischen der Geschichte und den Geschichten. 6 3 Diese Gegenüberstellung benennt schon auf sprachlicher Ebene mehr als die Ein- und Mehrzahl ein und desselben Begriffs. Sie verweist nicht auf eine normale Pluralbildung, sondern umgekehrt auf eine Singularbildung, auf die Vorstellung einer .umfassenden' Geschichte über den Geschichten; wie man spätestens seit Koselleck weiß, entspricht dem der etymologische Befund, daß der Begriff,die Geschichte' durch Bildung eines Kollektivsingulars entstanden ist (Koselleck 1967) 64 . Das begriffliche Problem entsteht nicht nur dadurch, daß die Geschichtswissenschaft zu ihrem Thema ,die Geschichte' zu haben scheint und gleichwohl, w o sie nicht geschichtsphilosophische Spekulation oder Wissenschaftstheorie betreibt, vornehmlich mit partikularen und begrenzten Geschichten befaßt ist. Auch die phänomenologische Analyse macht darauf aufmerksam, daß geschichtliches Erleben sich immer in einen größeren Raum einordnet, auf Parallelgeschichten, Vor- und Nachgeschichten verweist; es gibt, wie W. Schapp sagt, „keine Einzelgeschichte ohne H o r i z o n t " (1959,18; cf. 36,184). Um einen Lebenszusammenhang als Geschichte zu erfahren, ist der implizite Rekurs auf das, was Geschichte überhaupt ausmacht, nötig, als Rekurs nicht auf den Gattungsbegriff .Geschichte', sondern auf das reale Medium, in welchem die Einzelgeschichte eingebettet ist — gleich wie die Wahrnehmung eines Gegenstandes auf den .Horizont aller Horizonte' verweist und dieser .Welt'-bezug zur ontologischen Struktur des Gegenstandes als solchen gehört. Auch in der Geschichtswissenschaft selber kann ein solcher Bezug geltend gemacht werden — ohne daß dies schon ein Plädoyer für die Ü b e r f ü h r u n g der Historie in Universalgeschichte bedeutete. Wenn Droysen die Weltgeschichte als notwendigen Horizont der historischen Arbeit behauptet, so steht dahinter nicht das Bestreben der E i n f ü g u n g des Besonderen in die umfassendere zeitliche Verkettung, sondern ein sachliches Motiv: Das einzelne Gebilde wird erst dann historisch erfaßt, wenn es auf die Allgemeinheit seiner eigenen Bestimmung, auf die ,sittlichen Gemeinsamkeiten' hin gedeutet wird, deren
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Sittlichkeit gehört, besagt andererseits, daß sie trotz dieser Umkehrung einen Orientierungspunkt der Frage nach dem guten Leben darstellt; nur stellt sie die Aufgabe, solches jenseits der subjektiven Verfügung zu denken. — Dies gegen eine liberalistische Interpretation wie die von Lübbe, die den Aussagegehalt des Hegeischen Geschichtskonzepts darauf beschränkt, daß keine endlichen Subjekte — und auch nicht alle zusammengenommen — sich zum Statthalter des Absoluten auf Erden machen können (1973a). Die Affinität beider Probleme schlägt sich in der Geschichtsschreibung nieder: Die erste Universalgeschichte ist die der Propheten; vgl. F. G. Maier 1973, 86. Als weitere sprachliche Eigenart ist vermerkt worden, daß das Wort .Geschichte', in den Plural gesetzt, seine Bedeutung tendenziell verändert, v o m substantiellen Geschehenscharakter zum Erzählcharakter hin (Tenbruck 1972, 57).
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volle Gestaltung sich nur über „die Staaten, die Völker, die Religionen aller Zeiten" vollzieht; „über den Geschichten ist die Geschichte", ihr Subjekt ist die „Menschheit" (1937, 267, 354). O b man einen solchen Bezug auf das G a n z e nun mit Argumenten der Phänomenologie oder der Historik plausibel zu machen sucht, die entscheidende F r a g e bleibt natürlich, welcher Status dieser allgemeinen Geschichte zugesprochen wird. Die Extreme bilden auf der einen Seite der metaphysische Geschichtsbegriff, auf der andern die Auffassung der Geschichte als „regulativer Idee" (Baumgartner). F ü r die geschichtsphilosophische Auseinandersetzung der Neuzeit hat die letztere allerdings kaum eine Rolle gespielt, auch wenn man etwa im phänomenologischen Begriff des Horizonts eine verwandte Konzeption sehen kann. Eher ist die moderne Geschichtsphilosophie dem Gegenpol zuzuordnen — zwar im G e g e n z u g zur metaphysischen Heilsgeschichte entstanden, aber implizit selber einem metaphysischen Geschichtskonzept verhaftet geblieben. E s ist wohl kein Zufall, daß der Kollektivsingular ,die Geschichte' sich in der gleichen Zeit herausbildet, in der auch die neuzeitliche Geschichtsphilosophie entsteht. G e g e n das K o n z e p t eines vorgegebenen Geschichtsplans nimmt diese zunächst eine Subjektivierung vor — eine Orientierung, die, wie sich gezeigt hat, letztlich im K o n z e p t einer machbaren Geschichte terminiert, zu deren Subjekt dann die Menschengattung berufen wird. Allerdings nährt sich der Widerstand gegen eine solche Totalgeschichte gerade auch aus Motiven des geschichtlichen Denkens, das sich ebenso ursprünglich dem Individuellen verpflichtet weiß. Möglicherweise ist die Integration des Einzelnen ins Allgemeine in einer subjektiv verwalteten Welt noch radikaler als in den ehemaligen Vorstellungen einer transzendenten Allgeschichte, die dem Diesseits gegenüber primär das Andere war. G e g e n solche Integration stellt die Pluralität von Geschichten zunächst einen Freiheitsspielraum dar. So versteht die liberale Kritik der Geschichtsphilosophie ihr Plädoyer für die „Geschichten im Plural" gerade als Eintreten für den Einzelnen. N a c h O. Marquard zwingt der aus dem Monotheismus entstandene ,Monomythos' den Einzelnen zur absoluten Identifikation und liquidiert, „was an der Mythologie doch Freiheit war: die Pluralität der Geschichten, die Gewaltenteilung im Absoluten, das große humane Prinzip des Polytheismus" (1978). In ähnlichem Sinn plädiert auch H. Weinrich für „ein Ritardando in der Geschichtsphilosophie" und sieht im Erzählstil der „alten Geschichten — den buntscheckig erzählten Geschichten v o m sonderbaren Treiben der Menschen" jene „Gelassenheit, die zugleich Menschenfreundlichkeit ist" (1973 b, 469 f.). In der Tat findet sich die geschichtsphilosophische Reflexion der Gegenwart, sofern sie die Leitideen des neuzeitlichen Geschichtsdenkens zu E n d e führt, in einer eigenartig paradoxen Situation; ihrer begrifflichen Verfassung wie ihrem praktischen Stellenwert nach erscheint Geschichte als ambivalente Größe. D a s ursprünglichste M o t i v der Geschichtsphilosophie, die Idee des sich in der Geschichte autonom verwirklichenden Menschen, scheint sich heute gleichzeitig zu realisieren und selber in Frage zu stellen. Einerseits scheint die Machbarkeit der Geschichte im gleichen Maße in greifbare Nähe gerückt, wie sich die Einheit der Welt, die .Weltgesellschaft' herausbildet. Mit deren Entstehung, so kann man sagen, entsteht auch ,die'
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Geschichte; die politischen und sozialen Interdependenzen sind „so weit fortgeschritten, daß . . . zum ersten Mal die partikularen Geschichten zur Geschichte der einen Welt zusammengewachsen sind" (Habermas 1971a, 278). Die universal gewordene Geschichte aber ist, auch wenn die Menschheit nur als ihr .Referenzsubjekt' angesetzt wird, gleichsam per definitionem machbar geworden. Ihr selber universales Referenzsystem hat keine äußeren Kontingenzen mehr zu gewärtigen — zumindest nicht in dem Sinne, in welchem das Individuum in externe Handlungsinterferenzen verflochten ist. Als Außensystem bleibt allenfalls, gewichtig genug, die (äußere und innere) Natur. Auf der andern Seite aber ist, zugleich mit der Verwirklichung der geschichtsphilosophischen Prämissen, deren ideelle Uberzeugungskraft verlorengegangen, ist „die von der Theologie philosophisch rezipierte Rahmenvorstellung der Geschichte als Totalität fragwürdig" geworden (ebd.). Totalität scheint im gleichen Zug real zum Schreckbild und für das theoretische Bewußtsein entbehrlich geworden zu sein. Man möchte hier natürlich die Unterscheidung zwischen vernünftiger und gewaltsamer Einheit, rationaler und irrationaler Verfügung über Geschichte anbringen. Die als Schrecken empfundene Einheit wäre dann eher als Verallgemeinerung des naturhaften Zwangs, nicht als dessen Überwindung zu deuten. Ihr gegenüber wäre eine Einheit der Geschichte zu fordern, die aus der vernünftigen Selbstbestimmung des Menschen entspringt, eine Einheit, die nicht selber in fixiertvergegenständlichter Form über die Vielfalt des Besonderen herrscht, sondern Platz läßt für die subjektive Freiheit der Individuen oder, als deren Grundlage, diese erst ermöglicht. Unter der Vorstellung der Universalität wäre einzuklagen, um wessentwillen der geschichtsphilosophische Entwurf einst konzipiert wurde, die Idee der Humanität, die Idee menschlicher Freiheit. Geschichte als ganze würde zur Instanz, in der auch der Gehalt und die praktische Bedeutsamkeit der partikularen Geschichten gründeten 65 . In einer solchen Sicht wären Einzelgeschichten in ihrer Geschichtlichkeit gar nicht erfaßbar ohne jene — von keinem einzelnen erlebbaren oder gar machbaren — Hintergrundgeschichten, die „vom großen Atem des Epos leben", ohne die „weit über tausend Jahre immer wieder das Bewußtsein der aufeinanderfolgenden Geschlechter erfüllenden Erzählungen, wie sie in den Werken Homers oder der Bibel vorhanden sind" (C. J. Burckhardt 1974 b, 21). Doch bleibt die Frage, ob diese umfassende Geschichte, wenn sie im säkularisierten Weltbild selber zum Gegenstand menschlichen Handelns und Planens wird, die Geschichtlichkeit konkreter Prozesse unversehrt läßt, ob sie dann, mit Baumgartner zu reden, ihren Status als nichtvergegenständlichte Größe, als .regulative Idee' und damit als Fundament des konkret Geschichtlichen noch beibehält. Wenn die Entstehung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie idealtypisch in der Vereinnahmung des theologischen Geschichtsplans durch den Autonomieanspruch menschlicher Praxis besteht, so liegt die Vermutung nahe, daß sich das geschichtsphilosophische Denken mit Notwendigkeit in die von H. Arendt benannten — begrifflichen und praktischen
« Vgl. Apel 1973, I 270; Anacker/Baumgartner 1973, 553.
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— Inkonsistenzen verstrickt. Im subjektivistischen Ursprung der Geschichtsphilosophie scheint die Aufhebung des Geschichtsbegriffs bereits vorgeprägt. So bleibt in der Tat fraglich, ob überhaupt in der geforderten Weise zwischen guter und fataler Einheit, rationaler und irrationaler Machbarkeit der Geschichte zu unterscheiden ist, oder ob nicht umgekehrt die Tatsache, daß die Verwirklichung der geschichtsphilosophischen Prämissen mit deren Problematisierung einhergeht, eben für die Vermutung spricht, daß das Ende des historischen Bewußtseins in der beginnenden Geschichtsphilosophie bereits vorweggenommen ist. Zunächst scheint allerdings die Einführung des Kollektivsingulars ,die Geschichte' wie auch dessen normale Verwendung gegen eine solche Tendenz zur Totalisierung subjektiver Herrschaft und zur Selbstaufhebung von Geschichte zu sprechen. Vielmehr scheint er für die gleiche Umkehrung von Subjekt und Objekt zu stehen, durch die wir schon den historischen Zukunftsbezug charakterisiert hatten. Gegenüber den vielen Geschichten der Einzelnen und Gruppen verweist ,die' Geschichte auf jenen umfassenden Geschehenszusammenhang, der sich dem subjektiven Zugriff vollends entzieht; auf sie als ganze die Forderung der Machbarkeit anzuwenden, heißt ja gerade, gegen das normale Verständnis von Geschichte ein neues zu postulieren. An ihr selber kann die Vorstellung der Allgeschichte, gleich wie der Zukunftsbezug, etwas von dem deutlich machen, was das eigentlich Geschichtliche am menschlichen Lebensvollzug ist. Sie legt die Rezeptivität der historischen Erfahrung frei und verweist auf die irreduzible Faktizität der Geschichte. Das Wechselspiel zwischen ,der' Geschichte und den vielfältigen Einzelgeschichten (oder gar der Eigengeschichte) widerspiegelt sich in der Interesserichtung, wie sie nach Meinung vieler Historiker der geschichtlichen Erkenntnis zugrundeliegt: zunächst als ein Interesse gerade nicht an dem mit der eigenen Gegenwart Korrelierbaren oder von ihr in Dienst zu Nehmenden, sondern am Fremden und Fernen, an der Vergangenheit um ihrer selbst willen, an den „menschlichen Dingen überhaupt" oder am „Ewigmenschlichen" 66 . Auch hier steht das Interesse am Allgemeinen jenem am Individuellen, das Fremde dem Eigenen nicht einfach als das Andere gegenüber. Im Medium des Allgemeinmenschlichen soll das Individuelle selber zur Darstellung kommen; auch die Weltgeschichte ist nichts anderes als „der Platz, an dem unsereiner, die menschliche Kreatur, seinen Alltag verbringt" (Wittram 1958, 16). Wenn aber im Eigeninteresse am Historischen um seiner selbst willen gerade jene Dimension des Geschichtlichen in den Vordergrund tritt, „die sich unserem Zugriff entzieht" (15), so heißt das auch, daß historische Identität darin zwar nicht einfach als gegenständlich-subjektlose Entität, wohl aber als in sich gebrochene, daß das individuelle Selbst in seiner Endlichkeit gewußt wird. Die historische Teilhabe am Ganzen bringt die Dialektik der Endlichkeit zur Darstellung; geschichtliches Bewußtsein ist „Bewußtsein des Menschen von seiner Endlichkeit" (Schieder 1974, 83). Und wie erst ,die' Geschichte den Rahmen für
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G. Mann 1974, 32, 28; vgl. Burckhardt 1963, 5 f.; Wittram 1958, 9, 31 f.; Berglar 1975, 71; Kaltenbrunner 1975, 11.
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faktische Geschichten eröffnet, so kann man vielleicht auch sagen, daß erst durch den Zukunftsbezug jene Dimension .gerichteter' Zeit eröffnet wird, die den Rahmen historischer Zeiten bildet. Wie der Ausgriff aufs Ganze die Objektivität des Geschichtlichen manifestiert, wäre dann auch die Konstitution von Zeit, zumindest sofern sie Geschichte stiftet, kein rein subjektiver Akt — dies nicht nur im Sinn etwa der passiven Genesis Husserls, sondern in dem Sinne, daß die Zeit dem Menschen zukommt, indem sie auf ihn zukommt, als ein Gegebenes, zu dem sich der Mensch zunächst rezeptiv verhält. Die Frage, ob die Idee der geschichtlichen Zukunft wie der Einheit der Geschichte ihrer Tendenz nach auf die Aufhebung des Geschichtsbegriffs oder auf seine begriffliche Freilegung hinausläuft, läßt sich somit nicht durch ein einfaches Verdikt beantworten. Wir haben bisher verschiedene Argumente für die eine oder andere Möglichkeit vorgebracht, verschiedene Bedingungen genannt, unter denen die Antwort in der einen oder andern Richtung ausfallen muß. Ebensowenig ergibt sich aus dem Bisherigen eine abschließende Antwort auf die Frage, ob eine solche Tendenz zur Selbstaufhebung eine innere Fehlentwicklung oder eine Notwendigkeit des Geschichtsdenkens darstellen würde, und ob, im zweiten Falle, dies zu beklagen oder aber als geheimes Telos der Geschichtlichen selber aufzufassen wäre. Wir werden in den beiden folgenden Teilen anhand der differenzierteren Kriterien, die wir für das Verstehen und Erklären von Geschichte anwenden, und anhand einer vertieften Explikation des Begriffs historischer Identität auf diese Fragen zurückzukommen haben67. Zu beantworten ist an dieser Stelle die Frage, inwiefern der Zukunftsbezug selber noch zum Geschichtlichen gehört und inwiefern damit möglicherweise eine Grenze des Narrativismus markiert wird. Wir hatten die subjektive Haltung der Rezeptivität — und entsprechend die Objektivität der Geschichte — als Bedingung dafür ausgemacht, daß der Zukunftsbezug noch als geschichtlicher angesprochen werden kann. Wir haben nun umgekehrt zu fragen, inwiefern damit eine nicht nur notwendige, sondern gewissermaßen zureichende Bedingung angegeben ist, inwiefern ein so qualifizierter Zukunftsbezug als spezifisch geschichtlich anzusehen ist. Die Bestimmungen des Geschichtlichen hatten wir bisher der an der Vergangenheit orientierten Narrationstheorie entnommen. Vergleichen wir damit das zum geschichtlichen Zukunftsbezug Gesagte, so zeigt sich, daß in ihm genau jene Momente zur Geltung kommen, die auch das Geschichtliche des Vergangenheitsbezugs ausmachten. Im Phänomen des Neuen, des Unableitbaren betont die .geschichtliche' Zukunftsorientierung Momente — und transponiert sie gewissermaßen auf eine neue Ebene —, die formal ebenso zum (vergangenheitsorientierten) Geschichtsbewußtsein gehören, ja dieses wesentlich ausmachen. Unableitbarkeit meint dabei nicht
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Die bisherige Ambivalenz hängt mit der doppelgliedrigen Fragestellung zusammen: zum einen geht es um eine Einschätzung des neuzeitlichen Geschichtsdenkens, wie es sich faktisch ausgeprägt hat, zum andern um die Formulierung eines möglichen, begrifflich konsistenten Geschichtsverständnisses. Nur gehört zur Sache selbst der Zweifel daran, ob es sinnvoll sei, beide Seiten schlicht auseinanderzuhalten.
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nur die Kontingenz der Ereignisse, sondern radikaler die Nicht-Antizipierbarkeit der Maßstäbe und kategorialen Formen selber, unter denen die historische Welt beschrieben und bewußtseinsmäßig konstituiert wird; historische Vernunft sprengt die Fesseln des gesetzgebenden Verstandes, der die Strukturen der Welt im voraus entwirft 68 . Wenn insbesondere die narrative Theologie solche — gerade von der Erzähltheorie herausgestellten — Merkmale auch auf die Zukunft überträgt und darin Zukunft als selber narrativ verfaßt begreift, so ist klar, daß damit nicht einfach die zeitliche Asymmetrie, auf welche die analytische Geschichtsphilosophie abhebt, rückgängig gemacht werden soll. Für Danto hat jeder erzählende Satz eine interne Zukunftsverweisung, sofern er ein früheres Ereignis im Lichte eines späteren beschreibt; daß diese als ganze in der Vergangenheit steht, heißt, daß es hier um den Erzählsatz als historische Beschreibung, als empirische Aussage geht. Klarerweise verändert sich mit der Ausdehnung der Erzählung auf Zukunft auch deren erkenntnismäßiger Status. Bedeutsam aber ist in unserem Kontext, daß sich damit zugleich die praktische Bedeutung dieser Zeitrelation transformiert. Nicht-Antizipierbarkeit meinte im Vergangenheitstempus für Danto wie für Lübbe im wesentlichen Kontingenz, Äußerlichkeit gegenüber dem Referenzsystem; als solche benannte sie ein Unterscheidungsmerkmal von Erzählsprache und intentionaler Handlungssprache. Die Wendung von der Vergangenheit zur Zukunft wendet die negative Bestimmung des Unableitbaren gewissermaßen ins Affirmative. Nicht mehr liegt der Akzent auf der Nicht-Prognostizierbarkeit, sondern darauf, daß sich positiv Neues ereignet. Die Erzähltheorie stößt hier auf eine ebenso grundlegende, vielleicht noch basalere Schicht des Historischen als in der retrospektiven Narration. Geschichtliches Bewußtsein ist nicht nur Wissen vom Vergangenen, sondern Erfahrung des Neuen, innovatorische Erfahrung; geschichtliches Wissen ist nicht nur Verfügen über eine abgeschlossene Vergangenheit, sondern Bewußtsein der Offenheit, der Unabgeschlossenheit des Zeitlichen, der Möglichkeit des Neuen (vgl. Peukert 1976, 60). Man kann die Kategorie der ,Neuheit', die damit ins Zentrum rückt, einerseits dadurch näher zu bestimmen suchen, daß man ihren ,Ort' in der Subjektivität, d. h. das ihr entsprechende subjektive Vermögen genauer umreißt. Man müßte dann sagen, daß geschichtliche Erfahrung wesentlich auf menschliche Spontaneität und Kreativität, auf Phantasie und menschliche Einbildungskraft angewiesen ist (vgl. Simon 1972). Radikaler aber wird das Neue gefaßt, wenn das ihm entsprechende Vermögen als passives, und d.h.: wenn die Neuheit .objektiv', als Neuheit des SichEreignens, verstanden wird, als die Neuheit des plötzlichen Hereinbrechens, des ursprünglichen Auftretens und Anfangens, des qualitativen Sprungs 69 . Auch von dem .Neuen' kann gesagt werden, daß es nur narrativ eingeführt werden kann; „der
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Vgl. Kaulbach 1968, 88f., 309, 314. In dieser Richtung deutet Theunissen den affirmativen Gehalt, der sich im deutschen Idealismus und insbesondere bei Hegel mit dem Begriff der Unmittelbarkeit verbindet; verwandt sind Heraklits Metapher des Blitzes und Piatons Lehre vom Plötzlichen (to exaiphnes); Theunissen 1978, 200 ff.
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innovatorische Charakter dieser Erfahrungen . . . ist der eigentliche Grund dafür, weshalb ihre Erzählung zunächst die originäre Weise ihrer Vermittlung und Präsenz ist" (Peukert 1976, 313). Indem die zukunftsbezogene Narration die Unableitbarkeit von der bloßen Kontingenz in die positive Ursprünglichkeit des Neuen umdeutet, verleiht sie auch der vergangenheitsbezogenen Erzählung nachträglich ein neues Gewicht. Was retrospektiv als Zufälligkeit erscheint, wird tendenziell auch in seiner ehemals gegenwärtigen Bedeutung, als Sich-Ereignen des Neuen, Unerwarteten faßbar. Dieses Sich-Ereignen stellt dann seinerseits einen Gesichtspunkt dar, unter dem auch Gegenwart selber in einem anderen Sinn als dem der bloßen Vergangenheitsbezogenheit als spezifisch geschichtliche erfahrbar wird. Nun bleibt die Frage, inwiefern trotz der Differenzen im epistemischen und logischen Status zukunftsbezogene Aussagen als geschichtliche gelten dürfen, solange abstrakt, als nicht auf die Motive eingegangen wird, die für oder gegen einen Einschluß der Zukunft in die Dimension des Geschichtlichen sprechen. Gegen den analytischen Narrativismus, welcher der Zukunft nur den Stellenwert einer Wertung oder eines subjektiven Interesses einräumt, gibt es zwei Varianten, die mit je verschiedener Akzentsetzung eine grundsätzliche Verflechtung von geschichtlichem Vergangenheits- und Zukunftsbezug artikulieren. Von der einen wird der Zukunftsbezug selber im Vergangenheitsbezug fundiert. Der Grundsatz des historischen Bewußtseins, daß wir die Gegenwart nur aus der Betrachtung der Vergangenheit verstehen lernen, gilt a fortiori und in einem spezifischen Sinn für unser Verhältnis zur Zukunft. Im einzelnen können wir auch hier wiederum zwei Grundtypen ausmachen. Der erste stellt die Vergangenheit als noch unerledigte Aufgabe dar, deren Lösung uns in der Zukunft obliegt, der zweite faßt die Vergangenheit als die Basis unserer Gewißheit, daß diese Lösung in der Zukunft möglich sei — Vergangenheit als Aufgabe und als Versprechen. Dem ersten Typus läßt sich paradigmatisch ein Leitmotiv der Kritischen Theorie und der narrativen Theologie zuordnen: die Idee der Geschichte als Leidensgeschichte (s. o. 2.2. C). Wie die Universalität des Leidens schon für Marx der Grund war, die Arbeiterklasse zum eigentlichen Anwärter der Zukunft zu machen ( M E W 1, 387ff.), so ist auch für die Kritische Theorie ein Begriff von Geschichte, der auf wirkliche Zukunft vorausweist, nur aus der „Tradition der Unterdrückten" zu gewinnen (Benjamin I. 2., 697). Mit dem Historischen Materialismus teilt die Theologie das Motiv der „anamnetischen Solidarität" als dem eigentlichen Quell geschichtlichen Handelns (Peukert 1976 pass.); die Erfahrung, daß vergangenes Leiden noch unversöhnt ist, ist zugleich Ursprung des Wunsches, daß es nicht auf immer unversöhnt bleibe, daß Vergangenes nicht endgültig vergangen sei. Die zweite Art der Fundierung des Zukunftsbezugs in der Erinnerung ist exemplarisch die der Heilsgeschichte. Das Vertrauen in die Rettung des Vergangenen gründet hier in einem Affirmativen, das dem Negativen noch vorausgeht, in der Verheißung des Heils, im Glauben an die Treue und Macht Gottes, die sich in der Vergangenheit bezeugt hat (vgl. Theunissen 1976). Allerdings gibt es auch dazu eine säkularisierte Variante. Sie nimmt das Vergangene in seiner eigenen Zukunftserwartung ernst und deutet die gewesene und immer noch uneingelöste Erwartung selber als Versprechen, als Anweisung auf kommende
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Erfüllung. Nicht nur die Reminis2en2 des Leidens, auch die „Erinnerung an das vergangene Glück" ist „schöpferische Kraft" (Marcuse, in: Habermas u. a. 1978,45). Wie dem Erwachsenen die Kindheit als Glücksversprechen präsent ist — die Heimat, die „allen in die Kindheit scheint" (Bloch 1959, 1628) —, so legt sich die geheime Teleologie der Geschichte als Tendenz zur Einlösung dieses Versprechens aus. Vielleicht muß man sogar sagen, daß diese zweite Variante der ersten noch zugrundeliegt: Die Erinnerung des Leidens wäre dann selber nur deshalb Anweisung für die Zukunft, weil sie getragen ist von einer Zuversicht, die in einer noch tieferliegenden Erinnerung, einer Erinnerung an die dem Leiden vorausgehende (vorgeschichtliche?) Versöhnung wurzelt. Zumindest ein Teil der geschichtstheoretischen Aussagen der Kritischen Theorie scheinen in diesem Sinn gedeutet werden zu müssen 70 . Damit kommt tendenziell auch das umgekehrte Verhältnis zum Tragen: die Fundierung des Vergangenheitsbezugs im Zukunftsbezug. Der antihistoristische Satz Nietzsches, daß wir „nur als Baumeister der Zukunft" fähig und berechtigt seien, Vergangenes zu deuten und zu richten (1980, Bd. 1, 294), bedeutet auch, daß der Vorgriff auf die Zukunft unserem Bezug zur Vergangenheit noch da vorausliegt, wo wir aus dieser das Vertrauen auf die Zukunft schöpfen. So versteht auch die narrative Theologie nicht nur die zukunftsgerichtete Solidarität zugleich als anamnetische, sondern ebenso die Leidenserinnerung als eine „antizipatorische", die immer schon auf Befreiung vorausblickt (Metz 1972 b, 406). Es ist gerade dieser Vorgriff, der die Basis für die Solidarität mit den Toten bildet und vergangenes Leid nicht als Erledigtes gelten läßt (Peukert 1976, 31 Off.). Es ist dies eine inhaltliche Konkretisierung und zugleich Radikalisierung der These des Narrativismus, daß Geschichtsschreibung immer einen zeitlichen Vorgriff impliziere. Der Vorgriff, dort formal der Temporalstruktur des Erzählsatzes entnommen, wird hier zu einem Ausgreifen auf reale und letztlich auf absolute Zukunft. Benjamins bekannte These, daß „erst der erlösten Menschheit . . . ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden" sei, spielt auf mehr an als auf die Erkenntnisleistung einer letztgültigen Universalhistorie (I. 2., 694). Erst in der absoluten Zukunft ist Vergangenheit wirklich eingeholt, und nur von dieser Zukunftsfähigkeit her wird Vergangenes als geschichtliches gedacht. Seine Potentialität geht seiner Faktizität ontologisch voraus (Jüngel 1977, 291 f.). Es ist dies die radikalste Version des Gedankens von der immer wieder neu zu schreibenden Geschichte 71 , von der Unabgeschlossenheit und ,Veränderbarkeit' der Vergangenheit, der dem normalen Zeitverständnis zunächst so gänzlich fremd ist und der gleichwohl, in verschiedenen Hinsichten, mit Geschichtlichkeit und gelebter Zeit verbunden scheint. Hier gründet das Vertrauen in die Veränderbarkeit des Geschehens letztlich im Vertrauen in die Kraft einer Zukunft, derer das Vergangene zwar nicht selber mächtig ist, von der es aber, wie Benjamins Engel der Geschichte, machtvoll angezogen wird, während es ihr selber
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S. u. II.2.3.B. Vgl. Schaff 1975, 41.
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„den Rücken kehrt" (a.a.O. 698). Wie der Vergangenheitsbezug als Solidarität mit den Toten erscheint, so könnte man schließlich versuchen, auch den Zukunftsbezug intersubjektiv zu denken — die nicht-antizipierbare Zukunft repräsentiert durch den Anderen, der auf mich zukommt; es wäre dies eine letzte inhaltliche Konkretisierung jener Idee des Neuen, das nicht produziert, nur rezipiert werden kann, und das seinerseits eine inhaltliche Vertiefung des Gedankens der Kontingenz darstellt, durch den der Narrativismus ein wesentliches Strukturmerkmal von Geschichte interpretierte 72 . Nun ist klar, daß solche inhaltlichen Deutungen nicht mehr der narrativen Grundstruktur zu entnehmen sind und nur aufgrund zusätzlicher Annahmen als möglicher Grund dieser Struktur behauptet werden können. Gleichwohl bleibt bemerkenswert, wie bruchlos sie sich in die vom Narrativismus bereitgestellten Interpretationsschemen einzeichnen lassen. Unsere Ausgangsfrage war, inwiefern sich die Einschränkung des historischen Bewußtseins auf den Vergangenheitsbezug als systematische Schranke des narrativistischen Ansatzes verstehen läßt. Rückblickend müssen wir sagen, daß jene Einschränkung — abgesehen davon, daß sie nicht dem Ansatz bei der Erzählung, sondern deren abstrakter Deutung verschuldet ist — als Indiz einer unzureichenden Deutung des Vergangenheitsbezugs selber zu werten ist73. Sofern die Festlegung auf den Vergangenheitsbezug mit einer handlungstheoretisch unzureichenden Gegenüberstellung von Handeln und Geschichte gekoppelt war, wurde erstens der Vergangenheitsbezug selber einseitig und in seinem historischen Gehalt zu wenig radikal gedeutet und geriet zweitens jener umfassende Geschichtsbegriff aus dem Blick, der für das moderne Geschichtsverständnis — auch dort, wo er nicht zum expliziten Handlungsbereich erhoben wird — doch immer als unverzichtbare Horizontbestimmung fungierte. Vor allem aber wichtig ist die positive Umdeutung jener Bestimmungen, die für den Narrativismus nur gleichsam mit negativen Vorzeichen Geschichte definierten — wie ,Kontingenz', .äußeres Geschehen', .Interferenz'. Was demgegenüber hier als irreduzible .Objektivität' der Geschichte, als Rezeptivität und Intersubjektivität des historischen Erlebens, als Ereignishaftigkeit des Geschehens und Innovation thematisch wurde, hat gerade in seinem .positiven' Gehalt zu den Bestimmungen zu zählen, die auch für ein nicht-metaphysisches Denken zum Wesensbestand des Geschichtlichen gehören.
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Vgl. Peukert 1976, 49; eine solche Sicht hat auch Konsequenzen für die zeitliche wie kommunikative Verfassung persönlicher Identität (vgl. 302, 311). In einer andern Hinsicht weist Picht auf die Fraglichkeit der Einschränkung v o n Geschichte auf Vergangenheit hin. Die Drehung des überlieferten Geschichtsbegriffs „um 1 8 0 Grad" erwächst aus der Notwendigkeit der Gegenwart, um geschichtliche Existenz überhaupt besorgt sein zu müssen. Menschliche Geschichte ist fortan „nur noch als ein Ringen um die Erhaltung jener Gattung zu begreifen..., die dadurch existiert, daß sie Geschichte hat. Das bedeutet aber, daß wir nur aus der Dimension der Zukunft einsehen können, was menschliche Geschichte überhaupt ist" (1970, 5).
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Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie
3.2. Er wählbare und nicht- erwählbare Geschichte Wir sind bisher gleichsam den innern Schranken der narrativen Geschichtskonstitution nachgegangen und haben am Beispiel der sprachlichen Basis, des Geschichtsinteresses und insbesondere der historischen Zeitlichkeit auf Grenzen der narrativistischen Geschichtsphilosophie hingewiesen. In einem zweiten Schritt haben wir nun, gleichsam von außen, den narrativistischen Ansatz als ganzen mit dem in der Literatur häufig vorgebrachten Einwand zu konfrontieren, der die Möglichkeit einer Deutung des Geschichtsbegriffs von der Erzählstruktur her bestreitet. Dieser Einwand wird in zwei Formen vorgetragen. In der ersten wird diese Möglichkeit prinzipiell bestritten, in der zweiten mit Bezug auf die spezifische Verfassung gegenwärtiger geschichtlicher Realität. Beide Einwände können auf Befunde der Historiographie hinweisen. Der erste stellt fest, daß es prominente Werke nicht-narrativer Geschichtsschreibung gibt, die nicht einfach als derivativer Modus narrativer Historie zu gelten haben, Werke, die weder der chronologischen Ordnung folgen noch sonst irgendwie erzählend sind: Sie berichten weder die Geschichte ,νοη' etwas oder jemandem, noch stellen sie primär einen Wechsel dar. Sie sind nicht kinetisch-deskriptiv, sondern eher statisch-deskriptiv, gehören aber gleichwohl zur Historie, sofern ihr Interesse einem individuellen Zusammenhang in der Vergangenheit gilt; als klassische Beispiele werden etwa J. Burckhardts „Die Kultur der Renaissance in Italien" oder J. Huizingas „Herbst des Mittelalters" genannt. Die ganz verschiedenen geschichtskonstitutiven Zusammenhangstypen, so der Einwand, lassen sich nicht auf die eine Form der narrativen Synthesis reduzieren (Ely/Gruner/Dray 1969; Dray 1971, 171). Der zweite Einwand spezifiziert diese Bedenken durch den Hinweis darauf, daß das Verhältnis zwischen narrativen und deskriptiven Darstellungsformen, sowohl in der Geschichtsschreibung wie in der literarischen Erzählung, sich in der Gegenwart zuungunsten der Narration verschoben hat. Als „richtig wissenschaftlich" gilt nur mehr „die Geschichte, die viel bespricht und möglichst wenig erzählt" (Weinrich 1973a, 421). Dahinter steht nach dem Verständnis dieses Einwands nicht eine literarische Mode oder eine theorieimmanente Entwicklung — etwa die Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus —, sondern die reale Erfahrung einer Geschichte, die nicht mehr erzählbar ist, da sie weder Kontinuität noch Überschaubarkeit noch einen durchgehenden Subjektbezug enthält; es ist die Erfahrung eines Zerfalls der narrativen Zeit (Bremond 1966, 32), einer Entsubjektivierung und Desintegration der geschichtlichen Lebenswelt, die nicht mehr in einer „narrativen Harmonisierung" überspielt werden kann (Szondi 1973, 542). Der Verzicht auf eine „Gesinnung zur Totalität" geht einher mit dem Versuch, das Defizit an narrativer Verbindlichkeit durch Beschreibung, Reflexion und Dokumentation auszugleichen (Lämmert 1973, 511 f.) 74 . Ob es sich hierbei um
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Im Erzählstil selber zeigt sich die Subjektloslgkeit nach Barthes im zunehmend .unpersönlichen' Modus der Erzählung und im Zurücktreten der .psychologischen' Person gegenüber der formellen Person, die dem Erzählakt selber zuzuordnen ist (1966, 20f.; vgl. Todorov 1 9 6 6 , 1 4 1 f.). Erzählung ist nicht mehr .Nacherzählung' einer Geschichte, sondern nur noch
Erzählbare und nicht-erzählbare Geschichte
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einen irreversiblen Vorgang handelt, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls scheint die Frage nicht von der Hand zu weisen, ob nicht die erzählende Darstellung für uns tatsächlich, „wie für Hegel die Kunst, ein Vergangenes" ist (Genette 1966, 163). Nun dürften Einwände dieser Art, wenn wir sie etwa an die Positionen von Lübbe und Baumgartner herantragen, kaum auf Verständnis stoßen. Scheint doch den Argumenten, auf denen sie basieren, bei diesen Autoren von vornherein der Boden entzogen. ,Nicht-narrative Historie' — oder gar „nicht mehr narrative Historie" (Szondi 1973) — ist für Baumgartner kein Thema, für Lübbe das Paradigma eines Kategorienfehlers. Zwar würde keiner dieser Autoren bestreiten, daß in der Historiographie andere als im strikten Sinn narrative Sprachformen vorkommen, gegebenenfalls überwiegen können. Gleichwohl würden beide daran festhalten, daß die Erzählung den äußersten Rahmen der Geschichtsdarstellung bildet, von dem her allein die Sprachform .Historie' und ihr Gegenstandsbereich .Geschichte' zu fassen sind. Die Allgemeingültigkeit des narrativen Rahmens kann deshalb nicht durch das Fehlen eines entsprechenden Substrats — homogene Zeitverläufe, Sinn- oder Handlungszusammenhänge — in Frage gestellt werden, weil er von überhaupt keiner dieser Voraussetzungen abhängig ist. Die Universalität der narrativen Synthesis beruht auf deren Autonomie. Daß die Erzählstruktur nicht selber in Substraten gründet, machte das Spezifikum des konstruktivistischen Ansatzes aus75. Als konstruktivistisch hatten wir zwar zunächst nur den Ansatz Baumgartners bezeichnet; ihm gegenüber scheint Lübbes Geschichtsbegriff als metaphysisch bestimmt werden zu müssen, sofern er auf reale Konstellationen (Handlungsinterferenzen etc.) Bezug nimmt. Doch wurde schon früher angemerkt, daß eine solche Charakterisierung von der Sache her nicht zwingend zu sein braucht. Gerade Lübbes Umformulierung des Geschichtssubjekts zum Referenzsubjekt scheint auf eine Einheit zu verweisen, die in die narrative Konstitution selber fallt. Analoges wäre zu anderen Einheitsvorstellungen von Geschichte zu sagen — zur ,Sinneinheit' ebenso wie zur ,Handlungseinheit', .Bildungsgeschichte' oder .Selbstreflexion'; nichts spricht dagegen, sie einer konstruktivistischen Perspektive zu integrieren. Für unsere Ausgangsfrage jedenfalls erscheint es sinnvoller, die Konstruktivität von Geschichte nicht nur mit Bezug auf die Zeitlichkeit und im Hinblick auf die Kontinuitätsidee, sondern ebenso mit Bezug auf andere, inhaltlich konkretere Apperzeptionsformen zu verstehen. Entscheidend ist dann nicht die Formalität der Zeitdimension, sondern die Autonomie des geschichtskonstitutiven Sprechakts. Es ist eben diese Autonomie, die den stärksten Widerspruch der Historiker herausfordert: Die ,Darstellung', so der Einwand, stellt insgesamt nur einen Aspekt der Geschichte und Geschichtswissenschaft dar, und ihre Aufklärung bringt nicht schon eine Beantwortung der grundlegenden Fragen mit sich, welche
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ihr eigener Diskurs. (Kriterium des persönlichen' Zeichensystems ist die Möglichkeit, einen Text aus der dritten in die erste Person .umzuschreiben'; a. a. Ο.). Die Bedeutung, in der hier von .Konstruktivismus' die Rede ist, ist natürlich gänzlich verschieden von der bekannteren Verwendung des Terminus in der Erlanger Schule; vgl. dagegen Nowell-Smith (1977) („The Constructionist Theory of History").
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Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie
sich dem Historiker bezüglich seines Gegenstandes wie seines Vorgehens stellen. So hebt F. Fellmann die „Grenzen der Sprachanalyse" in der Geschichtstheorie hervor, idem er auf die „unüberbrückbare Trennung" zwischen geschichtlichem Geschehen und der Historie als einem „theoretischen Gebilde" hinweist; die „primäre Formung" des historischen Materials „bleibt dem Zugriff der Sprache entzogen" (1973 b, 528 ff.). Und Chr. Meier gibt seinen ähnlich gerichteten Bemerkungen den Titel „Narrativität, Geschichte und die Sorgen des Historikers" (1973, 571) — eure Sorgen möcht' ich haben. Um diesen Komplex diskussionsfahig zu machen, scheint es nötig, die beiden Einwände auseinanderzuhalten und zwei verschiedenen Fragestellungen zuzuordnen. Die erste betrifft den Konstruktivismus überhaupt, und genauer die mögliche Autonomie der sprachlichen Darstellung als Konstitutionsmedium von Geschichte. Es ist die Frage nach einer der Darstellung vorausliegenden Formbestimmung von Geschichte, die Frage nach dem Verhältnis von Konstruktivität und historischer Ontotogie. Die zweite bezieht sich auf den selber geschichtlichen Wandel der Darstellungsform, und des nähern auf das Verhältnis zwischen Erzählung und historischer Faktivytät. Die beiden Fragen stehen offensichtlich nicht beziehungslos nebeneinander; sofern die zweite, für den gegenwärtigen Zusammenhang spezifischere Fragestellung im Horizont der ersten angesiedelt ist, wird auch ihre Beantwortung in dem Maße in der Schwebe bleiben müssen, als die erste, die hier nur erst im Ausgang vom Narrativismus erörtert werden kann, über den Themenbereich der Narration hinausführt.
A. Nach Baumgartner setzt das Konzept einer historischen Ontologie „eine historische Realität vor aller narrativen Organisation" voraus. Gegen jede Abstützung geschichtlicher Zusammenhänge in einer solchen Realität möchte er „das Problem der historischen Kontinuität im strengen Sinn als Problem der narrativen Konstruktion" festhalten (1972 b, 291 f.). Fragt man sich, worin diese konstruktive Leistung des näheren besteht, so sieht man sich im wesentlichen auf die Dimension der Zeitlichkeit verwiesen: Die narrative Organisation konstituiert Geschichte, indem sie sie erstens nach der innern Temporalstruktur des Erzählsatzes auffaßt und sie zweitens auf die Leitidee der Kontinuität hinordnet. Die naheliegende Frage ist, ob sich der radikal konstruktive Ansatz der Reduktion historischer Konstitution auf die Zeitebene verdankt. Eine solche Vermutung wird beispielsweise von F. Kaulbach in seiner Kritik des Narrativismus geäußert. Gegen Danto — und damit indirekt auch gegen Baumgartner — macht er geltend, daß die Perspektive, unter welcher der Historiker Geschichte konzipiert, „nicht bloß zeitlicher, sondern zugleich auch begrifflicher Natur ist" (1978, 68). Nun spräche nach dem oben Gesagten zwar nichts dagegen, auch das begriffliche Apperzeptionssystem allein im Subjekt gründen zu lassen, auch die begriffliche Konstitution somit als rein konstruktive aufzufassen. Interessant ist, daß Kaulbach
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gerade im Ausgang von der Kantschen Transzendentalphilosophie — die ja auch im Hintergrund der Position Baumgartners steht (vgl. 1976 b) — zum entgegengesetzten Schluß gelangt. Die Überwindung der bloß temporalen Konstitution von Geschichte verbindet sich bei ihm mit einer Kritik am Konstruktivismus. Soll ein Gegenstand „als geschichtlicher Gegenstand erkannt werden", so muß er nach Kaulbach gerade „in seiner Selbst-ständigkeit, Unverfügbarkeit und Un-notwendigkeit" zur Darstellung kommen. „Das heißt aber, daß der Transzendentalphilosoph . . . die für die Objektivität des geschichtlichen Gegenstandes einstehenden transzendentalen Prinzipien nicht nach dem Muster der Vernunftkritik als Konstitution^ormen für den Gegenstand gelten lassen kann" (1978, 74). Die „Kategorien" der Geschichtsschreibung sind nicht wie für die Naturwissenschaft „begriffliche Formen . . ., durch welche sich der Verstand seinen Gegenstand a priori zurecht-legt." Vielmehr müssen sie zugleich „als solche der Geschichte" selber begriffen werden, als „Formen des Sich-darstellens der geschichtlichen Personen und Ereignisse . . ., als allgemeine Prädikate der geschichtlichen IVeit" (75). Auch wenn wir Kaulbachs Auffassung — die offenkundig eine bestimmte Definition des historischen Gegenstandes voraussetzt, welche möglicherweise durch anderweitige Reflexion, etwa durch den Rückgang auf die Kantsche Teleologielehre einsichtig gemacht werden mag — nicht im ganzen zu teilen brauchen, so scheint doch auch von unseren bisherigen Überlegungen her viel für ein ähnliches Fazit zu sprechen. Daß das Subjekt seiner Gesetzgeberrolle enthoben wird, entspricht der Umkehrung im Verhältnis von Subjekt und Objekt, der Wende von der Produktivität zur Rezeptivität, die in früherem Zusammenhang als Bestimmungsmerkmal des Geschichtlichen ausgemacht wurde. Doch braucht dies für die gegenwärtige Fragestellung nicht unmittelbar Beweiskraft zu besitzen. Sehen wir zu, welche Einwände sich im unmittelbaren Ausgang von der sprachlichen Konstitutionsbasis gegen den Konstruktivismus formulieren lassen. Wenn wir diese als temporal und begrifflich qualifizierte verstehen, so heißt das, daß wir Dantos Kritik des Phänomenalismus, die seiner Abwehr der .Idealen Chronik' zugrundeliegt, über die Kritik am temporalen Immediatismus hinaus auch daraufhin zu deuten haben, daß ein geschichtliches Ereignis in der Historie nie als factum brutum, sondern immer schon unter einer bestimmten Beschreibung in Betracht kommt. Diese Beschreibung ist durch die Begrifflichkeit der Sprache vorgeprägt. Sie ist es nicht nur hinsichtlich der kontingenten semantischen Unterscheidungssysteme, über die eine geschichtlich gewachsene Sprache verfügt, sondern auch hinsichtlich des logischen Kategoriensystems, der Verständlichkeitskriterien, mit denen die Sprache operiert. Beide gehen in die Sprache der Historie ein. Die Frage ist, ob wir von ihnen in Absehung von Geschichte sprechen können. Für das faktische Beschreibungsvokabular liegt die Unmöglichkeit einer solchen Abstraktion auf der Hand. Nicht ebenso klar ist, inwieweit das logische Unterscheidungssystem transzendental begründbar oder selber nur ein Faktum der bestehenden Sprache ist, bedingt durch historische Erfahrung und nicht-antizipierbare Theorieentwicklung — zumal nicht im voraus ausgemacht ist, wie weit sein Bereich zu fassen ist und was ihm gegenüber zu den historisch variablen Bestimmungen zu
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Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie
zählen hätte76. Gleichwohl bedeutet das grundsätzliche Innewerden des historischen Charakters des sprachlich-kategorialen Apparats ein Einrücken des Konstitutionsmediums in den Bereich des Konstituierten und damit auch eine Transformation dessen, was Konstitution selber meint, ein Entkräften ihres apriorisch-konstruktiven Charakters. Die Konstitution von Geschichte wird an das Faktum der Geschichte zurückgebunden. Als grundlegend für die Geschichtssprache hatte sich die Unterscheidung von narrativer und deskriptiver Sprachfunktion gezeigt. Ihr ließ sich schwerpunktmäßig eine andere Unterscheidung aus der gegenwärtigen Geschichtsdiskussion zuordnen, die Unterscheidung von Struktur und Ereignis (s. ο. 1.2. Α.). Als deren nächstliegendes Unterscheidungsmerkmal fungierten die „verschiedenen zeitlichen Erstreckungen" — ein allerdings nur relatives Kriterium, da langfristig gesehen auch Strukturen zu Trägern einer Erzählung, zu Ereignissen werden können (Koselleck 1973 c, 563, 567). Stringent ließ sich die Unterscheidung nur auf logischer Ebene fassen. Als Strukturen werden dann Zusammenhänge bezeichnet, die dem Eintreten von Ereignissen vorausliegen und in deren Konstitution als Bedingungen eingehen (564); umgekehrt können Ereignisse zur Bildung neuer Strukturen führen. Begrifflich entspricht dem die Definition von Strukturen als theoretischer Zusammenhänge, von denen her Ereignisse erklärbar werden. Allerdings werden diese damit gerade nicht in ihrer spezifischen Eigenart, in der Einmaligkeit ihres Sichereignens erfaßt; auch die sprachinterne Differenzierung von deskriptiven und narrativen Elementen bleibt, auf diese einfache Unterscheidung bezogen, unterbestimmt und um eine entscheidende Pointe gebracht. Es gibt auf der begrifflichen Ebene nicht die gleiche relative Substituierbarkeit wie auf der Zeitebene zwischen Lang- und Kurzfristigkeit. Ein unüberbrückbarer Hiatus trennt das Phänomen der Novität des Ereignisses von der konzeptuellen Form der Struktur (565 f.). Das Ereignis ist nicht nur eine logische Instanz des Allgemeinen, ein Exempel, sondern in seiner Singularität zugleich immer mehr als jenes, es ist im strikten Sinn des Sich-Ereignens im Allgemeinen nicht enthalten. Wir hatten gesehen, daß die Kontingenz des Ereignisses, die wir in ihrer affirmativen Version als .Neuheit' interpretiert haben, zu den Grundmerkmalen des Geschichtlichen gehört, die gerade von der narrativistischen Geschichtsphilosophie herausgestellt worden sind. Natürlich kann auch der Begriff der Novität selber als apriorische Kategorie des Verstandes aufgefaßt werden. Wird aber das damit angesprochene Phänomen in der metatheoretischen Reflexion ernst genommen, so sieht sich die historische Vernunft zu so etwas wie dem Eingeständnis der eigenen Geschichtlichkeit genötigt. Sofern Novität als grundlegendes Merkmal des historischen Gegenstandes gilt, kann der Verstand, der ihn vermittels eines apriorischen Begriffssystems konstruiert, ihn gerade nicht in seiner Geschichtlichkeit erfassen und konstruieren. Wenn der Verstand in seiner kategorialen Apperzeptionsform gleichsam das Bild aller möglichen Welten vor-
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Vgl. Bittner, „Transzendental", in: Philosophische Grundbegriffe, hg. Krings u.a., München 1974.
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Erzählbare und nicht-erzählbare Geschichte
zeichnet, s o bleibt er d o c h in s i g n i f i k a n t e r Weise hinter d e m h i s t o r i s c h e n E r e i g n i s z u r ü c k , s o w o h l hinsichtlich des E r e i g n i s c h a r a k t e r s wie des B e g r i f f s a p p a r a t s , in w e l c h e m es sich artikuliert. A u c h w e n n d e m S u b j e k t selber d a s V e r m ö g e n d e s i n n o v a t o r i s c h e n B e w u ß t s e i n s z u g e s p r o c h e n w i r d , s o k a n n dieses d o c h s c h o n d e s h a l b nicht als V e r m ö g e n einer a p r i o r i s c h e n K o n s t i t u t i o n gelten, weil es sich s o z u s a g e n nicht selber antizipieren kann. D i e k a t e g o r i a l e K o n s t i t u t i o n w i r d hier selber d u r c h die E r f a h r u n g , die, als geschichtliche, E r f a h r u n g d e s N e u e n ist, m i t g e p r ä g t . S o f ü h r t d a s E r n s t n e h m e n des E r e i g n i s b e g r i f f s — u n d d a m i t s c h o n des E r z ä h l a k t s — z u r R e f l e x i o n a u f die e i g e n e G e s c h i c h t l i c h k e i t des historischen A p p e r z e p t i o n s s y s t e m s . A u c h w e n n wir weiterhin an e i n e m (im weiten S i n n ) k o n s t r u k t i v i s t i s c h e n ' A n s a t z festhalten — d. h. nicht d a v o n a u s g e h e n , d a ß G e s c h i c h t e ein an i h m selber F e r t i g e s sei, d e m g e g e n ü b e r d a s B e w u ß t s e i n sich n u r r e p r o d u k t i v z u verhalten hätte — , s o h a b e n wir d o c h den historischen K o n s t i t u t i o n s a k t als einen a u f z u f a s s e n , i n n e r h a l b d e s s e n die O b j e k t i v i t ä t v o n G e s c h i c h t e n o c h m i t g e d a c h t wird. E s ist d a s S p e z i f i k u m der G e s c h i c h t e , daß das K o n s t i t u i e r e n d e mit z u m K o n s t i t u t u m g e h ö r t .
Darauf
v e r w e i s t K a u l b a c h s R e d e v o m E n t w e r f e n einer „ g e s c h i c h t l i c h e n Welt" (1978, 7 5 f.): D a s historische B e w u ß t s e i n k o n z i p i e r t die historischen P r ä d i k a t e als P r ä d i k a t e einer Welt, z u der es selber h i n z u g e h ö r t . D a s G e s c h i c h t e k o n s t i t u i e r e n d e S u b j e k t ist s e l b e r Teil seines O b j e k t b e r e i c h s . H i s t o r i s c h e K o n s t i t u t i o n ist in d i e s e m S i n n e nicht reine, v o n sich a n f a n g e n d e K o n s t r u k t i o n . D a ß historische K o n s t i t u t i o n in ihren G e g e n s t a n d e i n g e b u n d e n u n d v o n i h m affiziert ist, g e h ö r t zu den zentralen E i n s i c h t e n des klassischen G e s c h i c h t s d e n k e n s . N a c h Dilthej
ist d a s .Verstehen', welches d e n realen Z u s a m m e n h a n g v o n L e b e n u n d
A u s d r u c k nachzeichnet, die o r i g i n ä r e Z u g a n g s w e i s e zur G e s c h i c h t e . Seine spezifische G e g e n s t a n d s n ä h e g r ü n d e t darin, d a ß es — i m G e g e n s a t z z u m , E r k l ä r e n ' — d e n G e g e n s t a n d nicht nur unter a p r i o r i s c h e n u n d d . h . : h y p o t h e t i s c h e n u n d v o n außen f o r m u l i e r t e n G e s e t z m ä ß i g k e i t e n b e s t i m m t , s o n d e r n ihn v o n seiner e i g e n e n A u s d r u c k s f o r m u n d seinen eigenen G e s e t z m ä ß i g k e i t e n her zu e r f a s s e n sucht.
Ge-
schichtsbewußtsein steht nicht n u r in struktureller V e r w a n d t s c h a f t z u m L e b e n s z u s a m m e n h a n g , s o n d e r n bildet mit d i e s e m einen R e a l k o n n e x derart, d a ß es s o w o h l in ihn eingebettet wie f ü r ihn m i t k o n s t i t u t i v ist. M i t B e z u g a u f d a s E r z ä h l e n als D a r s t e l l u n g s f o r m v o n G e s c h i c h t e b e t o n t Drojsen eine a n a l o g e R ü c k b i n d u n g an reale G e s c h i c h t e . Z w a r ist auch f ü r ihn die E r z ä h l u n g nicht bloße R e p r o d u k t i o n , s o n d e r n K o n s t i t u t i o n , u n d ihr M a ß s t a b nicht einfach die v o r g e g e b e n e O b j e k t i v i t ä t , s o n d e r n d a s Verstehens- u n d E r k e n n t n i s i n t e r e s s e des E r z ä h l e r s (1937, 361). D e r T y p o l o g i e der E r z ä h l e n s f o r m e n ( § 9 1 ) entspricht d i e U n t e r s c h e i d u n g der v e r s c h i e d e n e n S t u f e n d e r Interpretation (§§ 3 8 — 4 4 ) . D o c h ist die Wahl einer b e s t i m m t e n E r z ä h l f o r m nicht in das Belieben des H i s t o r i k e r s gestellt, s o n d e r n in e i n e m g e w i s s e n M a ß d u r c h d e n historischen G e g e n s t a n d v o r g e p r ä g t : nicht jeder G e g e n s t a n d e i g n e t sich f ü r jede F o r m des E r z ä h l e n s . E s g i b t keine a l l g e m e i n e E r z ä h l f o r m , in der sich d i e E r z ä h l a r t e n k o m b i n i e r t e n u n d ausglichen, s o n d e r n n u r die partikularen, alternativen E r z ä h l t y p e n , die i m m e r ein einzelnes P a r a d i g m a v o r A u g e n f ü h r e n (299). D a r ü b e r h i n a u s ist die E r z ä h l u n g als g a n z e b e s c h r ä n k t u n d hat ihre E r g ä n z u n g jenseits ihrer s e l b s t , in einer andern — e t w a der d i d a k t i s c h e n o d e r d i s k u s s i v e n — D a r s t e l l u n g s f o r m ; a u c h
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Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie
darin manifestiert sich die Bedingtheit der Darstellung durch ihren Gegenstand. Was bei Dilthey und Droysen als Schranke der Konstruktivität zum Ausdruck kommt, wird schließlich von Gadamer explizit auf das weitere Problem des .subjektiven' Zugangs zur Geschichte überhaupt bezogen, auf das Problem eines subjektiven Verstehens oder einer .subjektiven Hermeneutik' 7 7 . Damit ist zwar ein spezifischerer Punkt genannt als der zuerst thematische. Der Apriorismus der Geschichtskonstruktion hat noch nichts mit einem .subjektiven Sinn' zu tun, der auf der Gegenstandsseite der Geschichte zugrundeliegt und dem Nachvollzug des Historikers gleichsam vorgegeben wäre. Auch nehmen gerade die hier zur Diskussion stehenden konstruktivistischen Positionen in keiner Weise auf solchen subjektiven Sinn Bezug. Gleichwohl stehen beide Komplexe nicht beziehungslos nebeneinander. Wer das Verstehen zum ursprünglichen Modus historischer Vergegenwärtigung erhebt, spricht ein ähnliches Vertrauen in die autonome Leistungskraft des Subjekts in seiner geschichtlichen Apperzeption aus wie der Konstruktivismus. Umgekehrt meinen die Grenzen des Verstehens Ahnliches wie die Grenzen der Konstruktivität: Beide lassen den Historiker der eigenen Geschichtlichkeit innewerden. Das Verstehen, so aufgefaßt, erweist sich „nicht so sehr als eine Handlung des Subjekts . . ., sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen" (Gadamer 1960, 274f.). Das Eingeständnis der eigenen Geschichtlichkeit ist vielleicht die allgemeinste Form, in der die Fraglichkeit der absolut gesetzten Konstruktivität von Geschichte sichtbar wird. Noch ist damit nicht klar, wie sich auch die konkreten Fragen nach den Grenzen des Konstruktivismus beantworten lassen, etwa wie die Rezeptivität in der Geschichtskonstitution geltend gemacht werden kann, oder wie den Aspekten einer historischen .Objektivität' oder eines prinzipiell .Vorausliegenden' in der Geschichte ein Sinn abzugewinnen ist, der weder der Kritik am Naturalismus noch der der falschen Vergegenständlichung verfällt. Auch wenn man mit Habermas gegen Baumgartner geltend macht, daß die Kontinuität einer Geschichte zwar „in gewisser Weise durch die Erzählung selber erst konstituiert" wird, daß sie sich aber „auf die einheitsstiftende Kraft der Lebenszusammenhänge (stützt), in denen Ereignisse ihre Relevanz für die Beteiligten schon gewonnen haben, bevor der Historiker hinzutritt" (1976 a, 206), so bleibt noch zu klären, worauf dann die einheitsstiftende Kraft dieser ,bereits' konstituierten, .objektiven' Geschichte beruht 78 . Und ist nicht über diese Lebenszusammenhänge hinaus eine noch basalere Schicht als Voraussetzung der geschichtlichen Konstruktion zu denken, eine Einheit, die nicht nur nicht vom Historiker entworfen, sondern auch nicht von den Beteiligten her konzipierbar ist? Solche Fragen können hier nur als offene Fragen genannt werden; nur negativ ist an dieser Stelle das Ungenügen des Konstruktivismus festzuhalten, seine Unfähigkeit, die Grenzen der sprachlichen Konstitution zu thematisieren. Es scheint sich darin die
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S. u. II.3. — Dieser Bezug wird im übrigen schon bei Droysen hergestellt; nicht alle Geschichte ist als ,Ausdruck' verstehbar (1937, 292, vgl. 342). Mit Habermas' Auskunft, „daß Narrative nicht nur die Geschichten organisieren, die der Historiker erzählt, sondern auch die, von denen der Historiker erzählt", scheint die Frage allerdings nur verschoben (1976a, 251 f.).
Erzählbare und nicht-erzählbare Geschichte
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Vermutung zu bestätigen, daß gerade die Einschränkung der sprachlichen Konstitution auf die Erzählung — und deren einseitige, unzureichende Bestimmung — dafür mit verantwortlich ist, daß die Grenzen der Darstellungsdimension als solcher nicht thematisch werden; die Verabsolutierung der Narrativität führt zur Verabsolutierung der Konstruktivität als solcher. Die berechtigte Kritik am ,substantialistischen' Geschichtsbegriff aber kann nicht schon als Grund für die Reduktion objektiver Geschichte in subjektive Konstruktion gelten. Daß Geschichte sich in menschlicher Sprache allererst konstituiert, bedeutet nicht, daß sie zur Gänze .konstruiert' wird. Dem narrativistischen Ansatz wird sie zum Konstrukt; alles ihr Vorausliegende ist bloßes Material der Konstitution. Es wird demgegenüber zu prüfen sein, inwieweit die Berücksichtigung anderer geschichtlicher Apperzeptions- und Darstellungsformen es erlauben, dem Moment der geschichtlichen Objektivität in einer Weise Geltung zu verschaffen, die nicht einen Rückfall in Metaphysik, sondern gerade ein Ernstnehmen von Geschichte bedeutet. Der Konstruktivismus stellt sich in die Nähe eines Subjektivismus, den er gerade kritisieren will. Wenn Geschichte zur Gänze in die Konstruktion verlegt wird, so wird damit, auf formaler Ebene, gerade das verschmähte Modell eines Machens oder ,Herstellens' von Geschichte implizit wieder aufgenommen.
B. Das Problem der Konstruktivität der historischen Darstellung gibt den begrifflichen Rahmen ab, innerhalb dessen die spezifischere Frage nach der Erzählbarkeit von Geschichte, nach dem Verhältnis von Erzählung und historischer Fakti^ität zu stellen ist. Für viele Autoren steht hierbei die Tatsache im Vordergrund, daß sowohl in der literarischen wie in der historiographischen Sprache die traditionelle Form des Erzählens sich zurückgedrängt, wenn nicht gänzlich verdrängt findet. Diese Tatsache wird dabei nicht als bloß innerkulturelles Faktum gewertet, sondern eher als Symptom, als Reflex einer umfassenden historischen Veränderung, die sowohl die .Gegenstandsseite' wie die ,Subjektseite' affiziert: Heutige Geschichte ist nicht mehr erzählbar, und heutiges Bewußtsein kann in der Erzählung keine ihm angemessene Form des Ausdrucks mehr finden. Der Integration in Erzählschemata, welche traditionellerweise der subjektiv erlebbaren und durchs Subjekt geprägten Geschichte entnommen waren, widerstrebt eine als subjektlos, als „anonymer Prozeß" (Szondi 1973, 541) erfahrene Realität, die die Bedingungen der narrativen Organisation nicht mehr erfüllt: Ereignisse und Zustände, die in keiner signifikanten Weise mehr als einheitlich überschaut oder als sinnvoll gedeutet werden können, Gesellschaften, die sich als ,geschichtslos' präsentieren (sei es im Sinn der eigentümlichen Geschichtsverdrängung bürgerlicher Gesellschaften, sei es im Sinn der nicht-geschichtlichen Gesellschaften, welche der Strukturalismus gegen den geschichtsphilosophischen Universalismus ins Feld führt). Auf der Subjektseite ist das .Vertrauen' verschwunden, das zur Rezeption des thetischen Narrationsstils unabdingbar schien, das Vertrauen sowohl in die Kontinuität des Geschehens (G. Stein 1971, 38 ff.) wie in die
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Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie
Verbindlichkeit der erzählenden Rede selber (Lämmert 1973, 51 ff.). Das moderne Bewußtsein verlangt nach Reflexion und Begründung, und jeder Versuch, das narrativ nicht mehr Verbindliche in narrativer Integration einzuholen, schafft falsches Bewußtsein, ist Ideologie. So nötigt die Verfaßtheit der Gegenwart selber zum Plädoyer „für eine nicht mehr narrative Historie" (Szondi 1973,540ff.). Es kann nicht befriedigen, das sich dem narrativen Zugriff Entziehende einfach aus dem Bereich der Geschichte auszusiedeln — oder aber, weil von einem abstraktkonstruktivistischen Standpunkt aus immer erzählbar, in einem formalen Sinn als Geschichte zu definieren, als beziehbar auf ein Referenzsubjekt oder einen Kontinuitätsgesichtspunkt. Vielmehr, so der Einwand, muß Geschichtsphilosophie auch die Möglichkeit bieten, Geschichtslosigkeit als reale Erfahrung, geschichtlich zu begreifen 79 ; sie muß auch eine Theorie der nicht-erzählbaren Geschichte enthalten. Diese theoretisch zu begreifen, ist sie offensichtlich erst dann in der Lage, wenn nicht mehr Narration den äußersten Horizont ihres Geschichtsverständnisses bildet, sondern wenn sie umgekehrt Narration im Horizont von Geschichte zu thematisieren vermag. Der universal angesetzte Erzählbegriff, der dasjenige, was für Geschichte erst in Frage steht: ob sie überhaupt erzählbar sei, immer schon im voraus entschieden hat, kann auch kein bestimmtes Verhältnis zu dem ihm NichtIntegrierbaren herstellen. Dabei aber kann es eine Geschichtsphilosophie, die gegenwärtiger Erfahrung gerecht werden will, nicht bewenden lassen. Trotz aller Kritik am metaphysischen Geschichtsbild muß die Frage, wie sie's mit der realen Geschichte hält, für sie ein Prüfstein bleiben. Es liegt auf der Hand, daß die Position, die wir hier typisierend als Antipoden des Narrativismus gezeichnet haben, zum Teil von Prämissen ausgeht, die von diesem gerade zurückgewiesen werden. Eine Austragung der Kontroverse hätte zuallererst die divergierenden begrifflichen Voraussetzungen freizulegen und zu konfrontieren; das Wesentliche dazu ist, was den Narrativismus angeht, an früherer Stelle gesagt worden. Ebenso dringlich aber ist die Rückfrage, inwieweit die zitierten Verdikte über das Ende des Erzählens wirklich zutreffend sind. In einem gewissen Maß scheinen sie sich zumindest implizit an einem „Modell des Erzählens im trauten Familienkreis" auszurichten, das allerdings „längst unbrauchbar geworden" ist und auch nicht in einer „zweiten Unschuld" wiederzuerwecken ist (Wacker 1977, 96 ff.). Vielleicht ist sogar die Vorstellung der ersten narrativen Unschuld ein Mythos. Jedenfalls scheint es nötig, will man die Erzählung nicht auf die Temporalstruktur, des Dantoschen Erzählsatzes reduzieren, dasjenige, was gegenwärtig die Nachfolge der klassischen Erzählung angetreten hat, in differenzierterer Weise zu fassen. Unberührt vom oft diagnostizierten Ende des Erzählens hat die neuere Literaturund Sprachtheorie ein äußerst vielschichtiges — aber auch kontroverses — Bild der
79
Für Baumgartner ist „das Prädikat .geschichtslos' nicht Prädikat einer theoretischen Aussage..., sondern nur auf der Ebene praktischer Wertung" konzipierbar. „Die Erfahrung v o n Geschichtslosigkeit ist im strikten Sinn nicht als Erfahrung zu begreifen, sie hat vielmehr selbst den Stellenwert einer bestimmten, im Hinblick auf die Gegenwart als nicht mehr durchführbar angesehenen Konstruktion von Geschichte" (1972b, 265).
Erzählbare und nicht-erzählbare Geschichte
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neueren und gegenwärtigen Erzählliteratur gezeichnet, in dem sich lang- und kurzfristige Tendenzen und Transformationen in vielfacher Weise überlagern 80 . Der 1972 angesagten „Exekution des Erzählers" (Batt) folgte 1982 die „Wiederkehr des Erzählers" (Hage). Es gibt heute sehr wohl so etwas wie ein transformiertes Erzählen, das zum Teil gerade solche Momente mitaufgenommen hat, die nach jener vereinfachten Diagnose außerhalb seiner bleiben mußten. So ist etwa für Weinrich in der neueren Erzählliteratur „ein Schreibstil charakteristisch . . ., in dem das Erzählen miterzählt wird" (1973d, 333); das Erzählen wird selber ansatzweise zur reflexiven und reflektierenden Darstellung. Möglicherweise gibt es Erzählformen, die in der heutigen Welt mehr Wirklichkeitsgehalt und mehr Authentizität besitzen als die einfache Fabel oder der klassische Roman, und die gleichwohl in einem originären Sinn als narrative gelten dürfen. Gerade im Hinblick auf die Formen der Identitätsbildung, die ja ihrerseits einem geschichtlichen Wandel unterliegen, ist es bedeutsam, die verschiedenen narrativen oder auch die Kombinationen narrativer und nicht-narrativer Sprachformen zu differenzieren, die ihnen zugrundeliegen 81 . Nun ist offensichtlich, daß wir damit auf ein Problemfeld stoßen, das über die bisherigen Überlegungen hinausführt und in dem nur mit Hilfe differenzierter empirischer Analysen weiter zu kommen wäre. Erforderlich wären nicht nur konkretere Auskünfte aus der Sprach- und Literaturtheorie, sondern auch, sollen die Authentizität bestimmter Erzählformen und ihre Eignung als Medium historischer Verständigung beurteilt werden, zumindest Ansätze einer materialen Gegenwartsdiagnose. Doch stoßen wir auch auf der abstrakteren Ebene der begrifflichen Analyse, auf der sich diese Untersuchung im wesentlichen bewegt, hier insofern an eine Grenze, als die Weiterführung dieser Fragen über die Erzählung hinausweist. Wir haben sowohl genauer zu klären, welche Rationalitätskriterien die Konstitution von Geschichte in Anschlag bringt, wie auch die Erfordernisse zu präzisieren, denen eine konsistente Identitätsbildung genügen muß und die sie zum Teil als Forderungen an das Geschichtsverständnis weitergibt; dies wird die Aufgabe der beiden folgenden Teile sein. Gleichwohl kommt dem prinzipiellen Bezug auf gegenwärtige Formen historiographischer und literarischer Darstellung, auch wenn er nicht inhaltlich durchgeführt ist, im vorliegenden Kontext grundsätzliche Bedeutung zu. Was er deutlich macht, ist zum einen dies, daß die geschichtsphilosophische Reflexion, gleich wie sie die Zeitbedingtheit des historischen Bewußtseins nachweist, auch sich selbst in ihrer Geschichtlichkeit ernstzunehmen hat; erst dann kann sie in einem radikalen Sinn als Besinnung auf Geschichte gelten. Darüber hinaus aber gibt auch der nicht weiter differenzierte Hinweis auf die Abschwächung der traditionellen
80
81
Vgl. dazu, neben den früher genannten Schriften von Barthes, Genette, Stierle und Stempel u.a. Hillebrand (1978), Steinberg (1979), Batt (1975), Stanzel (1979), Weber (1975), Ehlich (1980), Arnold/Buck (1976), Ullrich (1977), Schiffeis (1975), Hage (1982). Eine Abstufung verschiedener Erzählstufen führt E. Bucher vor, wobei er damit die These verbindet, daß die Erfahrung der Selbstidentität den Rahmen der einfachen narrativen Formen sprengt (1978).— Habermas skizziert eine Abfolge von „Systemen der IchAbgrenzungen" und Weltbildern, deren erste Stufe allein narrativ organisiert ist (1976 a, 18).
106
Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie
Erzählformen Anlaß zu einer inhaltlichen Präzisierung der bisherigen Problemexposition. Ausgangspunkt ist der doppelte Tatbestand der angedeuteten Kritik und Metakritik, die beide in ihrem relativen Recht anzuerkennen sind: die im Namen der Gegenwartsdiagnose geführte Kritik am Narrativismus und die im Lichte einer differenzierteren Bestandsaufnahme formulierte Gegenkritik am Verdikt vom Absterben des Erzählens (oder gar vom Ende des geschichtlichen Bewußtseins und des Individuums). Ihr unkontroverses Ergebnis lautet zunächst, daß ein bedeutsamer Wandel in der Form historischer Vergegenwärtigung stattgefunden hat, in welchem sowohl allgemeine Tendenzen der Moderne wie spezifischere der Gegenwart ihren Niederschlag gefunden haben. Wenn wir in diesem Wandel — unter anderem — eine Abschwächung der klassischen Erzählform sehen, so drängt sich die Frage auf, wieweit das im Ausgang von der Erzählung bestimmte praktische Interesse als das Interesse an Geschichte und als auch für die Gegenwart gültiges behauptet werden darf. Diese Frage läßt sich in einer bestimmten Richtung konkretisieren, die sich gerade aus der angedeuteten Transformation der Sprachform ergibt. Nach Habermas ist es ein Kennzeichen der Moderne, die im menschlichen Reden und Handeln implizierten Geltungsansprüche erstens überhaupt erst als rechtfertigungsbedürftige und -fähige Ansprüche zu artikulieren und sie zweitens gegeneinander auszudifferenzieren. Beides scheint dem ursprünglichen narrativen Weltbild (und der entsprechenden Identitätsform) ebenso zu fehlen wie es dem modernen Bewußtsein unverzichtbar ist. Doch scheint in gewissem Maß auch ein innnerhalb der Moderne sich etablierendes Bewußtsein von Geschichte und historischer Identität — zumindest sofern es seinem äußersten Horizont nach narrativ verfaßt ist — an eben jener Einheit der Vernunftansprüche zu partizipieren, in ihr eines ihrer innersten Motive zu haben. Die Ausdifferenzierung der Geltungsaspekte kann auch im modernen Bewußtsein nicht die letzte Instanz lebensweltlicher Orientierung sein 82 . Das Einbezogenwerden in Geschichte, das Betroffensein durch die erzählte Welt und das Rückgebundenwerden an eigene Faktizität sind nicht nur Schranken, sondern auch Komplementärmotive zu den Bestimmungen des reflektierten modernen Bewußtseins. Als in diesem auftretende kommen sie nicht zu ungebrochener Artikulation, haben sie sich beim Einzelnen wie beim Kollektiv mit den formaleren Ansprüchen und Angeboten reflektierter Selbstverständigung zu vermitteln. Daß sie aber nicht einfach aus dem Blickfeld geraten, wird durch die Persistenz des historischen Bewußtseins ebenso bezeugt wie durch die unter gewandelter Form sich erhaltende Erzählung. Etwas von dem, was das Motiv und Interesse des traditionellen Geschichtsbewußtseins ausmacht, scheint auch im
82
Vgl. Habermasl981, I 485. Wenn sich die moderne, formale Rationalität „der Auflösung der substantiellen Einheit der Vernunft und dem Auseinandertreten in ihre abstrakten, zunächst unversöhnten Momente" verdankt, so möchte Habermas dagegen das „Ergän^ungsverhältnis von kognitiv-instrumenteller Rationalität einerseits, moralisch-praktischer und ästhetisch-expressiver Rationalität andererseits" als den „Maßstab" geltend machen, „der dem unverkürzten Begriff der Praxis" innewohnt.
Erzählbare und nicht-erzählbare Geschichte
107
modernen Selbstverständnis als nicht-dispensierbares Moment sich zu behaupten, ja zum Teil gerade in seiner kompensatorischen Funktion unverzichtbar zu werden. — Es zeigt sich, daß die Frage nach der historischen Gültigkeit des narrativen Bezugsrahmens Auswirkungen hat für das Verhältnis von Geschichte und Identität. Analoges wird für die leitende Fragestellung als solche geltend zu machen sein; es wird deshalb, nach der weiteren begrifflichen Freilegung des Geschichts- und Identitätsbegriffs, in der Schlußbetrachtung auf die historisch reflektierte Kritik an der Vorstellung geschichtlicher Identität überhaupt zurückzukommen sein. Wichtig an dieser Stelle war der grundsätzliche Hinweis auf die Zeitgebundenheit der Formen historischer Vergegenwärtigung, das Einrücken der Geschichtskonstitution in faktische Geschichte. In Verbindung mit den zuvor formulierten systematischen Einwänden gegen den Narrativismus gibt uns dies die Möglichkeit, abschließend einige Folgerungen für die weitere Fragestellung zu ziehen. Sie bestehen im wesentlichen in einer Präzisierung der durch die letzten Reflexionen aufgeworfenen Problemkonstellation. Wir haben in diesem ersten Teil verschiedene Aspekte skizziert, unter denen sozusagen eine Konvergenz der drei Komplexe ,Erzählung' — ,Geschichte' — ,Identität' besteht. Zugleich sind wir auf Grenzen dieser Konvergenz gestoßen, und wir haben diese Grenzen zunächst als Grenzen der Narrativität thematisiert. Damit sind die Komplexe .Erzählung' einerseits, .Geschichte' und .Identität' andererseits auseinandergetreten. Diese Dissoziation ist nun zu verschärfen. Soll die Verhältnisbestimmung Erzählung/Geschichte/Identität aussagekräftig sein, so ist es nötig, alle drei Begriffe auch unabhängig voneinander zu bestimmen. Wie der erste Teil zu einem Auseinandertreten zwischen Erzählung und Geschichte/Identität geführt hat, so wird im zweiten und dritten Teil auch danach zu fragen sein, inwiefern heutige Identitätsbildung wirklich geschichtlich, in der Angewiesenheit auf Geschichte und über Geschichte sich vollzieht. Damit differenziert sich das zuletzt diskutierte Problem zu verschiedenen Fragestellungen. Generell ist zu fragen, ob sich zwischen den negativen Varianten der drei Begriffe ein ähnlicher Bezug herstellen läßt, wie er für die positive Fassung mit einiger Plausibilität behauptet wurde. — Geht es bei der Veränderung der Erzählform um eine bloße Transformation der Form, welche die Funktion der narrativen Sprache für das menschliche Bewußtsein unberührt läßt — oder gegebenenfalls auch neu qualifiziert —, oder verschwindet damit etwas Originäres, das durch nichts ersetzt werden kann? Lebt die Erzählung allenfalls in Ersatzformen weiter, die das grundlegende Interesse an Erzählung noch partiell zu befriedigen vermögen; oder haben wir gar mit einem Absterben dieses Interesses selber und der ihm entsprechenden psychischen Disposition zu tun? — Bedeutet das tendenzielle Zurücktreten des Erzählens auch schon den Rückgang des Geschichtsbewußtseins, oder aber nur dies, daß Geschichte nun in einer andern Grammatik, einer andern Sprachform existiert, eine andere Intelligibilität erfordert? — Führt die Abschwächung der Erzählform gleichzeitig zu einer Enthistorisierung der Vorstellung persönlicher Identität? Bedeutet sie, daß anstelle der Identifizie-
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Kritik der narrativistischen Geschichtsphilosophie
rung über Geschichte ein anderer Typus von Identität an Gewicht gewinnt, etwa die funktionale Identität des homo sociologicus als Rollenträger, oder die des moralischen, sich über Prinzipien identifizierenden Subjekts? Oder schafft sich das Identitätsbedürfnis dann Substitutformen, die im eigentlichen Sinn geschichtlich sind, ohne aber an einer narrativen Organisation orientiert zu sein? — Vielleicht läßt sich diese Frage umkehren und zur Frage radikalisieren, ob nicht der neuzeitliche Subjektivitätsbcgnii selber zu seiner Enthistorisierung, ja zur Verabschiedung des Geschichtsgedankens überhaupt führt. Diese Frage bezieht sich auf die früher gemachte Feststellung, daß Erzählfähigkeit mit Rezeptionsfahigkeit zu tun hat und darin einen wesentlichen Zug des Geschichtlichen markiert. Der moderne Subjektbegriff, der am Produktionsmodell orientiert ist und dessen Paroxysmus die Vorstellung der subjektiven Herrschaft bildet, erscheint hierin gerade als Negation des Geschichtsbewußtseins, das sich zuerst explizit, dann unterschwellig von der Vorstellung einer übergreifenden und dem Subjekt vorausliegenden Objektivität nährt. Geschichtsbewußtsein scheint dann zu verschwinden, wenn diese Vorstellung, auch in der Form eines säkularisierten Glaubens, vollends erloschen ist. Läßt sich diese Tendenz sensu stricto dahingehend verstehen, daß sich der neuzeitliche Subjektivitätsbegriff überhaupt nicht mehr mit dem Geschichtsgedanken verträgt; daß somit auch das .Absterben' der Erzählkunst nicht als quasiautonomer Prozeß, sondern nur als Symptom für das Zugrundegehen des modernen, subjektivistisch begründeten Geschichtsbewußtseins an seinem innern Widerspruch zu gelten hat? — Die Fragen, die schließlich zu stellen sind, betreffen nicht mehr das interne Verhältnis von Erzählung/Geschichte/Identität, sondern die Wertung, oder wenn man so will: die Ver^ichtbarkeit der Vorstellungen von Geschichte und (historischer) Identität. Ist der — scheinbare oder reale — Geschichts- und Identitätsverlust des modernen Menschen zu beklagen? Ist beispielsweise das gegenwärtige Bemühen um eine Renaissance des historischen Bewußtseins nur das Anzeichen eines schlechten Konservatismus, oder soll hier etwas zurückgefordert werden, was für den Menschen lebensnotwendig ist? Diese Fragen erhalten ihr Gewicht nicht nur im Hinblick auf andere Kulturen, die — in unseren Augen — auf beides verzichten. Sie sind auch für jede Gegenwartsdiagnose der abendländischen Kultur unabweisbar. In eine solche, zumindest allgemeine Gegenwartsdiagnose aber scheint jede ernsthafte geschichtsphilosophische Reflexion münden zu müssen, sofern sie sich nicht der Gefahr der Abstraktheit und letztlich der Beliebigkeit aussetzen will. Gerade für sie aber ist es erforderlich, für die hier in in ihrem Verhältnis und zunächst in ihrer Konvergenz betrachteten Größen auch über eigenständige begriffliche Raster zu verfügen. Der Fragenkatalog, mit dem wir die Diskussion des Narrativismus beschließen, führt so gleichzeitig über diesen hinaus. Die Theorie der Erzählung hat in mehreren Richtungen Leerstellen hinterlassen und zugleich Wege eröffnet. Ein erster Weg führt über die Einheits- und Intelligibilitätskriterien, welche der Bildung von Geschichte zugrundeliegen. Hier kommt das Problem der historischen Erklärung in den Blick.
Teil II: Das Erklären und Verstehen von Geschichte
1.
,Theoretische' Erklärung: deduktiv-nomologische und ,integrative' Erklärung 1.1.
Das Problem der historischen
Erklärung
A. Äußerlich betrachtet, erscheint der Übergang von der historischen Erzählung zur Erklärung als einfacher Themenwechsel. Der Boden der sprachlichen Konstitution von Geschichte wird verlassen zugunsten der Logik der Erklärungsmuster, mit denen Historiker ihre Schlüsse untermauern und die Wissenschaftlichkeit ihrer Analysen herausstellen. Entsprechend disparat scheinen die Spezialdisziplinen zu sein, die sich der Komplexe ,Erzählung' und ,Erklärung' annehmen — Linguistik und Wissenschaftstheorie —, und entsprechend weit scheint sich die letztere von dem zu entfernen, worauf das Interesse an Geschichte normalerweise geht. Doch hat sich schon mehrfach angedeutet, daß der Hiatus zwischen diesen Sphären nur ein scheinbarer ist. Was die Wissenschaftstheorie als Metatheorie erörtert, ist auf die Ebene der Theorie, und allgemeiner: der geschichtlichen Darstellung zurückzubeziehen. Wenn Geschichte als „Darstellungskonstrukt" 1 aufgefaßt werden soll, so hat als ihre Konstitutionsbasis die sprachliche Darstellung als solche zu gelten, die Erklärung ebenso wie die Erzählung. Es findet sich darin jener Zusammenhang verallgemeinert, auf den schon innerhalb der Erzählung die Verflechtung narrativer und deskriptiver Momente hingewiesen hatte. Er verstärkt sich im Hinblick auf jenen Aspekt, unter dem wir den Geschichtsbegriff hier zum Thema machen. Wie das bloße ,Präsentieren', das Analysieren, Erklären und Bewerten im konkreten Akt historischer Vergegenwärtigung einen einheitlichen Zusammenhang bilden, so auch die Aspekte des über Geschichte sich artikulierenden Bewußtseins eigener Identität. Geschichtsbewußtsein als identitätsstiftender Reflexionsakt schließt ebenso die narrative Präsentation wie das verstehende Erfassen und letztlich die über Geschichte sich vollziehende Verständigung über sich selber ein. Die Argumentationsformen und logischen Verhältnisbestimmungen, die einer für die historische Darstellung in Anschlag bringt, bezeichnen die Art, wie er sich zur Geschichte stellt, sich mit ihr auseinandersetzt, welche Bedeutung sie für ihn hat, ja was für ihn überhaupt Geschichte ist. Gegenüber der wissenschaftstheoretischen Fassung der Erklärungsproblematik finden so zwei Verschiebungen statt. Erstens
1
Für das komplexe Gebilde Geschichte gilt, was H. Lenk für den elementaren Sachverhalt Handlung ausweist: vgl. 1978.
112
.Theoretische' Erklärung
verschiebt sich der Akzent von der Logik zum sprachlichen Ausdruck als Darstellungs- und Konstitutionsmedium von Geschichte. Zweitens wird der sprachliche Ausdruck nicht als bloß theoretische Vergegenwärtigung, sondern als praktische' Reflexion, als Konstitutionsakt im Horizont menschlicher Praxis aufgefaßt. Gegenüber dem .Sprechakt Erzählung' kommt die Erklärung so eher als Akzentverschiebung denn als grundsätzlich Neues in den Blick. Daß die Diskussion des Erklärungsbegriffs über eine rein logische Auseinandersetzung hinausführt, ist indes nicht nur eine Konsequenz der hier verfolgten Fragestellung. Auch innerhalb der wissenschaftstheoretischen Diskussion findet ein Rekurs auf außerlogische Bestimmungen — ausdrücklich oder implizit — zumindest oft dann statt, wenn Kriterien namhaft gemacht werden sollen, anhand derer zwischen konkurrierenden Erklärungsmodellen zu entscheiden ist. In der Tat scheint die rein immanente Auseinandersetzung bald an eine Grenze zu stoßen. Wenn sich in verschiedenen Erklärungsmodellen keine internen Unstimmigkeiten nachweisen lassen und gleichwohl nicht mit einem unentscheidbaren Erklärungspluralismus vorlieb genommen werden soll, so scheint der Rückgriff auf externe Gesichtspunkte unverzichtbar, sei es auf das intuitive Verständnis dessen, was eine Erklärung leisten soll, sei es auf die faktische Wissenschaftspraxis einer Disziplin, sei es auf die Beschaffenheit des Gegenstandsbereichs. Daß dieser Rückgriff oft nicht reflektiert wird, verleiht einem Teil der Auseinandersetzungen ihr dogmatisch-apodiktisches Aussehen. E s wird im Verlauf der Diskussion im einzelnen zu zeigen sein, wie solche .externen' Gesichtspunkte konstitutiv in den Erklärungsbegriff eingehen; an dieser Stelle sollen nur global die Hinsichten unterschieden werden, unter denen ein solcher Bezug stattfinden kann. Als allgemeinste Unterscheidung kann die von .objektiven' und .subjektiven' Gesichtspunkten gelten. Erklärungsmodelle sind Systematisierungsmuster, durch welche Wissenschaften — oder auch das Alltagsverstehen — die Grundzüge der erfahrenen Welt gewissermaßen apriori festlegen. Soll die Fixierung eines solchen Musters nicht völlig in die Willkür des Wissenschaftlers fallen, so liegt es nahe, sich als erstes an der Beschaffenheit des Gegenstandes zu orientieren. Es scheint eine naheliegende Vorstellung, daß sich nicht jeder Gegenstand nach dem gleichen Schema auffassen läßt, daß die Materie des zu Erklärenden über die .angemessenste' Art seiner begrifflichen Erfassung entscheidet, d.h. darüber, welcher Erklärungstypus ihm sozusagen ,am nächsten' kommt. Bekanntestes Beispiel ist die Gegenüberstellung von Natur und Geist und die ihr zugeordnete Dualität von Erklären und Verstehen. Auch wo diese nicht geradezu in einer vorausgesetzten Zweiteilung der Gegenstandswelt fundiert wird, wird doch auf eine gewisse Prädisponiertheit des Objektbereichs für eine bestimmte Auffassungsweise Bezug genommen. Wenn der Geist originär als .Ausdruck' existiert (Dilthey), so ist das .Verstehen' seine adäquateste Erfassung. Auch ein Teil der neueren Methodendiskussionen der .Geisteswissenschaften' scheint — letztlich — in ähnlicher Weise gegenstandsorientiert zu sein. Der Streit um die Soziologisierung — Ökonomisierung, Psychologisierung — der Geschichte betrifft gleichermaßen das Geltendmachen bestimmter Inhalte wie die Methoden selber. So ist auch die Bezeichnung der Methodendiskus-
Das Problem der historischen Erklärung
113
sion als ,gegenstandsorientiert' ambivalent; worum es geht, ist die Interdependenz zwischen der Definition des Gegenstandsbereichs und der Festlegung seiner methodologischen Erfassung. Sie zeigt sich bei Diltheys Zuordnung des Verstehens zum Geist ebenso wie schon in Kants Bestimmung der Natur als des Reichs der Erscheinungen, sofern es unter Gesetzen steht. Es gibt heute weniger denn je ein einheitliches Paradigma der Humanwissenschaften. Deren Ausdifferenzierung zu Spezialdisziplinen scheint einige dieser Disziplinen in größere Affinität zum naturwissenschaftlich-gesetzmäßigen Erkennen zu stellen als andere; als idealtypische Gegenpole können die Ökonomie auf der einen, die (klassische, individualisierende) Historie auf der anderen Seite gelten. Die Diversität der Modelle macht eine Explizierung und Uberprüfung ihrer inhaltlichen Prämissen zur vordringlichen Aufgabe. Wie in der geisteswissenschaftlichen Tradition oftmals das Verstehensmodell als genereller Orientierungspunkt fungierte, so scheint heute eine starke Tendenz dahin zu gehen, den Begriff der Handlung zum Zentralbegriff zu erheben. Doch Handlungstheorie ist weder schon Gesellschaftstheorie noch Geschichtstheorie, und es wird zu prüfen sein, inwieweit von Handlungserklärungen her Aufschluß über die Verständlichkeit von Geschichte zu erlangen ist. Die Notwendigkeit einer solchen inhaltlichen' Methodenreflexion bestätigt, was sich in der Narrationstheorie angedeutet hatte: daß die Erklärungsproblematik selber noch mit der Gegenstandsbestimmung der Geschichte befaßt ist. Ebenso scheint sich das Problem zu wiederholen, das dort unter den Titeln .historische Ontologie' und .historische Faktizität' aufgegriffen wurde. Die Entscheidung über konkurrierende Erklärungsmodelle ist keine rein methodologische Entscheidung, sondern ebenso ein Entwurf eines ,ontologischen' Grundgerüsts und eine Interpretation faktischer Geschichte, vielleicht selber von dieser Faktizität in einem nicht mehr hintergehbaren Maße affiziert. Daß die Erklärungsproblematik den Gegenstand mitdefiniert, gilt gleichermaßen für die ,subjektive' Seite der ,logik-externen' Methodenbestimmung. Auf die Eigenständigkeit des human wissenschaftlichen Vorgehens nicht reflektiert zu haben, wirft Gadamer der traditionellen Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften vor, in welcher das erkenntnistheoretische Paradigma der Naturwissenschaften verallgemeinert und dann nur noch innerhalb seiner nach der logischen Diversität der Methoden gefragt wird. Wird demgegenüber die Geisteswissenschaft von dem — in Philologie, Jurisprudenz und Theologie geprägten — Modell der Hermeneutik her gedacht, welches gar nicht primär auf Theoriebildung als vielmehr auf Applikation abhebt, dann zeigt sich, daß zwischen Geistes- und Naturwissenschaft nicht in erster Linie „eine Differenz der Methoden", sondern eine „Differenz der Erkenntnisziele" besteht (1960, XV; vgl. 477, 484). Dieser Gedanke ist von Habermas zu einer allgemeinen Theorie der erkenntnisleitenden Interessen weitergeführt worden; Apel wendet ihn auf den Methodenstreit innerhalb der Humanwissenschaften an: Die Frage, ob etwa eine Handlung kausal oder teleologisch, über ,Ursachen' oder ,Zwecke' zu erklären sei, läßt sich weder allein im Blick auf die Methode noch auf den Gegenstand entscheiden. Jede dieser Deutungen nimmt ein bestimmtes Interesse, eine bestimmte Orientierung als selbstverständlich
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.Theoretische' Erklärung
an, in deren Dienst und Horizont sie die Erklärung stellt. Solange nicht darauf zurückgegangen wird, bleibt nur die Möglichkeit, die gegnerische Position entweder als schlechthin unverständlich zu bezeichnen oder sie metaphysischer Voraussetzungen zu verdächtigen (1973, II 49 f.). Von besonderem Belang wird für uns hierbei die Frage sein, ob es zum Spezifikum eines bestimmten Wissenschaftstypus gehört, am Ziel der menschlichen Selbstverständigung ausgerichtet zu sein (vgl. a. a. O. 64), ob die Identitätsproblematik selber noch zum .wissenschaftstheoretisch' ausmachbaren Bestand der Historie gehört — möglicherweise nicht nur als deren Interessehorizont, sondern als ihre (im engen Sinn) methodologische Voraussetzung (Selbstverständigung als Voraussetzung des Verstehens überhaupt; vgl. Taylor 1975, 213f., 219). Wie diese Frage auch beantwortet werde, jedenfalls erfährt die generelle These des Zusammenhangs von Erkenntnis und Interesse im Fall der Humanwissenschaft und namentlich der Geschichte eine besondere Zuspitzung. Sie rührt daher, daß hier eine spezifische Verflechtung von ,Erkenntnissubjekt' und ,-gegenständ' besteht, daß .Geschichte' und .Historie' sozusagen dem gleichen Raum angehören, Geschichtsbewußtsein selber Moment der Geschichte ist. Sofern historische Erkenntnis ihrer Ausrichtung nach in gewisser Weise Selbsterkenntnis ist — Historie idealtypisch die eigene Geschichte betrifft —. kommen hier Interessen, Betroffenheiten und Motive viel spezifischerer Art zum Tragen als jenes allgemeine Interesse (etwa an Verständigung oder Mündigkeit), das dem humanwissenschaftlichen Typus als solchem zugeordnet ist. Vielleicht kann gar erst eine Aufklärung der unbewußten, emotional-affektiven Interaktion des erkennenden Subjekts mit seinem Gegenstand jene Selbstaufklärung der Erkenntnis leisten, die von einer konsequenten Methodenreflexion gefordert wird 2 . In beträchtlichem Maße interferieren in der Erklärungsproblematik Fragen des praktischen Verhältnisses zur Geschichte mit .reinen' Methodenfragen; wichtig ist daran festzuhalten, daß , Subjektives' dabei nicht als bloßer Störfaktor ins Spiel kommt, durch dessen Elimination sich die Wissenschaftlichkeit einer Methode herstellte und begründete. Die .Reinheit' der Methodologie ist nicht Maß für die .Richtigkeit' eines wissenschaftlichen Vorgehens, ja nicht einmal für dessen Transparenz. Solche wird erst durch eine Reflexion erreicht, welche Logisches und Außerlogisches verbindet und die Methode im Kontext der Wissenschaft als menschlicher Praxis sieht. Es ist klar, daß sich dabei die hier gemachte Unterscheidung von .objektiver' und ,subjektiver' Seite nicht in dieser Abstraktheit durchhalten läßt. Gerade für die Historie ist unmittelbar einleuchtend, daß das praktische Verhältnis zur Geschichte für den Begriff der historischen Erklärung ebenso von Belang ist wie die inhaltliche Vorstellung vom Gegenstand Geschichte, und daß andererseits die beiden Seiten keine voneinander unabhängigen
2
Vgl. Devereux 1976. Nach ihm liegt der im psychoanalytischen Sinn verstandene „Dialog v o n Unbewußt zu Unbewußt" (Übertragung und Gegenübertragung) jeder Wissenschaft v o m Menschen zugrunde (380, 190); die abstrakten und segmentierenden Verfahren professioneller Wissenschaft sind gerade Abwehrstrategien gegen die Angst, die dieser unbewußten Interaktion entspringt (109ff.); s.u. Π.3.2.Α.; vgl. Erdheim 1981, 1982, Mitscherlich 1967.
Das Problem der historischen Erklärung
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Größen darstellen; zu prüfen wird sein, wie weit die Interessenausrichtung für wesentliche Züge der inhaltlichen' Vorstellung selber noch determinierend ist. Die Methodendiskussion kann nicht beim bloßen Vergleich von Erklärungsmodellen und deren gegenseitiger Kritik stehenbleiben; sie hat zugleich Reflexion auf Funktion und Stellenwert der historischen Erklärung als solcher zu sein3.
B. Die gegenwärtige Literatur zum Erklärungsbegriff bietet ein äußerst vielfältiges und verwirrendes Bild. Will man nicht einen Erklärungstypus als schlechthin gültig voraussetzen und ihn an die andern als Maßstab anlegen, so ergibt sich unmittelbar das Problem, wie zwischen den verschiedenen Ansprüchen, mit denen sie alle auftreten, zu entscheiden, ja wie sie überhaupt sinnvoll zu vergleichen sind. Eine Diskussion, gar eine Entscheidung scheint nur möglich, wenn Bezugspunkte ausgemacht werden, von denen her sich die Vielfalt ordnen läßt. Dazu ist es nötig, auf Gesichtspunkte eines höheren Abstraktheitsgrads zurückzugreifen als sie in der immanenten Darlegung der Modelle gegeben werden, Gesichtspunkte, unter die sich konkurrierende Begriffsschemen gemeinsam subsumieren und darin einander gegenüberstellen lassen. Solche Gesichtspunkte werden in der Auseinandersetzung, in die sich viele Positionen mit ihren Gegnern einlassen, nur zum Teil thematisiert. Statt zu versuchen, ein solches Bezugssystem im voraus zu entwerfen, soll hier von einer exemplarischen Auseinandersetzung in der Theorie der historischen Erklärung ausgegangen werden: von der bereits klassischen Kontroverse zwischen C. G. Hempel und W. Dray. Wir werden sehen, daß auch diese Auseinandersetzung, wie sie in der Literatur vorliegt, nicht unmittelbar entscheidbar ist, und wir werden genötigt sein, den Streit zunächst dadurch klarer zu machen, daß wir die impliziten Streitpunkte radikalisieren. Hempels Theorie, welche den Methodendualismus zwischen Geistes- und Naturwissenschaften strikt ablehnt, bildet auch in der gegenwärtigen Diskussion historischer Erklärung noch einen der Hauptbezugspunkte 4 . Allgemeinste Form und sozusagen Idealtypus der wissenschaftlichen Erklärung ist für Hempel die deduktiv-nomologische (DN-)Erklärung. Andere von ihm zur Sprache gebrachten Formen legitimer Erklärung werden als Derivatformen dieses Grundtypus betrach-
3
4
Zur Terminologie: Auch wenn hier das Begriffspaar .Erklären' und .Verstehen' als — in der Sprache einer bestimmten Tradition formulierter — Titel für die Gesamtproblematik beibehalten wird, wird im folgenden meist nur von der .Erklärungsproblematik', v o n verschiedenen Erklärungsbegriffen etc. die Rede sein. Damit soll das Ganze des Problemfeldes, nicht ein Glied des Gegensatzes angesprochen sein. Der .klassische' Aufsatz Hempels ist: „The Function of General Laws in History" (1942); im folgenden wird hauptsächlich auf den Aufsatz „Wissenschaftliche und historische Erklärungen" (1972) Bezug genommen, in dem Hempel spätere Differenzierungen mitberücksichtigt und sich auch mit der Position W. Drays auseinandersetzt. Systematischer ausgeführt findet sich seine Position in (1977a).
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.Theoretische' Erklärung
tet. Dies ist von Bedeutung für das Gebiet der Geschichte, in welchem bekanntlich selten — oder nie — Erklärungen in ihrer reinen dedukdv-nomologischen Form gegeben werden (können). Wenn historische Erklärungen gleichwohl als defiziente Varianten dieses Grundmodells zu betrachten sind, so heißt das, daß sie ihre explikative Kraft allein dem verdanken, was in diesem das eigentlich Erklärende ist. Das Grundmodell besteht in der Deduktion einer Aussage über ein Ereignis — des ,explanandums' — aus einem ,explanans', welches zwei Gruppen von Aussagen enthält: Aussagen über singuläre Sachverhalte und allgemeine Gesetze. Es mag hier von den Schwierigkeiten abgesehen werden, die sich aus dieser Formel — u.a. hinsichtlich der Heterogenität der singulären Sachverhalte — ergeben5. Wichtig ist festzuhalten, worauf die explikative Kraft einer solchen Erklärung beruht. Sie verdankt sich in letzter Instanz allein den allgemeinen Gesetzen. Auch wenn eine Erklärung zunächst einmal im Auffinden bislang nicht erwähnter Faktoren besteht, so „erhalten diese den Status erklärender (und manchmal kausaler) Faktoren" allein in der Verbindung mit allgemeinen Gesetzen (1972, 241). Verständlich wird ein Vorgang dadurch, daß er als besonderer Fall einer allgemeinen Regelmäßigkeit erkannt wird. Die in Anspruch genommenen Gesetze haben dabei „im großen und ganzen den Charakter empirischer Verallgemeinerungen" (1972, 239). (Dies trifft nicht für alle ,reinen' DN-Erklärungen zu, wohl aber für die Kausalerklärung, die gewissermaßen deren Paradigma bildet, obwohl sie ihr Spektrum keineswegs erschöpft6.) Der Allgemeinheitsgrad der Gesetze kann ganz verschieden sein;
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Die Festlegung des zu Erklärenden auf ein Einzelereignis zwingt dazu, sämtliche Informationen, die logisch zur Ableitung nötig sind, in die Prämissen zu verlegen. Die singulären Sachverhalte, die Hempel dabei ins Spiel bringt, sind äußerst heterogen: a) konstitutive Antezedentien des zu erklärenden Ereignisses (hier zur Erklärung des Entstehens von Seifenblasen: das Vorhandensein eines Seifenfilms); b) Randbedingungen (konstanter Luftdruck); c) bestimmende Faktoren (Temperaturunterschied) (1972, 240 ff.). Als eigentlich erklärende Faktoren haben im normalen Verständnis primär Sachverhalte unter (c) zu gelten; das Hereinbringen von (a) ist durch die Verpflichtung auf das Deduktionsmodell bedingt und eher mißverständlich. Einleuchtender scheint hier die Aufassung Dantos, daß historische Erklärungen sich auf eine .Veränderung' beziehen, daß somit zum explanandum sowohl Anfangs- wie Endzustand von etwas gehören. Das ,reine' DN-Modell enthält entweder (I) die Ableitung eines Gesetzes aus allgemeineren Gesetzen oder (II) die Ableitung einer Aussage über ein Einzelereignis. Im letzteren Fall umfaßt es folgende Typen: 1. Epistemische Erklärungen: Sie erklären nicht das Eintreten eines Ereignisses, sondern begründen eine Behauptung (die im Schluß als Conclusio auftritt). Dabei sind die allgemeinen Gesetze entweder 1.1. bloße ΛΗιαί^β (also gerade keine empirischen Generalisierungen und in diesem Sinn auch keine Gesetze: Hempel 1977 a, 5—20) wie „Alle Schüler der Klasse 3a sind blond"; oder 1.2. Symptomgeset^e, sei es 1.2.1. .notwendige' (oder symmetrische) Symptomgesetze, welche sowohl Voraussagen wie Retrodiktionen erlauben („Auf den Blitz folgt der Donner, und dem Donner geht immer ein Blitz voraus") oder 1.2.2. ,nicht-notwendige' (oder asymmetrische) Symptomgesetze, welche Voraussagen, aber keine Retrodiktionen erlauben („Auf ein Fieber der Art Α folgt immer der Ausbruch der Krankheit B, aber das Fieber geht der Krankheit nicht immer voraus"). 2. Realerklärungen: Sie erklären das Eintreten eines Ereignisses; sie erlauben sowohl
Das Problem der historischen Erklärung
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gegebenenfalls kann, gerade im Fall der Geschichte, eine Erklärung auch auf Gesetze mit raum-zeitlich beschränktem Gültigkeitsgrad rekurrieren, auf sogenannte „summative Generalisierungen" 7 , ohne daß sich am Erklärungsmodell etwas Grundsätzliches änderte. Unabhängig vom Allgemeinheitsgrad behalten die Gesetze aber den Charakter des Faktischen, des nicht weiter Begründeten, in gewissem Maße des Kontingenten. Analog wie Ereignisse durch Gesetze können diese selber durch umfassendere Gesetze erklärt werden; dadurch steigert sich die „Tiefe unseres wissenschaftlichen Verständnisses" (1972, 240). Ob es darin so etwas wie einen ideellen Endpunkt gibt, läßt sich nicht a priori beantworten. Der faktische Allgemeinheitsgrad bleibt alleiniger Maßstab der Erklärungskraft von Gesetzen. Diese haben darüber hinaus keinem Verständlichkeitskriterium zu genügen. Der naheliegendste Einwand gegen ein solches Erklärungsschema besteht im Hinweis darauf, daß es faktisch in der Geschichtswissenschaft nicht angewendet wird. In dieser Richtung argumentiert W. Dray, wobei es ihm (hierin im Einverständnis mit Hempel [1977 a, 124]) nicht primär auf die tatsächliche .Praxis' als vielmehr auf den Erklärungs-,Begriff der Historie ankommt, auf das, was Historiker unter Erklärung verstehen oder was sie als Erklärung anstreben (1963, 109 f.). Mit Berufung darauf meint er, daß die Deduzierbarkeit „weder eine notwendige noch eine zureichende Bedingung" historischer Erklärung darstellt (109). Sein eigenes Erklärungsmodell — die .rationale Erklärung' — scheint demzufolge mehr und zugleich weniger enthalten zu müssen. Der Hauptunterschied betrifft den eben angesprochenen Status erklärender Gesetze; hierin ist sein Modell das exakte Gegenteil des Hempelschen. Das Ziel einer Erklärung ist nach Dray, „zu zeigen, daß das, was getan wurde, in Anbetracht der Umstände getan werden mußte, und nicht nur normalerweise, vielleicht in Übereinstimmung mit bestimmten Gesetzen getan zu werden pflegt" (1957, 124). Die Gesetze, unter die auch hier, wenn man so will, Einzelfälle subsumiert werden, sind nicht deskriptiv, sondern präskriptiv gefaßt, sie drücken nicht ein faktisches Sein, sondern ein Sollen aus. Ein historisches Ereignis — idealtypisch: eine menschliche Handlung 8 — erklären heißt zeigen, inwiefern diese Handlung,angemessen' ist, inwiefern von ihr sinnvoll gesagt werden kann, daß sie einen Zweck verfolgt, all dies unter Berücksichtigung der konkreten Umstände sowie der (möglicherweise falschen) Einschätzung dieser Umstände durch den Handelnden. Ein solches Verstehen enthält offensichtlich eine Bewertung, die sich
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Voraussagen als auch Retrodiktionen. 2.1. Koexisten^geset^e (ζ. B. Kovarianz der Schwingungsdauer eines Pendels mit seiner Länge); 2.2. Kausalerklärungen. — Anzumerken ist, daß , Voraussage' und ,epistemiscbe Erklärung die umfassenderen Prädikate sind: Alle reinen DN-Erklärungen erlauben sowohl Voraussagen wie die Begründung von Behauptungen, aber nicht alle erlauben Retrodiktionen und Realerklärungen. — Zur These der .strukturellen Gleichartigkeit von Erklärung und Voraussage' vgl. Stegmüller 1969, Kap. II; zum Begriff der Kausalerklärung vgl. von Wright 1974, 42—82. Z.B. „Häretiker wurden im Spanien des 17. Jahrhunderts verfolgt" (Dray 1963, 123). Es wird noch genauer zu zeigen sein, inwiefern die Etablierung der menschlichen Handlung als Idealtypus des historischen explanandum höchst vorausetzungsreich, letztlich irreführend ist; vgl. Peukert 1976.
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.Theoretische' Erklärung
nach einem wie immer definierten Kriterium rationalen Handelns bemißt: es geht darum, die „Vernünftigkeit" (1963, 108) einer Handlung zu verstehen. Es ist wichtig, diese erste Charakterisierung nicht in eine falsche Perspektive zu rücken. Der Gegensatz scheint zunächst an der Betrachterperspektive festzumachen: Das Spezifikum der rationalen Erklärung besteht darin, Ereignisse aus der ,Innenperspektive' sowohl zu beschreiben wie zu erklären; sie impliziert in gewissem Maß ein .Nachvollziehen' oder .Einfühlen', etwas von dem, was Historismus und Neukantianismus unter dem Begriff des Verstehens thematisierten und was zum Teil auch in späteren Konzeptionen, so etwa bei R. G. Collingwood, als distinktives Merkmal des Geschichtlichen in Anspruch genommen wurde (1974, 21 ff.). In dieser Hinsicht hat denn auch Stegmüller keineswegs unrecht, wenn er „in Drays Auffassung eine moderne Variante der Verstehenstheorie" erblickt (1969, 380) 9 . Dennoch geht der so gezeichnete Unterschied am Wesentlichen vorbei. Zum einen bezieht er sich als solcher eher auf die deskriptive Seite als auf die explikative Funktion, zum andern ist er auch im Rahmen der Deskription keineswegs strikt anwendbar. Auch die deduktiv-nomologische Erklärung kann nach Hempel Aussagen aus der .Innenperspektive' beinhalten, und dies sowohl auf der Ebene der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten (psychologische Gesetze) wie der singulären Sachverhalte (Motive, Meinungen) (1972, 261, 248). Der entscheidende Punkt betrifft nicht die ,Inhaltsseite', sondern den Typus von Gesetzen, und das heißt die spezifische Art und Weise, das Besondere unter das Allgemeine zu bringen: theoretisch-konstatierende Gesetze einerseits, praktisch-normative Gesetze andererseits. Im ersten Fall wird das Besondere als zu einer bestimmten Klasse gehörig deklariert, im zweiten Fall wird es durch seine Subsumtion unter das Allgemeine als .angemessen' und .richtig' bestimmt. Gesetze der ersten Art sind empirische Verallgemeinerungen, solche der zweiten Art enthalten in sich so etwas wie das Prinzip der Verallgemeinerungsfähigkeit. Allerdings steht die Unterscheidung dieser Gesetzestypen nicht beziehungslos neben der zuerst ins Spiel gebrachten. Solange nicht besondere metaphysische Annahmen gemacht werden 10 , ist die Formulierung praktischer Gesetze nur für jenen Bereich möglich, der bezüglich der inhaltlichen Beschreibung die Doppelung von Innen- und Außenperspektive (die potentielle Übersetzung in die erste Person) zuläßt. Beide Unterscheidungen gründen in der spezifischen Natur des historischen Gegenstandes. Doch nur die besondere Art der Gesetzesformulierung erfaßt ihn von seiner wesentlichen Bestimmung her; in diesem Sinn will die rationale Erklärung mit der Spezifik ihres Gegenstandes Ernst machen.
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„In dieser Hinsicht" meint eine doppelte Einschränkung: (1) Der Bezug auf die Innenperspektive macht weder das Ganze noch notwendig den Kern der Verstehenslehre aus. Aus diesem Grund wird auch der oft zitierte Aufsatz von Abel „The Operation called Verstehen (1953) seinem Gegenstand überhaupt nicht gerecht. (2) Andere Aspekte der Verstehenstheorie, die stärker auf die Interaktion von .Subjekt' und .Objekt' abheben, finden sich eher in modernen Varianten der Hermeneutik (Gadamer, Habermas, Apel) als in der .rationalen Erklärung' vertreten.
>° Vgl. Collingwood 1974, 27.
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Die .integrative' (Teil/Ganzes-)Erklärung
Mit der bloßen Gegenüberstellung der konkurrierenden Erklärungsschemata und der jeweiligen Berufung auf das Selbstverständnis der Wissenschaft ist noch keine wirkliche Auseinandersetzung in Gang gekommen. Um eine solche zu betreiben, kann es zweckmäßig sein, uns zunächst den Vorwürfen zuzuwenden, die Hempel seinerseits gegen die rationale Erklärung richtet. Sie sind nicht primär auf das Selbstverständnis der Historie bezogen, sondern versuchen, die Unfähigkeit der .rationalen Erklärung' zu einer wirklich explikativen Leistung argumentativ nachzuweisen. Wir können darin zwei Hauptkritikpunkte unterscheiden. 7. Die rationale Erklärung erlaubt keine Deduktion und damit auch keine Beantwortung der Frage, warum etwas eingetreten ist. Damit ist die Minimalbedingung einer wissenschaftlichen Erklärung nicht erfüllt. 2. Die rationale Erklärung hat keinen empirischen Gehalt. Abgesehen davon, daß der Rationalitätsbegriff empirisch nicht eindeutig definierbar ist, bringt die rationale Erklärung als .Handlungsprinzip' ein .Gesetz' ins Spiel, das allenfalls eine Rechtfertigung, aber keinen Beweis erlaubt. Es ist offensichtlich, daß die beiden Kritikpunkte im konkreten Fall logisch zusammenhängen. Trotzdem sollen sie hier auseinandergehalten und nacheinander zur Diskussion gestellt werden; zugleich ist die Auseinandersetzung über die präsentierten Positionen hinaus auszuweiten. Die Frage der Festlegung der Erklärung auf das Deduktionsschema wird dabei zunächst unabhängig von der Rationalitätssupposition zur Sprache kommen; die Diskussion des Rationalitätsbegriffs wird ihrerseits direkt über den hier angesetzten Streitpunkt hinausführen. Der erste Streitpunkt betrifft somit das Problem der .Erklärung' als solcher, oder wie wir nun spezifizieren können: der theoretischen' Erklärung (1.2.). Der zweite betrifft die Möglichkeit einer Erklärung, welche Momente praktischer Überlegung ins Spiel bringt, die Möglichkeit einer .praktischen' oder .rationalen' Erklärung (2.).
1.2.
Die ,integrative' (Teilj Ganges-)
Erklärung
A. Ein Ereignis .erklären' heißt nach dem DN-Schema nachweisen, wieso es mit Notwendigkeit eingetreten ist, warum es mit Gewißheit zu erwarten war. Unverkennbar ist, daß in der Historie nur selten Erklärungen in dieser strikten Form gegeben werden. Es ist nun interessant zu sehen, daß Hempel gerade im Hinblick auf eine bessere Anwendbarkeit auf geschichtliche Phänomene Modifikationen seines Grundmodells in Anschlag bringt, die dessen kategorischer Festlegung auf die Deduktion, wenn auch uneingestandenermaßen, zuwiderlaufen (1972). Des näheren nennt er vier Typen der Modifizierung, von denen die ersten zwei eine bloße Relativierung, die beiden andern eine Suspendierung des strikten Deduktionsmodells darstellen: 1. Elliptische Erklärung, 2. Genetische Erklärung, 3. Probabilistischstatistische Erklärung, 4. Partielle Erklärung. Als eigentliches Gegenmodell der DN-
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.Theoretische' Erklärung
Erklärung gilt für Hempel nur die statistische Erklärung 11 . Von ihr soll hier abgesehen werden, weil sie erstens keine spezifisch historische Erklärung ist, und weil sie anderseits, trotz der behaupteten Verschiedenheit, sich als graduelle Abweichung vom deduktiven Schluß her verstehen läßt. Jedenfalls steht sie diesem in ihrer pragmatischen' Funktion — zu erklären, warum etwas (zwar nicht mit Gewißheit, aber mit Wahrscheinlichkeit) zu erwarten war — näher als die ,partielle Erklärung'. Was Hempel als partielle Erklärung einführt, ist nicht nur unvollständig artikuliert (wie die .elliptische'), sondern gründet auf Gesetzen, die gar nicht derart ausformuliert werden können, daß sie eine deduktive Folgerung erlaubten. Als Beispiel zitiert Hempel die psychoanalytische Erklärung einer Fehlleistung. Die psychologischen Gesetze, auf die dabei zurückgegriffen wird, berechtigen nur zur Feststellung, daß die betreffende Fehlleistung „in irgendeiner Weise" einen unbewußten Wunsch zum Ausdruck oder zur symbolischen Erfüllung bringt; dies könnte offensichtlich auch „durch viele andere Fehlleistungen an Stelle der tatsächlich aufgetretenen geleistet werden". Vom explanandum ist mithin nur nachzuweisen, daß es „mit dem übereinstimmt, was in Anbetracht des explanans zu erwarten war", d. h. daß es zur Klasse der zu erwartenden möglichen Folgen gehört, nicht aber daß es in dieser konkreten Gestalt vom explanans gefolgert werden kann (1972,246). Damit eine solche Erklärungsform sinnvoll sei, ist es auch nicht nötig, sie etwa durch Angabe statistischer Wahrscheinlichkeiten zu ergänzen. Mit andern Worten: Gezeigt wird nur, daß das zu erklärende Ereignis eine mögliche Folge der Ausgangssituation ist, nicht aber daß es aus dieser notwendig (oder mit bestimmter Wahrscheinlichkeit) resultiert. Auf formaler Ebene entspricht dem der Unterschied von notwendigen und hinreichenden Bedingungen. Die Fragen, die durch den jeweiligen Erklärungstyp beantwortet werden, lassen sich nach Dray unterscheiden als warum-notwendig- und wie-möglich-Frage: die erste Erklärung zeigt, daß etwas zu erwarten war, die zweite, daß etwas nicht zu überraschen brauchte (1957, 157ff.; vgl. von Wright 1974, 62f., 124f.). Erklärungen nach dem ,wie-möglich'-Modell scheren grundsätzlich aus dem Deduktionsmodell aus. Es geht ihnen, auch idealiter, nicht darum, aus gegebenen Antezedentien Folgen abzuleiten, sondern umgekehrt, gegebene Resultate durch den Rückgriff auf bestimmte Antezedentien verständlich zu machen. Die partielle Erklärung ist wesentlich asymmetrisch. Im Gegensatz zur DN-Erklärung, die immer eine Voraussage zuläßt und im Standardfall sowohl prädiktiv wie retrodiktiv verwendbar ist12, ist die partielle Erklärung nur retrodiktiv schlüssig. Allerdings halten dem die Vertreter der DN-Erklärung entgegen, daß die Beantwortung einer wie-möglich-Frage überhaupt keine eigenständige Erklärungsform darstellt. Im Anschluß an Hempel (vgl. 1977 a, 146 ff.) betont Stegmüller, daß es sich beim Gegensatz von wie-möglich- und warum-notwendig-Erklärung „nur um Genauer: die induktiv-statistische Erklärung von Einzelereignissen (im Gegensatz zur deduktiv-statistischen Erklärung von Gesetzen, in deren Prämissen „mindestens ein Gesetz statistischer Art" eingeht) (1977 a, 60, 63); vgl. Stegmüller 1969, 627 ff. •2 Vgl. A n m . 6 . 11
Die .integrative' (Teil/Ganzes-)Erklärung
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eine pragmatische Gegenüberstellung handelt", durch welche der „logisch-systematische Begriff' der Erklärung in keiner Weise tangiert wird (1969, 379). Daß diese Gegenüberstellung nur „pragmatisch" sei, soll heißen, daß sie sich nur explizieren läßt mit Bezug auf die praktische Situation, in der eine Erklärung verlangt oder geliefert wird, und konkret: mit Bezug auf die Person, der eine Erklärung gegeben wird, ihren Wissensstand, ihre Erwartungen etc. Es ist zuzugestehen, daß Drays eigene Darstellung einer solchen Auffassung Vorschub leistet, indem sie die distinkten Erklärungsschemen auf subjektive Einstellungen und Reaktionen (Erwartungen, Überraschungen) bezieht. Sofern man vom DN-Modell ausgeht, kann man in der Tat sagen, daß sich mit seiner Hilfe beide Fragen beantworten, eine Erwartung bekräftigen wie eine Überraschung erklären lassen; der Unterschied scheint dann allein in der kontextbedingten Fragestellung zu liegen. Die wiemöglich-Erklärung besteht dann in concreto darin, entweder Irrtümer in den Voraussetzungen des Fragestellers aufzuzeigen oder diese durch zusätzliche Informationen zu ergänzen; beides führt dazu, die impliziten Erwartungen im nachhinein zu korrigieren und dadurch den Überraschungseffekt abzubauen. Nun ist klar, daß eine DN-Erklärung beide Fragen zu beantworten gestattet — schon deshalb, weil die warum-notwendig-Frage, auf die sie in erster Linie antwortet, logisch gesehen die .stärkere' Variante darstellt. Und es mag auch sein, daß wie-möglich-Erklärungen oft implizit eine DN-Erklärung oder eine Skizze zu einer solchen enthalten (Hempel 1977 a, 146). Dennoch bleibt uneinsichtig, wieso ihr Unterschied zu einem ,bloß pragmatischen' nivelliert werden soll. Sofern Hempel die Angabe von Möglichkeitsbedingungen überhaupt nicht als legitimen Erklärungsmodus anerkennen will, gerät er zumindest dort tendenziell in Widerspruch mit seiner Position, wo er die ,partielle' Erklärung einführt. Deren Verständnis vom DN-Modell her ist ebenso erzwungen wie der Versuch, die wie-möglich-Frage in die Schablone der warum-notwendig-Frage zu pressen. Es gibt keinen Grund, die spezifische Intelligibilität einer .partiellen Erklärung', wie sie etwa Hempels Beispiel (Erklärung einer Fehlleistung) vorführt, an ihr selber als mangelhaft aufzufassen, auch wenn sie logisch gesehen durch eine ,stärkere' Erklärung ergänzt werden kann. Es gibt zahlreiche Situationen, in denen die Beantwortung einer wie-möglich-Frage als zureichende, keiner Ergänzung bedürftige Erklärung empfunden wird. So ist auch ihre pragmatische Übersetzung als .Erklärung, wieso etwas nicht zu überraschen braucht' in unnötiger Weise einseitig. Nicht nur kann auch eine DN-Erklärung auf ein Erstaunen oder Befremden antworten13, sondern es kann auch umgekehrt die wie-möglich-Frage der theoretischen Neugier — oder auch dem technischen Umgang — entspringen. Das Bedürfnis, zunächst Unverständliches zu begreifen, braucht in beiden Fällen nicht von verschiedener Qualität zu sein. Verschieden ist die Art der gegebenen Erklärung. Zwar mögen beiden Fällen paradigmatisch Fragestellungen und subjektive Einstellungen der genannten Art entsprechen. Wenn man
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Gerade Hempels klassisches Beispiel einer DN-Erklärung (das Entstehen und Verschwinden von Seifenblasen) spielt auf eine solche Situation an: 1972; 1977 a, 5.
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.Theoretische' Erklärung
jedoch diese Zuordnung als strikte Korrelation auffaßt, so enthält sie nicht mehr als eine psychologische Paraphrase der Erklärungsmodelle selber, deren eines bekanntlich Voraussagen gestattet, während das andere nur retrodiktive Erklärungskraft besitzt. Es mag nun als unbefriedigend empfunden werden, wenn einfach betont wird, die wie-möglich-Erklärung sei „in ihrer Art" und „mit Be^ug auf ihre spezifische Fragestellung' vollständig (Dray 1957,168 f.). Zwar ist in der Tat schwierig zu sehen, wie die Auseinandersetzung anders als mit Bezug auf die Problemlagen, in denen Erklärungen gegeben werden, voranzubringen ist. Indes ist es wichtig, der .pragmatischen' Beschreibung ihren subjektiv-kontingenten Zug zu nehmen. Verschiedene Fragestellungen indizieren nicht nur Differenzen etwa im zufälligen Wissensstand, sondern sie können ebenso verschiedene grundsätzliche Einstellungen zur Wirklichkeit markieren. Zu thematisieren ist eine Ebene der,Pragmatik', die selber nicht mehr der .logischen' Erklärungsproblematik subordiniert oder einfach deren psychologisches Pendant ist. Um die Gegenmodelle zur DN-Erklärung in ihrer logischen Form wie ihrem Verwendungskontext konkreter zu fassen, soll die mit der wie-möglich-Frage erst formal angezeigte Fragerichtung zunächst anhand zweier Vorschläge verdeutlicht werden. Eine erste Konkretisierung bietet Luhmanns Konzept einer funktionalen' Analyse. Indem der Funktionalismus den Möglichkeitsbegriff explizit ins Zentrum rückt, macht er zur Stä'rke, was im Horizont der DN-Erklärung nur als Schwäche erscheinen kann. Für Stegmüller erhält eine Erklärung der Art, wie sie Freud in dem von Hempel zitierten Beispiel gibt, einen „logischen Fehlschluß": sie erklärt das explanandum nur als mögliche, nicht als notwendige Folge; erklärt wird nicht ihr faktisches Eintreten, sondern nur das Eintreten dieser Folge „oder einer funktionalen Alternative" (1969, 567, 569). Nun hat diese Feststellung den bei Stegmüller intendierten — und konkret gegen die Funktionalanalyse gerichteten — kritischen Ton nur dann, wenn man die deduktive Ableitung als selbstverständliche Norm voraussetzt oder sie zumindest, wie Stegmüller, der Funktionsanalyse als implizite Absicht unterstellt (581). Auch wenn diese Unterstellung in vielen Fällen berechtigt sein mag, so folgt dies nicht aus dem Ansatz selber. Nach Luhmann beruht die „Evidenz" einer funktionalistischen Beschreibung gerade umgekehrt auf der „Eröffnung eines (begrenzten) Vergleichsbereichs", darauf, daß sie „die behandelten Tatbestände vergleichsfähig macht" (1970, 13). Ihr Zweck ist nicht zu zeigen, „ daß etwas ist und nicht nicht ist", sondern umgekehrt, „daß etwas sein und auch nicht sein kann, daß etwas ersetzbar ist" (15). Zu sprengen ist das ontologische Grundgerüst der Kausalerklärung, die nur die „Alternative von teleologischer Erklärung durch Wirkungen oder mechanischer Erklärung durch Ursachen" offenläßt (10). Beide Varianten bewegen sich im logischen Raum der Wirklichkeit. Indem der Funktionalismus demgegenüber die „Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit" ins Spiel bringt (1976 a, 155), geht er auf eine abstraktere Ebene zurück, auf welcher die funktionale Beziehung nicht länger als „eine spezielle Art der Kausalbeziehung" erscheint, „sondern umgekehrt die Kausalität (als) ein besonderer Anwendungsfall funktionaler Kategorien" (1970, 10).
Die integrative' (Teil/Ganzes-)Erklärung
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Namentlich im Hinblick auf Geschichte stellt die Zentrierung auf das Kausalschema nach Luhmann eine „begriffstechnische Fehlentwicklung" dar (1976a, 155). Statt Geschichte im Raster von Ursache und Bewegung aufzufassen, sieht der Funktionalismus in ihr einen Selektionsprozeß, der sich in der Spannung von Wirklichkeit und Möglichkeit abspielt. Geschichtliche Realität ist in einem wesentlichen Sinn ,unterdeterminiert'; geschichtliche Erfahrung ist, wie schon der Narrativismus betonte, Kontingenzerfahrung, „Erfahrung des Wirklichen im Horizonte anderer Möglichkeiten" (156). Wenn historische Realität nicht als Wirkung bestimmter Ursachen, sondern als „gelöstes Problem" dargestellt wird (164), so heißt das, daß sie als Antwort auf ein Problem begriffen wird, die selber, als faktisch eingetretene, doch nur eine der möglichen Antworten darstellt und gerade im Horizont anderer Möglichkeiten zu verstehen ist. Die Nicht-Deduzierbarkeit des Explanandums macht diese Erklärung nicht wertlos. Sie stellt eine originäre Art der Erklärung dar, die nicht als defizienter Modus der Deduktion aufgefaßt werden kann — auch wenn sie ihrerseits auf frühere Entwicklungsstadien zurückverweist und möglicherweise allgemeine Gesetzmäßigkeiten ins Spiel bringt. Die Deutung der wie-möglich-Erklärung im Rahmen eines Problemlösungsschemas stellt eine mögliche Interpretation dieses Erklärungstyps dar. Augenfällig siedelt sie sich in der Nähe dessen an, was die Tradition als .Verstehen' umschrieben hatte; eine Fehlleistung als (eine mögliche) , Antwort' auf einen verdrängten Wunsch zu ,erklären', heißt auch, sie erst ,als' Symptom zu ,verstehen'. Daß Luhmann die Selektivität, die das Bewußtsein anderer Möglichkeiten einschließt, als definiens von ,Sinn' verwendet und in dieser Art von ,Sinnhaftigkeit' einen Angelpunkt der sozialwissenschaftlichen Methodologie sieht, ist mehr als ein zufälliges Zusammentreffen. In einer anderen Richtung arbeitet G. H. von Wright den „unabhängigen logischen Status" der wie-möglich-Erklärung heraus, wobei es ihm weniger um eine „Kritik" als vielmehr um eine „Ergänzung" der Hempelschen Erklärungstheorie geht; ebensowenig soll damit ein „genereller Unterschied zwischen den Erklärungsmustern der Naturwissenschaften und der Humanwissenschaften" charakterisiert werden (1974, 165). Logisch gesehen, sind wie-möglich-Erklärungen retrodiktiv angelegt, sie erlauben den Schluß von einem Phänomen auf seine notwendigen Antezedensbedingungen. Indirekt können jedoch auch sie Voraussagen begründen; ihrem Verwendungssinn nach können sogar gerade sie die Form einer zukunftsgerichteten Erklärung annehmen. Dies wird deutlich, wenn die notwendige Bedingung „ohne Α kein B" umformuliert wird in „A mußte eintreten, damit Β erfolgen konnte". Die Struktur des „damit" („um zu") stellt diese Erklärung in die Nähe der Handlungserklärung mit Hilfe von Absichten. Im Gegensatz zu dieser, der eigentlich teleologischen' Erklärung, nennt von Wright jene eine quasi-teleologische Erklärung. Ihr Gegenstand sind zwar nicht (.zielintendierte') Handlungen, wohl aber Prozesse, die man als ,zielgerichtet' bezeichnen kann. Quasi-teleologische Erklärungen, „d. h. Erklärungen mit Hilfe der Folgen der zu erklärenden Phänomene", sind nach von Wright typisch für die Biologie (63). Ihr klassischer Anwendungsfall sind natürliche Anpassungsprozesse: so etwa die Erklärung der Atmungsbeschleunigung bei schwerer Arbeit durch die Erhaltung des Gleichgewichtszustands in der chemischen
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.Theoretische' Erklärung
Zusammensetzung des Blutes (83). Auch wenn solche Erklärungen durch warumnotwendig-Erklärungen ergänzt und dann — durch Einführung des negativen Feedback — zu schlichten Kausalerklärungen ausgeweitet werden können, bleibt die Eigenständigkeit der ersten Fragerichtung erhalten: Sie lautet „streng genommen nicht, warum die Atmung schneller werden muß, sondern wie das Blut sein chemisches Gleichgewicht wiedererhalten kann" (142). Nun scheint der so explizierte Typus einer wie-möglich-Erklärung gegenüber dem zunächst thematischen gerade eine Umkehrung darzustellen; ging es dort um die Erklärung eines Phänomens (Fehlleistung) aufgrund einer notwendigen Voraussetzung, so wird hier das explanandum (schnellere Atmung) seinerseits als notwendige Voraussetzung eines Dritten aufgewiesen. Dennoch bleibt in beiden Fällen eine gemeinsame Erklärungslogik bestimmend. Die quasi-teleologische Erklärung teilt mit der .partiellen' Erklärung die formale Eigenschaft, daß sie mit einem ,Ermöglichungsverhältnis' operiert, das nicht schon eine notwendige Folgebeziehung miteinschließt. Darüber hinaus steht sie in inhaltlicher Affinität sowohl zur funktionalistischen Analyse Luhmanns wie auch zum weiteren hier verhandelten Problemkontext. Wenn von Wright gerade die quasi-teleologische Erklärungsstruktur als Kern der sogenannten funktionalen Betrachtung herausstellt (1974, 63), so nimmt er damit den Funktionsbegriff in einer Bedeutung auf, in der er nicht nur in der Wissenschaft, sondern ebenso in der Umgangssprache geläufig ist. Wenn wir von einer Sache sagen, daß sie die und die .Funktion' habe, so nehmen wir damit Bezug auf ihren Stellenwert in einem umfassenderen Ganzen, auf die ,Aufgabe', die sie in einem weiteren Kontext zu erfüllen hat, gegebenenfalls auf einen ,Zweck', der durch sie realisiert werden soll. Im Feld der Geschichte scheint der so verstandene Funktionsbegriff von besonderer Relevanz; er bildet, auch ohne explizit genannt zu sein, in der Diskussion oft einen der prominentesten Gegenkandidaten gegen das Kausalschema der historischen Erklärung. Allerdings stellt er, wo er strikt ausformuliert ist, für die moderne geschichtsphilosophische Reflexion einen äußerst umstrittenen, geradezu suspekten Begriff dar; die ,quasi-teleologische' Betrachtung kann sich dem Metaphysikverdacht letztlich ebensowenig entziehen wie die eigentliche' (handlungs-)teleologische Geschichtsdeutung. Interessant ist er indes als Hintergrund und Ausgangspunkt für diverse .schwächere' Erklärungsraster, die von verschiedenen Autoren als spezifische Verständlichkeitstypen historischer Darstellung genannt werden. Diese besagen dann etwa, daß ein historisches Faktum dadurch .erklärt' wird, daß es als Element einem größeren Ganzen eingeordnet wird, daß sein .Sinn' oder seine .Funktion' durch die Art bestimmt wird, wie es mit anderen Elementen in Verbindung tritt und mit ihnen zusammen umfassendere, per se intelligiblere Zusammenhänge bildet14. Es kommt damit ein Verhältnis in den Blick, das zum Teil schon von der Erzähltheorie als grundlegend für die historische Auffassung gezeigt wurde: das Verhältnis von Ganzem und Teil.
14
Vgl. Todorov 1966, 125f.; Danto 1974, 2 2 f .
Die .integrative' (Teil/Ganzes-)Erklärung
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Β. Seit der Antike bildete die Beziehung von Teil und Ganzem eines der grundlegenden Begrifjfsschemen, mit denen die Einheit in der Vielfalt gedacht werden sollte. Das parmenideische ,hen kei pan' markiert schon am Anfang der abendländischen Denktradition den Zusammenhang beider Probleme. Im Horizont des Einheitsgedankens transzendiert das Verhältnis von Teil und Ganzem seine unmittelbar quantitativ-summative Bedeutung. Ganzes und Teil werden zu korrelativen Begriffen, deren jeder nur mit Bezug auf den andern explizierbar ist; dem Ganzen kommt dabei ontologische Priorität zu: „Das Ganze ist notwendig früher als der Teil" (Aristoteles, Pol. 1253 a). Dieser Gedanke schien besonders geeignet zur Explikation der innern Struktur des Lebens, der Einheit des Organismus, der menschlichen Individualität, des Geistes; auch der moderne Begriff der Totalität, den Hegel und die marxistische Tradition als Zentralbegriff verwenden und auf Phänomene der menschlichen Gesellschaft und Geschichte ausweiten, ist vom gleichen Grundgedanken bestimmt. Die Hermeneutik hat seine erkenntnismäßige Konsequenz im Zirkel des Verstehens ausgesprochen. Als begriffliche Grundlage dieses Verhältnisses wurde auf ganz Verschiedenes rekurriert. Wenn wir von den ontologischen Fundamentalbestimmungen absehen, die mit ihm im Zusammenhang gebracht wurden — Substanz/Akzidens und Form (Wesen)/Materie —, so sind es insbesondere zwei Vorstellungen, die den Gedanken von Ganzem und Teil bestimmen: das Verhältnis von Kraft und Äußerung einerseits, die Idee der innern Zweckmäßigkeit (Teleologie) andererseits. In vielfacher Art sind Bestimmungen und Interpretamente der Ganzheitsvorstellung auf Geschichte und historisches Verstehen angewendet worden — dies nicht nur in der hermeneutischen, sondern auch in der analytischen Tradition 15 . Wir haben nun zu sehen, in welcher Weise sich die Integration der Teile in ein Ganzes — die ,integrative Beziehung' — als Grundlage einer spezifischen Verständigungsform, einer — wie wir in Anlehnung an einen Vorschlag von Hull (1975,274) sagen können — ,integrativen Erklärung' herausarbeiten läßt. Stellvertretend für viele in diesem Kontext zitierbaren Positionen soll auf eine Theorie eingegangen werden, die dieses Verhältnis mit ins Zentrum der geisteswissenschaftlichen Methodenreflexion stellt und die für uns auch deshalb von besonderer Bedeutung ist, weil das Verhältnis von Geschichte und Identität auch in ihrem Interessehorizont steht: die Theorie der Geisteswissenschaften Wilhelm Diltheys. Was die .Kritik der reinen Vernunft' für den Bereich der Natur leistete, soll die „Kritik der historischen Vernunft" für die Geschichte nachholen: die Klärung der Frage, wie „im Subjekt ein Wissen der geistigen Wirklichkeit" und genauer: ein Wissen vom „Zusammenhang der Geschichte möglich sei" (1974, 235, 129). Die kategorialen Formen des Historischen bestimmen gleichermaßen die Konstitution der geschichtlichen Welt und deren wissenschaftliche Erfassung. Beide gründen in
15
Vgl. z.B. Mandelbaum 1967, 418; Dray 1969.
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dem Fundamentalverhältnis, das den Angelpunkt aller Geisteswissenschaft ausmacht: im „Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen": Fakten der menschlichen Welt werden zu Gegenständen der Geisteswissenschaften nur, „sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden" (98). Wenn wir von den weiteren Prämissen des erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Ansatzes von Dilthey vorerst absehen (vgl. Gadamer 1960, 218ff.; Habermas 1968a, 224ff.), um uns nur der Form des geschichtlichen Strukturzusammenhangs zuzuwenden, so haben wir als erstes nach dessen Einheitsprinzip zu fragen. Die Identität eines historischen Gegenstands bildet sich als Einheit in einem Zeitverlauf — ob es sich dabei um eine einzelne Episode, eine individuelle Lebensgeschichte, eine historische Epoche oder die Weltgeschichte handle. Indem Dilthey die originäre Form dieser Einheit durch das Verhältnis von Teil und Ganzem bestimmt, hebt er das geschichtliche Erfassen sogleich von zwei andern Vorstellungsweisen ab. Zum einen wird ein historischer Gegenstand nicht dadurch erkannt, daß seine Merkmale als Besondere einem Allgemeinen untergeordnet werden; er ist wesentlich konkret und singular, und eine kategoriale Begrifflichkeit, die auf Generalisationen basiert, erfaßt ihn nicht in seiner spezifischen Natur. Zum anderen soll seine Einheit als organische verstanden werden (394), nicht als eine Einheit im „formalen" Sinn (243), als „Summe" oder „Inbegriff (170), als welche sie auch im Bereich des Raums und der Natur Gültigkeit besitzt. Erst „aus dem Wesen des Lebens" erhält sie ihren „eigenen Sinn, den eines Zusammenhangs, in welchem die Teile verbunden sind" (243). Zwischen Teil und Ganzem besteht ein dialektischer Wechselbezug, in welchem der Teil nur „Bedeutung durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen" hat und „das Ganze doch nur für uns da (ist), sofern es aus den Teilen verständlich wird. Immer schwebt das Verstehen zwischen beiden Betrachtungsweisen" (288). Es lassen sich bezüglich dieses Verhältnisses nun zwei Fragen stellen: erstens, worauf es als Realverhältnis beruht, wie es in der geschichtlichen Welt zustandekommt; zweitens, wie es .intentional' erfaßt, wie auf seiner Grundlage Geschichte erlebt, vergegenwärtigt und verstanden wird. Schwerpunktmäßig wird das Verhältnis in der ersten Frage vom Ganzen her angegangen, das seiner Konstitution letztlich zugrunde liegt, in der zweiten vom Teil her, der für das historische Verstehen den nächstliegenden Ansatzpunkt bildet. Seiner Realkonstitution nach wird der Zusammenhang der geistigen Welt von Dilthey als „lVirkungs^usammenhattg' bestimmt (186 ff.). Er ist ein Zusammenhang, der im „immanent-teleologischen Charakter" des geschichtlichen Lebens gründet, im „Schaffen, wie es in Individuen, Gemeinschaften, Kultursystemen, Nationen sich vollzieht" (187f.; vgl. 318). Das Leben, sofern es schafft und darin den Zusammenhalt des Ganzen bewirkt, wird von Dilthey — wie ζ. T. schon in der Romantik, bei Hegel und im Historismus — mit dem Begriff der „Kraft" (249 f., pass.) oder auch mit dem aristotelischen Begriff der „Energie" (229) gekennzeichnet. Indem die Relation von Teil und Ganzem auf die Idee der Kraft und ihrer Äußerung bezogen wird (318), bietet sich für Dilthey die Möglichkeit, sie zugleich nach dem andern, für
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die Hermeneutik fundamentalen Verhältnis aufzufassen: nach dem Verhältnis von Außen und Innen, von Ausdruck und Ausgedrücktem 16 . Das Leben, das Wirkungen hervorbringt, bringt darin sich selbst hervor; es äußert sich selber, als ganzes, in seinen einzelnen Tätigkeiten. Historische Wirklichkeit ist Lebensäußerung; die „Objektivation des Lebens" bildet den spezifischen Gegenstand der Geisteswissenschaften (180). Entsprechend verbinden sich für das Verstehen die beiden Verhältnisweisen. Es gelangt dadurch vom Teil zum Ganzen, daß es das „äußere, einzelne Ereignis auf ein Inneres" bezieht, „und zwar liegt das Innere im Zusammenhang der Ereignisse untereinander", welcher nicht äußere Zusammenfassung ist, sondern „zentriert zu einem Mittelpunkt, zu dem alles Äußere als zu einem Innen sich verhält" (308). So vollzieht das Verstehen einen „Rückgang auf den ganzen Lebenszusammenhang, welcher das dauernde Subjekt von Lebensäußerungen bildet" (255). Indem so das Verstehen den umgekehrten Weg des realen Wirkungszusammenhangs geht — und sogar in seiner höchsten Form, dem Nacherleben, diese Inversion aufhebt und als „vollkommenes Miterleben" selber zum „Schaffen in der Linie des Geschehens" wird (264) —, gewinnt es seine epistemologische Vorzugsstellung. Es tritt gewissermaßen in Realkontakt mit seinem Gegenstand, es erfaßt ihn, wie er von ihm selber her sich bildet und sich präsentiert, nicht wie er erst durch ein von außen aufgesetztes Begriffsraster erscheint. Solche von außen formulierten „Hypothesen" (394) mögen bedeutsame theoretische Systematisierungen erlauben und technisch anwendbar sein — durch die Willkürlichkeit ihrer Anhaltspunkte bleiben sie in ihrem Realitätsgehalt unbestimmbar 17 . Allerdings ist die Potenz des Verstehens, Einheit von ihrem eigenen Prinzip her zu erfassen, in keiner autonomen Kraft des Erkennens begründet, sondern allein in dem umfassenden Zusammenhang, von dem das Verstehen nur ein Teil ist und der als ganzer den Zusammenhang des Geistes ausmacht: im Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen. Aus der Perspektive des Teils, der sich zu andern Teilen und zu dem Ganzen verhält, wird das integrative Verhältnis von Dilthey mit der Kategorie der Bedeutung gefaßt. Angesprochen ist damit zunächst der einfache Gedanke, dem wir schon im Kontext des Funktionsbegriffs begegnet sind: Ein Tatbestand wird dadurch erklärt, daß gezeigt wird, welches seine .Funktion' in dem Zusammenhang ist, in welchen er eingespannt ist. Diese Funktion kann als ,Bedeutung' oder .Bedeutsamkeit' des Teils für das Ganze beschrieben werden. Auch diese Begrifflichkeit — wie die von .Kraft' und .Äußerung' — dient Dilthey dazu, die auf der Gegenstandsebene angesetzte Verhältnisbestimmung —,bedeutsam für' — unmittelbar mit der epistemologischen Fragestellung — .Bedeutung' als allgemeinstes Korrelat des Verstehens — zu
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Die Konvergenz dieser Beziehungen (Teil/Ganzes; Erwirken/Erwirktes; Ausdruck/Ausgedrücktes) stellt hier eine Vereinfachung dar; in den verschiedenen „Formen des höheren Verstehens" fallen sie nicht immer zusammen (1974, 261). Dies trifft auch für die Kategorien der .Kraft' und der .Ganzheit' selber zu. Der Begriff der Kraft beispielsweise ist „in den Naturwissenschaften ein hypothetischer B e g r i f f , in den Geisteswissenschaften demgegenüber „kategorischer Ausdruck für ein Erlebbares" (249; vgl. 394).
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verbinden. Beide Verhältnisweisen werden aufeinander abgeblendet: Das Verstehen ist Verstehen von Zusammenhang, und das heißt im Medium des Geschichtlichen: Verstehen der ,Bedeutung' des einen ,für' das andere, des Teils ,für' das Ganze. Exemplarisch zeigt sich das Ineinandergreifen beider Relationen im einfachsten Fall, dem Verstehen eines Satzes; nur kraft der „Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und zwischen den Teilen" kann hier überhaupt ein Verständnis sowohl des Satzes wie der Worte eintreten. „Dasselbe Verhältnis" aber, meint Dilthey, besteht auch „zwischen den Teilen und dem Ganzen eines Lebensverlaufs" oder der Geschichte als solcher (290f.); jeder Teil hat „seine Bedeutsamkeit durch sein Verhältnis zu dem Ganzen der Epoche oder des Zeitalters" (189). Allerdings stellt sich dann die Frage, wie dieses Ganze selber zu erkennen sei. Um den Wechselbezug von Teil und Ganzem nicht einfach zum Zirkel werden zu lassen, muß Dilthey hier eine begriffliche Differenzierung einbringen (die er allerdings nicht konsequent durchhält). Von der „Bedeutung" des Teils unterscheidet er den „Sinn", der dem „Ganzen als Träger von Werten und Zwecken" an ihm selber zukommt (206). Der Lebenszusammenhang als ganzer verweist nicht mehr auf ein Anderes, er „bedeutet nicht etwas anderes" (289). Für das historische Auffassen gilt zwar, daß es diesen Sinn von dem ihm Zunächstliegenden, den einzelnen Manifestationen und der innern Ordnung des Ganzen her zu eruieren hat. Aber er ist nicht selber durch diese innere Ordnung definiert, sondern durch die Zwecksetzung des Ganzen; auch hier gilt die ontologische Priorität des Ganzen. Grundlegend für die kategoriale Bestimmung des Zusammenhangs von Teil und Ganzem ist seine zeitliche Verfassung (237). Zeitlichkeit geht nicht nur über die .objektiven' Relationen von früher/später/gleichzeitig, sondern auch über die ,subjektbezogenen' Dimensionen von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit in das Verstehen des Lebenszusammenhangs ein. Mit Bezug auf sie führt Dilthey eine bedeutsame Differenzierung ein: „Indem wir zurückblicken in der Erinnerung, erfassen wir den Zusammenhang der abgelaufenen Glieder des Lebensverlaufs unter der Kategorie ihrer Bedeutung. Wenn wir in der Gegenwart leben, die von Realitäten erfüllt ist, erfahren wir im Gefühl ihren positiven oder negativen Wert, und wie wir uns der Zukunft entgegenstrecken, entsteht aus diesem Verhältnis die Kategorie des Zwecks ... Keine dieser Kategorien kann der andern untergeordnet werden, da jede von einem anderen Gesichtspunkt aus das Ganze des Lebens zugänglich macht. So sind sie unvergleichbar gegeneinander" (248; Hervorh. Ε. Α.). Allerdings bedeutet die Unvergleichlichkeit nicht ihre Gleichwertigkeit für die historische Apperzeption. Unter der zweiten und dritten Kategorie läßt sich die Einheit des Lebens nicht wirklich fassen. Die Werte, die unsere Gegenwart bestimmen, stehen „gesondert nebeneinander..., nur vergleichbar miteinander", „das Leben unter dem Wertgesichtspunkt (erscheint) als eine unendliche Fülle von positiven und negativen Daseinswerten" (248 f.). Ebenso fallen die Zwecke „auseinander in die Möglichkeiten, in die Zukunft vorzudringen" (292). „Nur die Kategorie der Bedeutung überwindet das bloße Nebeneinander, die bloße Unterordnung der Teile des Lebens" (249). Erst von ihr her läßt sich die Einheit des Lebens als organisch strukturierte erfassen (292). Die Bedeutung ist so gewissermaßen das übergreifende Allgemeine,
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das auch den Rahmen für die Verwendung der Wert- und Zweckvorstellungen abgibt, sofern diese den Lebenszusammenhang mitstrukturieren. Von unserer leitenden Fragestellung her gesehen, sind beide Aspekte gleichermaßen wichtig: daß sich die Einheit eines Lebenszusammenhangs nach Dilthey nur im Vergangenheitsbezug, d. h. in der historischen Orientierung erfassen läßt, wie auch daß der begriffliche Horizont dieser historischen Identität nicht durch das moralische Subjekt oder eine andere normative Größe — wie Wert oder Zweck —, sondern durch die — in normativer Sicht,bescheidenere' — Kategorie der Bedeutung gebildet wird. ,Bedeutung' bezeichnet dabei zwar nicht einfach eine faktische Relation — wie etwa der Funktionsbegriff —, sondern enthält ein wertendes Element. Die Wertung aber bleibt auf Faktizität bezogen, auf einen Lebens- oder Geschichtszusammenhang als gegebenen, letztlich auf das wertende Subjekt, für welches Bedeutung und Bedeutsamkeit besteht. Der Subjektbe^ug scheint denn auch ausdrücklich in Rechnung gestellt werden zu müssen, wenn versucht wird, die Intelligibilität dieser Art von historischer Darstellung zu bestimmen. Die Bedeutung, die ein glückliches Ereignis für jemanden hat, dem sie neue Lebensmöglichkeiten eröffnet, ist von anderer Art als die funktionale Ermöglichung in einem physikalischen Zusammenhang; sie meint mehr als ein objektives Verhältnis von Bedingung und Bedingtem. In ihr schwingt die Idee der .Bedeutsamkeit' mit, wie sie nur mit Bezug auf die Stellungnahme oder zumindest das Interesse eines Subjekts artikulierbar ist. Sofern die .Bedeutung' über die funktionale Verknüpfung der Teile hinausgeht, sprengt das geisteswissenschaftliche Verstehen die Strukturanalogie mit dem Sprachverstehen. Der Bezug auf subjektive Bedeutsamkeit transzendiert die logische Ebene von Strukturbeziehungen. Die Kategorie der Bedeutung, so muß man schließlich festhalten, sofern sie die Grundstruktur des Lebenszusammenhangs benennt, ist nur im Verhältnis zu einem Subjekt explizierbar — sei es zum erlebenden Subjekt, zum auffassenden Subjekt oder zum Subjekt, das in der historischen Selbstbesinnung beide Funktionen in sich vereinigt 18 . Wenn wir diesen Gedanken radikalisieren, so besagt er, daß sich der Subjektbezug als unabdingbare Grundlage der logischen Einheitsstruktur selber erweist. Die Teile eines Lebenszusammenhangs haben ihre „Zusammengehörigkeit" nur „in dem Bezug zu einer Person" oder zu einem „Selbst", „dem sie angehören" (301, 240). Dies ist nicht im Sinne eines bloßen Referenzbezugs zu verstehen, wonach alle Teile, die per definitionem Teile von etwas sind, zu diesem gleichsam in einem .dynamischen' Verhältnis stünden und eben für es Bedeutung hätten. Gemeint ist ein Bezug zu einem .Selbst', der letztlich als Selbstbezug zu qualifizieren ist. Das Erfordernis eines
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Dies bekräftigt Dilthey in einer Anmerkung: „Ich möchte doch daran festhalten, daß Bedeutung mit der Totalität des auffassenden Subjekts zusammenhängt. Verallgemeinere ich den Ausdruck so, daß er identisch ist mit jeder Beziehung, die dem Subjekt zwischen Teilen und Ganzen aufgeht, so daß auch . . . die Beziehung der Teile im gegenständlichen Denken ... darunter begriffen ist..., dann ... ist das Lebensrätsel, wie ein Ganzes als organisch oder seelisch Realität haben kann, eliminiert" (284).
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solchen Selbstbezugs zeigt sich, wenn auf die formale Voraussetzung der Einheitlichkeit eines Lebenszusammenhangs reflektiert wird. Auf basaler Ebene ist diese im „Bewußtsein der Selbigkeit" begründet (305). Doch ist die hier vorausgesetzte Selbigkeit mehr als die Selbigkeit eines Körpers, der aufgrund bestimmter Merkmale von einem Beobachter reidentifiziert werden kann. Sie ist keine .vorgegebene' und von außen feststellbare Tatsache; sie wird im Subjekt und vom Subjekt konstituiert, sofern dieses sie sich selber zuspricht. Diese Selbstzusprechung vollzieht sich ineins mit der Deutung der Lebensgeschichte, und zwar mit deren tendenziell einheitlichen Deutung auf einen Sinn hin — wobei dies natürlich in keiner Weise die materiale Identität der Zwecksetzungen o. ä. zu beinhalten braucht. Die Lebensdeutung und die Selbstzuschreibung von Identität, die sich derart,ineins' vollziehen, sind weder einfach derselbe Akt — weil die Einheit des Sinns die Identität des Subjekts, für welches es Sinn gibt, logisch voraussetzt — noch voneinander unabhängig — weil sich die Selbigkeit selber erst im Horizont der Bedeutung des Lebensverlaufs konstituiert. Vergangene Erlebnisse als ,meine' zu identifizieren und sie in diesem Sinne ,anzueignen', heißt mehr als sie auf mich als durchgehendes Referenzsubjekt zu beziehen. Die formale Identität des Ich19 bleibt zwar vorausgesetzt; sie liefert aber noch nicht den Referenzpunkt, den ich zur Erzählung einer einheitlichen Geschichte benötige. Die Verbindung zwischen der Einheitlichkeit des Sinnzusammenhangs und der Identität des Subjekts ist nur so zu denken, daß sie sozusagen ,νοη innen' heraus, vom Subjekt her gedacht wird, um dessen Lebensgeschichte es geht. ,Von außen' prädiziert, zerfällt sie in die beiden Teile: die Reidentifikation der Person und die Konstruktion eines einheitlichen Sinns. Dabei bleibt nicht nur diese Konstruktion relativ willkürlich, auch der Bezug der beiden Seiten, die Zuschreibung des selektiv konstruierten Sinns an das Subjekt bleibt äußerlich. Dies zeigt sich, wenn alternative Biographien auf ihre .Angemessenheit' hin verglichen werden sollen. Als Maßstab scheint gar nichts anderes in Frage kommen zu können als die Vorstellung einer von der betreffenden Person selbst konzipierten oder von ihr akzeptierten Geschichte — nicht eine vom faktischen Selbstverständnis der Person her entworfene, sondern sozusagen die ideale Autobiographie des über sich .aufgeklärten' Menschen. Was wirklich die Einheit einer Geschichte ausmacht, ist letztlich nur im selbstreferentiellen Bezug aufzuweisen. Wir gelangen so, von der Logik der Teil/Ganzes-Beziehung her, zu einem Resultat, zu dem schon die Auseinandersetzung mit dem Narrativismus hingeführt hatte. Geschichte und Geschichtsbewußtsein sind ursprünglich, sozusagen ihrem Idealtyp nach, als selbstreferentielle Größen zu betrachten. Die Wer-Frage, auf welche die Geschichte antworten soll, ist die in der ersten Person gestellte. Natürlich bedeutet dies ebensowenig wie früher, daß damit ,fremde' Geschichte aus dem Blickfeld des historischen Interesses eliminiert würde. Für Dilthey wie für viele
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Ineichen (1975, 2 1 4 f . ) spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem transzendentalen Subjekt; nach ihm kann Dilthey, soll seine Theorie eines über einen erlebten Strukturzusammenhang sich konstituierenden Subjekts konsistent sein, „gar nicht umhin..., einen Pol zu setzen in der A r t eines transzendentalen Ichs."
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andere gehört gerade die Weitung des Blicks über das Eigene hinaus sowohl zum eigentlichen Interesse der Historie wie sie die Voraussetzung eines angemessenen historischen Selbstverständnisses bildet. Gemeint ist nur, daß auch das Verstehen anderer in analoger Weise auf deren ,Eigengeschichte', auf deren Geschichte aus der ,Innenperspektive' Bezug nehmen muß. Das Modell des historischen Selbstbewußtseins behält paradigmatische Funktion für das historische Bewußtsein überhaupt. Darin gründet die privilegierte Stellung der Autobiographie. Sie ist deshalb die „höchste und am meisten instruktive Form" des Verstehens, weil sie uns die „Wurzel alles geschichtlichen Auffassens" sehen läßt: die „Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensverlauf' (246f.). Damit geht ein anderes Kennzeichen des Historischen einher: sein Individualitätscharakter. Paradigmatisch für Geschichte ist nicht nur die selbstreferentielle, sondern die individuelle Geschichte, die Lebensgeschichte (vgl. 304f.). Dies resultiert zum Teil aus dem reflexiven Charakter selber: Das Selbstbewußtsein des einzelnen ist nicht nur Urbild des reflexiven Selbstverhältnisses, sondern, in einem strikten Sinn, auch dessen einzige Instanz. Die Reflexivität gesellschaftlicher Systeme, die ihrerseits Grundlage kollektiven Geschichtsbewußtseins ist, kann nicht umstandslos in den gleichen subjektivitätstheoretischen Termini beschrieben werden (vgl. Henrich 1979 a, 178). Wenn wir diesen Zug am Historischen stark machen, so konvergiert er mit einer klassischen Bestimmung des Interesses an Geschichte. Was die historische Erinnerung ursprünglich zu bewahren trachtet, ist das Gedächtnis und der unvergängliche Wert des einzelnen, was sie zu überwinden trachtet, ist die Sterblichkeit der Person; der einzelne Mensch als solcher — und nicht sein .zeitloser' Geist, an dem der platonischen Anamnesis gelegen war — ist es, dem die historische Mnemosyne gilt. Er bleibt — geheimer oder manifester — Bezugspunkt jener .individualisierenden' Methode, die das Geschichtsdenken im ganzen bestimmt (Müller 1971, 234 ff.). In alledem zeigt sich Geschichtsbewußtsein als eine Art von Selbstbewußtsein, ein Selbstbewußtsein, das nach Dilthey ein inhaltlich bestimmtes, nach den Gesichtspunkten von Sinn und Bedeutung zeitlich gegliedertes Selbstbewußtsein ist, dessen Struktur konstitutiv ist für die Einheitsform des geschichtlichen Zusammenhangs und der historischen Identität. — Es ging hier nicht darum, Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften auch nur in ihren Grundzügen als ganze zu umreißen. Sie kam zur Sprache als exemplarische Durchführung eines bestimmten Typus historischen ,Erklärens'. Schon aus dem, was davon sichtbar geworden ist, ist unverkennbar, wie komplex und voraussetzungsreich Diltheys methodologisches Konzept ist. Alle drei bisher genannten Verhältnisweisen bedürften weiterer Explikation und Begründung. Dies gilt zunächst für die beiden Interpretamente, die zur Explikation der Teil/Ganzes-Relation herangezogen wurden: die Begriffe von .Kraft' und .Äußerung' einerseits, die Kategorien ,Bedeutung' und ,Sinn' andererseits. Beide Begriffsraster haben die Eigentümlichkeit, daß sie sich unmittelbar von einer objektbezogenen Verhältnisbestimmung in eine erkenntnistheoretisch-verstehensmäßige Fragestellung umformulieren lassen; zu prüfen wäre, inwiefern hier nicht nur eine sprachliche Äquivokation ausgenutzt, sondern eine rechtmäßige, konstitutive Beziehung herausgestellt wird. Offenkundig
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ist, daß diese Beziehung für Dilthey im Horizont des anderen, schlechthin umgreifenden Verhältnisses steht, das ihr als Ermöglichungsgrund vorausliegt: des Verhältnisses von Leben, Ausdruck und Verstehen. Daß die Äußerungs- wie die Bedeutungskategorie nicht als bloß „intellektuelles Verhältnis", sondern als „Lebensbezug" fungieren (297), heißt auch, daß ihre Applikation in der Darstellung kein freier Konstitutionsakt, sondern ein Nachzeichnen von Bezügen ist, die „im Leben selber gebildet" werden. „Das Geschäft historischer Darstellung", meint Dilthey, ist „schon durch das Leben selber halb getan" (247). Wir können darin zum Teil ein früher genanntes Motiv wiedererkennen: das Einrücken der .subjektiven' Geschichtskonstitution in Geschichte selber. Doch auch wenn dieses hermeneutische Motiv dem Denken Diltheys nicht fremd ist, gründet seine These auf spezifischeren, lebensphilosophischen Prämissen, letztlich auf der Identität von Leben und Geschichte selber. Auf ihr basiert der systematische Zusammenhang von Erleben und damit die Wahrheitsfähigkeit historischer Aussagen. Auf ihr gründet auch die Zentrierung des Geschichtsbegriffs auf Eigengeschichte, und sofern dem so ist, gewinnt auch die Paradigmafunktion der Autobiographie einen anderen und problematischeren Status; der Brückenschlag von der historischen Selbsterkenntnis zum allgemeinen historischen Bewußtsein scheint dann seinerseits nur aufgrund metaphysischer Präsuppositionen gelingen zu können. Gadamer hat dies als „Problem des Ubergangs von der psychologischen zur hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften" bezeichnet und den ungelösten „Zwiespalt von Wissenschaft und Lebensphilosophie in Diltheys Analyse des historischen Bewußtseins" herausgearbeitet (1960, 211, 218ff.; vgl. Baumgartner 1972b, 109ff.; Habermas 1968a, 178 ff.). Wir müssen es hier beim Hinweis auf diese Problematik bewenden lassen, zumal wir Diltheys allgemeine Theorie der historischen Erfahrung und seine Begründung der Geisteswissenschaft nicht eigens in Betracht gezogen haben und auch unser gegenwärtiges Interesse nicht primär der Verstehensproblematik als solcher20, sondern der logischen Verhältnisbestimmung gilt, mittels deren Geschichte verständlich gemacht werden soll; eine spezifische Schwierigkeit, die diese Verhältnisbestimmung betrifft, soll im folgenden aufgegriffen werden (C.2.). Was wir von Diltheys Theorie für die gegenwärtige Diskussion zunächst zurückzubehalten haben, ist die inhaltliche und logische Ausformulierung des Modells von Teil und Ganzem; sein Stellenwert ist der eines exemplarischen Gegenkandidaten zur DN-Erklärung. So von seinen metaphysischen Konnotationen befreit, braucht es nicht einem .konstruktivistischen' Ansatz der Geschichtskonstitution zu widersprechen. Als Erklärungsmodell gehört es zu jener ersten Gruppe von Modellen, die aus dem DN-Schema ausscheren, die aber gleichwohl in theoretischen Begriffen, als .theoretische Erklärung' formuliert sind; in ihrem Rahmen hat es gleichsam paradigmatische Funktion. Auch die andern Schemen des gleichen Grundtypus — die .partielle', ,quasi-teleologische' und .funktionale' Erklärung — scheinen in ihm einen gemeinsamen Fokus zu haben. Ihnen ließen sich
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S. u. II.3.
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ergänzend andere Varianten anfügen, so namentlich die früher genannte narrative Erklärung, die eine Art Temporalisierung des integrativen Verhältnisses darstellt. Indem die Erzählung einen Prozeß schildert, welcher sukzessiv neue, in der Ausgangssituation eines Systems nicht enthaltene Faktoren ins Spiel bringt (Lübbe), versteht auch sie den geschichtlichen Gegenstand nicht primär von einem begrifflich Allgemeinen, sondern von einer konkreten Konstellation singulärer Tatsachen her; in gewisser Analogie dazu wäre ebenso die von Hempel und Stegmüller beschriebene .genetische Erklärung' zu nennen21. Auch Danto sieht eine originäre Leistung der Erzählung darin, Vergangenes zu temporalen ,Ganzheiten' zusammenzuschließen 22 . Das Verhältnis von Teil und Ganzem stellt sich in den verschiedenen Varianten als eine Grundform dar, wie Geschichte erlebt, strukturiert und verständlich gemacht wird. Es wird an späterer Stelle zu zeigen sein, wie seine Konnotationen, sowohl was die .Funktion' des Teils wie die Gestalt der Ganzheit selber angeht, auch für die über Geschichte vermittelte Identitätsbildung von unmittelbarer Bedeutung sind.
c. Wenn wir abschließend diese erste Gruppe von Erklärungsmodellen, die sich von der DN-Erklärung abheben, in ihrer Erklärungskraft beurteilen wollen, so haben wir sie als erstes im Kontext der Erklärungsproblematik zu situieren. Mit der DN-Erklärung teilen sie zwei signifikante Züge. Sie versuchen erstens, auf der ,Objektseite', d.h. innerhalb des Bereichs, dem auch das Explanandum zugehört, Verhältnisse auszumachen, in deren Licht dieses verständlich erscheint, sei es als Folge bestimmter Voraussetzungen, sei es als nach gewissen Gesichtspunkten strukturierter, einsehbarer Zusammenhang. Sie stehen damit im Gegensatz zu Verstehensweisen, deren ,Erklärungskraft' in einem spezifischen Sinn auf der Beziehung zwischen ,Subjekt' und .Objekt' beruht, wie sie im weitesten Sinn dem hermeneutischen Ansatz zuzurechnen sind (II.3.). Zweitens sind die Relationen, auf die sie abheben, theoretische oder logische Beziehungen. Dadurch grenzen sie sich von jenen Erklärungen ab, die auf .praktische' Verhältnisse, auf Beziehungen zwischen Motiven, Gründen, Entscheidungen und Handlungen zurückgreifen (II.2.). Durch
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Diese benennt eine Art Verschachtelung des einfachen Deduktionsmodells, die dadurch entsteht, daß sukzessiv neue Faktoren (und eventuell Gesetze) miteinbezogen werden. Während eine komplexe Deduktion möglicherweise durch Umformulierung (Komplexierung) der Gesetze .gekürzt' werden kann, entfallt diese Möglichkeit bei einer komplexen Erzählung (vgl. Hempel 1977, 1 7 0 f f . ; Stegmüller 1969, 352ff.). Allerdings wird die integrative Erklärung, welche die narrative Verknüpfung leistet, nach Danto erst im Lichte der Subsumtion unter allgemeine Gesetze verständlich. Ein Großteil der Diskussion, die seine Theorie ausgelöst hat, ist durch die Ungeklärtheit des Verhältnisses zwischen Subsumtion und Integration bestimmt. Sie werden bei Danto schwerpunktmäßig auf verschiedene Aspekte der Erzählung verteilt: auf die logische Beziehung bzw. die Darstellungsform. Vgl. dazu Mandelbaum 1967, Ely/Gruner/Dray 1969, Dray 1971.
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die erste Zuordnung werden sie, vereinfacht gesagt, als ,Erklärungsformen' vom .Verstehen', durch die zweite als .theoretische' Erklärungen von der .praktischen' oder .rationalen' Erklärung unterschieden 23 . Mit beiden Gegentypen teilen sie andererseits die Eigenschaft, sich jenseits des DN-Modells anzusiedeln. Um ihre Bedeutung für die Frage historischer Verständigung einzuschätzen, soll zunächst auf ihre gemeinsamen Merkmale eingegangen werden, durch die sie sich, über die negative Abhebung (als nicht-deduktive Erklärungen) hinaus, vom DNModell unterscheiden (1.); danach ist ihre systematische Grenze aufzuzeigen (2.). 1. An mehreren Stellen haben wir die Nähe der funktionalen, integrativen oder narrativen Erklärung zur Verstehensproblematik bemerkt. Erklärungen dieser Art scheinen in einer Einsicht zu resultieren, auf die sich in einem spezifischen Sinn mit der Feststellung .jetzt verstehe ich' antworten läßt. Natürlich ist diese Antwort, für sich genommen, solange nicht aufschlußreich, als nicht der Verstehensbegriff näher präzisiert ist — zumal dieser in seiner umgangssprachlichen Verwendung einen weiteren Applikationsbereich hat als der Erklärungsbegriff und diesen voll miteinschließt; wenn wir Verstehen und Erklären nicht im Sinne von Droysen als entgegengesetzte Methoden betrachten, so läßt sich natürlich auf jede Erklärung mit einem ,ich verstehe' antworten. Wenn wir uns vorläufig an einer von G. Patzig vorgeschlagenen Unterscheidung orientieren, so können wir sagen, daß es sich bei dem hier einschlägigen Verstehen — im Gegensatz zum „Ausdrucksverstehen" und „einfühlenden Verstehen" — um ein „Zusammenhangsverstehen" handelt (1973, 401 ff.) 24 . Seine Leistung besteht darin, auf der Seite des ,Objekts' bestimmte Relationen aufzuweisen, durch die uns der Gegenstand in einem spezifischen Sinn .verständlich' wird. Wenn uns, um Hempels Beispiel aufzugreifen, eine ungewohnte Reaktion dadurch erklärt wird, daß gesagt wird, es handle sich um eine Fehlleistung, die einen unbewußten Wunsch zum Ausdruck bringe, so haben wir den Eindruck, das vorher unverständliche Phänomen nun zu .verstehen'. Für den theoretisch Versierten genügt hier die bloße Identifizierung .als' Fehlleistung, gleich wie für jedermann in andern Kontexten eine bloße präzisere Benennung (als .Schamröte',,Regentanz',,Wette') Verständlichkeit schaf-
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In einem andern Sinn verwendet Stegmüller den Begriff .theoretische Erklärungen' zur Bezeichnung jener Erklärungen, die nicht ein Einzelereignis, sondern ein Gesetz oder eine Regelmäßigkeit verständlich machen (1969, 90ff.; cf. Hempel 1977a, 15ff.). Natürlich ließen sich diese Unterscheidungen anders ansetzen oder durch zusätzliche Differenzierungen ergänzen. So ließe sich unterscheiden zwischen Textverstehen (in Analogie zum Zusammenhangsverstehen) und Ausdrucksverstehen, zwischen einfühlendem Verstehen (Nachvollzug seelischer Prozesse) und Handlungsverstehen (Rekonstruktion von Entscheidungen). Ohnehin können die Unterscheidungen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich ζ. T. um fließende Übergänge handelt und ein explanandum ggf. nach mehreren dieser Schemen verstanden werden kann; ebenso können diese sachlich miteinander zusammenhängen (so hatte gerade Diltheys Theorie eine Verbindung der drei zuerst genannten Verstehensformen nahegelegt).
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fen kann. Wir hatten diese Erklärungsart von der warum-notwendig-Erklärung zunächst als wie-möglich-Erklärung unterschieden; wenn wie sie statt von der logischen Form von ihrer intentionalen Ausrichtung her betrachten, scheint es ebenso sinnvoll, sie als eine was-Erklärung zu bezeichnen: Wir verstehen, was es ist, das uns zunächst unverständlich war, worum es sich bei der unverständlichen Erscheinung in Wahrheit handelt. Auch die originäre Leistung der funktionalistischen Geschichtsbetrachtung, welche einen Zustand als .Antwort' auf einen früheren oder als mögliche Problemlösung' auffaßt, scheint in diesem Sinn eine Identifikation' vorzunehmen, den Gegenstand in verständlicherer Form zu qualifizieren oder neu zu benennen. In alledem ist es nichts anderes als die Möglichkeit einer solchen ,was'-Ergänzung — oder der Umstand, daß eine solche Ergänzung sinnvoll oder naheliegend ist —, welche die Affinität zum ,Verstehen' schafft. Allerdings bleibt offen, ob damit wirklich ein gehaltvolles Unterscheidungskriterium gegenüber den deduktiv-nomologischen Erklärungen benannt ist. Gegen W. Dray, der die was-Erklärung, die „mittels eines allgemeinen Begriffs, und nicht mittels eines allgemeinen Gesetzes" operiert, zu einem Erklärungstyp sui generis machen möchte (1959, 404; vgl. 1957, 157), hält Hempel daran fest, daß es sich auch hierbei allenfalls um eine pragmatische' Unterscheidung handelt und eine wasErklärung nur in dem Maße erklärungskräftig ist, wie sie selber implizit auf allgemeine Hypothesen Bezug nimmt und das heißt: eine verkappte DN-Erklärung darstellt (1977a, 178f.). Nun ist zunächst nicht klar, was die Behauptung der .Eigenständigkeit' einer Erklärungsform wirklich impliziert. Für Hempel fungiert als selbstverständliches Kriterium die logische Beweisstruktur. Es wird sich im folgenden zeigen, daß auch in dieser Hinsicht die was-Erklärungen nicht notwendig dem von ihm in Anschlag gebrachten Modell subsumiert werden müssen; ebenso wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis darauf, daß dieses Unterscheidungskriterium nicht das einzig plausible oder mögliche ist. Von welcher Art eine Erklärung ist, läßt sich nicht nur von der Beweisstruktur, sondern auch von der Intention einer Erklärung her bestimmen. Eine was-Erklärung geht intentional auf etwas anderes als auf die Subsumtion eines Phänomens unter empirische Gesetzmäßigkeiten. Die Rubrizierung dieser intentionalen Differenz unter dem Gesichtspunkt der bloßen Erklärungs-,Pragmatik' (vgl. Stegmüller 1969, 138 ff.) läßt sich ihrerseits nur durch dogmatische Festlegung aufrechterhalten. Auch wenn man nicht primär nach den faktischen Formulierungen von Erklärungen in der Wissenschaft, sondern nach der dahinter stehenden .Logik der Erklärung' fragt, so besagt dies nicht, daß damit nur die logischen Relationen zwischen den in Frage stehenden Faktoren zur Debatte stehen. Mit gleicher Plausibilität kann eine Erklärung nach der .Logik der Fragestellung', auf die sie antwortet, bestimmt werden. Diese differenziert sich nach der Art und Weise, wie das nominalisierte explanandum (Erklärung von ,etwas') propositional ausformuliert wird (Erklärung, warum etwas eingetreten ist, was etwas bedeutet etc.). Im vorliegenden Fall heißt das, daß eine Erklärung .durch einen Begriff auch dann sinnvoll von einer DN-Erklärung unterschieden werden kann, wenn sie durch eine solche ergänzt oder begründet werden kann. Die zusätzlich gelieferte DN-Erklärung hat dann eher den Stellenwert einer .epistemischen'
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Erklärung 25 , mit der jemand kundgibt, wieso er die zunächst gegebene was-Antwort als wissenschaftlich oder im Alltagsverständnis begründet ansieht. Nicht aber gründet die Erklärungskraft der ersten notwendig auf dieser Zusatzerklärung, und ebensowenig ist die von ihr verschaffte Verständlichkeit mit der der zweiten Erklärung identisch. Dagegen mag der Vertreter der DN-Erklärung zwar einwenden, daß, sofern die was-Erklärung für sich genommen wird, sie nur eine Erklärung in äußerst reduzierter Form, „eher eine sehr vage Beschreibung als eine Erklärung" darstelle (Hempel 1977a, 182). Doch ist dieses Verdikt in Wahrheit nicht so einschneidend wie es sich selber versteht. Schon früher hat sich die Relativität dieser Unterscheidung gezeigt. Auch eine Beschreibung erfüllt explanatorische Funktionen. Historische Darstellung basiert als ganze auf dem, was Collingwood als Paradox formuliert: daß der Historiker, wenn er wirklich darstellt, was geschehen ist, auch immer schon weiß, wieso es geschehen ist (1946, 214). Die logische Unterscheidung von Beschreibung und Erklärung — etwa gerade als was- und warum-Frage — trennt nicht zwei Welten der sprachlichen Darstellung. Auch die was-Erklärung verschafft Intelligibilität durch das Herausstellen bestimmter Relationen. Nur brauchen diese nicht notwendig von der Art eines Ableitungs- oder Ursache/Wirkung-Verhältnisses zu sein; sie können sich als Verweisungszusammenhang ganz verschiedener Art artikulieren. Die diskutierten Erklärungsmodelle enthalten dazu einige Vorschläge. Was in ihnen gegenüber dem DN-Modell als distinktives Moment zu behaupten ist, ist die intentionale Selbständigkeit einer bestimmten Fragerichtung. Um dies am Beispiel der genannten Modelle kurz zu illustrieren, können wir als erstes auf die funktionale Analyse verweisen; in ihrem Fall hatte sich die Interpretation in Verstehenstermini besonders nahegelegt. Auch sie betrachtet das Einzelne im Horizont eines Allgemeineren, doch nicht einer Gesetzeshypothese, sondern einer Äquivalenzklasse, sei es für Ursachen oder für Wirkungen. Auch wo sie selber Kausalbeziehungen — zwischen einer Ursache (oder Wirkung) und der Klasse der möglichen Wirkungen (oder Ursachen) — ins Spiel bringt, gilt ihr Interesse nicht in erster Linie diesen Beziehungen selber. Diese fungieren eher als Bezugspunkt und Grundlage des andern, intentional im Vordergrund stehenden Verhältnisses, des Verweisungszusammenhangs von Wirklichkeit und Möglichkeit. Eine Handlung als mögliche Problemlösung aufzufassen, heißt eben sie identifizieren, sie durch eine Qualifizierung verständlich machen, auch wo diese ihrerseits von andern Relationen abhängig ist. Hier wie für die übrigen Modelle gilt, daß die intentionale Eigenständigkeit bestimmter Erklärungsleistungen nicht deren Ausschließlichkeit bedeutet; die Betonung gewisser .Verstehensmomente' in der funktionalen Erklärung will diese nicht zu einer schlichten Verstehenstheorie umformulieren. Daß diese Aspekte aber intentional im Vordergrund stehen, kommt in Luhmanns Theorie auch darin zum Ausdruck, daß der Verweisungszusammen-
25
Hempel 1977 a, 3; vgl. Anm. 6.
Die .integrative' (Teil/Ganzes-)Erklärung
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hang von Wirklichkeit und Möglichkeit zum definiens des Sinnbegriffs erhoben wird, der seinerseits als Grundbegriff der Soziologie fungiert (vgl. 1971). In Nähe zum funktionalistischen Konzept wäre auch ein anderer Typus .verstehenden Erklärens' zu nennen, der sich seinerseits als Zusammenhangsverstehen begreifen läßt: die Erklärung des ,Wie' eines komplexen Zusammenhangs. In ihr lassen sich zwei Grundformen, sozusagen eine theoretische und eine praktische unterscheiden: die Erklärung, wie etwas funktioniert, und die Erklärung, wie etwas zu tun ist26. Allerdings gibt es zahlreiche Fälle, wo diese Unterscheidung nicht trennscharf ist (sofern man nicht die Erklärung einer Funktionsweise rein mechanistisch versteht): so z.B. die Erklärung einer Staatsform oder eines Spiels. Das .Allgemeine', auf das hier zur Erhellung eines Sachverhalts Bezug genommen wird, sind nicht Gesetze, sondern Regeln 27 , wie sie typischerweise in Lernprozessen assimiliert werden. Wenn jemand durch richtiges Verhalten zeigt, daß er die Regeln beherrscht (was nicht notwendig heißt, daß er sie zu artikulieren imstande ist), kann man sagen, er habe eine Erklärung,verstanden' oder er,verstehe' einen Funktionszusammenhang. Stehen diese beiden Modelle noch insofern in Analogie zur DN-Erklärung, als sie das explanandum auf Entitäten einer andern logischen Ordnung — zwar nicht Gesetze, aber Äquivalenzklassen oder Regeln — beziehen, so siedelt die .integrative' Erklärung beide Bezugsgrößen auf der Ebene der ,Realität' an: Ein Faktum wird als Teil einem (bestehenden) Ganzen eingeordnet. Gleichwohl handelt es sich auch hier um einen nicht bloß quantitativen, sondern qualitativen Ubergang, der in spezifischer Weise dem ,Begreifen' des Einzelnen zugrundeliegt. Die Wahrnehmung von Ganzheitsqualitäten, wie sie etwa von der Gestaltpsychologie herausgearbeitet worden ist, illustriert exemplarisch, was die ontologische Priorität des Ganzen verstehensmäßig meinen kann. Es geht um das Auffassen der ,Prägnanz', der innern Strukturiertheit des Wirklichen selber, ohne daß für diese nochmals eine logische Hinterwelt in Anspruch genommen werden müßte. Das Zusammenhangsverstehen richtet sich sozusagen auf die interne Schlüssigkeit der phänomenalen Wirklichkeit selber. Diltheys Bedeutungskategorie stellt ein mögliches Interpretament dieser Verweisungsstruktur dar. Auch hier scheint es in besonderer Weise nahezuliegen, das .Erklären' als Qualifizierung von etwas .als' etwas zu begreifen und es, in diesem Sinne, in die Nähe des .Verstehens' zu rücken.
26
27
Zusätzlich zu nennen wäre die Frage, ,wie' etwas das ist (oder zu dem geworden ist), was es ist. Die letzte Formulierung beschreibt insbesondere die Fragestellung der narrativen Historie. Im diesem Sinn bestimmt F. Fellmann „die historische Frage als Frage nach dem Wie" (1973 a, 133). Dabei bringt er die These der narrativen Erklärung zusammen mit dem Ansatz beim Verstehen und dem funktionalistischen Gedanken des Möglichkeitshorizonts. In der „Beschreibung, wie es zu einem Ereignis gekommen ist", ist „immer schon ein Moment der Variation" eingeschlossen: Geschichte ist ein „Verstehen, das sich mehr an der Möglichkeit als an der Faktizität des historischen Ereignisses interessiert zeigt" (131 ff.). Zum Unterschied vgl. Winch 1966, 75 ff.
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.Theoretische' Erklärung
Die Annäherung an das Verstehen in all diesen Fällen sollte, wie schon gesagt, nicht im Sinn des Gegensatzes von Erklären und Verstehen aufgefaßt werden. Lediglich ging es um die Differenzierung gewisser Begriffsschemen, die sich nicht dem einfachen deduktiven Erklärungsmodell fügen. In einem gewissen Sinn ging es um ihre Legitimierung. Es sollte verhindert werden, sie entweder als bloß pragmatische Variationsformen eines universalen Erklärungstyps oder aber als ,bloße' Beschreibungsformen abzutun. Nach Stegmüller sind die verschiedenen Verwendungen des Erklärungsbegriffs am ehesten als eine „ B e g r i f f s f a m i l i e im Wittgensteinschen Sinne" zu verstehen, „zwischen deren Gliedern zahlreiche sich kreuzende und teilweise überdeckende Ähnlichkeiten bestehen, ohne daß ein bestimmter gemeinsamer Grundzug angebbar wäre" (1969, 75). Als ihr gemeinsames Merkmal soll allein eine bestimmte pragmatische Funktion gelten — etwa die Beseitigung einer vorausgehenden Verwirrung. Doch abgesehen davon, daß es gerade unter pragmatischem Gesichtspunkt aussichtslos sein dürfte, nach einer Gemeinsamkeit aller Erklärungen zu forschen — ich kann mir aus rein theoretischem Interesse, ohne alles Verwirrt- und Desorientiertsein, etwas erklären lassen —, ist nicht recht einzusehen, wieso aus dem von Stegmüller beschriebenen Befund die Einschränkung auf einen einzigen Erklärungstyp folgen soll. Wenn sich die Wissenschaftstheorie nicht als normative Wissenschaft, sondern als metatheoretische Reflexion versteht, so gibt es keinen Grund, wieso sie sich nicht auf das ganze Spektrum der in einer Wissenschaft praktizierten Erklärungsformen einlassen soll. In besonderer Weise ist dies relevant im Fall der Geschichte, die sich traditionellerweise keiner wissenschaftlichen Kunstsprache bedient und deren Wissenschaftlichkeit nach eigenem Verständnis viel stärker in der Forschungspraxis als in der Darstellungslogik gründet. Wollen wir ausloten, was ihre spezifische Verständlichkeit ausmacht, so können wir gar nicht anders als unvoreingenommen die verschiedenen Raster, Begriffsschemen und Paradigmen analysieren, die der historische Diskurs verwendet. Dabei soll das Geltendmachen ihrer Heterogenität und Vielfalt keineswegs auf die Eliminierung jenes Erklärungsmodells hinauslaufen, das vielen als das einzig legitime gilt. Auch geht es nicht darum, im Namen der Willensfreiheit oder der menschlichen Natur die nomologische Betrachtung als unangebracht zurückzuweisen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sie für viele Phänomene auch im Bereich der Geschichte durchaus angemessen ist, ja daß sie, in einem bestimmten Sinn, die transparenteste und befriedigendste Erklärungsform darstellt. Zu zeigen war nur, daß allein von ihr her die Form historischer Verständigung nicht zureichend gefaßt werden kann 28 . Nun hängt die Einschätzung nicht-deduktiver Erklärungen im Feld der Geschichte natürlich nicht nur von der Frage ihrer Eigenständigkeit ab; ebenso wichtig ist die Frage, inwieweit gerade — oder erst — von ihnen her das spezifisch Historische in den Blick kommt. Die Nähe zum Verstehen, so hat sich verschiedentlich gezeigt, bedeutet im idealtypischen Fall auch so etwas wie eine besondere Nähe
28
Zur Heterogenität historischer Erklärungsformen vgl. H. White (1973).
Die integrative' (Teil/Ganzes-)Erklärung
139
zum Gegenstand. Sie ergibt sich daraus, daß das Verstehen von der relativen Beliebigkeit und Äußerlichkeit der Subsumtion unter allgemeine Gesetze frei ist und versucht, das Einzelne im Prinzip von seinem eigenen Konstitutionsgrund her zu fassen. Im Blick steht nicht in erster Linie die Ursache, die für das Eintreten eines bestimmten Ereignisses verantwortlich ist, sondern dasjenige, was das infrage stehende Phänomen zu dem macht, was es ist. Seine Bestimmtheit gewinnt es als Phänomen der menschlich-geschichtlichen Welt durch seine Ausgelegtheit. Historische Tatbestände kommen, wie schon die Reflexion auf die sprachliche Verfassung der Geschichte zeigte, als gedeutete und durch ihr Gedeutetsein mitkonstituierte in den Blick. Indem die ,was'-Beschreibung den Gegenstand in seinem ,Als' — als so und so bestimmten — vorstellig macht, stellt sie sich zu dieser — idealiter reflexiven — Ausgelegtheit in ein Verhältnis. In ihrem Horizont kommen sowohl der intentionale wie der reflexive Charakter des Geschichtlichen zur Geltung. Dessen intentionale Konstitution braucht dabei nicht im gleichen Sinn als eine intentione recta vollzogene aufgefaßt zu werden wie im Prinzip bei der Einzelhandlung, und sie braucht auf selten des Verstehens kein subjektives Einfühlen oder Nachvollziehen zu beinhalten. Sie ist mit allem befaßt, was mit menschlichen Absichten und Meinungen, mit bewußten oder unbewußten, individuellen und sozialen Motiven und Interessen zu tun hat, kurz mit allem, was zur menschlichen ,Bedeutsamkeit' historischer Realität gehört. Sofern die nicht-deduktive Erklärung in ihrem Verstehensaspekt darauf Bezug nimmt, stellt sie in der Tat ein für die Intelligibilität des Historischen spezifisches und unabdingbares Moment dar. Auf der andern Seite kann auch von ihrer begrifflich-strukturellen Grundlage her eine Affinität zur Geschichte ausgemacht werden. Dies gilt namentlich für das Teil-Ganzes-Verhältnis, das gleichsam den Kern dieser ersten Gruppe nicht-deduktiver Erklärungen bildet. Dem Zusammenhang der Teile, der hier in konkreterer Weise vorstellig gemacht wird als in der Subsumtion unter Gesetze, dem Strukturgefüge und der Konstellation verschiedener Momente in einem Ganzen scheint ein spezifisches Interesse der historischen Erkenntnis zu gelten, auch wenn diese keineswegs darin aufgeht. Ebenso richtet es sich auf den Ganzheitsaspekt selber. Die .Abgeschlossenheit' der erzählten Geschichte, der Figur- oder Gestaltcharakter der vergegenwärtigten Ganzheit, ihre interne ,Schlüssigkeit' oder Prägnanz, all dies sind Bestimmungen, die eine bestimmte Ausrichtung der genuin historischen Auffassung kennzeichnen und diese zugleich in gewisse Nähe zur ästhetischen Apperzeption rücken; es ist damit ein eigenes Motiv des Historischen angesprochen, das seine Relevanz gerade auch im Horizont der Identitätsproblematik erweisen wird. In innerer Affinität zum Geschichtlichen erscheint neben dem Verstehensaspekt auch ein anderes Merkmal, das die verhandelten Erklärungsformen teilen: die Retrospektivität. Läßt sich eine DN-Erklärung sowohl als Prädiktion wie als Retrodiktion formulieren — wobei sogar die Voraussage allgemeinere Geltung besitzt29 —, so haben jene nur in der Rückschau Erklärungskraft. Sie lassen
Vgl. Anm. 6.
140
,Theoretische' Erklärung
Gegenwärtiges durch Bezug auf Vergangenes verstehen, nicht Künftiges aus der Gegenwart antizipieren. Dies ist zum Teil eine unmittelbare Folge ihrer logischen Form, etwa ihres Bezugs auf notwendige, nicht hinreichende Bedingungen. Doch geht es hier nicht nur um diese äußere Beschränktheit oder Einseitigkeit. Entscheidend ist deren Übereinstimmung mit der eigentlichen Fragerichtung und leitenden Sichtweise dieser Erklärungen, wie sie besonders bei der funktionalen oder integrativen Betrachtung hervortritt. Die Eingliederung des Teils in einen Funktionszusammenhang oder in ein (u. a. über ihn) sich herstellendes Ganzes, in dem er seine Bedeutung gewinnt, ist bei Dilthey kategoriale Grundbestimmung des Vergangenheitsbezugs. Überall geht es um die Darstellung eines Zusammenhangs im Rückblick, um die Einheit einer Geschichte aus der Sicht der Nachgeborenen. Ihre Einsichtigkeit beruht nicht auf Gesetzen, die zu deduktiven Schlüssen taugen, ihre Notwendigkeit ist, „so könnte man sagen, eine ex post actu verstandene Notwendigkeit" (von Wright 1974, 110)30. Nun scheint dieser Tatbestand, für sich genommen, nicht sonderlich aufregend, sofern es ja zum Normalfall der Historie gehört, von gegebenen Fakten auszugehen und nach den ihnen vorausliegenden Ursachen oder Gründen zu forschen. Die Frage ist jedoch, wie man diese Retrospektivität interpretiert. In ihr kommt zum Ausdruck, worauf schon der Narrativismus hingewiesen hatte: die Asymmetrie der historischen Zeit, welche nicht nur die Erkenntnismöglichkeiten von Geschichte, sondern den Geschichtsbegriff selber betrifft. Auch wenn wir in der Diskussion des Narrativismus die Einseitigkeit der Vergangenheitsorientierung kritisiert haben, ist doch wichtig, das damit benannte Spezifikum historischen Erkennens auch im erklärungslogischen Kontext festzuhalten. Wenn Danto die Retrospektivität der Erzählung als nicht-kontingenten Zug des historischen Bewußtseins behauptet, so geht es ihm darum, daß die Geschichte im Gegensatz zur Naturwissenschaft die Zeit ernst nimmt (1974, Kap. IX). Zeit ist das Medium des Sichereignens, des Auftretens des Neuen. Ihre Neutralisierung in einer Wissensform, welche nur absolute Zeitindices oder relative Zeitpositionen (früher/später), aber nicht die irreversible Differenz von Vergangenheit und Zukunft kennt, partizipiert an der Naturalisierung der Zeit, in der diese zum Analogon des Raums wird und ihrer Eigenart verlustig geht31. Dagegen bildet der Gedanke von der Asymmetrie der historischen Zeit ein erstes Korrektiv. Geschichtliches Denken ist rückwärtsgewandt, wie die Eule der Minerva oder der Angelus Novus. 2. Die Darstellung der Logik der integrativen Erklärung hat implizit auf eine Grenze dieser Erklärung aufmerksam gemacht. Wenn ein Ereignis durch seinen Bezug auf einen umfassenderen Kontext verständlich gemacht wird, wird dann die
30
Von Wright bezieht sich hier auf den praktischen Syllogismus, der der rationalen Handlungserklärung zugrundeliegt; Analoges läßt sich aber von den hier verhandelten Erklärungsformen sagen. Vgl. Koselleck 1972 b; Demandt 1978; Danto 1974, 234.
Die .integrative' (Teil/Ganzes-)Erklärung
141
Erklärungsfrage nicht einfach verschoben? Wie steht es um die Verständlichkeit des Ganzen, in welchem der Teil seine Bedeutung hat? Bleibt man innerhalb des gleichen Erklärungsrasters, so scheint es nur zwei Wege zu geben: entweder das Ganze als nicht mehr weiter deutbare Größe vorauszusetzen und damit die Erklärungsfrage abzubrechen, oder aber es zum Element eines umfassenderen Systems zu machen und sich so einem unendlichen Regreß auszusetzen (vgl. Todorov 1966, 125 f.). Wenn etwa in der funktionalen Betrachtung die Reaktion eines Organismus durch die Aufgabe erklärt wird, die sie hinsichtlich des normalen Funktionierens dieses Organismus erfüllt, so ergibt sich das Problem, Kriterien für dieses normale Funktionieren anzugeben. Diese Probleme mögen in einfachen Fällen (quantifizierbare Selbstregulationen) oder bei Vorliegen eindeutiger Probleme (Überleben des Organismus) lösbar sein; unübersehbar ist die Schwierigkeit im Falle der Festlegung von Maßstäben des .normalen' oder .guten' Funktionierens für geschichtliche, psychologische oder soziologische Phänomene (Stegmüller 1969, 574f.). Die Theorie Diltheys, die wir als Paradigma der historischen Anwendung dieser Erklärungsform diskutiert haben, scheint dem Zirkularitätsproblem zunächst dadurch Rechnung zu tragen, daß sie zur Bestimmung des Ganzen und der Teile zwei verschiedene Kategorien einführt: Der Teil hat .Bedeutung' in seiner Beziehung zum Ganzen, das Ganze hat ,Sinn' durch sich selber, durch seine immanente Teleologie: durch die Werte, die mit ihm verbunden sind und die Zwecke, denen es sich unterordnet. Doch offenbart sich gerade in dieser Unterscheidung das Problematische der integrativen Erklärung in geschichtsphilosophischer Sicht. Wert und Zweck sind Kategorien des Gegenwarts- und Zukunftsbezugs, nicht mehr des eigentlich historischen Bewußtseins. Zwar bleibt es immer möglich, des Sinn eines Ganzen als Bedeutung im Blick auf ein Umfassenderes zu begreifen, letztlich auf die Geschichte als ganze; in der Tat scheint der Zug zum Weltgeschichtlichen dem historischen Bewußtsein als solchem eigen zu sein. Doch hat sich früher gezeigt, welche Probleme im Begriff ,der' Geschichte oder im Konzept eines ,historischen' Zukunftsbezugs stecken. Bleiben Wert und Zweck Kategorien des Lebens als solchen und bilden sie den letzten Bezugspunkt für das historische Verstehen, so gründet Geschichtsbewußtsein in Ungeschichtlichem. Dies mag eine mögliche Konsequenz aus Diltheys Fundierung der Geschichte im Leben sein. Soll ihr entgangen werden, so ist nach den Bedingungen zu fragen, Zukünftiges als Geschirmte, unter der Kategorie der Bedeutung, sozusagen ,ex post' aufzufassen. Solchcs scheint nur möglich, wenn Zukünftiges nicht unter der Kategorie des Zwecks, d. h. nicht als vom Menschen Intendiertes und Geschaffenes, sondern als Geschehendes, auf ihn Zukommendes gedacht wird. Auch darin mag man eine mögliche, gewissermaßen negative Konsequenz der Diltheyschen Geschichtstheorie sehen. Sie scheint auch Diltheys eigenem Gedanken nicht fremd zu sein. Wenn „Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen", und wenn anderseits zum geschichtlichen Menschen in letzter Instanz „das historische Bewußtsein von der Endlichkeit" gehört (1974, 363 f.), so besagt dies, daß der geschichtlich existierende Mensch seine Wert- und Zweckorientierungen in einen Horizont einrückt, der nicht von ihm aus entworfen, nicht seine Setzung ist. Die immanente Teleologie seines Schaffens wird
142
.Theoretische' Erklärung
so selber in .geschichtlicher' Perspektive erfahren. Das Lebensganze, das zunächst den abschließenden Sinnhorizont für die interne Geschichtlichkeit seiner Teile bildet, wird in der Anerkennung seiner Endlichkeit, oder was nur die Kehrseite davon ist: in der Offenheit für die umfassendere Geschichte, selber zur geschichtlichen Größe. Die Frage, wie die Wert- und Zweckkategorie selber unter dem Gesichtspunkt der .Bedeutung' gefaßt und d.h.: wie Geschichtlichkeit auch auf den Gegenwartsund Zukunftsbezug ausgeweitet werden kann, bleibt innerhalb der Logik des Teil/Ganzes-Modells unbeantwortbar. In ihrem Rahmen bleibt der .Sinn' des Ganzen, der der .Bedeutung' des Teils vorausliegt, eine nicht-geschichtliche Größe; Geschichtlichkeit, sofern sie das Ganze menschlicher Existenz definiert, wird darin nicht gedacht. Allein ex negativo lassen sich die Bedingungen eines historischen Zukunftsbezugs benennen; dieser selber bildet im Rahmen der hier diskutierten Erklärungsformen eine Leerstelle. Abstrakt gesehen, ist die tendenzielle Zirkularität der Teil/Ganzes-Erklärung nach zwei Richtungen hin aufzusprengen. Entweder wird die mit dem .Sinn'begriff angezeigte Qualifikation des Ganzen auf ihre eigenen Implikationen hin ausformuliert und anhand des Wert- und Zweckbezugs menschlichen Handelns konkret bestimmt. In den Blick kommen dann die eigenen Kriterien praktischer Vernunft, und zwischen Praxis und Geschichte wird ein Gefalle derart hergestellt, daß Geschichte einen Binnenbereich benennt, welchem der Mensch in ein bestimmtes Verhältnis tritt, das sich seinerseits an anderen, im strikten Sinn praktischen Maßstäben orientiert. Oder aber es wird in der oben angedeuteten Weise versucht, den .Ganzheits'- und .Sinn'-Aspekt selber noch in einer .historischen' Sicht auszuformulieren. Den Ansatz bei der Handlungsrationalität nimmt zunächst die im folgenden zu besprechende .rationale Erklärung' auf (2.). Sie wird zugleich zu dem Punkt führen, wo sie selber mit dem gegenläufigen — ,hermeneutischen' — Ansatz, der Verallgemeinerung der historischen Betrachtung konvergiert, wo sie innerhalb ihrer eigenen Begrifflichkeit die unhintergehbare Geschichtlichkeit der Vernunft zum Ausdruck bringt (3.). Die immanente Grenze der integrativen Erklärung entkräftet nicht das zu ihrer Gültigkeit Gesagte. Bestehen bleibt die Eigenständigkeit ihrer Fragerichtung im Bereich des .theoretischen' Erklärens. Damit verbindet sich kein Überlegenheitsoder gar Ausschließlichkeitsanspruch. Es ist immer möglich, gleiche Phänomene vermittels verschiedener Apperzeptionsraster zu sehen und wissenschaftlich zu systematisieren, ob diese Raster nun schwächere und stärkere Varianten eines einheitlichen Grundschemas darstellen oder aber von gänzlich heterogenen Gesichtspunkten aus konzipiert sind. Welche Modelle aber ihrem Gegenstandsbereich angemessener sind, einen ,höheren' Grad an Verständlichkeit verschaffen, darüber kann nicht mehr durch immanente Modellkritik befunden werden, sondern allein durch die Beurteilung ihrer faktischen Leistungskraft in der wissenschaftlichen und alltagssprachlichen Verwendung, dies unter notwendigem Bezug auf die eingangs genannten ,externen' Gesichtspunkte: auf das intuitive und umgangssprachliche Verständnis des Themenbereichs Geschichte, auf die selber historisch variierende Erfahrung der Geschichte, auf die impliziten Leitideen des historischen Diskurses und die praktischen Zielsetzungen, die Menschen mit ihrer historischen Beschäfti-
Die .integrative' (Teil/Ganzes-)Erklärung
143
gung verbinden. Im Lichte solcher Überlegungen ist dann allerdings nicht nur an der Eigenständigkeit des verhandelten Erklärungskonzepts und damit — gegen die Idee einer einheitlichen Erklärungslogik — an der Vielfalt historischer Auffassungsweisen festzuhalten, sondern auch daran, daß mit der integrativen Erklärung spezifisch Geschichtliches in den Blick kommt. Dies gilt sowohl für ihr grundsätzliches Erklärungsraster, die Zusammenhangsdarstellung, wie für die distinktiven Merkmale ihrer Fragerichtung, die Nähe zum Verstehen, die Verknüpfung der warum- und was-Frage, die temporale Asymmetrie, zuletzt den historischen Zukunftsbezug, der hier als Grenzproblem in den Blick kommt, im Rahmen der bisherigen Erklärungstheorie aber als offenes Problem bestehen bleibt. E s sind Merkmale, die sich auch für die andern beiden Grundtypen nicht-deduktiver Erklärung, die rationale und die hermeneutische Erklärung, in analoger Weise als konstitutiv erweisen werden und die zugleich Aspekte benennen, welche gerade im Hinblick auf die Identitätsfrage bedeutsam sind. Auch wenn damit andere Erklärungsformen nicht ausgeschlossen werden, darf doch das integrative Modell als ein erstes Paradigma historischer Intelligibilität festgehalten werden; es kann im Bereich der .theoretischen' Erklärung als die spezifisch historische Erklärungsform gelten.
2.
,Rationale Erklärung' 2.1.
Relative
Rationalität'
Α. Wir waren ausgegangen von der Kontroverse zwischen C. G. Hempel und W. Dray. Gegen das Einheitsmodell der DN-Erklärung hatte Dray die .rationale Erklärung' als eigenständige und legitime Form historischer Erklärung geltend gemacht. Wir sind dieser Auseinandersetzung bisher in einem ersten Punkt gefolgt: in der Frage der Erklärungskraft einer nicht-deduktiven Erklärung. Wir haben die Auseinandersetzung nun vom andern, dem eigentlich zentralen Gesichtspunkt her aufzunehmen: Zur Diskussion steht der in der rationalen Erklärung implizierte Rekurs auf Rationalität. Drays Konzept muß dabei von zwei Seiten her befragt werden. Zum einen ist zu fragen — und dies ist das von Hempel angemeldete Bedenken —, ob eine Erklärung überhaupt mit Hilfe des Rationalitätsbegriffs formuliert werden kann. Zum andern ist zu fragen, ob dieser nicht über die von Dray gegebene Fassung hinaus radikalisiert werden muß. Von einer Handlung zu zeigen, daß sie in einem bestimmten Kontext .sinnvoll' oder zweckmäßig war, ist nach Hempel eine wesentlich unvollständige Erklärung. Sie zeigt nur auf, daß es unter bestimmten Voraussetzungen vernünftig war, eine bestimmte Handlung zu tun, nicht aber, daß diese tatsächlich getan wurde. Eine „adäquate" Erklärung ist hier nur dann möglich, wenn zum einen das von der rationalen Erklärung gelieferte explanans durch eine weitere deskriptive Aussage ergänzt wird, welche feststellt, daß das betreffende Handlungssubjekt „zur fraglichen Zeit ein rationaler Handelnder war, oder die Disposition zum rationalen Handeln besaß" (1972, 256). Wenn dann zusätzlich das Handlungsprinzip „es ist vernünftig, so zu handeln" in die Gesetzesaussage „jeder vernünftige Mensch wird so handeln" übersetzt wird, so ergibt sich die Möglichkeit einer strikt deduktiven Formulierung der rationalen Erklärung. Diese ist dann grundsätzlich vom gleichen Typus wie jede Erklärung, die auf Dispositionalaussagen rekurriert und die dann beispielsweise die beiden Aussagen enthält „X ist furchtlos" und „jeder furchtlose Mensch wird unter bestimmten Umständen so und so handeln" (257). Nun führt eine solche Transformation des rationalen Erklärungsschemas zu Schwierigkeiten verschiedener Art. Ein erstes Problem besteht darin, eine empirische, theoretisch verwendbare Definition des Rationalitätsprinzips anzugeben; darauflegen Hempel und Stegmüller den Hauptakzent. Der Begriff einer rationalen Handlung meint mehr als eine Mittel-Zweck-Zuordnung; Rationalität zielt auf die Optimierung dieser Zuordnung, es geht um den .besten' Weg zu einem Ziel. Darauf
.Relative Rationalität'
145
hebt Drays Begriff der .Berechnung' ab, dessen implizites Kriterium das Prinzip der Mittelökonomie ist. Nun ist dieses Prinzip dem vereinfachten Modell einer Handlungssituation entnommen, in welcher vollständige Klarheit über Ziele, Mittel und Nebenfolgen, sowie über deren Wahrscheinlichkeiten und Wertungen (Präferenzen) besteht. Dieses Modell läßt sich aber nicht übertragen auf Handlungssituationen überhaupt. Entscheidungen, die unter (subjektiver) Sicherheit, unter Risiko oder unter Unsicherheit getroffen werden, lassen sich, wie die Entscheidungstheorie nachgewiesen hat, nicht einem einheitlichen Rationalitätskriterium subsumieren (Stegmüller 1969, 385 ff.). Es lassen sich für sie verschiedene Strategien vernünftigen' Entscheidens benennen, denen „unterschiedliche induktive Haltungen" (Optimismus-Pessimismus, Kühnheit-Vorsicht) zugrundeliegen (Hempel 1977 a, 197)32. Zwischen ihnen nochmals rational entscheiden zu wollen, hieße den Rationalitätsbegriff nicht nur überfordern, sondern verfälschen. Zusätzlich zur Unmöglichkeit einer einheitlichen Definition des Rationalitätskriteriums kann auf die Schwierigkeit hingewiesen werden, Rationalität als dispositionelles Merkmal zu fassen, mit dem ein Handelnder charakterisiert werden könnte (Stegmüller 1969, 195ff.; Hempel 1972, 257 f.; 1977a, 183ff., 202ff.; Dray 1963, 125ff.). Indes betreffen alle diese Schwierigkeiten, die sich innerhalb der von Hempel vorgenommenen Ubersetzung der rationalen Erklärung ergeben, noch nicht die zentrale Legitimitätsfrage der rationalen Erklärung. Auch wenn für Rationalität nicht ein einheitlicher Begriff gefordert wird, sondern lediglich unterstellt wird, daß rationales Handeln irgendeiner der ,rationalisierbaren' Entscheidungsregeln gehorcht, bleibt sowohl Drays Theorem der rationalen Erklärung für die Vertreter der DN-Erklärung inakzeptabel, wie umgekehrt Dray sich gegen die Transformation der rationalen in eine so qualifizierte dispositionelle Erklärung zur Wehr setzen müßte. Die Parallelisierung von .rational' und ,furchtlos' täuscht über entscheidende Differenzen hinweg. Wird Rationalität in der Form einer Disposition ins Spiel gebracht, so wird gerade der Sinn verfehlt, in welchem die rationale Erklärung von Rationalität spricht. Dispositionen als solche sind als partikulare und faktische Bestimmungen von Subjekten gefaßt. Rationalität, wie sie in der rationalen Erklärung vorausgesetzt ist, meint eine universelle Supposition, die nicht als faktische Beschaffenheit, sondern gerade auch in ihrer Kontrafaktizität und genauer: in ihrer Normativität in Anspruch genommen wird. Sie ist nicht inhaltlich bestimmt, sondern in gewissem Sinn formal und absolut. In dieser normativen Universalität bildet sie für die rationale Erklärung eine begriffliche Voraussetzung, eine Leitidee des Verständnisses von Geschichte (Dray 1957, 137). Damit hängt der Unterschied im logischen Status der Gesetze zusammen: Nicht theoretisch-deskriptive AllAussagen, sondern praktisch-normative Handlungsprinzipien bilden den begrifflichen Hintergrund (132). Ihr Unterschied zeigt sich anhand der Wahrheitsbedingun-
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Die zwei bekanntesten Strategien sind durch die Maximin- und die Maximax-Regel formuliert: Maximierung des minimalen Nutzens (.pessimistische' Einstellung) oder Maximierung des maximalen Nutzens (.optimistische' Einstellung).
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.Rationale Erklärung'
gen: nur die theoretischen Gesetze werden durch Gegeninstanzen falsifiziert (und verlieren dann ihre explikative Funktion). Zwar wäre auch von statistischen' und ,partiellen' Erklärungen zu sagen, daß ihre ,Gesetze' nicht in dieser Art widerlegt werden können; indessen betrifft dies hier nur den Einzelfall, nicht das Falsifikationsprinzip überhaupt. Die Wahrheit (Gültigkeit) praktischer Sätze hingegen beruht überhaupt nicht in einem vergleichbaren Sinn auf Verifikation oder Falsifikation. Wenn die rationale Erklärung noch weniger als die partielle oder funktionalistische eine deduktive Ableitung gestattet, so siedelt sie sich doch in anderer Hinsicht — dies ist gegen Dray festzuhalten (133, 157, 165 f.) — eher in der Nähe der deduktiven als der partiellen Erklärung an. Die Frage, die sie stellt, ist nicht eine wie-möglich-, sondern eher eine warum-notwendig-Frage; ihr Erklärungsanspruch ist von dieser Seite her stringenter als derjenige der partiellen Erklärung 33 . Doch bleibt trotz der analogen Fragerichtung die Differenz von praktischer und theoretischer Notwendigkeit unüberwindbar. Es kann keine angemessene Umformulierung des praktischen Gesetzes in einen theoretischen Satz geben. Der Satz, der die Verallgemeinerungsfähigkeit bestimmter Handlungsweisen behauptet, läßt sich nicht in einen Satz transformieren (und noch weniger aus einem solchen herleiten), der eine faktische Regelmäßigkeit behauptet und auf einer empirischen Verallgemeinerung beruht. Nun werden diese Differenzen natürlich weder von Hempel noch von Stegmüller übersehen; sie sind bei ihnen klarer herausgestellt als bei Dray 34 . Ihre Vervollständigung der rationalen Erklärung ist ja nicht als einfache Übersetzung, sondern als eine Transposition gemeint, die erforderlich ist, damit überhaupt legitimerweise von Erklärung die Rede sein kann: Gerade weil für sie die theoretische Deduzierbarkeit das absolute Kriterium darstellt, ist die „normative Komponente . . . für das Erklärungsvermögen einer bestimmten Darstellung irrelevant" (Hempel 1977a, 201 f.). Zur Debatte steht die quaestio iuris.
B. Der Versuch, auf sie eine Antwort zu finden, führt in ein überaus komplexes Problemfeld, das in der heutigen Diskussion alles andere als geklärt ist. Als Ausgangspunkt bietet sich G. H. von Wrights Theorie des praktischen Syllogismus' an, die sich selber als Reformulierung der rationalen Erklärung versteht und an die auch ein Großteil der Literatur direkt anknüpft (vgl. Apel u.a. [Hg.] 1978). Es ist
33
34
So kann die rationale Erklärung, im Gegensatz zur wie-möglich-Erklärung, auch in bestimmter Weise als Grundlage von Voraussagen fungieren; vgl. Schwemmer 1 9 7 6 , 1 5 1 — 155; s.u. 2.1.C. Der These v o n einer notwendigen Vervollständigung durch Dispositionalaussagen begegnet Dray mit dem Hinweis auf die Problematik v o n Dispositionalaussagen überhaupt; dem Zweifel an der Praktizierbarkeit der rationalen Erklärung begegnet er mit der Einschränkung auf Bereiche, w o sie eindeutig applizierbar ist; in beiden Fällen geht er nicht auf den normativen Aspekt v o n Rationalität ein (1963, 1 1 0 — 1 1 6 ) .
.Relative Rationalität'
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eine Hauptthese seines Buches ,Erklären und Verstehen' (engl. 1971, dt. 1974) — die er allerdings später relativiert (1978, 266 f.) —, „daß der praktische Syllogismus eine seit langem bestehende methodologische Lücke der Humanwissenschaften schließt: Er liefert ihnen ein eigenes Erklärungsschema, das eine deutliche Alternative zum subsumtionstheoretischen Gesetzesschema der Erklärung darstellt" (1974, 37). Als praktischer Syllogismus wird die innere Struktur einer Handlung bezeichnet, die Aristoteles erstmals aufgezeigt hat und die in Analogie zu einem theoretischen Schluß formuliert werden kann (vgl. Nikom.Ethik 1144a31ff., 1147alff., a25ff.). Ihre Prämissen bilden einerseits die Absicht, einen bestimmten Tatbestand herbeizuführen, andererseits die Meinung, daß dies nur vermittels einer bestimmten Handlung erreicht werden kann; als ,Conclusio' steht dann die Ausführung (oder zumindest die Beschlußfassung zu) dieser Handlung (1974, 93)35. Die Frage ist, inwiefern man von einem solchen Folgeverhältnis sagen kann, es sei .schlüssig', oder von dem ,Schluß', er sei gültig. Ersichtlich handelt es sich nicht um eine theoretische Folgerung oder einen Beweis; in dieser Hinsicht ist die Strukturanalogie mit der logischen Form des Syllogismus eher verwirrend. Der praktische Syllogismus beschreibt sozusagen eine ,Realbeziehung', welche die innere Einheit einer Handlung ausmacht. Wie aber ist sie zu interpretieren, und in welchem Sinn taugt sie als .Erklärungsmuster' der Humanwissenschaft? Die naheliegendste Deutung scheint die der ,kausalistischen' Handlungstheorie zu sein, welche die in den Prämissen beschriebenen innern Zustände — Intentionen und Meinungen — als eigentliche ,Ursachen' der Handlung versteht; allein eine solche Deutung soll nach ihr die explikative Funktion des praktischen Schlusses gewährleisten 36 . Der Schluß als ganzer ist dann nicht mehr als die Formulierung eines Kausalgesetzes, welches eine Verlaufsregelmäßigkeit zwischen einem Komplex von Willens- und kognitiven Akten einerseits und einer Handlung anderseits behauptet. Allerdings hat dieses Gesetz einen besonderen Status. Es ist nicht eine empirische Verallgemeinerung, sondern gewissermaßen — gerade sofern es sich als ,Schluß' präsentiert — ein analytischer Satz. So kann das ,Gesetz', das der praktische Syllogismus als ganzer ausdrückt, dann auch unerwähnt bleiben. Die Erklärung kann sich sozusagen .innerhalb' des praktischen Syllogismus ansiedeln, statt daß sie ihn als ganzen zu einem Gesetz umformulierte, das dann zum Teil einer DNErklärung würde; in diesem Sinn kann man sagen, daß die kausale Handlungserklärung, obwohl sie einen Spezialfall der normalen Kausalerklärung darstellt, überhaupt keine allgemeinen Gesetze impliziert (Davidson 1968, 91). Der Handlungs-
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Wir sehen hier vorerst von den Problemen ab, die sich in der .inhaltlichen' Interpretation dieses Schlusses stellen — etwa ob in der ersten Prämisse von einer Absicht, einem Wollen oder einem Entschluß die Rede sein soll, oder ob die Conclusio eine Entscheidung oder eine Handlung meint —, und ebenso von den verschiedenen Differenzierungen, die nach von Wright erforderlich sind, um seine Anwendbarkeit in komplexen Situationen zu gewährleisten (1974, 102). Vgl. die Beiträge von Tuomela und Kim in: Apel u. a. (Hg.) 1978; der klassische Aufsatz der kausalistischen Handlungstheorie ist: Davidson 1968.
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grund ist die Ursache der Handlung, und als solche erklärt er sie. Die Schlüssigkeit einer solchen Erklärung gründet in keiner rationalen Zusatzkonstruktion. In einer solchen Sicht kann schließlich die zweite Prämisse — welche die Zweck-MittelRelation und damit den Ansatzpunkt des Rationalitätsproblems enthält — entbehrlich werden und die teleologisch-zweckrationale Rekonstruktion als bloß mögliche Erweiterung jener Erklärung aufgefaßt werden, die direkt von der Absicht auf die Handlung schließt. Wenn von Wright gerade umgekehrt den direkten Schluß von der Absicht auf die Handlung als eine „rudimentäre Form einer teleologischen Erklärung" bezeichnet (1974,115), so wird darin der Unterschied der Positionen sichtbar. Das Unzulängliche einer kausalistischen Deutung beruht nach ihm nicht etwa darauf, daß im Bereich des menschlichen Handelns keine Kausalrelationen bestünden, sondern auf spezifischeren, erklärungslogischen Gründen. Von einer Kausalrelation läßt sich nur dort sinnvoll sprechen, wo Ursachen und Wirkungen unabhängig voneinander verifiziert werden können. Gerade dies aber ist nicht der Fall, wo es um die Verifikation von Aussagen über Handlungen (und nicht bloß körperliches Verhalten) und Intentionen (und nicht nur Bedürfnisse) geht (192 ff.). Aussagen über Intentionen und Aussagen über Handlungen lassen sich nicht unabhängig voneinander explizieren (91 ff.). Daß eine Handlung ,a tun' stattgefunden hat, kann nicht durch Konstatieren eines bestimmten Vorgangs festgestellt werden, welcher auch ohne Zutun des Handelnden eintreten oder sogar von ihm bewirkt sein kann, ohne in dieser Hinsiebt intendiert zu sein (117); es muß zusätzlich gezeigt werden, daß sein Verhalten „intentional unter der Beschreibung ,a tun' ist". Umgekehrt lassen sich Intentionen nur über ein Verhalten feststellen, das als intentional unter dieser Beschreibung identifizierbar ist (109). Nicht soll mit dieser ,intentionalistischen' Deutung die Möglichkeit ausgeschlossen werden, ein gleiches Verhalten auch kausal zu erklären; nur ist im strikten Sinn deren explanandum nicht dasselbe. Die Kausalerklärung zeigt, warum sich der Körper des Handelnden bewegt, nicht warum er seinen Körper bewegt (111). Kausal erklärt wird ein Verhalten, nicht eine Handlung; zwischen beiden Beschreibungsformen herrscht .logische' Unverträglichkeit (130). Was aus diesen Überlegungen resultiert, ist zunächst nur der Nachweis der Nichtreduzierbarkeit der intentionalistischen Betrachtung 37 . Es gibt keinen Weg von der ,externen' Kausalbetrachtung zur ,Binnenperspektive' des Handelnden. Nun scheint es aber um mehr gehen zu müssen als um die Rettung dieser Binnenperspektive; der Ansatz bei der Intentionalität fungiert hier als Basis einer genuinen Erklärungsform, in der nicht nur eine was-, sondern eine warum-Frage beantwortet
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Sprachlich herrscht hier eine gewisse Zweideutigkeit. Von Wright bezeichnet menschliches Verhalten verschiedentlich als intentional, und es ist nicht immer klar, ob es sich dabei um die Adjektivbildung zu Intention (Absicht) oder Intentionalität (Bewußtheit) handelt; problemlos ist die Unklarheit allenfalls bei Handlungen im strikten Sinn, deren Bewußtheit gerade ihre Absichtlichkeit meint.
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werden soll. Die Erklärung, die auf ihr aufbaut, nennt von Wright teleologische' Erklärung; ihre innere Struktur ist das im praktischen Schluß aufgezeigte Folgeverhältnis (1974, 93, 96). Aufzuhellen ist dessen explikative Leistung — auch wenn schließlich zuzugestehen ist, daß man die zusätzliche Frage, „warum das PS-Schema eine Handlung erklärt, genausowenig beantworten kann wie die Frage, warum der Hinweis auf die Ursache eine entsprechende Wirkung erklärt" (280). Jedenfalls kann die Schlüssigkeit der teleologischen Folgebeziehung nicht allein in der logischen Abhängigkeit zwischen Aussagen über Intentionen und über Handlungen bestehen — in einer solchen Sicht wäre erneut die zweite Prämisse entbehrlich, und es bliebe, paradox formuliert, nichts anderes als die intentionalistische Version der kausalistischen Erklärung. Der praktische Schluß hat nur dann Erklärungskraft, wenn er nicht durch einfache Absicht-Handlung-Korrelationen ersetzbar ist, wenn m. a. W. die zweite Prämisse in ihm nicht nur explizit enthalten ist, sondern, so können wir verschärfend sagen, einen zentralen Stellenwert besitzt. Es ist die Zweck-MittelRelation, welche Intention und Handlung zusammenhält und die Handlung ,begreifen' läßt. Dies besagt aber nichts anderes, als daß genau der Rationalitätsgesichtspunkt — hier in Form der Zweckrationalität — zum logischen Fundament der teleologischen Erklärung wird. Ins Zentrum rückt eben der Aspekt, der schon in Drays Konzept der rationalen Erklärung Stein des Anstoßes war; zu fragen ist, ob der praktische Syllogismus besser gegen Einwände gefeit ist als Drays weniger stark systematisiertes Konzept. Gegen dieses wurde vorgebracht, daß die normative Betrachtung erklärungslogisch irrelevant sei; in Anwendung auf Handlungen bedeute sie oft nichts anderes als eine nachträgliche Rationalisierung', die — zur Erklärung umfunktioniert — sich als bloße Als-ob-Konstruktion enthülle. Bevor wir die Legitimitätsfrage von diesem zentralen Punkt her aufgreifen, ist es zweckmäßig, die Diskussionsbasis zu präzisieren und das Konzept der rationalen Erklärung um einen Schritt zu erweitern. Anlaß dazu geben Einwände, wie sie gerade gegen von Wrights Erklärungsmodell formuliert worden sind. Zweckrationalität, so betont R. Bubner, kann nur dann als innere Logik des Handelns zur Geltung gebracht werden, wenn sie mehr als ein objektiv-determiniertes Verhältnis — analog einem Schluß oder einer mathematischen Relation — meint. Als solches wäre ihre Anwendung nicht von einer mechanisch regulierbaren Operation zu unterscheiden; es verschwände der Sachverhalt .Handlung' selber (1976, 21 f., 132ff.). Handeln beinhaltet Entscheidung, und diese ihrerseits ist nicht Erzeugung einer Handlung kraft eines (im Prinzip vorgegebenen) Schlusses, sondern erst Herstellung dieses Schlusses; sie ist selber der „Ort der Vermittlung" oder „der Zusammenschluß von Ziel und Mittel" (133, vgl. 246). Das aber heißt: Handeln ist nicht bloß Verwirklichung eines vorgegebenen Rationalen, sondern Herstellung eines Allgemeinen, das nicht unabhängig von ihr feststeht; Handeln ist, zugespitzt gesagt, nicht bloß Ort der Realisierung, sondern in gewissem Maße der Bestimmung von Rationalität. Daraus ergibt sich zunächst das eine Problem, auf das später zurückzukommen sein wird, daß Praxis damit gleichsam zum Maßstab ihrer selbst wird und es keine von ihr unabhängigen Kriterien zur Begründung ihrer Rationalität mehr zu geben scheint. Die andere Schwierigkeit in der Zentrierung auf den
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zweckrationalen Akt besteht darin, daß rein von seiner Rationalitätsstruktur her keine Erklärung faktischen Handelns möglich scheint. Der praktische Schluß ist zu abstrakt für eine Realerklärung. Zusätzlich zu den Absichten und Meinungen über Zweck-Mittel-Relationen ist eine Kenntnis der allgemeinen Regeln nötig, die für den Handelnden nicht nur als Maßstab von Rationalität fungieren, sondern denen sein Handeln faktisch folgt. Solche Regeln brauchen nicht schon normativ gefaßt zu sein: sie benennen nur die Allgemeinheit, die das Handeln selber erzeugt, indem es sich unter wechselnden und komplexen Umständen mit einer bestimmten Kontinuität und Konsequenz vollzieht. Solche Regeln werden Maximen genannt (1976, 185 ff.).
C. O. Schwemmer versucht, die Rolle der Maximen in der rationalen Erklärung selber zur Geltung zu bringen. Diese Erweiterung legt sich nach ihm unter folgendem Gesichtspunkt nahe: Versucht man, jemanden zu einer bestimmten Handlung dadurch aufzufordern, daß man ihm diese Handlung als Konsequenz seiner eigenen Einstellungen nachweist, so kann man neben den Absichten des Handelnden auch auf die von ihm faktisch befolgten Handlungsregeln verweisen. Faktisch ist das Handeln eines jeden durch ein Geflecht solcher Maximen bestimmt; sofern dieses Geflecht ein System mit Über- und Unterordnungen darstellt, kann man von der .Maximenstruktur' eines Handelnden sprechen. Schwemmer nennt diese Maximenstruktur den .Sinngehalt' des Handelns, die auf sie bezogene Begründbarkeit von Handlungen deren .Sinnrationalität' (1976, 132 f.). Mit sich in Einklang und für sich selber konsistent zu handeln heißt, begründbar relativ zu seinen Zwecken und darüber hinaus zu seiner Maximenstruktur, ,zweckrational' und darüber hinaus ,sinnrational' zu handeln. Über diese beiden Begründungsschritte hinaus ist ein dritter konzipierbar, in dem Zwecke, Maximen und Maximenstrukturen nicht mehr als unveränderliche Basis vorausgesetzt, sondern selber in das Begründungsverfahren einbezogen werden. Es handelt sich dann um eine Begründung „gemäß dem Vernunftprinzip", um eine moralische Argumentation, die dem Prinzip der Universalisierbarkeit folgt. Im Gegensatz zu dieser letzten, der Stufe der ,absoluten' Begründung, können die auf Zwecke und Maximen bezogenen Begründungen ,relative' Begründungen heißen. Sie sind sozusagen Begründungen ad hominem, deren Überzeugungskraft von der Akzeptierung gegebener Zwecke und Maximen ausgeht. Schwemmers zentrale These ist nun, „daß eine Handlung dadurch erklärt wird, daß man die relativen, also sinnrationalen, Begründungsschritte zu ihr rekonstruiert" (139)38. Diese These ist nach beiden Seiten hin zu überprüfen. Erstens haben wir zu fragen, ob es Schwemmer gelingt zu zeigen, daß eine im strikten Sinn
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Darin sind auch die zweckrationalen Begründungsschritte eingeschlossen. Sinnrationalität ist nicht nur der höhere, sondern auch der umfassendere Begriff, Zweckrationalität „ein Sonderfall der Sinnrationalität" (133).
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rationale Erklärung, die sich am Gesichtspunkt der Begründung von Handlungen orientiert, eine Erklärung sein kann. Schwemmer legt den am weitesten ausformulierten Entwurf einer rationalen Erklärungstheorie vor, und wir müssen sehen, ob er uns die Möglichkeit bietet, die Fragen, die seit der Hempelschen Kritik an Drays Erklärungskonzept offengeblieben sind, einer Beantwortung zuzuführen. Auf der andern Seite müssen wir aber auch fragen, aus welchen Gründen Schwemmer für eine Handlungserklärung nur die relativen Rationalitätsformen in Ansatz bringt, und ob eine solche Beschränkung gerechtfertigt ist. Ausgangspunkt einer rationalen Erklärung ist das intentional gedeutete, als Handeln im strikten Sinn verstandene Verhalten. Zwar wird bereits damit eine Unterstellung gemacht — Schwemmer spricht hier von einem „methodischen Prinzip", das noch „keine empirische Behauptung" impliziere (142) —; klarerweise gibt es Verhalten, das sich einer solchen Deutung widersetzt. Doch beinhaltet die Unterstellung zunächst nicht mehr als was der Handlungsbegriff seit Aristoteles einschloß: die Zielgerichtetheit oder Zweckorientiertheit. Sofern allerdings die Beziehung von Zweck und Handlung nicht eine faktische Beziehung zwischen für sich feststehenden Sachverhalten, sondern ein Verhältnis von Grund und Begründetem ist, ist Handeln nicht vorrangig als Herstellen eines ,objektiven' Tatbestandes zu denken: Zweckorientiert handeln heißt handeln aufgrund einer (impliziten) Selbstaufforderung zur Herbeiführung jenes Sachverhalts. Die Angabe des Zwecks als Handlungsgrund ist die Selbstdeutung des Handelnden (144); die Rekonstruktion der Selbstaufforderung ist der originäre Ansatzpunkt einer Handlungserklärung. Wenn die Handlung als Resultat einer Aufforderung gedacht wird, wird sie als ,redezugängliches' Verhalten gefaßt und als solches aus dem Bereich des übrigen (bloßen) Verhaltens ausgegrenzt (150). Es wäre nun aber nicht sinnvoll, diese ,Redezugänglichkeit' auf das bloße Aufgefordertwerden zu partikularen Zwecken einzuschränken. Wenn wir handelnd Zwecke verwirklichen wollen, müssen wir uns auf Argumentationen hinsichtlich der Realisierbarkeit dieser Zwecke einlassen: zur Zweckmäßigkeit des Handelns gehört dessen Argumentationszugänglichkeit. Nicht der Zweck, als in der intentio recta allein Gegebenes, sondern die in bezug auf ihn angestellte Überlegung ist Handlungsgrund; in einem spezifischen Sinn ist erst mit Bezug auf sie, noch nicht mit Bezug auf die Zweckausrichtung (die bloße Selbstaufforderung) von einer ,Begründung' des Handelns zu sprechen. Die Zweckorientiertheit des Handelns führt so, gewissermaßen aus sich selber heraus, zur ,Zweckrationalität' im spezifischen Sinne hin. In welchem Sinn das Handeln ,Ergebnis' von Argumentationen sein kann, wird anschaulich im Falle der Fremdaufforderung. Um jemanden durch sprachliche Einflußnahme zu einer bestimmten Handlung zu bewegen, können wir auf dreierlei Bezug nehmen: auf Zwecke, von denen wir Grund haben anzunehmen, daß sie der andere verfolgt, auf einsichtige Zweck-Mittel-Relationen und auf Zwecke, die der andere normalerweise in bestimmten Situationen verfolgt (Maximen und Maximenstrukturen). Indem wir uns so auf die ,Sinnrationalität' seines Handelns beziehen, bewegen wir uns gleichsam innerhalb der eigenen Voraussetzungen des Handelnden, ohne ihn auf eine Argumentationsform — etwa die moralische — zu verpflichten, auf die er sich nicht
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selber de facto immer schon eingelassen hat. Wir bleiben gewissermaßen innerhalb der Konsistenzanforderungen seines eigenen Handlungssystems. Nun ist selbstredend nicht die Begründung schon identischerweise die Erklärung. Aus ihr ist keine Behauptung über ein Handlungsvorkommnis abzuleiten; insofern bleibt der Einwand Hempels unwiderlegbar. Gleichwohl scheint es dem natürlichen Verständnis angemessen, ,mit Hilfe' einer Begründung eine Handlung zu erklären — sofern eben unterstellt wird, daß es sich um ein eigentliches Handeln, d. h. um ein zweckgerichtetes und darum begründungszugängliches Verhalten handelt. Wie es für unser eigenes Planen und Handeln sinnvoll ist, „zunächst — d. h. wo immer es nur geht" (151) rational überlegend vorzugehen, scheint es gleichermaßen plausibel, „die Handlungen anderer zunächst als die Ergebnisse von Argumentationen anzusehen" (151 f.) und zu nomologischen Erklärungsschritten erst dann überzugehen, wenn eine sinnrationale Deutung nicht mehr möglich ist. Daß es sich bei der argumentativen' Erklärung um eine echte Erklärung handelt, zeigt sich nach Schwemmer u.a. darin, daß sich mit ihrer Hilfe — über die „Antizipation von Argumentationen für oder gegen diese Handlungen" (153) — Voraussagen machen lassen 39 . Die Begrenztheit ihres Anwendungsbereichs bedeutet nicht, daß die gesetzesmäßige Erklärung, auf die dann gegebenenfalls zurückgegriffen wird, eine umfassendere Erklärungsform darstellt oder gar der Sache ,näherkommt'. In Wirklichkeit verhält es sich gerade umgekehrt. Dies zeigt sich in jenen Fällen, wo zwar über Argumentationen, nicht aber über gesetzmäßige Korrelationen Voraussagen möglich sind: in Situationen, in denen der Handlungskontext unerwarteten und starken Veränderungen ausgesetzt ist. Hier werden die für nomologische Erklärungen üblichen ceteris-paribus-Klauseln zu müßigen Fiktionen 40 . Wenn dann versucht wird, das Handeln der Betroffenen vermittels sinnrational-argumentativer Schritte vorauszusagen, so wird nicht einfach über vorgegebene Korrelationen hinausgegangen', sondern vielmehr hinter sie zurückgefragt. Sinnrationalität kommt als das zur Geltung, was auch den nomologischen Korrelationen, sofern sie Gesetzmäßigkeiten des Handelns benennen, noch zugrundeliegt. Daß wir in vielen Fällen „mit bloßen Korrelationen einigermaßen erfolgreich arbeiten können..., liegt ja nur daran, daß es einige sehr stabile Systeme von Zwecken oder Maximen gibt, so daß man sie für Voraussagen gar nicht mehr eigens expliziert" (152). Empirische Verhaltensregelmäßigkeiten stellen dann so etwas wie konsolidierte Rationalität dar, die in Normalsituationen .spielt', ohne mehr auf ihre Begründetheit hin expliziert werden zu müssen. Nicht auf ein Jenseits des gesetzmäßigen Handelns will die rationale Rekonstruktion verweisen, sondern dessen eigene Voraussetzungen freilegen — sofern es eben im strikten Sinne ein Handeln, ein zweckorientiertes, ,rede- und argumentationszugängliches' Verhalten ist.
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Für Schwemmer ist die Ermöglichung von Voraussagen geradezu Kriterium einer Erklärung (1976, 154). Z.B. die für ,Normalsituationen' gültige Unterstellung der Befolgung von Gerichtsbeschlüssen (152).
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Doch dieses .sofern' bleibt die Achillesferse der rationalen Erklärung. Wird mit ihm nicht wiederum alles vorausgesetzt? Schwemmer selber behandelt diese sofernKlausel als methodisches Prinzip. Ein solches kann sich nicht durch seine empirische Triftigkeit, sondern nur durch seine theoretische Ergiebigkeit ausweisen. In einem gewissen Sinn könnte man sagen, daß die Rationalitätssupposition nicht stärker ist als ähnliche Annahmen anderer Theoriesprachen. Jede theoretische Sprache dient dazu, den Gegenstand unter einer Beschreibung zu fassen, unter der er systematisierbar und demnach .erklärbar' ist. Keine gibt von sich aus die Gewähr, damit schon die .wirklichen' Faktoren zu treffen; keine ist gegen die Gefahr gefeit, die im Fall der rationalen Erklärung als Gefahr einer ,bloßen' Rationalisierung oder bloß .zufällig' richtigen Erklärung auf der Hand liegt. Wenn Beobachtung und Prognose zu divergierenden Resultaten führen, kann in beiden Fällen in analoger Weise nach einer differenzierteren Erklärung gesucht werden, die bisher unberücksichtigte Faktoren und Gesetzmäßigkeiten in Rechnung stellt. Allerdings zeigt sich gerade hier ein entscheidender Unterschied: Auch bei striktestem Widerspruch mit der Beobachtung wird das rationale Handlungsprinzip nicht selber in Frage gestellt oder als falsifiziert betrachtet. Das heißt aber, daß die intentionalistische Deutung einen andern und prägnanteren Sinn hat als eine theoriesprachliche Beschreibung als solche. Sie dient nicht nur der methodischen Zurichtung des Gegenstandes, sondern steht selber unter der Prämisse, daß ihr Kategoriensystem durch den Gegenstand gleichsam vorgeprägt ist; die Gesichtspunkte von Sinn und Rationalität gehören der Selbstkonstitution des Gegenstandes an, sofern eben Handeln für sich selber einen Interpretationsakt einschließt. Schwemmer versucht dem Einwand der Zirkularität dadurch zu begegnen, daß er den Nachweis der empirischen Überprüfbarkeit der Aussagen über Handlungen, Zwecke, Maximen und Maximenstrukturen unternimmt (Kap. 4). Dies ist in der Tat das eine Geschäft, das die DN-Theoretiker vom Vertreter der rationalen Erklärung verlangten. Indes wird damit das eigentlich Anstößige, die spezifisch erklärungslogische Zirkelhaftigkeit nicht wirklich behoben. Damit eine praktische Argumentation im strikten Sinn Erklärungswert hat, muß eben schon vorausgesetzt sein, daß ihr Gegenstand tatsächlich unter der Botmäßigkeit der praktischen Vernunft zustande gekommen ist — und nicht nur ,an sich' in deren Bereich fällt. Als pragmatische Lösung scheint sich ein ,gemischtes' Verfahren anzubieten: Da Handeln per definitionem im Horizont praktischer Begründbarkeit steht und da auch de facto ein Großteil der Handlungen auf Begründungen beruhen, scheint es sinnvoll, die Methode der rationalen Erklärung anzuwenden, soweit es eben geht, und darüber hinaus zu anderen Erklärungsmodellen Zuflucht zu nehmen (151 f.). Das Mißliche aber bleibt, daß es keine eindeutigen Kriterien gibt, nach denen eine .gelungene' rationale Erklärung, welche die realen Handlungsgründe trifft, von einer bloßen .Rationalisierung' zu unterscheiden wäre. In Wahrheit ist der springende Punkt nicht die Beantwortung der Frage, ob das zu erklärende Verhalten realiter dem Bereich des intentional-zweckmäßigen Handelns zugehörig ist oder nicht. Überprüfbar sind allenfalls die ,Prämissen' des Schlusses, nicht dieser selber. Trotz aller Versuche, den ,Realitätsgehalt' der rationalen Erklärung zu sichern, bleibt die intentionalistisch-rationale Handlungs-
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deutung eine Supposition, ein nicht-beliebiges und irreduzibles Darstellungsapriori; als solches hat sie letztlich zur Diskussion zu stehen41. Die Entscheidung für oder gegen sie muß gleichsam auf selten der Erklärung selber gefällt werden; über ihre Rechtmäßigkeit kann nicht durch Erkenntnis, durch empirische Überprüfung auf seiten des Gegenstandes entschieden werden — jedenfalls nicht im positiven, allenfalls im negativen Sinn. Es gibt keine Erklärung an und für sich. Es gibt verschiedene wissenschaftliche und lebensweltliche Kontexte, in denen Erklärungen gegeben werden. Das Geben von Erklärungen folgt verschiedenen Verfahrensregeln und befriedigt verschiedene Interessen. Wenn in der Beschäftigung mit Geschichte an der Idee einer rationalen Erklärung festgehalten wird, so hat dies, wissenschaftstheoretisch gesehen, nicht primär den Stellenwert einer Behauptung, daß Handeln faktisch unter praktischen Gesetzen zustande kommt. Die Idee der Rechtfertigung ist für die Historie nicht in erster Linie als Mittel der theoretischen Erklärung relevant, sondern weil sie sozusagen in eigener Instanz ein wesentliches Moment historischer Intelligibilität bildet. Dieses Moment ist selber praktischer Natur. Wenn Rationalität eine regulative Idee historischer Darstellung bildet, so bringt sie ein apriorisches Interesse geschichtlicher Erkenntnis zum Ausdruck, ein Interesse an der Vernünftigkeit menschlicher Realität, oder hegelisch gesprochen: ein Interesse an der Vernunft in der Geschichte. Nur von diesem praktischen Horizont her, nicht von einer gegenständlichen Voraussetzung aus, läßt sich das Methodenprinzip der rationalen Erklärung, die allgemeine Rationalitätssupposition, begründen. Ersichtlich handelt es sich hierbei um eine andere Art von Begründung, als sie normalerweise in der wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung verlangt wird. Vom Interesse und der praktischen Orientierung her läßt sich nicht aufweisen, daß dieses Methodenprinzip theoretisch notwendig oder im strikten Sinn berechtigt ist, sondern zunächst nur, welche Funktion und welchen Stellenwert es für die historische Darstellung hat. Vielleicht aber ist jene Vorstellung der Letztbegründung eines theoretischen Modells selber ein Zerrbild, das der Erklärungsdebatte falsche Fragen aufnötigt. Um die Frage nach der Legitimität der rationalen Erklärung zu konkretisieren, haben wir zunächst das mit dem Begriff der Rationalität Angesprochene weiter auszuführen, um dann seinen Stellenwert im Kontext der Historie näher zu bestimmen. In der rationalen Erklärung stand uns als praktisches Leitmotiv die Idee der Vernünftigkeit des Handelns, und zwar in Gestalt der Zweck- (oder Sinn-) rationalität vor Augen. Es hat sich gezeigt, daß Zweckrationalität dabei nicht als vorgegebene Zweck-Mittel-Relation, sondern als normatives Handlungsprinzip zum Tragen kommt; als rationales Handeln erscheint uns ein selbstverantwortetes Handeln, das auf Begründungen basiert, jedoch nicht in diesen aufgeht, sondern auf einem Entschluß beruht. Vom Rationalitätsbegriff her ergibt sich ein Überschuß über die Zweckrationalität als solche: Inwiefern Zweckrationalität eine Bestimmung der Rationalität ist, wird erst in der Reflexion auf praktische Vernunft oder