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German Pages 1344 [1343] Year 2014
Rudolf Langthaler Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant Band 19/1
Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderbände
19/1
Rudolf Langthaler
Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant Philosophische Perspektiven „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ Band 19/1
Der Druck wurde gefördert vom österreichischen Wissenschaftsministerium, der Kulturabteilung des Landes Niederösterreich, der Kulturabteilung der Stadt Wien und der Sparkasse Amstetten.
ISBN 978-3-05-004047-9 eISBN 978-3-05-006142-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Unternehmen von De Gruyter Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Das „dritte Stadium der neueren Metaphysik“: „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ – „Kritik“ und Ethikotheologie
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung: Zu den Leitthemen in den sechs Teilen des Buches – ein Überblick . . . . . . . . 17
I. Teil: Kants Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ und das Leitbild einer „Archäologie der Vernunft“ 1. Der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ sich herausbildende „Vernunftbegriff in abstracto“ und Kants Differenzierung verschiedener „Stadien“ in der neueren Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.1. Etappen der „Selbsterkenntnis der Vernunft“: „Theoretische und praktische Vernunft“ als die „zwei Felder derselben“ und die Entfaltung der „Vernunftidee des Unbedingten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Zu Kants später Selbstverortung in der „neueren Geschichte der reinen Vernunft“: Das kritische „Vertrauen der Vernunft zu sich selbst“ – und „worauf Vernunft hinaussieht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.1. Das „dritte Stadium“ der neuzeitlichen Metaphysik: Die darin dem kantischen „Kritizismus“ eingeräumte Stellung – zunächst als „Metaphysik von der Metaphysik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.2. Die das „Übersinnliche außer uns ahnende Vernunft“ in ihrem „theoretischen“ Gebrauch und die den Anspruch des moralischen Gesetzes vernehmende Vernunft in ihrem „praktischen Gebrauch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Die Fundierung und Entfaltung des „Weltbegriffs der Philosophie“ im „dritten Stadium der Metaphysik“: „Pragmatische“ und „moralische“ Anthropologie . . . . 140 3.1. Zur Erinnerung: Grundlegende anthropologische Differenzierungen im Rahmen der kantischen Kultur- und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3.2. Zur Weltstellung des Menschen als „Zweck an sich selbst“: Nicht nur „letzter Zweck der Schöpfung“, sondern existierender „Endzweck der Schöpfung“ überhaupt . 150 4. Der Ort der Ethik als einer „moralischen objektiven Zwecklehre“ innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.1. Eine bemerkenswerte Differenzierung in der Begründung des „kategorischen Imperativs“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.2. Die Doppelgestalt des „kategorischen Imperativs“ als „moralischer Imperativ“ und als „Imperativ, welcher die Tugendpflicht gebietet“ . . . . . . . . . . . . . . . 200 4.3. Kants komplementäre Bestimmung der „Liebe“ als „unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur“ . . . . . . . . . 228
II. Teil: Der Ort der kantischen Geschichtsphilosophie innerhalb des „Weltbegriffs der Philosophie“ – und notwendige gegenläufige Perspektiven 1. Zur Erinnerung: Kants Verankerung der geschichtsphilosophischen Idee der „Weltgeschichte“ in „Prinzipien der praktischen Vernunft“ (Recht und Politik) . . 251 1.1. „Mit Grunde hoffen“: Zu Kants geschichtsphilosophischer Differenzierung der Fortschritts- und Hoffnungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2. Im Ausgang von Kant: Geschichtsphilosophie vor dem „Gerichtshof der Vernunft“ – das diesbezüglich geforderte „zweite Auge“ der „wahren Philosophie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2.1. Die daraus resultierende besondere „Nötigung, Geschichte philosophisch zu denken“. Erste Hinweise auf notwendige Blickwendungen und auf entsprechende „Leitfäden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2.2. Die dem „zweiten Auge“ der „wahren Philosophie“ verdankte Legitimation und Limitation geschichtsphilosophischer „Leitfäden“ und Perspektiven . . . . . . 316 3. „Selbsterkenntnis der Vernunft“ in geschichtsphilosophischem Kontext: „Seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen anzusehen“ – eine an die „quaestio juris“ geknüpfte Forderung Kants . . . . . . . . 321 3.1. Der für die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ maßgebende „Leitfaden“ auf dem Prüfstand – eine daran geknüpfte kritische Geschichtsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 3.2. Eine geschichtsphilosophische Konsequenz: Tiefes „Befremden“ und unüberwindliche Irritationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 3.3. Einige Anschlussfragen und naheliegende Folgerungen für ein kritisches „Geschichtsdenken“: Notwendige gegenläufige „Gesichtspunkte der Weltbetrachtung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 3.4. Ein mit dem „Weltbegriff der Philosophie“ verknüpftes gegenläufiges geschichtsphilosophisches Vernunftinteresse – daran orientiert, „was jedermann notwendig interessiert“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 4. Eine geschichtsphilosophische Einbindung der kantischen Idee der „Naturgeschichte“ und die darin maßgebende Frage Kants: „Was will [und soll!] man hier wissen?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 4.1. Die geschichtsphilosophisch transformierte Idee einer „Naturgeschichte“ im Spiegel jener „einander widerstreitenden Ansprüche der Vernunft“. Ein „archäologisches“ Interesse von besonderer Art . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 4.2. W. Benjamins Forderung „Was nie geschrieben wurde, lesen“ – im Blick auf den in der kantischen Idee der „Naturgeschichte“ maßgebenden kritischen „Leitfaden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 4.3. Ein geschichts- und religionsphilosophischer Ausblick mit Kant und W. Benjamin . . 424
III. Teil: Die dem „Weltbegriff der Philosophie“ aufgegebene Explikation der „höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ 1. „Praktisch-dogmatische Metaphysik“ als „Ethikotheologie“: Kants Beantwortung der – nach-kantischen – Frage „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 1.1. Kants – systematisch weitreichende – Analogisierung der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“: Ein vom „Kanon der reinen Vernunft“ der „ersten Kritik“ bis zur „Ethikotheologie“ gespannter Bogen . . . . . . . . . . . 437 1.2. „Moralische“ und moralisch „konsequente Denkungsart“: Der ethikotheologisch begründete „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ . . . . . . . . 455 1.3. Die sich in jener moralisch „konsequenten Denkungsart“ manifestierende „Willensbestimmung von besonderer Art“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 2. Ein Blick auf Kants späte „Preisschrift“: Die im „archimedischen“ Punkt der Freiheit verankerte „Zweckverbindung“ der Vernunftideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 2.1. Der eigentümliche Nötigungscharakter der in dem „Gefüge“ der „Vernunftideen des Übersinnlichen“ sich selbst entfaltenden Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . 515 2.2. Eine anschließende Frage: Wird in jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ noch ein besonderes – gemäß jener „transzendentalen Steigerung“ gestuftes – Begründungsverhältnis sichtbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 2.3. Die innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ rekonstruierbare ethikotheologisch-teleologische Entfaltung der „Gottesidee“ . . . . . . . . . . . . . 554 3. Ein bedeutsames Ergebnis innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“: Die kritische Konzeption des „symbolischen Anthropomorphismus“ . . . . . . . . . 577 3.1. Wie erst aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ ein „für die Religion tauglicher Begriff von Gott“ resultiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 4. „Zweckwidriges in der Erfahrung“: Eine unumgängliche theodizee-orientierte Erweiterung der Ethikotheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 4.1. Ein ethikotheologischer Perspektivenwechsel: Das theodizee-orientierte radikalisierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 4.2. Kants Befund: „Dass ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste“ sei – im Kontext der kantischen „Theodizee“-Schrift situiert . . . . . . . . 634 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659
Vorwort1
„Zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“2 – kaum eine andere Charakterisierung vermag wohl zentrale kritische Anliegen der kantischen Philosophie und den von Kant selbst beschrittenen Weg präziser auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Darin ist – entsprechend dem von ihm diagnostizierten (und immer noch aktuellen) „Bedürfnis unseres Zeitalters in Ansehung der Gefahr, zwischen den beiden Klippen des Dogmatismus und Skeptizismus glücklich durchzukommen“3 – die Notwendigkeit einer Kritik der Vernunft angezeigt, um so, zwischen „unbegrenztem Vertrauen der Vernunft auf sich selbst“ und einem „grenzenlosen Misstrauen“ gegen dieselbe (III 595), zunächst einmal festen Boden zu gewinnen. Auf diesem Fundament wird auch der Überschritt zum „Endzweck der Metaphysik“, d. i. „vom Sinnlichen zum Übersinnlichen fortzuschreiten“, von Kant nicht nur legitimiert; ebenso wird Letzterer als Ziel seiner gesamten philosophischen Bemühungen geltend gemacht und ihm die Wegrichtung gewiesen. Jenes – von Kant gelegentlich mit dem Bild einer „Landvermessung“ bzw. der „Geographie der Vernunft“ veranschaulichte – Programm der Vernunftkritik bezieht sich indes auf das gesamte Feld der menschlichen Vernunft und fungiert so als deren umfassende „Gesetzgebung“ (II 701), die deshalb auch auf allen Gebieten gleichermaßen vernunftwidrige Vermessenheiten und Borniertheiten entschieden bekämpfen muss. Demgemäß lassen sich die in diesem Buch vorgestellten Überlegungen von der Überzeugung leiten, dass auch Kants grundlegende Differenzierung zwischen „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ und deren – als „Kritik und Metaphysik“ – zu wahrende Einheit insgesamt gemäß jener Losung „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ angemessen zu verstehen ist. Derart hat zweifellos nicht nur das
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„Es schicken wohl wenige Menschen Bücher in die Welt, ohne zu glauben, dass nun jeder seine Pfeife hinlegen oder sich eine anzünden würde um sie zu lesen. Dass mir diese Ehre nicht zugedacht ist, sage ich nicht bloß. Denn das wäre leicht, sondern ich glaube es auch, welches schon etwas schwerer ist, und erlernt werden muss. Autor, Setzer, Korrektor, Zensor, der Rezensent kann es lesen, wenn er will, aber nötig ist es nicht, das sind also von 1.000.000.000 grade 5.“ (Lichtenberg 1984, 371 (J 238)) Der Untertitel der vorliegenden Studie modifiziert eine Wendung Kants in der „transzendentalen Dialektik“ (sie findet sich näherhin im Kontext seiner Charakterisierung der „Antinomie der reinen Vernunft“: II 400). Auch wenn diese Wendung zunächst im Zusammenhang der notwendigen „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ und der damit verbundenen Kritik ungezügelter Ansprüche der theoretischen Vernunft steht (vgl. auch III 236), so erlaubt dies doch eine erweiterte Anwendung, zumal damit auch Kants philosophische Gesamtsystematik durchaus prägnant zu charakterisieren ist. Refl. 5645, AA XVIII, 287.
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Vorwort
Vorhaben einer in Grenzbegriffen begründeten kritischen Metaphysik4 als ein „Geschäft der reinen Vernunft“ (III 270) ein verbindliches Leitbild gefunden, das der Absicht entspricht, „sich im Denken zu orientieren“, und so den systematischen Ansprüchen des unverzichtbaren „Schulbegriffs der Philosophie“5 genügt. Nicht weniger gilt dies für die der „praktischen Philosophie“ zugehörigen Themenfelder, die als solche im näheren Kontext des kantischen „Weltbegriffs der Philosophie“ und dessen Aussicht auf die „wesentlichen und höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ angesiedelt sind: Sie haben in dem über das im engeren Sinne so zu nennende „Land der Wahrheit“ hinaus eröffneten und gleichermaßen durchmessenen „Land der Vernunft“ ihren Ort und führen so vor Augen, dass daran die – auch hier von „Nebeln“ umgebene und einer „Aufklärung“ bzw. „Lenkung“ bedürftige – menschliche Vernunft ein notwendiges Interesse nimmt, sofern sich nur in diesen „Zwecken“ die Vernunft als „Vermögen der Zwecke“ in ihren immanenten Ansprüchen zu differenzieren vermag und sich solcherart auch erhält. Erst darin findet der „Endzweck der Vernunft“ im theoretischen und praktischen Gebrauch derselben seine Einlösung. Auf dem von Kant so genannten „Feld der Philosophie“ in „weltbürgerlicher Bedeutung“ gehören dazu vornehmlich auch diejenigen geschichts- und religionsphilosophischen Themen, die in diesem Buch im Vordergrund stehen. Bei der in systematischer Absicht erfolgten Ausarbeitung dieser Themen hat sich, mit zunehmender Einsicht in ihre innere Verschränkung, die Überzeugung gefestigt, dass die von Kant selbst angezeigten und beschrittenen Wege auch für gegenwärtige systematische Bemühungen nach wie vor nichts an Aktualität verloren haben und in mancher Hinsicht – nicht zuletzt im Kontext religionsphilosophischer Themen und im Blick auf gegenwärtige diesbezügliche Debatten – sogar ein gleichermaßen provozierendes wie auch sinn-erschließendes Potenzial entfalten.6 Eine vorrangige Absicht der nachfolgenden Ausführungen zielt demgemäß auf den Nachweis ab, dass diese in Kants 4
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Die Einschätzung H. Barths wird sich bestätigen: „Wenn von Kant das Problem der Transzendenz in den Grenzbegriff verlegt wird, dann bedeutet dies alles in allem genommen nicht eine Entwertung der transzendierenden Fragestellung. Wohl liegt das transzendente Prinzip an der fernen Grenze möglicher Vernunfterkenntnis. Allein dieses Prinzip gewinnt im Raume der Vernunftkritik eine derart weittragende Aktualität, dass wir uns fragen können, ob der sachliche Schwerpunkt des Werkes der ‚Kritik‘ vielleicht doch nicht im System der ‚Vernunft‘, sondern in jenen Grenzwahrheiten, die der Vernunfterkenntnis ihre Begründung verleihen, zu suchen ist“ (H. Barth 1965, 31). Zu diesem „Schulbegriff der Philosophie“ gehören ihm zufolge „zwei Stücke: Erstlich ein zureichender Vorrat von Vernunfterkenntnissen; – fürs andre: ein systematischer Zusammenhang dieser Erkenntnisse, oder eine Verbindung derselben in der Idee eines Ganzen“ (III 447). Bestimmend ist dabei auch im Blick auf diese thematischen Bezüge die Überzeugung, dass Kant „am Beginn des 21. Jahrhunderts … zum Philosophen der Welt geworden“ ist (so J. Stolzenberg in der Einleitung zu: ders., 2007, 1). In der Tat: „Kant in der Gegenwart – das meint indessen nicht nur eine Aktualisierung der Philosophie Kants unter der Perspektive gegenwärtiger Theoriebildungen, das meint auch eine Offenheit gegenüber dem, was in der Flucht der Zeiten und im Wechsel der Interessen übersehen, verdrängt und vergessen worden ist und das nunmehr neu entdeckt und für die gegenwärtigen Debatten fruchtbar gemacht werden kann. Kant in der Gegenwart zum Gegenstand philosophischer Forschung zu machen, schließt daher auch die Bemühungen ein, den rationalen Gehalt der Kantischen Philosophie aus ihrem eigenen Zentrum heraus freizulegen, gegen etablierte Interpretationsschemata zu verteidigen und hinsichtlich ihres systematischen Gehalts unter den Bedingungen der Gegenwart zu beurteilen“ (ebd. 1 f ).
Vorwort
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„Weltbegriff der Philosophie“ entfalteten systematischen Zusammenhänge als eine nach wie vor sehr bedenkenswerte und insgesamt auch tragfähige Gesamtkonzeption gelten können;7 keinesfalls dürfen die darin bestimmenden Themen und die diesbezüglichen Ausführungen Kants als lediglich von „philosophiehistorischem Interesse“ abgetan werden. Vielmehr erweisen sie sich in programmatischer Hinsicht und gemäß dem Leitmotiv „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ auch für gegenwärtige philosophische Bemühungen nicht nur als „anschlussfähig“, sondern in vielerlei Hinsicht auch als geradezu unverzichtbar – jedenfalls dann, wenn Philosophie sich nicht methodisch und thematisch um ihrer vermeintlichen „Wissenschaftlichkeit“ willen selbst sterilisiert und derart geradewegs einer potenzierten Borniertheit im Namen der Aufklärung verfiele. Demgegenüber ist es ein besonderes Anliegen der kantischen Konzeption der Aufklärung, einer im Namen der Wissenschaft und Rationalität vollzogenen Ausblendung dieser Themen ihre eigene Unaufgeklärtheit vor Augen zu führen. Mit diesen Hinweisen ist auch schon angezeigt, dass keinesfalls eine historische Darstellung bzw. eine strenge Interpretation der kantischen Hauptlehrstücke zur Geschichts-, Moral- und Religionsphilosophie im engeren Sinne beabsichtigt wird. Daraus erklärt sich auch, dass die Kenntnis der einschlägigen Lehrstücke Kants, an die hier in produktiver Weise angeknüpft werden soll, vorausgesetzt werden muss; sie sollen in der Regel auch nur so weit referiert werden, als dies für die jeweilige Anknüpfung daran erforderlich ist. Die diesbezüglichen Ausführungen begnügen sich deshalb in den jeweiligen thematischen Bezügen weithin mit einer knappen Vergegenwärtigung der darin leitenden Grundmotive, soweit dies für die beabsichtigten weiterführenden Analysen unverzichtbar ist. Obgleich es durchgehend ein systematisches Interesse ist, von dem sich die nachfolgenden Überlegungen in den Spuren Kants leiten lassen, soll in solchem Ausgang ebenso der Einsicht in gebührender Weise Rechnung getragen werden, dass Kants Werke „nicht das endgültige Resultat …, sondern eher ein momentaner Querschnitt durch einen nie zur Ruhe kommenden Reflexionsprozess“8 sind. In einer solchen Hinsicht soll auch die notwendige Einbeziehung von Kants Reflexionen9 bzw. Vorlesungen wichtige, weil systematisch durchaus relevante und sachlich weiterführende Aspekte vergegenwärtigen.
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Insgesamt betrachtet kommt die vorliegende Untersuchung dabei freilich zu einer anderen Gesamteinschätzung als M. Fleischer: „Ein tragfähiges philosophisches Fundament für Kants metaphysische und moraltheologische Überschritte (für Vernunftglauben und Religion in seinem Sinne) dürfte wohl nicht zu erreichen sein“ (Fleischer 2009, 335). 8 Hinske 1972, 49. 9 Hier ist Schmitz zweifellos zuzustimmen, dass unabhängig „von der Datierungsfrage … die Texte des handschriftlichen Nachlasses Quellen ersten, unüberbietbaren Ranges für Kants Denken“ sind (Schmitz 1987, 6). Gerade wenn man diese entlegenen Reflexionen auch deshalb heranzieht, weil Kant hier „nur mit der Klärung der eigenen Gedanken beschäftigt“ ist, und diese „Texte … authentisch und ehrlich“ sind, „nicht zurechtgestutzt durch äußere Rücksichten, sondern halbflüssige Niederschläge eines sich erst verfestigenden Überlegens“ (ebd.), erschließen sich dadurch motivliche Formationen, die in die von Kant selbst veröffentlichten Druckschriften keinen Eingang gefunden haben. Sie werden deshalb häufig als hilfreiche Erläuterungen herangezogen.
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Vorwort
Mit dem genannten Vorhaben ist also weder eine beanspruchte Klärung dessen verbunden, was Kant „eigentlich“ hätte „sagen wollen“10, noch wird dieserart gar beabsichtigt, kantische Lehrstücke „fortzuschreiben“. Gleichwohl sollen „im Ausgang“ von der kantischen Ethik, Geschichts- und Religionsphilosophie – und zwar in systematischer Absicht – vor allem Motive weiter verfolgt bzw. erst freigelegt werden, die schon in Kants Denken angelegt oder doch wenigstens mit seiner kritizistischen Konzeption vereinbar sind11 und auch in solcher Hinsicht die ungebrochene Bedeutung und Aktualität seines philosophischen Denkens für die Gegenwart belegen. Die mit einem solchen beanspruchten „Anschluss an“ bzw. „Ausgang von“ verbundenen Gefahren liegen freilich auf der Hand – und natürlich bleibt in solcher Hinsicht erst recht die Mahnung Kants zu beherzigen, nicht bloß die „eigenen Grillen … in älteren Autoren“ finden zu wollen, die man in diese „vorher hineingetragen hatte“ (III 279).12 Auch Kant war sich freilich darüber im Klaren, dass im Sinne eines lebendigen Verstehens ein solches disjunktives „Heraus- oder Hineinlesen“ ohnedies als hermeneutisch naiv gelten muss, sofern natürlich die Auslegung der einschlägigen Lehrstücke Kants mit eigenen Hinsichten verschmilzt, die sich selbst wiederum einschlägigen Texten verdanken. Obgleich es zweifellos unstatthaft ist, in Kants Werk lediglich dasjenige hineinzudeuten, was man bei ihm eben gerne lesen möchte, so verbietet jedoch das über bloß reproduzierendes Nacherzählen hinausgehende Bemühen um eine kritische und produktive Interpretation keineswegs eine an den Sachthemen orientierte Sondierung von weiterführenden Interpretationsper-
10 Es geht im Folgenden also nicht darum, „was Kant eigentlich wollte“; ebenso soll jene „schillernde Phantasmagorie eines ‚wahren‘ oder ‚eigentlichen‘ Kant“ vermieden werden, „den jemand in dessen Texte hineinliest, weil deren verführerisch vieldeutige Fruchtbarkeit und anregende Kraft ihm Einfälle weckt, die ihm aussichtsreich oder grandios erscheinen“ (H. Schmitz 1989, 2); in diesem Sinne ist die vorliegende Arbeit freilich keine „historische Interpretation“, deren Aufgabe es sei, „korrekt herauszufinden, … was er [in diesem Falle eben Kant] eigentlich gemeint hat“ (ebd.). Der Verf. beherzigt im Blick auf Kant eine – auch ermutigende – Bemerkung V. Gerhardts über das Werk eines jeden großen Philosophen: „Jede Würdigung eines Denkers von Rang steht … unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit. Niemand weiß, was im Umgang mit seinen Schriften eines Tages noch zu entdecken ist. Deshalb ist die auf sein Leben und sein Werk gerichtete Neugierde künftiger Leser das Beste, was sich in der Auslegung seiner Schriften erreichen lässt. Dazu muss man deutlich sagen, was einem selber wichtig ist“ (Gerhardt 2005, 93). Dies ist auch in den mitunter an Kant „anschließenden“ bzw. von ihm „ausgehenden“ Überlegungen beabsichtigt, ohne dass den Texten Kants selbst damit „interpretatorische“ Gewalt angetan wird. 11 Kant selbst beanspruchte bzw. räumte es jedenfalls (ohne Vermessenheit) ein, Texten einen Sinn zu geben, „den er [der Autor derselben] sich zwar nicht deutlich gedacht haben mag, den sie aber doch verstatten daraus zu entwickeln, oder hinein zu legen“ (wie er es ja selbst in seinem Umgang mit den Ulpianischen Formeln praktiziert: IV 344). 12 Auch dort, wo dieser im Titel des Buches benannte „Anschluss an Kant“ tatsächlich eher ein bloßer „Ausgang von Kant“ ist, bedeutet dies jedoch nicht einen Widerspruch zu Kant, sondern verfolgt eher die Absicht einer Entfaltung von Motivlinien, die dem Verf. nur vor dem Hintergrund der dargelegten kantischen Lehrstücke als verständlich erscheinen. Gleichwohl ist die in der Wendung „im Ausgang von Kant“ – auch – zum Ausdruck gebrachte Zurückhaltung nicht weniger durch eine gegen Garve gerichtete ironische Bemerkung Kants motiviert und davon gleichermaßen irritiert, die wohl auch als treffsichere Mahnung beherzigt werden darf: dass nämlich die Möglichkeit von Missverständnissen „befremden müsste, wenn nicht der menschliche Hang, seinem einmal gewohnten Gedankengange auch in der Beurteilung fremder Gedanken zu folgen, und so jenen in diese hinein zu tragen, ein solches Phänomen hinreichend erklärte“ (VI 134).
Vorwort
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spektiven. Gerne und dankbar lässt sich jedenfalls der Verfasser aufs Ganze gesehen in diesem Sinne von der hilfreichen hermeneutischen Ansicht des von Kant bekanntlich hochgeschätzten Zeitgenossen Ch. G. Lichtenberg leiten: „Lesen heißt borgen, daraus erfinden, abtragen“. Freilich darf eine solche höchst willkommene Rückendeckung bzw. Entlastung durch diesen aufgeklärten Zeitgenossen Kants nicht für einen von bloß freischwebenden Assoziationen geleiteten textfernen Umgang mit diesen genannten kantischen Themen missbraucht werden. Einer Erklärung bedarf auch der Umfang des Buches. Den allzu verständlichen diesbezüglichen Einwänden sei deshalb ausdrücklich, in prophylaktischer Absicht, mit dem Hinweis begegnet: Das Bemühen, trotz des weitgespannten Bogens die thematische Einheit zu bewahren, ließ es einerseits als nicht zweckmäßig erscheinen, die einzelnen Teile des vorliegenden Buches in jeweils separate Abhandlungen aufzuteilen. Weil eine sub stanzielle Kürzung des Textes jedoch andererseits nicht in zufriedenstellender Weise gelingen wollte, war eine Teilung in zwei Bände letztendlich nicht zu vermeiden. Um den sachlichen Zusammenhang der leitenden Problemstellungen und somit auch die inhaltlichen Bezüge zwischen den in den einzelnen Kapiteln behandelten Sachthemen erkennbar zu machen, schien es ebenso zweckmäßig wie auch unvermeidlich, thematische Bezüge und motivliche Fäden an verschiedenen Stellen mit entsprechenden Querverweisen anzuzeigen.13 Solche Absicht mag es rechtfertigen, dass bisweilen auf schon angeführte Textpassagen und Motive zurückverwiesen wird bzw. diese gelegentlich wiederholt zitiert werden. Auf solche Weise sollten Kernmotive und wichtige Begründungsfiguren vergegenwärtigt bzw. vor allem auch in verschiedenen Kontexten noch argumentativ präzisiert werden; die besondere Schwierigkeit bestand freilich darin (wie wohl nicht zu übersehen ist), dabei dennoch Redundanzen möglichst zu vermeiden (dies gilt vor allem für die thematisch eng verknüpften Teile III und IV). Erst recht verlangt der sehr umfangreiche Anmerkungsteil wenigstens den Versuch einer Rechtfertigung: Mir ist bewusst, dass die zahlreichen (und mitunter auch sehr langen) Anmerkungen die Lektüre einigermaßen erschweren, d. h. nicht gerade „leserfreundlich“ sind. Dieser schwer zu entkräftenden Kritik vermag ich auch lediglich durch den Hinweis zu begegnen, dass bloße Verweise auf andere bedeutende Textstellen Kants – insbesondere auch die oftmals sehr erhellenden „Reflexionen“ aus dem Nachlass Kants bzw. auf wichtige (erläuternde bzw. kritische) Bezüge zur Sekundärliteratur – die Lektüre wohl noch mehr erschwert hätten, zumal das erforderliche Nachsuchen in der Sekundärliteratur dies wohl noch wesentlich mühsamer macht. Als ein vertretbarer Kompromiss wurde schließlich versucht, das Buch auch ohne besondere Rücksichtnahme auf den sehr umfangreichen Anmerkungsteil (bzw. ohne nähere Einbeziehung desselben) lesbar zu machen; aus Gründen der besseren Lesbarkeit sollte demzufolge der Haupttext von Sekundärliteratur zwar weithin freigehalten werden, durch die ausführlichen Anmerkungen jedoch auch eine weiterführende Vertiefung ermöglicht werden. Fremdsprachige Lite13 Für Kapitel-Überschriften wurden häufig Kant-Zitate gewählt, die die zentralen Themen des jeweiligen Kapitels bzw. Abschnittes andeuten sollten. – Die Rechtschreibung in den zitierten Werken der Primärliteratur wurde der heutigen Schreibweise angeglichen.
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ratur musste leider großteils unberücksichtigt bleiben. Es versteht sich von selbst, dass auch die thematisch einschlägige deutschsprachige Sekundärliteratur nur zu einem bescheidenen Teil und zweifellos auch sehr selektiv einbezogen wurde; selbstverständlich spiegelt auch die Auswahl der berücksichtigten Sekundärliteratur eine gewisse Beliebigkeit wider und bedeutet wohl auch eine gewisse Ungerechtigkeit gegenüber in der Sache zwar bedeutsamer Kant-Literatur, die gleichwohl weniger rezipiert wurde. Die Arbeit an diesem Buch hat sich über einen vergleichsweise langen Zeitraum erstreckt14 und war auch stets von hartnäckigen Zweifeln über die Gesamtkonzeption begleitet. Die Fertigstellung ist jedenfalls in vielerlei Hinsicht nicht leicht gefallen und bot auch in solcher Hinsicht zuletzt Gelegenheit, sich in einem weiteren Befund Lichtenbergs wiederzufinden: „Er hat so lange dran geboren und ist nichts daraus geworden, dass es auch nun vermutlich ohne Kaiserschnitt nicht gehen wird.“15 „Wir machen alles selbst“: Dieses berühmte – hier freilich in einem ganz und gar unphilosophischen Sinne zu nehmende – späte Diktum Kants ist inzwischen wohl sehr vielen Autoren allzu vertraut und auch zu einer sehr belastenden Erfahrung geworden – in diesem Sinne: Für umfangreiche und sehr aufwendige Korrekturarbeiten am Manuskript bin ich Frau Dr. Eva Drechsler, Herrn Dr. Franz Eichinger, Frau Mag. Agnes Leyrer, Frau Dr. Veronika Limberger und – nicht zuletzt – Herrn Dr. Christopher Meiller zu besonderem Dank verpflichtet. Herrn Dr. Patric Kment habe ich für die technische Bearbeitung des Buches und für die Erstellung der Druckvorlage zu danken. Dass die Bemühungen um die notwendigen Druckkostenzuschüsse trotz langer Phasen diesbezüglicher „skeptischer Hoffnungslosigkeit“ letztendlich doch nicht erfolglos geblieben sind, verdanke ich der finanziellen Unterstützung durch die Sparkasse Amstetten, durch das österreichische Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung sowie den Kulturabteilungen des Landes Niederösterreich und der Stadt Wien und nicht zuletzt der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Herrn Dr. Mischka Dammaschke danke ich für die Aufnahme des Buches in das Verlagsprogramm des Akademie-Verlags. Nicht selten – und wohl aus guten Gründen – widmen jüngere Autoren/Autorinnen das nach langen Mühen endlich fertige Buch den Eltern oder Lebenspartnern und verbinden damit ihren Dank in vielfältiger Hinsicht. Nicht weniger gute Gründe gibt es wohl dafür, wenn auch Eltern – nach nicht nur zeitraubender, sondern vor allem auch: gemeinsame Zeit raubender Arbeit – das vorliegende Buch ihren Kindern widmen: In diesem Sinne sei dieses Buch unseren inzwischen erwachsenen Kindern in großer Dankbarkeit gewidmet. Wien, im Mai 2013
14 Dies bot freilich auch reichliche Gelegenheit zu dankbarer Erinnerung an viele hilfreiche Gespräche mit Kollegen im Laufe der Jahre; wertvolle Hinweise daraus haben direkt und auch indirekt Eingang gefunden. 15 Lichtenberg 1984, 255 (F 206).
Einleitung: Zu den Leitthemen in den sechs Teilen des Buches – ein Überblick
Das im Untertitel benannte Motto „Zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ darf wohl für viele und entscheidende Themenfelder der kantischen Philosophie als eine zutreffende Kennzeichnung gelten und spiegelt nicht zuletzt auch – auf indirekte Weise – Kants Selbstverortung in der Geschichte der Philosophie wider. Diesbezüglich sei vorweg daran erinnert: Noch in der späten – bekanntlich fragmentarisch gebliebenen – „Preisschrift“ über die „wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat“, hat Kant das schon in der „transzendentalen Methodenlehre“ der „Kritik der reinen Vernunft“ beiläufig angesprochene Thema einer „Geschichte der reinen Vernunft“ (II 709 ff ) aufgenommen. Der diesen Entwürfen zur „Preisschrift“ zugrunde liegenden Aufgabenstellung entsprechend werden die „drei Stadien, welche die Philosophie zum Behuf der Metaphysik durchzugehen hatte“ (III 595), vornehmlich mit Blick auf die Entwicklung der neueren Metaphysik „in einem Teile des gelehrten Europa“ (III 589) näher entfaltet. Im Rückblick auf diese jüngere „Geschichte der reinen Vernunft“ wollte Kant, eben auch im Sinne einer daran geknüpften Selbstverortung, darin vor allem den Nachweis erbringen, wie unter der unhintergehbaren Voraussetzung der schon geleisteten „Vernunftkritik“ auf dem „allein noch offenen kritischen Weg“ (II 712) als Resultat aus dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ der „Endzweck der Metaphysik“ erreichbar sein soll, der sich gleichermaßen – jenseits eines „unbegrenzten Vertrauens der Vernunft auf sich selbst“ und eines „grenzenlosen Misstrauens“ (III 595) ihr gegenüber – an der „Selbsterhaltung der Vernunft“ orientiert – und das heißt eben: zwischen „skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“. Diese Freilegung und kritische Einlösung jenes „Endzwecks der Metaphysik“ waren demnach das späte Ergebnis der in einem langen Prozess ausgebildeten „Selbsterkenntnis der Vernunft“, worin die „metaphysische Naturanlage“, über „endlose … Streitigkeiten, die das Menschengeschlecht verwirr(t)en“ (III 238), ihre geschichtliche Ausbildung gefunden hat – eben innerhalb der „Geschichte der reinen Vernunft“, die als eine „philosophische Geschichte der Philosophie“ gelesen werden muss. Von besonderem Interesse ist diesbezüglich zunächst die von Kant vorgenommene Verortung seines eigenen vernunftkritischen Programms innerhalb des „dritten Stadiums“ dieser „neueren Geschichte der reinen Vernunft“. Darin sollte bekanntlich die Einlösung jenes „Endzwecks der Metaphysik“ gegenüber den verstiegenen Ansprüchen der traditionellen Metaphysik als möglich ausgewiesen werden – und zwar dahingehend, dass jener intendierte Fortschritt der „Erkenntnis vom Sinnlichen zum Übersinnlichen“ nunmehr allein als ein „praktisch-dogmatischer Überschritt zum Übersinnlichen“ zu
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legitimieren und auch nur so der Verdacht eines heimlichen „Sprunges“ zu vermeiden sei. Die innerhalb dieses „dritten Stadiums der neueren Metaphysik“ (gewissermaßen als deren „erster Teil“) situierte „Vernunftkritik“ ist deshalb auch dieser „Preisschrift“ zufolge selbst Vor- und Wegbereitung einer kritisch geläuterten „Metaphysik“, die ihre systematische Entfaltung auf diesem gesicherten Boden freilich erst noch finden muss. Dabei bleibt insbesondere auch Kants aufschlussreicher Hinweis darauf bemerkenswert, dass sich in der Abfolge der für jene Stadien maßgebenden „Zeitordnung“ gleichermaßen eine – eben jener „teleologia rationis humanae“ gemäße – systematische „Gedankenfolge“ widerspiegelt (s. dazu u. I., Anm. 58). Auch die für Kants Gesamtsystematik maßgebend gewordene Unterscheidung zwischen dem „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“1 ist demgemäß als eine späte Frucht aus dem „dritten Stadium“ dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ anzusehen. Sie erweist sich jedoch zugleich selbst als eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung jener genannten philosophischen Teildisziplinen, für die jenes Motto „Zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ angemessen ist. Als aufschlussreich wird sich dabei vor allem dies erweisen: Nicht nur in der Entfaltung dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ zeigt sich eine bemerkenswerte „teleologische Tiefenstruktur“, die ebenso das Verhältnis von Schul- und Weltbegriff der Philosophie selbst betrifft; auch diejenigen Teildisziplinen, welche diese dem „Weltbegriff der Philosophie“ zugehörigen „wesentlichen und höchsten Zwecke“ der menschlichen Vernunft sodann näher explizieren, lassen in ihrem Verhältnis zueinander eine teleologische Verfassung erkennen, in deren „Zusammenstimmung“ recht unterschiedliche Vernunftansprüche und die daran geknüpften notwendigen Vermittlungsschritte zutage treten: Dabei soll sich als besonders beachtenswert erweisen, dass, im Sinne dieser notwendigen Vermittlung, die „wesentlichen Zwecke“ von den „höchsten Zwecken“ der Vernunft zu unterscheiden sind, die selbst, „nach der Natur der Vernunft, wiederum Einheit haben müssen, um dasjenige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist, vereinigt zu befördern“ (II 672), wobei der „höchste Zweck“ zuletzt jedoch „nur ein einziger sein kann“ (II 701) und auch nur als solcher als „Endzweck der Vernunft“ gelten darf. Dies bestätigt lediglich, dass der kritische Anspruch jener gesuchten Orientierung „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ und das dadurch gewährleistete „Vertrauen der Vernunft in sich selbst“ keineswegs auf den „Schulbegriff der Philo1
„Bis dahin ist aber der Begriff von Philosophie nur ein Schulbegriff, nämlich von einem System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die systematische Einheit dieses Wissens, mithin die logische Vollkommenheit der Erkenntnis zum Zwecke zu haben. Es gibt aber noch einen Weltbegriff (conceptus cosmicus), der dieser Benennung jederzeit zum Grunde gelegen hat, vornehmlich wenn man ihn gleichsam personifizierte und in dem Ideal des Philosophen sich als ein Urbild vorstellte. In dieser Absicht ist Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft. In solcher Bedeutung wäre es sehr ruhmredig, sich selbst einen Philosophen zu nennen, und sich anzumaßen, dem Urbilde, das nur in der Idee liegt, gleichgekommen zu sein“ (II 700). – Zu den mit der Bezeichnung des „Weltbegriffs der Philosophie“ als „conceptus cosmicus“ („cosmopoliticus“?) verbundenen klärungsbedürftigen Fragen vgl. Hinske 2012.
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sophie“ einzuschränken ist, sondern sich gleichermaßen auf die Frage nach der „ganzen Bestimmung des Menschen“ erstreckt, deren Entfaltung mit diesem „Weltbegriff der Philosophie“ bekanntlich engstens verbunden ist.2 Demzufolge ist der in diesem Buch – am Leitfaden der unauflöslichen und differenzierten Einheit des „Schul- und Weltbegriffs der Philosophie“ und zuletzt der Explikation dieses Zentralthemas der „ganzen Bestimmung des Menschen“ – unternommene Versuch vornehmlich um den Nachweis bemüht, dass und wie sich in Kants (a) Moralphilosophie und Ethik, (b) in seiner Kultur- und Geschichtsphilosophie sowie (c) in seiner differenzierten Religionsphilosophie und im Aufweis ihres inneren Zusammenhangs jenes Grundthema „Zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ – in freilich recht unterschiedlichen Nuancierungen – als bestimmend erweist. Derart werden also verschiedene Elemente bzw. Stufen der Idee einer – in denkwürdiger Weise einheitsstiftenden – „teleologia rationis humanae“ sichtbar, die wie ein roter Faden alle Teile dieses Buches durchzieht und so auch auf Kants philosophische Gesamtsystematik ein besonderes Licht wirft. Es mag hilfreich sein, zunächst einen Überblick über den weit gespannten Themenbogen anzubieten, der auch die Anordnung der einzelnen Teile verständlich machen soll. 1. Anschließend an Kants Selbstverortung innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ soll, im Ausgang von den „wesentlichen Zwecken der menschlichen Vernunft“, zunächst in geraffter Form der Zusammenhang der Moralphilosophie3, Ethik, Kultur- und Geschichtsphilosophie vergegenwärtigt werden. Diese im einleitenden I. Teil skizzierten 2
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In solcher Hinsicht wird sich ebenfalls bestätigen, dass die darin explizierte „finale Bestimmung des Menschen“ in der Tat das eigentliche Zentrum der kantischen Philosophie darstellt, der sich kein „anderes ebenbürtiges
Thema gegenüber stellen“ lässt (Brandt 2007a, 53). Zu Brandts besonders nachdrücklicher Akzentuierung dieser praktisch orientierten Frage nach der finalen „Bestimmung des Menschen“ gegenüber der theoretischen „Wesensfrage“ „Was ist der Mensch?“, die in Kants Druckschriften bezeichnenderweise nicht aufgenommen sei, und dem Aufweis des „stoischen Ursprungs der Bestimmungsfrage“ vgl. die Hinweise in den Kapiteln 2 u. 3 seines Buches. Die von Kant intendierte Verbindung dieser beiden Fragen tritt in dem auf die „Selbsterkenntnis des Menschen“ abzielenden Orakelspruch deutlich hervor: „Erkenne dich selbst – nicht sowohl empirisch nach der Anthropologie sondern rational nach deinen Vernunftvermögen sich aller Anlagen in deiner Natur zum wahren Endzweck deines Daseins dich zu bedienen“ (AA XXIII, 402). Es wird sich dies als eine kantische Version der Frage nach dem „dem Menschen gemäßen Werk“ erweisen. Schon hier sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die im genaueren Sinne so zu nennende „Moralphilosophie“ Kants und die damit untrennbar verbundenen (nach wie vor kontrovers diskutierten) Probleme (bes. das Problem der „Deduktion des Sittengesetzes“ bzw. auch die verschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs) nicht verfolgt werden; dies würde den Rahmen und die eigentliche (zuletzt religionsphilosophische) Zielsetzung des Buches sprengen. Dies gilt auch für Kants Rechtsphilosophie sowie für seine „Theorie des Politischen“, denen freilich innerhalb der „wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ ein besonderer Stellenwert zukommt. – Zu Kants Moralphilosophie und Ethik vgl. die beeindruckende Studie von Bambauer und die darin in genauen Differenzierungen vorgenommene „ethiktypologische“ Verortung derselben. Resümierend beantwortet Bambauer die Frage: „Was ist das strukturell Signifikante an der kantischen Ethik?“ im Blick auf die mannigfaltigen Interpretationsvorschläge und „ethiktypologischen“ Einordnungen der Philosophie Kants folgendermaßen: „Das Besondere der kantischen Ethik besteht in der Verbindung des aus der Tradition der Ethik bekannten, jedoch
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Problemperspektiven sind auch in den späteren systematischen Ausführungen vorausgesetzt und bilden so auch die Basis für die nachfolgend entwickelten Perspektiven gemäß jener „teleologia rationis humanae“. Dies setzt näherhin den für die Entfaltung des kantischen „Weltbegriffs der Philosophie“ grundlegenden Nachweis voraus, dass allein der im Anspruch des moralischen Gesetzes offenbar werdende „archimedische Punkt“ der Freiheit diese besondere Weltstellung des Menschen als „moralische Persönlichkeit“ zu begründen vermag und ihn als den existierenden „Endzweck der Schöpfung“ ausweist, sofern zuletzt allein darin „das Unbedingte … wirklich Statt hat“ (II 318). Diese bekanntlich in Kants „pragmatischer“ und „moralischer Anthropologie“ entfalteten Themen der kantischen Philosophie kommen freilich nur insoweit zur Sprache, als sie in einem engen Fundierungs-Zusammenhang mit der „teleologisch“ verfassten Gesamtarchitektonik der Philosophie Kants stehen und in besonderen Hinsichten auch für die im engeren Sinne systematische Begründung des Ortes der Religion innerhalb des „Weltbegriffs der Philosophie“ vorausgesetzt sind. Auf diese Fundierung stützt sich sodann eine bemerkenswerte und weitreichende analoge Begründungsfigur: Denn allein in dem „Subjekt des moralischen Gesetzes“ ist in der Folge auch eine Ethik als „System der Zwecke der Freiheit“ in systematischer Absicht zu begründen (I., 3.3.), worin den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, ein besonderer Stellenwert in begründungstheoretischer Hinsicht zukommen muss. Schon darin zeigt sich der für die kantische Gesamtsystematik höchst bedeutsame Zusammenhang, jene zunächst innerhalb des „Weltbegriffs der Philosophie“ thematisierten „wesentlichen Zwecke“ auch mit diesen „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, zu vermitteln. Überlegungen zum systematischen Stellenwert dieses nach wie vor unterschätzten Lehrstücks von den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, schließen daran an. 2. Es ist evident, dass der auf das, „was jedermann notwendig interessiert“ (II 701, Anm.), abzielende Anspruch des „Weltbegriffs der Philosophie“ und die ihm zugehörigen „wesentlichen Zwecke“ mit den maßgeblichen Perspektiven der kantischen Geschichtsphilosophie in engem Zusammenhang stehen. Gemäß der in der Unterscheidung zwischen den „wesentlichen“ und den „höchsten Zwecken“ der Vernunft implizierten Rangordnung bleibt deshalb auch die Bestimmung der spezifischen Aufgabe der dem Gebiet der „praktischen Philosophie“ zugehörigen Kultur- und Geschichtsphilosophie miteinzubeziehen. Für den Aufweis dieser unauflöslichen Verbindung der Kultur- und Geschichtsphilosophie im Denken Kants mag sich deshalb auch eine kurze Vergegenwärtigung einiger anthropologischer Bestimmungen und der darin fundierten kulturphilosophischen Problemperspektiven als hilfreich erweisen, die auch für die in Kants „Weltbegriff der Philosophie“ notwendigen Differenzierungen zu den „wesentlichen Zwecken“ schon vorausgesetzt sind. Ein knapper diesbezüglicher Hinweis auf die kantische Verortung der Weltstellung des Menschen im „System der Zwecke der Natur“ und auf die analoge Differenzierung der „wesentlichen Zwecke des Menschen“ kann wohl genügen: Solcherart sollten auch transzendental transformierten Wertbegriffs der Vernunft mit einer Vernunftteleologie der Autonomie“ (Bambauer 2011, 510).
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die damit berührten grundsätzlichen Bestimmungen Kants zu „Begriff und Geschichte der Kultur“ eingebunden und die Einbettung der kulturphilosophischen Perspektiven in die kantische Geschichtsphilosophie im Blick auf die „Geschichte der Gattung“ vergegenwärtigt werden. Die in Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ sowie im „Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen Fakultät“ im Vordergrund stehenden geschichtsphilosophischen Leitperspektiven (aber auch darin sichtbar werdende Differenzen) werden hier jedoch nicht weiter verfolgt. Diese Themen bilden lediglich die Basis für anders orientierte geschichtsphilosophische Erkundungen, die sich von einem gegenläufigen Interesse leiten lassen: Denn jene gebotene Orientierung an dem, „was jedermann notwendig interessiert“, lässt es in diesem geschichtsphilosophischen Kontext ebenso als besonders bedenkenswert erscheinen, ob sich die innerhalb des „Weltbegriffs der Philosophie“ entfalteten „wesentlichen Zwecke“ (bzw. das darin maßgebende geschichtsphilosophische Interesse) allein oder auch nur vorrangig auf die zukunftsbezogen-utopischen Perspektiven der „späten Nachkommen“ beschränken dürfen. Einer kritischen und hinreichend differenzierten geschichtsphilosophischen Perspektive zufolge muss es jedenfalls als fragwürdig erscheinen, ob sie sich ausschließlich mit einem solchen „besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ legitimerweise begnügen kann. Deshalb wird zu prüfen sein, ob dies im Grunde nicht geradewegs darauf hinausliefe, die in all diesen geschichtsphilosophischen Aspekten normativ zugrunde liegende „Idee der Menschheit“ stillschweigend preiszugeben. Wenn, wie sich zeigen soll, eine auf kritische Differenzierung bedachte Geschichtsphilosophie die Ausbildung und Legitimation der darin maßgebenden Leitideen hingegen nicht einfach den prospektiv-praktisch orientierten Perspektiven überlassen darf, so erweist es sich als eine besondere Herausforderung, auch gegenläufige geschichtsphilosophische Aspekte freizulegen. Sie sind jedenfalls für eine umfassende Vernunftkritik unverzichtbar, sofern sie die an den „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ bzw. in den entsprechenden Partien des „Streits der Fakultäten“ von Kant selbst dargelegte „offizielle“ geschichtsphilosophische Position gleichermaßen unterbrechen und „erweitern“ und zugleich damit verbundene „cyklopische“ Engführungen korrigieren4. Dafür finden sich bei Kant selbst auch unübersehbare Anknüpfungspunkte, ohne welche die beanspruchte Thematisierung der „wesentlichen Zwecke“ jedenfalls noch un4
Eine systematische Darstellung bzw. Interpretation der kantischen Geschichtsphilosophie und ihrer Probleme (nicht zuletzt des umstrittenen – bei Kant selbst widersprüchlichen? – Status der darin bestimmenden „teleologischen Aspekte“) wird hier nicht geleistet; Kants Geschichtsphilosophie wird vornehmlich mit Blick auf freizulegende komplementäre gegenläufige Perspektiven verfolgt, wobei des Weiteren die einschlägigen geschichtsphilosophischen Bezüge als Scharnier für religionsphilosophische Anknüpfungspunkte besonderes Interesse finden. – Auch die vielschichtigen Bezüge zwischen rechts- und geschichtsphilosophischen Themen – vornehmlich die geschichtsphilosophische Verortung des „Staatsbürgerrechts der Menschen“, des „Völkerrechts der Staaten in Verhältnis gegeneinander“ und des „Weltbürgerrecht(s), so fern Menschen und Staaten, in äußerem aufeinander einfließenden Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind“, und deren notwendiger „Beziehung auf die Idee vom ewigen Frieden“ (VI 203, Anm.) – werden in diesem Buch nicht näher verfolgt, obgleich auch sie natürlich engstens mit den „wesentlichen Zwecken der menschlichen Vernunft“ verknüpft sind.
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eingelöst bliebe. Gemäß dieser kritischen Absicht ist sodann auch der im II. Teil unternommene Versuch zu verstehen, latenten gegenläufigen Motiven nachzuspüren und diese auch geschichtsphilosophisch fruchtbar zu machen; dies sollte es auch erlauben, einer weithin verbreiteten verkürzten bzw. einseitigen Wahrnehmung dieser geschichtsphilosophischen Perspektiven kritisch zu begegnen. Nicht zuletzt soll sich dabei zeigen, dass diesbezüglich vornehmlich dem geschichtsphilosophisch zu akzentuierenden kantischen Motiv der „Naturgeschichte“ eine besondere Bedeutung zukommt. Jedenfalls dürfen jene in Kants Geschichtsdenken zweifellos im Vordergrund stehenden Perspektiven die – bei Kant selbst angelegten – gegenläufigen geschichtsphilosophischen Perspektiven bzw. „Potenziale“ nicht übersehen lassen,5 zumal ohne sie letztendlich auch ein umfassender „Weltbegriff der Philosophie“ (und die Orientierung an den „höchsten und angelegensten Zwecke[n] der Menschheit“: II 441) noch nicht angemessen bestimmt wäre. Andernfalls gerieten wesentliche Aspekte dessen, was dem Anspruch des „Weltbegriffs der Philosophie“ zufolge „jedermann notwendig interessiert“, unvermeidlich zu kurz bzw. überhaupt in Vergessenheit; hingegen könnte deren Berücksichtigung nicht zuletzt auch das von Kant selbst benannte Programm einer „Kritik der Geschichte und der historischen Schriften“ (s. u. II., 2.2.1.) in einer prinzipiellen Hinsicht erweitern. Ebendies wird sich auch als ein unverzichtbarer Bestandteil des mühsamen Geschäfts der „Selbsterkenntnis der Vernunft“ erweisen, wofür bemerkenswerterweise Kategorien aus Kants Anthropologie und Logik gleichermaßen unverzichtbar sind und so auch in systematischer Hinsicht besondere Bedeutung gewinnen. Von solchen gegenläufigen geschichtsphilosophischen Perspektiven ausgehend werden sodann, gemäß einer solchen Differenzierung der in Kants „Weltbegriff der Philosophie“ verhandelten Themen, auch bedeutsame Verbindungslinien zu religionsphilosophischen Fragestellungen sichtbar. Diesbezüglich, so soll sich zeigen, stellt die notwendige Differenzierung des Hoffnungsbegriffs in diesem thematischen Kontext ein entscheidendes Scharnier dar: In freilich recht unterschiedlichen Akzentuierungen erweist sich die Begründung der Hoffnungsfrage ebenso als ein vorrangiges Thema wie die auch auf diesem Feld notwendige kritische Distanzierung einer unkritischen, bloß „vernünftelnden“ dogmatistischen Denkungsart. Weil diese Hoffnungsthematik, freilich in differenzierter Weise, in sachlichem Bezug zu Geschichts- und Rechtsphilosophie und ebenso zu Moral- und Religionsphilosophie steht, verschränken sich solcherart im Blick darauf, was es heißt, „begründet zu hoffen“, geschichts- und religionsphilosophische Problemperspektiven ineinander.6 Auch und erst recht in diesen thematischen Bezügen erweist 5
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Nicht zuletzt auch für diese besonderen geschichtsphilosophischen Bezüge (und natürlich erst recht im Blick auf die kantische „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“) weiß sich der Verf. durch die Anregung des verdienten Kant-Forschers N. Hinske (mit Blick auf Kant) ermutigt: „Man muss bei jedem Buch nicht die Idee, sondern die Ideen, die gegeneinander treibenden Ideen des Autors zu entdecken suchen“ (s. Hinske 1963, 132–134). Solche „gegeneinander treibenden Ideen“ sind in der Tat auch in diesen geschichtsphilosophischen Bezügen im Blick auf einen unverkürzten praktischen Vernunfthorizont fruchtbar zu machen. Die kritischen Intentionen der kantischen Geschichts- und Religionsphilosophie haben in jüngeren Publikationen eine recht verlässliche Darstellung gefunden, die auch einschlägige Deutungsmuster der kan-
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sich jene kritische Losung „Zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ als maßgeblich, sofern sie eben wesentliche Themen und Differenzierungen von Kants Geschichts- und Religionsphilosophie betrifft. Vornehmlich sind es die abschließenden Überlegungen dieses II. Teiles (II., 4.3.), die den Blick darauf lenken, dass in den nachfolgenden Teilen dieses Buches religionsphilosophisch relevante Themen in den Vordergrund treten.7 3. An diese den „wesentlichen Zwecken der menschlichen Vernunft“ gewidmeten geschichtsphilosophischen Erkundungen knüpfen sodann diejenigen über die „höchsten Zwecke der Vernunft“ an. Dabei sollen zunächst der von Kant im „dritten Stadium der Metaphysik“ auf dem gesicherten Boden der „Vernunftkritik“ vollzogene „praktischdogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ und dessen Etappen bis hin zum „Endzweck der Vernunft“ nachgezeichnet werden; es sind durchaus verschiedene Aspekte bzw. Momente desselben, die hier eine gestufte Entfaltung finden und dergestalt die in Kants Ethikotheologie leitende Idee einer „moralischen Teleologie“ näher explizieren. Als Ausgangspunkt für diese nunmehr religionsphilosophisch akzentuierten Überlegungen legt sich Kants bemerkenswerte Analogisierung der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ nahe, die er schon in der „Kritik der reinen Vernunft“ (im „zweiten Abschnitt“ des „Kanons der reinen Vernunft“) vorgenommen hat.8 In thematisch einschlägigen Kontexten der „Kritik der Urteilskraft“ (und der näheren Differenzierung der „Urteilskraft“ als eigenständiges „Prinzip“) erfährt jenes im „zweiten Abschnitt des Kanons der reinen Vernunft“ – in der Thematisierung „transzendentaler Voraussetzungen“ in den systematischen „Nachforschungen der Natur“ – nur beiläufig benannte Motiv einer „transzendentalen Steigerung“ (II 685) erst seine nähere Entfaltung und rechtfertigt so insbesondere auch den damit verbundenen systematischen Anspruch, der zugleich in kritischer Weise auch seine Begrenzung enthält. Dabei ist – im Ausgang von jener „Analogisierung“ – die Orientierung an der Einlösung des vollständigen theoretischen und praktischen Vernunftgebrauchs und deren Einheit bestimmend, die erst in den maßgebenden „teleologischen“ Themen der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ zum Ab-
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tischen Geschichtsphilosophie korrigieren. Vgl. Lutz-Bachmann 1988; Kleingeld 1995; zu den vielfältigen thematischen Aspekten der kantischen Schriften zur Geschichtsphilosophie s. jetzt auch die in Höffe 2011b enthaltenen bibliographischen Hinweise. – Zur kantischen Religionsphilosophie seien besonders genannt: Wood 1970; Picht 1985; Wimmer 1990; Ricken/ Marty 1992; Winter 2000a; Fischer 2004. Man wird dem Befund wohl zustimmen müssen: „Die religionsphilosophische Kondition der Moderne ist durch Kant strukturiert: direkt oder indirekt reibt sich an ihm alles spätere Denken“ (so L. Nagl in seiner Einleitung zu: Nagl 2003, 20). – Eine religionsphilosophische Auseinandersetzung mit Themen, die in der „Spur Kants“ bei dem Kantianer K.L. Reinhold eine bedeutsame Rolle spielen und auch noch im Kontext der zeitgenössischen Monotheismus-Debatte von großem Interesse sind, ist für eine spätere Veröffentlichung geplant. Vor allem anhand einer Analyse der einschlägigen „Reflexionen“ hat M. Forschner (Forschner 1992, 83) den „gedanklichen Weg nachgezeichnet, auf dem Kant zu seiner in der transzendentalen Methodenlehre der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ charakterisierten religionsphilosophischen Position gelangt ist“. Forschners Ausführungen zeigen, dass die kantischen „Reflexionen“ nicht nur für das Verständnis der Entwicklung der kantischen Religionsphilosophie, sondern auch in sachlicher Hinsicht sehr bedeutsam und erhellend sind.
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schluss kommt. Diesem Aufweis sind deshalb die Ausführungen des III. Teils gewidmet, die sich zunächst an der Explikation der einzelnen Teilmomente der kantischen Ethikotheologie orientieren, in denen der Grundriss seiner neu fundierten kritischen Metaphysik und ihres „Endzwecks“ dargelegt wird. Hier mag auch deutlich werden, dass Kant vom „kritischen Geschäft“ im engeren Sinne die systematische Ausbildung und kritische Rechtfertigung der „Vernunftideen“ (als eben von der „Vernunft geschaffene“) noch unterscheidet; dies liegt wiederum jenem erst zu erbringenden Aufweis der „Vernunftideen“ voraus bzw. auch zugrunde, die sodann, auf derart gesichertem Boden, in ihrer Verbindung erst den von Kant der kritischen Metaphysik durchaus zugemuteten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ leisten sollen. Dieser Aufweis vermag dergestalt aber auch erst die Einheit von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ einzulösen. So wird sich zeigen: Vermag über den bloß „negativen Nutzen“ des kritischen Geschäfts hinaus das letzte Stadium der „Geschichte der reinen Vernunft“ mit dem darin eröffneten „praktisch-dogmatischen Überschritt“ seine (noch vorläufige) Vollendung zu erreichen,9 so werden darüber hinaus weiterführende systematische Gesichtspunkte bedeutsam. Sie machen deutlich, dass die in diesem Stadium geleisteten Differenzierungen letztendlich in ein selbst wiederum differenzierungsbedürftiges Gefüge der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ einmünden. Dergestalt erfährt jene in Kants systematischen Ausführungen durchwegs leitende „teleologische“ Perspektive noch eine bedeutende abschließende Akzentuierung. So erst vermag der solcherart unternommene „Ausgang von Kant“ eine angemessene Bestimmung des den „Weltbegriff der Philosophie“ vollendenden „höchsten Zwecks der Vernunft“ zu erreichen. Damit ist freilich ein weiter thematischer Bogen gespannt, der über die angezeigte Analogisierung der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ auf das „Ideal des höchsten Guts, als eine[n] Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ (im „zweiten Abschnitt“ des „Kanons der reinen Vernunft“: II 676 ff ), führt und dies sodann direkt mit den ethikotheologischen Motiven der „dritten Kritik“ verknüpft; derart wird letztendlich jene Verbindung des „vollständigen theoretischen Vernunftgebrauchs“ mit dem „vollständigen praktischen Vernunftgebrauch“ in einer teleologischen Begründungsfigur auf kritische Weise eingelöst, die in dem ethikotheologischen Gottesbegriff, der allein der Weltstellung des Menschen genügt, zum Abschluss kommt. Diese die Idee der „moralischen Teleologie“ explizierenden Bestimmungen sind freilich allesamt in der Weltstellung des Menschen als des daseienden „Endzwecks der Schöpfung“, ohne den die „Schöpfung eine bloße Wüste“ (V 567) wäre, wie in einem Brennpunkt vereinigt. Der Mensch als „Endzweck der Schöpfung“ erweist sich somit 9
In diesem Sinne hat noch der späte Kant zum Verhältnis von „Wissenschaft und Weisheit“ betont: „Wissenschaft. Maxime derselben: wie die Elephanten nicht eher einen Fuß aufheben (um weiterzuschreiten), bis sie fühlen, dass die übrigen drei feststehen (Prinzip der Kritik)“ (AA XXIII, 402). – Der in diesem III. Teil im Vordergrund stehende Zusammenhang zwischen dem Ertrag der „Kritik“, der Transzendentalphilosophie als dem „System der Vernunftideen“ und der „Ethikotheologie“ (als der Lehre vom „Endzweck der Vernunft“) ist noch in dem späten kantischen Hinweis auf den „Überschritt von der Transzendentalphilosophie zur allgemeinen Teleologie [,] d. i. der Lehre vom Endzwecke der menschlichen Vernunft im System ihrer reinen Erkenntnis apriori“ (AA XXII, 64) angezeigt.
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gleichsam als der existierende Ort, in dem jener „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ als „Endzweck der Metaphysik“ verankert ist – Perspektiven, die auch für denkwürdige Charakterisierungen der Weltstellung des Menschen im „opus postumum“ eine motivliche Anbindung eröffnen bzw. diese auch nahelegen. Es sind das von Kant in ethikotheologischem Kontext benannte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ und der Ausblick auf eine jenem existierenden „Endzweck der Schöpfung“ angemessene Gottesidee, die zugleich über den zunächst vorgegebenen Rahmen noch hinausweisen und so auf weitere unabweisliche Fragen führen. Nötigt doch die gebotene Einbeziehung der Erfahrung der verschiedenen Formen des „Zweckwidrige(n) in der Welt, was der Weisheit ihres Urhebers entgegengesetzt werden könnte“ (VI 106), gleichermaßen zu einer Erweiterung und Vertiefung jener Leitidee einer „moralischen Teleologie“, die damit natürlich auch den Status der „Ethikotheologie“ entscheidend modifiziert und das darin zur Sprache kommende „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ (V 609) noch radikalisiert: Diese zwar dem ethikotheologischen Kontext zugehörigen Themen finden allerdings erst im abschließenden VI. Teil ihre nähere Entfaltung. Ungeachtet dieser daraus resultierenden – theodizee-orientierten – späten ethikotheologischen Erweiterung und Zuschärfung, der schon das abschließende Kapitel dieses III. Teiles gewidmet ist, wird gleichwohl auch auf gravierende theoretische Defizite und grobe Missverständnisse hinzuweisen sein, die in Kants – der Ethikotheologie der „dritten Kritik“ zeitlich so naher – „Theodizee“-Schrift (aus dem Jahr 1791) nicht zu übersehen sind.10 Genauer besehen, so soll sich zeigen, läuft sein Programm einer „authentischen Theodizee“ letztendlich ohnedies auf die erklärte Absicht hinaus, diese Thematik von vermeintlichen Ansprüchen „einer Aufgabe zum Vorteil der Wissenschaft“ zu entlasten und sie nunmehr als „Glaubenssache“ (VI 119) auszuweisen, ohne die damit verbundenen Fragen und Provokationen preiszugeben. 10 Schon hier sei darauf hingewiesen: H. Busche hat in seiner Studie „Kants Kritik der Theodizee – eine Metakritik“ (2013) in scharfsinnigen Analysen auf überzeugende Weise den Nachweis erbracht, „dass Kants Versuch, das ‚Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee‘ nachzuweisen, seinerseits gründlich misslungen ist, und zwar primär aus drei Gründen: Erstens erweist sich Kant bei seinem vor dem ‚Gerichtshofe der Vernunft‘ geführten Prozess über die Reichweite der Anklage und Verteidigung bezüglich Gottes moralischer Vollkommenheiten als ein parteiischer Richter, der die Verteidigungsargumente der Theodizee über Gebühr schwach darstellt; der Prozess ist weit entfernt von einem fairen und regelkonformen Gerichtsverfahren, sondern gleicht eher einem kurzen Schauprozess. Zweitens überfrachtet Kant das Anliegen der Theodizee mit überzogenen Ansprüchen auf angebliche Einsichten rein aus Vernunft. Drittens schließlich leidet Kants Kritik an einer unzulänglichen Klärung der Kriterien, nach denen Theodizee als misslungen bzw. als gelungen zu betrachten ist“ (ebd. 232). Busche begnügt sich dabei also nicht mit dem auch von anderen Autoren geleisteten Aufweis des Widerspruchs, dass Kant noch in den „Vorlesungen über Rationaltheologie“ (bis Mitte der 1780er-Jahre) eine „Theodizee“ als möglich angesehen habe, während er in der Theodizee-Schrift wenige Jahre später zu einem „gegenteiligen Ergebnis gelangte“ (ebd. 233); er macht vielmehr immanente Widersprüchlichkeiten und gravierende Fehleinschätzungen in der kantischen Theodizee-Schrift geltend und verbindet damit nicht zuletzt den grundlegenden Einwand, dass Kant wiederholt, ungeachtet der von ihm beanspruchten Rolle des Richters in einem „Rechtsstreit“, stillschweigend und mit unzureichenden Argumenten gegen die Verteidiger der Möglichkeit einer „Theodizee“ Partei ergreife. Die detaillierten Argumente Busches in seiner „Metakritik“ an „Kants Kritik der Theodizee“ verdienen zweifellos eine eingehende Diskussion, die hier nicht in der erforderlichen Weise zu leisten ist.
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4. Im IV. Teil wird sodann ein – terminologisch mit der Kennzeichnung „existenzialanthropologisch“ angezeigter – Perspektivenwechsel bestimmend, der es, ungeachtet des engen Zusammenhanges mit den Leitthemen des III. Teiles, auch rechtfertigen mag, mit der darin maßgebenden subjekt-zentrierten Verankerung den 2. Band zu eröffnen. Denn mit jener im III. Teil dargelegten Analogisierung der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ und deren unterschiedlicher Orientierung an einem „vollständigen Vernunftgebrauch“11 ist einerseits zwar ein direkter Bogen zu Leitthemen der „Kritik der Urteilskraft“ gespannt; andererseits ist es die in der „Kritik der praktischen Vernunft“ fundierte und nunmehr auch in systematischer Hinsicht maßgebende „Freiheitslehre“, die hier in mehrfacher Hinsicht „dazwischen“ kommt und selbst auch noch andere notwendige Gesichtspunkte für die orientierungs-bedürftige menschliche „Existenz“ unverzichtbar macht. Während also jene beanspruchte Analogie der Wissens- und Hoffnungsfrage in Kants später „Ethikotheologie“ (nunmehr in der durch die „Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft“ „gebrochenen“ Reflexionsgestalt) ihre Entfaltung findet und diese „Ethikotheologie“ jene Analogie am Leitfaden der „moralischen Teleologie“ in der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ in systematischer Hinsicht auch zum Abschluss bringt, rückt solcherart eine bedeutsame komplementäre Problemperspektive in den Vordergrund: Als eine subjekt-zentrierte Perspektive steht sie unter den Vorzeichen dieser in der „Kritik der praktischen Vernunft“ maßgebend gewordenen, durch die „epistemische Priorität des Sittengesetzes gegenüber der Freiheit“ bestimmten „Freiheitslehre“. Ausgehend von dem zunächst verfolgten Aufweis Kants, „dass es reine praktische Vernunft gebe“ (IV 107), muss es die in seiner „zweiten Kritik“ geleistete Differenzierung des „Gegenstands der (reinen) praktischen Vernunft“ geradewegs verbieten, das in der „Kritik der praktischen Vernunft“ leitende Vorhaben auf die in der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“ maßgeblichen Themen zu beschränken. Denn im Blick auf die besondere „Beschaffenheit“ des Menschen, „mit der er wirklich ist“ (IV 113), bleibt der für das umfassende Programm einer „Kritik der praktischen Vernunft“ unauflösliche thematische Zusammenhang der „Analytik“ und der „Dialektik“ in der Differenzierung des „Gegenstands der reinen praktischen Vernunft“ bestimmend, weil auch nur dies ihm als einem „vernünftigen, aber endlichen Wesen“ genügt; es ist bekanntlich dieses Thema, das in dem zentralen kantischen Lehrstück über die „Bestimmung des Begriffs des höchsten Guts“ (IV 238 ff ) seine systematische Entfaltung findet. Auch dies wird näher zu verfolgen sein: Die schon in der Bestimmung der „Tugend“ als „Glückswürdigkeit“ anklingende Erweiterung über das „oberste Gut“ hinaus sowie die daran geknüpfte Begrenzung („Kritik“) praktischer Vernunftansprüche vermögen erst jene „subjekt-zentrierte“ Orientierungs-Perspektive zu eröffnen, die so „in concreto“ vor Augen führt, dass und wie „Moral also … unumgänglich zur Religion“ führt (IV 652) – eine Hinsicht, die jene in der kritischen Metaphysik entfaltete „moralische Teleologie“ (und deren
11 In diese Richtung weist wohl auch Refl. 6221 (AA XVIII, 511): „Der Vernunftglaube ist eher als der Vernunftbeweis. Beide gründen sich auf der Bestrebung der Vernunft zur Vollständigkeit“.
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verschiedene „Endzweck“-Aspekte) gleichsam „existenzialanthropologisch“12 übersetzt. Schon hier sei darauf hingewiesen: Mit dieser im IV. Kapitel im Vordergrund stehenden Kennzeichnung „existenzialanthropologisch“ soll eben vornehmlich die dort maßgebende subjekt-zentrierte („Ich“-)Perspektive angezeigt sein, die allerdings, im Blick auf die Weltstellung des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“, dabei den für die Einbeziehung der Dimension der „Leiblichkeit“ konstitutiven Aspekt der „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ des Lebendigen gebührend berücksichtigt und überdies verdeutlicht, dass dieser zur Charakterisierung der menschlichen „Weltstellung“ verwendete „Existenz“-Begriff offenbar nicht bloßes „Dasein“ im Sinne „faktischer Vorhandenheit“ meint. Dabei wird sich zeigen, wie jene zwar schon im „Kanon der reinen Vernunft“ (der „ersten Kritik“) bestimmenden metaphysischen Themen nunmehr im Kontext der neuen Freiheitslehre der „zweiten Kritik“ verortet sind und in ihrer – schon im Orientierungs-Aufsatz vorbereiteten – existenz-orientierenden Zielrichtung in der sogenannten „Postulatenlehre“ ihre Entfaltung finden. Offenbar wurde Kant, in entscheidender Weise durch eine Kritik des Theologen Pistorius inspiriert,13 erst während der Vorbereitung der 12 Zu dieser Bezeichnung „existenzialanthropologisch“ s. die einleitenden Bemerkungen im IV. Teil. Jenes „Erkenne dich selbst!“ gewinnt in dieser hier maßgebenden „Erste-Person-Perspektive“ noch einen besonderen Akzent; indes soll nicht verschwiegen werden, dass die für die Thematisierung dieses Anliegens gewählte Kennzeichnung „existentialanthropologisch“ in terminologischer Hinsicht (auch) eine gewisse Verlegenheit darstellt (s. dazu auch u. IV., Anm. 11). 13 Innerhalb einer vergleichsweise sehr kurzen Zeitspanne wurde Kant offenbar über die Konzeption der „Kritik der reinen Vernunft“ hinausgeführt, zumal bewusst gewordene Schwierigkeiten und notwendige Differenzierungen jedenfalls den Rahmen des „Kanons der reinen Vernunft“ sprengen mussten bzw. ihn auch zu einer notwendigen Selbstkorrektur veranlassten. Zunächst hatte Kant (im April 1786) freilich noch betont: „Änderungen im Wesentlichen werde ich nicht zu machen haben, weil ich die Sachen lange genug durchgedacht hatte, ehe ich sie zu Papier brachte, auch seitdem alle Sätze, die zum System gehören, wiederholt gesichtet und geprüft, jederzeit aber für sich und in ihrer Beziehung zum Ganzen bewährt gefunden habe“ (AA X 441). Diese Einschätzung Kants hat sich offenbar schon wenig später geändert; dies hat ihn zu der Überzeugung geführt, dass eine „zweite, hin und wieder verbesserte Auflage“ nicht genügen kann. Die im Mai 1786 erschienene Rezension der kantischen „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (bes. zu deren 3. Abschnitt) durch Pistorius, ebenso seine Abkehr von leitenden religionsphilosophischen Aspekten seiner „ersten Kritik“ – nicht zuletzt die in seinem (auf Jacobi antwortenden) Aufsatz „Was heißt sich im Denken orientieren?“ (Oktober 1786) in den Vordergrund tretenden Perspektiven – haben Kant wohl in besonderer Weise zu einer grundsätzlichen Neukonzeption dieser Themen veranlasst, die freilich den Rahmen einer bloßen Neuauflage der „ersten Kritik“ sprengen musste. Nicht zuletzt sind es unabweisliche Themen – vornehmlich der „Begriff der Freiheit“ selbst –, die den im „Kanon der reinen Vernunft“ (der „ersten Kritik“) behandelten Fragen in sachlicher Hinsicht noch vorausgesetzt sind; sie machten es deshalb unumgänglich, die dort behandelten religionsphilosophischen Themen nunmehr im Anschluss an die neue Freiheitslehre der „Kritik der praktischen Vernunft“ aufzunehmen bzw. zu platzieren, zumal Letztere (und die daran anknüpfenden Probleme) sich nicht als bloßes „Einschiebsel“ (IV 111) bewältigen ließen, sondern tatsächlich ein „neues Gleis“ (ebd.) verlangten. Diese Themen führen – buchstäblich „prinzipiell“ – über Kants Ausführungen zum „Begriff der Freiheit nur im praktischen Verstande“ (II 674 ff ), die wir „aus Erfahrung“ kennen, im „Kanon der reinen Vernunft“ hinaus. Erst diese Analysen vornehmlich zum „Begriff der Freiheit“ vermochten es, die notwendigen „wahre[n] Glieder, die den Zusammenhang des Systems bemerklich machen und Begriffe, die dort [in der „ersten Kritik“] nur problematisch vorgestellt werden konnten, jetzt in ihrer realen Darstellung einsehen zu lassen“ (IV 112). Freilich, schon der in der „allgemeinen Anmerkung“ zur Paralogismen-Lehre (der zweiten Auflage) vorgenommene Hinweis, dass das unableitbare „bewundernswürdige Vermögen“ der Freiheit durch das „Bewusstsein des moralischen Gesetzes allererst offenbart“ wird (II 361), setzt
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geplanten „sehr umgearbeiteten“ zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“14 – die auch die ihm inzwischen bekannt gewordenen „Missdeutungen“ und „Unverständlichkeiten“ berücksichtigen wollte – die Notwendigkeit einer radikalen Umarbeitung der zunächst bestimmenden Gesamtkonzeption der „Kritik“ bewusst.15 Mit dieser von ihm nunmehr vollzogenen Korrektur seiner „Freiheitslehre“ war offenkundig – ein wichtiger Ertrag aus der im „dritten Stadium“ angesiedelten „Kritik“ – die Einsicht verbunden, den darin implizierten Folgerungen allein durch eine solche Neukonzeption gerecht werden zu können, die jedoch innerhalb der „Kritik der reinen Vernunft“ selbst nicht mehr einzulösen war,16 weil dies den ursprünglichen systematischen Rahmen sprengen musste. diese Neuorientierung voraus; auch wesentliche Äußerungen in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ über die der „Moral“ vorausgesetzte Freiheit (II 31 ff ) lassen den direkten Einfluss der Pistorius-Kritik erkennen; er erlaubt es nicht mehr, sich mit Kants Konzeption der „transzendentalen Freiheit“ einerseits und dem Rekurs auf die „praktische Freiheit“ andererseits zu begnügen. Interessant ist diesbezüglich Kants Hinweis in der Vorrede der „zweiten Kritik“, dass mit dem „durch die Tat“ aufgewiesenen „Vermögen der reinen praktischen Vernunft“ „auch die transzendentale Freiheit nunmehro“ feststehe (IV 107). Siehe dazu die erhellenden Analysen von Ludwig 2012. 14 M. Forschner betont: „In der Vorbereitung der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft arbeitet Kant daran, das in der ersten Auflage in der transzendentalen Methodenlehre über Freiheit, Gott und Sittlichkeit Gesagte im Sinne einer gegenüber der Kritik der reinen theoretischen Vernunft gleichgewichtigen und sachlich hinreichenden Kritik der reinen praktischen Vernunft auszudifferenzieren. […] Die Kritik der praktischen Vernunft ist demnach ganz offensichtlich [zunächst] als ein Bestandteil der Kritik der reinen Vernunft gedacht und im Zusammenhang von deren Überarbeitung zur zweiten Auflage entstanden“. Gleichwohl sei sie Kant „wohl in der Vorbereitung der zweiten Auflage dem Umfang nach aus den Fugen geraten. Die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft erscheint im Frühjahr 1787 deshalb ohne sie“ (Forschner 2010, 36). Es war jedoch hier nicht primär oder allein der aus den Fugen geratene „Umfang“ und das Bedürfnis, den (vor allem den „Begriff der Freiheit“ betreffenden) Missdeutungen der Kritiker der „ersten Kritik“ entgegenzutreten, entscheidend; vielmehr ist Kant offenbar im Jahr 1786 durch die Pistorius-Kritik die Notwendigkeit der neuen „Freiheitslehre“ mit allen Konsequenzen zunehmend bewusst geworden, die den ursprünglich vorgesehenen Rahmen der „Kritik der reinen Vernunft“ zuletzt wohl sprengen musste. Kants Überzeugung von einer radikalen Neukonzeption hat sich offenbar sukzessiv ausgebildet; andernfalls blieben auch seine von Forschner angeführten Bemerkungen (aus dem Herbst 1786 und Frühjahr 1787) im Grunde unverständlich. So zitiert Forschner den auf 21. November 1786 datierten kantischen Hinweis, dass „zu der in der ersten Auflage enthaltenen Kritik der spekulativen Vernunft in der zweiten Auflage noch eine Kritik der reinen praktischen Vernunft hinzukommen“ werde, „die dann ebenso das Prinzip der Sittlichkeit wider die gemachten oder noch zu machenden Einwürfe zu sichern und das Ganze der kritischen Untersuchungen, die vor dem System der Philosophie der reinen Vernunft vorhergehen müssen, zu vollenden, dienen kann“. Und in einem von Forschner ebenfalls angeführten Kant-Brief von Ende Juni 1787 heißt es: „Ich habe meine Kritik der praktischen Vernunft so weit fertig, dass ich sie denke künftige Woche nach Halle zum Druck zu geben“ (zit. n. Forschner 2010, 36). 15 Der Grund für die Neuaufnahme des „kritischen Geschäfts“ war somit ein sachlich notwendiger; d. h. es waren keineswegs lediglich (oder auch nur vorrangig) „die Missverständnisse und Entstellungen seiner Denkweise, die ihm in zahlreichen und selbst verständigen Kritiken entgegentraten. Um ihnen zu begegnen, wollte er nun doch die schwierigste Aufgabe angreifen, das Moralprinzip als aus derselben gemeinschaftlichen Quelle der Vernunft entsprungen darzustellen, wie die Prinzipien der theoretischen Erkenntnis … Vorübergehend scheint er versucht zu haben, diese Einheit der Vernunftgesetzgebung dadurch auch äußerlich zum Ausdruck zu bringen, dass er die praktische Gesetzgebung in die zweite Auflage der Kr.r.V. mit hineinarbeitete. Doch muss dieser Plan bald aufgegeben sein“ (Wundt 1924, 317). 16 Auch in solcher Hinsicht wird sich das Urteil K. Fischers bestätigen, „dass auf dem Wege durch die drei kritischen Hauptwerke das System eine Ausbildung gewonnen hat, für welche die erste Grundlage weder berechnet war noch ausreicht“ (ders., Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 5, Heidelberg 1899, 622, zit. n. Hutter 2003, 171, Anm. 135).
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Infolge der so resultierenden Neukonzeption musste auch die „bloß praktische“ „zweite Frage“ „Was soll ich tun?“ einen neuen Stellenwert gewinnen. Neben jener bestimmend gewordenen neuen „Freiheitslehre“ war es vornehmlich die von Kant inzwischen als notwendig angesehene Ablösung von der noch im „Kanon der reinen Vernunft“ maßgebenden Bestimmung des „höchsten Gutes“ als „Triebfeder der Moral“, die ihm offenbar eine solche neue Positionierung als unumgänglich erscheinen ließ (mit der vermutlich auch eine Neueinschätzung des „stoischen Moralprinzips“ bzw. der Lehre vom „höchsten Gut“ verbunden war). Die aus den derart bestimmend gewordenen Motivlagen erst hervorgegangene „Kritik der praktischen Vernunft“ machte es – gegenüber der „ersten Kritik“ und der „Grundlegung …“ – unvermeidlich, auf dem Fundament der neuen „Freiheitslehre“ jene zunächst im „Kanon der reinen Vernunft“ platzierten „Vernunftideen“ und daran geknüpfte religionsphilosophische Themen nun in den „zweiten Teil“ der Kritik der praktischen Vernunft zu verlagern, die so auch einen neuen systematischen Status und Gehalt gewinnen und so auch erst „für die Religion tauglich“ werden. Ausgehend von dieser „subjekt“-zentrierten Orientierung soll die dadurch eröffnete Perspektive sodann auf eine Weise entfaltet werden, die jene zwar schon für den „Endzweck der Metaphysik“ maßgebende ethikotheologische Reflexionsgestalt – gleichsam als eine „existenzialanthropologische“ Wendung derselben – nun auf dem gesicherten Fundament der neuen „Freiheitslehre“ in eine religionsphilosophische Perspektive im engeren Sinne zu transformieren vermag und dergestalt jene ethikotheologischen „Endzweck“-Differenzierungen als existenz-orientierende „Bewandtnis“-Perspektiven ausweist. Bringt die Ethikotheologie am Leitfaden der „moralischen Teleologie“ die Entfaltung des „Endzwecks der Metaphysik“ als „System der Vernunftideen“ zum Abschluss, so ist es diese „Freiheitslehre“ als „archimedischer Punkt“, die diese existenzialanthropologische Perspektive begründet und so erst den Aufweis leistet, dass und wie „Moral unumgänglich zur Religion“ führt, d. h. die beiden Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ gemäß diesem nicht zu nivellierenden „Erste-Person-Aspekt“ verbindet. Münden jene im III. Teil entfalteten „teleologischen Bestimmungen“ im Ausgang von der Weltstellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ konsequenterweise in den ethikotheologischen Gottesbegriff, so findet die leitende Perspektive, wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“, in dem Aufweis ihren Abschluss, wie „Gott ein Gegenstand der Religion wird“ (IV 263 Anm.). In dieser zur „moralischen Teleologie“ und Ethikotheologie komplementären „Religionsbegründung“ wird die nachkantische Frage, „wie die Welt für ein solches vernünftiges [moralisches] Weltwesen beschaffen sein muss“, somit gewissermaßen in eine subjekt-zentrierte Perspektive auf eine Weise transformiert, der jene kantische Unterscheidung und Vermittlung von „Theologie“ und „Religion“ (V 614 f ) genau entspricht. Die moralphilosophisch verankerte Religionsphilosophie der „zweiten Kritik“ und die daran geknüpften thematischen Weiterführungen in der „Religionsschrift“ erhalten dadurch besondere Akzente und eröffnen so eine zu jener Analogisierung der „Wissens“und „Hoffnungsfrage“ komplementäre Existenz-Perspektive, die mit solchem subjektverankerten Perspektivenwechsel jene „teleologische Vernunftkonzeption“, d. i. die
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Explikation der „teleologischen Verfassung der Vernunft“, nunmehr in den Standpunkt „bewussten Lebens“ „übersetzt“ und in der Folge auch den von Kant sogenannten „Vernunftglauben“ näher entfaltet, als dessen Fundament er schon früh die „Selbsterhaltung der Vernunft“ geltend gemacht hat17. Es ist dieser „Vernunftglaube“, der auf diesem religionsphilosophischen Boden sodann als „ratio essendi“ begründeter Hoffnung ausgewiesen wird, aus solcher Vermittlung auch erst seine spezifische Eigenart gewinnt und näherhin als ein „Hoffnungsglaube“ bestimmbar wird. Jene schon früh in programmatischer Absicht formulierte Kennzeichnung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ findet so in gestufter Form des „zweckmäßigen Gebrauchs der Vernunft“ ihre existenz-verankerte Entfaltung und findet erst mit der späten Charakterisierung des „Zweifelglaubens“ in der „Methodenlehre der Kritik der teleologischen Urteilskraft“ (V 604) ihren Abschluss – bezeichnenderweise schon an der Schwelle zu Kants Theodizee-Aufsatz, obgleich Kant selbst diesen naheliegenden sachlichen Zusammenhang nicht weiter verfolgt hat. Eine solche als „existenzialanthropologisch“ ausweisbare Perspektive soll aber auch in systematischer Hinsicht den Blick dafür schärfen, dass nur durch eine Rückbindung in die umfassendere ethikotheologisch verankerte Vernunftperspektive und in gebotener Rücksicht auf die unverzichtbaren fundamentalphilosophischen Aspekte die Postulatenlehre (mit ihrer Idee des „höchsten Gutes“ und der darin leitenden Frage „Was darf ich hoffen?“) vor Engführungen bewahrt werden kann. Diese auf dem Fundament der neuen „Freiheitslehre“ eröffnete – gleichwohl auf eine fundamentalphilosophische Fundierung rückverwiesene – existenzialanthropologische Verankerung der Postulatenlehre vermag auch nur so in diesem Kontext der Schlüsselthematik „Natur und Freiheit“ gerecht zu werden. Derart bleiben also die Themen der „Dialektik der praktischen Vernunft“ auf diese fundamentalphilosophischen Aspekte hin transparent18 und können auch nur so eine moralphilosophische Engführung der darin leitenden Fragestellungen vermeiden. Von systematischem Interesse ist dabei dies: Es ist solche unverzichtbare fundamentalphilosophische Rückbesinnung auf jene Weltstellung des Menschen nach der „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ (IV 113), die so die in der neuen „Freiheitslehre“ der „zweiten Kritik“ begründete Lehre vom „höchsten Gut“ mit den im „zweiten Teil“ der „Kritik der Urteilskraft“ in den Vordergrund tretenden Motiven – das heißt die im Menschen als dem existierenden „Endzweck der Schöpfung“ unauflösliche Einheit der „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ (der „Natur“) und des „Systems der Zwecke“ (der „Freiheit“) – zu verknüpfen vermag. Dies mag auch verdeutlichen, dass die an der Frage „Was ist der Mensch?“ (III 448) orientierte Zuschärfung der Postulatenlehre ebenso den Blick auf diese unumgängliche Basis der kantischen Religionsphilosophie lenken muss. Erst vor dem Hintergrund der näher explizierten Idee einer „moralischen Teleologie“ 17 Refl. 2446, AA XVI, 371 f. 18 Dabei sollen durchaus sachlich plausible Anknüpfungspunkte zu der von H. Barth vertretenen Auffassung sichtbar werden: „Das Sein und die Bestimmung des Menschen wurde zum Gegenstande einer Fragestellung, in der sich das, was wir heute ‚Existenz‘ nennen, deutlich abzuzeichnen begann. Kants Kritik der praktischen Vernunft wurde zum Schauplatz einer nicht mehr ontologischen, sondern existenzphilosophischen Dialektik“ (H. Barth 1965, 627).
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und des darin maßgebenden Motivs der „Selbsterhaltung der Vernunft“ kann somit in einer solchen existenzialanthropologischen Fokussierung auch der systematische (und ebenso der „Rangordnung der Zwecke“ genügende) Stellenwert der in der „Dialektik der reinen Vernunft“ vorgenommenen Kennzeichnung des „höchsten Gutes“ angemessen verortet und expliziert werden, die auch „eudämonistische“ Verkürzungen dieser Idee vermeiden kann. Desgleichen verlangt dies die Rücksicht darauf, dass das Programm einer „Kritik der praktischen Vernunft“ auch als notwendige Legitimierung und Limitierung praktischer Vernunftansprüche verstanden werden darf und somit ebenso gegen diesbezügliche Anmaßungen und „Vermessenheiten“ gerichtet ist. Näherhin wird dabei auch dies zu verfolgen sein (bes. IV., 3.): Wenn nunmehr also nicht lediglich für die Beweisbarkeit des „Daseins Gottes“, sondern auch für diejenige der „Realität der Freiheit“ auf dem Gebiet der „theoretischen Vernunft“ kein verlässliches Fundament verfügbar ist, so verändert sich mit dem fortan (auf dem Fundament der neuen „Freiheitslehre“) allein als möglich angesehenen Ausgang vom Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ (als der „ratio cognoscendi“ der Freiheit: IV 108, Anm.) auch die kantische Begründungsarchitektonik: Denn dann steht nicht nur erst durch das „Vermögen“ der „reinen praktischen Vernunft“ auch „die transzendentale Freiheit nunmehro fest“ (IV 107), sondern in solchem „subjekt“-zentrierten Ausgang von der Moralität wird (über den Aufweis des „höchsten Gutes“ als dem „ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft“) nunmehr auch erst jene grenzbegrifflich bestimmte Gottesidee bestimmbar und so allererst „Gott ein Gegenstand der Religion“. Erst der Aufweis des „Primat(s) der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung [!] mit der spekulativen“ (IV 249) führt sodann auf die Postulatenlehre, weil (was nicht selten übersehen wird) doch diese „Verbindung“ den Status der „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ allererst zu sichern vermag. Dabei, so soll sich zeigen, ist freilich genau darauf zu achten, dass davon die postulatorische Legitimation des „Daseins Gottes“ als eine der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“ selbst noch zu unterscheiden bleibt – nämlich als eine „Abnötigung“, wodurch nach Kant die (diese „Ideen“ zwar „selbst hervorbringende“) Vernunft denkwürdigerweise gewissermaßen „außer sich gerät“, dergestalt sich aber auch postulatorisch begrenzt. Die kantische (von ihm als Platner-Zitat affirmierte) Bemerkung: „In dem Wirklichen allein findet Unbegreiflichkeit statt“ (III 223 Anm.), erhält in solchem Kontext noch einen besonderen Stellenwert. Sofern innerhalb der sich zwar in den „Ideen selbst schaffenden Vernunft“ eben das „Dasein Gottes“ selbst (als „absolute Position“) nicht verortbar ist, darf in gewisser Weise wohl gesagt werden, dass Letzteres sich der Vernunft „entzieht“ – ohne dass dies indes als ein „Sich-Entziehen“ „behauptend“ geltend gemacht werden dürfte; denn ein solcher Anspruch liefe erneut auf eine heimliche „suppositio absoluta“ hinaus, die so lediglich eine „subtilere Form“ eines „dogmatischen Trotzes“ widerspiegelt. Schon diese Hinweise mögen verdeutlichen, dass die im III. Teil entfalteten Aspekte der kantischen Ethikotheologie (mit den darin im Vordergrund stehenden „teleologischen“ Perspektiven der neu begründeten kritischen „Metaphysik“) und die im engeren Sinne religionsphilosophischen Überlegungen des IV. Teils ungeachtet der darin unterschiedenen „perspektivischen Hinsichten“ untrennbar aufeinander bezogen bleiben (was auch in den zahlreichen Querverweisen sichtbar werden soll). Diese im III. und (dem umfangreichs-
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ten) IV. Teil im Vordergrund stehenden Themen stellen das Kernstück dieser Studie dar; ihre Entfaltung zielt auf die systematische Verortung und Fundierung des Themas „Religion“ innerhalb der kantischen Gesamtsystematik ab. Zuletzt soll sich freilich erweisen: Es sind vornehmlich die Schlusspartien der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“, die diese unterschiedlichen Problemperspektiven der „praktisch-dogmatischen Metaphysik“ (der „Ethikotheologie“) und jene als „existenzialanthropologisch“ charakterisierte „Erste-Person-Perspektive“ (mit der darin verankerten Religionsphilosophie im engeren Sinne) zuletzt noch einmal in denkwürdiger Weise zusammenführen bzw. fokussieren; bezeichnenderweise knüpfen sie thematisch an die früheren Überlegungen zum „Fürwahrhalten aus einem Bedürfnis der reinen Vernunft“ (in der „zweiten Kritik“: IV 276 ff ) an und führen diese (in den §§ 90 f der „Kritik der Urteilskraft“) noch weiter. Überdies soll sich zeigen: Kant selbst eröffnet in diesen Themenfeldern Wege, welche motivlich über den ethikotheologischen „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ noch hinausweisen. Ein besonderer – diesen IV. Teil beschließender – religionsphilosophischer Gesichtspunkt resultiert freilich in Aufnahme der schon im I. Teil angezeigten notwendigen Einbindung der Ethik (als eines „Systems der Zwecke der Freiheit“ bzw. der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“) in den „Weltbegriff der Philosophie“ (als die Lehre von den „wesentlichen und höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft“). Dies macht eine motivliche Erweiterung des ethikotheologischen Rahmens unumgänglich, in der die Verbindung der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ nun noch eine besondere Akzentuierung erfährt. Diese Einbeziehung der im engeren Sinne so zu nennenden Ethik (der darin entfalteten „unbedingten Zwecke“) lässt es auf dem Fundament jener in den Teilen III und IV entwickelten Perspektiven als nicht unplausibel erscheinen, dass die Hoffnungs- und Gottesthematik daraus noch wichtige weiterführende Akzente erhält. Kantische Motive aus dem späten „Gemeinspruch-Aufsatz“ und der „Tugendlehre“ der „Metaphysik der Sitten“ eröffnen hier bedeutsame religionsphilosophische Ausblicke. Sie dürfen in dem auch für diese religionsphilosophischen Grenzgänge beanspruchten „Ausgang von Kant“ ebenso wenig ignoriert werden, zumal dadurch jene Konzeption einer Ethikotheologie noch eine entscheidende motivliche Erweiterung findet; jene späten kantischen Motive sind nicht zuletzt im Blick auf die bei Kants Nachfolgern in den Vordergrund tretenden religionsphilosophischen Themen von besonderem Interesse. 5. Im Anschluss an diese „existenzialanthropologisch“ verankerten religionsphilosophischen Erkundungen verdienen sodann noch andere Aspekte der kantischen Religionsphilosophie besondere Beachtung, die jene im IV. Teil vorrangigen Themen weiterführen und dabei besondere „Grenz-Aspekte“ in den Vordergrund rücken. Die solcherart eröffneten religionsphilosophischen Grenzgänge legen es in solchem Ausgang zunächst nahe, die ebenfalls erst innerhalb jenes „dritten Stadiums“ der Metaphysik von Kant ausdrücklich vollzogene Unterscheidung des Programms einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von der „Religion aus bloßer Vernunft“ aufzunehmen und sie auch in einer systematischen Hinsicht zu situieren. Diese (in der Kant-Literatur mitunter vernachlässigte) Unterscheidung, auf die Kant selbst allerdings größten Wert gelegt hat (vgl.
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die Anmerkung zur Vorrede des „Streits der Fakultäten“: VI 267 f ), spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie diejenige zwischen der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und der „Geschichte der reinen Vernunft“; ihr wächst einerseits im Blick auf eine als „regulative Idee“ auszubildende Idee einer „Religionsgeschichte“ eine besondere Bedeutung zu und sie erlaubt es andererseits auch, manche unübersehbare Engführungen der kantischen Religionsphilosophie zu vermeiden bzw. zu überwinden. Weitere Ausführungen zu diesen im V. Teil unternommenen religionsphilosophischen Grenzgängen nehmen insbesonders von der bemerkenswerten kantischen Kennzeichnung eines „reflektierenden [nicht: „reflektierten“!] Glaubens“ (IV 704, Anm.) ihren Ausgang. Sie verbinden die Konzeption des „Vernunftglaubens“ mit besonderen „Selbstbegrenzungs“-Aspekten und schließen diese wiederum mit jenen schon im IV. Teil benannten Motiven zusammen. Überdies treten solcherart weitere religionsphilosophische und auch theologische Themen aus der kantischen „Religionsschrift“ und auch aus späteren (kleineren) religionsphilosophischen Schriften ins Blickfeld. Es sind nicht zuletzt diese in Kants späteren – in der Regel weithin vernachlässigten bzw. als bloß „populär“ abgewerteten – Texten behandelten religionsphilosophischen Themen, die jene existenzialanthropologische Verankerung der „Religion“ bestätigen und überdies bemerkenswerte religionshermeneutische Einsichten und Absichten Kants sichtbar machen; bringt er darin doch auch traditionelle theologische Lehrstücke in philosophischer „Übersetzung“ existenz-erhellend auf eine Weise zur Sprache, die weiterführende Problemakzentuierungen nahelegt. Dabei soll sich auch erweisen, dass so manche Fehleinschätzung der kantischen Religionsphilosophie in einer Ausblendung ebendieser späten Motive begründet ist. Die derart erstrebte Verknüpfung dieser religionsphilosophischen Themen mit dem „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ und der nach Kant allein dadurch gewährleisteten „Selbsterhaltung der Vernunft“ führt so zuletzt darauf: Die ebenso zu leistende Selbstreflexion und Selbstbegrenzung von (auch) praktischen Vernunftansprüchen zeigt, „an den Grenzen der Vernunft“, einen zwar von ihr selbst eröffneten, jedoch notwendig leer gehaltenen Platz an, den sie eben nicht mehr selbst einzunehmen vermag, sondern lediglich „reflektierend“ offenhalten kann – ein für Kants Religionsphilosophie in der Tat entscheidender, obgleich nicht selten vernachlässigter Aspekt, der auch das Verhältnis von „Philosophie und Religion“ betrifft. Derart soll sich zeigen, dass und wie Kants Religionsphilosophie durchaus für ein auch der praktischen Vernunft „fremdes Angebot“ und für daran geknüpfte Ansprüche sensibilisiert, die sich über diesen so eröffneten „leeren Raum“ als geschichtlicher Sinnvor- und als trans-ethischer Sinnüberschuss zur Geltung bringen und so in grenzbegrifflicher Absicht und Behutsamkeit thematisch werden. In dem auch für diese Themen bestimmenden Programm einer „Selbsterkenntnis der Vernunft“ ist die erstrebte „Selbsterhaltung der Vernunft“ in recht unterschiedlichen Ausformungen auch mit besonderen Aspekten einer „Selbstbegrenzung der praktischen Vernunft“ verknüpft, die wiederum jene philosophische Aneignung theologischer Motive ermöglicht und auch inspiriert.19 19 Das darin leitende Anliegen Kants ist nicht zu übersehen: Wie lässt sich unter den unwiderruflichen Voraussetzungen und den Maßstäben einer „aufgeklärten Denkungsart“ mit Themen der traditionellen
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Die Freilegung dieser unverzichtbaren religionsphilosophischen „Grenz-Themen“ und des eigentümlichen Status des „reflektierenden Glaubens“ (IV 704, Anm.) sind die vorrangigen Themen dieses V. Teiles. Der von Kant beabsichtigte Aufweis, „wie Moral unumgänglich zur Religion führt“, und die Legitimation derselben als „reine Vernunftsache“ (VI 338) verbindet sich dabei im Blick auf die „historischen Glaubensarten“ (genauer besehen: in Beschränkung auf das Christentum) mit dem elementaren Anliegen der Aufklärung, tradierte Lehren bzw. Ansprüche „bei Licht“ zu beurteilen, also sie selbst in diesem Sinne „aufzuklären“. Freilich, in dieser grenzgängerischen Absicht sollen in der weiteren Folge auch Anspruch und Reichweite des Programms einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ in ein neues Licht gerückt werden.20 6. Der abschließende VI. Teil nimmt sodann – und zwar in den konsequent ausgezogenen Linien jenes unverkürzten ethikotheologischen Programms und ihrer Verbindung mit jener existenz-orientierten Perspektive – erneut jene thematischen Fäden auf, die schon im Schlusskapitel des III. Teiles (III., 4.) zur Sprache kommen, und gibt diesen (der Idee einer „authentischen Theodizee“ zugehörigen) Fragen nunmehr – eben „am Ende“ – noch eine besondere Wendung: Jene schon im ethikotheologischen Kontext unabweislichen Bezüge zur Theodizee-Thematik gewinnen in der Spur der im IV. Teil im Vordergrund stehenden existenzialanthropologischen Perspektive als nunmehr so bestimmte „Glaubenssache“ eine besondere Akzentuierung – und zwar eine solche, die den Kernfragen der kantischen Postulatenlehre und dem darin entwickelten „Vernunftglauben“ noch eine besondere Zuschärfung abnötigt. Jene religionsphilosophische Leitthematik, dass und wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“, gewinnt so, im Kontext der nunmehr als „Glaubenssache“ bestimmten „authentischen Theodizee“, eine Endgestalt. Es soll sich zeigen: Das von Kant in ethikotheologischem Kontext ausgewiesene „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ (und dessen Orientierung an einem der Weltstellung des Menschen angemessenen „Begriff von einer Gottheit“: V 562) gewinnt aus der Verbindung der kantischen Bestimmung des „Glaubens“ („fides“: V 603 Anm.) als „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ mit jener Kennzeichnung der „authentischen Theodizee“ als „Glaubenssache“ eine eigentümliche Radikalität und konvergiert auf denkwürdige Weise mit Kants später Bestimmung des „Vernunftglaubens“ als „Zweifelglaube“. Am Ende“ ist es dieser von Kant in den Schlusspartien der „Ethikotheologie“ der „dritten Kritik“ – also gewissermaßen schon an der Schwelle zur wenig später folgenden „Theodizee“-Schrift – ausgewiesene Status des „Zweifelglaubens“ als „überwiegendes praktisches Fürwahrhalten“ (V 604), der sich als bzw. im Widerstand gegen den von ihm so bezeichneten „Vernunftunglauben“ formiert und auch erhält. Metaphysik und den „historischen Glaubensarten“ in kritischer Absicht auf eine Weise umgehen, dass diese nicht von vornherein als überholte Bewusstseinsgestalten von gestern erscheinen bzw. als solche abgetan werden müssen? 20 Andere wichtige Themen der kantischen Religionsphilosophie – wie etwa Kants Lehre vom „radikal Bösen“, seine Konzeption des „ethischen Gemeinwesens“ sowie seine Idee eines „religiösen Kosmopolitismus“ –, die jedoch in systematischer Hinsicht vergleichsweise von untergeordneter Bedeutung sind, bleiben hier weithin ausgeblendet bzw. werden nur beiläufig miteinbezogen.
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Vor solchem Hintergrund werden sodann die Konturen einer besonderen Gestalt der „negativen Theologie“ sichtbar, die infolgedessen Kants „Hiob“ (gemäß der Bedeutung des Hiob-Namens: „Wo ist Gott?“) geradezu als die „Personifikation“ des „Unbedingturteilen-Müssens“ sowie des daran geknüpften „Postulates der reinen praktischen Vernunft“ erscheinen lässt. In dieser existenz-verankerten Hinsicht verwandeln sich die (von Kant schon in der „ersten Kritik“ so bezeichneten) „Kardinalsätze“ „Es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben“ – in der Tat die von ihm so bezeichneten eigentlichen „Angelpunkte der Metaphysik“ – selbst in unabweisliche theodizee-sensible „Kardinalfragen“, die jenem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ erst genügen – freilich wiederum „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“.21 Damit rückt in der Folge auch Kants späte Kennzeichnung des Menschen als „copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ („Welt und Gott“) in ein besonderes Licht. Als solche „copula“ bringt sich die „Authentizität“ des postulatorischen „Ich will, dass ein Gott sei …“ nunmehr in der Frage „Wo bleibt Gott?“ auf der Basis jenes „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ und des „Zweifelglaubens“ zur Geltung; dergestalt werden die Umrisse einer in den Vordergrund rückenden „negativen Theologie“ sichtbar, in der so grundlegende Bestimmungen der Gottesthematik und des „Vernunftglaubens“ bzw. der „Selbstbegrenzung der praktischen Vernunft“, von denen in den vorausgehenden Teilen die Rede war, „aufgehoben“ sind. Damit – das heißt wiederum: in solchem „Ausgang von Kant“ – erhält auch noch jene späte „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ (III 632) eine besondere Gestalt und gibt demgemäß auch dem von Kant schon sehr früh in programmatischer Absicht benannten Thema der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ ein neues Gewicht. Gewiss, auch ein diesbezüglich beanspruchter „Ausgang von Kant“ mag als gewagt erscheinen. Gleichwohl sollten auch diese abschließenden – über diejenigen des V. Teiles noch hinausweisenden – „Grenzgänge“ als mit dem Geist der „kantischen Philosophie“ durchaus verträglich ausgewiesen werden. Mehr noch: Derart soll sich im abschließenden VI. Teil auch zeigen, dass ohne eine derartige theodizee-sensible Erweiterung, Vertiefung und „Brechung“ der kantischen Ethikotheologie letztendlich auch jenes leitende Programm einer „Selbsterhaltung der Vernunft“ gegenüber dem beharrlichen Anspruch jenes „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ (V 609) kaum aufrechtzuhalten wäre. Nicht zuletzt für die in diesem abschließenden VI. Teil im Vordergrund stehenden Überlegungen muss jener im Untertitel dieses Buches angezeigte „Ausgang“ in einem weiten Sinne verstanden werden – denn zweifellos sind diese von Kants Ethikotheologie und seiner Theodizee-Schrift ausgehenden Überlegungen und die daran geknüpften Motivlinien in Kants einschlägigen Texten nicht direkt zu finden. Gleichwohl hofft der Verfasser den Nachweis erbringen zu können, dass sie den von Kant selbst angezeigten bzw. verfolgten Problemperspektiven nicht nur nicht widersprechen, sondern in Aufnahme und 21 Dabei sollte die religionsphilosophisch akzentuierte Selbstverortung Kants „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ zeigen, dass er sich wohl weder im Rang eines Kirchenlehrers noch in der ihm von Nietzsche zugeschriebenen Rolle eines „Nihilisten mit [bloß] christlich-dogmatischen Eingeweiden“ (Nietzsche) wiedererkennen hätte können.
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Einleitung
in der „Spur“ kantischer Motive eine problemorientierte Anknüpfung sogar nahelegen. Ebendies soll anhand einiger markanter Problemlinien in diesem abschließenden VI. Teil versucht werden. Schon dieser einleitende Überblick sollte erkennen lassen, dass aufs Ganze gesehen – also an Kants Gesamtsystematik orientiert – religionsphilosophische Themen nicht nur zunehmend in den Vordergrund treten; Letztere haben sich – auf dem Weg von den „wesentlichen“ zu den „höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft“, auf den anschließenden „Grenzgängen“, bis hin zu den Leitthemen des abschließenden VI. Teiles – für den Aufbau und für die Entfaltung der Leitperspektiven des Buches als bestimmend erwiesen. Der weite thematische Bogen, der die sechs Teile des Buches umspannt, und der darin unternommene Versuch einer sach-orientierten Verknüpfung derselben sollte die leitende Absicht erkennen lassen, Kants Programm einer „Kritik der Vernunft“ und die daran geknüpfte Vermittlung des „Endzwecks der Metaphysik“ in den darin maßgebenden motivlichen Perspektiven insgesamt eben als ein solches „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ auszuweisen, das in der menschlichen Existenz verankert ist und in reflektierter Gestalt auch wieder in sie zurückführt. Demgemäß soll sich zeigen: „Endliche Vernunft“ entfaltet sich nach Kant in jenen berühmten „drei Fragen“; in solcher „Verfassung“ setzt sie sich freilich selbst schon voraus und lässt es sich derart lediglich an sich selbst gelegen sein (sie nimmt ein „Interesse an sich selbst“) . Davon ausgehend findet die „metaphysische Naturanlage“ des Menschen in der „moralischen Teleologie“ bzw. „Ethikotheologie“ sodann ihre systematische Explikation in den „praktischen Vernunftideen“: Artikuliert sich dergestalt „endliche Vernunft“ zunächst als „Bedürfnis der fragenden Vernunft“, so findet sie eine Antwort in der gebrochenen Gestalt der Postulatenlehre; deren „Glaubenssachen“ genügen allein dem Menschen als „vernünftigem Weltwesen“, sind ihm als solchem jedoch auch angemessen und machen so überdies eine „Selbstbegrenzung“ theoretischer und auch praktischer Vernunftansprüche sichtbar. Diese „Selbstbegrenzung“ der Vernunft wird sich als eine solche erweisen, in der (bzw. durch die) sie sich selbst einerseits als „endliche Vernunft“ selbst erhält und dennoch in dem so „Postulierten“ – als den der Vernunft „abgenötigten Voraussetzungen“ – in gewisser Weise „außer sich gerät“. Im letzten (sechsten) Teil soll der Blick auf diese – und zwar in durchaus mehrfacher Hinsicht – postulatorisch „außer sich geratende“ Vernunft unter den Vorzeichen der nunmehr auch als „Glaubenssache“ deklarierten „authentischen Theodizee“ noch eine besondere Zuschärfung erfahren, die den Anspruch und Status jener von Kant so genannten „Kardinalsätze“ radikal verwandelt und dementsprechend auch „endliche Vernunft“ auf sich zurück verweist. Kants frühe Kennzeichnung jener „Kardinalsätze“ als „Verbindlichkeit(en), die uns reine Vernunft auferlegt“ (II 681), wird sich im Kontext der späten Konzeption der „authentischen Theo dizee“ in einem durchaus produktiven Sinne als mehrdeutig erweisen; ebenso gewinnt sie derart jedoch – unerwartet und gleichermaßen unvermeidlich – einen unüberhörbar provokanten Sinn. Es sind in der Tat von „der reinen Vernunft auferlegte (!) Verbindlichkeiten“, die „am Ende“ jene postulatorisch gebrochenen Antworten für ein „vernünftiges Weltwesen“ erneut und unumgänglich in subjekt-zentrierte „auferlegte“ Fragen verwandeln, die alles „Vernünfteln“ und damit verbundene „Vermessenheiten“ verbieten.
I. Teil: Kants Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ und das Leitbild einer „Archäologie der Vernunft“
1. Der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ sich herausbildende „Vernunftbegriff in abstracto“ und Kants Differenzierung verschiedener „Stadien“ in der neueren Metaphysik Den schon in der „Architektonik der reinen Vernunft“ ausgesprochenen Hinweis auf eine „sich bloß auswickelnde Vernunft“, d. i. auf eine „allmähliche Entwickelung der menschlichen Vernunft“1 hat Kant in der „transzendentalen Methodenlehre“ sodann zu der selbst als „Vernunft-Idee“ zu verstehenden „Geschichte der reinen Vernunft“ weitergeführt und präzisiert (II 709 ff ). Damit sei freilich zunächst lediglich „eine Stelle“ benannt, „die im System übrig bleibt, und künftig ausgefüllt werden muss“ (II 709)2; die mit dieser Idee einer „Geschichte der reinen Vernunft“ angezeigte vorläufige „Leerstelle“ darf näherhin, wie Kant später ausdrücklich betonte, im Sinne einer „philosophischen Archäologie“ verstanden werden: „Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selbst nicht his torisch oder empirisch, sondern rational d. i. a priori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft aufstellt, so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählung, sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie.“3 1
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XX, 340 (= Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik), vgl. ebd. XX 342: „Ob sich ein Schema zu der Geschichte der Philosophie a priori entwerfen lasse, mit welchem die Epochen die Meinungen der Philosophen aus den vorhandenen Nachrichten so zusammentreffen, als ob sie dieses Schema selbst vor Augen gehabt und darnach in der Kenntnis derselben fortgeschritten wären. Ja! Wenn nämlich die Idee einer Metaphysik der menschlichen Vernunft unvermeidlich aufstößt und diese ein Bedürfnis fühlt sie zu entwickeln diese Wissenschaft aber ganz in der Seele obgleich nur embryonisch vorgezeichnet liegt. […] Ob die Geschichte der Philosophie selbst ein Teil der Philosophie sein könne oder der Geschichte der Gelehrsamkeit überhaupt sein müsse. […] Eine Geschichte der Philosophie ist von so besonderer Art, dass darin nichts von dem erzählt werden kann was geschehen ist ohne vorher zu wissen was hätte geschehen sollen mithin auch was geschehen kann. Ob dieses vorher untersucht worden sei oder man aufs Geratewohl vernünftelt habe. Denn es ist nicht die Geschichte der Meinungen die zufällig hier oder da aufsteigen sondern der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft“ (XX, 343). Von einer „philosophischen Geschichte der Philosophie“ (die eben wohl nur eine „Geschichte der reinen Vernunft“ sein könnte) ist bei Kant wiederholt die Rede (s. u. Anm. 3). Siehe dazu Kolmers Ausführungen zu den „Schritte(n) in der Kantischen Philosophiegeschichtsphilosophie“: Kolmer 1998, 264 ff. Auf diese erst noch „auszufüllende Stelle“ im System (II 709) rekurrierte Kant offensichtlich der Sache nach auch in der späten Abhandlung über „die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat“ (III 587 ff ). Vgl. dazu die erläuternden Bemerkungen Mohrs in: Mohr 2004 I, 373 ff, und Mohr 2004 III, 559 ff mit entsprechenden Text-Verweisen. AA XX, 341. – „Eine Geschichte der Philosophie ist von so besondrer Art, dass darin nichts von dem erzählt werden kann, was geschehen ist, ohne vorher zu wissen, was hätte geschehen sollen, mithin auch, was geschehen kann. Ob dieses vorher untersucht worden sei oder man aufs Geratewohl vernünftelt habe. Denn es ist nicht die Geschichte der Meinungen, die zufällig hier oder da aufsteigen, sondern der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft. – Man will nicht wissen, was man vernünftelt, sondern was man durch Vernünfteln, durch bloße Begriffe ausgerichtet hat. – Die Philosophie ist hier gleich als Vernunftgenius anzusehen, von dem man verlangt, zu kennen, was er hat lehren sollen und ob er das
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I. Teil: Kants Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“
Damit wollte Kant gleichermaßen den Nachweis dafür erbringen, dass die menschliche Vernunft auch in ihrer philosophischen „Reflexionsgestalt“ als bzw. in der „Geschichte der reinen Vernunft“ (gemäß dem „Vernunftgebrauch in abstracto“)4 einen Entwicklungsund Läuterungsprozess durchlaufen hat, wodurch auch die „philosophischen Ideen mehr bestimmet und gereiniget wurden.“5 In dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ soll somit ein bemerkenswerter Transformations- und Abstraktionsprozess nachvollziehbar werden, der, im Sinne der einem „ursprünglichen Keim“ (II 697) immanenten Bestimmungen, die Ausbildung und zuletzt auch das reflexive „Zu-sich-Kommen“ des „szientifischen Vernunftbegriffs“6 in einer (selbst regulativen) Geschichtsperspektive leistet. In diesen Ideen zunächst „in abstracto“ zu sich kommend, vermochte philosophische Refle-
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geleistet hat. – Um dahinter zu kommen, muss man untersuchen, was und warum man an der Metaphysik für ein und so großes Interesse bisher genommen hat. Man wird finden, dass es nicht die Analysis der Begriffe und Urteile, die sich auf Gegenstände der Sinne anwenden lassen, sondern das Übersinnliche sei, vornehmlich, sofern darauf praktische Ideen gegründet sind“ (AA XX, 343). „Eine historische Vorstellung der Philosophie erzählt also wie man und in welcher Ordnung bisher philosophiert hat. Aber das Philosophieren ist eine allmähliche Entwickelung der menschlichen Vernunft und diese kann nicht auf dem empirischen Wege fortgegangen sein oder auch angefangen haben und zwar durch bloße Begriffe. Es muß ein Bedürfnis der Vernunft (ein theoretisches oder praktisches) gewesen sein, was sie genötigt hat, von ihren Urteilen über Dinge zu den Gründen bis zu den ersten hinaufzugehen“ (AA XX, 340). Vgl. dazu auch Kants beiläufigen Hinweis in seinem „Kurze(n) Abriss einer Geschichte der Philosophie“ auf die in der Geschichte der menschlichen Vernunft sich ausbildende „speculative Vernunfterkenntnis“ als „Erkenntnis des Allgemeinen in abstracto“ im Unterschied zum „gemeinen Vernunftgebrauch“ – eine Unterscheidung, die die „Geschichte der reinen Vernunft“ (und ihre „Begriffe in abstracto“) von der religionsgeschichtlichen Entwicklung (deren „Begriffen in concreto“) abgrenzbar macht. Es waren nach Kant die (entmythologisierenden) Griechen, die „zuerst versucht“ haben, „nicht an dem Leitfaden der Bilder die Vernunfterkenntnisse zu cultiviren, sondern in abstracto; statt dass die andern Völker sich die Begriffe immer nur durch Bilder in concreto verständlich zu machen suchten. So gibt es noch heutigen Tages Völker, wie die Chinesen und einige Indianer, die zwar von Dingen, welche bloß aus der Vernunft hergenommen sind, als von Gott, der Unsterblichkeit der Seele u. dgl. m. handeln, aber doch die Natur dieser Gegenstände nicht nach Begriffen und Regeln in abstracto zu erforschen suchen. Sie machen hier keine Trennung zwischen dem Vernunftgebrauch in concreto und dem in abstracto“ (III 450 f ). In dieser Trennung – die wiederum verdeutlicht, dass die „Geschichte der reinen Vernunft“ auf die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ zurückverweist und solcherart augenfällig die Thematik von „Genesis und Geltung“ berührt – ist freilich auch ein wesentlicher Aspekt des Verhältnisses von Religion und Philosophie mitangesprochen. In diesen thematischen Kontext einer „Geschichte der reinen Vernunft“ gehören auch Kants diesbezüglich aufschlussreiche Verweise auf Platon, Pythagoras und Aristoteles (dessen Philosophie Kant bekanntlich, ungeachtet ihrer metaphysischen Unzulänglichkeiten, als „Arbeit“ würdigte: III 382). Zu „Kant und die Geschichte der Philosophie“ vgl. die erhellenden Ausführungen von Kolmer 1998 (bes. Kap. IV). AA XXVIII, 1094. „In jedem System muß eine Idee als das Ganze sein, die die Einteilung und den Zweck bestimmt, und diese Idee macht die systematische Einheit aus“ (AA XXIV, 530); sie liegt auch noch der Kennzeichnung der Weisheit als „Idee von der notwendigen Einheit aller möglichen Zwecke“ zugrunde, die so „allem Praktischen als ursprüngliche, zum wenigsten einschränkende, Bedingung der Regel dienen“ müsse. – Dass Kant dieses „System der Metaphysik“ für abschließbar hielt und eine diesbezügliche „völlige Befriedigung“ der menschlichen Vernunft noch für seine Zeit in Aussicht stellen wollte (vgl. II 711 f ), zeigt auch ein Passus aus der späten „Preisschrift“: „Die Metaphysik zeichnet sich unter allen Wissenschaften dadurch ganz besonders aus, dass sie die einzige ist, die ganz vollständig dargestellt werden kann; so dass für die Nachkommenschaft nichts übrig bleibt hinzu zu setzen und sie ihrem Inhalt nach zu erweitern“ (AA XX, 321). – Zu Kants „System“-Begriff s. die Beiträge in: H.F. Fulda/J. Stolzenberg 2001. Zum Motiv der von Kant erwogenen Vollendung des Systems s. Klein 2003, bes. 16 f. Dass Kant auch
1. „Stadien“ in der neueren Metaphysik
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xion sodann auch noch die innere Verfassung dieser „Vernunft“ selbst in ihrer „System“Gestalt zu reflektieren7 und daraus einen „szientifischen Vernunftbegriff“ zu entfalten.8 Mit Blick auf diese in der „Geschichte der reinen Vernunft“ vollzogene Entwicklung, die, wie angezeigt, auch als eine Entfaltung des „Interesses der Vernunft an sich selbst“ (als sich darin differenzierendes „Vermögen des Unbedingten“, sowohl als „Vermögen der Prinzipien“ als auch der „unbedingten Zwecke“) gelesen werden darf, wollte Kant – so der auch seine eigene Systematik betreffende bemerkenswerte Befund – den Aufweis einer notwendigen Differenzierung der „Vernunftideen“ leisten, d. h. deren unterschiedlichen Anspruch und regulativen Richtungs- bzw. „Totalitäts“-Sinn sowie die daraus abgeleiteten verschiedenen „Weltbegriffe“9 darlegen. Derart sollten auch durchaus verschiedene As-
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das „System der reinen Philosophie“ – prinzipiell, ungeachtet aller „Zweifel“ – als abschließbar ansah, scheint auch Refl. 5036 (AA XVIII, 68 f ) zu belegen; vgl. dazu auch La Rocca 2010. Vgl. dazu auch Kants Ausführungen über den „Begriff von der Philosophie überhaupt“ (III 444); wieweit Kant sich eher (im Unterschied zu seinen unmittelbaren Vorgängern) an der traditionellen Einteilung der Philosophie (Logik, Physik, Ethik) orientiert, ist hier nicht näher zu verfolgen. „Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile untereinander, apriori bestimmt wird. Der szientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert. Die Einheit des Zwecks, worauf sich alle Teile und in der Idee desselben auch unter einander beziehen, macht, dass ein jeder Teil bei der Erkenntnis der übrigen vermisst werden kann, und keine zufällige Hinzusetzung, oder unbestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre apriori bestimmte Grenzen habe, stattfindet. Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es kann zwar innerlich …, aber nicht äußerlich … wachsen, wie ein tierischer Körper, dessen Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern, ohne Veränderung der Proportion, ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht“ (II 695 f ). Diese finden sodann bei Kant in dem „System der reinen Vernunftbegriffe“ (als „transzendentale Ideen“: II 327) als „transzendentale Vernunftbegriffe“ „von der [absoluten] Totalität [in der Synthesis] der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten“ (II 328) bzw. als die daraus gewonnenen „Weltbegriffe“ ihren Ort; sie bleiben freilich von der Idee der „absoluten Totalität in der Synthesis der Bedingungen aller möglichen Dinge überhaupt“ als dem „Ideal der reinen Vernunft“ überhaupt (II 400) noch zu unterscheiden. Von den (im engeren Sinne) „Weltbegriffen“ als der „absolute(n) Totalität des Inbegriffs existierender Dinge“ (II 409) und dem kritischen Status dieser Idee einer „absoluten Totalität“ ist „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts“ (IV 235), abzugrenzen, die freilich in dem „absolut Guten“ (dem „praktisch Unbedingten“) des Moralischen verankert ist; sie verweist so auf eine ganz andere (in der Idee des „bonum consummatum“ gedachte) „Totalität“, die von dem Unbedingten (als dem „Obersten“, also der Moralität) zu dem „Vollendeten“, d. h. als „synthesis in consequentia“ vom Unbedingten zum „Ganzen“ geht, worin „praktische Vernunft“ erst die „unbedingte Totalität“ ihres „Gegenstandes“ findet, weil darin also eine ganz andere Begründung des „Absoluten“ und dessen Status maßgebend ist (IV 235). Die Idee des „höchsten Gutes“ (die darin gedachte „Totalität“) orientiert sich deshalb an einem anderen (nämlich ethischen) „Weltbegriff“. In die „Geschichte der reinen Vernunft“ gehört demgemäß auch eine Differenzierung des „Guten“ und somit auch die genaue Unterscheidung des „Begriffs eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (IV 174 ff ) von der „unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ und deren Vermittlung. Auf Ersteren bezieht sich auch Kants Charakterisierung des Willens als das „Vermögen“, „den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben … zu bestimmen“ (IV 120). Die gebotene Rücksicht auf die Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ führt indes auf weitere Aspekte (s. u. IV., 2.1.).
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I. Teil: Kants Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“
pekte bzw. Dimensionen der „Idee des Unbedingten“ als Gedanken des „Abschlusses“10, der „Totalität“ und des „Ursprungs“, als Selbstdifferenzierung der Vernunft in ihrer Genese und ihrem Geltungsanspruch entdeckt und ans Licht gebracht werden, um so erst „die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wissbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich, beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung“ zu bringen (II 712) und auch den stets angestrebten „Endzweck der Metaphysik“ als erreichbar auszuweisen. Solche „Wissbegierde“ der Vernunft ist, diesem „Endzweck der Metaphysik“ entsprechend, zuletzt ausschließlich auf den Aufweis der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ausdifferenzierten VernunftDimensionen des „Unbedingten“11 gerichtet. Weil es doch „ein und dieselbe Vernunft ist“ (IV 251), muss auch das Verhältnis dieser Vernunft-Dimensionen zueinander beleuchtet werden, zumal erst sie die unverzichtbaren Fundamente jenes intendierten „Endzwecks der Metaphysik“ bereitstellen können. Sie sollen zunächst im Blick auf die – selbst als eine Vernunftidee fungierende – „Geschichte der reinen Vernunft“ nachgezeichnet werden, um sodann das von Kant darauf errichtete Grundgerüst der kritischen Metaphysik zu skizzieren, worin, so Kants bemerkenswerter Hinweis, eine Konvergenz zwischen „Zeit“und „Gedankenfolge“ nicht zu übersehen sei (vgl. u. I., Anm. 58). Die „Geschichte der reinen Vernunft“ erscheint so gewissermaßen als eine Bildungsgeschichte, worin die von unumgänglichen Fragen „heimgesuchte“ Vernunft in ihrer notwendigen „Katharsis“ sich so „auswickelt“, dass sie allein in solcher langwierigen und umwegigen „Ab“- und „Emporarbeitung“ zuletzt den „Endzweck der Metaphysik“ einzulösen vermag und auch nur dadurch ihre „Selbsterhaltung“ gewährleistet ist. In diesem ersten Teil sollen zunächst einige Ergebnisse bzw. Konsequenzen aus der von Kant nachgezeichneten Entwicklung vergegenwärtigt werden, die auf dem Weg zu dem von ihm gesuchten Aufweis des „Endzwecks der Metaphysik“ in besonderer Weise bestimmend waren. Im Blick auf diese „Geschichte der reinen Vernunft“ sind demgemäß die für seine kritische Metaphysik maßgeblich gewordenen Prinzipien, Abschluss- bzw. Totalitätsgedanken freizulegen, die jenen als „Endzweck der Metaphysik“ intendierten „Überschritt vom Sinnlichen zum Übersinnlichen“ allein hinreichend fundieren bzw. legitimieren können. Im Sinne einer unumgänglichen Voraussetzung ist daran freilich die „Aufforderung an die Vernunft“ geknüpft, das „beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis, aufs neue zu übernehmen“ (II 13). Bemerkenswerterweise findet darin lediglich das schon in dem vom frühen Kant benannten Programm einer „anthropologia transcendentalis“ unter den Vorzeichen seiner kritischen Philosophie seine Entfaltung, das sich so zugleich gegenüber anderen leitenden Erkenntnisinteressen behauptet, denn: „Es ist auch nicht gnug, viel andre Wissenschaften zu wissen, sondern die Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft. Anthropologia transcendentalis.“12 10 Die aus der „Geschichte der reinen Vernunft“ resultierenden und im „dritten Stadium“ näher explizierten „transzendentalen Ideen“ als Begriffe des „Unbedingten“ (die „absolute Einheit des denkenden Subjekts, die … absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung, [und] die … absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt“: II 336) sind hier nicht näher zu verfolgen. 11 Solche Ausdifferenzierung impliziert ebenso, dass die Dimension der „Anerkennung“ nicht auf „Erkenntnis“ (als ein „Sonderfall“ derselben) reduziert bzw. darunter subsumiert werden darf. 12 Refl. 903, AA XV, 394 f.
1. „Stadien“ in der neueren Metaphysik
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1.1. Etappen der „Selbsterkenntnis der Vernunft“: „Theoretische und praktische Vernunft“ als die „zwei Felder derselben“ und die Entfaltung der „Vernunftidee des Unbedingten“ Als einen richtungsweisenden frühen Schritt in dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ markierte Kant im Blick auf die Geschichte des philosophischen Denkens die darin zunächst vollzogene Selbstdifferenzierung der „Vernunft, nach den zwei Feldern derselben, dem theoretischen und praktischen“ (III 382),13 der auch noch die Abgrenzung der Gebiete einer „Metaphysik der Natur“ und einer „Metaphysik der Sitten“ voneinander zugrunde liegt. Erst in einer „späteren Zeiten vorbehaltenen Arbeit“ hat dies sodann freilich dazu geführt, die darin maßgebenden „reinen Vernunftprinzipien aus bloßen Begriffen … von dem theoretischen Erkenntnis aller Dinge“ von denjenigen zu unterscheiden, „welche das Tun und Lassen apriori bestimmen und notwendig machen“ (II 702; v. Verf. hervorgehoben).14 Auf dem Weg einer immer klarer vollzogenen „Isolierung“ und „Reinigung“ konnte derart ein immer differenzierterer „Vernunftbegriff in abstracto“ in theoretischer und praktischer Hinsicht gewonnen werden; und erst die daraus resultierenden unterschiedlichen Prinzipien „theoretischer“ und „praktischer Vernunft“ vermochten, in der sich „auswickelnden Vernunft“, die „Pfosten des Vernunftbegriffes von dem Unbedingten“15 bereitzustellen. Sie sind es auch, die in einem letzten Schritt dieses kontinuierlichen Läuterungs- bzw. Kultivierungsprozesses der Vernunft, innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“, als unentbehrliches Fundament für Kants eigene Unterscheidung von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ fungieren (s. u. I., 1.1.1.). Dergestalt begreift „endliche Vernunft“ reflexiv sich selbst in ihrer immanenten Verfassung und Ausfaltung und begründet so die 13 Im Blick auf dieses von der „praktischen Vernunft“ gesuchte „Unbedingte“ als Idee der „unbedingten Totalität“ ihres Gegenstandes bestätigt sich übrigens, dass Kant darin die in der „ersten Kritik“ vertretene Auffassung korrigiert, „wonach reine Vernunft nur die absolute Totalität der ‚regressiven Synthesis‘ auf der Seite der Bedingungen, nicht die der ‚progressiven‘ von Seiten des Bedingten suchen kann“ (so Cunico 1998, 121 Anm. 26, in Verweis auf KrV B 393 f, 438). Die Kennzeichnung des „höchsten Gutes“ als „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ bringt zum Ausdruck, dass dieses „höchste Gut“ eben ein durchaus moralisch begründetes und gebotenes „Ziel“, also keineswegs ein bloßes „Objekt der Neigung“ ist, sondern den „praktisch notwendigen Zweck des reinen Vernunftwillens“ (IV 277) darstellt. 14 Dazu gehört vorrangig in der praktischen Philosophie die für die Systematisierung der Verbindlichkeit der „Gesetze der Freiheit“ notwendige Differenzierung der „principia juris“ und der „principia ethica“ sowie das darauf gegründete „System der Pflichtenlehre“. 15 AA XX, 311; vgl. auch Kants „Einteilung der Philosophie“ (V 242 ff ) und die dort geäußerte (ihm zufolge bislang vernachlässigte) Forderung einer Differenzierung der „Begriffe, welche den Prinzipien dieser Vernunfterkenntnis ihr Objekt anweisen“ (V 242), und demgemäß die Unterscheidung von „Naturphilosophie“ und „Moralphilosophie“; bezüglich der in der Moralphilosophie entwickelten „praktischen Prinzipien“ würdigte Kant (ungeachtet seiner Abgrenzung von dem „stoischen System“ und dem darin maßgebenden Prinzip der „Seelenstärke“) bekanntlich vornehmlich die Stoiker, die zwar „den Samen zu den erhabensten Gesinnungen, die je existierten, ausgestreut haben“ (III 453), obgleich deren „Tugend“Prinzip selbst noch „läuterungsbedürftig“ geblieben sei. Deshalb darf sein (missverständlicher) Satz: „In der Moralphilosophie sind wir nicht weiter gekommen als die Alten“ (III 456) auch nicht vergessen lassen, dass Kant, bei aller Sympathie, von dem „stoischen Prinzip“ der „Autokratie“ das Prinzip der „Autonomie“ (sowie den Gehalt des „moralischen Gesetzes“) unterschieden und von der stoischen Idee der „Weisheit“ das Ideal der „Heiligkeit“ explizit abgrenzt hat (s. dazu auch u. I., Anm. 36).
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I. Teil: Kants Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“
„ganze Bestimmung des Menschen“ auf eine Weise, die retrospektiv die durchschrittenen „Stadien der neueren Metaphysik“ als ihren in der „Geschichte der reinen Vernunft“ realisierten Bildungsprozess nachvollziehbar macht. Freilich, erst am Ende dieser Entwicklung resultiert jener an dem „Zweck und der Form des Ganzen“ orientierte „szientifische Vernunftbegriff“, der so auch die Idee einer „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft“ gemäß ihren „Gegenständen“ „Natur und Freiheit“ (II 701) angemessen differenziert und so, am Leitfaden der Idee des „Unbedingten“, in der darin zutage tretenden „teleologia rationis humanae“ (II 700) eine ebenso differenzierte Begründung von Geltungsansprüchen „theoretischer“ und „praktischer Vernunft“ vor Augen führt. Gemäß dem „spekulativen und praktischen Gebrauch der reinen Vernunft“ enthält die „Metaphysik der Natur“ die „reine(n) Vernunftprinzipien aus bloßen Begriffen … von dem theoretischen Erkenntnisse aller Dinge“, während die „Metaphysik der Sitten“ auf die „Prinzipien, welche das Tun und Lassen apriori bestimmen und notwendig machen“ (II 702)16, abzielt; dergestalt wird (praktische) Vernunft als das „Vermögen der Prinzipien“ und als „Vermögen der (unbedingten) Zwecke“ (und ihrer Einheit) expliziert.17 Zuletzt erreicht die systematische Entfaltung der einzelnen Momente dieser „Metaphysik der Natur“ und der „Sitten“ ihr letztes Ziel im „Endzweck der Metaphysik“, wofür die Kritik der dem traditionellen „Schulbegriff der Philosophie“ immanenten Ansprüche und deren kritische Vermittlung mit den leitenden Anliegen des „Weltbegriffs der Philosophie“ schon vorausgesetzt sind. 1.1.1. „Theologie und Moral“ als die „beiden Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“: Konsequenzen für den „Schul“und „Weltbegriff der Philosophie“ und deren Einheit Offensichtlich ist es jene – gleichwohl in ganz unterschiedlichem Richtungssinn bzw. verschiedenen Hinsichten entfaltete – Idee des „Absoluten“18, die nunmehr in der „erweiterten Bedeutung“ („Totalität“, „Allgemeinheit“, „Allheit“) für den kantischen Aufweis des den theoretischen Vernunftgebrauch „abschließenden und krönenden“ „transzenden16 In diesen thematischen Kontext gehört wohl auch die bemerkenswerte frühe Reflexion Kants, die offenbar in nuce auch alle Dimensionen des „praktisch Unbedingten“ in sich enthält: „Die theoretische[n] Bedingungen alles Praktischen sind Freiheit, Ursprung und Zukunft, oder das innere und die äußere(n) Principien aller unsrer Zwecke zusammen. Diese sind auch die crux philosophorum“ (Refl. 5008, AA XVIII, 58). „Vermittelt“ ist diese Begründung der schon erwähnten neuen „Freiheitslehre“ zufolge freilich über das „moralische Gesetz“ als die unumgängliche „ratio cognoscendi“ der Freiheit. 17 S. dazu Stolzenberg 2005, 83 ff. 18 Vgl. dazu Kants aufschlussreichen Hinweis auf die Ausbildung und die unterschiedlichen Bedeutungen des „die Vernunft gar sehr beschäftigenden“ Begriffs des „Absoluten“ (II 328 f ), die für die Frage nach den Fortschritten in einer „Geschichte der reinen Vernunft“ besonders bedeutsam sind und sodann im Weiteren auch auf „die zu differenzierende Idee Universalitas und Gesetzmäßigkeit“ führen. – Hinskes Urteil trifft offensichtlich zu, dass Kant „die alten, ihm seit langem vertrauten Sachprobleme der Metaphysik immer wieder auf solche Grenzbegriffe hin durchmustert und so etwas wie eine Bestandsaufnahme des Unbedingten vorgenommen“ hat (Hinske 1993, 272). Dazu gehört auch die Einsicht, dass das, was „absolut“ ist, damit noch nicht „das Absolute“ ist, sondern zu weiteren Differenzierungen nötigt.
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talen Ideals“ (der Idee des „metaphysischen Gutes“)19 ebenso bedeutsam werden musste wie – in freilich ganz anderer Perspektive – in der Bestimmung des „obersten Prinzips der Moral“ bzw. der „Idee der Freiheit“, d. i. im Kontext der Begründung des „Unbedingtheitsanspruchs“ des moralischen Imperativs (der „unbedingten Gesetzgebung“, aber auch der „Wahrhaftigkeit“). Auch ist nicht zu übersehen, dass jene Idee, auf diesem Feld der „praktischen Vernunft“, auch in der Formulierung der „Universalisierbarkeit“ der Maximen, desgleichen in der Kennzeichnung des „unbedingten Bedürfnisses der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch“ sowie des „unbedingten Endzwecks“ maßgebend wurde. Kants Verweis auf die historische Entwicklung macht diesen zweifachen „Unbedingtheits“-Bezug besonders deutlich: „Daher waren Theologie und Moral [20] die zwei Triebfedern, oder, besser, Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat. Die erstere war indessen eigentlich das, was die bloß spekulative Vernunft nach und nach in das Geschäfte zog, welches in der Folge unter dem Namen der Metaphysik so berühmt geworden“ (II 709). Freilich, ein derartiger Rekurs auf diese beiden „Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“ ist keineswegs von bloß philosophiehistorischem Interesse, sondern gewinnt, wie sich zeigen soll, gerade im Blick auf Kants eigene Systematik höchste Bedeutsamkeit. Denn allein die Verbindung der in „Theologie und Moral“ entfalteten Ideen des „Übersinnlichen“ ermöglicht jenen zuletzt intendierten „praktischdogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ und stellt auch nur so die Erreichung des „Endzwecks der Metaphysik“ in Aussicht. Letzterer weist freilich über das Programm des „Kritizismus“ im engeren Sinne hinaus und macht insofern auch eine genauere Differenzierung der überraschenden späten These Kants unumgänglich, dass das „dritte Stadium … das der Theologie“ sei, „mit allen den Erkenntnissen apriori, die darauf führen, und sie notwendig machen“ (III 615). Dies markiert einen entscheidenden Punkt in der teleologischen Entfaltung der „Geschichte der reinen Vernunft“ und der darin wiederum explizierten „teleologia rationis humanae“, worin, in gestufter Form, die Idee der „moralischen Teleologie“ zur Entfaltung kommt und „endliche Vernunft“ in ihrem „zweckmäßigen Gebrauch“ sich selbst erhält, das heißt: sich gewinnt und bewahrt. Dabei ist es die aus jener gegenläufigen Entwicklung des „Abschluss“- und „Anfangs“-Gedankens
19 Diesbezüglich ist an Kants kritische Einsicht zu erinnern, wonach diese Möglichkeit der „Ideen der spekulativen Vernunft“, die eben „für das theoretische Erkenntnis gar nicht in einer möglichen Erfahrung dargestellt werden können“ (V 597 f ), eigentlich lediglich ihre Nicht-Unmöglichkeit besagt; mit Blick auf diese bloß negativ-„logische Möglichkeit“ ist überdies beachtenswert, dass es schon in Kants frühem „Einzig möglichen Beweisgrund …“ geheißen hat, dass „die Möglichkeit wegfalle, nicht allein wenn ein innerer Widerspruch als das Logische der Unmöglichkeit anzutreffen, sondern auch wenn kein Materiale, kein Datum zu denken da ist. Denn alsdenn ist nichts Denkliches gegeben, alles Mögliche aber ist etwas was gedacht werden kann, und dem die logische Beziehung, gemäß dem Satze des Widerspruchs zukommt“ (I 638). Die Unterscheidung zwischen dem bloß „Formalen“ und dem „Materialen der Möglichkeit“ bleibt auch bezüglich der späteren kantischen Erwägungen über die Bestimmbarkeit der Gottesidee zu berücksichtigen. 20 Dieser Rekurs auf die Moral „als Beziehungspunkt“ kann sich auf die „Moral“ im engeren Sinne, aber auch auf die „Moral“ im Sinne der „ganzen Bestimmung des Menschen“ (II 701) beziehen, wobei diese dann ohnehin mit jenen „abgezogenen Vernunftforschungen“ zusammenfiele.
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(des „Übersinnlichen außer uns“ und des „Übersinnlichen in uns“, also „Theologie und Moral“) erst resultierende „Spannung“, aus der sich die Grundverfassung der Vernunftreligion, d. i. das unauflösliche Gefüge dieser verschiedenen Ideen des „Unbedingten“, zu explizieren vermag, in der „Gott erst ein Gegenstand der Religion“ werden kann,21 ohne dass derart die „Wirklichkeit Gottes“ selbst eingeholt werden könnte. Schon hier sei darauf hingewiesen: Dass die Gottesidee als „fehlerfreies Ideal der Vernunft“ und die „apriorischen Prinzipien der reinen praktischen Vernunft“ ausgewiesen werden können und von daher „Theologie und Moral“ als die „beiden Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“ (II 709) gelten dürfen, liegt zwar zunächst dem Aufweis der „Religion“ als „reine Vernunftsache“ (VI 338) als „conditio sine qua non“ zugrunde; dennoch bleibt das „Dasein Gottes“ (als „Postulat der reinen praktischen Vernunft“) eine der Vernunft „abgenötigte Voraussetzung“ (III 273, Anm.), zumal auch bezüglich des „Daseins Gottes“ Kants These zu berücksichtigen bleibt, dass diese „Ideen der Vernunft“ als „lauter reine Vernunftbegriffe“ (d. i. „Produkte“ derselben) durchaus nicht „unbegreiflich“ sind, obgleich die „Wirklichkeit“ selbst „unbegreiflich“ ist (s. III 223 Anm.). Was sich im Horizont des „theoretischen Vernunftgebrauchs“ als bloße „(absolute) Position“ erweist und nach Kant bekanntlich dazu nötigt, diesbezüglich vermessene Ansprüche der kritischen Restriktion auszusetzen, dies wird hingegen als das über praktische Vernunftansprüche postulatorisch vermittelte „Dasein Gottes“, d. i. als eine der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“ („Position“) legitimiert, wodurch in diesen „Postulaten“ – die zwar „theoretische“, als solche aber „nicht erweisliche“ Sätze sind (vgl. IV 252 f ) – als „Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht“ (IV 264) die „Vernunft“ dennoch in gewisser Weise „außer sich“ gerät. Es wird sich zeigen, dass der „Vernunftglaube“ in diesen (sodann als „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ ausgewiesenen und legitimierten) „Kardinalsätzen“ „Es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben“ auf der Vernunft „abgenötigte Voraus-Setzungen“
21 Zu dieser Entfaltung der „Idee des Unbedingten“ gehören freilich auch die mit der bewusst gewordenen Unterscheidung der „aufsteigenden“ und „absteigenden Reihe“ der „Bedingungen“ verbundene Differenzierung und die daran geknüpften „Überschritte“, weil darin „theoretische“ und „praktische Vernunft“ in durchaus unterschiedlicher Weise „ihr selbst genug tun“ wollen: „Die synthetischen Bedingungen (principia) der Möglichkeit der Dinge, d. i. die Bestimmungsgründe derselben (principia essendi), werden hier und zwar in der Totalität der aufsteigenden Reihe, in der sie einander untergeordnet sind, zu dem Bedingten (den principiatis) gesucht, um zu dem Unbedingten (principium, quod non est principiatum) zu gelangen. Das fordert die Vernunft, um ihr selbst genug zu tun. – Mit der absteigenden Reihe von der Bedingung zum Bedingten hat es keine Not, denn da bedarf es für sie keiner absoluten Totalität, und diese mag als Folge immer unvollendet bleiben, weil die Folgen sich von selbst ergeben, wenn der oberste Grund, von dem sie abhangen, nur gegeben ist“ (III 622 f ). Freilich, im Rahmen der praktischen Vernunft und ihrer Unbedingtheits-Ansprüche stellt sich die Frage nach den „Folgen“ doch anders dar, zumal diese sich in Rücksicht auf den „ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft“ (ihren „Endzweck“) sehr wohl auf eine „absolute Totalität“ bezieht. Bezeichnenderweise sind es die erst in der „Geschichte der reinen Vernunft“ bewusst gewordenen Dimensionen des „Unbedingten“, die darin ihre konkrete Entfaltung finden und in der solcherart zutage tretenden und explizierten „Gegenläufigkeit“ sich zu jener differenzierten Einheit der „Ideen des Übersinnlichen“ fügen. Damit gehört in diese „Geschichte der reinen Vernunft“ auch eine systematische Differenzierung des „Gegenstands der (reinen) praktischen Vernunft“.
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verwiesen ist, welche die – solcherart gleichsam „außer sich geratene“ – Vernunft indes selbst gerade nicht einzuholen vermag.22 Zunächst war es nach Kant die dem „Schulbegriff der Philosophie“ zugehörige – den spekulativen Vernunftgebrauch abschließende – „theologische Idee“ als „metaphysischer Gottesbegriff“, die innerhalb des „Schulbegriffs der Philosophie“ ihre Ausbildung auf dem Weg ihrer zunehmenden Läuterung und (innerhalb der „rationalen Theologie selbst!) ihrer immanenten Differenzierung gefunden hat. Als Idee des „Übersinnlichen außer uns“ nimmt diese (offensichtlich vornehmlich durch Platons „Idee des Guten“ und durch Anaxagoras23 inspirierte) Ausbildung der „theologischen Idee“ in der „Geschichte der reinen Vernunft“ eine Vorrangstellung ein.24 In Kants eigener Systematik tritt dies sodann darin zutage, dass die von ihm in ausdrücklichem Rekurs auf Platon (in seiner Bestimmung „Von dem Ideal überhaupt“) thematisierte, freilich von manch „überschwänglicher Vorstellung“ und „Übertreibung“ (vgl. II 322) befreite „theologische Idee“ letztendlich als „Ideal der Vernunft“ ihre Vollendung gefunden hat und als solche den „Schulbegriff der Philosophie“ sodann auch beschließt: „[E]in bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher 22 Nicht zuletzt daran mag Schelling mit seiner Bemerkung gedacht haben: „Was einmal im bloßen Denken angefangen hat, kann auch nur im bloßen Denken fortgehen und nie weiter kommen als bis zur Idee. Was zur Wirklichkeit gelangen soll, muß auch gleich von der Wirklichkeit ausgehen“ (XIII 162); denn zweifellos wäre auch Kant zufolge in jener der Vernunft „abgenötigten Voraussetzung“ die „Vernunft außer sich gesetzt“ (ebd.). 23 In dessen Konzeption des „nous“ sah Kant besonders „deutliche Spuren einer reinen Vernunfttheologie“ (IV 274), nachdem die „philosophischen Ideen mehr bestimmt und gereinigt wurden“ (AA XXVIII, 1196). – Zu Kants Rekurs auf „Anaxagoras, Plato und die philosophierenden Römer“ als besonders wichtige Etappen auf dem Weg zum „moralisch bestimmten Monotheismus“ (AA XXIII, 440), s. Heimsoeth 1966b. Im Sinne dieses in der „Geschichte der reinen Vernunft“ gebahnten Weges wollte Kant in einer für seine Religionsphilosophie insgesamt sehr bezeichnenden Weise „einen Sokrates nicht einen frommen Heiden, sondern selbst auf die Gefahr darüber ausgelacht zu werden, immer einen guten Christen in potenzia nennen, weil er diese Religion, so viel man urteilen kann, gehabt und sie auch als Offenbarungslehre würde angenommen haben, wenn er zur Zeit ihrer öffentlichen Verkündigung gelebt hätte“ (AA XXIII, 440). Nicht zuletzt die Vorstellung des Sokrates, wonach die Toten „unverhüllt“ vor ihrem gerechten Richter stehen (Gorgias 523), musste Kants Zustimmung finden. Aber auch Anaxagoras sei keinesfalls ein „Heide“, sondern ein „Christ in potenzia“ (AA XXIII, 439 f ); er galt Kant als „der erste Philosoph, welcher auch Theologie lehrte“ (AA XXIV, 699). 24 Gerade im Sinne einer solchen „Idee“ einer „Geschichte der reinen Vernunft“ ist es aufschlussreich zu sehen, dass Kant sich selbst, freilich in kritischer Rezeption und weithin bloß „aus zweiter Hand“, immer wieder „platonische“ Motive zu eigen gemacht hat (vgl. „Von den Ideen überhaupt“: II 321 ff ). Ungeachtet dessen identifizierte er den „Ursprung aller philosophischen Schwärmerei … in Platons ursprünglichen göttlichen Anschauungen aller möglichen Obiecte, d. i. den Ideen“ (Refl. 6051, AA XVIII, 437). Besonders bemerkenswert ist, dass noch der späte Kant in seiner Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Neuplatonikern nicht nur auf Platons Ideenlehre rekurrierte, sondern, gegen andere Rezeptionslinien – und über die Unterscheidung zwischen „Inbegriff“ und „Grund aller Realitäten“ hinaus – Gott in diesem späten Kontext sodann als jenes „Wesen“ bestimmt, das den „Grund [!] aller Realitäten“ enthält, demzufolge also selbst mit diesem „Grund“ nicht einfachhin identisch ist (s. u. I., 2.1.2.). – Dass dies nicht ohne wirkungsgeschichtliche Folgen für unterschiedliche „Konzeptionen des Absoluten“ bleibt, die wiederum auch bezüglich der motivgeschichtlichen Zusammenhänge des „ontologischen Gottesbeweises“ bedeutsam sind, zeigt die Abhandlung von Halfwassen 2002. Kants Kritik an zeitgenössischen „platonisierenden“ Erscheinungsformen (vornehmlich in Gestalt J. G. Schlossers) kann freilich sachlich bedeutsame „neuplatonisierende“ Züge in seiner eigenen „negativen Theologie“ nicht übersehen lassen; s. dazu u. I., Anm. 119; IV., 4.2.2.
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die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet“ (II 563).25 Derart soll die (später dann so benannte) Idee des „höchsten metaphysischen Guts“ – als der „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ – auch als ein „Gedanke des Abschlusses“ ihre Legitimation finden, das heißt auch für eine kritische Metaphysik (für die darin „ihr Geschäfte gerne vollendende spekulative Vernunft“: II 585) als unverzichtbar ausgewiesen werden. Vorbehaltlich der entscheidenden Differenzierung als „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ (s. dazu u. I., 2.1.1.),26 soll diese (im Kontext einer „transzendentalen Deduktion der Ideen“ angezeigte) kritisch-grenzbegriffliche Einsicht sogar als „Vollendung des kritischen Geschäfts“ (II 583) gelten dürfen,27 die so vor Verendlichungen und gleichermaßen vor der Vermessenheit „überschwänglicher“ Ahnungen bzw. Anschauungen zu bewahren vermag und jenen in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ nachvollziehbaren Läuterungsprozess auch erst zum Abschluss bringt.28 Die derart in der „Geschichte der reinen Vernunft“ entfaltete Eigenständigkeit des philosophischen Gottesbegriffs erweist sich für diese sich „auswickelnde“ spekulative Vernunft als das zwar notwendig zu denkende, für sich genommen jedoch noch bestimmungslos (und insofern ohne „objektive Realität“) bleibende „Ideal der Vernunft“ – als eine in der „Ge25 Die Schwierigkeiten dieses für das „dritte Stadium der Metaphysik“ so entscheidenden kantischen Lehrstücks, das sich (insbesondere mit dem Gedanken der „durchgängigen Bestimmung“) vornehmlich der Rezeption des deutschen Rationalismus (vor allem von Baumgartens „Metaphysik“) verdankt, sind hier nicht näher zu verfolgen. Dazu gehört auch schon der Umstand, dass Kant zum „Ideal der reinen Vernunft“ zunächst (in dem Hinweis auf die „dialektischen Schlüsse der reinen Vernunft“: II 339) ausdrücklich anmerkte, dass er dieses als „Wesen aller Wesen … durch einen transzendenten Begriff“ nicht kenne und „von dessen unbedingter Notwendigkeit“ er sich „keinen Begriff machen“ könne (II 340), während das „transzendentale Ideal“ von ihm als unsere Erkenntnis „abschließend und krönend“ beansprucht wurde (vgl. dazu Theis 1997, bes. 38 ff ). Im Blick auf diesen nach wie vor umstrittenen Problembefund sind die einschlägigen Analysen von Wolfgang Cramer (1967) besonders lehrreich. 26 Darauf bezieht sich offenbar noch Kants späte Anmerkung in der „Religionsschrift“: „Zwischen dem Verhältnisse aber eines Schema zu seinem Begriffe und dem Verhältnisse eben dieses Schema des Begriffs zur Sache selbst ist gar keine Analogie, sondern ein gewaltiger Sprung (metabasis eis allo genos), der gerade in den Anthropomorphism hinein führt, wovon ich die Beweise anderwärts gegeben habe“ (IV 719, Anm.). 27 Als Ergebnis dieser Entwicklung darf deshalb festgehalten werden: „Der metaphysische Gottesgedanke entspringt so betrachtet der internen Verfasstheit der menschlichen Vernunft“ (Barth 2005a, 242); vgl. dazu auch Theis 1997, bes. 28 ff. – Es wird sich zeigen: In der Tat bezieht sich die „Vollendung der Kultur der Vernunft“ auf eine Differenzierung von „Genesis und Geltung“ auch in der bestimmten Hinsicht, dass der hierfür unverzichtbaren „Entpsychologisierung“ und der kritischen Legitimation der „theologischen Idee“ auch eine kritische Reinigung der moralischen Prinzipien entspricht und erst aus den so herausgebildeten Vernunftideen der „Theologie und Moral“ ein taugliches Fundament der Religion resultiert. Dass nach Kant Religion allein „reine Vernunftsache“ (VI 338) ist, ist nur vor diesem Hintergrund angemessen zu verstehen. 28 Schon in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“, d. i. dem „Vernunftbegriff in concreto“, manifestiert sich eine „nach und nach“ fortschreitende Läuterung, die nachträglich in der philosophischen Reflexion und dem darin ausgebildeten „Vernunftbegriff in abstracto“ reflexiv eingeholt wird: Aufgabe einer entwickelten Religionsphilosophie. So darf man es wohl auch verstehen: „Daher sehen wir bei allen Völkern durch ihre blindeste Vielgötterei doch einige Funken des Monotheismus durchschimmern, wozu nicht Nachdenken und tiefe Spekulation, sondern nur ein nach und nach verständlich gewordener natürlicher Gang des gemeinen Verstandes geführt hat“ (II 527 f ), der in der Religionsgeschichte seinen Niederschlag findet; davon unterschieden ist die den „Vernunftbegriff in abstracto“ entfaltende Ebene der „Geschichte der reinen Vernunft“.
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schichte der reinen Vernunft“ immer „abstrakter“ gewordene philosophische Gottesidee, die in dieser fortschreitenden Läuterung erst die „absolute Transzendenz“ dieses „Übersinnlichen außer uns“ zu gewährleisten vermag.29 Als ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Unterscheidung des „Vernunftbegriffs in concreto“ und „in abstracto“ sowie für die darin angezeigte „Übersetzungs“Aufgabe darf wohl – ähnlich seinem Rekurs auf das alttestamentliche „Bilderverbot“ – Kants Hinweis auf die Göttin Isis verstanden werden: „Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur): ‚Ich bin alles was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt‘“ (V 417, Anm.). Der aus der „Forderung der Vernunft, irgend ein Etwas (den Urgrund) als unbedingt notwendig existierend anzunehmen“, resultierende „terminus ad quem“, d. i. der „Begriff eines absolutnotwendigen Wesens“, ist indes nach Kant eine zwar „unentbehrliche Vernunft idee“, die sich freilich als „ein für den menschlichen Verstand unerreichbarer problematischer Begriff“ (V 519) erweist; zuletzt wird in der späten „Preisschrift“ dieser Begriff des „absolut notwendigen Wesens“ als derjenige „Begriff“ von einem „metaphysischen Gott“ bestimmt, der „immer ein leerer Begriff“ (IIII 643) bleiben müsse.30 Nur nebenbei und im Vorblick auf spätere Überlegungen sei noch der erstaunliche Sachverhalt lediglich angemerkt, dass Kant hier offenbar die „erhabene“ „Aufschrift über dem Tempel der 29 Der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ „ausgewickelte“ „Vernunftbegriff in abstracto“ von dem „absolut notwendigen Wesen“ – nach Kant bekanntlich ein „Gedanke“, dessen man sich „nicht erwehren, … ihn aber auch nicht ertragen“ kann (II 543) – darf wohl als eine philosophisch geleistete Übersetzung dieses „Vernunftbegriffs in concreto“ gelesen werden. Diese „unbedingte Notwendigkeit, die wir, als den letzten Träger aller Dinge, so unentbehrlich bedürfen“, als dem „wahre(n) Abgrund für die menschliche Vernunft“, wird von Kant später als völlig „unbestimmt“ kritisiert. Vgl. dazu die differenzierten Analysen von K. Düsing (2012); sie machen deutlich, dass in diesem „dritten Stadium“ der Metaphysik (als dasjenige der „Theologie“: III 615) zunächst auch wichtige Etappen der „negativen Theologie“ (von der frühen Schrift über den „einzig möglichen Beweisgrund …“ über die „Kritik der reinen Vernunft“ bis hin zur „Kritik der Urteilskraft“ [bes. § 76] und der späten „Preisschrift“); sie dürfen ebenfalls als kritische „Läuterung“ verstanden werden. – E. und K. Düsing (2002) haben in instruktiven Ausführungen über „Negative und positive Theologie bei Kant“ eine immanente Entwicklung in Kants Konzeption einer „negativen Theologie“ nachgezeichnet, die von Kants Lehre vom „transzendentalen Ideal“ über die Differenzierung des „Inbegriffs“ und „Grundes aller Realitäten“ (in der „ersten Kritik“) und über die Kritik des Begriffs eines ganz und gar unbestimmt-„leeren“ „absolut notwendigen Wesens“ (besonders in dem berühmten § 76 der „Kritik der Urteilskraft“) bis hin zur Kennzeichnung des „metaphysischen Gottes“ als eines „leeren Begriffs“ zu verfolgen ist. Dies bleibt nicht zuletzt für die immanente Differenzierung des „dritten Stadiums der Metaphysik“ und für den darin erkennbaren „Fortschritt“ besonders bedeutsam. 30 Vgl. auch die präzise Refl. 6277 (AA XVIII, 543): „Die ganze Schwierigkeit der transzendentalen Theologie beruht darauf, dass es nicht möglich ist, den Begriff der absoluten Notwendigkeit eines Dinges zu bestimmen, d. i. zu sagen, worauf seine Denkbarkeit beruhe.“ – Bezüglich des Begriffs des „absolut notwendigen Wesens“, „an welchem Möglichkeit und Wirklichkeit gar nicht mehr unterschieden werden sollen“ (V 519), zeige sich eben: „Dafür aber haben wir keinerlei Vorstellungsart; wollten wir es rein denken, wäre es für uns nur ein Mögliches; sollte es wirklich sein, müsste es in unserer sinnlichen Anschauung gegeben sein … Obwohl die Vernunft zu diesem Unbedingten aufsteigt, ist es, genauer: ist das ‚absolutnotwendige Wesen‘ für uns ein ‚unerreichbarer problematischer Begriff‘ … Uns fehlt die Vorstellungsfähigkeit etwa eines intuitiven Verstandes, um es uns mit irgendeinem bestimmten Bedeutungsgehalt vorzustellen“ (Düsing 2012, 330).
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Isis“ (V 417 Anm.) engstens mit jener „erhabenen“ „Stelle im Gesetzbuche der Juden“ über das „Bilderverbot“ (V 365) assoziiert – auf eine Weise freilich, die – wenigstens für sich betrachtet – die Nivellierung von entscheidenden Differenzen zu begünstigen scheint, welche in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ bzw. in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erst ihre Entfaltung gefunden haben (s. dazu u. V., I., 1.). Schon hier sei darauf hingewiesen, dass sich in Kants später „Theologie“-Konzeption zwei komplementäre Aspekte als maßgebend erweisen: Zum einen ist es das konsequent verfolgte Motiv der (einer „negativen Theologie“ verpflichteten) „absoluten Transzendenz“ – wohl in diesem Sinne gebrauchte Kant in der späten „Preisschrift“ einmal auffälligerweise den Terminus „Transzendente Theologie“ (III 640) –, das bei ihm indes mit dem Bewusstsein der „relativen Transzendenz“ verbunden bleibt; während Erstere auf eine Vermeidung aller „Verendlichungen“ abzielt (und sich in solcher Hinsicht vornehmlich als „Schutzwehr“ versteht), soll sodann die (im buchstäblichen Sinne zu nehmende) „relative Transzendenz“ erst eine positive prädikative Bestimmbarkeit jener Idee des „metaphysischen Gottes“ – im Ausgang von dem gedachten moralisch-praktisch fundierten Verhältnis des Menschen zur notwendigen Voraussetzung des „höchsten Gutes“ – im Sinne eines kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ ermöglichen. Hierfür bleibt die nur „ex negativo“ bestimmbare Schöpfungs-Relation als das „Verhältnis“ der „uns unbekannte(n) oberste(n) Ursache zur Welt“ (IV 235) freilich schon vorausgesetzt, das in der Begründung dieses „symbolischen Anthropomorphismus“ (im Sinne der darin vorausgesetzten „relativen Transzendenz“) als ein unverzichtbares Voraussetzungsproblem thematisch wird. Es ist gewiss ein denkwürdiger Sachverhalt: Das Bewusstsein von der Unverzichtbarkeit des Motivs der „absoluten Transzendenz“ (demzufolge Gott als „Abgrund“ und „Ungrund an sich selbst“ auch als „Gegenstand in der Idee“ noch nicht zureichend gedacht werden kann), bleibt so zugleich mit der Einsicht der Unmöglichkeit ihrer Verabsolutierung verknüpft, weil andernfalls die hierbei immer schon vorausgesetzte Schöpfungs-Relation gar nicht gedacht werden könnte, somit ein jeder Schöpfungs-Gedanke zugleich den Gedanken einer „relativen Transzendenz“ – also buchstäblich „hinsichtlich“ der „Welteinheit“ und somit „relativ auf den systematischen Gebrauch der Vernunft in Ansehung der Dinge der Welt, brauchen sollen“ (II 601) – unumgänglich macht. Der „Kultivierung“ der Idee des „Übersinnlichen außer uns“ (der „theologischen Idee“) korrespondieren, als zweiter „Beziehungspunkt“, die ebenfalls auf einem langen Entwicklungsweg der „Zucht“ gereinigten Prinzipien des „moralischen Gesetzes“ bzw. die ihr zugrunde liegende „Idee der Freiheit“; deren konkrete Korrelation manifestiert sich in den diversen geschichtlichen „Glaubensarten“ und den ihr zugehörigen sinnlichen Vorstellungsarten. Auch sie sind in entsprechender Weise ein Resultat des in dieser „Geschichte der Vernunft“ durchlaufenen Prozesses eines geschichtlich fortschreitenden „Bewusstseins der Freiheit“ bzw. der darin immer deutlicher „in ihrer eigentlichen Gestalt“ wahrgenommenen Tugend und werden so letztendlich „von aller Beimischung des Sinnlichen … entkleidet“ dargestellt (IV 58, Anm.). Der von Kant – freilich schon im besonderen Blick auf das Christentum – betonte Sachverhalt, dass den in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ über die „größere Bearbeitung sittlicher Ideen“ (II 686) zunehmend geklärten „Prinzipien der reinen praktischen Vernunft, welche apriori das
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Gesetz vorschreiben“, und der darin bewusst gewordenen Autonomie (d. h. der „Absolutheit“) der Moral (als dem „Übersinnlichen in uns“) eine fortschreitende Klärung des mit diesen „moralischen Vernunftprinzipien vollständig“ zusammenstimmenden „Begriff vom göttlichen Wesen“ entspricht, berührt sodann in zentraler Weise auch das Verhältnis von „Religion und Philosophie“. Eher beiläufig wird dieser zweitgenannte Gesichtspunkt von Kant – in seiner sehr späten Bezugnahme auf den in diesem Bewusstwerdungsprozess erst freigelegten „archimedischen Punkt“ der „innere(n) Idee der Freiheit, die durch das unerschütterliche moralische Gesetz, als sichere Grundlage darliegt“ – angesprochen und dabei näherhin bezeichnenderweise als jenes „Geheimnis“ geltend gemacht, „welches nur nach langsamer Entwickelung der Begriffe des Verstandes und sorgfältig geprüften Grundsätzen, also durch Arbeit, fühlbar werden kann“ (III 393).31 Diese in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erst reflexiv entdeckte, zuletzt freilich erst über das vorgängige Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ legitimierte „innere Idee der Freiheit“ als das „Übersinnliche in uns“ bzw. der damit verbundene Aufweis, dass und wie „reine Vernunft für sich allein praktisch ist“ (IV 142), fungiert demzufolge nicht mehr als ein Gedanke des „Abschlusses“, sondern vergegenwärtigt nun vielmehr – in unübersehbarer Anknüpfung an jenes zentrale Motiv einer notwendig vollzogenen „Umwendung in der Ideenlehre“32 – jenen für Kants Systematik so bedeutsamen Sachverhalt, dass und weshalb das „Ideal der Vernunft“ nicht nur (als „transzendentale Voraussetzung“ im Sinne der „omnitudo realitatis“)33 „noch weiter, als die Idee 31 Für den in der „Geschichte der reinen Vernunft“ durchlaufenen Lernprozess hinsichtlich des „PraktischUnbedingten“ spielt nach Kant besonders die „Ethik der Alten“ eine entscheidende Rolle, weil auch diese in der stoischen und epikureischen Schule differenzierten Momente und der zu prüfende „Prinzipien“Charakter erst im „dritten Stadium“ der (praktischen) Metaphysik „zu sich kommen“ und ihre schiefe „Subordination“ durch die notwendige „Koordination“ korrigiert werden. Vgl. dazu auch die frühe Refl. 6607 (AA XIX, 106): „Die Alten koordinierten nicht Glückseligkeit und Sittlichkeit, sondern subordinierten sie, weil, wenn beide zwei unterschiedliche Stücke ausmachen, deren Mittel verschieden sind, sie öfters im Streite sind.“ Genau diese rechte „Koordination“ will die kantische Unterscheidung zwischen dem „Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ von der „unbedingten Totalität“ desselben „unter dem Namen des höchsten Gutes“ (IV 235) leisten. In diesem Sinne bemerkt auch K. Düsing: „Systematisch ist aus der Formulierung des Sittengesetzes als kategorischer Imperativ zu ersehen, dass für Kant das Prinzip der Ethik nicht ein Begriff des höchsten Gutes, sondern vorrangig das Prinzip der Pflichtenlehre ist, der … die Lehre vom höchsten Gut und auch die Tugendlehre erst nachfolgen“ (K. Düsing 2010, 172). 32 Vgl. dazu die grundlegenden Ausführungen von Henrich (2004 II, 1519 ff ), die „die Idee der Freiheit“ als „Wendepunkt … dieser Umwendung“ ausweisen (s. bes. 1524 ff ), und dabei den Doppelsinn verdeutlichen: „Die Ideen sind somit beides: Entwurf der Vernunft und Aufschluss über die Vernunft in Beziehung auf eine Wirklichkeit, die ihr [und dies kommt in dem Bild, wonach die „Vernunft an jener Idee der inneren Freiheit ihren Hebel ansetzen kann“, besonders zum Ausdruck: III 393] vorgeordnet ist und die sie zugleich doch einbegreift. Diese Wirklichkeit ist freilich von der Art, dass sie gar nicht gedacht werden kann, ohne ihrerseits das Selbstbewusstsein der Vernunft einzuschließen. Denn Freiheit kann nicht ohne das Bewusstsein von Freiheit gedacht werden. Dieses Bewusstsein aber ist seinerseits Bewusstsein von der Realität der Freiheit. Und das ist wiederum nur möglich, wenn die Stellung des Freiheitsbewusstseins im Ganzen der Vernunftarchitektur zumindest implizit begriffen worden ist“ (ebd. 1524 f ). In diesem Sinne sei von einer „Doppelung in der Verfassung und der Funktion seiner Ideen“ zu reden, die Kant allerdings, so Henrich, „nicht hervorgehoben“ habe (ebd. 1527). 33 Indes darf auch eine dem Begriff der „omnitudo realitatis“ innewohnende besondere Schwierigkeit nicht übersehen werden, die sich in gebotener Rücksicht darauf ergibt, dass diese darin gedachte „Totalität“ als
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… von der objektiven Realität entfernt“ zu sein scheint (II 512), sondern als das „Übersinnliche in uns“ (freilich allein im „Faktum der Vernunft“ offenbar werdend) auch wirklich ist: Als das sich in der „reinen praktischen Vernunft“ manifestierende „Urbild der Menschheit“ (IV 714) wird es in den „moralischen Ideen“ als den „Urbilder[n] der praktischen Vollkommenheit … zur unentbehrlichen Richtschnur des sittlichen Verhaltens, und zugleich zum Maßstabe der Vergleichung“ (IV 259, Anm.). Der als ein Resultat aus jener „größeren Bearbeitung sittlicher Ideen“ hervortretende Prinzipien-Anspruch einer autonom gewordenen Moral – näherhin der Aufweis des „obersten Prinzips der Moral“ (der „Pflicht“-Idee) bzw. „dass reine praktische Vernunft wirklich ist“ – erweist sich als ein höchst folgenreiches Ergebnis dieser in der „Geschichte der reinen Vernunft“ geleisteten Entwicklung und Differenzierung der Idee des „Unbedingten“. Wohlgemerkt: Nach Kant darf, auf dem gesicherten Fundament der späteren „Freiheitslehre“,34 als „fester Punkt, woran die Vernunft ihren Hebel ansetzen kann“, allein eine „Zusammenstimmung“ dieser „realitates“ gedacht werden muss, weil doch erst solcher „consensus“ – ein „Zusammenstimmen wozu“? – die „ratio perfectionis“ zu fundieren vermag, d. h. auf ein „einige(s), allervollkommenste(s) und vernünftige(s) Urwesen führet, worauf uns spekulative Theologie nicht einmal aus objektiven Gründen hinweiset, geschweige uns davon überzeugen konnte“ (II 683 f ). Dieser Bezug auf das „einige, allervollkommenste und vernünftige Urwesen“ rechtfertigt sich nach Kant erst – und auch hier zeigt sich wiederum dieses merkwürdige (und vermutlich Wolff-inspirierte) „perfectio“konstituierende „Consensus-Motiv“ – über die Idee der „systematische(n) Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen“ als einer „moralischen Welt“; letztere „führet unausbleiblich auch auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge, die dieses große Ganze ausmachen, nach allgemeinen Naturgesetzen, so wie die erstere nach allgemeinen und notwendigen Sittengesetzen, und vereinigt die praktische Vernunft mit der spekulativen. Die Welt muß als aus einer Idee entsprungen vorgestellet werden, wenn sie mit demjenigen Vernunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig halten würden, nämlich dem moralischen, als welcher durchaus auf der Idee des höchsten Guts beruht, zusammenstimmen soll“ (II 684). Dieser Sachverhalt bleibt dann auch bezüglich des von Kant geltend gemachten Unterschieds zwischen bloßem „Inbegriff“ und „Grund der Realitäten“ auf seine Relevanz hin zu überprüfen. 34 Kants „Freiheitslehre“ in der „zweiten Kritik“ markiert, wie schon erwähnt, zweifellos eine entscheidende „Kehre“ innerhalb dieses „dritten Stadiums der Metaphysik“ (als „Bruch mit der Schulphilosophie“: Ludwig 2011) – und zwar mit durchaus weitreichenden systematischen Konsequenzen, die eben den Rahmen der „ersten Kritik“ sprengen mussten. Dieser „Bruch“ in der Entwicklung von Kants „Freiheitslehre“ bleibt besonders zu beachten, weil ihr zufolge für diese „Idee der Freiheit“ das „Faktum“ des „Bewusstseins des moralischen Gesetzes“ (als „Faktum der Vernunft“) als „ratio cognoscendi“ vorausgesetzt ist (s. dazu auch u. I., 3.2.1.; IV.). – Ohne die „Umgestaltung“ der kantischen „Freiheitslehre“ (also ohne die radikale Selbstkorrektur des durch einen Einwand von Pistorius gewissermaßen „zurecht gebrachten“ Kant) sind der systematische Ort und Anspruch der „Kritik der praktischen Vernunft“ (und deren Verhältnis zur „Kritik der reinen Vernunft“ bzw. zur „Grundlegungsschrift“ aus dem Jahr 1785) nicht zu verstehen – somit auch nicht die vollzogene Wende, die sich hinter dem unscheinbaren Verweis Kants auf die „vorher kaum zu erwartende und sehr befriedigende Bestätigung der consequenten Denkungsart der spekulativen Kritik“ und den daran geknüpften Sätzen verbirgt: dass nämlich „praktische Vernunft jetzt [!] für sich selbst, und ohne mit der spekulativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Kausalität, nämlich der Freiheit, Realität verschafft (obgleich, als praktischem Begriffe, auch nur zum praktischen Gebrauche), also dasjenige, was dort bloß gedacht werden konnte, durch ein Faktum bestätigt. Hiebei erhält nun zugleich die befremdliche, obzwar unstreitige, Behauptung der spekulativen Kritik, dass sogar das denkende Subjekt ihm selbst, in der inneren Anschauung, bloß Erscheinung sei, in der Kritik der praktischen Vernunft auch ihre volle Bestätigung, so gut, dass man auf sie kommen muss, wenn die erstere diesen Satz auch gar nicht bewiesen hätte“ (IV 110). Diese für das Programm und für den Anspruch der „Kritik der praktischen Vernunft“ entscheidenden Sätze sind unübersehbar durch die Kritik von Pistorius inspiriert, die Kant in der Sache indes mehr
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diese „innere Idee der Freiheit“ gelten, weil diese „durch das unerschütterliche moralische Gesetz, als sichere Grundlage“ (III 393) fundiert ist – worin allein „Begriff und Realität“ gewissermaßen in untrennbarer Weise verknüpft sind (und eben dies, wie sich zeigen soll [s. u. IV. Teil], sie zu einer Umwendung der Ideenlehre qualifiziert): „Man kann keiner theoretischen Idee objektive Realität verschaffen oder dieselbe beweisen, als nur der Idee von der Freiheit, und zwar, weil diese die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, dessen Realität ein Axiom ist. – Die Realität [!] der Idee von Gott kann nur durch diese und also nur in praktischer Absicht, d. i. so zu handeln, als ob ein Gott sei, – also nur für diese Absicht bewiesen werden“ (III 523).35 Der besondere – keinesfalls als „fiktionalistisch“ irritieren musste (und zu einer Selbstkorrektur veranlasste), als diese Sätze für sich genommen erkennen lassen. Pistorius hatte gegen Kant den Einwand erhoben: „Ich frage […], wenn das ganze Seelenwesen des Menschen, seine ganze Vorstellungskraft mit allen ihren Wirkungen für Erscheinungen muß gehalten werden, […] wie man dann einen Teil dieses Seelenwesens – und etwas anderes ist doch die Vernunft nicht – für ein Noumenon, oder ein Ding an sich selbst erklären könne. Woher wir bei der vorausgesetzten völligen Unbekanntschaft der intelligiblen Welt und den Dingen an sich selbst es wissen können, dass etwas zu des Menschen subjektiven und scheinbaren Denkkraft Gehöriges, nämlich seine Vernunft, und folglich auch Er selbst, insofern er mit Vernunft versehen ist, ein Teil der Verstandeswelt, ein Ding an sich selbst sei? Um dies nur vorauszusetzen, müssten wir ja diese Welt schon insofern kennen, dass wir wüssten, sie enthalte mannichfaltige Dinge oder wirkliche Teile, und woher wollen wir dies bei der undurchdringlichen Kluft, die der Verfasser zwischen beiden Welten setzt, hier in der Sinnenwelt erfahren? Aber gesetzt, wir wüssten es, dass der Mensch, insofern er Vernunft besitzt, ein Ding an sich selbst sei, so wüssten wir ja auch zugleich mit ebenderselben Gewissheit, dass das vernünftige Wesen nicht bloß dem Scheine nach, sondern wirklich in sich ein denkendes für sich bestehendes Subjekt sei, oder eine denkende Substanz sei“ (so Pistorius, zit. n. Ludwig 2010, 609 f ). Von diesem „Pfeil“, so Ludwig, sah Kant sich „tödlich getroffen“ (ebd.) – und dennoch offenbar zugleich auf eine Weise zu neuem Leben erweckt, die ihn auf die maßgeblichen Korrekturen und somit auf die in der „Kritik der praktischen Vernunft“ beschrittenen neuen Wege führte. Es ist von daher, d. h. angesichts solcher „Wirkung“ auf Kants Selbstkorrektur und deren Bedeutung für seine spätere Position (und den darin vollzogenen „praktischdogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“), nur allzu verständlich, dass Kant Pistorius würdigte als einen „scharfen mir aber wegen seiner sorgfältigen vollkommenen Kennergleichen Beurteilung (ob er sich zwar nur einen Liebhaber der Metaphysik nennet) schatzbaren Recensenten in der Allg. Deut. Bibl. … weil echte Wahrheitsliebe und hiemit Gründlichkeitsliebe aus seinem lebhaftesten Tadel hervorleuchtet eine Eigenschaft die mir in Gegenschriften noch bisher nicht oft vorgekommen ist“ (zit. n. Ludwig 2010, 610); s. zu diesen angezeigten Fragen die insgesamt sehr erhellenden Analysen von Ludwig 2010; 2011. – B. Gesang (2007, VII ff ) hat in seiner Einleitung zu den von ihm herausgegebenen Kant-Rezensionen von Pistorius in instruktiver Weise dargelegt, dass in diesen Rezensionen verschiedene Themen und Schwierigkeiten der kantischen Philosophie angesprochen werden, die nach wie vor in der Kantforschung kontrovers beurteilt werden. Ebenso merkt Gesang an, dass Pistorius „als Entdecker dieser Probleme bei Kant“ (Gesang 2007, XL) anzusehen sei; schon H. E. Allison (Kant’s theory of freedom. Cambridge et al. 1990) habe nachdrücklich auf die „Kritik der kantischen Freiheitstheorie von Pistorius“ hingewiesen. – Besonders interessant sind diese Kant zu einer Korrektur bewegenden Einflüsse freilich gerade auch im Blick auf die Motive, die ihn (ziemlich zeitgleich) in seinem „Orientierungs“-Aufsatz bewogen haben (so die Orientierungs-Metapher selbst) und einen aufschlussreichen Ausblick auf die „Architektonik“ der „zweiten Kritik“ eröffnen. 35 Auch hier ist die Zweideutigkeit des Begriffs der „Realität“ nicht zu übersehen (s. dazu u. III., 3.1.2.). – Die angeführten Stellen machen deutlich, dass sich Kant nach der Pistorius-Kritik mit seiner früheren „Freiheits“-Argumentation offenbar nicht mehr begnügen konnte: „Der praktische Begriff der Freiheit hat in der Tat mit dem spekulativen, der den Metaphysikern gänzlich überlassen bleibt, gar nichts zu tun. Denn woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetzt handeln soll, gekommen sei, kann mir ganz gleichgültig sein; ich frage nur, was ich nun zu tun habe, und da ist die Freiheit eine notwendige praktische Voraussetzung und eine Idee, unter der ich allein Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann. Selbst der
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zu entlarvende – Charakter dieses „Als-ob“ wird noch näher zu verfolgen sein (s. dazu u. IV., 3.2.1.). Schon hier sei jedoch darauf hingewiesen (was in den späteren religionsphilosophischen Themen noch ausführlich zu verfolgen sein wird): Die kritische Erhellung der „Als-ob“-Perspektive bedeutet zugleich deren Legitimation und ist somit von dem Bestreben geleitet, sie vor dem „Fiktionalismus“-Vorwurf zu bewahren. So zeigt sich: Dem in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ausgebildeten, dabei von allem Überschwang befreiten „Ideal der Vernunft“ (dem „Urbild des Guten“ im Sinne der platonischen „Idee des Guten“) – als dem äußersten bzw. schlechthin unbedingten „Gedanke(n) des Abschlusses“ – stehen zunächst die Idee des „absolut Guten“ (der Moralität), näherhin die „Urbilder der praktischen Vollkommenheit“, der „ursprünglichen Gesetzgebung“ und sodann die (noch alle stoische Tugend als heroische „Seelenstärke“ überwindende)36 Idee der „Heiligkeit“ und der darin gründende reine Begriff der „moralischen Autonomie“ bzw. die Idee der „Freiheit“ gegenüber. Nach Kant darf die unübersehbare Korrespondenz dieses geschichtlichen „Fortschreitens im Bewusstsein der Freiheit“ mit diesem „Fortschritt im Bewusstsein der Gottheit“ (als des als „metaphysischer Gott“ verstandenen „höchsten metaphysischen Guts“: III 641) als entscheidendes Ergebnis aus dieser in der „Geschichte der reinen Vernunft“ geleisteten Differenzierung des „Absoluten“ angesehen werden. Für die darin hervortretenden Ideen des „Übersinnlichen in uns“ und des „Übersinnlichen außer uns“ klärt sich mit ihrer zutage tretenden Bestimmtheit auch deren unterschiedlicher Unbedingtheits-Anspruch und begründet solcherart Konstellationen der Vernunftideen, die eine bemerkenswerte „teleologia rationis humanae“ (II 700) erkennen lässt. Jener frühe programmatische Hinweis auf „Theologie und Moral“ als die „zwei Triebfedern, oder, besser, Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat“, findet in dem von ihm selbst so genannten – und auch für sein eigenes Unternehmen als „Kritik und Metaphysik“ beanspruchten – „dritten Stadium der neueren Metaphysik“ eine systematische Einlösung. Die systematische Explikation der spannungsvollen Einheit jener „Ideen des Übersinnlichen“ erweist sich bekanntlich als das Fundament der von Kant später so genannten „praktisch-dogmatischen Metaphysik“ und des darin geltend hartnäckigste Skeptiker gesteht, dass, wenn es zum Handeln kommt, alle sophistische Bedenklichkeiten wegen eines allgemein täuschenden Scheins wegfallen müssen. Ebenso muss der entschlossenste Fatalist, der er ist, solange er sich der bloßen Spekulation ergibt, dennoch, solange es ihm um Weisheit und Pflicht zu tun ist, jederzeit so handeln, als ob er frei wäre, und diese Idee bringt auch wirklich die damit einstimmige Tat hervor, und kann sie auch allein hervorbringen“ (VI 777). Die „Gewissheit“ der „ihre Realität durch die Tat“ erweisenden „praktischen Vernunft“ bleibt davon unterschieden. Der in der oben zitierten Rezension nur beiläufige Bezug auf die „Freiheit [als] eine notwendige praktische Voraussetzung und eine Idee, unter der ich allein Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann“, gewinnt unter den Vorzeichen der neuen „Freiheitslehre“ offenbar einen besonderen Stellenwert und besagt nunmehr dies: Um uns als „moralische Vernunftwesen“ begreifen und entsprechend handeln zu können (wozu wir durch den unabweislichen Anspruch des „moralischen Gesetzes“ genötigt sind), müssen wir (d. h. sind dazu nicht nur berechtigt) „Freiheit“ als Bedingung jenes „unbedingten Sollens“ voraussetzen. 36 Noch in den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“ betonte Kant: „Daß die Tugend der Heiden nicht aus dem Prinzip der Pflicht, sondern der bloßen Selbstbeherrschung, mithin der eigenen Freiheit abgeleitet“ sind (AA XXIII, 435); die allein prinzipientheoretisch ausweisbare Differenz zur „Ethik der Alten“ hat sich nach Kant selbst erst in Auseinandersetzung mit ihnen entfaltet bzw. geklärt.
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gemachten sicheren „Überschritts zum Übersinnlichen“ (s. u. III. Teil). Darin finden, diesen Differenzierungen gemäß, zuletzt auch der „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ ihre Vereinigung und fundieren so, wie sich noch zeigen soll, zuletzt auch den systematischen Ort der Religion37 im „System der Vernunft“, der jenen „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ widerspiegelt. Zu der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ entwickelten „teleologia rationis humanae“ gehört demzufolge nicht zuletzt die Differenzierung der „theologischen Idee“ im Sinne der „transzendentalen“ und „natürlichen Theologie“ sowie der „Moraltheologie“, deren systematische Vermittlung wiederum der „Theologie“ als dem „dritten Stadium der Metaphysik“ aufgegeben ist. Damit ist engstens der Aufweis verbunden, dass erst in Letzterer die Verknüpfung des „gereinigten“ Gottesbegriffs und der „Prinzipien der Moral“ eingelöst werden und daraus auch ein „gereinigter“ („theistischer“) Gottesbegriff resultieren kann, der erst dem Anspruch der „moralischen Heiligkeit“ genügt.38 Jener Sachverhalt, dass der in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ zutage tretenden zunehmenden Läuterung der „moralischen Begriffe“ eine Überwindung der „rohe(n) und umherschweifende(n) Begriffe von der Gottheit“ direkt korrespondiert (II 685 f )39, hat nach Kant zur Folge, dass das „religiöse Verhältnis“ im unbedingten Anspruch des Moralischen verankert gedacht werden muss; erst so wird das religiöse Verhältnis über alle Kultivierung hinaus im strengen Sinne „moralisiert“ und auch ein entsprechend gereinigter „Begriff vom göttlichen Wesen“ legitimiert. Dergestalt, so soll sich zeigen, wird das „religiöse Verhältnis“ als ein allein
37 Dies ist auch schon in dem Bezug auf eine „Idee eines Ganzen der Erkenntnis nach Prinzipien überhaupt“ angesprochen, d. h. „was ihr [der Erfahrung] allein eine besondere Art der Einheit, nämlich die von einem System, verschaffen kann, ohne die unser Erkenntnis nichts als Stückwerk ist, und zum höchsten Zwecke (der immer nur das System aller Zwecke ist) nicht gebraucht werden kann; ich verstehe aber hier nicht bloß den praktischen, sondern auch [!] den höchsten Zweck des spekulativen Gebrauchs der Vernunft“ (III 223 f ). Hier ist unverkennbar als Zielpunkt die Einheit des „Schul- und Weltbegriffs der Philosophie“ als „Endzweck der Metaphysik“ überhaupt thematisiert. Kants späte Bezugnahme auf „ein Ganzes der Vernunfterkenntnis aus Begriffen in einem System“ (AA XXI, 119) knüpft hier an. 38 Es ist hier der Frage nicht näher nachzugehen, ob im Blick auf die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ bzw. in Orientierung an der Idee der „Archäologie der Vernunft“ auch die Idee der „Heiligkeit“ zu den aus „Theologie und Moral“ „abgezogenen“, in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ ausgebildeten und gereinigten „Vorstellungen“ zu rechnen ist; denn der besondere Gehalt dieser Idee des „Heiligen“ setzt offenbar die Ausbildung eines „absolut Transzendenten“, d. i. einer von allen Anthropomorphismen befreiten Gottesidee, ebenso voraus wie die moralische Idee des „heiligen Willens“. Die kantische Bestimmung der „völlige(n) Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze“ als einer innerhalb der individuellen Lebensgeschichte unerreichbaren, gleichwohl erstrebten „Vollkommenheit“ (IV 252), die so als ein „zur Gottheit selbst, die nur durch ihre Heiligkeit und als Gesetzgeber für die Tugend anbetungswürdig ist, Hinleitendes“ (IV 857) gedacht wird, weist darauf hin und liegt auch dem Verweis auf Gott als den „heilige(n) Gesetzgeber (und Schöpfer)“ (IV 263, Anm.) zugrunde. Eine von Kants Rekurs auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ ausgehende Bezugnahme auf die berühmte Studie über „Das Heilige“ von R. Otto und die dort dargelegten Differenzierungen (zum „Numinosen“ und „Tremendum“, aber natürlich auch zum „Erhabenen“) ist hier nicht zu leisten. 39 Hegels Auffassung ist zweifellos bei Kant vorgezeichnet – nicht zuletzt in seinem Rekurs auf den (mono-)„theismus moralis“: „Die Vorstellung, welche der Mensch von Gott hat, entspricht der, welche er von sich selbst, von seiner Freiheit hat. … Die Vorstellungen von Gott und von der Unsterblichkeit haben eine notwendige Beziehung aufeinander: wenn der Mensch wahrhaft von Gott weiß, so weiß er auch wahrhaft von sich: beide Seiten entsprechen einander“ (Hegel 16, 83).
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moralisch-praktisch begründetes „Verhältnis“ ausgewiesen, das als ein solches – über die zunehmende Differenzierung der „Vernunft“ als „Vermögen der Prinzipien“ und der „unbedingten Zwecke“ – aus der „Geschichte der Vernunft“ „gereinigt“ hervorgegangen ist und in der Folge andere – durchaus religionsfremde – „zweckrationale“ Bezüge und deren Imperative und Regeln („technisch-praktischer Art“ im weiteren Sinne, als zu befolgende „statutarische Observanzen“) auch erst überwinden lässt. Dass „Theologie und Moral“ als jene „Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“ beansprucht wurden, „denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat“, impliziert im Grunde schon den Hinweis auf daran anschließende Differenzierungen, nicht zuletzt die Vernunftidee des „Absoluten“ selbst betreffend. Denn gemäß seiner Einsicht: „Das Absolut-Gute kann … und muss als Prinzip zu dem, was darin … durch Freiheit geschieht, gedacht werden, aber dadurch, dass es selbst unbedingt ist, ist es noch nicht das Ganze, was zum höchsten Gut erforderlich ist“,40 gehören dazu auch die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erst zutage tretenden „abgeleiteten“ Differenzierungen – nicht zuletzt diejenigen, die Kant selbst vornimmt: So hat er bekanntlich ausdrücklich das „Gute und Böse“ als die „alleinigen Objekte einer praktischen Vernunft“ geltend gemacht und von anderen Perspektiven abgegrenzt – zumal doch (wie schon aus der „Geschichte der Moralphilosophie“ erkennbar ist) der Begriff des „schlechterdings, in aller Absicht“ Guten von anderen Aspekten desselben streng unterschieden bleiben muss;41 allein in dem Begriff des „moralisch Guten“ spiegle sich doch das „Paradoxon“ 40 So heißt es in der (für die 1790er-Jahre datierten) Refl. 7313, AA XIX, 310. Vgl. auch die mit ausdrücklicher (vornehmlich durch Cicero vermittelter) Bezugnahme auf die Stoiker vorgenommene Bestimmung: „… et perfectio haec absoluta quatenus utrum aliquid inde actuatur nec eo est indeterminatum dicitur moralis“ (AA XX, 148); dies nötigt nach Kant freilich zu weiteren Differenzierungen. Vgl. im Sinne dieser Differenzierung auch Refl. 6890 (AA XIX, 194 f ): „Es kann überall nichts … schlechthin Gutes sein als ein guter Wille … Das Übrige ist entweder mittelbar gut oder nur unter einer restringierenden Bedingung. Allgemeine Glückseligkeit ist für die sehr gut oder angenehm, die sie genießen, aber schlechthin gut ist sie nicht, d. i. vor jedermanns Augen, d. i. in dem allgemeinen Urteil der Vernunft, wenn die, die solche genießen, keine Würdigkeit derselben in ihrem Verhalten haben. […] Der freie Wille und dessen Beschaffenheit … ist allein einer inneren Bonität fähig. Daher nicht die Glückseligkeit, sondern die Würdigkeit, glücklich zu sein, ist das, was die oberste Bedingung alles Guten ausmacht.“ 41 Die „Vernunftidee des Unbedingten“ ist nach Kant in der Tat „einerseits [zu] verstehen als das letzte Bedingende, welches seinerseits keine Bedingung vorausliegen hat, und es kann andererseits aufgefasst werden als die Totalität der Reihe aller Bedingungsverhältnisse. […] Den Doppelaspekt der Idee des Unbedingten, nämlich ebensowohl die Letztheit des Ursprungs wie die Totalität des von ihm Begründeten zu bezeichnen, bringt Kant auch in der Exposition des praktisch-philosophischen Gegenstandsbegriffs in der ‚Dialektik‘ der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ zur Anwendung. Das im Begriff des summum bonum enthaltene Merkmal summum – und damit zugleich das Verhältnis des Praktisch-Unbedingten zum Praktisch-Bedingten – kann nach zwei verschiedenen kategorialen Hinsichten betrachtet werden: Nach dem Schema Grund/Folge muss es als supremum-originarium, das Praktisch-Unbedingte als letztbegründender Ursprung verstanden werden; nach dem Schema Ganzes/Teil ist es als consummatumperfectissimum, das Praktisch-Unbedingte als ein solches Ganzes aufzufassen, welches nicht Teil eines noch größeren Ganzen ist, bzw. als Totalität“ (U. Barth 1994, 282 f ). Deshalb bleibt der „Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“ von der „unbedingten Totalität“ desselben noch zu unterscheiden. In der Tat: „Die ‚Analytik‘ expliziert den Gegenstand der praktischen Vernunft als unbedingten Wert, die ‚Dialektik‘ stellt eine Telosformel für endliche Vernunftwesen auf. Es liegt auf der Hand, dass der Begriff des Guten für Kant nur dann als zureichend expliziert werden konnte, wenn beide Bedeutungskomponenten gleichermaßen zu ihrem Recht kamen“ (ebd. 284). Auf diese erhellenden Analysen Barths zu „Kants
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wider, dass dieser erst „von einem vorhergehenden praktischen Gesetze abgeleitet werden“ (IV 175) und so das „schlechterdings Gute“, „als Folgen der Willensbestimmung a priori, auch ein reines praktisches Prinzip, mithin eine Kausalität der reinen Vernunft voraussetzen“ müsse (IV 183). Dieses „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft …, dass nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem es dem Anschein nach so gar zum Grunde gelegt werden müsste), sondern nur … nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“ (IV 180), markiert ein entscheidendes, ja geradezu revolutionäres Ergebnis in diesem „dritten Stadium der Metaphysik“ (eben innerhalb der „Metaphysik der Sitten“), das offenbar sich einer Aneignung „nominalistischer“ Motive auf dem Gebiet der praktischen Philosophie und ihrer Entwicklung des Begriffs der „Freiheit“ verdankt. Dass das „zu dem praktisch-Bedingten“ gesuchte „praktisch-Unbedingte“ als „Bestimmungsgrund des Willens“ („Triebfeder“) von der „unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (IV 235) unterschieden werden muss (deren „Idee“ noch über den „Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“ hinausweist), ist Kant zufolge selbst ein wichtiges Thema bzw. Ergebnis der Vernunftkritik (und ihres Bemühens um Auflösung der „natürlichen Dialektik“: IV 234 ff ). Demgemäß bleibt von dieser Bestimmung des „schlechterdings und ohne Einschränkung“ „gut“ zu nennenden (IV 28), d. i. des „schlechterdings Guten“ (des „Gegenstands der reinen praktischen Vernunft“ als der „oberste[n] Bedingung alles Guten“: IV 180), der Begriff des „höchsten Gutes der praktischen Vernunft“ zu unterscheiden, das als deren „ganzer Gegenstand“ (IV 237) ausgewiesen wird und des Weiteren zur Frage nach dessen „unumgänglicher Voraussetzung“ führt. Als ein wesentliches Ergebnis aus jener „Geschichte der reinen Vernunft“ darf solcherart die Verknüpfung der darin geläuterten Ideen des „Übersinnlichen außer uns“ und des „von aller Beimischung des Sinnlichen entkleideten“ „Übersinnlichen in uns“ (d. i. „Theologie und Moral“ als den absoluten „Beziehungspunkten zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“) angesehen werden. Es sind die daran geknüpften Differenzierungen des „obersten“ und des „vollendeten Gutes“ sowie dessen „Ermöglichungsgrundes“ (näherhin deren Spezifikation als „bonum supremum“ bzw. „originarium“, als „bonum consummatum“ und „perfectissimum“), aus denen sodann die daraus „abgezogenen“ Ideen resultieren und die ihre besondere systematische Fruchtbarkeit nicht zuletzt als Fundament der gereinigten „Vernunftreligion“ erweisen. Noch die späte Unterscheidung des nur „grenzbegrifflich“ thematisierbaren „Übersinnlichen außer uns“ und seiner „Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft)“ (III 388) sowie das daraus zu begründende Verhältnis der Einheit und Differenz derselben ist ein Ergebnis aus dieser „Geschichte“, das dem späten Kant offenbar viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Darin steht nicht zuletzt auch der zu begründende Unterschied eines „unbedingten Sinns“ und eines „Sinns des Unbedingten“ und deren Verhältnis zueinander auf dem Spiel, ebenso die für die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ maßgebende Perspektive, ob im Sinne einer darin vollzogenen Ausdifferenzierung des VernunftbeBegriff eines Gegenstands der praktischen Vernunft und der systematische Ansatz der Religionsphilosophie“ sei ausdrücklich hingewiesen.
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griffs dieser „Sinn des Unbedingten“ als Transformationsgestalt des „unbedingten Sinns“ verstanden werden kann – wodurch gleichsam die „verschleierte Göttin“ als die „unverletzliche Majestät des moralischen Gesetzes“ selbst vernehmbar wird.42 Diese Bestimmungen resultieren jedenfalls allesamt aus dem unverkürzten Programm einer „Kritik der praktischen Vernunft“, zumal dieses sich keineswegs in dem Nachweis erschöpft, dass es „reine praktische Vernunft gibt“, d. i. „reine Vernunft für sich allein praktisch“ und somit „gesetzgebend“ ist (IV 132 f ), sondern in diesem erweiterten Sinne überdies – nach einer notwendigen Differenzierung und Vermittlung der ganz „ungleichartigen Prinzipien“ der praktischen Vernunft43 – auf die „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (IV 235) verweist und im Blick darauf zugleich die diesbezügliche Ohnmacht der „praktischen Vernunft“ indiziert: Ausgehend vom „unbedingt Praktischen“ (als der „oberste[n] Bedingung alles Guten“: IV 180)44 wird nunmehr, im Blick auf die „Moralität und ihre Folgen“, im Sinne eines „progressiven“ Fortganges zur Totalität, gemäß der „Idee einer moralischen Welt“ (II 679), auch die „Hoffnung der Zukunft“ im Sinne des „Ganzen aller Zwecke“ und deren „Bedingungen“ miteinbezogen.45 Der in Kants „zweiter Kritik“ (und der darin vollzogenen „radikalen Umgestaltung“ seiner „Freiheitslehre“) intendierte Aufweis, dass „rei42 Wenn ohne den erst auszuweisenden „Sinn des Unbedingten“ die grenzbegriffliche Thematisierung eines „unbedingten Sinnes“ nicht möglich ist, so ist folgende Analogie wohl naheliegend: Dass die „Vernunft dem Menschen im moralischen Gesetz den Spiegel“ vorhält (VI 324), verhält sich zu dem späten Motiv des „opus postumum“: „Wir schauen Ihn an gleich als in einem Spiegel: nie von Angesicht zu Angesicht“ (AA XXI, 33), so wie das Verhältnis des „Sinns des Unbedingten“ zur grenzbegrifflichen Idee eines „unbedingten Sinns“ – eine kritizistisch gebrochene „Verhältnisanalogie“, die auch Kants spätem „Sonnengleichnis“ zugrunde liegt (s. u. III., 3.1.1.). 43 Dass Kant die Ausbildung der Idee des „höchsten Gutes“ (als eine besondere Gestalt des „Unbedingten“) selbst der „Geschichte der reinen Vernunft“ zugeordnet hat, zeigt schon sein Rekurs auf die Schulen der „Epikureer“ und der „Stoiker“, obgleich ihm zufolge eben zu bedauern sei, „dass die Scharfsinnigkeit dieser Männer (die man doch zugleich darüber bewundern muß, dass sie in so frühen Zeiten schon alle erdenkliche(n) Wege philosophischer Eroberungen [!] versuchten) unglücklich angewandt war, zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend, Identität zu ergrübeln“ (IV 240). Ihr spezifischer Ort und ihr besonderer philosophiegeschichtlicher Stellenwert in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ist nach Kant eben darin zu sehen, diese „nie zu vereinigenden Unterschiede in Prinzipien“ der praktischen Vernunft sichtbar gemacht zu haben; die in diesen Versuchen zutage tretende Vergeblichkeit, „Einerleiheit der praktischen Prinzipien der Tugend und Glückseligkeit zu ergrübeln“ (ebd.), und die daraus resultierende Aufgabe, hat Kant als eine besondere Herausforderung für den im „dritten Stadium der Metaphysik“ zu leistenden „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ angesehen. 44 Die Differenzierung und systematische Begründung dieses „unbedingt Praktischen“ lässt bei Kant innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ jene entscheidende „Umgestaltung“, ja sogar einen „Bruch“ innerhalb der kantischen „Freiheitslehre“ erkennen (vgl. Ludwig 2010; 2011). Die prinzipielle Differenz zwischen der „Grundlegungsschrift“ und der „Kritik der praktischen Vernunft“ hinsichtlich der Bestimmung des „unbedingt Praktischen“ (in der Freiheitslehre) und die darin von Kant vollzogene Korrektur gehört also selbst zu den im „dritten Stadium“ (dem er selbst sich zurechnete) zu leistenden Differenzierungen, ja stellt sogar eine ganz entscheidende Etappe auf dem Weg zum „praktisch-dogmatischen Überschritt“ dar – ebenso wie die in der „zweiten Kritik“ gegenüber dem „Kanon der reinen Vernunft“ abgeänderte „Triebfederlehre“. Dies gilt natürlich erst recht für die korrigierte Paralogismenlehre (aus dem Jahr 1787). 45 Insofern kann, was M. Albrecht allerdings mit Blick auf die einschlägige Interpretation von J. Silber kritisiert, wohl tatsächlich davon gesprochen werden, dass „dem Begriff des höchsten Gutes eine Schlüsselposition für die Interpretation der gesamten Kritik der praktischen Vernunft“ zukommt (Albrecht 1978, 155).
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ne praktische Vernunft ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat erweist“, führt in begründungstheoretischer Hinsicht freilich über die Thematisierung „des Begriffs der Freiheit im praktischen Verstande“ (im „Kanon“ der „ersten Kritik“: II 673 ff ) hinaus;46 daran knüpfen sich sodann die Bestimmung des „ganzen Gegenstandes“ und die notwendige diesbezügliche kritische Begrenzung der Ansprüche der „praktischen Vernunft“. Erschöpft sich doch dieser „ganze Gegenstand“ nicht in der „Beziehung des Willens auf die Handlungen“, sondern er erstreckt sich in besonderer Weise auf die moralisch zwar durchaus relevanten, gleichwohl unverfügbaren Handlungsfolgen – d. i. „als Folge von ihrer Bestimmung durchs Gesetz“ (V 650). Diese sich in der „Geschichte der reinen Vernunft“ herausschälenden mehrdimensionalen Bestimmungen des Begriffs des „Absoluten“47 und die Klärung ihres unauflöslichen Zusammenhanges und ihrer „Ordnung“ sind laut Kant als ein unverlierbarer Ertrag dieser Entwicklung zu würdigen, die sodann auch in dem zweifachen „Vernunftbedürfnis“ – d. i. dem „relativen“ Bedürfnis in ihrem „theoretischen Gebrauch“ und dem unbedingten „Bedürfnis in ihrem praktischen Gebrauch“ und ihrer Einheit – einen Niederschlag findet und so erst auf die Idee eines wahrhaft „unbedingten Unbedingten“ sowie auf die daran geknüpften Dimensionen des „Übersinnlichen“ führt. Als ein entscheidendes Ergebnis jener in der „Geschichte der reinen Vernunft“ geleisteten Explikation der Idee des „Unbedingten“ darf zunächst jedoch die selbst aus dieser „teleologia rationis humanae“ resultierende Einsicht gelten, dass aus diesen den Schul- und Weltbegriff entwickelnden Bestimmungen die Philosophie ihren besonderen – obwohl selbst noch einmal gestuften – Rang gewinnt und sich darin in recht unterschiedlicher Weise „die Stimme der Vernunft“ erhebt: „Philosophie ist also das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist 46 In der Tat: „Mit dem Kanon verlässt Kant die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und untersucht den reinen praktischen Vernunftgebrauch. Hier geht es um die Frage, ob es einen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft gibt. […] Der Kanon eröffnet die über die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie hinausweisende Perspektive der praktischen Dimension der reinen Vernunft. Hier entwickelt Kant die Grundzüge seiner Theorie von der konstruktiven Kompetenz der reinen Vernunft als praktischer Vernunft. Die Idee der Selbstbegründung menschlicher Praxis, die Idee der Autonomie als Selbstbestimmung aus reiner Vernunft, wird mit dem Kanon als das wesentliche Fazit aus der Kritik der reinen Vernunft insgesamt eingeführt“ (Mohr 2004 III, 352). Gleichwohl hat Kant sich veranlasst gesehen, diese zwar im „Kanon“ eingeführten Themen auf dem neuen Fundament der „Freiheitslehre“ neu zu begründen und zu entfalten; dies war innerhalb der „ersten Kritik“ nicht mehr hinreichend zu leisten und machte offenbar den in der „Kritik der praktischen Vernunft“ unternommenen Neuansatz unumgänglich. 47 „Nun strebt die Vernunft unaufhaltbar nach etwas Unbedingtem; sonst kann sie [ihre Aufgabe] nie vollenden. Diese Bestrebung hat die Metaphysik hervorgebracht.“ Es sind lediglich unterschiedliche Nuancierungen des „logischen Gebrauchs der Vernunft“, in vernunftimmanenter Gedankenbewegung den Überstieg vom Bedingten und Bedingungen bis hin zur Idee eines „schlechthin Unbedingten“ zu vollziehen, denn: „Die Vernunft würde nie vollenden, nie das Erkenntnis nach seiner Möglichkeit ganz umfassen, wenn sie nicht zum Unbedingten überginge, zu dem Grunde, der von keinem anderen abhängt“ (Kowalewski 1965, 525 u. 573). Dies bleibt freilich hinsichtlich der differenzierten theoretischen und praktischen Vernunftansprüche noch näher zu konkretisieren. Den zweitgenannten Aspekt betonte Kant besonders in AA XX, 335: „Ursprung [!] der kritischen Philosophie ist Moral, in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit der Handlungen“ (womit Kant offenbar insbesondere auf die „dritte Antinomie“ abzielte).
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der Schulbegriff von dieser Wissenschaft“ (III 446), eben als ein „System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die systematische Einheit dieses Wissens, mithin die logische Vollkommenheit der Erkenntnis zum Zwecke zu haben“ (II 700). Genauer besehen – und d. h. vor allem: in gebotener Rücksicht auf die dem „dritten Stadium der Metaphysik“ immanenten notwendigen Differenzierungen – bleibt freilich zu beachten, dass der von Kant einer „Deduktion der Ideen der reinen Vernunft“48 zugedachte Aufweis, dass diese nicht „bloß leere Gedankendinge“ sind, sondern ihnen in gewisser Hinsicht durchaus „objektive Gültigkeit“ zukommt, zwar als „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ (II 583) anzusehen sei, wofür eben jener Unterscheidung zwischen dem „Gegenstand schlechthin“ (d. i. „in der Realität“: II 601) und dem „Gegenstand in der Idee“ ein besonderer Stellenwert zukomme. Jedoch bleibt von dieser „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ die „Metaphysik“ als „die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft“ noch zu unterscheiden, „die unentbehrlich ist, wenn man gleich ihren Einfluss, als Wissenschaft, auf gewisse bestimmte Zwecke bei Seite setzt“ (II 708); an diese für das „dritte Stadium der Metaphysik“ grundlegende Unterscheidung knüpft diejenige zwischen „Kritik der Vernunft“ und dem „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ an, die sodann auch den späten Ausblick auf den „Endzweck der Metaphysik“ rechtfertigen soll (s. u. III., 1.). Erst in den Themen der „metaphysica specialis“ werden die analysierten Ideen des „Unbedingten“ bzw. des „Übersinnlichen“ als „theoretische“ und „praktische Vernunftideen“ sodann auch in ihrem zweckmäßigen Zusammenhang näher expliziert und zuletzt als ein „System subjektiver Ideen“ geltend gemacht (s. u. III., Anm. 182), worin erst der „ganze Zweck der Metaphysik“ seine angemessene Einlösung finden kann. Demgemäß gewinnt bekanntlich der ebenfalls in die „Geschichte der Vernunft“ einzubindende „Weltbegriff der Philosophie“ einen besonderen Stellenwert, sofern, entsprechend der Charakterisierung der Vernunft als Einheit der „Vermögen der Prinzipien und der Zwecke“, nicht bloß die systematische Freilegung der „theoretischen und praktischen Vernunftprinzipien“ unumgänglich ist. Vielmehr erweist sich in der „Geschichte der reinen Vernunft“ selbst die systematische Unterscheidung der „wesentlichen“ und der „höchsten Zwecke der Vernunft“ als unverzichtbar; ebendies ist bekanntlich das eigentliche Geschäft dieses „Weltbegriffs der Philosophie“, wobei näherhin eine solche systematische Darlegung dieser „höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit“ (II 441) diesen ebenfalls in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erst zu sich kommenden 48 Diese „Deduktion der Ideen“ ist freilich von der Deduktion der Verstandeskategorien ganz verschieden: „Die Ideen der reinen Vernunft verstatten zwar keine Deduktion von der Art, als die Kategorien; sollen sie aber im mindesten einige, wenn auch nur unbestimmte objektive Gültigkeit haben …, so muss durchaus eine Deduktion derselben möglich sein, gesetzt, dass sie auch von derjenigen weit abwiche, die man mit den Kategorien vornehmen kann“ (II 583). Vgl. zu diesen Fragen der Möglichkeit und des Status dieser „Deduktion“ die Hinweise bei R. Zocher (1958); Theis (1997); Karasek (2010); kritisch auch Mohr 2004 III, 316 ff. – Bedeutsam ist die „Deduktion“ dieser Ideen freilich schon deshalb, weil sie sodann als „theoretische Stütze“ der „moralischen Ideen und Grundsätze“ fungiert und ohne sie auch „Moral und Religion“ ihr Fundament verlieren. Die „Selbsterkenntnis der Vernunft“ als das „beschwerlichste aller ihrer Geschäfte“ (II 13) ist freilich auch auf die einer kritischen Metaphysik abverlangte Legitimation und Limitation der „transzendentalen Vernunftideen“ und ihrer Transformation zu beziehen.
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„Weltbegriff der Philosophie“ „abschließt und krönt“:49 „Wesentliche Zwecke sind darum noch nicht die höchsten, deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann. [50] Daher sind sie entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke, die zu jenem als Mittel notwendig gehören. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral“ (II 701). Dieser Aufweis eines „Endzwecks“ wird also nicht nur als „Wissenschaft gesucht“ und erschöpft sich mithin auch nicht in der „systematischen Einheit dieses Wissens“; im Unterschied zu jener bloß „logischen Vollkommenheit der Erkenntnis“ stellt diese (in einem sehr weiten Sinne gefasste) „Moral“51, in einer lebensorientierenden Absicht, auf die „höchsten Zwecke“ menschlichen Daseins ab, die als solche über die „wesentlichen Zwecke“ noch hinausweisen52 und in bzw. als „reine praktische Teleologie, d. i. eine Mo49 Es wird sich noch zeigen, dass der „Weltbegriff der Philosophie“ die gestufte Differenzierung des „höchsten Gutes“ leisten muss; demgemäß bleibt die politisch-rechtliche Sinndimension des „höchsten politischen Gutes“ von der an der „allgemeinen Glückseligkeit“ (gemäß der umgreifenden Idee der „moralischen Welt“) ihr Maß nehmenden Dimension des „höchsten Gutes“ zu unterscheiden, während innerhalb der Letzteren die subjekt-zentriert am je „individuellen Existenzvollzug“ orientierte Sinnperspektive (als in der Idee des „höchsten Gutes“, d. h. dem „Ganzen aller Zwecke“, „mitenthalten“) noch einen besonderen Anspruch in der „Rangordnung der Zwecke“ zur Geltung bringt; entsprechend gewinnt auch das Hoffen-Dürfen einen unterschiedlichen Gehalt. 50 Insofern korrigiert dies die anders lautende Bestimmung: „Man hat aber auch eine Philosophie nach einem conceptu cosmico, und denn ist sie eine Wissenschaft von den letzten Endzwecken der menschlichen Vernunft“ (AA XXIV [Wiener Logik], 798). Diese „Wissenschaft“ bezeichnete der frühe Kant gelegentlich auch als „Moralphilosophie“: „Moralphilosophie ist die Wissenschaft der Zwecke […]. Oder von der Einheit aller Zwecke“ (Refl. 6820, AA XIX, 172). Die lebens-orientierende Rolle dieses „Weltbegriffs der Philosophie“ bringt seine Bestimmung in der „Logik“ besonders deutlich zum Ausdruck: „Was aber Philosophie nach dem Weltbegriffe (in sensu cosmico) betrifft: so kann man sie auch eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft nennen, so fern man unter Maxime das innere Prinzip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht. Denn Philosophie in der letztern Bedeutung ist ja die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle anderen Zwecke subordiniert sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen“ (III 447). 51 Auch dieser weite – Recht und Ethik umgreifende – Begriff der „Moral“ weist diese „Philosophie der Moral“ als den „Weltbegriff der Philosophie“ aus: „Nach dem Weltbegriffe ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. Dieser hohe Begriff gibt der Philosophie Würde, d. i. einen absoluten Wert. Und wirklich ist sie es auch, die allein nur innern Wert hat, und allen andern Erkenntnissen erst einen Wert gibt“ (III 446). Kants „Weltbegriff der Philosophie“ nimmt – in freilich modifizierter Gestalt – in programmatischer Hinsicht das aristotelische Motiv des „anthropinon agathon“ auf und verweist so auf die in dieser „Geschichte der Vernunft“ ebenfalls zu entfaltende Idee des „guten Lebens insgesamt“, das somit auch die Unterscheidung des Guten von dem bloß Angenehmen, Nützlichen und Zuträglichen verlangt (vgl. auch Aristoteles, Nikomachische Ethik 1138b 25). – Ob Kants Bestimmung des „höchsten Gutes“ (als des „vollendeten Gutes“) der Sache nach Bezüge zu dem in Platons Philebos gedachten „anthropinon agathon“ als Einheit von „nous“ und „hedone“ (Philebos 20b ff ) erlaubt, kann hier nicht untersucht werden. 52 Diese „wesentlichen Zwecke“ werden hier nicht näher verfolgt. Freilich, auch in diesen „subalternen Zwecken“ manifestiert sich eine in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ differenzierte teleologische Stufung, die auch in Kants „Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung des Menschen“ im Blick auf den „Charakter der Gattung“ nachklingt, dass der Mensch durch „Vernunft bestimmt“ sei, „in einer Gesellschaft und mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren“ (VI 678); vgl. dazu auch Refl. 1521 u. Refl. 1522 (AA XV 882 ff ). – S. zu diesen Fragen der teleologischen Bestimmung von „Kultivierung“, „Zivilisierung“ und
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ral“, sodann als „eine reine praktische Zwecklehre“ (V 168) zur Entfaltung kommen. Freilich, allein bemessen an der Weltstellung des Menschen als des „existierenden Endzwecks der Schöpfung“ und an dem von daher begründeten „Endzweck der praktischen Vernunft“ können diese „wesentlichen Zwecke“ in der innerhalb des „Weltbegriffs der Philosophie“ zu differenzierenden „Rangordnung“ bzw. dem „Standpunkt der Zwecke“ als „subalterne Zwecke“ (II 701) bezeichnet werden.53 In der dem „Weltbegriff der Philosophie“ aufgegebenen Differenzierung dieser auf die „ganze Bestimmung des Menschen“ abzielenden „Ordnung der Zwecke“ wird so auch der unauflösliche Zusammenhang der kantischen Leitfragen erkennbar. Der in diesem „Weltbegriff der Philosophie“ leitende Blick auf die „ganze Bestimmung des Menschen“ impliziert demzufolge die vorrangige Entfaltung der Ethik als eines „Systems der Freiheit“ (II 684), ohne das jenes „System der Zwecke der reinen Vernunft“ sowie eine hinreichend differenzierte Idee eines „Endzwecks“ nicht gedacht werden kann – denn (so heißt es noch in Kants später „Preisschrift“) der Begriff des Zweckes ist „jederzeit von uns selbst gemacht, und der des Endzweckes muss apriori durch die Vernunft gemacht sein“ (III 632). Schon daraus mag deutlich werden, dass jene in der bzw. als Idee einer „moralischen Teleologie“ geleisteten Differenzierungen der Idee des „Unbedingten“ und die dieserart resultierenden „Endzweck“-Bestimmungen selbst als wichtige Momente in jener „Geschichte der reinen Vernunft“ aufzufassen sind. Danach enthält dieser „Weltbegriff der Philosophie“ auch jene „reine praktische Zwecklehre“ (V 168) und erweitert so jene Vernunftidee des „teleologischen Weltbegriffs“ (einer „Welt, als ein nach Zwecken zusammenhängendes Ganzes und als System von Endursachen“: V 569) um entscheidende Aspekte, worin jetzt erst die hinreichend differenzierte und in einem umfassenden Sinne verstandene Idee eines „Reichs der Zwecke“ ihre vollständige Entfaltung findet. Die diesem kantischen „Weltbegriff der Philosophie“ als der „Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft“ (III 464) aufgegebene Entfaltung der „letzten“ und „höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ steht so freilich in einem unauflöslichen Zusammenhang mit Kants Kennzeichnung der Ethik als einem „System der Zwecke der Freiheit“, die näherhin als „moralische objektive Zwecklehre“ entfaltet wird. Folglich darf mit Blick auf diesen „Weltbegriff der Philosophie“ (und in Anknüpfung an die „Moral“ als den einen wesentlichen „Beziehungspunkt zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“) im Kontext der in diesem ersten Teil behandelten Themen auch eine Besinnung auf den besonderen Status dieser „Lehre der Zwecke“ innerhalb der Differenzierung der Idee des „Unbedingten“ sowie auf ihren Ort in der „Geschichte der reinen Vernunft“ nicht fehlen. Sie kann freilich nichts anderes als eine – von der „Moralphilo„Moralisierung“ bzw. einer der Vernunftordnung gemäßen „moralischen Kultivierung“ bzw. „Kultur“ auch N. Hinske 1980b. 53 Zu Recht betont Stolzenberg, dass der „kantische Weltbegriff der Philosophie ohne eine Orientierung über den Begriff eines Systems der Philosophie gar nicht angemessen zu verstehen“ sei (Stolzenberg 2005, 88 f ), weil in ihm „die Vernunft nicht nur [wie im „Schulbegriff der Philosophie“] die bloß formale Idee eines vollständigen und in sich strukturierten Ganzen von Erkenntnissen entwirft, das zu verschiedenen äußeren technisch-praktischen Zwecken verwendet werden kann, sondern dieses Ganze unter die Leitung einer unbedingten praktischen Idee stellt, die keinen anderen Zweck als ihre eigene Realisierung hat“.
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sophie“ und der darin maßgebenden „reinen praktischen Vernunft“ als „Vermögen der Prinzipien“ unterschiedene – „Ethik“ als „System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft“ (IV 510) sein, die im Rekurs auf die „höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ nicht ausgeblendet bleiben darf. Nicht allein die „praktische Gesetzgebung der Vernunft nach dem Freiheitsbegriff“ (V 242) und die Bestimmung der Vernunft als „Vermögen der Prinzipien“ sind als Produkt eines in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ durchlaufenen Scheidungs- und Läuterungsprozesses zu verstehen – nicht weniger gilt dies für die Klärung der Möglichkeit bzw. des Status eines solchen „unbedingten Zwecks“, der, eben als ein solcher, „an sich selbst Pflicht ist“ (s. u. I., 3.4.). Auch Kants Bestimmung der „Ethik“ scheint nicht immer ganz eindeutig zu sein: Denn abgesehen davon, dass eine weite Kennzeichnung derselben auf die „Gesetze der Freiheit“ überhaupt abzielt (vgl. IV 11), wird sie sodann als „Tugendlehre“ (IV 503) bestimmt, die im Unterschied zur Rechtslehre „noch eine Materie …, einen Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-notwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt wird, an die Hand“ gibt (IV 509) und sie als das „System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft“ (IV 510) zu bestimmen erlaubt (das sind eben „solche, die zugleich Pflichten sind“).54 Dann darf aber nicht vergessen werden, dass der „Weltbegriff der Philosophie“ es sich an den „wesentlichen“ und den „höchsten Zwecken“ der Vernunft (und damit zuletzt an dem selbst noch einmal zu differenzierenden „Endzweck der Vernunft“) gelegen sein lässt und so auch die notwendige Vermittlung dieser beiden „Zwecklehren“ anzeigt. Folglich machen es diese in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ausdifferenzierten und verknüpften Dimensionen des „Unbedingten“ unumgänglich, innerhalb des „Weltbegriffs der Philosophie“ auch der Ethik ihren systematischen Ort zuzuweisen, die als „Lehre von den Zwecken der reinen Vernunft“ auf den Aufweis von „unbedingten Zwecken“ – d. i. „objektiv-notwendigen Zwecken“, die deshalb „zugleich Pflichten sind“ – abstellt. Dabei wird sich zeigen, dass erst in gebotener Einbeziehung dieser in der Ethik ausgewiesenen „objektiv-notwendigen Zwecke“ die Idee einer wirklich von den „moralischen Zwecken“ des Menschen ausgehenden „Ethikotheologie“ in umfassender Weise bestimmt werden kann (s. dazu u. IV., 4.). Daraus wird deutlich: Das von Kant schon früh benannte, jedoch erst in der Einheit des „Schul- und Weltbegriffs der Philosophie“ eingelöste Vorhaben, „ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen“ (II 697), setzt voraus, dass (a) der Abschlussgedanke des „Ideals der Vernunft“ die menschliche Vernunft „abschließt und krönet“ (II 563), sofern gemäß dem „theoretischen Vernunftgebrauch“ der „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen, … in der Philosophie gar nicht umgangen werden kann“ (III 389, Anm.). Ebenso bleibt (b) zu bedenken, dass „Vernunft“ als Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“ gemäß dem „praktischen Vernunftgebrauch“ erst in den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, ihren „Abschluss“ und ihre „Krönung“ findet, d. h. darin deren „Selbsterhaltung“ gewährleistet ist. Im Blick auf die Weltstellung des Menschen als „vernünftiges, aber
54 AA XXIII, 388.
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endliches Wesen“ bleibt (c) ebenso daran zu erinnern, dass Kant die „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament unseres Vernunftglaubens“55 ausweisen wollte – eine programmatische Perspektive, die sich selbst bis hin zur späten „Preisschrift“ entfaltet und auch zunehmend differenziert. Erst aus der Einheit dieser Vernunftperspektiven (in denen unschwer die Kants Systematik leitenden Fragen in ihren Zielrichtungen wiederzuerkennen sind) spiegelt sich jene genannte umfassende Perspektive unverkürzt wider, worin „Schul-“ und „Weltbegriff der Philosophie“ vereinigt sind. In jener Verknüpfung der Ideen des „Übersinnlichen“ findet das Vernunftinteresse des „vernünftigen Weltwesens“ in der dreifachen Fragehinsicht des „Wissen-Könnens, des Tun-Sollens und des Hoffen-Dürfens“ seine konkrete – die „Einheit der Vernunft“ selbst widerspiegelnde – Entfaltung, die zugleich die darin zutage tretende „teleologia rationis humanae“ als diejenige eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ ausweist. Ebenso muss in unterschiedlicher Weise eine Selbstbegrenzung jenes „Weltbegriffs der Philosophie“ ins Blickfeld rücken, die so zugleich „religionsphilosophische Grenzgänge“ besonderer Art eröffnet (s. dazu den V. Teil).
55 Refl. 2446, AA XVI, 371 f. Es wird sich zeigen, dass diese frühe Reflexion Kants auch als direkte Kritik an der stoischen Konzeption der „Selbsterhaltung“ bzw. des „höchsten Gutes“ zu lesen ist.
2. Zu Kants später Selbstverortung in der „neueren Geschichte der reinen Vernunft“: Das kritische „Vertrauen der Vernunft zu sich selbst“ – und „worauf Vernunft hinaussieht“ Kants Vernunftidee einer „Geschichte der reinen Vernunft“ hat in seinen Entwürfen zur „Preisschrift“ über die „wirklichen Fortschritte der Metaphysik …“ mit den darin skizzierten „drei Stufen des Überschritts der Metaphysik zum Übersinnlichen, das ihren eigentlichen Endzweck ausmacht“ (III 650),56 in einer solchen retrospektiven Gestalt auch ihren Abschluss gefunden. Obgleich auf diese in der „neueren Philosophie“ unterschiedenen – bzw. ausdrücklich auf diese „neuere Zeit“, auf diesen „Teil der Philosophie“ und auch auf diesen „Teil des gelehrten Europa“ eingeschränkten – „drei Stadien“ fokussiert, „welche die Philosophie zum Behuf der Metaphysik durchzugehen hatte“ (III 595), spiegelt sich auch in dieser neueren „Geschichte der reinen Vernunft“ die teleologische Verfassung der Vernunft selbst wider, die sich darin gleichsam „realisiert“57. Dies macht nicht zuletzt jener schon erwähnte späte Hinweis darauf deutlich, dass die in den „drei Stadien“ der neuzeitlichen Metaphysik zutage tretende „Zeitordnung … in der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens gegründet“ ist (III 595), zumal in der Zeitfolge dieser Stadien der Metaphysik eben die „natürliche Gedankenfolge“ sichtbar wird, „wie sie [die „Geschichte der Philosophie“] sich nach und nach aus der menschlichen Vernunft hat entwickeln müssen [!]“ und wie in der Folge „die Elemente derselben in der Kritik d. r. V. aufgestellt werden.“58 Derart wird die „Geschichte der reinen Vernunft“ auf eine Weise auslegbar, die 56 Gewiss: „Die Schrift Über die Fortschritte der Metaphysik ist deshalb von so herausragender Bedeutung, weil Kant in ihr die Kritik der reinen Vernunft und die Transzendentalphilosophie in den Geschichtsgang der Metaphysik als deren drittes Stadium einordnete“. Seine mit dem „dritten Stadium“ bezeichnete „Kritik der reinen Vernunft“ verstand Kant tatsächlich als „Selbstgrundlegung der Metaphysik, als Metaphysik von der Metaphysik […] Die Selbstkritik der reinen theoretischen Vernunft vollbringt sich als die Metaphysik von der Metaphysik“ (v. Herrmann 2004, 19 f ). 57 Der darin auftretende Streit der Parteien ist dabei selbst ein unverzichtbares „Medium“, durch das die „teleologia rationis humanae“ sich „realisiert“, weshalb „die Vernunft gar sehr eines solchen Streits“ bedarf (II 637). 58 So Kant in einem Brief an K. Morgenstern, zit. n. Mohr 2004 III, 560 (AA XII, 36). In solcher „Zeitfolge“ auch die „natürliche Gedankenfolge“ (ebd.) sichtbar zu machen, ist nach Kant das unverzichtbare Thema einer „philosophierende(n) Geschichte der Philosophie“ (Lose Blätter zu den Fortschritten zur Metaphysik, zit. n. Mohr 2004 II, 285). Diese späten Aufzeichnungen machen besonders deutlich, wie sehr die in der „ersten Kritik“ mit jener „Geschichte der reinen Vernunft“ bezeichnete „Stelle …, die im System übrig bleibt“ (II 709), Kant auch noch im Kontext der späten „Preisschrift“ beschäftigt hat und auf die „sich aus Begriffen entwickelnde Vernunft“ verweist (AA XX, 343). Für die in diesem „dritten Stadium“ vollzogene „Selbstverortung“ Kants ist in der Tat zu beachten: „Im Zuge der schrittweisen Entwicklung des transzendentalphilosophischen Ansatzes treten somit die ‚Teile‘ der Kantischen Vernunftkritik zunächst selbstständig auseinander, um am Ende eine neue Einheit zu finden, die ‚in der Vernunft selbst gegründet‘“ ist (Hutter 2003, 91).
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auch das „Interesse der Vernunft an sich selbst“ (vgl. IV 249) zur freien Entfaltung kommen lässt, das sich so in der zunehmenden Disziplinierung und Kultivierung der „metaphysischen Naturanlage“ artikuliert. In solchem Durchgang durch die einzelnen Etappen – die so, von der despotischen Herrschaft der „Dogmatiker“ (II 12), über das „gänzliche skeptizistische Misstrauen in die Vernunft“, zuletzt, d. i. eben in Überwindung von „Despotismus und Anarchie“ (II 12), auch Kants eigenes Programm der „Vernunftkritik“ darin verorten59 – werden die metaphysischen Hauptgestalten der neuzeitlichen Philosophie aus dieser Linie in ihrem Hervorgang begreiflich. Erst am Ende dieses langen Weges wurde es indes möglich, „den Quell, woraus die Ungereimtheiten entspringen, [zu] entdecken und also [auch] die Geschichte der Verirrungen bestimmt einteilen [zu] können.“60 Es waren demnach eine besondere, auch in der „Geschichte der reinen Vernunft“ auftretende „ungesellige Geselligkeit“ sowie die Polemik der widerstreitenden Schulen und Parteien, die dieserart als Stimulans in der Entfaltung der Metaphysik als „Vollendung der Kultur der menschlichen Vernunft“ fungierten.61 Erst durch sie hindurch wird ein mühsam abgerungener, immer wieder auch von Rückfällen bedrohter Fortschritt erkennbar, der vornehmlich in dem angezeigten Sinne dieses von Irrwegen unterbrochenen Reinigungs- und Selbstfindungsprozesses der stets der Zügelung und Disziplinierung bedürftigen „sich auswickelnden Vernunft“ zu finden ist. Auch in dieser Hinsicht darf das für die „Metaphysik“ verwendete Bild eines „Kampfplatz(es) dieser endlosen Streitigkeiten“ (II 11) aufgenommen werden, durch dessen Waffenlärm Kant selbst aus dem dogmatischen Schlummer erweckt wurde und mit seinem „kritizistischen“ Unternehmen letztendlich erst jenseits von Dogmatismus und Skeptizismus sicheren Boden finden konnte, denn allein in solchem Durchgang durch diese „Dunkelheit steckt die Kritik der Vernunft die Fackel auf“.62 So wird ein in der „Geschichte der reinen Vernunft“ und in dem darin sich entwickelnden „Vernunftbegriff in abstracto“ zunächst ausgebildetes unbegrenztes „Vertrauen der Vernunft zu sich selbst“ (III 592) und ebenso das darauf folgende – skeptizistische – „grenzenlose Mißtrauen in die Vernunft“ erst im späten Hindurchgang durch die „Kritik der Vernunft“ überwunden und dergestalt, in der dadurch eröffneten „praktischen Metaphysik“, vorsichtig-behutsam ein „praktisch-dogmatischer 59 Vgl. Refl. 2667 (AA XVI, 459): „Criticism ist das … auf die Bedingung der Selbsterkenntnis der Vernunft eingeschränkte Zutrauen zu sich selbst.“ – Bezüglich der „Metaphysik als Naturanlage“ und der darin begründeten notwendigen Aufgabe wird sich bestätigen: „Metaphysik als Naturanlage ist möglich, weil die reinen Vernunftbegriffe erstens dem reinen Quell der Vernunft entspringen, und zweitens die Natur der Vernunft konstituieren. Metaphysik ist die Natur des Vernunftvermögens, weil sie die notwendige Aufgabe und damit der Zweck eines Wesens ist, dem sein wahres Sein nicht gegeben, sondern aufgegeben ist“ (Picht 1985, 586). 60 Refl. 6215, AA XVIII, 505. Die Überwindung aller mystischen Schwärmerei ist darin natürlich schon mitenthalten bzw. vorausgesetzt. 61 S. dazu auch die Ausführungen von Kolmer 1998, 346 ff. 62 Refl. 5112, AA XVIII, 93. Denn: „Die Vernunft aber verlangt das Unbedingte, und mit ihm die Totalität aller Bedingungen zu erkennen, denn sonst hört sie nicht auf zu fragen, gerade als ob nichts geantwortet wäre“ – und gerät bekanntlich darob in den Streit von Dogmatismus-Skeptizismus: „Diese Antinomie der Vernunft setzt sie nicht allein in einen Zweifel des Misstrauens gegen die eine sowohl, als die andre dieser ihrer Behauptungen, welches doch noch die Hoffnung eines so oder so anders entscheidenden Urteiles übrig lässt, sondern in eine Verzweiflung der Vernunft an sich selbst, allen Anspruch auf Gewiss heit aufzugeben, welches man den Zustand des dogmatischen Skeptizismus nennen kann“ (III 668).
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Überschritt“ vollzogen, worin allein „endliche Vernunft“ sich als solche erhält – d. h. sich ausbildet und auch bewahrt. Vornehmlich die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ – nicht zuletzt durch den Skeptizismus und dessen „polizeilose Dialektik“ (II 224) – aufgetretenen Irritationen und Erschütterungen haben sich in diesem Läuterungsprozess selbst als unvermeidlich und als kathartische Maßnahme erwiesen – und zwar gleichermaßen hinsichtlich des verhängnisvollen „theoretischen“ und „praktischen Überschwangs“.63 Noch in solchen Irrwegen werde eine darin waltende „Vernunftteleologie“ in der bestimmten Hinsicht sichtbar, dass der noch undisziplinierte „natürliche Gebrauch“ der metaphysischen Naturanlage die menschliche Vernunft „in übersteigende, teils bloß scheinbare, teils unter sich so gar strittige dialektische Schlüsse verwickelt“ (III 238), obgleich die jener „Vernunftteleologie“ zunächst lediglich verworren dienenden philosophischen Akteure erst im „dritten Stadium“ von Kant in die Klarheit geführt werden – auch wenn dies für sie selbst freilich zu spät kommt und sich als ein solcher Gang, der in seiner Notwendigkeit zu erkennen ist, auch nur retrospektiv erhellt. Freilich, noch die mit Kants später Mahnung, „Bedürfnis“ nicht „für Einsicht zu nehmen“ (III 272, Anm.), einhergehenden „Ent-Täuschungen“ sind eine späte Frucht dieser „teleologia rationis humanae“ – dürfen doch die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erzielten Fortschritte in einer ganz wesentlichen Hinsicht eben auch als die unvermeidlichen (d. h. wohltätigen und verdienstvollen) „Ent-Täuschungen“ gelten, nämlich um „Irrtümer zu verhüten“ (II 670)! Eben als solche stehen sie selbst im Dienste der „Selbsterhaltung der Vernunft“ und einer ihr gemäßen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ und verwerfen so die zwar im Namen der Vernunft erhobenen, gleichwohl als haltlos erwiesenen Ansprüche. Die erst in solchem Hindurchgang durch jene Aporien und „wohltätigsten Verirrungen“ und den „Skandal der Vernunft“ – gewissermaßen von einer Art „List der Vernunft“ auf dem Weg der kritischen Selbstfindung – geleistete methodisch gesicherte „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“64 erweist sich somit als unumgängliche Aufgabe bzw. Bedingung für einen gesicherten „Überschritt 63 Hier sei daran erinnert, dass Kant bekanntlich im Rückblick den in der „Antinomie der reinen Vernunft“ verhandelten Themen für die Ausbildung seiner „Kritik der reinen Vernunft“ eine entscheidende Bedeutung beigemessen hat; auch in ihnen ist bekanntlich „das Unbedingte“ in freilich recht unterschiedlicher Akzentuierung das eigentliche Thema. Hinsichtlich der auf Kants eigenem Denkweg entfalteten Systematik erweist sich, ungeachtet der darin erkennbaren (die „Antinomien“ betreffenden) Ungenauigkeit, ein in einem späten Brief an Garve enthaltener „werkgeschichtlicher“ Hinweis als bedeutsam: „Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: ‚Die Welt hat einen Anfang –: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten [sic!]: Es ist Freiheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihr Naturnotwendigkeit‘; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critic der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben“ (AA XII, 257 f ). 64 Genauer wäre auf die immanente Stufung der „Kritik“ hinzuweisen: „Schranken der Vernunft“ werden aufgewiesen, „Grenzen“ derselben werden angezeigt, jedoch im Sinne des „Gebots“, „sich auf dieser Grenze zu halten“, keinesfalls innerhalb des „theoretischen Vernunftgebrauchs“ überschritten. Erst dies macht unabweisliche – genau zu differenzierende – „Probleme der Vernunft“ (III 228) sichtbar, denen in unterschiedlicher Weise Ansprüche des „Urteilen-Wollens“ und des „Urteilen-Müssens“ korrespondieren; s. dazu auch die grundlegenden Ausführungen von G. Zöller 2011.
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zum Übersinnlichen“, der doch die „Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft“ bedeuten soll. Der Schlusssatz der „Kritik der reinen Vernunft“ setzt ungeachtet jenes intendierten „Endzwecks der Metaphysik“ ein unwiderrufliches Haltesignal: „Der kritische Weg ist allein noch offen“ (II 712). Freilich ist damit auch indirekt gesagt: Die kritische „Einschränkung“ der Erfahrungserkenntnis läuft gerade nicht auf einen szientistischen Reduktionismus hinaus, sondern erweist sich nach Kant als Bedingung für die von ihm als unverzichtbar angesehene Metaphysik. Dass jene „Verstrickungen“ selbst als eine unumgängliche Etappe in dieser teleologisch verfassten „Geschichte der reinen Vernunft“ verstanden werden müssen – gleichsam als eine Art „medicina mentis“, in der eine auftretende „Antinomie“ auch als eine Art „Zuchtmeister der Vernunft“ in Anbetracht der in ihr liegenden „Voraussetzungen“ in der notwendigen „Läuterung“ fungiert –, dies legt besonders eindringlich auch eine „didaktisch“ orientierte Anmerkung in den „Prolegomena“ nahe: „Ich wünsche daher, dass der kritische Leser sich mit dieser Antinomie hauptsächlich beschäftige, weil die Natur selbst sie aufgestellt zu haben scheint, um die Vernunft in ihren dreisten Anmaßungen stutzig zu machen, und zur Selbstprüfung zu nötigen“ (III 213, Anm.). Die Entdeckung, dass sogar in jenen Verwicklungen noch „irgend eine nützliche Absicht ursprünglich angelegt sein muss“ (III 239), ist deshalb selbst, als unentbehrliches Vehikel, den wichtigsten, in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ausgebildeten Einsichten zuzurechnen und liegt auch in solcher Reflexionsgestalt dem kantischen Hinweis auf den „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ zugrunde.65 Derart konnte Kant – wie an den für seinen Denkweg bestimmend gewordenen geschichtlichen Kontroversen der metaphysischen Tradition (nicht zuletzt der rationalistischen Metaphysik, z. B. Leibniz, Clarke, Spinoza, aber natürlich vor allem auch mit D. Hume: vgl. zu Letzterem in den „Prolegomena“: 115 ff ) in concreto und im Detail aufzuweisen wäre – letztendlich auch seine eigene Konzeption einer „Kritik der reinen Vernunft“ als „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ (II 583) und schließlich, in einem letzten Schritt innerhalb dieses „dritten Stadiums“,66 noch die „praktisch-dogmatische Metaphysik“ mit dem darin erreichten „Endzweck“ derselben verorten. 65 Besonders eindrucksvoll kommt dies wiederum in einem „losen Blatt zu den Fortschritten der Metaphysik“ zum Ausdruck: „Ob eine Geschichte der Philosophie mathematisch abgefasst werden könne. Wie der Dogmatism aus ihm der Skeptizism aus beiden zusammen der Kritizism habe entstehen müssen [!]. Wie ist es aber möglich eine Geschichte in ein Vernunftsystem zu bringen welches Ableitung des Zufälligen aus einem Prinzip und Einteilung erfordert“ (zit. n. Mohr 2004 II, 287). Den „Skepticism“ bestimmte Kant auch als den „gewählten Grundsatz, dem Dogmatismus Abbruch zu tun, doch nicht … in der Absicht, … wahre Überzeugung … dagegen einzuführen, sondern nur, um die Überredung andrer zu stürzen … Die Neigung hiezu ist nicht natürlich, sondern gekünstelt und kann nur aus dem Missfallen an der Usurpation des Dogmatismus entspringen“ (Refl. 5645, AA XVIII, 294). Der Fortgang über den „Dogmatism“ und „Skeptizism“ hinaus ist eben lediglich die „kritizistische“ Konsequenz daraus, der zuletzt erst jenen „praktisch-dogmatischen Überschritt“ eröffnet, der den partiell berechtigten (kritisch „geläuterten“) Anliegen beider Seiten auch Rechnung trägt. 66 Innerhalb dieses „dritten Stadiums“, also seiner eigenen „Vernunftkritik“ bzw. der „Geschichte der Trans zendentalphilosophie unter uns in neuerer Zeit“ (III 596), unterschied Kant wiederum „drei Schritte“ im Sinne der Klärung 1) der „Unterscheidung der analytischen von den synthetischen Urteilen überhaupt“, 2) der Beantwortung der Frage: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ und 3) „Wie ist aus synthetischen Urteilen ein Erkenntnis apriori möglich?“.
2. Kants späte Selbstverortung in der neueren Metaphysik
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2.1. Das „dritte Stadium“ der neuzeitlichen Metaphysik: Die darin dem kantischen „Kritizismus“ eingeräumte Stellung – zunächst als „Metaphysik von der Metaphysik“ In diesem „dritten“ und letzten „Stadium“, das gemäß der immanenten „teleologia rationis humanae“ erneut und in besonderer Weise jene Konvergenz von „Zeit“- und „Gedankenfolge“ zutage treten lässt,67 begreift die solcherart „selbstreflexiv“ gewordene Metaphysik zugleich sich selbst als Endgestalt dieses durchschrittenen Reifungsprozesses und vereint demgemäß in eigentümlicher Weise eine philosophie-historische Selbstverortung mit einer systematisch orientierten Perspektive68. Die erst in der sehr späten „Preisschrift“ entwickelte „Drei-Stadien-Lehre“69 nimmt die Perspektive einer „Geschichte der reinen Vernunft“ demnach auf eine Weise auf, die – über die zunächst ausgebildete kritische „Metaphysik von der Metaphysik“ – nach einem langen und mühevollen Weg durch diese „Geschichte der reinen Vernunft“ zuletzt also auch Kants kritisches Programm70 sei67 Besonderes Interesse verdient die von Kant betonte Konvergenz von „Zeit“- und „Gedankenfolge“ auch im Blick auf das (von Kant für sich selbst beanspruchte) „dritte Stadium der Metaphysik“, weil diese „Koinzidenz“ von „Zeit- und Gedankenfolge“ bei ihm selbst, über das Verhältnis von „Kritik“ und „praktisch“ begründeter „Metaphysik“ hinaus, innerhalb des verfolgten „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ zu verfolgen ist. 68 Mit Recht betont Mohr (2004 III, 560): „Im Kritizismus gelangt die Vernunft in den Stand der ‚gereiften und männlichen Urteilskraft‘. Diese Art der Geschichtsaneignung lässt offensichtlich die gesamte Entwicklung der Philosophie auf die Theorie Kants als das letzte Stadium der Philosophie hin angelegt erscheinen.“ – Kants teleologisch orientierte Selbstverortung in dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ wird in folgendem Passus besonders deutlich: „Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der eben genannte zweite Schritt ist skeptisch, und zeugt von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung gewitzigten Urteilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nötig, der nur der gereiften und männlichen Urteilskraft zukommt, welche feste und ihrer Allgemeinheit nach bewährte Maximen zum Grunde hat; nämlich nicht die Facta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst, nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkenntnissen a priori, der Schätzung zu unterwerfen; welches nicht die Zensur, sondern Kritik der Vernunft ist, wodurch nicht bloß Schranken, sondern die bestimmten Grenzen derselben, nicht bloß Unwissenheit an einem oder anderen Teil, sondern in Ansehung aller möglichen Fragen von einer gewissen Art, und zwar nicht etwa nur vermutet, sondern aus Prinzipien bewiesen wird“ (II 646). Kants Unterscheidung zwischen bloßer „Zensur“ und „Kritik der Vernunft“ und somit diejenige zwischen „bloßen Schranken“ und „bestimmten Grenzen“ markiert ebenso einen entscheidenden (über den „Skeptizismus“ hinausgehenden) zielorientierten Schritt in Richtung „drittes Stadium der Metaphysik“ wie die sodann innerhalb des Letzteren vollzogene Differenzierung der bestimmten „Grenzziehung“ und dem so erst eröffneten (und gefährliche Sprünge vermeidenden) „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“. 69 Zu Kants Skizze der „drei Stadien der Metaphysik“ vom „Gang der Dogmatiker“ und demjenigen der Skeptiker bis zum „dritten und neuesten Schritt, den die Metaphysik getan hat, und der über ihr Schicksal entscheiden muss“, d. i. dem „Kritizism der reinen Vernunft“, vgl. die einleitenden Überlegungen in seiner späten „Preisschrift“ (III 589 ff ). In diesem „dritten Stadium“ wird die Beantwortung der Frage unabweislich, „wie Metaphysik überhaupt möglich“ ist, zumal darin die „Vernunft bloß mit sich selbst“ beschäftigt ist (III 197) und die „objektive Realität“ ihrer Begriffe, d. i. der „Ideen“, aufweisen muss. Nur so will ihm seine stets festgehaltene These als einlösbar erscheinen: „Der Zweck der Metaphysik ist Gott und eine künftige Welt“ (Refl. 4859: AA XVIII, 12), worauf sich ja die „Kardinalsätze unserer reinen Vernunft“ (II 633) beziehen. 70 Zu Kants Bestimmung von „Kritik“ (als „Propädeutik aller Philosophie“ [V 270]) und „Doktrin“, „Metaphysik“, „Kritik der reinen Vernunft“ und „System der reinen Vernunft“, die eben die Explikation der „teleologia rationis“ zu leisten haben, vgl. schon in der „ersten Kritik“ II 62 f; 701 f. Vgl. dazu den
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nen besonderen Ort finden lässt: „Die Transzendentalphilosophie, d. i. die Lehre von der Möglichkeit aller Erkenntnis a priori überhaupt, welche die Kritik der reinen Vernunft ist, von der jetzt die Elemente vollständig dargelegt worden, hat zu ihrem Zweck die Gründung einer Metaphysik, deren Zweck wiederum, als Endzweck der reinen Vernunft, dieser ihre Erweiterung von der Grenze des Sinnlichen zum Felde des Übersinnlichen beabsichtiget, welches ein Überschritt ist, der, damit er nicht ein gefährlicher Sprung sei, indessen dass er doch auch nicht ein kontinuierlicher Fortgang in derselben Ordnung der Prinzipien ist, eine den Fortschritt hemmende Bedenklichkeit, an der Grenze beider Gebiete notwendig macht. Hieraus folgt die Einteilung der reinen Vernunft, in die Wissenschaftslehre, als einen sichern Fortschritt, – die Zweifelslehre, als einen Stillstand, – und die Weisheitslehre als einen Überschritt zum Endzweck der Metaphysik: so dass die erste eine theoretisch-dogmatische Doktrin, die zweite eine skeptische Disziplin, die dritte eine praktisch-dogmatische enthalten wird“ (III 604 f ). Zwar treten schon in den beiden ersten Etappen der neuzeitlichen Metaphysik notwendige Aspekte einer „teleologia rationis humanae“ zutage; indes geht das „dritte Stadium der Metaphysik“ aus jenen früheren Stadien hervor71 und etabliert sich als Resultat derselben zunächst als „Kritik der Vernunft“; sie vermag den in jener „praktisch-dogmatischen Doktrin“ gesuchten „Überschritt zum Übersinnlichen“ freilich erst vorzubereiten und bleibt insofern selbst noch „vorläufig“ zum eigentlichen „Endzweck der Metaphysik“. ganzen Abschnitt über die „Architektonik der reinen Vernunft“ (II 695 ff ) und die hier erwähnte „Idee“, „ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen“ (II 697), die selbst erst im „dritten Stadium der Metaphysik“ ausgebildet bzw. eingelöst werden kann. – Für Kants Verständnis der „Kritik“ als Grundlegung der „Transzendentalphilosophie“ sehr bedeutsam sind die Hinweise aus der „Einleitung“ zur „ersten Kritik“: „Die Transzendental-Philosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Prinzipien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. Sie ist das System aller Prinzipien der reinen Vernunft. Daß diese Kritik nicht schon selbst Transzendental-Philosophie heißt, beruhet lediglich darauf, daß sie, um ein vollständig System zu sein, auch eine ausführliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntnis a priori enthalten müßte.“ Näherhin betonte Kant: „Zur Kritik der reinen Vernunft gehört demnach alles, was die Transzendental-Philosophie ausmacht, und sie ist die vollständige Idee der Transzendental-Philosophie, aber diese Wissenschaft noch nicht selbst; weil sie in der Analysis nur so weit geht, als es zur vollständigen Beurteilung der synthetischen Erkenntnis a priori erforderlich ist“ (II 64 f ). Die Transzendentalphilosophie als „eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft“ (II 65) fungiert als unverzichtbares Fundament zu einer „jeden künftigen Metaphysik“, ist also auch für die Beantwortung der Frage „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?“ (II 61) vorausgesetzt. Zum schwierigen (strittigen) Verhältnis von „Kritik und Transzendentalphilosophie“ s. auch im Überblick Mohr 2004 III, 326 ff ). Sehr bedeutsam für das Verhältnis von „Kritik und Metaphysik“ ist die Charakterisierung der „Kritik der reinen Vernunft“ in der „Einleitung“ zur „dritten Kritik“, in „drei Teilen: der Kritik des reinen Verstandes, der reinen Urteilskraft, und der reinen Vernunft, welche Vermögen darum rein genannt werden, weil sie apriori gesetzgebend sind“ (V 251). 71 Es wird sich der Hinweis Brandts (2007a, 289) bestätigen, „dass sich die KrV in eine Tradition der Vernunftgeschichte stellt, die insgesamt auf sie hinführt, in ihr eine Wende erfährt und eine neue Zukunft eröffnet.“ Auch bezüglich dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ und im Blick auf „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ ist Kants sehr späte Notiz beachtenswert: „Das System des Wissens, insofern es zur Weisheit die Leitung enthält, ist die TransscPhilos.“ (AA XXI, 121); Kant spricht vom „Bestreben des Wissens zur Weisheit“ (ebd.), die genauer besehen freilich von der „Weisheitslehre“ noch unterschieden bleibt.
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Schon hier sei darauf hingewiesen: Sofern sich der „Endzweck der Metaphysik“ in dem „negativen Nutzen“72 einer „Philosophie der reinen Vernunft“ als „Kritik“ eben noch nicht erschöpft, erweist sich auch jene Bestimmung der „Metaphysik von der Metaphysik“ in gewisser Weise als mehrdeutig und markiert selbst eine wichtige Stufe der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ rekonstruierbaren Entwicklung. Sie zielt demnach nicht nur auf die in der „Kritik der reinen Vernunft“ unternommene Kritik der traditionellen Metaphysik, die vorweg die Aufgabe der disziplinierenden „Selbsterkenntnis der Vernunft“ zu erfüllen hat; dieses Stadium impliziert ebenso eine Aussicht auf das erst über diese vorausgehende „Demütigung“ und „Kritik“ als „Propädeutik zum System der reinen Vernunft“ (II 62) anzustrebende „künftige System der Metaphysik“ bzw. auf die darin begründete „praktische Metaphysik“ und den dadurch eröffneten „praktisch-dogmatischen Überschritt“. Erst die in dem Aufweis der „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ (II 582 ff ) geleistete „Metaphysik von der Metaphysik“ lässt eine Antwort auf die Frage finden, „wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in praktischer Absicht, ohne damit ihr Erkenntnis, als spekulativ, zugleich zu erweitern, zu denken möglich sei“ (IV 266 f ). Und allein jene Verbindung von „spekulativer Einschränkung“ und „praktischer Erweiterung“ der „reinen Vernunft“ fundiert sodann, als ein notwendiger erster Schritt innerhalb des „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“73, jenen daran anschließenden „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“, worin, über alle kritische „Metaphysik von der Metaphysik“ hinaus, der „Endzweck der Metaphysik“ auf eine den kritizistischen Maßstäben genügende Weise thematisiert und realisiert werden kann. Die gesuchte Einheit der „reinen praktischen Vernunft mit der spekulativen“ setzt ebendies voraus; sie ist ohne diese genannte Verbindung von „spekulativer Einschränkung“ und „praktischer Erweiterung“ der „reinen Vernunft“ nicht zu denken und gewinnt in der „Preisschrift“ sodann noch eine letzte Reflexionsgestalt (s. dazu u. III., 2.). Aus den vielfältigen, gleichwohl im Sinne einer Selbstläuterung heilsamen Hindernissen und „wohltätigsten Verwirrungen“, „in die die menschliche Vernunft je hat geraten können“, wird in der solcherart resultierenden Perspektive einer „vollständige(n) Kritik des ganzen reinen Vernunftvermögens“74 dennoch eine in der „Geschichte der reinen 72 Gleichwohl ist dieser von Kant zunächst aufgewiesene „negative Nutzen“ der Kritik (und die darin begründete Abwehr von „Materialism, Fatalism und Atheism“: II 35) eine unverzichtbare Stufe innerhalb der „teleologia rationis humanae“, der jenen „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“ erst ermöglicht. Denn allein aus der Aufhebung der „Antinomie“ geht die in den „Widerstreit mit sich selbst“ verwickelte Vernunft durch „Kritik“ „diszipliniert“, „kultiviert“ und so zu sich selbst „befreit“ hervor. 73 Erst unter den Vorzeichen der radikal modifizierten „Freiheitslehre“ der „zweiten Kritik“ wird über die daraus begründete Verbindung von „spekulativer Einschränkung“ und „praktischer Erweiterung“ die in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ angezeigte bzw. gesuchte Einheit der „praktischen Vernunft“ „mit der spekulativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip“ (nunmehr unter dem „Primat der praktischen Vernunft“) in hinreichend differenzierter Weise möglich, „weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein“ könne, „die bloß in der Anwendung unterschieden sein muss“ (IV 16). Erst die aus der „Freiheitslehre“ der „zweiten Kritik“ resultierende neue Problemkonstellation erlaubt es nunmehr, den „praktische(n) Gebrauch der Vernunft mit den Elementen des theoretischen“ (IV 109) zu verknüpfen. 74 Dabei wird der in der „ersten Kritik“ geleisteten Unterscheidung zwischen den Ideen als den „reinen Vernunftbegriffen“ und den „Kategorien“ als den „reinen Verstandesbegriffen“ eine besondere Rolle beigemessen (vgl. auch III 199 f ) – vornehmlich in dem Sinne, dass die kritische Aufgabe dieser „Ideen“
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Vernunft“ zutage tretende „teleologia rationis humanae“ sichtbar – eben darin besteht die „teleologische“ Unvermeidbarkeit, aber auch der eigentliche „Nutzen dieser Illusionen“, die durch den falschen Gebrauch dieser Vernunftideen entstehen. In einer solchen Problemperspektive sind vor allem die zentralen Themen der „transzendentalen Dialektik“ („Paralogismen“, „Antinomie“ und „Ideal der reinen Vernunft“), aber auch die in der „transzendentalen Methodenlehre“ entwickelten Stufen des „Fürwahrhaltens“ zugleich als wesentliche (späte) Etappen in der „Geschichte der reinen Vernunft“ – im Sinne jener schon benannten „Archäologie der Vernunft“ – nachzuzeichnen, an denen sich Kants Kritik der Vernunft in einem mühevollen Demütigungs-, Bildungs- und Selbstfindungsprozess gewissermaßen abarbeiten musste, um aus den durchlaufenen Stadien letztendlich jedoch geläutert und auch gestärkt hervorzugehen. Allein dadurch vermochte die Vernunftkritik und das darin verankerte Programm einer „künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“, einen sicheren Stand zwischen der dogmatistischen Skylla des „unbegrenzten Vertrauen(s) der Vernunft in sich selbst“ und der „skeptizistischen Charybdis“ eines „grenzenlosen Misstrauens“ gegen dieselbe (III 595) zu gewinnen, wobei innerhalb dieses „dritten Stadiums“ selbst bedeutsame Verschiebungen für Kants systematische Gesamtkonzeption zutage treten. Denn zweifellos ist nicht zu übersehen, dass und weshalb jenes letzte Stadium der „Geschichte der reinen Vernunft“ sich weder mit der Entlarvung bzw. der Überwindung eines metaphysischen „Dogmatismus“ und der daran geknüpften Irrungen und Verwirrungen einer „metaphysica specialis“ noch mit der Abwehr der verschiedenen Formen eines anti-metaphysischen „Skeptizismus“ begnügen darf. Nicht zuletzt sind innerhalb dieses „dritten Stadiums“, worin Kant sein eigenes „kritizistisches Programm“ verorten wollte, selbst noch einmal wichtige Stufen zu unterscheiden – insbesondere die in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (gegenüber der „ersten Kritik“ und der „Grundlegungsschrift“) bestimmend gewordene „Freiheitslehre“ und ihre Begründungsstruktur. Sie sind unverzichtbare Voraussetzungen für den – erst auf diesem Fundament zu vollziehenden – „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“, wofür die „Vollendung des kritischen Geschäfts“ die unumgängliche „Vernunftbedingung“ markiert. Sowohl die in seiner Unterscheidung zwischen dem „Schul- und Weltbegriff der Philoauf „das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung“, das selbst freilich keine „Erfahrung“ ist, d. i. auf die „Vollständigkeit des Erfahrungsgebrauchs im Zusammenhange der Erfahrung“ (III 202) nach Prinzipien, abzielt. Die Auffindung des „Ursprung(s) der Kategorien in den vier logischen Funktionen aller Urteile des Verstandes“ sowie des „Ursprung(s) der Ideen in den drei Funktionen der Vernunftschlüsse“ (III 200) und die daran geknüpfte Legitimation (als ein systematisches „Ganzes“) derselben ist ein wesentlicher Ertrag des kritischen Geschäfts der „Selbsterkenntnis der Vernunft“, die deshalb in der Ausbildung des „Ideals der Vernunft“ (als der „theologischen Idee“ von dem „höchst vollkommnen Urwesen“: III 222) und in dem Aufweis ihrer kritisch-grenzbegrifflichen Funktion ihren krönenden Abschluss findet. So erst ist die „Befriedigung der Vernunft“ gewährleistet und mit ihrer „Selbsterkenntnis“ und „eigentlichen Bestimmung unserer Vernunft“ (III 224) verknüpft: „Die transzendentalen Ideen drücken also die eigentümliche Bestimmung der Vernunft aus, nämlich als eines Prinzips der systematischen Einheit des Verstandesgebrauchs“. Dieses kritische Geschäft, das dabei auf ihrer bloß „regulativen“ Funktion insis tiert, ist für die eigentliche Metaphysik eine unverzichtbare Voraussetzung, auf die zuletzt auch die den „Weltbegriff der Philosophie“ leitenden Fragen dieser Vernunftarchitektonik zufolge in systematischer Hinsicht rückverwiesen bleiben.
2. Kants späte Selbstverortung in der neueren Metaphysik
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sophie“ angezeigte notwendige „Differenzierung des Vernunftgebrauchs“ (und die hierfür maßgebenden „Momente“) als auch der daran geknüpfte Aufweis eines „wirklichen Fortschritts der Metaphysik“ werden von Kant als ein diesem Prozess zugehöriges letztes Stadium bzw. als Resultat dieses Entwicklungsprozesses von dem „Kindesalter der Philosophie“ bis zur späten Ausbildung einer kritischen Metaphysik in ihrem Endstadium ausgewiesen. Darin wird, geläutert und gestärkt durch die „polemische“, „skeptische“ und „kritische Methode“, jene „teleologia rationis humanae“ selbst gerade als „Metaphysik von der Metaphysik“ (und sodann als „Kritik und Metaphysik“)75 „gleichsam [als] ein System der Vorsicht und Selbstprüfung“ (II 612) sichtbar. Allein so konnte sich auf diesem langen und hindernisreichen Weg durch die „Geschichte der reinen Vernunft“ die Einsicht entwickeln und festigen, dass bzw. weshalb bezüglich des unaufgebbaren „Endzwecks“ der Metaphysik, „vom Sinnlichen zum Übersinnlichen fortzuschreiten“, „der spekulativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen abgesprochen“ (II 28) werden muss, wobei für diesen gesuchten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ der modifizierten „Freiheitslehre“ (ab dem Jahr 1786) eine zentrale Bedeutung zukommt. Der Nachweis, dass sich gerade auch darin die „teleologische Verfassung der Vernunft“ manifestiert und diese sich hiebei geradezu für den in kritischer Absicht gesuchten „Überschritt zum Übersinnlichen“ als Wegweiser anbietet, erweist sich als ein besonderes Anliegen der kantischen Vernunftkritik und der darin in Aussicht gestellten „nach Maßgabe der Kritik der reinen Vernunft abgefassten systematischen Metaphysik“, die „der Nachkommenschaft [als] ein Vermächtnis … hinterlassen“ werden könnte (II 33). Letztere, so wird sich noch zeigen, entfaltet bzw. gestaltet sich so selbst zu einem „System des Unbedingten“ und zu einem „System der Zwecke“ – d. i. zu einem System der „Prinzipien und der Zwecke“ (als deren Einheit Kant das „Vermögen der Vernunft“ bestimmt), das freilich jene neue „Freiheitslehre“ schon voraussetzt. Derart wird dieses „Vermögen der Vernunft“ in diesem reflexiven Bewusstwerdungsprozess auch ihrer inneren Verfassung inne, d. h. sie begreift sich als ein „systematisches Ganzes“, das als „Geschichte der reinen Vernunft“ als „Zeitfolge“ buchstabierbar wird. In diesem „dritten Stadium“ bzw. in dem darin explizierten „Schulbegriff der Philosophie“ kommt freilich der kritischen Bestimmung des Status der („in der Natur der menschlichen Vernunft gegründeten“) „reinen Vernunftbegriffe“ (als „transzendentalen Ideen“) und ihrem „System“ eine besondere Bedeutung zu, die somit als ein „System des „Unbedingten“76 zu
75 So Kants Bestimmung der Aufgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ (ungefähr zur Zeit des Erscheinens derselben) in einem Brief an M. Herz (AA X, 268 f ). Im Sinne der kritischen Absicht einer „Metaphysik von der Metaphysik“ ist auch an Kants wichtige Bemerkung über den „größte(n) und vielleicht einzige(n) Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft“ zu erinnern, nämlich „das stille Verdienst, … Irrtümer zu verhüten“ (II 670). Bleibt dieser Hinweis auf den „Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft“ sodann nicht auch bezüglich der rechten Einschätzung des begrenzten Anspruchs einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ bedenkenswert? 76 Zu den schwierigen Fragen einer möglichen „Deduktion der transzendentalen Ideen“ und den darin zutage tretenden vernunfttheoretischen Problemen und Defiziten s. die Studien von K.W. Zeidler, Grundriß der transzendentalen Logik. Cuxhaven 1992/97, §§ 26 ff; Syllogismus est principium Idealismi, in: M.
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bestimmen sind. Das „System der transzendentalen Ideen“ (als Ideen des „Unbedingten“, welche die „Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten“ ermöglichen) muss demzufolge als Herzstück eines kritischen „Schulbegriffs der Metaphysik“ angesehen werden. In dieser Perspektive wäre auch die für „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ maßgebliche Bestimmung nunmehr in modifizierter und differenzierter Weise aufzunehmen, „ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen“ (II 697). Erst so kann also die von Kant betonte – in ihrem „Naturzustand“ erst noch zu zügelnde und zu disziplinierende – „metaphysische Naturanlage“ im Sinne jener „teleologia rationis humanae“ ihre Entfaltung und auch ihre reflexive Einlösung finden, was wiederum nur in der zwiefachen Gestalt von „Legitimation und Limitation“ geschehen kann.77 Es wird sich noch als sehr bedeutsam erweisen, dass erst in diesem „dritten Stadium“ die explizite Differenzierung des „Schul“- und „Weltbegriffs der Philosophie“ und damit jene Unterscheidung der „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ vollzogen ist, die sich aus einer systematisch orientierten Erhellung der verschiedenen Sphären „bewussten Lebens“ ergibt; während Letztere erst im abschließenden „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ thematisch werden (s. dazu u. III. Teil), verweisen die „wesentlichen Zwecke der Vernunft“ vornehmlich auf die notwendigen Differenzierungen auf dem weiten Feld der praktischen Philosophie und Ethik. Dass Kant am Ende des „Anhangs zur transzendentalen Dialektik“ die aus diesem Entwicklungsprozess hervorgehende und dadurch ermöglichte Konzeption seiner „Kritik der reinen Vernunft“ als „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ (II 583) gewürdigt wissen wollte, wird sich dabei noch als besonders relevant erweisen und lässt so auch die verfolgte eigentümliche Entwicklung sowie deren Ergebnis deutlich zutage treten – ungeachtet jener erst in der „Kritik der praktischen Vernunft“ maßgebend gewordenen „radikalen Umgestaltung seiner Freiheitslehre“ (s. u. I., 3.2.1.). Der daraus gewonnene positive Ertrag ist ohne reflexive Besinnung auf den zurückgelegten Weg dahin weder zu erreichen noch zu bewahren und vermag nur so auch die intendierte „Selbsterhaltung der Vernunft“ in einen stabilen Zustand zu bringen bzw. diesen aufrechtzuhalten.78 Es war, wie schon erwähnt, diese „Selbsterhaltung der Vernunft“, die Kant engstens mit dem „Fundament des Vernunftglaubens“ verbunden sah. Gottschlich/M. Wladika (Hg.), Dialektische Logik. Gedenkschrift für Franz Ungler, Würzburg 2005, 244 ff. 77 Zu den für die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ausgebildeten unverzichtbaren „Bausteinen“ für den „Endzweck der Metaphysik“ (und der hierfür zu beachtenden Begründungsordnung) gehört zweifellos nicht zuletzt auch die – wohl selbst dem „dritten Stadium der Metaphysik“ zuzurechnende – Aufklärung des „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft: dass nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem es dem Anschein nach so gar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“ (IV 180). Dieses „Paradoxon“ markiert einen – den? – Meilenstein in der Geschichte des „Vernunftgebrauchs in praktischer Hinsicht“ und indiziert geradezu eine moralphilosophische „Revolu tion der Denkungsart“. 78 Mit Blick sowohl auf Kants „Schul“- als auch auf seinen „Weltbegriff der Philosophie“ – und die Einheit beider – wird sich Sommers These bestätigen, „dass Kants Philosophie insgesamt im Prinzip der Selbst-
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Als ein wichtiger Ertrag aus diesem „dritten Stadium“ der neuzeitlichen Metaphysik resultiert ebenso die daraus gewonnene Einsicht: Bezüglich der Fundierung dieses „Vernunftglaubens“ und des ihm zugrunde liegenden „praktischen Vernunftbedürfnisses“ muss sich das Missverständnis desselben als bloßes „Wunschdenken“ ebenso verbieten wie der unkritisch-„dogmatische“ Anspruch, solches „Bedürfnis für Einsicht“ (III 272, Anm.) zu nehmen. Gleichwohl schien Kant die Rücksicht darauf unumgänglich zu sein, dass für ein „vernünftiges, endliches Wesen“ solches „Vernunftbedürfnis“ in einem unauflöslichen Zusammenhang mit jener „Selbsterhaltung der Vernunft“ steht; die erst in diesem letzten Stadium geleistete Einlösung des „Endzwecks der Metaphysik“ weist dieses demnach als ein solches aus, in dem das aus dieser Geschichte gereinigt hervorgegangene „Interesse der Vernunft an sich selbst“ seine letzte (nun auch reflexiv gewordene) Gestalt gewonnen hat. Als ein entscheidendes kritisches Ergebnis daraus darf mithin gelten, dass der „Endzweck der Metaphysik“ unter jenen kritizistischen Vorzeichen zuletzt nur eingelöst werden kann, sofern die Themen der „metaphysica specialis“ dem ungleich bescheideneren einer „Postulatenlehre“ bzw. Ethikotheologie und dem darin eröffneten „praktisch-dogmatischen Überschritt“ Platz machen, wodurch die „übersinnlichen Gegenstände“ „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ als „Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht“ (IV 264) legitimiert – in ihren „metaphysischen“ Ansprüchen jedoch auch zurückgestuft – werden; dies ist indes nunmehr nur unter den Vorzeichen der in der neuen „Freiheitslehre“ bestimmenden „epistemischen Priorisierung des Sittengesetzes gegenüber der Freiheit“ (s. u. I., Anm. 160) zu denken. Die dadurch eröffnete Erkenntniserweiterung beschränkt sich also auf die Explikation der Bedingungen der Möglichkeit dessen, was als der notwendige und „ganze Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“ gewollt wird.79 Es liegt von daher auch nahe, Kants berühmte These „Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (II 33),80 als den programmatischen Grundsatz der „Selbsterhaltung der Vernunft“ zu lesen, der freilich als späte – und erst durch den „Kritizismus“ geerntete – Frucht der „Geschichte der Vernunft“ selbst buchstabiert werden darf. Im Blick auf das „dritte Stadium“ der Metaphysik (und die darin ebenfalls differenzierten Formen des „Fürwahrhaltens“) werden „Wissen und Glauben“ erhaltung der Vernunft ihr Zentrum, ihr innerstes Agens und ihr äußerstes Ziel hat“ (Sommer 1977, 12). Eben in solcher Absicht ließ sich Kant in dem gesuchten „Überschritt zum Übersinnlichen“ auch von Jacobi nicht auf jene „elastische Stelle“ locken, die dann angeblich „fortschwingt“ und wo es somit „von selbst“ geht (Jacobi 2000, 36). 79 Die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ausgebildete und darin ebenso „geläuterte“ „theologische Idee“, die gereinigten „Prinzipien der reinen praktischen Vernunft“ (somit auch deren gereinigter „Gegenstand“: vgl. IV 174 ff ) und die ebenfalls aus diesem philosophie-geschichtlichen Reinigungsprozess erst hervorgegangene angemessene Idee des „höchsten Guts“ (als die „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts“: IV 235) stellen so jene „Elemente“ dar, die Kant im „dritten Stadium der Metaphysik“ zuletzt zu einer neuen und kritischen „Metaphysik“ (selbst wiederum „teleologisch“) zusammenfügt und so den „Endzweck“ derselben als erreichbar ausweisen sollen. 80 Diese von Kant intendierte „Aufhebung“ des Wissens besagt allerdings nicht, dass Kant „denies knowledge, in Order to make room for faith.“ (Wood 1970, 254) Die darin intendierte Grenzziehung ist nicht eine Negation, sondern soll ein Vernunftbedürfnis freilegen, das nicht mit „Einsicht“ zu verwechseln ist.
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dieser kantischen Perspektive gemäß als zwei aus diesem Lernprozess resultierende Bewusstseinsgestalten deutbar, die in der „Entstehungsgeschichte der säkularen Vernunft“ dergestalt als differenzierte und komplementäre „Gestalten des Geistes“ erst zu sich kommen und in solcher Differenzierung und dem daraus gewonnenen Verhältnis zueinander „Selbsterhaltung der Vernunft“ ermöglichen. Demnach vereint jene so beschwerliche „Selbsterkenntnis der Vernunft“ Anspruch und gleichermaßen Selbstbescheidung gegenüber einer doppelten „Vermessenheit“: Manifestiert sich in dieser beanspruchten „Selbsterkenntnis“ doch nichts anderes als ein „Interesse der Vernunft“ an sich selbst, das solcherart eine gründliche Ausmessung des Vernunftraumes des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ unumgänglich macht und nur so jenes Programm „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ einzulösen vermag. Wenn nur in jenem „Zwischen“ von „skeptischer Hoffnungslosigkeit“ und „dogmatischem Trotz“ eine zweifache (gegenläufige) „Vermessenheit“ der Vernunft vermieden werden kann und menschliche Vernunft als „endliche“ nur in solchem „inter-esse“ sich auszubilden vermag bzw. sich selbst erhält, dann bringt sich in dieser Formel – genauer: eben in dem darin besonders akzentuierten „Zwischen“ – nicht weniger als das in einem umfassenden Sinne verstandene (und deshalb auf eine systematische Entfaltung verwiesene) Programm bzw. der „oberste Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung“81 zur Geltung. Die „Geschichte der reinen Vernunft“ als fortschreitender Prozess der „Selbsterkenntnis“ derselben wird so zugleich als Entfaltung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ ausweisbar. Während der „Schulbegriff der Philosophie“ nach Kant einerseits den theoretischen Vernunftgebrauch jener „Selbsterkenntnis der Vernunft“ vollendet, dabei sich aber zuletzt als von bloß „negativem Nutzen“ erweist, ist es bekanntlich der „Weltbegriff der Philosophie“, der erst auf die „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke des Menschen“ (der letztlich „nur einer sein kann“) führen; ihm bleiben somit die „wesentlichen Zwecke“ noch vorgelagert. Dieser erst im „dritten Stadium der Metaphysik“ innerhalb des „Systems der Vernunft“ systematisch verortete „Weltbegriff der Philosophie“ orientiert sich bekanntlich an der Aufgabe, die Dimensionen bzw. Ansprüche der „praktischen Vernunft“ in gestufter Form zu entfalten. Die hierfür maßgebende kantische Idee der „moralischen Teleologie“ ist dabei zuletzt von der Absicht geleitet, den „praktisch-dogmatischen“ „Überschritt der Metaphysik zum Übersinnlichen“ als allein zielführend zu legitimieren. Andernfalls wäre die unbefriedigte „Wissbegierde“ der menschlichen Vernunft, die auf den „Endzweck der Metaphysik“ hinaussieht, wohl endgültig zum Scheitern verurteilt, d. h. aber, dass sie letztendlich an sich selbst verzweifeln müsste. Vor allem in den diesen Themen gewidmeten Abschnitten des dritten Teiles wird deshalb vornehmlich dies zu verfolgen sein: Allein dieser „Weltbegriff der Philosophie“ ist es, der – auf der Basis jener in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ausgebildeten Voraussetzungen für eine jede „in Zukunft mögliche Metaphysik“ als der Idee einer „Wissenschaft, als [eines] Systems, welches nach [!] Vollendung der Kritik der reinen Vernunft aufgebaut werden kann“ (III 651) – diese „kritizistisch gebrochene“ Metaphysik nunmehr auch zu „realisieren“ ver-
81 AA XV, 823.
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mag (obgleich ein solches Vorhaben, unter den Vorzeichen der neuen „Freiheitslehre“, jedoch über die einschlägigen Ansprüche der „transzendentalen Methodenlehre“ noch hinausweisen muss).82 Zuletzt wird sich der im „Weltbegriff der Philosophie“ ausgewiesene „praktischdogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ noch als gereifte Frucht aus dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ erweisen, die dergestalt in dieser reflexiven Form „zu sich kommt“ und darin überdies ihre eigene „Stelle“ im System bestimmt. Vor allem ist es diese Einsicht in die auch darin noch einmal offenbar werdende „teleologia rationis humanae“, die als ein in der „Geschichte der reinen Vernunft“ hervortretendes spätes Ergebnis der kantischen Vernunftkritik gelten darf, das dieser in Aussicht genommenen Endgestalt einer kritischen Metaphysik zugrunde liegt und gleichermaßen die dogmatistischen Selbstbehauptungsansprüche wie auch die skeptizistischen Überwindungsversuche hinter sich lässt, wofür jene „skeptische Methode“ freilich selbst unverzichtbar ist. Diese voranstehend angezeigten Modifikationen und Differenzierungen innerhalb dieses „dritten Stadiums“ sind demnach selbst ein spätes Ergebnis aus dem in der „Geschichte der Metaphysik“ durchlaufenen labyrinthischen Weg, sofern diese noch vom späten Kant vorgestellten und auch systematisch miteinander verknüpften „übersinnlichen Gegenstände unserer Erkenntnis“ (III 411: eine wohl ungenaue, ja geradezu irreführende Ausdrucksweise) erst in der Geschichte der „sich auswickelnden Vernunft“ und in dem darin sich entfaltenden „Vernunftbegriff in abstracto“ zutage treten. In der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und in der „Geschichte der reinen Vernunft“83 – deren Verhältnis zueinander wohl in kritischer Aufnahme des kantischen Bildes von den „konzentrischen Kreisen“ gedacht werden kann (s. u. V., 2.1.3.) – ist wohl in Ansätzen der Aufweis einer „teleologia rationis humanae“ zu verfolgen. Dabei bleiben freilich verschiedene Reflexionsebenen derselben zu beachten, die nicht nur Kants eigene späte 82 Dass „Moral … in ihrer Vollendung zur Religion überschreiten [!] will“ (so Kant im Brief an Mendelssohn: AA X, 347), entspricht freilich ebenso dem auf „die ganze Bestimmung des Menschen“ abzielenden kantischen „Weltbegriff der Philosophie“ (II 701). Dennoch ist die von Wimmer vertretene Auffassung wohl nicht ganz unmissverständlich, wonach „die Religionsphilosophie Kants die systematische Vollendung seiner kritischen Moralphilosophie“ darstellt (Wimmer 2005a, 179 f ), weil eine an den „Zwecken der Freiheit“ orientierte weite Kennzeichnung der „Moral“ vom engen Begriff des „Moralischen“ zu unterscheiden bleibt. 83 Diese Bezugnahme auf Kants Abschnitt über die „Geschichte der reinen Vernunft“ unterscheidet sich von der einschlägigen Absicht Schaefflers (ders. 2006). Sachliche Berührungen gibt es freilich insofern, als Kant diese „Geschichte der reinen Vernunft“ auch ins Verhältnis zur Religion setzt; und zwar eben im Sinne der Einheit und Differenz der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und der „Geschichte der reinen Vernunft“, des „Vernunftbegriffs in abstracto und in concreto“ sowie im Blick auf die durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ (VI 186) – und zuletzt auch im Sinne einer Selbstbegrenzung der Philosophie gegenüber der Religion. Jedoch scheint es missverständlich zu sein, diese von Kant angezeigte „künftig auszufüllende Stelle“ im Sinne Schaefflers als eine zu schließende „Lücke im kantischen System“ (vgl. Schaeffler 2006, 79 ff ) zu verstehen, welche die „Geschichte der Religion“ betreffe, so sehr die „Geschichte der reinen Vernunft“ und die darin erkennbare „ursprüngliche Erwerbung“ der Vernunftideen mit der „Geschichte der Religionen“ engstens verbunden ist. In der „Geschichte der reinen Vernunft“ wird diese – nicht nur als „reine“, sondern vielmehr als „gereinigte“ – erst zu sich gebracht; auch in der bestimmten Hinsicht, dass sie darin im Sinne des Kritizismus letztendlich sich selbst als „endlich“ begreift und d. h. auch „reflektierend“ begrenzt (s. u. V., 1.1.).
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Selbstverortung in der „Geschichte der reinen Vernunft“ miteinbeziehen: Auch Kants ausdrückliche späte „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie“ (vgl. III 405 ff ) und die darin in Aussicht gestellte „Vollendung“ dürfen dabei nicht unberücksichtigt bleiben – ungeachtet aller Probleme, die mit einem solchen Anspruch zweifellos verbunden sind. Als besonders aufschlussreich und in systematischer Hinsicht bedeutsam soll sich dabei erweisen, dass und wie in dem „Kritik und Metaphysik“ in sich vereinenden „dritten Stadium der Metaphysik“ eine Stufenfolge der verschiedenen Dimensionen der Idee des „Unbedingten“ bestimmend wird, die im Ganzen eine bemerkenswerte „teleologische Tiefenstruktur“ zutage treten lässt. Vorab sind jedoch die für dieses „dritte Stadium der Metaphysik“ entscheidenden Etappen bzw. Einsichten zu vergegenwärtigen, die sich für die Erreichung jenes „Endzwecks der Metaphysik“ als unumgänglich erweisen. Nach Kant führt eine solche notwendige Vergegenwärtigung in diesem vorab zu leistenden „kritischen Geschäft“ bekanntlich zunächst auf notwendige Ent-Täuschungen: 2.1.1. Ein „ziemlich subtiler Unterschied der Denkungsart“: Der „Gegenstand in der Idee“ und „in der Realität“–- begründet in dem Verzicht, „über die Grenzen der Erfahrung hinaus in die reizenden Gegenden des Intellektuellen zu gelangen“ Im Blick auf diese „Geschichte der reinen Vernunft“ sowie auf die darin von Kant dia gnostizierte „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ (II 582 ff ) bleibt vorweg folgender Sachverhalt zu beachten: Zwar ist es gemäß dem kritischen Programm das fehlerfrei zu denkende „Ideal der Vernunft“, das den spekulativen Vernunftgebrauch „abschließt und krönt“; die kritische „Deduktion der Ideen der reinen Vernunft“ macht indes bemerkenswerterweise geltend, dass der Aufweis dieser „Endabsicht“ darüber hinaus auf den „großen Unterschied“ führt, „ob etwas meiner Vernunft als ein Gegenstand schlechthin, oder nur als ein Gegenstand in der Idee gegeben wird. In dem ers teren Falle gehen meine Begriffe dahin, den Gegenstand zu bestimmen; im zweiten ist es wirklich nur ein Schema, dem direkt kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstände, vermittelst der Beziehung auf diese Idee, nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt uns vorzustellen. So sage ich, der Begriff einer höchsten Intelligenz ist eine bloße Idee, d. i. seine objektive Realität soll nicht darin bestehen, daß er sich geradezu auf einen Gegenstand bezieht (denn in solcher Bedeutung würden wir seine objektive Gültigkeit nicht rechtfertigen können), sondern er ist nur ein nach Bedingungen der größten Vernunfteinheit geordnetes Schema, von dem Begriffe eines Dinges überhaupt, welches nur dazu dient, um die größte systematische Einheit im empirischen Gebrauche unserer Vernunft zu erhalten, indem man den Gegenstand der Erfahrung gleichsam von dem eingebildeten Gegenstande dieser Idee, als seinem Grunde, oder Ursache, ableitet. Alsdenn heißt es z. B., die Dinge müssen so betrachtet werden, als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten. Auf solche Weise ist die Idee eigentlich nur ein heuristischer und nicht ostensiver Begriff, und zeigt an, nicht wie ein Gegenstand beschaffen ist, sondern wie wir, unter der
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Leitung desselben, die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen“ (II 583 f ).84 Gleichwohl darf dieser Rekurs auf den „eingebildeten Gegenstand“ als notwendigen „terminus ad quem“ nicht einem „Fiktionalismus“-Vorwurf ausgesetzt werden, so wenig freilich dieser „Gegenstand in der Idee“ als „Gedankenwesen“ stillschweigend als ein „Gegenstand schlechthin“ „gesetzt“ werden darf (vgl. II 585 f ). Das kritische Geschäft leistet somit, im Gegenzug gegen eine „dogmatistische Metaphysik“, ein Zweifaches: „Der Gegenstand der Idee – der der Idee angeblich korrespondierende Gegenstand metaphysischer Spekulation – entpuppt sich als ‚Gegenstand in der Idee‘“;85 und eben als solcher wird er in kritischer Absicht „legitimiert“ und im Sinne eines „vollständigen theoretischen Vernunftgebrauchs“ auch als notwendig ausgewiesen, der sich somit an der umfassenden und „systematischen Einheit der Weltordnung“ orientiert. Allein in solcher idealen Hin-Sicht ist also die Aussicht auf den „Gegenstand in der Idee“ verankert, der als gedachter Grund dieser „Einheit“ vor-gestellt wird. Daraus ergibt sich die „kritizistische“ Forderung, eine „suppositio absoluta“ zuguns ten einer bloßen „suppositio relativa“ (II 587) aufzugeben, denn erst mit dieser Einsicht sei die „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ in der Gestalt einer „Metaphysik von der Metaphysik“ zu leisten.86 Dass ein solcher, in kritischer Absicht 84 Die auch noch beim späten Kant erhaltene Forderung, den „transzendentale(n) Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“, als „Grund“ und nicht als „Inbegriff“ zu denken, knüpft hier an (s. I., 2.1.2.), bleibt freilich an die einschränkende Bedingung eines „Gegenstandes in der Idee“ gebunden. Der hier unternommene maßgebende Rekurs auf ein „nach Bedingungen der größten Vernunfteinheit geordnetes Schema, von dem Begriffe eines Dinges überhaupt“ als einer „bloßen Idee“ unterscheidet sich offenbar vom engeren Begriff des „Schemas“ im Sinne des „Schematismus“ und verweist eben auf die Thematik der „Analogie“. Hier ist, im Blick auf diese Unterscheidung von „Inbegriff und Grund“, auch daran zu erinnern, dass Kant im Kontext seines „Beschluss(es) von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ auf die Notwendigkeit hinweist, von der „Sinnenwelt“ als einer „Kette nach allgemeinen Gesetzen verknüpfter Erscheinungen“ den „Grund dieser Erscheinung“ (III 229) zu unterscheiden. 85 Zöller 2011, 18. Eben darin liegt ein ganz entscheidender Aspekt der „Selbsterkenntnis der Vernunft“, die als solche „Grenzbestimmung“ die „Vollendung des kritischen Geschäfts der Vernunft“ leistet. – Diese in der Unterscheidung zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ sich manifestierende „Vollendung“ scheint Schellings Vorhaben geradewegs zu unterlaufen, wenn er betont: „Wollen wir irgend etwas außer dem Denken Seiendes, so müssen wir von einem Sein ausgehen, das absolut unabhängig von allem Denken, das allem Denken zuvorkommend ist. Kant denkt sich übrigens das notwendig Existierende, inwiefern es schon zugleich Gott ist; im Anfang der positiven Philosophie müssen wir davon noch absehen, und es als das bloß Existierende nehmen, wir lassen den Begriff Gottes [d. h. ‚innerhalb des Begriffs‘] fallen, eben weil es ein Widerspruch ist, einerseits das bloß Existierende, und es doch schon als etwas, mit einem Begriffe zu setzen. Denn entweder müßte dann der Begriff vorausgehen, und das Sein müßte die Folge des Begriffes sein, da wäre es nicht mehr das unbedingte Sein; oder der Begriff ist die Folge des Seins, dann müssen wir vom Sein anfangen, ohne den Begriff, und eben dieses wollen wir ja in der positiven Philosophie tun. Aber eben dasjenige in Gott, vermöge dessen er das grundlos Existierende ist, nennt Kant den Abgrund für die menschliche Vernunft; was ist dies anders als das, wovor die Vernunft stille steht, von dem sie verschlungen wird, dem gegenüber sie zunächst nichts mehr ist, nichts vermag?“ (Schelling XIII, 164). 86 In der Tat ändert diese kritische Ersetzung der „suppositio absoluta“ „nichts an der Tatsache, dass die regulative Perspektive, die durch die theologische Idee bzw. durch die beiden anderen Ideen statuiert wird, letzten Endes die Reproduktion der Grundintentionen der traditionellen Metaphysik, hier spezieller der rationalen Theologie darstellt, indem die durch sie konstituierte bzw. zu konstituierende systema-
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unternommener Nachweis die Notwendigkeit einer besonderen „Grenzbestimmung der Vernunft“ vor Augen führt und dabei – mit dieser für seine Gotteslehre so wichtigen Unterscheidung zwischen „suppositio absoluta“ und „suppositio relativa“ – auf wesentliche Aspekte des in der „Geschichte der reinen Vernunft“87 sich entfaltenden Problems der „negativen Theologie“ und des damit verknüpften Analogieproblems verwiesen wird, fügt sich recht gut zu den in jener „Geschichte der reinen Vernunft“ maßgebend gewordenen kritischen „Leitfäden“. Der „stolze Name“ einer Theologie (als vermeintlicher Wissenschaft vom „Dasein Gottes und seinem Wesen“) muss dabei freilich dem ungleich bescheideneren Vorhaben einer „transzendentalen Theologie“ Platz machen, die sich als solche indes als unverzichtbar erweist. Obgleich jene „subtile Unterscheidung“ zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in [!] der Idee“ (II 583) die in der kritischen Metaphysik gewonnene „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ markiert und sich dabei doch auf die Möglichkeit des „vollständigen theoretischen Vernunftgebrauchs“ beschränkt, so darf dies nicht vergessen lassen: Es ist diese – von Kant ja doch ganz beiläufig in Aussicht genommene – „Deduktion der Ideen der reinen Vernunft“ selbst, der sich jener „große Unterschied, ob etwas meiner Vernunft als ein Gegenstand schlechthin, oder nur als ein Gegenstand in der Idee gegeben wird“, verdankt, zumal diese „grenzbegriffliche“ Unterscheidung doch dieser „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ selbst zugehört. Ebensowenig darf dabei der denkwürdige Hinweis Kants ignoriert werden, wonach die „unbedingte Notwendigkeit, die wir, als den letzten Träger aller Dinge, so unentbehrlich bedürfen, … der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft“ ist – eine „Abgründigkeit“, die ihm zufolge gerade darin besteht, dass man sich dieses Gedankens „nicht erwehren, … ihn aber auch nicht ertragen“ kann (II 543), d. h., dass er der „unvermeidlichste und doch unerreichbarste Begriff der menschlichen speculativen Vernunft“ ist88: Vernunft denkt notwendig darauf hin, ohne diesen „Begriff“ inhaltlich bestimmen zu können. Indes, der spätere Hinweis auf solche „Abgründigkeit“ – „eine unentbehrliche Vernunftidee, aber ein für den menschlichen Verstand unerreichbarer problematischer Begriff“ (V 519) – impliziert ebenso das Bewusstsein davon, dass jene kritische Etablierung der „suppositio relativa“, in Abhebung von der „suppositio absoluta“, selbst zugleich das Festhalten an dem grenzbegrifflich gedachten „Gegenstand schlechthin“ unumgänglich macht, d. h. ihn als einen durchaus „nicht willkürlich erdichteten“ Grenzbetische Einheit (in der Form des ‚als ob‘-Gedankens) der transzendentalphilosophische Ersatz bzw. die transzendentalphilosophische Transformation der (aufgrund der kritischen Partien der transzendentalen Dialektik) destruierten metaphysica specialis ist“ (Theis 1997, 46). 87 Ob und wieweit im Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ diese kantische Unterscheidung zwischen „suppositio absoluta“ und „suppositio relativa“ in einer problemgeschichtlichen Perspektive mit Platons Einheit und Differenz des absolut transzendenten „Einen selbst“ und des „Guten selbst“ verknüpft werden kann, ist hier nicht zu verfolgen. – Ebenso wäre es eine höchst reizvolle Aufgabe, die kantische Argumentation zur Unterscheidung zwischen dem „Gegenstand in der Idee“ und dem „Gegenstand schlechthin“ (und die Begründung hierfür) sowie sein Lehrstück von der „absoluten Position“ mit Anselms Begründung der Unterscheidung zwischen „id quo maius nequit cogitari“ (Proslogion, Kap. 3) und „quiddam maius quam cogitari possit“ (ebd., Kap. 15) zu vergleichen. 88 Refl. 6282, in: AA XVIII, 548.
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griff aufbewahrt – gleichsam als ein von der „Vernunft selbst, wenn auch bloß negativ, Konstituiertes“;89 denn allein aus solcher Voraussetzung vermag die „suppositio relativa“ ihren kritischen Sinn sowie ihre Bestimmtheit „für uns“ zu gewinnen.90 Dergestalt hebt sich diese „von uns selbst hervorgebrachte“ „Vernunftidee“, d. i. der „transzendentale Begriff von Gott“, nicht auf, „vernichtet“ sich also auch nicht; in grenzbegrifflicher Selbstbescheidung „relativiert“ sich dieser vielmehr lediglich gegenüber einer „suppositio absoluta“ und versteigt sich dennoch nicht zu einer erst dadurch intendierten bzw. beanspruchten Setzung eines „an sich unbegreiflichen Seins“. Obgleich Kant jene Unterscheidung zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ engstens mit der „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ verbindet, wird deren Verhältnis zueinander von ihm selbst nicht weiter bedacht.91 Die in der Unterscheidung der „suppositio relativa“ und „absoluta“ angezeigte theo retisch-„grenzbegriffliche“ Entsagung92 bleibt indes von einem sich „vernichtenden“ „Überstieg“ noch unterschieden, in dem jener „Grenzbegriff“ von einem Ergriffensein durch das „Unbegriffliche selbst“ ersetzt (besser: „ent-setzt“?) werden könnte, der damit aber auch den kritischen Sinn einer „Selbstbegrenzung der Vernunft“ in Wahrheit 89 Diese Wendung stammt von M. Theunissen, der sie allerdings auf den in Schellings „positiver Philosophie“ beanspruchten Aufweis des „bloß Existierenden“ bezieht (Theunissen 2004, 53 f.) Aufschlussreich ist diesbezüglich auch ein Passus aus Schellings später „Philosophie der Offenbarung“: „Dogmatisierend war die alte Metaphysik, und diese ist durch Kant unwiederbringlich zerstört; aber bis zur eigentlich dogmatischen Philosophie reicht Kant nicht. Die alte Metaphysik war positiver Rationalismus; diese hat Kant durch seine Kritik zersetzt. Mit Zersetzung dieses positiven Rationalismus war ein reiner, nicht etwa negativer (denn dieses ist erst im Gegensatz des positiven) Rationalismus in Aussicht gestellt, der Sache nach schon in Kants Kritik enthalten. Diese lässt der Vernunft nur den Begriff Gottes und macht auch vom Begriffe Gottes keine Ausnahme, so dass auch er nur das Was enthält. Vergeblich sei das Bemühen, durch Schlüsse in die Existenz hinaus zu kommen. Kant lässt der Vernunft nichts als die Wissenschaft, die sich ins reine Wesen der Dinge einschließt; dies bleibe an der Stelle der Metaphysik stehen“ (Schelling 1977, 137). 90 In solchem „für uns“ wäre wohl eine mögliche Anknüpfung zur klassischen Lehre zu sehen: „Quidquid recipitur secundum modum recipientis recipitur“. 91 Im Ausblick auf die nach Kant einsetzende Gedankenentwicklung wäre Folgendes zu erwägen: Demnach müsste sich – was Kants Begrenzung des „theoretischen Vernunftvermögens“ geradewegs verbieten muss – in dem „Gegenstand schlechthin betrachtet“ (in Aufnahme einer Wendung des späten Fichte) die Vernunft gleichsam „selbst durchstreichen“, um zu jenem „Eine(n), in sich selber aufgehende(n) Sein“ zu gelangen, wie es in Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 (X, 146) heißt; bleibt es doch als „unbestimmtes Etwas überhaupt“ „schlechthin hinaus“, das sich deshalb, Kant zufolge, streng genommen auch nicht als „von sich, durch sich, in sich“ bestimmen lässt, ohne den „kritischen Weg“ der „Selbstbegrenzung der Vernunft“ heimlich aufzukündigen. Sachlich naheliegende Anknüpfungspunkte an die „Erscheinungslehre“ des späten Fichte sind hier nicht zu verfolgen. – Der Richtungssinn dieser kantischen Unterscheidung zwischen „Gegenstand in der Idee“ und „Gegenstand schlechthin“ lässt sich somit, ohne „Subreption“, wohl auch nicht im Sinne Schellings so verstehen, dass jener „Gegenstand in der Idee“ selbst als das „immanent (d. h. das zum Inhalt der Vernunft) gemachte Transzendente“ (XIII, 170) zu begreifen sei, um so vom „gesetzten“ „begrifflosen Sein“ „zum Begriff zu gelangen“, also das „Transzendente … in das absolut Immanente zu verwandeln“ (ebd.). Kants Begründung für die Unverzichtbarkeit des grenzbegrifflich gedachten „Noumenon im negativen Verstande“ und seine Vermittlung wären hier in analoger Weise zu vergegenwärtigen. 92 Es wird sich zeigen (s. u. V., 3.): Dieser „Entsagungs“-Form theoretischer Vernunftansprüche entspricht bemerkenswerterweise eine „Entsagungs-Form“ der praktischen Vernunft: Beide „sich bescheidende“ „Entsagungen“ sind, als vereint, in dem Programm einer „Vernunftkritik“ zu bedenken und begründen so erst einen „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“, d. h. die „Selbsterhaltung [und Entfaltung] der Vernunft“.
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aufheben müsste. Von einem „Gegenstande schlechthin“ zu reden ist auch nur im Sinne einer indirekten Selbstbegrenzung der „suppositio relativa“ möglich, die eben darin in grenzbegrifflicher Absicht, sich selbst „relativierend“, möglichen „Raum schafft“. Der „grenzbegrifflich“ gesicherte Status des „Gegenstandes schlechthin“ verdankt sich indes selbst der in der bzw. durch die Idee des „Gegenstandes in der Idee“ selbst gesetzten Differenz zu jenem; erst aus dieser – so gesetzten – Differenz resultiert das Bewusstsein der Unbegreiflichkeit jenes ganz unbestimmten „Etwas überhaupt“, wobei diese Differenz von einer „suppositio“ indes genau zu unterscheiden bleibt. In diesem „Etwas überhaupt“ wird besonders deutlich, dass Kant das ihm zufolge metaphysisch lediglich „hingezauberte“ (III 641) „Eine“ der (neuplatonischen) Tradition (als das „metaphysische Gut“) durch das erkenntniskritisch-grenzbegrifflich gedachte „Etwas“ ersetzt.93 Anders noch: Gewissermaßen lediglich die Kehrseite dieser „suppositio relativa“ ist deren immanente „Relativität“ auf den von ihr erst in Differenz gesetzten „Gegenstand schlechthin“. Genauer besehen indiziert diese kantische Unterscheidung der „von uns gemachten“ Vernunftidee des „Gegenstands in der Idee“ von dem – ebenfalls von uns gedachten! – „Gegenstand schlechthin“ (als dem „negativ“ bestimmten „Beziehungspunkt“) wohl dies, dass Letzterer als der idee-transzendierend gedachte „Gegenstand“ von dem der Vernunft schlechthin „Transzendenten“ selbst noch unterschieden bleiben muss, das dann, genauer besehen, wohl auch nicht mehr als „Gegen-Stand schlechthin“ zu denken wäre – und dies doch zugleich als die am wenigsten unangemessene „Bestimmung“ gelten müsste. Dies wäre wohl ein unbestimmtes „Etwas überhaupt“, das dann weder „Gegenstand in der Idee“ wäre noch als „Gegenstand schlechthin“ gedacht werden könnte – bzw. als derjenige „Gegenstand schlechthin“, der dennoch auch nicht ein „Gegenstand schlechthin“ sein dürfte, sondern ein solcher, in bzw. an dem (mit Blick auf den späteren Fichte gesprochen) die Vernunft sich gewissermaßen selbst „vernichtet“ – das heißt, der auch nicht von „der Vernunft gemacht“ bzw. als solcher zu denken wäre. Jedenfalls darf die in dieser Unterscheidung zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ artikulierte Verwerfung spekulativer Überschwänglichkeit die dabei ebenfalls intendierte „Selbstbegrenzung der Vernunft“ nicht übersehen lassen, die darin zum Ausdruck kommt, dass die kritische Einschränkung auf den „Gegenstand in der Idee“ über die Wirklichkeit des „Gegenstands schlechthin“, d. i. „in der Realität“ (II 601), weder positiv noch negativ etwas besagt, weshalb dieser auch nicht von bzw. „in der Idee“ einfachhin „aufgehoben“ werden darf. Der deshalb genau zu beachtende Richtungssinn dieser nicht nivellierbaren – „ziemlich subtilen“ (II 587) – Differenz zwischen „Gegenstand in der Idee“ und dem „Gegenstand schlechthin“ sowie das darin maßgebende kritische „Grenzbewusstsein“ muss folglich ebenso dem Anspruch einer „Ekstasis“ der Vernunft („von“, „durch“ und „aus sich“ selbst) entgegentreten – Fragen, die ebenfalls „im Ausgang von Kant“ (und nicht zuletzt im Blick auf seine unmittelbaren
93 Hier hätte wohl auch eine Auseinandersetzung mit seiner Kritik an der zeitgenössischen „platonisierenden“ „Schwärmerei“ einzusetzen – die so freilich zugleich auf eine systematische Auseinandersetzung mit dem späten Fichte und dem späten Schelling führen müsste.
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Nachfolger) unter dem besonderen Gesichtspunkt des Verhältnisses von „Philosophie und Theologie“ nach wie vor besonderes Interesse bzw. Nachdenklichkeit verdienen. Allein auf solche Weise ist demzufolge diese Unbegreiflichkeit des „Absoluten“ zu bewahren, bleibt doch die in kritischer Absicht legitimierte „suppositio relativa“ auf die „suppositio absoluta“ rückverwiesen, d. h. sie wird erst durch diese als solche denkbar. Derart bleibt gleichermaßen darauf zu achten, dass der „Gegenstand schlechthin“ weder durch den „Gegenstand in der Idee“ gleichsam absorbiert wird noch die kritisch geltend gemachte Differenz zuletzt auf eine heimliche „suppositio absoluta“ hinausläuft. Insofern bleibt diese nicht zu nivellierende Differenz für kritische Vernunftansprüche auch als unumgängliche „grenzbegriffliche“ Problemanzeige höchst bedeutsam – ein wesentlicher Aspekt der „teleologia rationis humanae“. Mit der Preisgabe des grenzbegrifflichen Status des „Gegenstands schlechthin“ wäre stillschweigend auch dem Selbstbegrenzungsanspruch einer sich recht verstehenden „Kritik“ widersprochen, d. h. das Vorhaben einer „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ aufgegeben, die für diese Unterscheidung doch maßgebend bleibt. In dieser für die beanspruchte „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ als einer „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ unumgänglichen „absoluten Differenz“ wäre unter kritizistischen Vorzeichen überdies die Einheit und Differenz des „deus absconditus“ und des „deus revelatus“ „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zu verorten.94 Schon Kants vorsichtiger Hinweis auf den „negativen“ „Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft“, die als „Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten“ (II 670), enthält einen wichtigen diesbezüglichen Hinweis auf notwendige – gleichwohl sehr behutsam einzulösende – Vermittlungsschritte. In der „Nachfolge“ Kants wurde die Einlösung dieser von ihm angezeigten Aufgabe, freilich auch mit dem höheren Ziel, „Wahrheit zu entdecken“, bekanntlich auf recht unterschiedlichen Wegen beansprucht. Es hat sich gezeigt: Jene Differenz zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ bleibt auch im Sinne einer kritischen „negativen Theologie“ schon deshalb als unverzichtbar vorausgesetzt, weil sie allein den ihr entsprechenden Gottesbegriff von ihrem uneinholbaren Bezugspunkt noch zu unterscheiden und nur so auch eine unkritische „Subreption“ zu vermeiden vermag – ebenso wenig jedoch das Denken „ekstatisch“ aus sich heraustreten lässt. Nicht weniger unkritisch als die Verwechslung beider wäre es indes, den „Gegenstand schlechthin“ durch den „Gegenstand in der Idee“ 94 Hier ist eine bedeutsame religionsphilosophische Perspektive zu beachten, wäre doch aus der – durch die Unterscheidung von „Gegenstand in der Idee“ und „Gegenstand schlechthin“ gewonnenen – „Vollendung des kritischen Geschäfts“ dies abzuleiten: Daraus, dass das „höchste Wesen also für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal“ bleibt, „ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet“ (II 563), d. h. als solcher selbst der „größtmögliche“ Gedanke“ sei, müsste folgen, dass in diesem „abschließenden und krönenden Gedanken“ eben der „größtmögliche Gedanke“ gedacht ist (d. h. das „quo maius cogitari non potest“!) – der dann (als unsere Erkenntnis [genauer: unser Denken!] abschließender Vernunftbegriff ) aber doch davon noch zu unterscheiden ist, was „größer“ ist, „als gedacht werden kann“, also „mehr“ ist, „als im Begriff gedacht ist“; Letzterer wäre in dem „Gegenstand schlechthin“ grenzbegrifflich angezeigt und dürfte in Erstgenanntem nicht aufgelöst werden. Vgl. dazu die von D. Korsch (2003) und J. Ringleben (2000) unternommene Neuinterpretation des Anselm’schen Arguments.
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differenz-vergessen einfachhin zu substituieren, liefe eine solche – gewissermaßen lediglich umgekehrte – Verkennung jener „subtilen Unterscheidung doch ebenso auf eine Verkennung der „Endlichkeit der Vernunft“ hinaus. Auch diese vermeintlich kritische Bestimmung eines „Gegenstands in der Idee“95 wäre demnach ebenso wenig aufrechterhalten wie die noch vom späten Kant vertretene Auffassung, dass der „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen, … in der Philosophie nicht umgangen werden“ kann, „so abstrakt er auch ist“ (III 389, s. dazu u. I., 2.1.2.). Die Einsicht in die – eben in beiderlei Richtungssinn zu beachtende – Differenz zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“, die das „kritische Geschäft“ beschließt – und mit der Kant nicht zuletzt eben darauf insistiert, dass dieser Gedanke des „Absoluten“ sowie die angezeigte Differenz von „suppositio absoluta“ und „suppositio relativa“ in der sich selbst begrenzenden (d. i. „endlichen“) Vernunft begründet sind –, fungiert sodann auch als das notwendige Fundament der kantischen Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“ (s. dazu u. III., 3.). Hierfür muss sich sodann Kants – insbesondere gegen Pantheismus und Spinozas „leblosen Gott“ (V 507) gerichtete – Unterscheidung zwischen „Inbegriff“ und „Grund aller Realitäten“, die er für den in der Philosophie unumgänglichen „transzendentale(n) Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ (III 389, Anm.; vgl. V 507 f; II 520), geltend gemacht hat, als besonders bedeutsam erweisen. In diesem Kontext der kantischen Selbstverortung innerhalb der „Geschichte der reinen Vernunft“ sei darauf hingewiesen, dass diese Charakterisierung des unverzichtbaren „transzendentalen Begriffs von Gott“, „so abstrakt er auch ist“, sich durchaus als zweideutig erweist: Zunächst besagt sie, dass der aus der „Geschichte der reinen Vernunft“ resultierende gereinigte „Gottesbegriff“ selbst aus den konkreten Gestalten der Religion in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ „abstrahiert“ (d. h. in diesem Sinne „herkünftig“) ist. Ebenso ist in jenem betonten „So-abstrakt-er-auch-ist“ jedoch angezeigt, dass dieser „transzendentale Begriff von Gott“ erst in dem ethikotheologisch vermittelten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ (d. h. im „Ausgang“ davon) seine Bestimmtheit „für uns“ gewinnt. Beide zu beachtende „gegenläufige“ Aspekte jenes „So-abstrakt-er-auch-ist“ sind sodann im „dritten Stadium der Metaphysik“ auf eine Weise vereinigt, dass ohne diese „Klammer“ jedenfalls auch die Kennzeichnung dieses („Vernunftkritik“ und den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ in sich verbindenden) Stadiums als desjenigen „der Theologie“ noch unvollständig bleiben müsste. Auch dies sei nochmals betont: Die kritische Pointe jener Differenz von „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ indiziert bzw. bestätigt demzufolge einen zweifachen Richtungssinn. Denn an das darin implizierte Verbot einer „Subreption“ (im Sinne einer „kritik“-vergessenen „Setzung“ des „Gegenstandes schlechthin“) ist die kritische Einsicht geknüpft, der zufolge jene Differenz eben auch nicht dahingehend eingeebnet 95 Vgl. die für das Verständnis des kritischen Anspruchs dieses „Gegenstands in der Idee“ hilfreiche späte Erläuterung Kants: „Das Symbol einer Idee (oder eines Vernunftbegriffs) ist eine Vorstellung des Gegenstandes nach der Analogie, d. i. dem gleichen Verhältnisse zu gewissen Folgen, als dasjenige ist, welches dem Gegenstande an sich selbst zu seinen Folgen beigelegt wird, obgleich die Gegenstände selbst ganz verschiedener Art sind“ (III 613 f ).
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werden darf, dass damit, in religionskritischer Tendenz, der „Gegenstand schlechthin“ durch den „Gegenstand in der Idee“ einfach absorbiert wäre (sondern darin vielmehr den notwendigen grenzbegrifflichen Sinn eines „Größeren, als gedacht werden kann“, bewahrt). Gegen beide Einseitigkeiten muss die „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ als „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ somit ihren Einspruch erheben. Damit hält Kant also auf negative Weise offen, dass die „Abgründigkeit“ der Idee des „schlechthin notwendigen Wesens“ – von einem dann eben selbst „dogmatischen Atheismus“ – nicht als die dogmatische Behauptung eines „schlechthinnigen Nichts“ angesehen werden darf. Jenes „Ideal der Vernunft“ als kritischer „Abschlussgedanke“ fungiert zunächst zugleich als der unumgängliche „Anschlussgedanke“ für jede „positive Theologie“96 und bleibt so selbst eine grenzbegrifflich eröffnete Voraussetzung bzw. „Bedingung der Möglichkeit“ jeder auch nur denkbaren Selbstoffenbarung des „Absoluten“. In der Tat ist es von kaum überschätzbarer Bedeutung – insbesondere auch mit Blick auf die nachkantische Explikation der religionsphilosophisch bestimmenden Motive –, dass Kant eben diese Unterscheidung zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ als die „Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft“ angesehen hat. Darin bleibt also gleichermaßen das Bewusstsein davon bestimmend, dass dieser „Gegenstand schlechthin“ deshalb aufbewahrt bleiben muss, weil doch allein dies jene Spannung aufrechterhält, die der Wendung „Gegenstand in der Idee“ ihre Pointe verleiht und ihren spezifischen Richtungssinn bestimmt.97 Es sollte deutlich geworden sein: Die selbst noch einmal kritisch reflektierte Betrachtungsweise, „als ob der Inbegriff aller Erscheinungen (die Sinnenwelt selbst) einen einzigen obersten und allgenugsamen Grund außer ihrem Umfange habe, nämlich eine gleichsam selbständige, ursprüngliche und schöpferische Vernunft“ (II 585), verfolgt mit der darin geltend gemachten Differenz dieser „Idee“ von ihrer „Hypostasierung“ ein theologie-kritisches Motiv; sie trifft damit gleichermaßen eine sich selbst missverstehende Theologie-Kritik, die den kritisch-grenzbegrifflichen Status jenes „Gegenstands in der Idee“ selbst bloß einseitig im Sinne eines „dogmatischen Atheismus“ (d. i. lediglich in umgekehrter Richtung) abspannt. Derart erfüllt auch der kantische „Schulbegriff der Philosophie“ seine letzte Aufgabe und bleibt so, nicht zuletzt im Blick auf die darin zu leistende Vermittlung von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“, auch in seiner kritischen Bedeutung für den von Kant gesuchten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ „aufgehoben“.98 96 Zu Recht hat F. Wagner deshalb (gegenüber unstatthaften Verkürzungen des kantischen Anliegens) betont: „Dass Gott ein Gedanke ist, den die Vernunft denken muss, ist die Voraussetzung für das Postulat der Realität Gottes in der praktischen Philosophie. Die Theologie hat aber Kant weitgehend so rezipiert, daß sie von der Unmöglichkeit, Gott auf dem Boden der Vernunft zu denken, ausgegangen ist“ (F. Wagner 1985, 28). 97 Sowohl im Rückblick auf das Anselm’sche Motiv des „Größer als gedacht werden kann“ als auch im Vorblick auf Motive der positiven Philosophie Schellings wäre anzumerken, dass diese kantische Differenz zwischen dem „Gegenstand in der Idee“ und dem „Gegenstand schlechthin“ jenen hierfür notwendigen Raum eröffnet – „innerhalb der Vernunft über diese hinaus“ –, ohne selbst, über solche „Eröffnung“ hinaus, einer „Objektivierung und Hypostasierung“ zu verfallen, wie es Kant indes als „natürlichen“ (d. h. hier: unkritischen) Fortgang ansehen wollte. 98 Auch deshalb lässt sich nicht aufrechterhalten, dass Kant „die Gottesidee aus der allgemeinen Metaphysik herausnahm und zu einem ausschließlichen Problem der Ethik machte“ (Cohen 1924, 45). Ebenso gilt dies
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Gewiss ist es auch im Blick auf jenen „Schulbegriff der Philosophie“ beachtenswert, dass Kant an einer einschlägigen Stelle seiner ersten „Kritik“, ganz unscheinbar und indirekt, auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ verweist – so mit dem aufschlussreichen Hinweis auf die „einen natürlichen Fortschritt der Vernunft“ indizierende gestufte Folge von „Realisierung“, „Hypostasierung“ und „so gar“ der „Personifizierung“, die nun erst in der Bestimmung des „Begriff(s) eines einzelnen Wesens“ (II 518) und sodann in derjenigen des „Ideals des allerrealsten Wesens“ (II 523, Anm.)99 hervortritt. Die der „Kritik“ verdankte Aufdeckung des eben in diesem „natürlichen Fortschritt“ zutage tretenden „dialektischen Scheins“ sei freilich geradezu als ein Meilenstein in der „Geschichte der reinen Vernunft“ zu würdigen. Damit knüpft Kant an die aus der Vernunftkritik gewonnene kritische Einsicht an: „Transsc.Phil. ist … ein System … von subjectiven Ideen welche die Vernunft selbst schafft, und zwar … apodiktisch, indem sie sich selbst schafft“;100 demgegenüber „begegnen“ einer sich selbst (und ihren „natürlichen Hang“) nicht durchschauenden „metaphysischen Naturanlage“ diese ihr selbst entstammenden, d. h. ihr immanenten „Unbedingtheiten“ als kategoriale – also als quasi „objektive“, d. i. als von ihr unabhängige und blindlings nötigende – Gestalten, die so als „an sich“ erzeugend aufgefasst werden. Es sind diese undurchschauten Hypostasierungen bzw. die darauf beruhenden „Subreptionen“, die bekanntlich in jener von Kants Kritik aufgewiesenen, gleichsam unvermeidlichen „natürlichen Dialektik“ und deren „Schein“ verwurzelt sind, in die das ungezähmte Vernunftbedürfnis ihm zufolge freilich „ganz ohne Schuld“ gerät. An diese mit der „Vollendung des kritischen Geschäfts“ aufs Engste verbundene Einsicht ist des Weiteren der Nachweis geknüpft, dass jene unkritische „Hypostasierung“ einer grenzbewussten postulatorischen „Brechung“ des behaupteten „Daseins Gottes“ weichen muss, so wie die „durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft“ vollzogene „Personifizierung“ jenes „Ideals“ sodann durch das kritische Anliegen eines (insbesondere in den §§ 57 ff der „Prolegomena“ angeführten) „symbolischen Anthropomorphismus“ unterbrochen und geläutert wird (s. u. III., 3.). für jene Bestimmung des „Ideals der Vernunft“, das die menschliche Erkenntnis „schließt und krönet“. 99 Diese auch im Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ (als die erst noch „auszufüllende Stelle“: II 701) zu buchstabierende Anmerkung lautet: „Dieses Ideal des allerrealsten Wesens wird also, ob es zwar eine bloße Vorstellung ist, zuerst realisiert, d. i. zum Objekt gemacht, darauf hypostasiert, endlich, durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft [!] zur Vollendung der Einheit, so gar personifiziert, wie wir bald anführen werden; weil die regulative Einheit der Erfahrung nicht auf den Erscheinungen selbst (der Sinnlichkeit allein), sondern auf der Verknüpfung ihres Mannigfaltigen durch den Verstand (in einer Apperzeption) beruht, mithin die Einheit der höchsten Realität und die durchgängige Bestimmbarkeit (Möglichkeit) aller Dinge in einem höchsten Verstande, mithin in einer Intelligenz zu liegen scheint“ (II 523, Anm.). Dieser Vorwurf kehrt offensichtlich auch in der „praktisch gewendeten“ (noch im „opus postumum“ nachklingenden) Bestimmung Kants wieder, Gott sei „gleichsam das moralische Gesetz, aber personifiziert gedacht“ (auf die sich bezeichnenderweise L. Feuerbach beruft: Feuerbach Bd. 6, 57, Anm.). – Schaeffler (1995, 166) scheint diesbezüglich zu verkennen, dass Kant in diesem Verweis auf den „natürlichen Fortschritt der Vernunft“ doch gerade darauf abzielt, die darin zutage tretende „transzendentale Subreption“ sichtbar zu machen, d. h. diesen „natürlichen Fortschritt“ selbst also als „Täuschung“, d. h. als illegitim, aufweisen will. Dagegen, dass dieser „natürliche Fortschritt der Vernunft“ in seinem „Schein“-Charakter durchschaut wird und sich nicht unversehens zu einer „Notlüge der Vernunft, womit sie sich selbst hintergeht“ (Jacobi, in: W. Jaeschke 1994, 235) gleichsam „auswächst“, hat Kant seine „Haltesignale“ errichtet. 100 Vgl. AA XXI, 93; s. dazu u. III., 2.1.
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Aus den voranstehenden Überlegungen sollte deutlich geworden sein, dass jene „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ nach Kant zugleich als die gesuchte „Selbsterkenntnis der reinen Vernunft“ zu verstehen ist. Ebendies stellt zunächst die vorrangige Leistung des „dritten Stadiums der neueren Metaphysik“ dar, wobei solche „Selbsterkenntnis der Vernunft“ zugleich die kritizistische Legitimation der Vernunftideen leistet, d. h. die von Kant für sie in der „transzendentalen Deduktion der Ideen“ beanspruchte „unbestimmte objektive Gültigkeit“ aufweisen soll und so nicht zuletzt auf die unumgängliche Unterscheidung des „Gegenstands schlechthin“ und des „Gegenstands in der Idee“ führt. Jene in der „transzendentalen Deduktion der Ideen“ gesuchte „Selbsterkenntnis der reinen Vernunft“ impliziert so die Einsicht, dass Letztere ihren regulativen Bezug auf die mannigfaltigen „Verstandeserkenntnisse“ nunmehr als Bezug auf sich selbst begreift und eben darin sich die „Vollendung des kritischen Geschäfts der Vernunft“ als untrennbar mit dieser „Selbsterkenntnis der Vernunft“ verbunden erweist und dies erst jene kritizistisch limitierten und legitimierten „Vernunftideen“ als solche ausweist.101 Solche „Selbsterkenntnis“ ist (mit der darin implizierten „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“) auch die Voraussetzung für jene Perspektiven, in denen Vernunft über die intendierte „Vollständigkeit des theoretischen Vernunftgebrauchs“ noch einmal „hinaussieht“ und solcherart auch erst den Ausblick auf den „Endzweck der Vernunft“ bzw. den „Endzweck der Metaphysik“ angemessen zu thematisieren vermag. Hierfür ist der Aufweis unumgänglich, dass die angezeigte „Vollendung des kritischen Geschäfts der Vernunft“ (die sich darin manifestierende „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“: II 582) erst die erste Stufe der „teleologia rationis humanae“ darstellt, und mit der darin geleisteten „Einschränkung“ zunächst lediglich die notwendige „Erweiterung der reinen Vernunft, in praktischer Absicht“ (IV 266 f ) sowie die daran anschließenden Schritte dem „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ gemäß zu fundieren vermag. 101 Dies ist freilich auch ein wichtiger Aspekt des Aufweises der „Endlichkeit der Vernunft“ und ihrer internen „Verfassung“. – J. Karasek legt in plausibler Weise dar, dass sich in dem kantischen Anspruch einer „Deduktion der Ideen“ ein „Selbstbezug der Vernunft“ artikuliert, der mit jenem Programm der „Selbsterkenntnis der Vernunft“ (und der „Vollendung des kritischen Geschäfts“) untrennbar verbunden ist, denn: „Die Deduktion muss von den transzendentalen Ideen zeigen können, dass sie diejenigen reinen Vernunftbegriffe sind, die alle Regeln des empirischen Gebrauchs der Vernunft unter der Voraussetzung eines in ihnen gedachten Gegenstandes auf systematische Einheit führen. Denn die transzendentalen Ideen sind erst dann Begriffe [und nicht „leere Gedankendinge“], wenn von ihnen gezeigt ist, dass sie Maximen der reinen theoretischen Vernunft sind, d. h. diejenigen Regeln, die der reinen theoretischen Vernunft ein notwendiges Verfahren mit Bezug auf die systematische Einheit aller Erfahrung vorschreiben. Sind sie aber Maximen, … dann können sie zu Recht eine unbestimmte objektive Gültigkeit beanspruchen“ (Karasek 2010, 63 f ). Die Konsequenz daraus wäre, „dass die Vernunft sich unter der Voraussetzung ihres Bezuges auf den Verstand mittelbar ‚auf ihren eigenen empirischen Gebrauch‘ bezieht. Dass die Vernunft sich auf ihren eigenen empirischen Gebrauch bezieht, deutet zunächst einmal darauf hin, dass das, was die Vernunft bei ihrem Bezug auf den Verstand, d. h. bei ihrem immanenten bzw. empirischen Gebrauch ‚erkennt‘, nichts anderes ist als sie selbst“ (ebd. 65). Dies besagt ja auch der in der Tat zentrale Hinweis Kants (auf den sich Karasek bezieht): „Die Vernunft bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand, und vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch“ (II 564). Ebendies ist „vermittelt“ über den „vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch“ der „Vernunftideen“ (II 565), die als solche Wissensansprüche insofern leiten, als sie doch erst zusammenhängende “Erfahrung” ermöglichen.
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2.1.2. Die unverzichtbare Gottesidee der „transzendentalen Theologie“ und Kants Begründung der notwendigen Unterscheidung zwischen „Inbegriff“ und „Grund aller Realitäten“ Die in einer langen Anmerkung des späten Aufsatzes „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton …“ von Kant vorgelegte Begründung für den Unterschied zwischen „Grund“ und „Inbegriff aller Realitäten“ wird sich auch in späteren Zusammenhängen als höchst bedeutsam erweisen und sei deshalb schon hier im Wortlaut angeführt102: „Der transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen, kann in der Philosophie nicht umgangen werden, so abstrakt er auch ist; denn er gehört zum Verbande und zugleich zur Läuterung [!] aller konkreten, die nachher in die angewandte Theologie und Religionslehre hineinkommen mögen. Nun fragt sich: soll ich mir Gott als Inbegriff [103] … aller Realitäten, oder als obersten Grund derselben, denken? Tue ich das erstere, so muss ich von diesem Stoff, woraus ich das höchste Wesen zusammensetze, Beispiele anführen, damit der Begriff derselben nicht gar leer und ohne Bedeutung sei. Ich werde ihm also etwa Verstand, oder auch einen Willen, … als Realitäten beilegen. Nun ist aber aller Verstand, den ich kenne, ein Vermögen zu denken, d. i. ein diskursives Vorstellungsvermögen, oder ein solches, was durch ein Merkmal, das mehreren Dingen gemein ist …, mithin nicht ohne Beschränkung des Subjekts möglich ist. Folglich ist ein göttlicher Verstand nicht für ein Denkungsvermögen anzunehmen. Ich habe aber von einem andern Verstande, der etwa ein Anschauungsvermögen wäre, nicht den mindesten Begriff; folglich ist der von einem Verstande, den ich in dem höchsten Wesen setze, völlig sinnleer. […] Nun habe ich wiederum nicht den mindesten Begriff, kann auch kein Beispiel von einem Willen geben, bei welchem das Subjekt nicht seine Zufriedenheit auf dem Gelingen seines Wollens gründete, der also nicht von dem Dasein des äußeren Gegen102 Auch in einer Randanmerkung zur „Preisschrift“ über die „wirklichen Fortschritte der Metaphysik“ hat Kant betont: „Das Urwesen, als das höchste Wesen (realissimum), kann entweder als ein solches gedacht werden, dass es alle Realität als Bestimmung in sich enthalte. – Dies ist für uns nicht wirklich, denn wir kennen nicht alle Realität rein, wenigstens können wir nicht einsehen, dass sie bei ihrer großen Verschiedenheit allein in einem Wesen angetroffen werden könne. Wir werden also annehmen, dass es ens realissimum als Grund sei, und dadurch kann es als Wesen, was uns gänzlich, nach dem, was es enthält, unerkennbar ist, vorgestellt werden“ (III 673). S. zum Folgenden auch die Erläuterungen: AA 28.2,1, 778 f. 103 Dass freilich schon dieser vorgestellte „Inbegriff“ sich nach Kant einer Erschleichung verdankt, verrät der Hinweis auf den ihm zugrunde liegenden „Schein“: „da die Allgemeinheit des Denkens durch die Vernunft vor einen Gedanken von einem All der Möglichkeiten der Dinge genommen wird“ (Refl. 5553, AA XVIII, 224), d. h. das Denken ein „einig Ding“ unterstellt und darin eben einem „Schein“ unterliegt. Die zahlreichen frühen Äußerungen Kants zur Differenz zwischen dem „Inbegriff“ und „Grund aller Realitäten“ (auch im Kontext seiner Spinoza-Kritik) sind hier nicht zu verfolgen. – Hingewiesen sei jedoch darauf, dass Kant in der „ersten Kritik“ (im Abschnitt über das „transzendentale Ideal“) sich bemerkenswerterweise zu dem Hinweis veranlasst sah, dass das von ihm „gleich anfänglich im ersten rohen Schattenrisse“ zwar als „Inbegriff aller Realitäten“ vorgestellte „Ideal des Urwesens“ sodann doch als „Grund aller Realitäten“ beansprucht wurde (II 520), ohne dass dies hier jedoch näher ausgewiesen wurde; die angeführte späte lange Anmerkung über den „neuerdings erhobenen vornehmen Ton …“ (III 389 f, Anm.) knüpft eben hier an. Obgleich Kant schon in der „ersten Kritik“ diese Unterscheidung von „Inbegriff und Grund“ zur Geltung bringt, hat er über den genauen Sinn und die weitreichenden Konsequenzen aus dieser Unterscheidung, die eben auch den Status des „Ideals der Vernunft“ berührt bzw. verändert, offenbar erst später größere Klarheit gewonnen.
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standes abhinge. Also ist der Begriff von einem Willen des höchsten Wesens, als einer ihm inhärierenden Realität, sowie der vorige, entweder ein leerer, oder (welches noch schlimmer ist) ein anthropomorphistischer Begriff, der, wenn er, wie unvermeidlich ist, ins Praktische gezogen wird, alle Religion verdirbt, und sie in Idololatrie verwandelt. – Mache ich mir aber vom ens realissimum den Begriff als Grund aller Realität, so sage ich: Gott ist das Wesen, welches den Grund alles dessen in der Welt enthält, wozu wir Menschen einen Verstand anzunehmen nötig haben (z. B. alles Zweckmäßigen in derselben); er ist das Wesen, von welchem das Dasein aller Weltwesen seinen Ursprung hat, nicht aus der Notwendigkeit seiner Natur …, sondern nach einem Verhältnisse, wozu wir Menschen einen freien Willen [bzw. Vernunft] annehmen müssen, um uns die Möglichkeit desselben verständlich zu machen. Hier kann uns nun, was die Natur des höchsten Wesens (objektiv) sei, ganz unerforschlich und ganz außer der Sphäre aller uns möglichen theoretischen Erkenntnis gesetzt sein, und doch (subjektiv) diesen Begriffen Realität in praktischer Rücksicht (auf den Lebenswandel) übrig bleiben; in Beziehung auf welche auch allein eine Analogie des göttlichen Verstandes und Willens mit dem des Menschen und dessen praktischer Vernunft angenommen werden kann, ungeachtet theoretisch betrachtet dazwischen gar keine Analogie Statt findet. Aus dem moralischen Gesetz, welches uns unsere eigene Vernunft mit Autorität vorschreibt, nicht aus der Theorie der Natur der Dinge an sich selbst, geht nun der Begriff von Gott hervor, welchen uns selbst zu machen [104] die praktische reine Vernunft nötigt“ (III 390 f, Anm.).105 104 Auch in der späten „Preisschrift“ hat Kant in diesem Sinne von „selbstgemachten Ideen“ gesprochen, die freilich notwendig sind. – Es ist im Vorblick auf seine Nachfolger (vornehmlich Hölderlin, Schelling und Hegel) von besonderem Interesse zu sehen, wie auch noch der späte Kant hier, gerade mit Bezug auf „platonisierende“ zeitgenössische Tendenzen, sich zu einer höchst bedeutsamen Differenzierung veranlasst sieht, die freilich (was hier nicht zu verfolgen ist) erst im Zusammenhang mit seiner Lehre vom (grenzbegrifflich gedachten) „intuitiven Verstand“ ihre volle Bedeutung gewinnt. Sie führt ihn, in Vermeidung eines andernfalls unvermeidlichen „Anthropomorphismus“, dazu, den „transzendentalen Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“, eben gerade nicht „als Inbegriff (complexus, aggregatum) aller Realitäten“, sondern „als obersten Grund derselben [zu] denken“ (III 389 f, Anm.). Vgl. AA XX, 342: „… Bestimmung des Begriffs von Gott nicht als Inbegriff sondern Grund aller Realität sonst ist es Anthropomorphism“. Denn: „Wir können Gott nicht als realissimum erkennen, weil wir ihm weder Verstand noch Willen beilegen können, ohne unsere Limitation auf ihn überzutragen. Der Begriff des realissimi ist conceptus originarius, weil die Negationen Realität voraussetzen und Remotionen derselben sind, also derivativ. Diese Negationen können auch nur als Limitationen des realissimi vorgestellt werden“. (Refl. 6318, AA XVIII, 632; vgl. Refl. 6286, AA XVIII, 554) Auf diese Weise präzisiert bzw. korrigiert Kant anders lautende Äußerungen in seinen Vorlesungen, vgl. z. B. AA XXVIII, 780 f; vgl. dazu auch Refl. 6331: AA XVIII, 651. Diese ausdrückliche (und wiederholte) Unterscheidung Kants zwischen „Grund“ und „Inbegriff“ wird indes in Hegels – gegen Kant gerichteter – achter Habilitationsthese (aus dem Jahr 1801) nivelliert bzw. ignoriert: „Materia postulati rationis, quod philosophia critica exhibet, eam ipsam philosophiam destruit, et principium est Spinozismi“ (zit. n. Bondeli 1997, 42). Schon Kant selbst durchschaute offenbar die in jener Habilitationsthese Hegels hellsichtig diagnostizierte Konsequenz. Vgl. zu dem „großen Unterschied, ob man das ens realissimum in Ansehung aller Realität als ihr Subject oder als Grund ansehe“, auch Refl. 6263 (AA XVIII, 536); zur kantischen Unterscheidung von „Inbegriff“ und „Grund“ s. auch Henrich 2004, Band 2, 1478 ff. – Bis hin zu den leitenden Motiven der späten „positiven Philosophie“ Schellings und deren beanspruchter Weiterführung der kantischen Vernunftkritik erweist sich die angeführte – auch vom späten Kant betonte (III 390, Anm.) – Differenzierung von „Inbegriff“ und „Grund aller Realitäten“ und näherhin dem „Wesen, welches den Grund aller Realitäten enthält“, als besonders bedeutsam. 105 Diese bezeichnenderweise in seiner späten Schrift „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ vorgestellte Argumentationsfigur verdankt sich vermutlich auch einer Reminiszenz an Ja-
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Diese – auf den ersten Blick lediglich eine frühere Argumentation über das „transzendentale Ideal“ (II 520) aufnehmende und vornehmlich gegen spinozistische Tendenzen gerichtete – Erörterung des Motivs106, Gott als „Grund“ und nicht als „Inbegriff aller Realitäten“ zu denken, und die daran geknüpfte beispielhafte Erläuterung betreffend „Verstand“, „Wille“ und auch „Macht“ wäre demgemäß auch bezüglich des „unbezweifelten Faktums“ des „Selbstbewußtseins“ („Ich“) aufzunehmen und könnte so dem „symbolischen Anthropomorphismus“ noch besondere Akzente verleihen.107 In analoger Weise müsste dies folgerichtig auf den Gedanken Gottes als des „Wesen(s), welches den Grund alles dessen enthält“, führen, was wir Menschen (d. i. eben wir selbst) als „Selbstbewusstsein“, als „Ich“, „zu denken nötig haben“ und worin Letzteres seinen „Grund“ hat: Dies ist das „Übersinnliche in uns“ (d. h. die „moralische Persönlichkeit“ bzw. das „Vernunftfaktum“ des „moralischen Gesetzes“), zumal vernünftigerweise doch nicht gedacht werden kann, dass der subjektivitäts- und freiheits-fundierende Grund solchen Status selbst unterbietet – auch wenn, wie erwähnt, das, „was die Natur des höchsten Wesens (objektiv) sei, … ganz außer der Sphäre aller uns möglichen theoretischen Erkenntnis gesetzt sein“ mag (III 390, Anm.).108 Demzufolge verweist nämlich der „transzendentale cobis Spinoza-Interpretation: „Diese inwohnende unendliche Ursache [Spinozas] hat, als solche, explicite, weder Verstand noch Willen, weil sie, ihrer transzendentalen Einheit und durchgängigen absoluten Unendlichkeit zufolge keinen Gegenstand des Denkens und des Wollens haben kann …“ (Jacobi 2000, 25); vgl. dazu Jacobis (gerade auch im Blick auf Kant) aufschlussreiche Bemerkung über die partielle Wahrheit jener „dichterischen Philosophie“ bezüglich des „persönlichen Gottes“ (ebd. 239 f ), worauf jener o. angeführte späte Passus Kants gleichsam die Antwort darstellt. – Die von Kant in kritischer Absicht ausgebildete „Analogie“-Figur und die darauf gestützte Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“ richtet sich offensichtlich gegen Spinozas „leblosen Gott“ wie auch gegen Hume, dessen Kritik an einem „dogmatischen Anthropomorphismus“ indes von Kant ausdrücklich geteilt wird. Vor allem wollte Kants Analogie-Motiv offenbar auch einen späten Ausweg gegenüber Jacobi anbieten, der sich bekanntlich für seinen Glauben an „eine verständige persönliche Ursache der Welt“ nur durch einen „salto mortale aus der Sache“ zu helfen wusste (Jacobi 2000, 26). Der angeführte Passus aus der späten Schrift „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton …“ impliziert aber, genauer besehen, auch eine indirekte Selbstkritik bzw. eine notwendige Differenzierung gegenüber der These der „zweiten Kritik“: „Nun ist ein Wesen, das der Handlungen nach der Vorstellung von Gesetzen fähig ist, eine Intelligenz (vernünftig Wesen) und die Kausalität eines solchen Wesens nach dieser Vorstellung der Gesetze ein Wille desselben. Also ist die oberste Ursache der Natur, so fern sie zum höchsten Gute vorausgesetzt werden muß, ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d. i. Gott“ (IV 256). Vgl. auch das in der „dritten Kritik“ geäußerte „Verbot“, Gott „Verstand und Willen“ „in der eigentlichen Bedeutung beizulegen“ (V 595). 106 Kants „vorkritische“ Bezugnahmen auf diese Unterscheidung bzw. den „Quell aller Realität(en)“ (so z. B. I 437), die später, jedoch unter kritizistischen Vorzeichen, wiederkehren, sind hier nicht zu verfolgen. 107 Kant ging hier offenbar doch über jene einschlägige – „anthropomorphismus-kritische“ – Argumentation der „zweiten Kritik“ und deren Forderung noch hinaus, von allem zu abstrahieren, „was diesen Begriffen psychologisch anhängt“ (IV 270). Diese in einer prinzipiellen Hinsicht zu lesende Forderung gewinnt freilich eine geradezu programmatische Bedeutung. S. dazu auch u. V., 1. 108 Vgl. dazu auch schon Kants Argumentation bezüglich der dem „höchsten Wesen“ beigelegten Attribute „Verstand“ und „Wille“ in den „Prolegomena“, die sich bezeichnenderweise im Kontext des „Beschlusses von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ (§ 57 der „Prolegomena“) findet und sogleich auf das Problem der „Analogie“ bzw. des „symbolischen Anthropomorphismus“ führt (§ 58). Dass Kant hier seine einschlägige Argumentation doch deutlich modifiziert, zeigt auch ein (offenbar Baumgarten folgender) Passus aus der Metaphysik Pölitz (AA XXVIII, 334): „Wir können per analogiam wohl einsehen, dass Gott einen Verstand und einen Willen hat, weil wir einen Verstand und einen Willen haben; wir können aber nicht einsehen, wie dieser Verstand und Wille beschaffen ist“; daraus folgerte Kant:
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Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“, notwendigerweise auf die Idee eines „obersten Grundes“ jenes „völligen Bewusstseins seiner selbst“; dieser wäre, in Anlehnung an Kants einschlägige Wendung formuliert, gemäß solcher Analogie nun auch erst „via eminentiae“ als „oberster Grund“ dessen anzusehen, wozu „endliche Vernunftwesen“ ein derartiges „Bewusstsein ihrer selbst“ annehmen müssen, wobei dieser „oberste Grund“ sich in derlei Bestimmung, „als Voraussetzung der Verständlichkeit der Selbstbeziehung im Bewusstsein“, gewissermaßen als „innerlicher, als ich selbst mir bin“, erweisen müsste109. Der daraus als „oberster Grund“ hervorgehende Gottesbegriff wäre indes selbst nicht einfachhin als „Ich“ zu denken, zumal in einem solchen „unendlichen Ich“ die für endliche Vernunftwesen (als „Iche“) konstitutive „Selbstbezüglichkeit“ nicht enthalten sein könnte, weshalb jener „aus unserer Vernunft hervorgehende Begriff von Gott“ (vgl. III 389 f, Anm.) in seiner Bestimmtheit derart im Sinne einer „docta ignorantia“ zugleich negiert werden müsste. In dieser Gedankenfigur ist das Streben nach einer „theoretisch“ zwar keineswegs angemessenen, vielmehr lediglich am wenigsten unangemessenen Charakterisierung der „Gottesidee“ mit demjenigen nach einer „praktisch“ möglichst adäquaten, weil unumgänglichen Bestimmung in eigentümlicher Weise verbunden, die durchaus dem programmatischen Anliegen des „Primats der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ entspricht. Die angeführte Begründung Kants lässt ebenso die Einsicht in die Notwendigkeit erkennen, diese Gott zugeschriebenen „Realitäten“ infolge ihrer Beschränktheit und Vielheit in kritischer Absicht negieren zu müssen und eben dies gleichermaßen nicht zu dürfen, wenn dadurch die ihnen immanente Bestimmtheit nicht wiederum preisgegeben werden soll. Dies indiziert freilich geradewegs eine Paradoxie: Wäre dieserart doch ein „Verstand“ bzw. „Wille“ zu denken, der zugleich eben ein solcher gerade nicht sein dürfte. Die unvermeidliche Konsequenz daraus wäre eine solcherart vermittelte „negative Theologie“, die allein auf solche Weise die „kritische Transzendenz“ des Absoluten zu wahren vermag. Genauer besehen wäre mit dieser Einsicht nach Kant jedoch keineswegs „Wir denken uns also den Willen Gottes per analogiam, indem wir per viam reductionis die Dependenz unsers Willens von allen Gegenständen wegschaffen.“ Dieser allzu „glatte“ Lösungsvorschlag wollte dem späteren Kant offenbar nicht mehr genügen. Über die bloße – schon in der „ersten Kritik“ benannte – Unterscheidung von „Grund“ und „Inbegriff aller Realitäten“ hinaus bleibt also – nicht zuletzt für eine Differenzierung des „Transzendenz“-Begriffs (und erst recht im Blick auf den späteren Fichte und Schelling) – von der Bestimmung des „Grundes aller Realitäten“ der Bezug auf Gott als jenem „Wesen“ noch einmal abzuheben, „welches den Grund alles dessen in der Welt enthält [!], wozu wir Menschen einen Verstand anzunehmen nötig haben“ (III 390, Anm.). 109 So ähnlich hätte wohl ein kritischer Zwischenruf Kants zu einer Antwort des frühen Schelling an Hegel lauten können: „Noch eine Antwort auf Deine Frage: ob ich glaube wir reichen mit dem moralischen Beweis nicht zu einem persönlichen Wesen? Ich gestehe, die Frage hat mich überrascht; ich hätte sie von einem Vertrauten Lessings nicht erwartet; – doch Du hast sie wohl nur getan, um zu erfahren, ob sie bei mir ganz entschieden sei; für Dich ist sie gewiss schon längst entschieden. Auch für uns sind die orthodoxen Begriffe von Gott nichts mehr. – Meine Antwort ist: wir reichen weiter noch als … zum persönlichen Wesen. Ich bin indessen Spinozist geworden! – Staune nicht, Du wirst bald mehr hören, wie? Spinoza’n war die Welt (das Objekt schlechthin, im Gegensatz gegen das Subjekt) – alles, mir ist es das Ich“ (Schelling an Hegel, Brief v. 4.2. 1795. In: J. Hoffmeister (Hg.), Briefe von und an Hegel. [4 Bände], Bd. 1[1785–1812], 21 f ).
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schon der von ihm so bezeichnete und gewürdigte „herrliche Weg der Analogie“ (s. u. III., 3.) selbst erreicht, sondern zunächst nicht mehr als eine unumgängliche kritische Voraussetzung hierfür erfüllt;110 denn dieses allein übrig bleibende völlig bestimmungslose „Nichts-Etwas“ – von dem nun erst recht gelten müsse, dass dafür „keine“ Bestimmbarkeit möglich ist – wäre somit im Grunde jener vollständig „geläuterte“ Begriff des „Absoluten“ im Sinne „absoluter Transzendenz“, der als solcher selbst im Ausgang von jenem „Gegenstand in der Idee“ als dem „Substrat jeder Theologie“111 – gewissermaßen als eine „Selbstbegrenzung“ dieses „Grenzbegriffs“ selbst – zu thematisieren bliebe, ohne damit freilich in die schiefen Hypostasierungen einer „suppositio absoluta“ zurückzufallen. Es ist diese Sachlogik, die sich aber auch in der – von Humes Theismus-Kritik „zurecht gebrachten“ – sehr aufschlussreichen Begründung des „transzendentale(n) Begriffs von Gott, als dem allerrealsten Wesen“, als maßgebend erweist: nämlich nicht als „Inbegriff … aller Realitäten“, sondern als „oberster Grund derselben“, zumal dem praktisch-existenziellen Selbstverständnis der (moralischen) „Persönlichkeit“ nunmehr die Idee von Gott als einer „freiwirkenden, vernünftigen Ursache“ bzw. der Weisheit eines „moralischen Welturhebers“ in der Einheit von „Sinn und Macht“ korrespondiert und so erst einen Begriff von „Gott“ erlaubt, „der für die Religion tauglich sein soll (denn zum Behuf der Naturerklärung, mithin in spekulativer Absicht, brauchen wir ihn nicht)“ (VI 106, Anm.). Auch so bestätigt sich eine von Kant selbst angezeigte bedeutsame Modifikation bzw. Selbstkorrektur Kants: Nicht das „Ideal der Vernunft“ als Inbegriff aller „Realitäten“, sondern der „Grund“ derselben, wird dergestalt „ens perfectissimum“ und erst als solches auch als „Beziehungspunkt aller Zwecke überhaupt“ bestimmbar. In einem weiteren Schritt der „symbolischen Anthropomorphisierung“ wird es als „höchstes ursprüngliches Gut“ ausgewiesen, das demgemäß nicht mehr bloß als grenzbegrifflich gedachtes – aber eben nicht begrifflich bestimmtes! – „absolut notwendiges Wesen“, sondern, „von uns für uns“ vorgestellt, nunmehr „in praktischer Absicht“, als das „absolut not-wendende We110 Es entspricht wohl den „grenzbegrifflich“ orientierten Differenzierungen Kants und seiner Würdigung des „herrlichen Wegs der Analogie“, wenn Letzterer (deren „via negationis“ und „eminentiae“) zwar „Gott“ vor Verendlichungen („Beschränkungen“) bewahrt, gleichwohl das Motiv des im „grenzbegrifflich“ aufzubewahrenden „Gegenstands schlechthin“ ein darüber noch hinausgehendes – auch religionskritisch relevantes – „Transzendenz“-Motiv indiziert. Eine darauf abzielende Analyse des „PhaenomenaNoumena“-Kapitels der „ersten Kritik“ wäre (mit der Unterscheidung von „Schranken“ und „Grenzen“) diesbezüglich wohl erhellend. 111 Vgl. AA XXVIII, 1047: „Es ist wahr, alles, was wir in dieser transcendentalen Theologie von Gott erkannt haben, ist der bloße Begriff von einem höchsten Urgrunde; aber so unbrauchbar dieser Begriff für sich selbst, ohne mehrere Erkenntnis sein würde, so herrlich ist er doch, um ihn zum Substrat aller [!] Theologie anzuwenden.“ – Auch hier finden sich übrigens aufschlussreiche Anknüpfungspunkte zu dem kritischen Motiv einer „negativen Theologie“ bei Thomas v. Aquin: „Wenn wir zu Gott auf dem Weg der Verneinung voranschreiten, verneinen wir bei ihm erstens das Körperliche, und zweitens auch das Geistige, soweit es sich bei den Geschöpfen findet, wie die Güte und die Weisheit; und dann bleibt in unserem Geist allein, dass er ist und nichts mehr; folglich ist er da in einer gewissen Undeutlichkeit [?]; am Ende [!] aber verneinen wir bei ihm sogar dieses Sein selbst, soweit es in den Geschöpfen ist, und dann bleibt er doch in einem gewissen Schatten des Nicht-Wissens; in diesem Nicht-Wissen, wie es zum Stand des Weges gehört, sind wir am besten mit Gott verbunden, wie Dionysius sagt, und das ist die Dunkelheit, in der, wie man sagt, Gott wohnt“ (Thomas v. Aquin, Scriptum Super Sententiis, lib. 1, d. 8, q.1,a.1.ad 4).
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sen“ Bestimmtheit gewonnen hat. Der „Begriff des absolut notwendigen Wesens“ bleibt freilich ein notwendiger „Grenzbegriff“,112 der allen „theoretischen Vernunftgebrauch“ übersteigt, d. h. eben in Bestimmtheit nicht einmal gedacht werden kann (und folglich „leer“ bleiben muss); indes wird er über den „praktischen Vernunftgebrauch“ für das „vernünftige Weltwesen“ „in Ansehung seines ganzen Zustandes“ über die Entfaltung der „moralischen Teleologie“ als „terminus ad quem“ seiner Hoffnung postulatorisch bestimmbar und in seinen „Realitäten“ für uns (als „heiliger Gesetzgeber, gütiger Regierer und gerechter Richter“: IV 263, Anm.) differenzierbar. Dies spiegelt selbst jene „teleo logia rationis humanae“ wider, worin jene „wahre Abgründigkeit“ des „absolut notwendigen Wesens“ im Sinne der darin begründeten „negativen Theologie“ ein nicht zu übersehendes Moment darstellt; dieses muss auch in den von Kant beschrittenen Wegen zu einer „positiven Theologie“ aufbewahrt bleiben113 und wäre so, bei genauer Beachtung dieser Vermittlungsschritte und der sich kritisch bescheidenden Ansprüche, wohl auch nicht der Religionskritik ausgesetzt. Demgemäß ist die Begründung dafür, warum Gott als „Grund“ und nicht bloß als „Inbegriff aller Realitäten“ zu denken sei (und die daran geknüpfte beispielhafte Erläuterung betreffend „Verstand“ und „Willen“), zu modifizieren. Die analoge Explikation dieses Gedankens führt dann folgerichtig, wie vorhin erwähnt, auf die Bestimmung Gottes als „das Wesen, welches den Grund alles dessen enthält“, wozu wir Menschen „Selbstbewusstsein“ anzunehmen nötig haben – und das ist eben das „Übersinnliche in uns“ der „moralischen Persönlichkeit“ bzw. das Faktum des „Bewusstseins des moralischen Gesetzes“ in seiner „Unableitbarkeit“, d. h. „Unbegreiflichkeit“ als Prinzip und Faktum zugleich. Zu solcher „Unbegreiflichkeit“ gehört nicht zuletzt dies, dass dieses „Faktum der Vernunft“ dennoch eben ein „factum“ ist, „worin sich reine Vernunft bei uns in der Tat praktisch beweiset“ (IV 155), d. h. dergestalt „Freiheit“ und „Nötigung“ in eigentümlicher Weise vereint – ein Sachverhalt, der ja auch in der Zweideutigkeit der Auszeichnung des Menschen als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ anklingt. Der eigentümliche Status dieses „Faktum-Factums“ ist insbesonders in dem Hinweis auf das „in uns gegebene“ moralische Gesetz (IV 673, Anm.), als „schlechthin“ gebietend, angezeigt, das dennoch ein (unbegreifliches) „factum“ ist. Sowohl der „Prinzip“- als auch der „Faktum“-Status bleibt demzufolge in dem „Faktum der Vernunft“ zu berücksichtigen.114 112 Besonders deutlich auch schon Refl. 4033 (AA XVII, 391 f ): „Die absolute Notwendigkeit ist ein Grenzbegriff, weil ohne ihn keine completudo in der Reihe des Zufälligen sein würde. Dieser Grenzbegriff aber ist selbst problematisch und kann apriori durch die Vernunft nicht erkannt werden, weil er ein conceptus terminator ist“; vgl. Refl. 6278, AA XVIII, 545. 113 Vgl. zu diesen Fragen auch die erhellenden Ausführungen von K. Düsing 2010a. 114 N. Fischer betont (ausführlich in: Fischer/Hattrup 1999, 47–230) in dieser Hinsicht eine darin zutage tretende „Inversion der Aktivität“. Zu beachten bleibt freilich auch, dass die Wirklichkeit dieses „intelligiblen Faktums“ des Sittengesetzes unablöslich an das vernunft-gewirkte „Gefühl der Achtung“ gebunden ist. Dies besagt, dass das Bewusstsein dieses Grundgesetzes „sich für sich selbst uns aufdringt“ (IV 141). Es ist nicht zu übersehen, dass Kants Lehre vom Vernunft-„Faktum der reinen Vernunft“ und seiner „Unbegreiflichkeit“ als „intelligibles Faktum“ nunmehr, auf diesem Fundament der neuen „Freiheitslehre“, jene Lehre vom „Faktum“ des „zweifachen Bewusstsein des Ich“ aufnimmt, d. h. „praktisch-moralisch aufhebt“.
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Im Ausgang davon gewinnt jene erwähnte kantische These über den aus „dem moralischen Gesetz“ hervorgehenden Gottesbegriff (III 391, Anm.) einen besonderen Stellenwert,115 der auch nur gemäß jener Unterscheidung von „Inbegriff“ und „Grund“ als ein „Gott freier Menschen“116 und nur so auch als ein „Gott der Hoffnung“ gedacht werden kann. Allein daraus wäre auch die Berechtigung, ja sogar die Unentbehrlichkeit einer „analogischen“ Bestimmbarkeit jenes Gottesbegriffs als „heiligen Gesetzgebers, gütigen Regierers und gerechten Richters“ abzuleiten; sie bestätigt auf solche Weise, in Beachtung der in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ sich entwickelnden und (im buchstäbliche Sinne) „ausgestaltenden“ Korrelation zwischen menschlichem Selbstverständnis und dem „Begriff vom göttlichen Wesen“, gleichermaßen die Absage an einen – an der „Theorie der Natur der Dinge“ orientierten – abstrakt-geschichtslosen und gleichsam „existenz“-vergessenen Gottesbezug (s. dazu u. den IV. Teil).117 Schon 115 Besondere Bedeutung gewinnt eine derart transformierte Gedankenfigur Kants wohl auch für die an Hölderlins „absolutes Seyn“ anschließenden Überlegungen zum „Grund im (Selbst-)Bewusstsein“ – dem „jenseits“ aller Vereinzelung stehenden „Absoluten“. 116 Kant hat in direkter Abgrenzung von Platon und Spinoza die Schöpfung als „productiones liberae“ bzw. Gott als „causa libera“ betont (AA XXVIII, 1092 ff ); Refl. 4597 (AA XVII, 605); Refl. 6119 (AA XVIII, 461); Refl. 6229 (XVIII, 517); Refl. 6284 (AA XVIII, 550 f ). Auch dies hängt eng zusammen mit jener überaus bedeutsamen und folgenreichen kantischen Begründung für die Notwendigkeit, Gott als „allerrealstes Wesen“ nicht als „Inbegriff“, sondern als „obersten Grund“ aller „Realitäten“ zu denken, und den darin enthaltenen Bezügen zur kritischen „Analogie“-Lehre. AA XX, 342: „von Bestimmung des Begriffs von Gott nicht als Inbegriff sondern Grund aller Realität sonst ist es Anthropomorphism“. (Dass die „Analogie“ thematisiert, wie Gott sich „als ein Grund zur Welt bezieht“ [nicht, „wie er ist“], bedeute, „Gott per analogiam [zu] erkennen“, heißt es schon in der Metaphysik Pölitz: AA XXVIII, 329 f ). Es ist sehr interessant, dass Kant in der für die Mitte der 1780er-Jahre datierten Reflexion 6283 (AA XIX, 549) anmerkt: In „der transcendentalen Theologie gibts keinen Anthropomorphismus, und es ist also nicht nötig, etwas per analogiam Gott beizulegen“. Das Problem der Vereinbarkeit der „menschlichen Freiheit“ mit der kreatürlichen Abhängigkeit hat Kant offensichtlich in allen Phasen seines Denkens beschäftigt; so hat der Umstand, dass es jedoch „für unsere Vernunft schlechterdings unbegreiflich“ sei, „wie Wesen zum freien Gebrauch ihrer Kräfte erschaffen sein sollen“ (IV 810), noch den späten Kant in Vorarbeiten zur „Religionsschrift“ zur Erklärung veranlasst: „Das Geheimnis der Abkunft des menschlichen Geschlechts (ihrer Substanz nach) als freier Wesen kann ihre Abkunft nicht wohl als Schöpfung gedacht werden, sondern als Abstammung, wovon wir aber keinen Begriff haben“ (AA XXIII, 117). Die Kehrseite dieser „Unbegreiflichkeit“ ist die Wahrung der geschöpflichen Selbstständigkeit und damit der „personalen Würde“ des Menschen, die es verbietet, ihn zu einem bloßen „Gemächsel“ zu degradieren, weshalb jene benannte „Abkunft des Menschen“ auf die schöpferisch-einräumende Freigabe „unbedingter Freiheit“ abzielt. Die Verwerfung einer solchen „Gemächsel“-Vorstellung darf wohl auch „ex negativo“ als eine kantische „Übersetzung“ des „Gottebenbildlichkeits“-Motivs gelesen werden – „gebrochen“ im Sinne einer „docta ignorantia“. Dass der Mensch sich nur als „gewollter“ (in diesem Sinne als selbstständiges „Geschöpf“) selbst wollen kann, hat weitreichende Konsequenzen – bis dahin, dass nur ein „moralischer Welturheber“ seinem Vernunftanspruch und der Autonomie der Moral entspricht, d. h. ihnen „genügt“, zumal Gott als „weiser Welturheber“ allein „der Gott freier Menschen“ ist, „die auch in ihrem Gehorsam gegen ihn für sich frei sind“ (Hegel 17, 93). Näherhin bedeutet dies, dass der auch als „Urgrund“ der „Autonomie“ (und der darauf begründeten „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“, s. u. III., 2.) gedachte „Gott“ als „Urquell alles Guten in der Welt“ nur als frei-setzender, d. h. affirmierender „Ur- und Ungrund“ dieser „Autonomie“ gedacht werden kann. 117 Die in dieser Entwicklung zutage tretende Stufung (bis hin zum „Gott der Religion“) indiziert auch Kants Argumentation in den späten Vorlesungen zur Rationaltheologie: „In der transcendentalen Theologie stellen wir uns Gott vor, als Weltursache; in der Naturtheologie [gemeint wohl: „natürlichen Theologie“] als Welturheber, d. i. als einen lebendigen Gott, als ein freies Wesen, das aus eigener freier Willkür, ohne
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daraus sollte deutlich werden: Ein als „Inbegriff aller Realitäten“ gedachter Gott wäre vor allem nicht als „höchstes Wesen“ zu denken, „das durch Verstand und Freiheit der Urheber aller Dinge“ ist (II 552); damit wäre erst recht die Möglichkeit menschlicher Freiheit negiert, was wiederum im Widerspruch zur Evidenz des Anspruchs des „moralischen Gesetzes“ steht; nicht zuletzt dies macht den Rekurs auf die Idee eines „Grundes aller Realitäten“ unumgänglich, der allein auch einen „für die Religion tauglichen Gottesbegriff“ ermöglichen soll (s. u. III., 3.1.). Kants später Rekurs auf den „Grund aller Realitäten“ – und auf Gott als das „Wesen“, welches diesen „Grund“ enthält: eine wohl ebenso „subtile Unterscheidung“! – macht aber auch deutlich, dass diese dem „dritten Stadium der Metaphysik“ zugehörige kantische „Analogie“-Konzeption sich auch einem Rückstieg in eine Voraus-Setzung verdankt, die lediglich den „unvordenklichen“ Grund unseres theoretischen und praktischen Vernunftgebrauchs indiziert und so den Verweis auf das „intelligible Substrat“ der „Gesetzgebung der Natur“ und der „Gesetzgebung der Freiheit“ in gebrochener Form aufnimmt und gleichermaßen radikalisiert. Das von Kant unermüdlich geltend gemachte (vielleicht ein wenig missverständlich formulierte) Anliegen, den „Begriff von Gott“ nicht als „zur Physik“, sondern als „zur Moral“ gehörig auszuweisen, impliziert nicht zuletzt die leitende Einsicht, dass eben nur im Ausgang von einer Dimension des „Unbedingten“ die Frage nach einem „unbedingten Sinn“ und dessen Ermöglichungsgrund gestellt werden kann – obgleich ein solcher „unbedingter“ Ausgang für die Gottesfrage, der rechten Begründungsordnung folgend, dann selbst wiederum die Frage nach dessen eigener „ratio essendi“ nach sich zieht. Vor dem Hintergrund dieser notwendigen „Affinität“ bezüglich dieses „Unbedingten“ soll sich zeigen: Nicht nur die kantische These, dass „Moral unausbleiblich zur Religion“ führt, darf in diesem Sinne verstanden werden; auch der gestufte („teleologische“) Zusammenhang der Stellung des Menschen als existierender „Endzweck der Schöpfung“ mit dessen „praktischem Endzweck“ und seiner Voraussetzung (dem „Endzweck der Schöpfung“) sowie der erst darauf begründete Rekurs auf den zureichenden „theoretischen Begriff von der Quelle“, woraus dieser „Endzweck der Schöpfung“ „entspringen“ kann (vgl. III 632), folgen dieser Begründungsfigur (s. dazu u. III., 1.). An die dergestalt aufzuweisende „Affinität“ von „Theologie und Moral“ (als den in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ausgebildeten „Beziehungspunkten zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“: II 709) ist nach Kant über die Vermittlung jener „Endzweck“-Bestimmungen der Aufweis des systematischen Ortes der Gottesfrage in dem „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ gebunden, der so erst im „dritten Stadium der Metaphysik“ geleistet werden soll.
irgend einen Zwang, der Welt ihr Dasein gegeben hat, und endlich als den Weltbeherrscher in der Moraltheologie. Denn er konnte aus freier Willkür zwar etwas hervorbringen, aber ohne sich weiter einen Zweck vorgesetzt zu haben; hier aber betrachten wir ihn als Gesetzgeber der Welt, in Beziehung auf die moralischen Gesetze“ (AA XXVIII, 1001). Es wird sich noch zeigen: In dieser „Stufung“ kommt auch das Anliegen Kants zum Ausdruck, „Geschöpflichkeit“ (im Sinne „bewussten Lebens“, das „geführt werden muss“) nicht nur im Sinne des „Bewirkt-Seins“, sondern seines „Verankert-Seins“ in der Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ zu begreifen.
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Indes, hier ist noch einmal an jene – zunächst vor allem auch gegen „spinozistische Irrwege“ gerichtete – kantische Unterscheidung zwischen „Grund“ und „Inbegriff aller Realitäten“ anzuknüpfen, die sich schon im Kontext seiner Bestimmung des „transzendentalen Ideals“ (II 520) findet. Genauer besehen zeigt sich nämlich der – indirekt ohnehin schon berührte – sehr bemerkenswerte Sachverhalt, dass in jener langen Anmerkung des späten Aufsatzes „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ nicht nur „Grund“ und „Inbegriff aller Realitäten“ einfachhin unterschieden werden. Vielmehr expliziert Kant – interessanterweise eben in dieser späten Auseinandersetzung mit zeitgenössischen „neuplatonisierenden“ Ansprüchen und offenbar über seine gegen Spinoza gerichteten Bedenken hinaus – das „ens realissimimum“ als „Grund aller Realitäten“ bemerkenswerterweise dahingehend, dass Gott nunmehr erst als dasjenige „Wesen“ bestimmt wird, das nicht einfachhin selbst „Grund aller Realitäten“ ist, sondern vielmehr „den Grund aller Realität“ enthält, denn, noch einmal: „… so sage ich: Gott ist das Wesen, welches den Grund alles dessen in der Welt enthält, wozu wir Menschen einen Verstand anzunehmen nötig haben (z. B. alles Zweckmäßigen in derselben)“ (III 390, Anm.).118 Erst als solcher ist er – gleichsam „jenseits des Seins“ – in „absoluter Transzendenz“ der „wahre Abgrund für die menschliche Vernunft“, der diese auf die „Gegen-Idee“ eines „Ungrundes“ führt.119 Es spricht vieles dafür, dass diese an 118 Auch hier bleibt es dabei, dass diese „merkwürdige Idee“ lediglich zur „Grenzbestimmung der menschlichen Vernunft“ dient (III 232); auch für diesen „transzendenz“-bedachten Hinweis, dass Gott „den Grund aller Realität enthält“, bleibt die leitende Einsicht Kants maßgebend, „daß wir uns der Eigenschaft der Vernunft [und aller „Realitäten“!] nicht bedienen, um Gott, sondern um die Welt vermittelst derselben so zu denken, als es notwendig ist, um den größtmöglichen Vernunftgebrauch in Ansehung dieser nach einem Prinzip zu haben“ (III 235). – Die Frage, ob jene Bestimmung Gottes als „Grund aller Realitäten“ nicht eine Anknüpfung an traditionelle Motive der „negativen Theologie“ erlaubt, ja sogar nahelegt – man denke hier nicht zuletzt an Ps.-Dionysius Areopagitas „De divinis nominibus“ und „De Deo abscondito“ des Cusaners – ist hier nicht näher zu verfolgen. 119 Dieser denkwürdige Bezug auf Gott als den, der „den Grund aller Realität enthält“, findet sich beim kritischen Kant m. W. nur in diesem späten Kontext seiner Kritik (verfehlter) „neuplatonisierender“ Ansprüche und weist in solcher Intention über eine bloße Anthropomorphismus-Kritik noch hinaus. – So zeigt sich in derlei Ausgang und in Beachtung von Kants kritischer Analogie-Konzeption vielmehr eine höchst bemerkenswerte Konvergenz mit grundlegenden (neu)platonischen Motiven, die sich mit Halfwassens erhellender Bezugnahme auf Plotin und Platon folgendermaßen vergegenwärtigen lässt: „Auch Grund und Ursprung ist das Absolute nicht an und für sich selbst, sondern nur für das entsprungene Andere und von diesem her: ‚Denn auch, wenn wir das Eine den Grund … nennen, bedeutet das nicht, etwas Ihm, sondern etwas uns Zukommendes aussagen: dass wir nämlich etwas von Jenem her haben, während Es selbst in sich bleibt‘ … Die Ursprünglichkeit des Absoluten ist nicht seine Beziehung zur entsprungenen Wirklichkeit, sondern deren Beziehung zum Absoluten, der keine Beziehung von Seiten des Absoluten selber entspricht. In diesem Sinne ist das Eine ‚Ursprung … und doch auf andere Weise wieder nicht Ursprung … denn man darf Jenen überhaupt nicht als zu irgendetwas in Beziehung stehend ansprechen‘ … Es ist das ‚Vorursprüngliche‘…, wie Plotin mit gewollt paradoxer Wendung sagt. In genau dem gleichen Sinne hatte schon Platon dem Einen selbst in seiner Absolutheit die Verhältnisbestimmung als Prinzip oder Ursprung abgesprochen …“ (Halfwassen 2007, 176). Auch auf Kants – schon erwähntes – Schwanken in der Bestimmung des „Verhältnisses“ von Mensch und Gott fällt von da her noch einmal ein besonderes Licht – und vor allem natürlich auf seine kritische Bestimmung des „Grundes aller Realitäten“ und der davon noch einmal unterschiedenen Bestimmung Gottes, der diesen „Grund aller Realitäten“ „enthält“. – Das kritische Anliegen dieser geltend gemachten Differenzierung, wonach „Gott“ hier nicht einfach bestimmt wird als „Grund aller Realität“, sondern als das „Wesen“, das den „Grund aller Realitäten“ enthält, wozu wir Menschen „Vernunft“ annehmen müssen, ist jedoch von Kant wohl am
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die Argumentation über das „transzendentale Ideal“ der „ersten Kritik“ (vgl. II 520) zwar anknüpfende und doch zugleich darüber noch einmal hinausführende Begründung der notwendigen Unterscheidung zwischen „Grund“ und „Inbegriff aller Realitäten“ besonderes sachliches Interesse verdient – wohl auch deshalb, weil diese späte Argumentation Kants gegenüber zeitgenössischen „neuplatonisierenden“ Ansprüchen gleichermaßen über jene einschlägigen Überlegungen der „Preisschrift“ noch hinausführt, in denen er das „metaphysische Gut“ ausdrücklich den „philosophischen Gottesbegriff“ nannte (vgl. III 641 ff ). Von diesen späten Überlegungen Kants her eröffnet sich ein Ausblick auf eine kantische Version der „Idee des Guten“ – „jenseits des Seins … und des Geistes und des Denkens“ gewissermaßen –, das in der sich ebenfalls in der „Preisschrift“ findenden Kennzeichnung als „Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (III 636)120 im Grunde freilich schon seine „symbolische“ Bestimmung „quoad nos“ gefunden hätte – und von dem erst recht Kants Mahnung gelten müsste: „Alles dieses aber bedeutet nicht das objektive Verhältnis eines wirklichen Gegenstandes zu andern Dingen, sondern der Idee zu Begriffen, und lässt uns wegen der Existenz eines Wesens von so ausnehmendem Vorzuge in völliger Unwissenheit“ (II 520). Beachtenswert ist, über die Unterscheidung zwischen „Inbegriff“ und „Grund aller Realitäten“ hinaus, eben diese in dem kantischen Rekurs auf das „Wesen, welches den Grund alles dessen in der Welt enthält …“ (III 390, Anm.) angezeigte immanente Differenz; dass davon im Kontext seiner kritischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen „neuplatonisierenden“ Tendenzen die deutlichsten in jenen Analogie-Bezügen der „Prolegomena“ zum Ausdruck gebracht, das sich auch im Sinne des voranstehenden neuplatonischen Motivs verstehen lässt. Demzufolge wird „dadurch doch die Vernunft nicht als Eigenschaft auf das Urwesen an sich selbst übertragen, sondern nur auf das Verhältnis desselben zur Sinnenwelt und also der Anthropomorphism gänzlich vermieden. Denn hier wird nur die Ursache der Vernunftform betrachtet, die in der Welt allenthalben angetroffen wird, und dem höchsten Wesen, so fern es den Grund dieser Vernunftform der Welt enthält, zwar Vernunft beigelegt, aber nur nach der Analogie, d. i. so fern dieser Ausdruck nur das Verhältniß anzeigt, was die uns unbekannte oberste Ursache zur Welt hat, um darin alles im höchsten Grade vernunftmäßig zu bestimmen“ (III 235). „Ursache der Vernunftform“ wäre damit jenes „Urwesen“ demzufolge auch nach Kant „nicht an und für sich selbst, sondern nur für das entsprungene Andere und von diesem her“. – In diesem Kontext wäre nicht zuletzt die Überlegung naheliegend, inwieweit Kants Rekurs auf „Gott“ als das „Wesen“, „welches den Grund alles dessen enthält [usw.] …“ (III 390 Anm.), auch eine Lesart erlaubt, die an jenen aus der neuplatonischen Tradition geläufigen Gedanken anknüpfen lässt: „Negation – die ‚via negationis sive negativa‘ – grenzt so den Grund aller Wirklichkeit als den in seinem An-sich unsagbaren aus von allem, was secundum quid sagbar ist, unterscheidet ihn als das ‚Nichts von Allem‘ von allem, was durch ihn ist“ (Beierwaltes 1998b, 136); gleichwohl bliebe auch diesbezüglich (einem grenzbegrifflichen Denken zufolge) eine unkritische „suppositio absoluta“ zu vermeiden. 120 Auch diese Bestimmung lässt einen direkten oder indirekten Einfluss Leibnizens vermuten, der seine „Monadologie“ mit der Forderung der „Ergebung“ beschließt – „sowohl als dem Baumeister und der bewirkenden Ursache unseres Seins, wie auch als unserem Herrn und Endzweck, der das ganze Ziel unseres Willens ausmachen muss und allein unser Glück bewirken kann“ (G. W. Leibniz, Monadologie Nr. 90). Dass Kant indes auch vielfältige Kritik an einschlägigen Motiven Leibnizens geäußert hat, ist freilich nicht zu übersehen und wird auch später in manchen Hinsichten noch zu thematisieren sein (s. u. III., 1.3.3.). Eine nicht nur terminologische Nähe zu dem in der neuplatonischen Tradition geläufigen Bild der „Quelle“ alles Guten und ihren „christlichen Übersetzungen“ ist jedenfalls nicht zu übersehen. S. dazu auch u. IV., 4.2.
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Rede ist, ist zweifellos besonders aufschlussreich. In gebotener Beachtung dieser späten Motive wird sich noch bestätigen: Gerade bezüglich dieses nicht nur vom bloßen „Inbegriff“ unterschiedenen „Grundes“, sondern des diesen „Grund aller Realitäten“ vielmehr selbst enthaltenden „Wesens“ gewinnt jene Differenz von „Gegenstand in der Idee“ und „Gegenstand schlechthin“ bzw. „suppositio relativa“ und „suppositio absoluta“ einen besonderen Stellenwert, durch die Kant die „kritische Transzendenz“ Gottes in grenzbegrifflicher Rücksicht gewahrt wissen wollte. Dass die derart zugespitzten Motivlagen bei Kant explizit im Kontext seiner späten Bezugnahmen auf Platon – und näherhin seiner kritischen Auseinandersetzung mit „vornehmen“ neuplatonisierenden Tonlagen – zutage treten, verdient im Ausblick auf neuplatonische Motive beim späteren Fichte und Schelling wohl besonderes Interesse, die sich allerdings auf einem ganz anderen philosophischen Niveau bewegen als die direkten Adressaten jener kantischen Kritik an einem „neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“. 2.1.3. Ein entscheidendes Ergebnis aus der „Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft“: Der in der unauflöslichen Einheit der „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft und praktischen Erweiterung derselben“ begründete „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ Aus den voranstehenden Ausführungen sollte deutlich geworden sein: Jene Unterscheidung zwischen „suppositio absoluta“ und „suppositio relativa“ ist gewissermaßen als ein Hauptergebnis jener „Metaphysik von der Metaphysik“ anzusehen; mag dies zunächst auch lediglich von „negativem Nutzen“ in der bestimmten Hinsicht sein, dass dieses Ergebnis selbst wiederum ein unverzichtbares, gleichwohl noch vorläufiges Stadium auf dem Weg zum eigentlichen „Endzweck der Metaphysik“ darstellt. In gewisser Weise gegenläufig zur kritischen Legitimation und Limitation dieses „Gegenstands in der Idee“ geschieht die kritische Etablierung des „Übersinnlichen in uns“ durch den Nachweis, „dass es reine praktische Vernunft“ gibt (IV 107), indem sie – ungeachtet des in spekulativer Hinsicht „für leer an Inhalt“ gehaltenen „Begriffs des Übersinnlichen“ – „jetzt für sich selbst, und ohne mit der spekulativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen Gegenstande …, nämlich der Freiheit, Realität verschafft“ (IV 110). Erst die aus solcher „Gegenläufigkeit“ resultierende Balance ermöglicht den die Existenz des „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ konstituierenden – d. h. der „praktischen Bestimmung des Menschen angemessenen“ – „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“. In dem Verbot, in eine „übersinnliche Welt“ „hineinschauen, [sich] hineinempfinden“ (IV 95) zu wollen, verschafft Vernunft zugleich der daraus vernehmbaren „Not-Wendigkeit“ Gehör und vermag allein so eine – behutsam „sich auf der Grenze“ haltende – „Aussicht“ zu eröffnen.121 121 Darin zeigt sich – auch in dem Verhältnis zu den philosophischen Schulen bzw. eben der „Lehre des Christentums“ (vgl. IV 258 f, Anm.) – Kants Zugehörigkeit zu jener Traditionslinie, für die bezüglich des „Verhältnis[ses] der Religion zur Philosophie“ die Feststellung von J. Habermas zutrifft, dass „der
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Erst über jenen notwendigen Umweg dieses „Widerstreits der Vernunft mit sich selbst“ vermag diese somit – gewissermaßen unverhoffterweise – Klarheit über sich selbst zu gewinnen, indem sie, so Kants bemerkenswerte Auskunft, „noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich die Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir jetzt schon sind“ (IV 235). Dass die mit jener „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft“ einhergehende „Erweiterung derselben“ (und das daraus resultierende „Verhältnis der Gleichheit“: IV 275) freilich nicht als eine „Selbstentgrenzung der praktischen Vernunft“ zu verstehen ist, hat eine „Kritik der praktischen Vernunft“ nachzuweisen,122 die diese (bezeichnenderweise in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ nur angedeuteten) Begründungsfiguren (II 32 f ) explizieren, welche den „Kanon der reinen Vernunft“ freilich sprengen mussten. Erst die „Kritik der praktischen Vernunft“ vermag es, eben auf dem Fundament der darin entwickelten neuen „Freiheitslehre“ (der „Idee der Freiheit“), einzulösen, dass die „reine Vernunft“ ihren „eigentümlichen Boden“ in den „praktischen Grundsätzen“ (II 670) hat – eine Auskunft Kants, die sich bemerkenswerterweise jedoch schon im „Kanon der reinen Vernunft“ findet und ihn – nicht weniger erstaunlich – dazu veranlasst, diesen auf den „richtigen Gebrauch der reinen Vernunft“ abzielenden „Kanon“ als solchen auszuweisen, der „nicht den spekulativen, sondern den praktischen Vernunfgebrauch“ betrifft (II 671) und auf die „im Praktischen“ liegende „Endabsicht“ der Vernunft führt (II 37). Erneut erweist sich im Ausgang von der „Freiheitslehre“ der „zweiten Kritik“ das Verhältnis zwischen dem „Kanon der reinen Vernunft“ und (den beiden Teilen) der „Kritik der praktischen Vernunft“ als klärungsbedürftig. Dabei wird sich auch zeigen: Unter den Vorzeichen dieser neuen „Freiheitslehre“ kann auch die von Kant im „Kanon der reinen Vernunft“ verortete Thematik „Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ erst im zweiten Teil der „Kritik der praktischen Vernunft“ ihren systematischen Ort finden; dies wird nochmals bestätigen, weshalb die „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ mit den darin behandelten Themen auch nicht als bloßer (gar sachfremder) „Anhang“ innerhalb einer so zu nennenden „Kritik der praktischen Vernunft“ angesehen werden darf, wenn nicht die Intention einer umfassenden Vernunftkritik preisgegeben werden soll. Dass diese für die Begründung des entscheidenden „dritten Stadiums der Metaphysik“ (mit der darin sich endgültig manifestierenden „teleologia rationis humanae“) grundlegende Gedankenfigur der „Einschränkung der theoretischen und Erweiterung der
existentielle Sinn der Befreiung der individuellen Seele durch das Heilsversprechen des Erlösergottes … eben nicht an die kontemplative Erhebung und die intuitive Verschmelzung des endlichen Geistes mit dem Absoluten angeglichen werden“ darf (Habermas 2001a, 197). Es wird sich noch erweisen, dass Kant hingegen zu der „in der deutschen Philosophie bis in die Gegenwart hinein“ erkennbaren „ästhetischplatonische(n) Linie“ (ebd.) durchaus auch in Distanz wahrzunehmen ist. 122 Darauf zielt wohl auch Zöllers Hinweis: „Kants praktischer Noumenalismus bleibt anthropomorph und analogisch. Damit aber korrespondiert der Selbstbegrenzung der Vernunft im Theoretischen keine Selbstentgrenzung im Praktischen, sondern deren praktisch mögliche, weil unbedingte gebotene selbstbestimmte Begrenzung auf vernünftige Handlungsprinzipien. Auch in praktischer Hinsicht zeigt sich Meistertum in der Begrenzung – in der Selbstbegrenzung“ (Zöller 2011, 27).
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praktischen Vernunft“ sich einer kritischen Reminiszenz und „Aneignung“ bzw. Transformation platonischer Motive verdankt, die auch im Hintergrund der kantischen Differenzierung der „Idee des Übersinnlichen“ steht, erweist sich im Kontext dieses kantischen Rekurses auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ überdies wohl als besonders aufschlussreich: „Spekulative Einschränkung der reinen Vernunft und praktische Erweiterung derselben bringen dieselbe allererst in dasjenige Verhältnis der Gleichheit, worin Vernunft überhaupt zweckmäßig gebraucht werden kann, und dieses Beispiel beweiset besser, als sonst eines, dass der Weg zur Weisheit, wenn er gesichert und nicht ungangbar oder irreleitend werden soll, bei uns Menschen unvermeidlich durch die Wissenschaft durchgehen müsse, wovon man aber, dass diese zu jenem Ziele führe, nur nach Vollendung derselben überzeugt werden kann“ (IV 275).123 Auch hier bleibt zu beachten: Hat Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ der „spekulativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen abgesprochen“ und dem eine Aussicht auf „Data“ „in ihrer praktischen Erkenntnis“ gegenübergestellt (II 28), die eine „praktische Erweiterung der reinen Vernunft“ (II 33) ermöglichen soll, so verknüpfte schon die kurz darauf erschienene „Kritik der praktischen Vernunft“ diese zunächst bloß nebeneinander gestellte „Einschränkung“ und „Erweiterung“ im Sinne eines „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“ und eröffnete dieserart eine systematisch höchst bedeutsame teleologische Vernunftperspektive, die sodann erst ihre eigentümliche Entfaltung finden sollte. Dieses erst aus solcher Verbindung von „spekulativer Einschränkung und praktischer Erweiterung der reinen Vernunft“ gewonnene Gleichgewicht hat Kant, über jene kritische Unterscheidung von „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ hinaus, sonach als einen besonders bedeutsamen Ertrag aus der „Geschichte der reinen Vernunft“ zur Geltung gebracht: Darin verbindet sich die metaphysik-kritische Warnung, angesichts der nicht „zu dämpfenden Begierde“, das „Übersinnliche“ zu schauen, nicht zu erblinden, mit der Ermahnung zu besonderer Hellhörigkeit für die „Stimme der Pflicht“; nur so vermag die derart „ins Gleichgewicht“ gebrachte menschliche Vernunft sich dauerhaft darin zu bewahren und den dadurch konstituierten „Existenz“-Vollzug zu nötigen, sich im Ganzen einer moralischen Lebensgeschichte an Vernunftmaßstäben zu orientieren. Jedenfalls impliziert Kants grundsätzliche – von Mendelssohns „Phädon“ 123 Wie schon angemerkt: Im „Kanon der Kritik der reinen Vernunft“ klingen diese Themen an – und sprengen zugleich dessen Rahmen. – Jener Hinweis auf das „Verhältnis der Gleichheit“ und den dadurch erst ermöglichten „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ setzt wohl noch einen stärkeren Akzent, als Kant dies in seinem bemerkenswerten Brief an Jacobi (v. 30. 8. 1789: AA XI, 76) geltend macht: „Der die Klippen zeigt, hat sie darum doch nicht hingestellt, u. ob er gleich gar die Unmöglichkeit behauptet, zwischen denselben mit vollen Segeln (des Dogmatismus) durchzukommen, so hat er darum doch nicht alle Möglichkeit einer glücklichen Durchfahrt abgeleugnet. Ich finde nicht, da(ss) Sie hiezu den Kompass der Vernunft unnötig, oder gar irre leitend zu sein, urteilen. Etwas, was über die Spekulation hinzukommt, aber doch nur in ihr, der Vernunft, selbst liegt u. was wir zwar (mit dem Namen der Freiheit […]) zu benennen, aber nicht zu begreifen wissen, ist das notwendige Ergänzungsstück derselben.“ – Aufschlussreich bezüglich jenes „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“ ist freilich, dass Kant die Freiheit hier als – „in der Vernunft selbst liegendes“ – „Ergänzungsstück“ zur „Spekulation“ charakterisierte – auch in Ansehung der von Kant anvisierten Einheit des „Vernunftvermögens“; vgl. dazu Hutter 2004.
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inspirierte – „Verteidigung“ des recht verstandenen „Transzendenz“-Motivs der platonische Idee (II 321 ff )124 das dem „Primat des Praktischen“125 zugrunde liegende Motiv, dass dieses „Übersinnliche“ in dem an „vernünftige Weltwesen“ ergehenden un-erhörten Anspruch auch keinerlei Alibi dafür gewährt, „sich gegen jene himmlische Stimme taub zu machen“ (IV 147).126 Allein jenes unauflösliche Ineinander von „Einschränkung“ und „Erweiterung“ des Vernunftgebrauchs (in der darin realisierten „Einheit der Vernunft“) fundiert demzufolge diesen „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“, der in Kants Lehre vom „Primat der praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ ausgewiesen wird. Die Begründung dieses „Primats“ (s. u. I., 2.2.1.) setzt die Differenzierung der unterschiedlichen Ansprüche des Bedürfnisses der Vernunft „in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauch“ schon voraus, um daraus sodann erst diese „Verbindung“ von „praktischer“ und „spekulativer Vernunft“ in der rechten Weise leisten zu können. Wohlgemerkt: Erst auf dieser Basis ist der – zunächst vorausgesetzte – Nachweis dafür zu erbringen, dass und wie allein aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ Religion (II 338, Anm.) entsteht; und dies erlaubt wiederum erst die Ausbildung eines „zur Religion tauglichen Gottesbegriffs“. Ein mit der Begründung des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ verbundenes besonderes Anliegen Kants stellte zunächst tatsächlich auf den Nachweis ab, dass, sofern „reine Vernunft wirklich praktisch ist“, über die im Sinne einer kritischen Grenzziehung verstandene „Einschränkung der Vernunft“ hinaus eine Grenz124 Kants Kenntnis der Philosophie Platons – vor allem seine Bezugnahme auf die „Ideen“-Thematik – verdankt sich bekanntlich weithin (aber nicht nur) der Philosophiegeschichte Bruckers; vgl. zu Kants „Platonrezeption“ Santozki (2006, bes. 129 ff ), die Kants „Platonbild … als massiv stoisch und zeitgenössisch geprägt“ ausweist (148). Vgl. zum Verhältnis „Kant und Plato“ den gleichnamigen Aufsatz von H. Heimsoeth (1966). Dass nach Platon die „Schönheit“ das am „meisten Hervorleuchtende“ ist (Platon, Phaidros 250d), weckt freilich erneut Assoziationen zu Kants berühmtem Hinweis, wonach auch der Erfahrung bzw. der Leuchtkraft die Befähigung zur Vernehmbarkeit des „moralischen Anspruchs“ als „moralische Anlage“ vorausgesetzt ist. Es wäre eine sehr reizvolle Aufgabe, Platons „Idee des Guten“ in einer differenzierten Weise mit dem kantischen Motiv der „Selbsterhaltung der Vernunft“ zu verbinden. Dabei verdient freilich der Zusammenhang besonderes Interesse, dass die „Idee des Guten“ „jenseits des Seins“, als der „höchste Glanz des Seins“ (Politeia VII, 518c), zufolge jener „Brechung“ in der „Reflexe“ nur als das (im kantischen Sinne) „absolut Gute“ erkennbar ist und eben allein im Ausgang von diesem „Übersinnlichen in uns“ das „Übersinnliche außer uns“ „symbolisch darstellbar“ wird. – Zu „Vernunftidee und Sittlichkeit bei Kant und Platon“ vgl. die grundlegenden Ausführungen von K. Düsing 2010c. 125 Es wird sich erweisen: Der in diesem „Primat der praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249) eröffnete „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ zeigt sich nicht zuletzt darin, dass allein dies eine „Theologisierung der Moral“ zu verhindern vermag, d. h. die „innere notwendige Gesetzgebung“ (V 589) gewährleistet. Vielmehr indiziert dieser selbst erst in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ausgebildete (im „dritten Stadium“ auch reflexiv gewordene und die „Selbsterhaltung der Vernunft“ begründende) „Primat“ nichts anderes als das „apodiktische praktische Gesetz“ als unumgängliches Fundament der Möglichkeit bzw. Wirklichkeit des „ganzen Objekts der reinen praktischen Vernunft“, das nicht anders als unter der Voraussetzung der vermittelten „Vernunftpostulate“ gedacht werden kann. 126 Insofern steht das „moralische Subjekt“ auch nach Kant in der Tat in einem ursprünglichen „Gehorsam, der allem Hören des Gebotes vorausgeht. Als Möglichkeit, auf anachronistische Weise den Befehl gerade im Gehorsam zu finden und den Befehl von sich selbst her zu erhalten – ist diese Umkehrung der Heteronomie in Autonomie genau die Weise, in der das Unendliche sich vollzieht, ‚passiert‘ – und die durch die Metapher der Einschreibung des Gesetzes ins Gewissen auf bemerkenswerte Art zum Ausdruck gebracht wird“ (Levinas 1992, 325).
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Überschreitung „durch die Tat“ (IV 107) stets schon vollzogen ist. Sofern reine praktische Vernunft sich eben derart als wirklich erweist, d. h. „Freiheit im positiven Verstande“ als das „Übersinnliche in uns“ sich darin „praktisch realisiert“, sah Kant damit den Nachweis des für die Weltstellung des Menschen konstitutiven „Primats der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249 ff ) erbracht. Es ist also die im „Primat der praktischen Vernunft“ gründende „praktische Erweiterung der Vernunft“ selbst, die jene bloß „spekulative Einschränkung der Vernunft“ nunmehr auch als eine Grenzziehung in dieser bestimmten Hinsicht ausweisen kann. Die in der notwendigen „Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena“ (II 267 ff ) der „ersten Kritik“ begründete grenzbegriffliche Bestimmung des „Noumenon in negativer Bedeutung“ fungiert dabei, gleichsam im Sinne einer unentbehrlichen, kritischen Platzhalterfunktion, zunächst als „negative Erweiterung“, auch wenn sie das derart zwar grenzbegrifflich „Eingeräumte“ im Rahmen des „theoretischen Vernunftgebrauchs“ nicht selbst auszufüllen vermag – obgleich „in allen Grenzen … etwas Positives“ ist (III 229). Von solchem – unbegreiflichen – praktischen „Wirklichkeits-Überschuss“ her wird auch die Bestimmung der „Grenze“ als einer solchen – d. i. in Abhebung von der bloßen „Schranke“ – erst möglich,127 zumal derlei „Begrenzung“ doch erst im „Überschreiten“ selbst geschieht und solcherart für das „Unbedingt-Praktische“ „Platz gemacht“ wird. Der von Kant zustimmend zitierte Satz: „In dem Wirklichen allein findet Unbegreiflichkeit statt“ (III 223) bezieht sich ihm zufolge nicht zuletzt auf die Freiheit selbst.128 Hier sei auch noch einmal daran erinnert, dass die das „kritische Geschäft“ Kants beschließende Einsicht in jene so bedeutsame Differenz zwischen „suppositio absoluta“ und „suppositio relativa“ doch nur die eine Seite der Vernunftkritik darstellt und folglich, ungeachtet der darin erreichten „Vollendung der Kultur der menschlichen Vernunft“, als Ergebnis jener „Metaphysik von der Metaphysik“ von der Begründung des eigentlichen „Endzwecks der Metaphysik“ noch unterschieden bleibt.129 Komplementär dazu bliebe 127 Kant hat diese motivlichen Zusammenhänge besonders eindringlich und konzentriert in den Schlusspartien seiner „Kritische(n) Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft“ (IV 230 ff ) vor Augen geführt. 128 Dies zeigt besonders deutlich folgender Passus aus der „Religionsschrift“: „Das allervernünftigste Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objekten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen, hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft, anwenden: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich als selbst, und zwar höchste, Triebfeder ankündigt, zu ahnen. Wäre dieses [moralische] Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es, als ein solches, durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht“ (IV 673, Anm.). Hier ist freilich schon die in der „Kritik der praktischen Vernunft“ maßgebend gewordene „Freiheitslehre“ bestimmend bzw. vorausgesetzt. Noch einmal sei angemerkt, dass in diesem Hinweis auf das Vermögen der Vernunft, „die Willkür unbedingt … zu bestimmen, und also für sich selbst praktisch zu sein“ (ebd.), eine eigentümliche „Selbstbezüglichkeit“ zum Ausdruck kommt. 129 H. Barths Hinweis ist hier richtungsweisend: „Denn die Vernunftkritik will ja nicht mehr sein als das methodische Instrument, das zu den uralten Problemen einen kritisch einwandfreien Zugang eröffnet. Indem aber der Vollzug der Vernunfterkenntnis mit allen ihn begleitenden Problemen ein unerhörtes
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sodann eben noch der in Kants erster Kritik lediglich „ex negativo“ angezeigte Nachweis zu erbringen, dass das „Ideal der Vernunft“ lediglich am entferntesten von der Realität zu sein scheint – vorrangiges Thema des ersten Teils der „Kritik der praktischen Vernunft“ und der darin nunmehr in den Vordergrund tretenden „Freiheitslehre“. Allein dadurch, dass jene „Einschränkung des spekulativen Vernunftgebrauchs“ (im Sinne der „suppositio relativa“) durch den Aufweis der praktischen Wirklichkeit des „Ideals“ ergänzt wird, d. h. jener „spekulativen Einschränkung der Vernunft“ eine „praktische Erweiterung“ in „ein und derselben Vernunft“ korrespondiert, ist über die Vollendung des kritischen Geschäfts hinaus ein beständiger „praktisch-dogmatischer Überschritt zum Übersinnlichen“130 – d. i. zwar aus „sicheren Prinzipien apriori“, obgleich nicht „strenge beweisend“ (II 36) – eröffnet. In solcher Hinsicht wird sich die „Geschichte der reinen Vernunft“ ebenso als der Entwicklungsort der Vernunftideen erweisen, die deren Legitimität und Unverzichtbarkeit dadurch dokumentiert, dass sie diese von dem unvermeidliche Illusionen erzeugenden Missbrauch derselben unterscheidbar macht; ebendies vermag sie allein in dem Läuterungsprozess der „Selbsterkenntnis der Vernunft“ zu leisten, die ebenfalls „Zeit“- und „Gedankenordnung“ in denkwürdiger Weise vereint. Auch darin verbleibt sie freilich diesseits von skeptizistischen Auflösungs- und dogmatistischen Selbstbehauptungsansprüchen und deren „Widerstreit“. Für eine solche „Selbsterkenntnis der Vernunft“ bleibt überdies beachtenswert, dass sich das Programm einer „Kritik der praktischen Vernunft“ keineswegs in solchem Aufweis einer „praktischen Erweiterung des Vernunftgebrauchs“ erschöpft, sondern gleichermaßen auf eine notwendige – eben vernunftkritische – Begrenzung praktischer Vernunftansprüche abzielt, die Kant folgerichtig im zweiten Teil der „Kritik der praktischen Vernunft“ vorgestellt hat. In systematischer Hinsicht bedeutsam, nicht zuletzt im Blick auf den unauflöslichen Zusammenhang der drei kantischen Leitfragen (und die Differenzierungen innerhalb des „dritten Stadiums“ der Metaphysik selbst berücksichtigend), ist vor allem dies – Fundament der „Postulatenlehre“ der „zweiten Kritik“! –: Kant unternahm in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ ausdrücklich den Nachweis, dass der systematische Ort der „Religion“ eigentlich derjenige ist, der die Verbindung von „theoretischer“ und „praktischer Vernunft“ (in ihrem unterschiedlichen „Richtungssinn“ des „Unbedingten“) und damit die „Einheit der Vernunft“ im Blick auf die eigentümliche Weltstellung des
philosophisches Interesse gewinnt, erschließen sich mit Kant Möglichkeiten der Einsicht in das Problem der Erkenntnis und des erkennenden Subjektes, die auf die Bewegtheit des ‚existere‘ hinüberweisen. Ist uns doch die Aktualisierung der Vernunft im Erkennen als ein Akt der Existenz bewusst geworden. – Es liegt aber im Wesen der Sache, dass die Lehre von der ‚praktischen Vernunft‘, in der wir eine Stufe der Existenzphilosophie zu erkennen glauben, als ein wesentliches Ergebnis des Werkes der Vernunftkritik herausspringt“ (H. Barth 1965, 67). 130 Noch in der späten „Preisschrift“ machte Kant bezüglich des „Begriffs des Übersinnlichen“ geltend, dass die Frage, „ob er objektive Realität habe, oder bloße Erdichtung sei, … auf dem theoretischen Wege“ prinzipiell unentscheidbar sei (III 659). Die in der „Geschichte der Metaphysik“ darauf bezogene Unterscheidung zwischen dem „Gegenstand in der Idee“ und dem „Gegenstand schlechthin“ und die daraus erst resultierende Konzeption der „Realität der Idee von Gott“ setzt freilich die „praktische“ Verankerung im Ausgang von der „Idee der Freiheit“ voraus.
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„endlichen Vernunftwesens“ als „Copula von Welt und Gott“131 gewährleisten soll. Anknüpfend an den Hinweis der „ersten Kritik“, dass erst aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ Religion resultiere (II 338, Anm.), stellt die aufgezeigte Verbindung der „spekulative(n) Einschränkung der reinen Vernunft und praktische(n) Erweiterung derselben“ (sowie der darin begründete „zweckmäßige Gebrauch“) (IV 275) zunächst den notwendigen ersten Schritt dar,132 der dem erst daraufhin zu vollziehendenden „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ noch vorausliegt. Während die systematische Perspektive einer „Einheit der Vernunft“ in Kants „dritter Kritik“ sodann bekanntlich noch eine weiterführende (auch „ethikotheologische“) Vertiefung erfährt, ist diese Thematik einer differenzierten „Einheit der Vernunft“ von Kant schon in seiner Auseinandersetzung mit Jacobi insofern vorbereitet, als dieser an einer differenzierten Ausmessung des Orientierungshorizontes eines „endlichen Vernunftwesens“ gelegen ist, und dabei jenes zweifache „Bedürfnis der Vernunft“ (III 274) unterschieden wird, von dem im nächsten Kapitel sogleich genauer die Rede sein wird.
2.2. Die das „Übersinnliche außer uns ahnende Vernunft“ in ihrem „theoretischen“ Gebrauch und die den Anspruch des moralischen Gesetzes vernehmende Vernunft in ihrem „praktischen Gebrauch“ Jener für Kants Gesamtsystematik insgesamt so bedeutende Nachweis, dass und wie die menschliche Vernunft erst aus der unauflöslichen Komplementarität zwischen „spekulative(r) Einschränkung“ und „praktische(r) Erweiterung“ der reinen Vernunft „in dasjenige Verhältnis der Gleichheit“ kommt, „worin Vernunft überhaupt zweckmäßig gebraucht werden kann“ (IV 275), klingt schon in dem „Kanon der reinen Vernunft“ an: „Indessen muss es doch irgendwo einen Quell von positiven Erkenntnissen geben, wel131 Wiederholt hat der späte Kant den Menschen (eben als „vernünftiges Weltwesen“) als die systembildend verbindende „Mitte“ zwischen Gott und Welt (eben als ‚copula‘, ‚medius terminus‘) charakterisiert. Auch wenn sich diese späte Kennzeichnung des Menschen zwar in einem anderen systematischen Kontext findet (vgl. im „opus postumum“: AA XXI, 37; 27), so scheint es in der Sache doch nicht unberechtigt, diese Wendung auch für diesen religionsphilosophischen Kontext fruchtbar zu machen. Dass in dieser Stellung als „copula“ auch der Rang des Menschen als „conscientia mundi“ fundiert ist, klingt der Sache nach ja schon in Kants berühmtem Beschluss zur „Kritik der praktischen Vernunft“ an, wonach das „unsichtbare Selbst“ sich in „allgemeiner und notwendiger Verknüpfung“ mit der „wahren Unendlichkeit“ erkennt (IV 300); davon bleibt allerdings jener „wahre (transzendentale) Begriff der Unendlichkeit“ zu unterscheiden, der darin besteht, „dass die sukzessive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet sein kann“ (II 418), also ein „quantitativ“ bestimmtes, potenziell Unendliches indiziert. – Es wird sich noch zeigen, dass die Charakterisierung des Menschen als existierende „copula zwischen Welt und Gott“ im Kontext einer fundamentalphilosophischen Verankerung der Postulatenlehre sowie vor dem Hintergrund des dargelegten „Existenz-Verständnisses“ besonderes Gewicht gewinnt. Zur Bestimmung des Menschen als „Mittelbegriff zwischen Gott und Welt“ (AA XXI, 38) vgl. auch Wimmer 1992 u. Gerhardt 2002, 342 f. 132 Dass aus der „Einschränkung des spekulativen Gebrauchs der Vernunft“ und der gleichzeitigen „praktischen Erweiterung desselben“ erst der spezifische Charakter der Hoffnungsfrage resultiert, kennzeichnet die Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ und berührt entscheidende Aspekte der Idee einer „authentischen Theodizee“ (s. u. VI. Teil).
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che ins Gebiete der reinen Vernunft gehören, und die vielleicht nur durch Missverstand zu Irrtümern Anlass geben, in der Tat aber das Ziel der Beeiferung der Vernunft ausmachen. Denn welcher Ursache sollte sonst wohl die nicht zu dämpfende Begierde, durchaus über die Grenze der Erfahrung hinaus irgendwo festen Fuß zu fassen, zuzuschreiben sein? Sie ahndet Gegenstände, die ein großes Interesse für sie bei sich führen. Sie tritt den Weg der bloßen Spekulation an, um sich ihnen zu nähern; aber diese fliehen vor sie. Vermutlich wird auf dem einzigen Wege, der ihr noch übrig ist, nämlich dem des praktischen Gebrauchs, besseres Glück für sie zu hoffen sein“ (II 670 f ). Diese so eindringlichen Sätze über die disziplinierende „Grenzbestimmung“ erweisen sich in religionsphilosophischer Perspektive als höchst bedeutsam – und folgenreich – und werfen so auch auf jene Idee einer „teleologia rationis humanae“ ein besonderes Licht. Schon der diesen „Kanon der reinen Vernunft“ eröffnende Hinweis, dass die menschliche Vernunft gleichermaßen über die Erfahrung „hinaus getrieben wird“, jedoch ohne kritische Grenzziehung „in ihrem reinen Gebrauch nichts ausrichtet“ (II 670), stellt indes ebenso darauf ab, dass die damit verbundene Demütigung ihrer unerlaubten Ansprüche derart auch der besonderen Zumutung praktischer Vernunftansprüche erst Gehör und Ansehen verschafft und so auf ein „Müssen“ verweist, das sich in jenem „Hinausgetriebensein“ über die Erfahrung eben noch nicht erschöpft, gleichwohl zuletzt nur „postulatorisch“ eingelöst werden kann. Schon hier sei im Verweis auf spätere kantische Problementwicklungen, darauf aufmerksam gemacht: Mit jenem emphatischen Hinweis auf einen „Quell von positiven Erkenntnissen“ bzw. auf den „einzigen Weg“, welcher der Vernunft „noch übrig ist“ – der schon das berühmte Lehrstück vom „Faktum der Vernunft“ ankündigt, das freilich erst auf dem Boden der neuen „Freiheitslehre“ eingelöst werden kann –, knüpfte Kant nicht nur an den bereits in dem Abschnitt über das „Ideal der Vernunft“ beiläufig ausgesprochenen Sachverhalt an, dass und weshalb das „Ideal der Vernunft“ „noch weiter … von der objektiven Realität entfernt zu sein“ lediglich scheint. Zwar nimmt dieser Rekurs auf den „Quell von positiven Erkenntnissen“ in nuce seine Begründung für das so bedeutsame Lehrstück „Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249 ff ) vorweg, obgleich dieses nunmehr das neue Fundament jener umgestalteten „Freiheitslehre“ voraussetzt; vor solchem Hintergrund darf es jedoch auch als systematische Weiterführung und Vertiefung jenes Motivs eines gesuchten „Quells positiver Erkenntnisse“ gelesen werden. Aus den angeführten Sätzen Kants wird wohl in besonders eindringlicher Weise die Leidenschaftlichkeit seines philosophischen Fragens spürbar, bringen sie doch auch unüberhörbar die kritische Intention zum Ausdruck, jenen zwar unumgänglichen Ausgriff der spekulativen Vernunft auf die „geahnten Gegenstände“ gleichsam zu unterbrechen, ohne die Unbedingtheit dieses Vernunftanspruchs derart preiszugeben bzw. sie durch die Zurücknahme auf die bloß regulative Funktion der Vernunftideen zurückzustufen. Während für die Gesetzgebung der theoretischen Vernunft auf dem Gebiet des „Naturbegriffs“ in dem reflexiven Aufstieg vom „als gegeben Bedingten“ zu dem der theoretischen Reflexion aufgegebenen Unbedingten gelten muss: „So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen, und endigt mit Ideen“ (II 604), wird hingegen auf dem Gebiet der Gesetzgebung der praktischen Vernunft eine bemerkenswerte Inversion dieser
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Begründungsordnung maßgebend133 – eben im Ausgang von dem „von der objektiven Realität“ am weitesten entfernt „scheinenden Ideal“ (II 512 f ), das, als „perfectio noumenon“, über den Gedanken der von aller „Materie des Willens“ abstrahierenden „Form der Allgemeinheit“ (IV 63) als der Tauglichkeit der Maximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung (die zugleich als alleinige „Triebfeder“ fungiert) vermittelt wird.134 Daraus wird aber auch schon ersichtlich: Allein das in jenem praktischen Sollensanspruch praktisch wahrgenommene „Unbedingte“ des moralischen Gesetzes, worin die Vernunft dem Menschen „den Spiegel vorhält“ (VI 324) und diesen erst als „eigentliches Selbst“ er-innernd vor sich bringt, vermag als „Faktum der Vernunft“ (in dessen unbedingtem „Du sollst“)135 jene schon „auf dem Weg der Spekulation“ laut gewordene „nicht zu dämpfende Begierde“ bzw. deren überschwängliche Ausgriffe auf „Totalität“ einzudämmen und die auf „die unbedingte synthetische Einheit aller Bedingungen überhaupt“ hin ausgezogenen Linien der theoretisch-regulativen Vernunfttätigkeit zu unterbrechen. Demgegenüber erhält jenes „unbedingt Praktische“ erst in dieser der „Idee unserer praktischen Vernunft“ (IV 150) ebenfalls innewohnenden negativitäts- und gerechtigkeitssensiblen Erfahrung des „Etwas fehlt“ seine konkrete Gestalt, die sich nunmehr zu der „praktischen Gewissheit“ des „noch Versagten“ verschärft. In solchem Anspruch seines „eigentlichen Selbst“ (also seiner „moralischen Persönlichkeit“) innegeworden, sieht sich der Mensch in dem durch diese spannungsvolle Einheit von „Einschränkung“ und 133 Für die Beantwortung der zentralen kantischen Frage „Was ist der Mensch?“ und für die eben erst ins Gleichgewicht zu bringende menschliche Vernunft als entscheidend erweist sich freilich der Sachverhalt, dass, während der „theoretische Vernunftgebrauch“ „mit Ideen endigt“, der „praktische Vernunftgebrauch“ mit der von der Realität am weitesten entfernt scheinenden „Idee“ (derjenigen der im „moralischen Gesetz“ offenbar werdenden „Freiheit“) anfängt: Es ist dies das Fundament bzw. eigentlicher Rechtfertigungsgrund des „Primats der praktischen Vernunft“. Zu Recht bemerkt deshalb Hinske: „Im rein theoretischen Nachdenken bildet das Unbedingte den Abschluss des Reflexionsprozesses. Deshalb kann man dem lästigen Problem hier zur Not eben dadurch aus dem Weg gehen, dass man jenen Prozess an irgend einer Stelle willkürlich abbricht … In der Handlungssituation dagegen tritt das Unbedingte dem Menschen unmittelbar vor Augen. Es steht nicht am Ende, sondern am Anfang der Reflexion“ (Hinske 1993, 280). Gleichwohl resultiert erst aus dem rechten Zusammenschluss dieses „Endigens“ und „Anfangens“ die spezifisch kantische religionsphilosophische Begründungsfigur (und auch der darauf bezogene „symbolische Anthropomorphismus“), worin die Bestimmung der Idee von dem „Fundierungs“- hin zu einem „Abschluss“-Gedanken selbst noch einmal umschlägt in eine Fundierung des im „moralischen Gesetz“ offenbar werdenden „archimedischen Punktes“ der Freiheit, die sich eben derart als unverfügbar – gesetzt als vorausgesetzt – in ihrer eigenen „Unbegreiflichkeit“ begreift. 134 Mit Recht schärft Geismann (zugleich gegen alle Formalismus-Einwände gerichtet) ein: „Kant hat deshalb die mit jedem Wollen notwendig gegebene Materie, also mögliche Zwecke, nicht auch als Objekt eines solchen Willens ausgeschlossen. Der Ausschluss als Bestimmungsgrund bedeutet daher nur: Was auch immer ein moralischer Wille will, so will er es auf Grund gesetzestauglicher Maximen unter Einschluss des Sittengesetzes als Triebfeder. Der moralische Wert eines verfolgten Zwecks hängt vollständig von dem der ihm zugrunde liegenden Maxime ab, – und deren moralischer Wert wiederum von dem sie zuoberst bestimmenden Grund“ (Geismann 2009, 20). 135 Dieses „Faktum der Vernunft“ ist durch den eigentümlichen „Widerfahrnis“-Charakter ausgezeichnet, dass die darin als wahr genommene gegebene „Selbstaufgegebenheit“ dennoch eine solche ist, die nur durch bzw. im Tun der (reinen praktischen) Vernunft selbst „tathandelnd“ „realisiert“ wird, worin diese „also für sich selbst praktisch“ ist. Das Eigentümliche dieses „Faktums“ besteht eben in dem erwähnten Sachverhalt, dass in ihm solches sich „aufdringende“ „Faktum“ gleichwohl mit dem „Factum“ des „Hervorbringens“ verbunden ist.
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„Erweiterung“ konstituierten Existenz-Vollzug unausweichlich mit der Frage konfrontiert, was es denn bedeutet, aus unabweislichen praktischen Vernunftansprüchen als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ sein Leben zu führen. Als Kehrseite seiner Ablehnung der dem Menschen als „vernünftigem, endlichem Wesen“ verwehrten „intellektuellen Anschauung“ wurde von Kant bekanntlich der Nachweis geltend gemacht, dass das „Übersinnliche in uns“ als das „Ideal in uns“ wirklich ist und so den für den Menschen als „Vernunftwesen“ unabweislichen Gehorsam gegenüber der Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen in uns“ begründet. Erst solches „Vernehmen“ vermag also für den Anspruch des Un-Erhörten „Platz zu verschaffen“, das sich in der „allgemein gesetzgebende(n) Vernunft“ kundtut. So allein erfasst jenes „Übersinnliche in uns“ als dasjenige, das die Tugend „einmal in ihrer wahren [eigentlichen] Gestalt erblickt hat“ (IV 58),136 wie dieser eigentümlich „platonisierende“ Ausdruck schon in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ in so aufschlussreicher Weise besagt, die wohl ebenso als eine indirekte Kritik an der von Platon eingemahnten Pflicht zu lesen ist, „den Lichtstrahl ihrer Seele nach oben zu richten und unmittelbar in den Urquell alles Lichtes zu schauen“.137 136 Jener – auch hier wieder anklingende – kantische Rekurs auf die „Reflexe“ in seiner Version des „Sonnengleichnisses“ bezieht sich offensichtlich primär auf Platons Phaidon (99d ff ): „Viele nämlich verderben sich die Augen, wenn sie nicht im See oder sonst worin nur das Bild der Sonne anschauen“ – was freilich mit der sokratischen Auskunft zu verbinden bleibt, wonach dieses Auge erst im Auge des Anderen sich selbst wahrzunehmen vermag; dies ist auch im Blick auf Kants späten Platon-Bezug (III 389 f ) erhellend. Kants Verweis auf diese „Reflexe“ ließe sich so – als seine Version des „Aufstiegs des ‚inneren Menschen‘ zu Gott“ – in einer sachlichen Hinsicht geradezu als eine kritizistische „Übersetzung“ bzw. Umgestaltung des „Einen in uns“ des Proklos buchstabieren: „Wir müssen das Eine in uns erwecken, damit wir unserem Rang gemäß fähig werden, durch das Ähnliche das Ähnliche zu erkennen, wenn es erlaubt ist, dies zu sagen, […] durch das Eine das Eine“ (Proklos, zit. n. Kobusch 2006, 149). – Die interessante Frage, ob bzw. wieweit im Ausgang von diesem späten kantischen „Sonnengleichnis“ vielleicht an die religionsphilosophisch relevanten Aspekte der „Bild“-Lehre des späten Fichte (und dessen „neuplatonische“ Motive) in produktiver Weise anzuknüpfen ist, ist hier nicht zu verfolgen. Dass Fichte die von Kant eben mit diesen „Reflexen“ geltend gemachte Gewissheit des Sittengesetzes mit dem Thema der recht verstandenen „intellektuellen Anschauung“ verknüpft hat, ist evident. Fichtes („neuplatonisierende“) These, der zufolge „Gott … nicht durch das Denken“ ist, „sondern an ihm vernichtet sich das Denken“ (SW IX, 563), weist über das angeführte kantische „Reflex-Motiv“ dennoch hinaus. 137 Platon, Politeia 540a. – Interessant ist in diesem Zusammenhang (auch im Blick auf jene Bestimmung Gottes als „Urquell alles Guten in der Welt“) die noch spätere Bemerkung Kants: „Denn der Begriff oder die Idee von Gott ist 1) die von einem höchsten Wesen: (Ens summum) 2) Von einem höchsten Verstandeswesen d. i. einer Person (Summa intelligentia) 3) dem Urquelle alles dessen was unbedingt Zweck sein mag (summum bonum) das Ideal der moralisch//praktischen Vernunft und allem was diesem zur Regel dienen kann das Urbild (archetypon) … Wir schauen Ihn an gleich als in einem Spiegel: nie von Angesicht zu Angesicht“ (AA XXI, 33). Das „Übersinnliche außer uns“ ist uns nur „gebrochen“ im „Übersinnlichen in uns“, in dem darin gegenwärtigen „Sinn des Unbedingten“ (und dem darin verankerten Gefüge der „Vernunftideen“), offenbar, der allein allenfalls als „ratio cognoscendi“ eines „unbedingten Sinnes“ beansprucht werden kann, ohne sich damit einer unkritischen Subreption schuldig zu machen. – Diese „Brechungen“ des „Übersinnlichen außer uns“ in dem „Übersinnlichen in uns“ werden bei Kant auch zu einer Art „Leitfaden“ für die in der Religionsgeschichte sich in symbolischen Gestalten entfaltenden Gottesvorstellungen (s. u. V., 1; V., 2.). Die geschichtlichen Bezüge zu diesem (auf die neuplatonische Tradition und zuletzt auf Plotin verweisenden) „Spiegel“-Gleichnis sind hier nicht zu verfolgen; nicht zuletzt im Blick auf Cusanus und dessen Verständnis des menschlichen „Intellekts“ als „viva imago dei“ erweist sich Kants „Reflex“bzw. Spiegel-Motiv als höchst aufschlussreich, das er in seiner Auseinandersetzung mit „platonisierenden Gefühlsphilosophen“ thematisiert und in seiner moralischen Verankerung „radikalisiert“.
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Ein „platonisierender“ Grundton, der auch schon aus jener so eindrucksvollen Bemerkung über die „Gegenstände ahnende Vernunft“, „die ein großes Interesse für sie bei sich führen“ (II 670), vernehmbar wird, ist noch in Kants spätem Aufsatz „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ nicht zu überhören: „Zwar in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen, ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden praktischen Vernunft), und selbst in praktischer Absicht hinreichend zu sehen, … ist ganz tunlich“ (III 388)138 – Kants Anknüpfung an das biblische Motiv des „in unzugänglichem Licht wohnenden Gottes“ (Joh 1,18)?139 „Tunlich“ und „zweckmäßig“ sei dies also: Es konstituiert geradezu die teleologische Verfassung der Vernunft, dass allein durch solche „Inversion des Ideals der Vernunft“ die „Selbsterhaltung der Vernunft“ – diejenige eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ in der ihm aufgegebenen umfassenden Existenz-Orientierung – gewährleistet ist.140 Jenes beanspruchte „Ahnen des Absoluten“ weicht so der „moralischen Gewissheit“ des Anspruchs des unbedingten „Du sollst“ – eine Bestimmung, die noch in einer Wendung des „opus postumum“ nachklingt: „est Deus in nobis“;141 ebendies bekräftigt noch einmal jenen frühen Hinweis auf den Status bzw. die „praktische Inversion“ des „Ideals der Vernunft“.142 Der in solch kritischer Brechung unternommene 138 Indes darf nicht übersehen werden, dass Kant nur wenige Seiten nach der angeführten Stelle über die „Reflexe des Übersinnlichen“ bezüglich dieses „Reflex“-Charakters doch ungleich zurückhaltender reagiert (was auf einschlägige Passagen im „opus postumum“ verweist), zumal nun dieser „Reflex“Charakter“ doch auch dem Verdacht einer Subreption „praktischer Vernunft“ ausgesetzt wird. In der „Religionsschrift“ verwies Kant freilich noch auf die „Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft“ verkündigenden „ursprünglichen Anlage“ zum Guten (IV 700) – ein Motiv, das jenes „Reflex“-Motiv (als „Übersinnliches in uns“) mit der kantischen Idee des „Gottessohnes“ in Verbindung bringt. Manche Passagen des „opus postumum“ kommen freilich auch einer Identifikation Gottes mit diesem „Übersinnlichen in uns“ sehr nahe; an anderen Stellen heißt es freilich wiederum, dass Gott „in der moralischpraktischen Vernunft und dem kategorischen Imperativ [sich] offenbart“ (AA XXI, 92). 139 Dies nimmt sich wie eine kantische Version der sokratischen Auskunft aus: „Es gleicht also dieser Teil derselben [der Seele] dem Göttlichen, und blickt einer auf dieses hin und auf alles von göttlicher Art, so erkennt er Gott und das Wirken der Vernunft und eben damit erkennt er am sichersten auch sich selbst“ (Alkibiades I 133c). 140 „Allgemein führen wir noch an: dass es ganz und gar nicht hier unserer Bestimmung gemäß ist, uns um die künftige Welt viel zu bekümmern; sondern wir müssen den Kreis, zu dem wir hier bestimmt sind, vollenden, und abwarten, wie es in Ansehung der künftigen Welt sein wird. Die Hauptsache ist: dass wir uns auf diesem Posten rechtschaffen und sittlich gut verhalten, und uns des künftigen Glücks würdig zu machen suchen. […] Die Hauptsache ist immer die Moralität: diese ist das Heilige und Unverletzliche, was wir beschützen müssen, und diese ist auch der Grund und der Zweck aller unserer Untersuchungen. Alle metaphysischen Speculationen gehen darauf hinaus. Gott und die andere Welt ist das einzige Ziel aller unserer philosophischen Untersuchungen, und wenn die Begriffe von Gott und von der andern Welt nicht mit der Moralität zusammenhingen, so wären sie nichts nütze“ (AA XXVIII, 300 f ). Freilich, eben auch dies „klärt“ sich erst in der „Geschichte der reinen Vernunft“. 141 Vgl. AA XXII, 108; 120; 130; diese späte kantische Wendung darf allerdings nicht einfachhin „religionskritisch“ reduziert werden. 142 Allein in dieser „Brechung“ nahm Kant die allerdings dann allen Menschen zugemutete platonische Forderung auf, „den Lichtstrahl ihrer Seele nach oben zu richten und unmittelbar in den Urquell alles Lichtes zu schauen“ (Politeia 540a). – In diesem kritischen „Reflexe“-Motiv verknüpfte Kant gewissermaßen die Ablehnung einer „intellektuellen Anschauung“ (eines „nicht-sinnlichen“ Seins) mit der Etablierung und Legitimation derselben im Sinne des Bewusstseins des „moralischen Gesetzes“ in der Gestalt des
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Bezug auf jene „Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft)“143 impliziert somit auch, dass das „Übersinnliche außer uns“ (als der gewissermaßen nur zu erahnende „Urgrund aller Dinge“: III 379) als Gegenstand „jenseits der Vernunft“ nur in diesem „Reflex“ als dem „Übersinnlichen in uns“ vernehmbar ist144 und in derlei kritischer Selbstbegrenzung auf das „absolut Transzendente“ – als „Reflex“ und somit als „Spur“ desselben – allein in dem un-erhörten Anspruch des moralischen Gesetzes für wahr genommen wird und Gestalt gewinnt.145 Indes, dabei bleibt die entscheidende Wendung zu beachten: Das „Übersinnliche in uns“ ist „Reflex“ des „Übersinnlichen außer uns“ in der besonderen Hinsicht, dass in der dieserart gebrochenen Gestalt jene platonische „Idee des Guten“ nunmehr als unbedingter moralischer Anspruch erscheint; freilich, nur in solcher – genauer besehen den kantischen „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249 ff ) begründenden – „Umkehrung“, die zugleich die eigentliche Pointe der kantischen Rezeption des „Sonnengleichnisses“ ausmacht, darf jenes „Übersinnliche in uns“ als „deus in nobis“ bestimmt werden, das gleichwohl mit dem „Übersinnlichen außer uns“ nicht einfachhin identisch ist. Allein in bzw. aus diesem in jenem „bewunderungswürdigen Vermögen“ (II 361) widerfahrenen – schlechthin individuierenden – Anspruch könnte so nach Kant für den Menschen „für sich“ offenbar werden, was der Mensch „an sich selbst ist“. Erst in diesem wahrgenommenen „Reflex“ ist die „ganze Bestimmung des Menschen“ verankert, ohne dass sich sein „ganzer Zweck“ (als „Gegenstand der praktischen Vernunft“) darin schon erschöpft. Nur in der „Brechung“ gemäß solchen „Reflexen“ wird das „vernünftige Weltwesen“ des „Übersinnlichen“ inne; die in der „Vernunftkritik“ vollzogene Zerbrechung der mystagogischen Ansprüche der „Ahnung des Übersinnlichen“ (III 386) ist die Voraussetzung Pflichtimperativs. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass in seiner Bezugnahme auf das platonische „Sonnengleichnis“ die Differenzierung und Gewichtung der Vernunft-Dimensionen zutage treten. – Ebenso lässt dieses kantische „Reflexe“-Motiv an stoische Einflüsse denken. 143 Im Sinne dieses späten Passus darf somit auch Kants frühe Bemerkung gelesen werden: „Selbst der Heilige des Evangelii muss zuvor mit unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe man ihn dafür erkennt; auch sagt er von sich selbst: was nennt ihr mich (den ihr sehet) gut, niemand ist gut (das Urbild des Guten) als der einige Gott (den ihr nicht sehet). Woher haben wir aber den Begriff von Gott, als dem höchsten Gut? Lediglich aus der Idee, die die Vernunft apriori von sittlicher Vollkommenheit entwirft, und mit dem Begriffe eines freien Willens unzertrennlich verknüpft“ (IV 36). 144 In diesem „Reflexe“-Motiv wird aber auch eine eigentümliche Begründungsfigur Kants sichtbar (die, in Beachtung der erforderlichen Begründungsschritte, nicht so ohne Weiteres als „zirkulär“ abzutun ist): Denn dieses „Übersinnliche in uns“ ist zum einen Ausgangspunkt für die allein angemessene Thematisierung des „Begriffs der Gottheit“, während es sodann auch als „göttliche Stimme in uns“ verstanden werden soll. S. dazu auch Brandt 2007b. 145 Im Ausgang von den als solche „Spur“ verstandenen „Reflexen“ mag eine behutsame Anknüpfung an ein für das Levinas’sche Denken zentrales Motiv erlaubt sein: „Der Gott, der vorbeigegangen ist, ist nicht das Urbild, von dem das Antlitz das Abbild wäre. Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes sein, sondern sich in seiner Spur befinden. Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit, die in der personalen Ordnung selbst ist. Er zeigt sich nur in seiner Spur, wie in Kapitel 33 des Exodus. Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die Anderen zugehen, die sich in der Spur halten“ (Levinas 1987, 235). Auch bei Kant (vgl. V 365) steht jener „platonisierende“ Bezug auf das „Erblinden“ bei dem Versuch, das „Übersinnliche außer uns zu schauen“, freilich in engem Zusammenhang mit dem von ihm rezipierten biblischen („erhabenen“) Bilderverbot.
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für den erst durch solche „Brechung“ eröffneten „Vernunftglauben“, in dessen moralisch begründetem „Überschritt“ allein die „Selbsterhaltung der Vernunft“ gewährleistet ist (s. u. IV., 3.) und dabei von der Moralität ihren Ausgang nimmt. Schon hier ist darauf hinzuweisen: Das dieses „Übersinnliche in uns“ offenbarende „Faktum der Vernunft“ ist der Ausgangspunkt, der das in den Vernunftideen (zwar notwendig) „Erdachte“ einerseits davor bewahrt, letztendlich bloße „Fiktionen“ bleiben zu müssen, und sie andererseits als „Bedingungen der Möglichkeit“ der umgreifenden „Sinnhaftigkeit“ und „Zweckmäßigkeit“ (der „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“: III 650) auch Bestimmtheit gewinnen und „immanent“ werden lässt. Es ist dieses nach Kant in seiner Wirklichkeit unbegreifliche „Faktum der Vernunft“, das allein die „zweckrational“ verfügbare „Faktenaußenwelt“ (worin eben alles bloß „faktisch“, also nicht einmal gleich-gültig ist) durchbricht und so erst den normativen Anspruch eines „unbedingten Sollens“ ermöglicht,146 das als solches über die der „praktischen Freiheit“ immanenten relativen Sollens-Forderungen hinausweist. Während die Idee des „Übersinnlichen außer uns“ für die spekulative Vernunft zwar ihren grenzbegrifflichen Status behält, darüber hinaus jedoch diese „Vernunftideen“, als das von der spekulativen Vernunft „geahnte Übersinnliche“, sich gerade in allen Versuchen einer „Annäherung“ entziehen, ja vor ihr „fliehen“ (II 670 f ), ist es das „eigentliche Selbst“ als das „Übersinnliche in uns“, das den Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ „in einer Welt dar[stellt], „die wahre Unendlichkeit hat“ (IV 300). Eben darin (und in dem derart verankerten „Urteilen-Müssen“) ist nach Kant der „Primat der praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249) begründet. Die Begründung dieses „Primats der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249 ff ) hat wohl in den folgenden Sätzen der „zweiten Kritik“ eine besonders präzise Gestalt gefunden: „Der einzige Begriff der Freiheit verstattet es, dass wir nicht außer uns hinausgehen dürfen, um das Unbedingte und Intelligible zu dem Bedingten und Sinnlichen zu finden. Denn es ist unsere [!] Vernunft selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz, und das Wesen, das sich dieses Gesetzes bewußt ist (unsere eigene Person), als zur reinen Verstandeswelt gehörig, und zwar sogar mit Bestimmung der Art, wie es als ein solches tätig sein könne, erkennt“ (IV 233). Wenn das jenes „Übersinnliche in uns“ offenbarende „Gesetz der Freiheit“ (III 629) das „Selbstbewusstsein“ der „moralischen Persönlichkeit“ (eben als das „eigentliche Selbst“: z. B. IV 95; 98) konstituiert – jenes denkwürdig-„abgründige“ Faktum der Vernunft, das diese „Selbstgegebenheit“ als Ermöglichungsgrund nicht nur von „Zurechnung“, sondern von unbedingter Verantwortung ausweist –, so ermöglicht es in der schon angezeigten Weise allein dieser „archimedisch-feste Punkt“ (III 393), „unser Selbsterkenntnis von der fruchtlosen, überschwänglichen Spekulation zum fruchtbaren praktischen 146 Es spricht in der Tat vieles dafür, Kants Erklärung des „Bewusstseins dieses Grundgesetzes“ als „Faktum der Vernunft“ als eine konzentrierte Selbstkritik (und zwar an den im „dritten Abschnitt“ seiner „Grundlegungsschrift“ formulierten Ansprüchen) zu lesen: „Man kann das Bewusstsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewusstsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz apriori“ (IV 141 f ).
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Gebrauche anzuwenden“ (II 355).147 Gegenüber einer verkürzenden und irreführenden Berufung auf den „Primat des Praktischen“ bleibt auch darauf zu achten, dass – weil es doch „ein und dieselbe Vernunft in unterschiedlichem Gebrauche ist“ – von dem „Primat des Gebrauchs der reinen praktischen Vernunft“ gegenüber dem „theoretischen Vernunftgebrauch“ die Rede ist. Nach Kant können allein auf „diesem (in praktischer Rücksicht) positiven Begriffe der Freiheit … unbedingte praktische Gesetze“ begründet werden (VI 327).148 Eben das solcherart konkretisierte „Bewusstsein seiner selbst“ weist über die bloß empirische Selbsterfahrung hinaus, weil allein solche Selbst-Erfahrung – gegeben als aufgegeben – „moralische Persönlichkeit“ konstituiert, wobei hierfür die „logische“ und „psychologische Persönlichkeit“ und deren „Identitäts“-Aspekte freilich schon vorausgesetzt bzw. aufgehoben sind. Freilich, sofern jenes zunächst „grenzbegrifflich“ Gedachte als „Idee der Freiheit“ zugleich „in Ansehung des Gesetzes ihrer Kausalität bestimmt und assertorisch erkannt“ wird, ist diese, „Idee“ und „Realität“ untrennbar und einzigartig vereinigend, jedenfalls auch nicht mehr als „Postulat“ zu bezeichnen, wenn es doch der „einzige Begriff der Freiheit“ ist, der uns „durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz“ zugleich der Wirklichkeit des Unbedingten „in uns“ selbst innewerden lässt (IV 232 f ). Ebendies begründet nicht nur den „Primat der praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“, sondern indiziert zugleich den entscheidenden Unterschied zur „theologischen Idee“. In diesem Sinne ist wohl auch Kants Reflexion zu verstehen: „Es sind drei übersinnliche Gegenstände, mit denen die menschliche Vernunft unablaßig und zu aller Zeit beschäftigt gewesen ist und bleiben wird: Gott, Unsterblichkeit und Freiheit. Von 147 Hier wird besonders deutlich, dass Kant damit eine schon früh leitende Vorstellung (so in seiner Reflexion 4349 [AA XVII, 516] aus den 70er Jahren) überholt: „Der mundus intelligibilis als ein Gegenstand der Anschauung ist eine bloße (unbestimmte) Idee; aber als ein Gegenstand der praktischen Verhältnis unserer Intelligenz zu Intelligenzen der Welt überhaupt und Gott als dem praktischen Urwesen derselben ist er ein wahrer Begriff und bestimmte Idee: Civitas dei.“ 148 In diesem Sinne heißt es (nunmehr allerdings schon auf dem Boden der in der „Kritik der praktischen Vernunft“ von Kant umgestalteten „Freiheitslehre“) in seinem Brief an Kiesewetter (v. 20. April 1790): „… dass die Möglichkeit der Freiheit, wenn sie vor dem moralischen Gestze betrachtet wird (in der Kritik der reinen Vernunft), nur den transzendentalen Begriff der Kausalität eines Weltwesens überhaupt bedeutet (ohne darunter besonders die durch einen Willen anzeigen zu wollen), sofern sie durch keine Gründe in der Sinnenwelt bestimmt wird und dass daselbst nur gezeigt wird, dass sie keinen Widerspruch enthalte. Nun wird [allein!] durchs moralische Gesetz jene transzendentale Idee [der Freiheit] realisiert und an dem Willen, einer Eigenschaft des vernünftigen Wesens (des Menschen), gegeben, weil das moralische Gesetz keine Bestimmungsgründe aus der Natur (dem Inbegriffe der Gegenstände der Sinne) zulässt und der Begriff der Freiheit, als Kausalität, wird bejahend erkannt“ (AA XI, 154 f ). – Daraus folge zuletzt dies: „Dass unsere Idee von einem höchsten Wesen als verständigem Wesen objektive Realität habe, kann nur aus der (objektiven) Realität des Freiheitsbegriffs, der es uns notwendig macht, unsere Handlungen auf ein durch unsere Mitwirkung mögliches höchste Gute in der Welt zu richten, gefolgert werden“ (Refl. 6443, AA XVIII, 718). Die Unterscheidung zwischen dem „transzendentalen“ und dem „moralischen Begriff der Freiheit“ hat eine unübersehbare Entsprechung in der Unterscheidung zwischen dem „transzendentalen“ Begriff der „Persönlichkeit“, d. h. als „Einheit des Subjekts, das uns übrigens unbekannt ist, in dessen Bestimmungen aber eine durchgängige Verknüpfung durch Apperzeption ist“ (II 373), und dem Begriff der „moralischen Persönlichkeit“. – Zu den unterschiedlichen Aspekten des kantischen Freiheitsbegriffs (aber auch den darin erkennbaren Schwierigkeiten), die gerade auch in der Entwicklung der kritischen Philosophie Kants zutage treten, s. die erhellenden Ausführungen von K. Düsing 2002, 211–235.
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der letzteren allein haben wir eine unmittelbare Überzeugung ihrer Wirklichkeit, ohne sie doch einsehen zu … können. Es ist natürlich, davon auszugehen, um unser mögliches Erkenntnis der übrigen darnach zu beurteilen.“149 In den Schlusspartien der „dritten Kritik“ betonte Kant schließlich sogar, dass die Vernunftidee der Freiheit als das „Übersinnliche in uns“ „auch als Tatsache seine Realität in Handlungen“ darzutun vermag (V 606), und sich als ein „zwar übersinnliche(s), aber praktische(s), apriori erkennbare(s) Prinzip“ (III 639) erweist (wie es sodann in der noch späteren „Preisschrift“ heißt). Besonders energisch hat noch der späte – um den „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“150 und ihr „Gleichgewicht“ besorgte – Kant diese kritisch-aneignende und verwandelnde Rezeption platonischer Motive gegenüber den Ansprüchen der Gefühls- und Ahnungs-Philosophen in dem von ihm so genannten „Übergang zum Übersinnlichen“ ausgesprochen: „Die verschleierte Göttin, vor der wir … unsere Knie beugen, ist das moralische Gesetz in uns, in seiner unverletzlichen Majestät. Wir vernehmen zwar ihre Stimme [!] und verstehen auch gar wohl ihr Gebot; sind aber beim Anhören in Zweifel, ob sie von dem Menschen, aus der Machtvollkommenheit seiner eigenen Vernunft selbst, oder ob sie von einem anderen, dessen Wesen ihm unbekannt ist, und welches zum Menschen durch diese seine Vernunft spricht, herkomme“ (III 395).151 Diese (im Kontext 149 Refl. 6317, AA XVIII, 629. Zur „Realitätssicherung der Idee des Unbedingten“ merkt Hinske treffend an: „Die kritische Philosophie Kants wird von der Überzeugung getragen, dass die Idee des Unbedingten unbeschadet ihrer regulativen Funktion in letzter Instanz keine bloße Fiktion ist, sondern den Menschen an den Angelpunkten seiner Existenz mit einer Realität konfrontiert, die ihn über seine bloße Subjektivität hinausweist. Sie wird aber zugleich auch von der Überzeugung geleitet, dass jeder Versuch einer Realitätssicherung der Idee des Unbedingten, der sich ausschließlich auf der Ebene der theoretischen Reflexion bewegt, zum Scheitern verurteilt ist und dass ein derartiger Versuch allein im Felde der praktischen Philosophie gelingen kann“ (Hinske 1993, 278 f ). 150 Hier sei nochmals darauf hingewiesen, dass diese „Zweckmäßigkeit“ nach Kant eben darin begründet bzw. daran auch gebunden ist, dass der den theoretischen Vernunftgebrauch „abschließende“ Gedanke des „transzendentalen Ideals“ (als „Absolutes“) und der „Anfang“-Gedanke der „ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat erweisenden“ praktischen Vernunft – ungeachtet der Differenz des „theoretisch“ und „praktisch Unbedingten“ – doch in „ein und derselben Vernunft“ vereint sind. 151 In bemerkenswerter Weise zeigt sich – auch mit Blick auf die in ausdrücklichem Bezug zu Kants „Primat der praktischen Vernunft“ stehenden Motivlagen im Denken von E. Levinas –, dass auch in der kantischen Systematik zweifellos der Sachverhalt bedeutsam ist, den der bedeutende Platon-Forscher G. Reale in seiner umfangreichen Platon-Studie angezeigt hat: „Die Forschung hat häufig darauf hingewiesen, wie die geistige Kultur der Griechen eine Kultur der ‚Schau‘ und damit der ‚Form‘ als des Objektes der Schau war und wie sie z. B. der hebräischen Kultur, für die das ‚Hören‘ oder das ‚Horchen‘ – die ‚Stimme‘ oder das ‚Wort‘ Gottes und der Propheten hören – im Mittelpunkt stand, in vielerlei Hinsicht entgegengesetzt war“ (Reale 1993, 244); zu diesen oftmals angeführten Gegenüberstellungen vgl. auch Ricoeur 1960. Mit diesen motivlichen Konstellationen wären dann wohl auch jene kantischen Erwägungen über den Sinn des „Unbedingten“ und somit über die Einheit von „Freiheit“ und „unbedingtem praktischen Gesetz“ zu verbinden – nicht zuletzt mit seiner Frage, ob „nicht vielmehr ein unbedingtes Gesetz bloß das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffe der Freiheit sei“ (IV 139). Es sind dies Probleme, die über das „Faktum der Vernunft“ auf die Frage führen, ob bei Kant ein sich wandelndes Verständnis der „intellektuellen Anschauung“ aufweisbar ist und dies auch in seinem späten Hinweis zutage tritt, dass „Erkenntnis“ seiner selbst „an sich“ an das Bewusstsein der Verbindlichkeit des kategorischen Imperativs gebunden ist. Kant steht – gerade auch mit dem „Weltbegriff der Philosophie“ – zweifellos in mancher Hinsicht eher der Tradition nahe, welche die von den Griechen gesuchte „Weisheit“ in dieser Hinsicht auch „unterbricht“.
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seiner Polemik gegen überschwängliche Ansprüche platonisierender „Ahnungs- und Gefühlsphilosophie“ „besonders Begünstigter“ stehende) späte Reflexion ist zweifellos mit Blick auf jene „praktische Bestimmung des Menschen“ bzw. die „teleologia rationis humanae“ sehr bemerkenswert und enthält gegenüber jenem zuvor angeführten „Sonnengleichnis“ überdies eine nicht unbedeutende Nuancierung: Denn im Lichte dieser ernüchternden – durch die vornehmen Töne jener „Kraftmänner“ und „Mystagogen“ und durch die Ansprüche ihrer „affektierten Genieschwärmerei“152 provozierten – Bezugnahme auf jene „Reflexe“ ist nunmehr auch der in seiner späten „Religionsschrift“ geäußerte Hinweis zu lesen, wonach „der unerforschliche Grund“ der Wirklichkeit der „positiven Freiheit“ „ein Geheimnis“ sei, „weil er uns zur Erkenntnis nicht gegeben ist“ (IV 805). Erneut bestätigt jene für Kant so entscheidende, auf die „Quellen positiver Erkenntnisse“ gestützte späte Begründungsfigur, dass und wie in jener allein im „moralischen Selbstbewusstsein“ der Person „durch die Tat“ offenbar werdenden Freiheit eine „Inversion der Ideen“ zutage tritt: Der „überschwängliche“ Ausblick auf bloß „geahnte übersinnliche Gegenstände“ (als das un-erschaute „Übersinnliche-Vollkommene“) verwandelt sich in den – eben im moralischen Gesetz allererst für wahr-genommenen (im doppelten Wortsinn) – unerhörten Anspruch des „Übersinnlichen in uns“ und „realisiert“ solcherart zunächst den „praktischen Glauben“ an den „Sohn Gottes“ (vgl. IV 714). Auf solche Weise wird aber auch erst der eigentliche Sinngehalt dieser Ideen verständlich und bewahrt zugleich vor andernfalls enttäuschten Erwartungen. Dieser „Reflex“ (das „Übersinnliche in uns“) sind eben nicht jene „Ahnungen des Übersinnlichen außer uns“, sondern ist allein die „ihre und ihrer Begriffe Realität“ beweisende und sich sodann in der moralischen Zuwendung zur Welt bewährende „Freiheit im positiven Verstande“, die in der „Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen“ (IV 146) offenbar wird. Kants „Sonnengleichnis“ (das darin bestimmende „Reflex“-Motiv) darf,153 so wird sich zeigen, auch in der besonderen Hinsicht aufgenommen werden, dass dieser innegewordene Anspruch und „Sinn des Unbedingten“ ebenso die unumgängliche Voraussetzung für jedweden Rekurs auf einen „unbedingten Sinn“ bleiben muss. Das heißt: Ohne die Differenzierung des „Sinns des Unbedingten“ (als des „absolut Guten“) und des „Ganze(n), was zum höchsten Gut erforderlich ist“, ist auch ein begründeter Rekurs auf die Idee eines „unbedingten Sinnes“ nicht zu leisten. Allein in diesem Ausgang von dem „Übersinnlichen in uns“ (dem darin begründeten „absolut Guten“) sah sich Kant wohl auch vor dem Einwand geschützt, dass ein von der Welterfahrung her vermittelter („kosmologisch“ ausgerichteter) Gedanke des „Unbedingten“ (als das „Übersinnliche außer uns“) ein solches „Absolutes“ eben damit „relati152 Vgl. Kant an Marcus Herz, 7. 4. 1786: AA X, 442. „Der Mensch erhebt sich in der Schwärmerei über der Menschheit“ (Refl. 6053, AA XVIII, 439) – und gibt damit in Wahrheit stillschweigend auch alle Geltungsansprüche der Religion preis. Ebenso verwirft Kant die (dem „Pietismus“ zugeschriebene) „phantastische … stolze Anmaßung, sich als übernatürlich-begünstigte Kinder des Himmels“ zu verstehen, „wenngleich ihr Wandel … vor dem der von ihnen so benannten Weltkinder, in der Moralität nicht den mindesten Vorzug zeigt“ (VI 326, Anm.). 153 Die in der kantischen Version des platonischen „Sonnengleichnisses“ enthaltene Kritik, ja „Inversion“ desselben (hinsichtlich der „Idee des Guten“) ist hier nicht weiter zu verfolgen.
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vieren“, d. h. hier: abhängig machen müsste. Ohne jenen differenzierten Ausgang von dem „Sinn des Unbedingten“ schien Kant der grenzbegrifflich zu vermittelnde Anspruch eines „unbedingten Sinnes“ unverständlich und auch unvermittelt zu bleiben; eben darin ist wohl auch seine ausdrückliche Mahnung begründet, „den Begriff von einer Gottheit“ nicht „an jedes von uns gedachte verständige Wesen“ zu verschwenden (V 562), weil dieses als ein „Übersinnliches außer uns“ – als Ermöglichungsgrund dieses „unbedingten Sinnes“ – gedacht werden muss, gleichwohl in jenem „Sinn des Unbedingten“ seine unumgängliche „ratio cognoscendi“ hat (IV 108, Anm.). In diesem genauen Sinne ist sodann auch Kants Hinweis zu nehmen, dass von dem „Begriff von Gott, der in der Moraltheologie zum Grunde liegt“, gilt: „Da ist Gott der oberste Grund des Systems aller moralischen Zwecke, d. i. das höchste Gut“.154 Als solcher ist er auch von der Gottesidee der „transzendentalen Theologie“ bzw. der „natürlichen Theologie“ (als bloßer „Physikotheologie“) noch zu unterscheiden, sodass also auch in diesem Sinne „Gott erst ein Gegenstand der Religion wird“. Im Blick auf die dem „dritten Stadium der Metaphysik“ immanenten notwendigen Differenzierungen erweist sich dies als sehr aufschlussreich: War mit jener Unterscheidung des „Gegenstands schlechthin“ vom „Gegenstand in der Idee“ die „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ (II 583) erreicht, so hat mit diesem Ergebnis das „dritte Stadium der Metaphysik“ zwar ihr erstes Teilziel als „Kritik“ erreicht. Interessant ist nun freilich mit Blick auf den daran anschließend intendierten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“, dass hierfür die Unterscheidung der Bestimmung des „Gegenstands der reinen praktischen Vernunft“ von derjenigen der „unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (IV 235), d. i. der „ganze Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft“ (IV 237), vorausgesetzt ist. Sind, Ersterem zufolge, als die „alleinigen Objekte der reinen Vernunft … die[jenigen] vom Guten und Bösen“ ausgewiesen, die freilich – solcher praktischen „Revolution der Denkungsart“ zufolge – erst aus „einem vorhergehenden praktischen Gesetze abgeleitet werden“ müssen, so verweist demgegenüber, mit Blick auf die Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“, die Vernunft auf dieses „ganze Objekt der praktischen Vernunft“ und vermag erst in solcher Differenzierung des „Gegenstands der (reinen) praktischen Vernunft“ den gesuchten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ vorzubereiten bzw. einzuleiten – eine Vernunftperspektive, die, wie sich noch zeigen soll, erst in der – fragmentarisch gebliebenen – „Preisschrift“ ihren Abschluss findet. Waren es jene „Quellen positiver Erkenntnis“, die einen unbedingten „Sollens“-Anspruch erst wahrnehmbar machen, so liegt es mit Blick auf den späten Kant wohl besonders nahe, das von ihm schon früh (I 779 ff ) erörterte Problem, zur Vervollständigung des theoretischen Vernunftgebrauchs „den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“, nunmehr noch zu ergänzen. Ein solches Vorhaben wäre demgemäß im Sinne der Notwendigkeit der „negativen Größen“ für den praktischen Vernunftgebrauch im Kontext des „Weltbegriffs der Philosophie“ aufzunehmen und in die „praktische Weltweisheit“ – vornehmlich in den Gestalten der Abwesenheit und des Verlustes,
154 AA XVIII, 1241.
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des Mangels, Unerfüllten, Fehlenden, Sein-Sollenden – einzuschreiben.155 Die solcherart dem „Primat des Praktischen“ verpflichtete Wendung rückt nun auch jene auf die „metaphysische Naturanlage“156 abzielende These in ein neues Licht, dass „Erfahrung … der Vernunft niemals völlig Gnüge tut“ (III 226);157 erst dies vermag die unvermeidliche Enttäuschung jener „nicht zu dämpfenden Begierde“ mit dem Hinweis auf das unbedingte Vernunftinteresse, das sich im Anspruch des „ursprünglich bestimmenden“ moralischen Gesetzes (V 366) artikuliert, zu kompensieren und gleichermaßen zu radikalisieren. Damit gewinnt jene von Kant für den zweckmäßigen – d. h. seiner Weltstellung angemessenen – Vernunftgebrauch geltend gemachte Verknüpfung der „spekulative(n) Einschränkung der reinen Vernunft“ und der „praktische(n) Erweiterung derselben“ (IV 275)158 noch eine besondere Akzentuierung. Dass „Erfahrung … der Vernunft niemals völlig Genüge tut“, verschärft sich somit zu der aus dem Widerfahrnis der Negativität gespeisten Gestalt des „Vermissens“, das jenen versagten Ausblick auf die „ungeschauten“, bloß „geahnten Gegenstände“ solcherart in den unstillbaren Anspruch des noch „unerhört“ Gebliebenen verwandelt. Dies geschieht auf eine Weise, die in der Folge den Status und Sinngehalt dieser grundlegenden religionsphilosophischen Idee des „höchsten Gutes“ noch einmal neu bestimmen lässt,159 damit aber auch, wie sich zeigen soll, 155 Hier wäre wohl auch auf Kants Begründung der „transzendentalen Verneinung“ hinzuweisen, die (im Unterschied zur bloß „logischen Verneinung“) „das Nichtsein an sich selbst“ bedeutet, „dem die transzendentale Bejahung entgegengesetzt wird“, wobei freilich zu bedenken sei, dass „niemand eine Verneinung bestimmt denken“ könne, „ohne dass er die entgegengesetzte Bejahung zum Grunde liegen habe. […] Es sind also auch alle Begriffe der Negationen abgeleitet und die Realitäten enthalten die Data und so zu sagen die Materie oder den transzendentalen Inhalt“ (II 517); dass sich diesbezüglich, in Beachtung der Ansprüche der praktischen Vernunft, noch einmal besondere Fragen stellen, die Kants Verweis auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ (VI 186) in neuem Licht erscheinen lassen, sei hier nur vorläufig angemerkt (s. dazu u. V., 3.1.). Darin wird deutlich, dass das Böse nicht nur privative „Abwesenheit“ des Guten, das „Laster“ also nicht das Fehlen, sondern geradewegs das „Widerspiel“ der Tugend ist; deshalb bedeutet auch das „Zweckwidrige“ nicht das bloße „Fehlen eines erkennbaren Zwecks“, vielmehr indiziert solche „positive Negativität“ eine nicht zu nivellierende prinzipielle Differenz. 156 Dass Kant dieses als „metaphysische Naturanlage“ artikulierte „dringende Bedürfnis“ von einer „bloße(n) Wissbegierde“ unterscheidet (III 245), entspricht dem recht genau und macht so auch verständlich: „Die Vernunft würde lieber alle andre Wissenschaften aufgeben wollen als diese [Metaphysik]“ (AA XXIX, 765). „Denn Metaphysik ist vielleicht mehr, wie irgend eine andere Wissenschaft, durch die Natur selbst ihren Grundzügen nach in uns gelegt, und kann gar nicht als das Produkt einer beliebigen Wahl, oder als zufällige Erweiterung beim Fortgange der Erfahrungen (von denen sie sich gänzlich abgetrennt) angesehen werden“ (III 228). 157 Es wird sich zeigen: So sehr die letztbegründende „Idee des Guten“ alle im „theoretischen Vernunftgebrauch“ verankerten Anschauungs-Ansprüche verbietet, so fundieren auch die in den „Reflexe(n) des Übersinnlichen“ (in „der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft“) (III 388) gebrochenen Ansprüche der „Idee des Guten“ den praktischen Vernunftgebrauch, d. h. erheben die Stimme zu jenem „Es müsse anders zugehen“ (V 587). 158 Zu der in der „teleologia rationis humanae“ zutage tretenden „moralischen Teleologie“ s. auch Kants späten Hinweis: IV 831. 159 Es wird sich für eine „entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der Philosophie des kritischen Kant“ noch bestätigen, dass dem „Gestaltungsprozess der philosophischen Systematik eine Entwicklung bei der Bestimmung der Idee vom höchsten Gut selbst korrespondiert“ (so Krämling 1986, 275 f ). Es entspricht weithin den in diesem Buch vorgestellten Überlegungen, wenn Krämling eine „personale, eine universale, eine immanente und eine transzendente Bedeutung“ der Idee des „höchsten Gutes“ unterscheidet (ebd.
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den vom späten Kant als Abschluss einer kritischen Metaphysik intendierten „praktischdogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ entscheidend vertieft. Im ethikotheologischen Kontext verschärft sich (mit Verweis auf die „fortgehende Kultur“) solche Erfahrung des Mangels, wie sich zeigen wird, zu der unbeirrbaren und untröstlichen Wahrnehmung einer geradezu vernunft- d. h. „zweckwidrigen“ Negativität, die sich darin in dem (selbst aus der Entwicklung der menschlichen Vernunft gespeisten) „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ artikuliert: „Sobald die Menschen über Recht und Unrecht zu reflektieren anfingen, in einer Zeit, wo sie über die Zweckmäßigkeit der Natur noch gleichgültig wegsahen, sie nützten, ohne sich dabei etwas anderes als den gewohnten Lauf der Natur zu denken, mußte sich das Urteil unvermeidlich [!] einfinden: dass es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewalttätig verhalten habe, wenn er gleich bis an sein Lebensende, wenigstens sichtbarlich, für seine Tugenden kein Glück [Kant sagt, wohlgemerkt, bezeichnenderweise nicht: Lohn!], oder für seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe. Es ist: als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen; mithin mußte auch die, obgleich dunkle Vorstellung von etwas, dem sie nachzustreben sich verbunden fühlten, verborgen liegen, womit ein solcher Ausschlag sich gar nicht zusammenreimen lasse, oder womit, wenn sie den Weltlauf einmal als die einzige Ordnung der Dinge ansahen, sie wiederum jene innere Zweckbestimmung ihres Gemüts nicht zu vereinigen wussten“ (V 587). Der im Anspruch des „moralischen Gesetzes“ entdeckte „Gott in uns“ verbietet es gleichermaßen, „sich gegen jene himmlische Stimme taub zu machen“ (IV 147) und sich der daran geknüpften Wahrnehmung des „Es müsse anders zugehen“ zu verschließen. Es wird zu fragen sein, ob ein solcher Anspruch letztendlich – dies würde Kants Begründung des Status des „Zwecks an sich selbst“ und den darin begründeten „kategorischen Imperativ“ lediglich variieren – in der wahr-genommenen Stimme der Anderen gewissermaßen seine „ratio essendi“ hat (vgl. dazu u. I., 3.2.).160 277), die sich in der „Geschichte der reinen Vernunft“ entfaltet haben und in einem komplementären Sinne zu verstehen sind. Jedoch widersprechen nicht zuletzt die späteren kleineren religionsphilosophischen Schriften Kants der von Krämling vertretenen Auffassung: „Kants abschließende Fassung der Theorie vom höchsten Gut exponiert die praktische Idee von vornherein in ihrer immanenten Bedeutung als ein in der empirisch vorfindlichen Welt zu realisierendes oberstes Handlungsziel aus praktischer Vernunft“ (ebd. 284). So bedeutsam das „höchste politische Gut“ auch in dem Sinne bleibt, dass „die Idee des höchsten Gutes in ihrer immanent-universalen Bedeutung sinnvollerweise nur in einem historisch fortschreitenden Prozeß kooperativen vernünftigen Handelns ‚befördert‘ werden“ kann (ebd.), so hat Kant die unterschiedlichen Perspektiven der „Geschichte der Gattung“ und der „Geschichte der Menschen“ und die entsprechenden unverzichtbaren Aspekte des „höchsten Gutes“ dennoch nie preisgegeben, wie vor allem auch die sehr späten (kleineren) religionsphilosophischen Texte belegen, die Kant noch nach der „Religionsschrift“ veröffentlicht hat. Deshalb bleiben auch die kulturphilosophischen Perspektiven, der „Ordnung der Zwecke“ gemäß, den „wesentlichen“, aber nicht den „höchsten Zwecken“ zugeordnet. 160 Es ist im Sinne dieser darin zu vermittelnden Individualität des „Faktums“ des „dass ich bin“ doch in höchstem Maße bedeutsam, dass noch der späte Kant auf das „doppelte Bewusstsein des Ich“ (das freilich nicht mit einem „doppelten Ich“ verwechselt werden darf!) verweist: „einmal das des bloßen Denkens, dann aber auch der inneren Wahrnehmung (ein rationales und empirisches)… d. i. diskursive und intuitive Apperzeption wovon die erste zur Logik die andere zur Anthropologie (Physiologie) gehört jene ohne Inhalt (Materie des Erkenntnisses) diese von dem inneren Sinne mit einem Inhalte versehen ist“ (VI 427, Anm.). In ausdrücklicher Abgrenzung sowohl von dem erstgenannten (von Kant auch so
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Darin bringt sich noch einmal ein „Urteilen-Müssen“ des „praktischen Vernunftbedürfnisses“ von ganz anderer Art zur Geltung; jenes „(E)twas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ (IV 150) verschafft nunmehr ebenso jener „Stimme“: „es müsse anders zugehen“ (V 587), Gehör und macht dergestalt jene der praktischen Weltweisheit eingeschriebenen „negativen Größen“ sichtbar; dies weist den Menschen (als „vernünftiges Weltwesen“) als jenen „Ort der Negativität“ aus, in dem, über das „moralische Sollen“ der Pflicht hinaus, noch in einer ganz anderen Hinsicht „von einem Soll die Rede ist“. Ist es das den Menschen als existierenden „Endzweck der Schöpfung“ auszeichnende „unbedingte Sollen“, das auch die Möglichkeit eines „Endzwecks“ begründet, so ist er damit auch als derjenige – zwar in die „Naturgeschichte“ eingebundene und doch aus ihr herausgetretene – besondere Ort ausgewiesen, in dem die mögliche Erfahrung radikaler Sinnlosigkeit und „Zweckwidrigkeit“ erst aufbrechen kann: Jener „Ort der Negativität“, die den Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ ausweist und auch dem kantischen Befund zugrunde liegt, „dass ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde“ (V 567) – eine Erfahrung, die gerade ihm als „Endzweck der Schöpfung“ vorbehalten bleibt. Es wird sich später noch zeigen: Jene im „praktischen Vernunftbedürfnis“ verankerte Nötigung des „Urteilen-Müssens“ ist begründet in dem „Nicht-mit-Zustimmung-denken-Können“ (d. h.: Nicht-„WollenKönnen“) sowie in der ebenso unmöglichen bloßen Gleichgültigkeit darüber, dass Vernunft die mögliche Erreichbarkeit der in ihr selbst (als „Vermögen der Prinzipien“ und als „Vermögen der Zwecke“) begründeten Zwecksetzungen dementiert. Es ist solche – zuletzt auf ein „absurdum morale“ hinauslaufende – Vorstellung, auf deren radikale „VerUrteilung“ jenes vernunftgeleitete Urteilen-Müssen geradewegs abzielt. Vor diesem Hintergrund darf eine solche Abgrenzung der den „un-erhörten Anspruch“ des moralischen Gesetzes „in uns“ wahrnehmenden Vernunft (in ihrem „praktischen Gebrauch“) von der das „Übersinnliche außer uns“ ahnenden Vernunft (in ihrem „theoretischen Gebrauch“) wohl auch als eine kritische kantische Version des Levinas’schen Motivs des „Jenseits des Seins“ gelesen werden. Dies gilt ebenso in der besonderen Hinsicht, dass jener „un-erhörte Anspruch“ gleichermaßen die „Ordnung der Welt“ und die daran geknüpfte Transzendenz-Bewegung, „vom Sinnlichen zum Übersinnlichen fortzuschreiten“, sowie damit einhergehende „Verblendungen“ unterbricht: Ein solcher unbedingter „Anspruch“ lässt sich jedenfalls in diese „Ordnung“ nicht einfach integrieren (und subsumieren), erweist sich insofern durchaus als „an-archisch“ (im Levinas’schen Sinne) und gerade deshalb als „zweckmäßig“ im Sinne des „praktischen Vernunftgebrauchs“, von dem bei Kant die Rede ist. bezeichneten „intellektuellen Selbstbewusstsein“) als auch von dem „empirischen Selbstbewusstsein“ (d. h. der empirisch-individuellen Person) stellt Kant sodann den „individuierenden“ Charakter des „kategorischen“ Pflichtimperativs heraus, was freilich begründungstheoretisch schon eine „Priorisierung des Bewusstseins des Sittengesetzes“ gegenüber der Freiheit voraussetzt; Kants Bezug darauf, dass die „Erkenntnis seiner selbst nach derjenigen Beschaffenheit, … was er an sich selbst ist“, „einzig und allein das Bewusstsein seiner [!] Freiheit [ist,] welche ihm durch den kategorischen Pflichtimperativ, also nur durch den höchsten praktischen Vernunft[gebrauch] kund wird“ (VI 429, Anm.), verdient hier nochmals besondere Beachtung; s. dazu o. I., Anm. 34.
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2.2.1. „Ein und dieselbe Vernunft“ und zweierlei Bedürfnis derselben. Ihr „Urteilen-Wollen“ und ihr „Urteilen-Müssen“: Eine neue Verbindung von „Theologie und Moral“ Zweifellos ist jener von Kant gesuchte Aufweis, dass es doch „ein und dieselbe Vernunft“ ist (IV 251), die ihre unabweislichen Ansprüche zwar in differenzierter Weise artikuliert und auch nur in der aus solcher Gegenläufigkeit entstehenden Spannung sich selbst erhält, nicht zuletzt in diesem thematischen Kontext der Differenzierung und Einheit des „theoretischen und praktischen Vernunftgebrauchs“ relevant. Besonderes Interesse verdient diesbezüglich die ausdrückliche (selbst dem „dritten Stadium“ der Metaphysik zugehörige) Unterscheidung eines „zweifachen Vernunftbedürfnisses“, die Kant im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Jacobi (in dem im Jahr 1786 erschienenen Aufsatz „Was heißt: sich im Denken orientieren?“) ausdrücklich vorgenommen hat (und übrigens auch noch in der späten Unterscheidung zwischen „bloß vernünftigem Wesen“ und „Vernunftwesen“ [IV 550161] eine bemerkenswerte sachliche Entsprechung findet): „Man kann aber das Bedürfnis der Vernunft als zwiefach ansehen: erstlich in ihrem theoretischen, zweitens in ihrem praktischen Gebrauch. Das erste Bedürfnis habe ich eben angeführt; aber man sieht wohl, dass es nur bedingt sei, d. i. wir müssen die Existenz Gottes annehmen, wenn [!] wir über die ersten Ursachen alles Zufälligen, vornehmlich in der Ordnung der wirklich in der Welt gelegten Zwecke, urteilen wollen. Weit wichtiger ist das Bedürfnis der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche, weil es unbedingt ist, und wir die Existenz voraus zu setzen nicht bloß alsdann genötigt werden, wenn wir urteilen wollen, sondern weil wir urteilen müssen. Denn der reine praktische Gebrauch der Vernunft besteht in der Vorschrift der moralischen Gesetze. Sie führen aber alle auf die Idee des höchsten Gutes, was in der Welt möglich ist: die Sittlichkeit; von der anderen Seite auch auf das, was nicht bloß auf menschliche Freiheit, sondern auch auf die Natur ankommt, nämlich auf die größte Glückseligkeit, sofern sie in Proportion der ersten ausgeteilt ist“ (III 274).162 So bestätigt sich nochmals ein wichtiges Ergebnis des „drit161 Ungeachtet dessen, dass es doch „ein und dieselbe Vernunft“ in unterschiedlichem „Gebrauch“ ist, bleibt anzumerken, dass für ein solches „Vernunftwesen“ dieser Unbedingtheitsanspruch der Vernunft sich in der nicht nivellierbaren geltungstheoretischen Differenz von „wahr“ und „gut“ artikuliert, in dem sich der nicht naturalistisch eliminierbare „Subjekt-Charakter“ manifestiert (s. dazu die einschlägigen Ausführungen von H. Wagner in seinem sehr lesenswerten Buch „Die Würde des Menschen“. Würzburg 1992). 162 Es ist nicht zu übersehen, dass dieses zweifache Vernunftbedürfnis und der entsprechend unterschiedlich ausgewiesene Gottesgedanke in folgender Unterscheidung des späten Schelling aufgenommen sind: „Dieses also ist es, was das Ich, das der Unseligkeit zu entkommen und sich in seiner Welt selig zu machen sucht, erreichen kann; es scheint auch wirklich sein Genüge zu haben in dem durch die Contemplation erlangten Gut; denn es hat Gott, von dem es sich praktisch losgesagt hat, nun wieder in der Erkenntnis, und in ihm ein Ideal, durch das es sich über sich selbst erhebt, von sich los wird. Allein nur ein ideelles Verhältnis hat es zu diesem Gott; es kann auch kein andres zu ihm haben. Denn die contemplative Wissenschaft führt nur zu dem Gott, der Ende, daher nicht der wirkliche ist, nur zu dem, was seinem Wesen nach Gott ist, nicht zu dem aktuellen. Bei diesem bloß ideellen Gott vermöchte das Ich sich etwa dann zu beruhigen, wenn es beim beschaulichen Leben bleiben könnte. Aber eben dies ist unmöglich. Das Aufgeben des Handelns lässt sich nicht durchsetzen; es muss gehandelt werden. Sobald aber das tätige Leben wieder eintritt, die Wirklichkeit ihr Recht wieder geltend macht, reicht auch der
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ten Stadiums“ der „neueren Metaphysik“: Der aus dem „Schulbegriff der Philosophie“ als „kritisch-grenzbegrifflicher“ Abschlussgedanke resultierenden „Gottesidee“ steht der dadurch erst eröffnete – „Idee und Realität“ in sich vereinende – „Anfangsgedanke“ der „uns durchs moralische Gesetz allererst kundbar“ werdenden „Freiheit“ gegenüber (IV 333), die allein nicht ein Wirkliches intendiert, sondern dieses selbst ist; es ist die in diesem „archimedischen Punkt“ verankerte unauflösliche Verbindung dieser „Ideen“, die sich für Kants Ausblick auf den „Endzweck der Metaphysik“ als richtungsgebend erweisen wird (s. u. III. Teil). Freilich setzt der in jenem „zweifachen Vernunftbedürfnis“ (und dessen notwendiger Vereinigung) artikulierte Anspruch selbst jene schon angeführte Unterscheidung zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ ebenso voraus wie die (darauf begründete) Einheit von „spekulativer Einschränkung und praktischer Erweiterung der reinen Vernunft“. In dieser Differenzierung eines „zweifachen Vernunftbedürfnisses“ ist jener Unterschied zwischen dem „theoretischen“ und dem „praktischen Vernunftgebrauch“ (in der „ersten Kritik“: II 557), derjenige zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“, sowie jene Verknüpfung von „spekulativer Einschränkung und praktischer Erweiterung der reinen Vernunft“ aufgehoben. In jener Unterscheidung zwischen dem unbedingten praktischen „Vernunftbedürfnis“ und dem bedingten theoretischen „Vernunftbedürfnis“ (und ihrer zu wahrenden Einheit) ist jenes berühmte – obgleich mitunter verkürzt wahrgenommene – Lehrstück „Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in Verbindung mit der spekulativen“ in gewisser Weise schon angekündigt.163 Genauer noch wäre zu sagen: Dieses „zweifache Vernunftbedürfnis“ greift auf eine schon in der „ersten Kritik“ angezeigte Unterscheidung zurück und weist ebenso auf die „Postulate der praktischen Vernunft“ voraus. Während die „Hypothese in theoretischer Absicht“ (vgl. II 582 ff ) in ihrem doch sehr eingeschränkten Geltungsanspruch legitimiert werden soll, beruhen die „Postulate der praktischen Vernunft“164 auf einem – allein in jenem „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ verwurzelten – „unbedingten“ Bedürfnis der Vernunft. Diese Differenzierung des Vernunftbedürfnisses, die sich schon für die in der „Verfassung der menschlichen Vernunft“ zutage tretende „teleologia rationis humanae“ (II 700) als maßgebend erweist, fundiert so, dem „Weltbegriff der Philosophie“ gemäß, gleichermaßen den Aufweis einer „der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner
ideelle (passive) Gott nicht mehr zu, und die vorige Verzweiflung kehrt zurück. Denn der Zwiespalt ist nicht aufgehoben. Demnach fragt es sich, was dem Ich noch weiter möglich ist und wohin es sich wenden wird“ (Schelling XI, 568 ff ). 163 Im Sinne dieses „zweifachen Vernunftbedürfnisses“ und gemäß seiner eigenen Mahnung, den „Begriff der Gottheit“ nicht leichtfertig zu „verschwenden“ (vgl. V 562), hätte Kant wohl auch Jacobis berühmten Grundsatz aufnehmen können, dem zufolge „Gott
sich dem Herzen kund“ tue und sich hingegen „denen verberge, die ihn mit dem Verstande allein suchen“ (Jacobi 1976, 240), ohne dass dies schon auf einen „salto mortale“ hinauslaufen müsste. 164 Vgl. Refl. 6111 (AA XVIII, 458): „[D]as moralische [Interesse] aus dem Prinzip des Systems aller Zwecke als dem objektiv notwendigen Endzweck vernünftiger Wesen macht daraus [aus dem „Glauben an Gott“] ein Postulat, d. i. eine schlechterdings notwendige Voraussetzung.“ Vgl. dazu auch Refl. 6099, AA XVIII, 452.
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Erkenntnisvermögen“ (IV 281 ff );165 ebenso begründet dies die daran anknüpfende Vorstellung einer „moralischen Teleologie“. Schon hier wird in Umrissen erkennbar, was sich sodann für Kants Begründung des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ als besonders bedeutsam erweisen wird: Der in dem „Urteilen-Wollen“ verankerte suchende „Aufstieg“ zum Unbedingten bleibt als relatives Vernunftbedürfnis von dem „Urteilen-Müssen“ unterschieden,166 das darin einem „unnachlaßlichen Vernunftgebote gehorcht“ (IV 277),167 d. h. diesem untersteht. In diesem unterschiedlichen Verbindlichkeits- bzw. „Nötigungscharakter“ kommen also divergierende Vernunftansprüche zur Geltung, die Kant in der Postulatenlehre der „zweiten Kritik“ aufnimmt, wobei er das „nur auf Hypothesen“ führende „Bedürfnis der reinen Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauche“ von den auf praktische Vernunftansprüche gestützten Postulaten (IV 276 f )168 als theoretischen „Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht“ (IV 264; 252 f ) explizit unter-
165 Der „moralischen Bestimmung angemessen“ (d. h. „zweckmäßig“) ist diese „kognitive Begrenztheit“ zunächst schon hinsichtlich der „Nichterklärbarkeit“ des „Bösen“; als „unentbehrlich“ erweist sie sich ebenso „für eine zwangfreie Moral und ermöglicht den Zwischenraum, in dem die Frage ‚Was darf ich hoffen[?]‘ gestellt werden kann“ (O’Neill 2003, 100). Dies entspricht vermutlich eher der Intention Kants als Derridas Interpretationsvorschlag (2001, 23): „Wo er [Kant] den ‚reflektierenden‘ Glauben bestimmt und jenes, was unablösbar die Idee der reinen Moralität an die christliche Offenbarung bindet, bezieht sich Kant auf die Logik eines einfachen Grundsatzes … um sich moralisch zu verhalten, um moralisch zu handeln, muss man letztlich so tun, als würde es Gott nicht geben oder als würde er sich nicht um unser Heil kümmern. Genau dieses ist moralisch und folglich christlich, zumindest dann, wenn es einem Christen obliegt, moralisch zu sein: nicht an Gott sich zu wenden in dem Augenblick, in dem man im Sinne des guten Willens handelt, sich so zu verhalten, als hätte Gott uns verlassen“. 166 In der Vorrede zur „zweiten Kritik“ ist diese Unterscheidung aufgenommen: Dieses Vernunftbedürfnis sei „nicht etwa ein hypothetisches einer beliebigen Absicht der Spekulation, dass man etwas annehmen müsse, wenn man zur Vollendung des Vernunftgebrauchs in der Spekulation hinaufsteigen will, sondern ein gesetzliches, etwas anzunehmen, ohne welches nicht geschehen kann, was man sich zur Absicht seines Tuns und Lassens unnachlasslich setzen soll“ (IV 109). In jenem „zweifachen Vernunftbedürfnis“ und ihrem Verhältnis zueinander ist unverkennbar sowohl das spätere Lehrstück „Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249 ff ) als auch die Kennzeichnung des Postulates als eines „einem apriori unbedingt geltenden praktischen Gesetze“ unzertrennlich anhängenden „theoretischen Satzes“ (IV 252 f ) schon vorbereitet. 167 Kants gelegentliche Auskunft: „Nun bedarf die Vernunft ein solches abhängiges höchstes Gut und zum Behuf desselben eine oberste Intelligenz als höchstes unabhängiges Gut anzunehmen“ (III 274), ist freilich missverständlich bzw. jedenfalls zweideutig, sofern darin verschiedene Ebenen nicht genau unterschieden bleiben: Zunächst besagt dies, dass ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“ (ganz im Sinne der diesbezüglichen kantischen Kritik an der Stoa) sich nicht mit bloßer „Glückswürdigkeit“ begnügen kann; zum anderen darf dies auch so verstanden werden, dass die „metaphysische Vernunft“ in ihrer notwendigen Idee des „Praktisch-Unbedingten“ das „absolut Gute“ (als „oberstes Gut“) von dem „vollendeten Gut“ unterscheiden und doch beide („Elemente“) zugleich als Einheit denken muss und im „ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft“ vereint. 168 Dass Kant hier direkt jene Unterscheidung des Vernunftbedürfnisses aus dem „Orientierungs“-Aufsatz aufnimmt, ist nicht zu übersehen: Den auf die Befriedigung der „forschenden Vernunft“ abzielenden (erlaubten) „Hypothesen“ wird das „auf einer Pflicht“ gegründete (schlechterdings notwendige) „Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft“ (IV 276) gegenübergestellt. Im Unterschied zur Ersteren ist es der „reine Vernunftwille“, „der hier nicht wählt, sondern einem unnachlaßlichen Vernunftgebote gehorcht“ (IV 276), und dem auch seine „Unbedingtheit“ verdankt. Wichtig ist hier freilich Kants Hinweis, dass dieser Rekurs auf das „höchste Gut“ „durch reine Vernunft allgemein beurteilt werden“ müsse (IV 277).
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scheidet169 und dergestalt ein darin sich artikulierendes differenziertes „Interesse der Vernunft“ – dasjenige der „forschenden“ und der „fragenden Vernunft“ – sichtbar macht.170 Lediglich eine Folgerung daraus ist dies: Während der „theoretische Vernunftgebrauch“ sich auf die Idee einer „obersten Intelligenz“ unter der Voraussetzung verwiesen sieht, dass die Einheit und Totalität der Erscheinungen gemäß einer umfassenden Welterkenntnis und die „Zweckmäßigkeit und Ordnung“ der Welt bedacht sein sollen, zielt hingegen die reine „praktische Vernunft“ darauf ab, was nach Freiheitsgesetzen „geschehen soll“ (IV 58), während erst der vollständige praktische Vernunftgebrauch sich daran orientiert, was (durch „Moralität“ lediglich „befördert“) „dasein soll“ (II 557), d. h. dem „Weltbesten“ als „Endzweck“ entspricht,171 dessen die Vernunft als „abhängiges höchstes 169 Diese Unterscheidung hat Kant allerdings nicht immer streng beibehalten, so etwa, wenn von einer „bloß notwendige(n) Hypothesis“ (IV 117, Anm.) die Rede ist und diese als ein „Postulat in praktischer Absicht“ (IV 277) bezeichnet, im Unterschied zu einer bloß „erlaubten Hypothese“. Bezüglich der in diesen (theoretischen und praktischen) „Voraussetzungs“-Bestimmungen auftretenden Unterscheidung von „Hypothesen“ und „Postulaten“ sei darauf hingewiesen, dass im Kontext der kantischen Ausführungen über „Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen“ (II 652 ff ) die Ideen als „Vernunftbegriffe“ auch als „heuristische Fiktionen“ (II 653) bezeichnet werden. Für die kantische Differenzierung dieser unterschiedlichen „Voraussetzungen“ wäre im Einzelnen der Einfluss der Wolff’schen Metaphysik genau zu untersuchen, in dessen „Deutsche(r) Metaphysik“ sich jedenfalls diese Kennzeichnungen (bis hin zur richtungsweisenden Konzeption eines „intellectus systematicus“) finden (bes. §§ 362–367). Vermutlich hat Wolffs (an Leibniz anschließende) Version der „ars inveniendi et judicandi“ auch auf die kritische Analogie-Lehre Kants und auf die für sein „kritisches Geschäft“ so wichtig gewordene Unterscheidung zwischen „konstitutiven und regulativen Prinzipien“ bzw. zwischen „suppositio absoluta“ und „suppositio relativa“ einen (obgleich „regulativ“ eingeschränkten) Einfluss ausgeübt; dem wäre auch bezüglich der von Kant erst später gewonnenen Unterscheidung zwischen „Vernunftideen“ und „Prinzipien der Urteilskraft“ nachzugehen. 170 Freilich, schon in der Schlussanmerkung der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ klingt dies an (was Kant in seiner Begründung des „Primats der praktischen Vernunft …“ in der „zweiten Kritik“ dann aufnehmen wird): „Der spekulative Gebrauch der Vernunft in Ansehung der Natur führt auf absolute Notwendigkeit irgendeiner obersten Ursache der Welt; der praktische Gebrauch der Vernunft, in Absicht auf die [freilich erst im „moralischen Gesetz“ offenbar werdenden] Freiheit, führt auch auf absolute Notwendigkeit, aber nur der Gesetze der Handlungen des vernünftigen Wesens, als eines solchen“ (IV 101). Indes, der unterschiedliche Richtungssinn dieses „rastlos gesuchten“ „Unbedingt-Notwendigen“ ist damit noch nicht thematisiert – eine entscheidende Differenzierung, die sodann die Begründungsfigur des „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“ allererst legitimiert. Jene (im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Jacobi vorgenommene) Unterscheidung zwischen dem „Urteilen-Wollen“ und dem „UrteilenMüssen“, die dem zweifachen Vernunftbedürfnis entspricht, wäre im Blick auf Jacobi vielleicht auch so zu formulieren, dass in diesem „Urteilen-Müssen“ die „Vernunft den Menschen hat“, während die zu den „ersten Ursachen alles Zufälligen“ erst aufsteigen wollenden „Vernunfthypothesen“ ihre Gründe und „Überzeugungen“ suchen. 171 Dieser Unterscheidung entspricht es offenbar, wenn Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der „Religionsschrift“ sodann betonte, dass ohne jeden Zweckbezug „eine Willkür, die sich keinen, weder objektiv noch subjektiv bestimmten Gegenstand (den sie hat oder haben sollte) zur vorhabenden Handlung hinzudenkt, zwar wie sie, aber nicht wohin sie zu wirken habe, angewiesen, sich selbst nicht Gnüge tun kann“ (IV 651). In jener zu denkenden Einheit, „wie“ und „wohin“ Freiheit „zu wirken habe“, sind die Bestimmungen der Vernunft als das „Vermögen der Prinzipien“ und als „Vermögen der Zwecke“ untrennbar vereint. Es wird sich zeigen: Bricht mit dem Anspruch des moralischen Gesetzes ein „Unbedingtes“ in den Raum des Bedingten ein, das sich darin als „oberstes Gut“ Geltung verschafft, so ist es gleichermaßen eben solche „Unbedingtheit“, die wiederum über diese Welt in der unabweislichen Frage nach dem „höchsten Gut“ in differenzierten Ansprüchen hinausweist und so, im Sinne einer Explikation der Idee der „moralischen Welt“, ein sehr breites Spektrum an notwendigen Differenzierungen bzw. Akzentuierungen dieser „Vernunftidee“ eröffnet.
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Gut“ bedarf (III 274); und zwar nicht bloß deshalb, weil „vernünftige Weltwesen“ eben auch bezüglich eines gleichsam „geahnten“ Übersinnlichen urteilen wollen, sondern weil sie angesichts des unbedingten Anspruchs des moralischen Gesetzes vielmehr urteilen müssen. Ist es doch dieses „zwiefache“ Vernunftbedürfnis, das auch, dem „Weltbegriff der Philosophie“ gemäß, die „moralische Teleologie“ konstituiert und derart jenem Gedanken von dem der „praktischen Bestimmung des Menschen proportionierten Erkenntnisvermögen“ (vgl. IV 281 ff ) zugrunde liegt. Nur nebenbei sei noch angemerkt, dass diesem „zwiefachen Vernunftbedürfnis“ nicht zuletzt auch die Unterscheidung zwischen der theoretischen Vernunftidee der „Welt“ (als „Totalität“) und der praktischen Vernunftidee der „moralischen Welt“ („mundus optimus“) korrespondiert. Dass letztlich „alles Interesse praktisch ist und auch das spekulative Vernunftinteresse dadurch bedingt sei“ (IV 252), expliziert dieses Motiv sodann im Kontext der Postulatenlehre.172 Es wird sich zeigen: „Erhofft“ wird vornehmlich dies, dass diese (von Leibniz übernommene und von Kant kritisch gerechtfertigte) Idee einer „moralischen Welt“ als eine von der praktischen Vernunft zwar selbst gemachte „Vernunftidee“ letztlich „nicht in aller Beziehung für leer zu halten“ ist (VI 181), d. h. eine Idee ohne jede „Bewandtnis“ bleibt. Darin, so wird sich zeigen, bringt sich eine „Willensbestimmung von besonderer Art“ zur Geltung, die selbst moralisch verankert ist und folglich ohne (moralischen) Selbstwiderspruch auch nicht negiert werden kann, ohne (moralische) Inkonsequenz jedoch auch keine diesbezügliche Indifferenz erlaubt. In jener angeführten Unterscheidung zwischen dem (sei es auch notwendigerweise) „erdachten“ theoretischen und dem wahren praktischen „Ideal“ spiegelt sich indes nicht nur diejenige zwischen „Vernunftwesen“ und „vernünftigem Wesen“ wider – für Letzteres ist das „Ideal der Vernunft“ auch tatsächlich am weitesten von der Realität entfernt (II 512 f ). Diesem Unterschied entspricht auch jene die menschliche Existenz konstituierende Einheit des (bedingten) „Bedürfnisses der Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch“ mit dem (unbedingten) „Bedürfnis in ihrem praktischen Gebrauch“, worin „endliche Vernunft“ in differenzierter Weise sich selbst erhält und solcherart die Weltstellung dieses „vernünftigen Weltwesens“ als „copula von Endlichem und Unendlichem“ („Welt und Gott“) erst konkretisiert und dessen „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“ (vgl. IV 275) begründet. Demnach bleibt jenes auf dem eingeschlagenen „Weg der bloßen Spekulation“ sich manifestierende „große Interesse“ der reinen Vernunft noch von jenem „höchsten Interesse“ der „reinen praktischen Vernunft“ abzugrenzen, das explizit in der Unterscheidung zwischen dem (bloß bedingten) „Bedürfnis der reinen Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauche“ und dem unbedingten „Bedürfnis“ der „reinen praktischen Vernunft“ zum Ausdruck kommt (die auch jener Begründung des „Primat[s] der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ zugrunde liegt und worin sich 172 Zu dem unseren sittlichen Beweggründen angemessenen Licht der Erkenntnis vgl. auch Refl. 5495, AA XVIII, 198. Mögen also in wissenschaftlicher Hinsicht (und im Sinne des „methodischen Atheismus“ der Wissenschaften) die Gottesthematik und damit verbundene Fragen notwendigerweise irrelevant sein („etsi deus non daretur“), so sind sie nach Kant gleichwohl für die orientierungsbedürftige Existenz des Menschen und für dessen Selbstverständnis von höchster Bedeutung und deshalb unabweislich.
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erst die „ganze Bestimmung des Menschen“ widerspiegelt). Jenseits bloßer „Schwärmerei“ wird darin in einer endgültigen Hinsicht – weil gleichermaßen den theoretischen wie auch praktischen Vernunftansprüchen genügend – vor Augen geführt, dass und weshalb die bloße „Erfahrung der Vernunft niemals völlig Gnüge“ tut (III 226). Als ein besonderer Aspekt der „teleologia rationis humanae“ wird sich in solcher Hinsicht erweisen, dass Kants umfassende Bestimmung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ erst in dem vereinigenden Zusammenschluss jener beiden gegenläufigen – jedoch in der „Einheit der Vernunft“ verankerten – „Vernunftbedürfnisse“ ihre Vollendung findet und dies sodann auch auf seine späte Auszeichnung des Menschen als „denkendes Wesen“, welches „Gott und die Welt verknüpft“173 (d. h. solcherart als „copula von Endlichem und Unendlichem“ fungiert) ein besonderes Licht wirft. Diese zwar – in solcher Ausdrücklichkeit – erst späte Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen gründet gleichermaßen in ihrer weltlichen Faktizität wie auch in dem ihm uneinholbaren wissenden Selbstbezug und im je einmaligen „Für-sich-Sein“ als „moralische Persönlichkeit“174 und impliziert ebenso das Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ als „Faktum der Vernunft“. Es wird sich im folgenden Kapitel genauerhin zeigen: Als das einzige „Noumenon in positiver Bedeutung“ (II 277) füllt die darin „offenbar gewordene“ Freiheit den für das „Intelligible“ grenzbegrifflich-negativ „leer gehaltenen Platz“ aus (vgl. auch III 342 f; IV 163 f ) und eröffnet allein in solchem Standpunkt jene schon angezeigte – in jenem „Urteilen-Müssen“ sich manifestierende – „Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind“ (IV 235).175 173 Kant AA XXI, 36. 174 Derart steht diese kantische „copula“-Bestimmung des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ vermutlich jenem von Henrich betonten Sachverhalt durchaus nahe, „dass sich das seiner selbst bewusste Wesen aus sich selbst heraus in die Mitte zwischen den Grund seiner Möglichkeit und die ihm erschlossene Welt setzt. Wenn es danach fragen muss, was ihm in dieser Welt entspricht, so ist es ihm um so mehr nahegelegt, zwischen dem Grund seiner Möglichkeit und dem, was es selbst ist, eine Korrespondenz in der Verfassung zu unterstellen“ (Henrich 2006, 237). 175 Die wohl konzentrierteste Formulierung dieser Bestimmungen findet sich in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ (in dem Abschnitt über die „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten“), worin jenes Motiv der „durch die Tat“ ihre „Realität beweisenden“ reinen praktischen Vernunft (aus der Vorrede zur „zweiten Kritik“: IV 107) unverkennbar aufgenommen ist: „Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die theoretische Philosophie transzendent, d. i. ein solcher ist, dem kein angemessenes Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntnis ausmacht, und schlechterdings nicht für ein konstitutives, sondern lediglich als regulatives und zwar nur bloß negatives Prinzip der spekulativen Vernunft gelten kann, im praktischen Gebrauch derselben aber seine Realität durch praktische Grundsätze beweiset, die, als Gesetze, eine Kausalität der reinen Vernunft, unabhängig von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt), die Willkür bestimmen und einen reinen Willen in uns beweisen, in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben. Auf diesem (in praktischer Rücksicht) positiven Begriffe der Freiheit gründen sich unbedingte praktische Gesetze, welche moralisch heißen, die in Ansehung unser, deren Willkür sinnlich affiziert und so dem reinen Willen nicht von selbst angemessen, sondern oft widerstrebend ist, Imperativen (Gebote oder Verbote) und zwar kategorische (unbedingte) Imperativen sind, wodurch sie sich von den technischen (den Kunst-Vorschriften), als die jederzeit nur bedingt gebieten, unterscheiden …“ (IV 326 f ). Hier ist die „objektive Realität“ dieser Idee der Freiheit und der „damit zusammenhängenden Begriffe“ in ihrer moral-konstituierenden Bedeutung besonders deutlich ausgesprochen; freilich, erst in der gemäß der Un-
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Es bestätigt sich: Die auch für die Begründung des „Primats des Praktischen“ maßgebende „Revolution“ erschöpft sich somit keinesfalls einfach in der Zurückstufung der platonisierenden Ideenschau auf den regulativen Gebrauch der Prinzipien der endlichen Vernunft; vielmehr zielt sie – dies spiegelt sich auch in der kantischen Differenzierung eines zweifachen „Vernunftbedürfnisses“ wider – vornehmlich darauf ab, jenes „Vernehmen“ der Vernunft aus dem „Übersinnlich-Ungeschauten“ zunächst im Sinne der Sensibilität des „vernünftigen Weltwesens“ für den „unerhörten“ Anspruch des „moralischen Gesetzes“ zu relativieren. Eben ein solcher „Anspruch“ macht deutlich, dass das „von der objektiven Realität“ lediglich am weitesten entfernt scheinende Ideal (II 512), d. h. die darin maßgebende „Unbedingtheit“, „jenen Primat der praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249) zu begründen vermag. So impliziert das Programm der kantischen Vernunftkritik nicht zuletzt auch, dass der Anspruch des Un-Erschaubaren demjenigen des Un-Erhörten erst „Platz verschafft“ und dergestalt über die „Einschränkung des spekulativen“ die „Erweiterung des praktischen Vernunftgebrauchs“ eröffnet. Ein systematisch höchst bedeutsames – später noch ausführlich zu erörterndes – Motiv klingt hier schon an: Denn in dieser notwendigen Komplementarität von „spekulativer Einschränkung der reinen Vernunft und praktische(r) Erweiterung derselben“ (IV 275) enthüllt sich ja keineswegs ein zu überwindender bzw. zu kompensierender Mangel; vielmehr bestätigt solche Komplementarität lediglich die in dem „Weltbegriff der Philosophie“ maßgebende Idee einer „teleologia rationis humanae“, die allein die „Selbsterhaltung der Vernunft“ – diejenige eines „vernünftigen Weltwesens“ – zu gewährleisten vermag. Es ist unverkennbar diese – übrigens einen ganz wesentlichen Aspekt der „teleologia rationis humanae“ und auch der Idee der „moralischen Teleologie“ explizierende – Gedankenfigur, die Kant auch in seiner Bestimmung des komplementären Verhältnisses von „Einschränkung“ der „spekulativen Vernunftansprüche“ und der „Erweiterung“ praktischer Vernunft zugrunde legt, worin sich die „teleologia rationis humanae“ widerspiegelt und die so die Selbsterhaltung der Vernunft, deren „Mit-sich-einstimmig-Sein“, erst ermöglicht. Jene Unterscheidung eines „zwiefachen Bedürfnisses der Vernunft“ (und die darauf beruhende Begründung des „Primat[s] der praktischen Vernunft …“) darf, wie sich zeigen soll, auch als Kants Versuch gelesen werden, die Ansprüche jenes nur „relativ Unbedingten“ durch seine regulative Depotenzierung einzuschränken, um dieserart – also der Absicht, „zum Glauben Platz zu bekommen“, noch vorgelagert – für unabweisliche Ansprüche des „absolut Unbedingten“ (als des „Übersinnlichen in uns“) „Platz zu bekommen“; erst dies erlaubt es, einen Raum für ein „Unbedingtes“ (als des „Übersinnlichen außer uns“) zu eröffnen, d. h. ein unabweisliches Interesse der fragenden Vernunft zu befriedigen. Dies ist jedenfalls ein unverlierbares Ergebnis jener Ausmessung des Vernunfthorizontes eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“, das auf solche Weise den Blick auf die in Kants Bestimmung des „Weltbegriffs der Philosophie“ maßgebende Weltstellung und „Bestimmung“ des Menschen lenkt; damit wird auch – lediglich neu akzentuiert – terscheidung von „ratio cognoscendi“ und „ratio essendi“ vollzogenen Bestimmung des „moralischen Gesetzes“ und der „Freiheit“ ist der Anspruch der frühen Freiheitslehre überwunden, die somit auch auf den zunächst geltend gemachten Erweis der „praktischen Freiheit“ ein neues Licht wirft.
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sein Verweis darauf, dass die „letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellet“ sei (II 674),176 nochmals eindrucksvoll bestätigt. Dass diese Gedankenfigur wichtige Anknüpfungspunkte für den Aufweis enthält, wie „Moral und Religion unzertrennlich verbunden“ sind, innerhalb dessen auch die späte kantische Trias „Gott über mir, die Welt außer mir, der menschliche Geist in mir“177 als höchst bedeutsam erscheint, wird sich noch zeigen (s. u. III., 2.). Sind in dem in diesem „dritten Stadium der Metaphysik“ freigelegten „zweifachen Vernunftbedürfnis“ also auch „Theologie und Moral“ verankert, aus deren „Verbindung“, schon der „ersten Kritik“ zufolge (II 338, Anm.), „Religion“ erst hervorgehen soll,178 so ist damit auch erst der eigentliche Ausgangspunkt der kantischen Religionsphilosophie erreicht, die nunmehr den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ begründen und ihn gleichermaßen explizieren soll. Dieser erst dem „dritten Stadium der Metaphysik“ zugeordnete „praktisch-dogmatische Überschritt“ verläuft selbst wiederum in gestufter Weise, die in dem von Kant intendierten Aufweis, wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“, recht unterschiedliche Akzente sichtbar macht. Ebenso findet auf diesem gestuften Weg und „Überschritt“ die „teleologia rationis humanae“ ihre Entfaltung und gelangt darin auch an ihr Ende, weil sich Letztere ohne die damit einhergehende reflexive Selbstbegrenzung auf diesen erklommenen Höhen erneut von umnebelnder Orientierungslosigkeit und Vermessenheit bedroht sehen müsste. 2.2.2. Der im „Bedürfnis der praktischen Vernunft“ verankerte „Weltbegriff der Philosophie“: Die notwendige Differenzierung der „wesentlichen“ und der „höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ Es hat sich schon gezeigt, dass der späte Kant mit diesen in der „fortgehenden Kultur des menschlichen Vernunftvermögens“ zutage tretenden Differenzierungen des „Weltbegriffs der Philosophie“ ausdrücklich den Anspruch einer „aufgeklärten Denkungsart“ verknüpfte, der auch eine systematische Besinnung auf jene „Rangordnung der Zwecke“ impliziert, ohne die ein vernunftorientiertes Leben, „den höchsten Zwecken“ 176 Diese „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ (II 582 ff ), die auf den „letzten Zweck des reinen Gebrauchs unserer Vernunft“ abzielt, hat Kant – bezeichnenderweise am Ende der bzw. schon im „Anhang zur transzendentalen Dialektik“ – folgendermaßen charakterisiert: „Die ganze Zurüstung also der Vernunft, in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kann, ist in der Tat nur auf die drei gedachten Probleme [„die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes“] gerichtet. Diese selber aber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nämlich, was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist. Da dieses nun unser Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet.“ 177 AA XXI, 39. 178 „Religion ist von Theologie unterschieden; denn jenes ist Erkenntnis Gottes mit Moralität verbunden“ (AA XXVIII, 1238). Deshalb ist für die Fundierung der „Vernunftreligion“ die Ausbildung von „Theologie und Moral“ in ihrer „Reinigkeit“ vorausgesetzt. Gleichwohl führt eine in der Idee der „moralischen Teleologie“ verankerte „Theologie auch unmittelbar zur Religion“ (V 614 f ).
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gemäß, nicht möglich ist: „Philosophia (doctrina sapientia) ist nicht eine Kunst von dem was aus dem Menschen zu machen ist, sondern was er aus sich selbst machen soll ‚sapere aude‘. Versuche dich Deiner eigenen Vernunft zu Deinen wahren absoluten Zwecken zu bedienen. – Dazu wird keine Wissenschaft (scientia) erfordert. Die Lehre des obersten Zwecks (Gebot) weiß jeder.“179 Demzufolge beschränkt sich die solcherart erweiterte „aufgeklärte Denkungsart“ keineswegs bloß darauf, sich nicht dem „Zustand einer passiven Vernunft“ (V 391) auszuliefern, und begnügt sich auch nicht mit der bloßen Abwehr eines „moralischen“ bzw. „logischen Solipsismus“. Ihr kritisches Programm und „Wahlspruch“ erschöpfen sich demzufolge gerade noch nicht in der berühmten Aufforderung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (VI 53),180 zumal dies dem Orientierungsanspruch eines „endlichen Vernunftwesens“ im Ausgriff auf das Ganze der „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811) keinesfalls schon genügt. Schon deshalb muss sich auch eine Reduktion der Vernunftansprüche auf die Ebene des einzelwissenschaftlichen Verstandes verbieten, weil andernfalls eine Borniertheit von besonderer Art die unvermeidliche Folge wäre. Einer wahrhaft aufgeklärten Denkungsart sei doch, über die üblicherweise maßgebenden Kennzeichnungen dersel179 AA XXI, 117. – Diese Formulierung ist wohl unmissverständlicher – vor allem aber auch wesentlich provokanter! – als die berühmte Kennzeichnung der Aufklärung (aus dem „Aufklärungs-Aufsatz“): „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ (VI 53). Vgl. AA XXI, 134: „Zu allem Wissen (Scientia) dessen sich der vernünftelnde Mensch zu seinem Wohlsein bedienen kann, ist das Selbsterkenntnis (nosce te ipsum) ein Gebot der Vernunft welches Alles enthält: sapere aude sei weise: Ein Besitz, der wenn man an sich nicht schon in seinem Besitz ist, zu ihm auch nicht gelangt.“ Freilich wollte Kant auch ohne Zögern einräumen, dass diese „Bestrebung zur Weisheit … jederzeit unvollendet ist“ (AA XXI, 6), und „Aufklärung zwar in thesi leicht, in hypothesi aber eine schwere und langsam auszuführende Sache“ (V 390) sei. Die (von Kant selbst aufgenommene) Aufforderung „Sapere aude!“, der seine Übersetzung freilich einen besonderen Akzent verleiht, enthält ebenso die Aufforderung, gegen szientistische Borniertheit anzukämpfen wie auch „Faulheit und Feigheit“ zu überwinden und sich auch nicht zeitgeistigen „Idolen“, welcher Art auch immer, zu überlassen. – Jene oben angeführte Aufforderung Kants, sich der Vernunft zu den „wahren absoluten Zwecken zu bedienen“, steht offenbar sachlich in auffälliger Nähe zu Lichtenbergs Aphorismus: „Aufklärung in allen Ständen besteht eigentlich in richtigen Begriffen von unsern wesentlichen Bedürfnissen“ (Lichtenberg 1984, 370). 180 Diese Ermutigung, sich „seines eigenen Verstandes zu bedienen“, ist geknüpft an die Erinnerung daran, dass solche „Verständigkeit“ eben die Verpflichtung zur Überwindung jedes „Solipsismus“ impliziert, d. h. die Bereitschaft (ja sogar das „Bestreben“), „sein Urteil an dem Urteil anderer“ zu prüfen; daran knüpft sich die Forderung, diese Ebene des „Verstandes“ nicht mit derjenigen der „Vernunft“ zu verwechseln und verlangt somit die Aufmerksamkeit für diesbezüglich drohende Nivellierungen. Dies begründet auch die geforderte Offenheit für Fragen und Ansprüche, welche die „höchsten Zwecke“ menschlichen Daseins berühren, und als solche weder positiv noch negativ auf der Ebene „empiristischer“ Maßstäbe zu entscheiden und somit auch nicht als bloßer „Ausdruck“ bzw. als metaphyische Verwirrungen eines „Lebensgefühls“ von „Musikern ohne musikalische Fähigkeiten“ (R. Carnap) abzutun sind. Ergänzt werden diese letztgenannten Aspekte freilich noch dadurch: „Aber in den Darstellungen der zur Moralität, welche das Wesen aller Religion ausmacht, mithin zur reinen Vernunft gehörigen Begriffen (Ideen genannt), das Symbolische vom Intellektuellen (Gottesdienst von Religion), die zwar einige Zeit hindurch nützliche und nötige Hülle von der Sache selbst zu unterscheiden, ist Aufklärung; weil sonst ein Ideal (der reinen praktischen Vernunft) gegen ein Idol vertauscht und der Endzweck verfehlt wird“ (VI 498). – Zu den vielfältigen Aspekten und Facetten des Themas „Aufklärung“ bei Kant s. die sehr lesenswerten Beiträge in Klemme 2009.
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ben hinaus, im Sinne einer „vernünftigen Weltorientierung“ vornehmlich daran gelegen, den praktischen Orientierungs- und Sinnhorizont vor Verengungen zu bewahren und sich demgegenüber in einer umgreifenden Weise der „Leitung der Vernunft“ und ihren „höchsten Zwecken“ zu unterstellen. Beachtenswert ist dabei also vor allem dies – eine kantische Kritik an einer über sich selbst nicht aufgeklärten Aufklärung: Ohne eine solche kritische Orientierung an den „höchsten Zwecken der Vernunft“ wäre nach Kant von einer „aufgeklärten Denkungsart“ gar nicht zu reden. Dies zeigt, wie eng das unverkürzte Programm der „Aufklärung“ ihm zufolge mit dem Thema der „ganzen Bestimmung des Menschen“ zusammenhängt.181 Zu einer solchen Klärung bzw. Klarheit über die existenz-orientierenden „Zwecke der Freiheit“ und deren „Rangordnung“ gelangt freilich nur ein endliches Vernunftwesen, dem daran „ursprünglich gelegen ist“, weil es „jedermann notwendig interessiert“, und das allein in diesen maßgebenden Ideen im einigenden „Ganzen seiner Existenz“ auch seine Selbstverständigung und gleichermaßen sein Einverständnis dazu gewinnt. Sich seines „eigenen Verstandes zu bedienen“ erschöpft nach Kant jedenfalls noch nicht die Sinnintention der Aufklärung, ist Letztere doch an die Orientierung an den „wahren absoluten Zwecken“ geknüpft; die Kennzeichnung des „Weltbegriffs der Philosophie“ als „Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ (II 700) steht dem offensichtlich nahe. Damit ist wohl auch der Kernpunkt der für seinen „Weltbegriff der Philosophie“ bestimmenden Idee der „Weisheit“ berührt. Wenn die in diesem „Weltbegriff der Philosophie“ maßgebende Leitidee einer „Rangordnung der Zwecke“ mit derlei Zielsetzung gleichermaßen eine Begrenzung der damit verbundenen Ansprüche unumgänglich macht, so impliziert dies vor allem auch die schon angezeigte Forderung, dass alles Wissen in Philosophie und Einzelwissenschaft letztendlich auf den Menschen, auf die letzten Zwecke und möglichen Sinngebungen seiner Existenz ausgerichtet bleiben muss,182 was freilich schon in jener so elementaren kantischen Unterscheidung von „Verstand“ und „Vernunft“ begründet ist, ohne indes damit wiederum schiefe Disjunktionen zu begünstigen 181 In diesem Sinne geht es Kant unübersehbar um eine Philosophie, die sich daran orientiert, „ihr Denken in den Dienst einer unverkürzten Möglichkeit des Menschenlebens zu stellen“, und dergestalt „eine Weise des Verstehens entfalten“ will, „in der das Bewusstsein es vermag, sich … in Übereinstimmung mit dem zu vollziehen, was das Eigentümliche seiner Grundverfassung ausmacht“ (Henrich 1982b, 105 f ). Wohl in diesem Sinne hat schon der frühe Kant angemerkt: „Der letzte Zweck ist die Bestimmung des Menschen zu finden“ (AA XX, 175). 182 Zu diesem „Existenz“-Begriff s. u. IV., 1.1. Schon die frühe Reflexion 1652 (AA XVI, 66) hat „Weisheit“ als „die Beziehung zu den wesentlichen Zwecken der Menschheit“ bestimmt, in denen sich „menschliche Existenz“ auch im Ganzen „beschließen“ mag. Auch darin geht es also vorrangig um jene ein Sich-Verstehen und auch Einverständnis ermöglichenden „letzte(n) Gedanken, in denen sich ein Leben zu sammeln vermöchte“, d. h. (für es) „definitive Bedeutung“ gewinnt (Henrich 1999a, 84). Wohl ganz im Sinne des unverkürzten (kantischen) Programms der „Aufklärung“ hat Henrich auch ausdrücklich betont: „In einer Zeit, die von der fortschreitenden Wissenschaft und der verfeinerten Begriffsanalyse entweder theoretisches Heil erwartet oder die endgültige Befriedung und Befriedigung in theoretischer Enthaltsamkeit, muss der Kantische Imperativ ‚sapere aude!‘ das ‚speculari aude!‘ betont in sich aufnehmen: Habe den Mut, über Deine Welt hinauszudenken, um sie und zumal Dich selbst in ihr zu begreifen“ (Henrich 1982c, 181).
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oder irrationale „Sonderwelten“ zu errichten. Von diesen Fragen abzusehen wäre nach Kant nicht der Aufbruch in ein aufgeklärtes Zeitalter, sondern liefe eher auf eine Selbstbornierung und auf eine selbstverordnete Unmündigkeit der besonderen Art hinaus. Ziel der Aufklärung ist Kant zufolge sowohl die „Befreiung vom Aberglauben“ (V 390) wie auch, und nicht weniger, von jener Borniertheit und Blindheit, die „den Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht“ – ebenso freilich die Kritik eines („szientistischen“) „Unglaubens“.183 Gerade im Blick auf die intendierte „Selbsterhaltung der Vernunft“ bleibt indes darauf zu achten, dass sich das leitende Interesse der „Aufklärung der Vernunft“ gleichermaßen an der „Befreiung vom Aberglauben“ und an der Überwindung eines „Vernunftunglaubens“, d. h. seiner widersprüchlichen „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis“ (III 282), orientiert, der von einem „positivistisch“ orientierten theoretischen „Unglauben“ genau zu unterscheiden bleibt. Gegen die auf beiden Seiten zutage tretende prinzipielle Vermessenheit wendet sich Kants Mahnung: „Wahre Metaphysik kennt die Grenzen der menschlichen Vernunft“ (V 165) – gerade auch in den über die bloße „Kritik“ hinausgehenden Ansprüchen. Erst die Verknüpfung all dieser Momente begründet nach Kant also eine „aufgeklärte Denkungsart“ in umfassender Weise.184 Kant wusste jedenfalls auch, dass BescheidWissen zum einen mit „Sich-Bescheiden“, mit „Bescheidenheit“, d. i. mit einer „durch Kritik seiner eigenen Vernunft“ erreichten „Mäßigung in Ansprüchen“ (III 393), zu tun hat,185 ebenso jedoch mit der Weigerung, unverzichtbare Vernunftansprüche aus den Augen zu verlieren bzw. diese leichtfertig – und sei es in Berufung auf „aufgeklärte Vernunft“ – preiszugeben. Denn allein in dieser Spannung selbst ist jene gesuchte „Selbsterkenntnis der Vernunft“ gewährleistet, die den jeweiligen Intentionen der Leitfragen 183 Ihn charakterisierte Kant als die „Maxime, keinen andern Erfahrungsgebrauch der Vernunft (mithin gar keinen Gebrauch der Vernunft) einzuräumen als in Ansehung eines Gegenstandes der Erfahrung. Also muss er alles, was nicht Gegenstand der Sinne ist, entweder für unmöglich halten … oder dem Erfahrungsgebrauche der Vernunft und also den Maximen ihres Gebrauchs überhaupt zuwider, wenigstens als entbehrlich und ganz grundlos, solches anzunehmen, z. B. Gott …, der kein Gegenstand der Erfahrung ist, darum für nichts oder doch … als der Vernunft ganz entbehrlich und unnötig ansehn“ (Refl. 6219, in: AA XVIII, 508 f ). Auch diese Sätze bestätigen direkt, dass Kant „nicht nur Aufklärung gegen kirchlich-dogmatische und staatliche Autorität …, sondern Aufklärung gegen eine dogmatische Anmaßung in der Aufklärung selbst“ setzt (G. Krüger 129). Dies bedeutet auch, dass „Aufklärung“ stets auch Aufklärung der Vernunft über sich selbst ist, d. h. Erhellung – Differenzierung und Legitimation – ihrer Ansprüche impliziert. 184 Vgl. zum Status der Philosophie als „Weisheitslehre“: IV 235 f. – Zur Verbindung des „Weltbegriffs der Philosophie“ mit dem Systembegriff betonte Kant: „Denn ein System ist der Zusammenhang vieler Erkenntnisse nach einer Idee. Unsere historische[n] Kenntnisse nützen dazu, dass unsere Vernunft einen zweckmäßigen Gebrauch davon machen kann. Da die Zwecke einander subordiniert sind: so muss es obere Zwecke geben, und so entsteht unter diesen Zwecken eine Einheit, oder ein System der Zwecke. Der wahre Wert unseres Vernunftgebrauchs kann nur durch den Zusammenhang, den diese Kenntnis mit den letzten Zwecken hat, bestimmt werden. Es ist daher eine Wissenschaft der Weisheit“ (AA XXIV, 799).S. dazu ausführlicher u. IV., 4.3.3. 185 „Weil die Philosophie alles brauchen kann, was der Literator oder der schwärmende Originalgeist liefert, so schätzt der Philosoph alles, was eine gewisse Seelenkraft in ihrer Größe beweist. Überdem ist er gewohnt, die Standpunkte verschieden zu nehmen, und mißtraut selber seinem Urteil über das Vorzüglichste, weil er die Unbegreiflichkeit des Ganzen vor Augen hat. Daher Philosophie demütig macht, oder vielmehr sich nach der Idee und nicht im Vergleich mit anderen zu messen“ (Refl. 939, AA XV, 417; vgl. dazu Refl. 2446, AA XVI, 372).
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nach dem „Wissen-Können“, dem „Tun-Sollen“ und dem „Hoffen-Dürfen“ zuzuordnen und entsprechend zu akzentuieren ist, um so den für menschliche Weltorientierung maßgebenden Vernunfthorizont offenzuhalten und notwendige Differenzierungen innerhalb desselben zu leisten. Dadurch sollen gleichermaßen drohende Desorientierung vermieden und unverrückbare Grenzbestimmungen der menschlichen Vernunft in durchaus unterschiedlichen Hinsichten angezeigt werden – eben mit Blick auf die „ganze Bestimmung des Menschen“, „und die Philosophie über dieselbe heißt Moral“ (II 700 f ), die in einer solchen umfassenden Bestimmung auf ein „System aller Zwecke“ abzielt.186 Die Einlösung dieser philosophischen Erkundung der „ganzen Bestimmung“ des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ kann freilich nur in einer genaueren Differenzierung seiner Weltstellung als Gattungswesen und Individuum erfolgen. Dabei treten bemerkenswerte analoge Begründungsfiguren zutage, die sich für die kantische Gesamtsystematik als grundlegend erweisen. Ebendies macht es auch unumgänglich, sich die darin vorausgesetzten anthropologischen Differenzierungen der kantischen Kultur- und Geschichtsphilosophie (nicht zuletzt die Bestimmung des „letzten Zwecks der Natur“) zu vergegenwärtigen – freilich nur, soweit dies für die nachfolgenden Überlegungen vonnöten und für die diese „ganze Bestimmung des Menschen“ explizierenden, „wesentlichen und höchsten Zwecke des Menschen“ erhellend ist: Denn ungeachtet einer solchen anthropologischen Verortung des Menschen hat sich der allein im Anspruch des „moralischen Gesetzes offenbar werdende „archimedische Punkt der Freiheit“ als Fundament und eigentlicher Ausgangspunkt der „ganzen Bestimmung des Menschen“ erwiesen, der in solcher – deshalb erst in der „moralischen Anthropologie“ bestimmenden – Hinsicht noch auf eine „andere Ordnung der Zwecke“ verweist, die so auch erst der „Beschaffenheit“, mit welcher der Mensch (als „Subjekt der Moral“) wirklich ist, entspricht. Allein auf dem dadurch gesicherten Fundament, das sich jener kritischen Ausmessung des umfassenden Vernunftraumes verdankt, vermag solche „Weltweisheit“ hingegen menschlichem Denken, Handeln und Hoffen verlässliche Orientierung zu geben – und nur so wird es über das durchschrittene „System der Vorsicht und Selbstprüfung“ (II 612) auch möglich, sich in Erkenntnisansprüchen sowie in Ansprüchen menschlicher Praxis und des Hoffens mit dem ihm Möglichen, Angemessenen und Zumutbaren zu begnügen. Der Anspruch, sich im Denken und Handeln sowie in Anbetracht jener Erfahrungen vernünftig zu orientieren und solcherart – wie Schelling in seinen Vorlesungen zur Einleitung in die „Philosophie der Offenbarung“ in unverkennbarem Anschluss an Leitperspektiven des kantischen „Weltbegriffs der Philosophie“ betont – lebenstragende, d. h. „die zum Leben notwendigen Überzeugungen“ auszubilden,187 zehrt von der von Kants 186 Wiederholt hat Kant auch in seinen Vorlesungen die Moral als Ermöglichungsgrund eines „Systems aller Zwecke“ bezeichnet; vgl. z. B. AA XXVIII, 1099; ebd. 1202. 187 Schelling XIII, 9. Auch diese Motive Schellings folgen der Einsicht Kants: „Philosophie zeigt den wenigen Nutzen von vielen Kenntnissen. Das Wissen lässt eine große Leere“ (AA XXIX, 13), weil es selbst eben nicht „das ganze Leben“ zu orientieren vermag. In seiner ersten Vorlesung der „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung“ rekapitulierte Schelling – im Bezug auf „jene großen, das menschliche Bewusstsein aufrecht erhaltenden Überzeugungen …, ohne die das Leben keinen Zweck hat, und darum aller Würde und Selbständigkeit entbehren würde“ (XIII, 3 ff ) – in geraffter Form (und in offensichtlicher Nähe zu Kant)
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Idee der „Aufklärung“ unablösbaren Einsicht: Vernunft erschöpft sich nicht in empirischer bzw. mathematischer Beweisführung innerhalb jenes von Kant ausgemessenen „Landes der Wahrheit“,188 weil der „Erfahrungsgebrauch, auf welchen die Vernunft den reinen Verstand einschränkt, … nicht ihre eigene ganze Bestimmung“ erfüllt (III 198), obgleich es ihr unwiderruflich verwehrt bleibt, ein erfahrungsjenseitiges „Land der Wahrheit“ zu „entdecken“ (II 670). Die einer aufgeklärten Denkungsart abverlangte Beziehung auf die „wahren und notwendigen Zwecke“ weist schon in dieser Hinsicht über die bloße Forderung, „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“, und somit über ein verkürztes „Aufklärungs“Programm, unübersehbar hinaus: Eine solche „Denkungsart“ muss im Grunde selbst jede szientistisch-positivistische Selbstbornierung und damit verbundene Engführungen einer Vernunftkritik aussetzen. Bekanntlich hat Kant stets darauf insistiert, dass ein methodisch gereinigter und aufgeklärter „wissenschaftlicher Verstand“ und dessen Rationalitätsansprüche keinesfalls den Ansprüchen einer über sich selbst aufgeklärten Vernunft gleichgesetzt werden dürfen bzw. diese ersetzen könnten. Über diese unverzichtbaren Aspekte der „Aufklärung“ darf deshalb auch die spätere berühmte Aufklärungs-Bestimmung nicht hinwegsehen lassen; sie muss wohl ebenso in Adornos Charakterisierung des kantischen Anliegens mitgehört werden, dass er „in die Dialektik der Aufklärung dort eingreifen [möchte], wo sie in der Abschaffung von Vernunft selbst terminiert“.189 Dies ist offenbar lediglich die nicht zu verschweigende bzw. zu übersehende Kehrseite jener Kennzeichnung der „Aufklärung“ als „Befreiung vom Aberglauben“ (V 390). Dass „eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, … es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“ wird (IV 657), ist unzweifelhaft das Eine; dass eine Aufklärung, die sich den von Kant selbst geltend gemachten unabweislichen – weil „existenz“-klärenden – Fragen und den ihr selbst unverfügbaren Sinnansprüchen nicht weniger „unbedenklich“ gerade in Berufung auf die Vernunftautorität verweigern wollte, einen solchen „aufgeklärten“ Anspruch auf Dauer ebenso wenig aufrechterhalten können wird, ist jedoch lediglich die nicht weniger unstrittige Kehrseite davon. Ohne die Bereitschaft und das Bestreben, Klarheit über die differenzierten Orientierungsleistungen der Vernunft und damit über die innere Verfassung derselben im Blick auf das „Ganze seiner Existenz“ zu gewinnen, ist nach Kant von Aufklärung nicht zu reden. In besonders eindringlicher Weise wird daraus auch deutlich, dass diese dem „Weltbegriff der Philoteleologische Aspekte (vom „inneren Naturzweck“ bis zum „Endzweck der Schöpfung“) und knüpft daran Gedanken, die dem kantischen „Weltbegriff der Philosophie“ unübersehbar nahestehen. 188 S. dazu, mit Blick auf Kant, Henrich (1999a, bes. 76 ff u. 1999c, 97 ff ), ebenso die entsprechenden Kapitel in Henrich 2007. Es sind jene von Schelling (in unverkennbarem Bezug auf Kant) betonten „zum Leben notwendigen Überzeugungen“, die auch Henrich mit seiner Feststellung vor Augen hat: „Wer würde auf die Richtigkeit auch des einfachsten geometrischen Beweises sein Leben verpfänden? Aber auf die Wahrheit des metaphysischen Satzes, dass gegenüber dem Weltlauf die Handlung aus gutem Willen nicht nichtig ist, setzt jeder den Gang seines Lebens ein, der in solchem Willen ein Opfer bringt. So kann also die Philosophie begründen, dass Überzeugungen, die vom Vernunftleben untrennbar sind, eine höhere Gewissheit haben können als sogar die Mathematik – vorausgesetzt freilich, dass ihre Unwahrheit ebenso wenig demonstriert werden kann“ (Henrich 1999a, 77). 189 Adorno 1966, 377 f.
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sophie“ verpflichtete „aufgeklärte Denkungsart“ sich nach wie vor auch gegen zeitgenössische spiritualistische „Schwärmerei und Aberglauben“ und gleichermaßen gegen verbreitete Gestalten des „Materialismus, Naturalismus und Fatalismus“ (III 240) richtet. Eine „Denkungsart“, die in der Berufung auf Aufklärung die kantischen Fragen nach den „höchsten Zwecken des Daseins“ als irrational abtun will (und sich deshalb selbst jenem Anspruch des „Sapere aude!“ verweigert), darf sich deshalb zweifellos nicht auf eine „aufgeklärte Denkungsart“ berufen, sondern bleibt, schon nach Kants Urteil, über sich selbst unaufgeklärt. Demgegenüber wird aufgeklärtes Denken auf vernünftig ausweisbarer Rede auch dort insistieren können, wo die Grenzen einzelwissenschaftlicher Rationalitätsansprüche notwendig zu überschreiten sind und so erst jene unabweislichen Fragen ins Blickfeld treten, „um deren Auflösung der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahin gäbe; denn diese kann ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit keine Befriedigung verschaffen“ (II 441), worin sich nichts anderes als das „Interesse der Vernunft an sich selbst“ (und somit an ihrer „Selbsterhaltung“) zur Geltung bringt.190 Gemäß einer derart modifizierten bzw. erweiterten „weltbürgerlichen Absicht“, „die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt“ (III 447), sowie der daran geknüpften moralisch-praktischen Orientierung fällt nach Kant der Philosophie also auch in diesem erweiterten Kontext die Aufgabe zu, den „Horizont“ als den „Begriff unserer Kenntnisse“ auszumessen, „die zusammen genommen mit den Zwecken, die wir haben, adaequat sind“.191 Diese von Kants Bestimmung des „Weltbegriffs der Philosophie“ unablösliche Aufgabe übernimmt dergestalt in der Tat die „Regieführung der Vernunft in ihrem Bemühen um Orientierung an den Grenzen des Erkennbaren“192 – und ebendies impliziert so auch eine „Selbstbegrenzung der Vernunft“ bzw. die genaue Markierung dieser „Grenzlinien“, wodurch sie von einer unkritischen „Selbstdementierung“ genau unterscheidbar bleibt. Von daher darf wohl auch Kants religionsphilosophisches Grundanliegen expliziert werden, das sich aus dem – seiner Philosophie als „Vernunft190 Deshalb gelangt, wie Stolzenberg zu Recht betont, „eine kritische Philosophie, die sich in der Tradition der Aufklärung versteht […] zu jenem Weltbegriff der Philosophie. Er enthält selber den zureichenden Grund, der das Unverfügbare, das die menschliche Existenz aufgrund ihrer Kontingenz und Endlichkeit wie ein Schatten begleitet und von dem sie auch unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen Säkularisierung nicht loskommt, mit der Einheit eines Sinnzusammenhangs in Übereinstimmung bringt, ohne es aufzulösen“ (Stolzenberg 2005, 93 f ). 191 AA XXIV, 815. – Damit nimmt Kant im Grunde ein frühes Anliegen auf, das schon im Kontext seiner eingehenden Beschäftigung mit Rousseau vernehmbar wird: „Wenn es irgend eine Wissenschaft gibt, deren der Mensch bedarf, so ist es die so ihn lehret, die Stelle geziemend zu erfüllen, welche ihm in der Schöpfung angewiesen ist und aus der er lernen kann, was man sein muss, um ein Mensch zu sein“ (AA XX, 45), und insofern erst „die wahre(n) Zwecke enthält“ (AA XXIX, 9). Deshalb hat ja auch allein diese Philosophie als „Weisheitslehre“ einen „unbedingten Wert“ – eben als „Doktrin von dem Endzweck der menschlichen Vernunft und ihre Imperative enthalten ein absolutes Sollen in sich, daher sie auch geradezu den Zweck treffen“ (AA XXII, 370). 192 Henrich 2006, 13. Henrichs Kennzeichnung der Philosophie als „Verständigung über die Situation des Menschen als Vernunftwesen vor dem Unbegreifbaren“ bzw. als „Grenzverwahrerin der Rationalität“, die als solche auf „Grundlegungswissen und auf Lebensorientierung ausgerichtet“ ist (ebd.), steht offensichtlich diesen kantischen Perspektiven sehr nahe.
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kritik“ selbst entspringenden – „Unvermögen“ speist bzw. sich strikt weigert, schweigen zu sollen (schweigen zu dürfen), worüber nicht „exakt“ geredet werden kann. Nicht zuletzt dies bringt sich in dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ zur Geltung – auch als der unbeirrbare Widerstand dagegen, sich ein derartiges „Unvermögen“ bestenfalls als Krankheit therapieren zu lassen. Vielmehr steht nach Kant gerade in diesen „durch die Natur der Vernunft selbst aufgegebenen“ Fragen (II 11) nicht weniger als die „Selbstbehauptung der Vernunft“ – diejenige eines „endlichen Vernunftwesens“ – gegenüber den vielfältig drohenden Verkürzungen derselben auf dem Spiel. Als eine solche das „Vernunftbedürfnis“ explizierende „Selbstbehauptung“ darf diese in gestufter Form entwickelte Problematik wohl tatsächlich gelesen werden, „weil wir dem Verstand [genauer wohl: der Vernunft] die Fragen nicht abgewöhnen können. Sie sind so sehr in der Natur der Vernunft verwebt, dass wir ihrer nicht loswerden können“:193 Es ist dies lediglich eine Neuformulierung jener kantischen Idee einer „teleologia rationis humanae“ (II 700), die dem Anspruch nach alle lediglich psychologisierenden Engführungen überwinden will. Nur jenseits des unkritischen „dogmatischen“ Vertrauens in die Vernunft wie auch des nicht weniger unkritischen gänzlichen „Misstrauens in die Vernunft“ – also der beiden von Kant verworfenen gegenläufigen Tendenzen einer kritiklosen „Vermessenheit“ – sah Kant gewährleistet, den Anspruch und das Vertrauen in die Macht einer „aufgeklärten Denkungsart“ zur Geltung zu bringen – d. h. eben: zwischen „skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“. Auch diese Problemaspekte sollten die ungebrochene Aktualität der kantischen Philosophie für die Gegenwart in einer solchen Hinsicht bestätigen. Es ist nicht zu übersehen, dass Kants umfassendes Programm der Aufklärung einer sich „als Zeitalter der Kritik“ und der Vernunftherrschaft verstehenden Epoche unbestechlich den Spiegel vorhält und ihr so erst Klarheit über sich selbst und ihre Ansprüche zu verschaffen vermag.194 Dafür stellt bekanntlich die in dem Programm der „Selbsterkenntnis der Vernunft“ zu leistende Selbstprüfung ein notwendiges Vehikel zur Klärung einander widerstreitender Vernunftansprüche dar und demonstriert eben darin – nicht zuletzt in der über die „Demütigung“ der Vernunft erzielten „Läuterung“ ihrer Ansprüche – in einer besonderen Hinsicht die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ zutage tretende „Kultur der Vernunft“; dieserart wird eine „teleologia rationis humanae“ nachvollziehbar, die in diesem 193 AA XXIX, 765. – Dem entspricht wohl auch recht genau jene noch im „opus postumum“ vorgenommene Bestimmung der Transzendentalphilosophie als System „von subjektiven Ideen, welche die Vernunft selbst schafft (…) indem sie sich selbst schafft“ (AA XXI, 93), und sich doch selbst in ihrer „Wirklichkeit“ „unbegreiflich“ bleibt. – „In dem Wirklichen allein findet Unbegreiflichkeit statt“, so zustimmend Kant zu Platner (vgl. III 223, Anm.) – ein Motiv, für das bekanntlich der späte Schelling in seiner von ihm beanspruchten Weiterführung Kants sehr hellhörig war. 194 Eine frühe bemerkenswerte Formulierung dieses kritischen Vorhabens einer „höhere(n) Philosophie“ findet sich schon in der „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral …“ (I 743 ff ). – Kants Programm der „Aufklärung“ zielt (gegenüber gängigen „Verkürzungen“ derselben) vornehmlich darauf ab: Sein entschiedenes – geltungs-orientiertes – Interesse richtet sich sowohl gegen psychologisierende Reduktionismen in der „Theorie der Erfahrung“ als auch in der Grundlegung der Moralphilosophie und ebenso gegen solche in der Begründung des Anspruchs der „Religion“.
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„dritten Stadium der Metaphysik“ zuletzt gewissermaßen „reflexiv“ zu sich kommt und darin auch jenem daraus resultierenden Programm „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ seinen eigenen Ort zuweisen kann. Gerade mit Blick auf Kants Selbstverortung in der „Geschichte der reinen Vernunft“ als letzter Stufe des „Überschritts der Metaphysik zum Übersinnlichen“ (III 650) ist es – und zwar gleichermaßen in sachlicher wie auch in geschichtlicher Hinsicht – höchst aufschlussreich, dass er einerseits das Thema bzw. die „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft“ engstens mit dem Programm der „Aufklärung“ verknüpft (vgl. III 283, Anm.), andererseits solche „Selbsterhaltung der Vernunft“ ausdrücklich als Fundament des „Vernunftglaubens“ geltend macht (s. u. IV., 3.),195 woraus sich unschwer die Verbindung zu zentralen programmatischen Anliegen seiner „Religionsschrift“ aufweisen lässt. Dass die menschliche Vernunft – als das Vermögen der „Verstandeserkenntnis“ – in ihren spezifischen und methodisch begründeten Aufgaben freilich vorgehen muss „etsi deus non daretur“, hat Kant zufolge eine denkwürdige Entsprechung in dem „etsi deus daretur“ des praktischen Vernunftgebrauchs – und eben allein in solcher Spannung erhält Vernunft sich selbst! Daraus folgt: Die auf die spezifische Weltstellung des Menschen und seine „Bestimmung“ abzielenden berühmten Leitfragen „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“ sind jeweils über unterschiedlich akzentuierte „Grenzziehungen“ von Vernunftansprüchen vermittelt, in deren Explikation wiederum ein besonderer Zug jener „teleologia rationis humanae“ zutage tritt. Genau in diesem Sinne ist Kant (wie sich noch zeigen soll: IV., 2.1.) um den Nachweis bemüht, dass allein so auch aufrechtzuerhalten wäre, dass diese „Idee eines moralischen Guts“ „aus der Moral hervorgehe“ und insofern sogar als eine „moralische [!] Idee vom höchsten Gut“ (IV 651 f ) anzusehen sei, die der Hoffnungsfrage zugrunde liegt: Allesamt Fragen, die von der praktischen Vernunftbestimmung dieses „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ nicht ablösbar sind und dennoch den Sinnhorizont dieses „vernünftigen Naturwesens“, darüber hinausweisend, unzweifelhaft erweitern, dergestalt aber auch jener fundamentalen Einsicht genügen, dass nur ein „Vernunftglaube“, der seine Legitimation und Verbindlichkeit nicht mit Wissensansprüchen verwechselt, dem aufgeklärten und somit „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ entspricht.196 Demgemäß geht es in diesem „Weltbegriff der Philosophie“ vornehmlich darum, theoretische Wissens- wie auch praktische Sinnansprüche des Menschen zu prüfen – sei es, um diese zu legitimieren, ihre Grenzen zu bestimmen bzw. sie zueinander ins Verhältnis zu setzen. Dergestalt wäre, gleichermaßen gegen positivistische 195 Besonders eindringlich hat Kant in diesem Sinne die Rolle des „Vernunftglaubens“ in Refl. 6219 bestimmt: „Ohne einen reinen Vernunftglauben (wird der Vernunftgebrauch) entweder Allwisserei (Pansophie) oder Misologie, … Selbstmord der Vernunft“ (AA XVIII, 509). S. dazu u. IV., 3.1. 196 Präzis resümiert Zöller einen wichtigen Ertrag Kants: „Im Hinblick auf die Zukunft der europäischen Aufklärung beinhaltet Kants spezifisch kritische und kognitive Konzeption der Aufklärung das Programm einer doppelten wechselseitigen Selbstbeschränkung von Wissen und Glauben. Was legitimerweise Gegenstand des Wissens ist, kann nicht rechtens Gegenstand des Glaubens sein, und umgekehrt kann, was mit gutem Recht als Gegenstand des Glaubens gilt, nicht mit ebensolcher Berechtigung Gegenstand des Wissens sein“ (Zöller 2009, 98).
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Frageverbote wie auch gegen naturalistische Entlarvungsversuche, im Sinne einer an diesem „Weltbegriff der Philosophie“ orientierten „Grenzbestimmung der Vernunft“ auch Raum für ein vermitteltes Nicht-Wissen zu eröffnen; vornehmlich dies gehört nach Kant am Leitfaden jener das „Interesse meiner Vernunft“ vereinenden Fragen unumgänglich zur Entfaltung des Gesamtraumes der Humanität. Andernfalls ist auch jene im Sinne der „Bestimmung des Menschen“ zu verstehende Leitfrage „Was ist der Mensch?“ (III 448) nicht zu beantworten, die erst in Abarbeitung an diesen Fragen ihre systematische Entfaltung finden kann, wenn darin doch nichts anderes als eine differenzierte Weltorientierung und ein entsprechendes Selbstverständnis auf dem Spiele stehen.197 Die nachfolgenden Ausführungen wollen ebendiesen Nachweis erbringen: Dementsprechend explizierte Kant mit Rücksicht auf den Menschen als Gattungswesen und als Individuum in dem die „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ differenzierenden „Weltbegriff der Philosophie“ somit vorab, wie (a) der für die Begründung seiner Moralphilosophie so wichtige Aufweis des Unbedingtheitsanspruchs des kategorischen Imperativs (das „oberste Prinzip der Moralität“), (b) die Auszeichnung des Menschen als „Zweck an sich selbst“ (ja als „Endzweck des Daseins der Welt“), (c) die Ethik als „moralische objektive Zwecklehre“ in einem unauflöslichen systematischen Begründungszusammenhang stehen; andererseits gilt dies auch für die im geschichtsphilosophischen Problemkontext vorgenommene (d) Bestimmung des „letzten Zwecks der Natur“ (die Kultur), (e) die Kennzeichnung der praktischen Idee des „höchsten politischen Gutes“ (die „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“ als dem „ganzen Endzweck der Rechtslehre“: VI 39) (s. dazu II., 1.). Ebenso ist ein solcher Begründungszusammenhang sodann (f ) für die differenzierte Charakterisierung des „praktischen Endzwecks“ und (g) für die Begründung und inhaltliche Bestimmung des „unbedingten“ (notwendigen) Zweckes sowie (h) im Blick auf die Idee des umfassenden „Endzwecks der Schöpfung“ (die Idee des „Endzwecks aller Dinge“) zu rekonstruieren (s. dazu u. III. Teil). Diese Themen bilden gleichsam die Klammer um die frühen geschichtsphilosophischen Überlegungen Kants und die Bestimmung des „obersten Prinzips der Moral“ in der „Grundlegungsschrift“ bis hin zu der für seine gesamtteleologische Konzeption (das „teleologische System“) so aufschlussreichen „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ und die bedeutenden (obgleich weithin vernachlässigten) Motive der späten Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten“198, zumal es doch diese Idee der „Weisheit“ ist, die in umfassender Weise erst „die Idee von der notwendigen Einheit aller möglichen 197 Zu Recht macht Stolzenberg (2005, 93) für Kants Vernunftkonzeption geltend: „Denn die Funktion der Vernunft ist es, letzte Gründe anzugeben, aus denen das bewusste Leben sich als Ganzes in seinem Weltverhältnis begreifen kann. Genau darin liegt die Stärke des kantischen Vernunftbegriffs: Er trägt dem Ausgriff auf ein Ganzes Rechnung, und er trägt der damit verbundenen Hoffnung Rechnung, dass dieser Ausgriff nicht ins Leere geht, sondern an sein Ziel kommt, und das heißt, dass unser Leben ein insgesamt gelungenes Leben sein möge“. 198 Die Tugendlehre (und damit die im eigentlichen Sinne so zu nennende „Ethik“) ist immer noch ein eher vernachlässigtes Thema der Kant-Forschung; eine sehr beachtenswerte diesbezügliche Ausnahme ist die Studie von Esser 2004.
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Zwecke“ (II 332) ausmacht. Wohl einer solchen Sichtweise folgend insistierte Kant auf der Notwendigkeit eines „obern Zweck(s), in welchem die andern Einheit haben. Da Mittel nur in Absicht auf die Zwecke einen Wert haben: so kann auch der Wert unseres Vernunftgebrauchs, in Ansehung dieser Wissenschaft, nur insofern bestimmt werden, inwiefern diese Erkenntnisse auf die letzten Endzwecke der menschlichen Vernunft gehen.“199 2.2.3. Eine vorläufige –„kritizistisch“ orientierte – Zwischenbilanz der „Geschichte der reinen Vernunft“ Die voranstehenden Überlegungen zielten vor allem auf jene Problemperspektiven ab, die Kant ebenso als ein Ergebnis eines mühevollen – „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ umgreifenden – Prozesses zunehmender Aufklärung gewürdigt hat. Die darin erzielte kritische Klärung der Unentbehrlichkeit bzw. „objektiven Gültigkeit“ der „Ideen der reinen Vernunft“ wollte Kant zuletzt als die eigentliche „Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft“ (II 583) (eben als „Kritik“ bzw. „Metaphysik von der Metaphysik“) ansehen;200 indes bleibt solche „Vollendung des kritischen Geschäfts“ selbst noch vorläufig im Hinblick auf den eigentlichen „Endzweck der Metaphysik“. Im Hinblick auf seine späteren moral- und ethikotheologischen Begründungsfiguren sowie auf seine Gesamtsystematik ist es jedenfalls höchst bedeutsam, dass Kant zunächst den über die „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ unternommenen Ausblick auf eine „Deduktion der Ideen der reinen Vernunft“ und die darin vorgenommenen Unterscheidungen (II 582 ff ) als „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ ansehen wollte. Als ein durchaus positiver Ertrag dieser „Vollendung des kritischen Geschäfts der Vernunft“ hat sich dabei – ganz der kantischen Kennzeichnung der Philosophie als einer „medicina mentis“ konform – doch dies erwiesen: Ent-Täuschung der und durch Vernunft, verbunden mit der keineswegs lediglich kompensatorischen, sondern dem „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ entsprechenden kritischen „Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir jetzt schon sind“ (IV 235). Darf als das 199 AA XXVIII, 533. In diesem Sinne sei eben „Philosophie … das Organon der Weisheit und muss von der Bestimmung meiner Natur, den Grenzen und den Zwecken meiner Vermögen handeln“ (Refl. 5100, AA XVIII, 87). – Heimsoeth hat diese Kants Gesamtsicht leitende Idee treffend formuliert: „In dieser Absicht hat Philosophie als Wissenschaft die menschliche Vernunft in ihrer inneren, ihr eigenen Teleologie zum Thema: Sinnbestimmung unseres ganzen oberen Vermögens durch die Erkenntnis aller ihm wesentlichen Zwecke in einer gliedernden Zusammen- und Ganzheitsordnung“ (Heimsoeth 1966 ff, 798 f ). Solche „Sinnbestimmung“ wird im IV. Teil eine „existenzialanthropologische“ Übersetzung und Konkretisierung finden. 200 Was Kant hier als „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ ansah, wurde offensichtlich für Schelling zum eigentlichen Ausgangspunkt für seine von ihm beanspruchte kritische „Weiterführung der Vernunftkritik“ in seiner Spätphilosophie; sie vermag ihm zufolge erst die „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ zu leisten und in der Durchführung der Vernunftkritik auch den Anspruch des „unvordenklichen Dass“ des „bloß Existierenden“ sichtbar zu machen. Den wichtigen Motiven aus dieser kantischen Erbschaft des späten Schelling – aber auch den damit verbundenen Problemen – ist hier nicht näher nachzugehen.
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vorrangige Ergebnis jener „Vollendung des kritischen Geschäfts“ die über die Unterscheidung von „suppositio absoluta“ und „suppositio relativa“ gewonnene Einsicht in die Unhintergehbarkeit einer „negativen Theologie“ gelten, so verbindet der daran geknüpfte Erweis einer „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft und praktische(n) Erweiterung derselben“ diese „negative Theologie“ sodann mit dem Begriff der „positiven Freiheit“. Dieser hat allerdings erst in der ausgebildeten „Freiheitslehre“ seine vollständige Ausbildung gefunden, die Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ mit der Analyse des „Subjekts des moralischen Gesetzes“ nach der „Beschaffenheit, mit der e(s) wirklich ist“, und der damit verbundenen Lehre vom „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“ als „Faktum der Vernunft“ vorgelegt hat. Diese motivlichen Bezüge – und vor allem die darin zutage tretende Balance von „Einschränkung und Erweiterung“, die einen „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ erst fundiert – werden beim späten Kant durch jenes von Platon inspirierte Sonnengleichnis (s. u. III., 3.1.1.) und die daran geknüpfte Abrechnung mit den Ansprüchen zeitgenössischer „Neuplatoniker“ noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Waren es doch vor allem die vornehmen Töne und erhabenen Ansprüche der in der genannten Weise „ahnungsvollen“ Schwärmer, die – bzw. deren Taubheit für die Ansprüche des „Übersinnlichen in uns“ – stets Kants besondere Verachtung und bissigen Spott auf sich gezogen haben; deren unkritische Eskapaden sind es auch, die den in dem „Endzweck der Metaphysik“ intendierten „Überschritt zum Übersinnlichen“ verhindern, zumal deren Schwärmereien und Exaltiertheit geradewegs ins Dickicht führen. Ihre Zurückweisung wie auch der Aufweis des notwendigen Scheiterns der haltlosen Ansprüche eines „theoretisch-dogmatischen Überschritts“ sind nach Kant die in der angezeigten gestuften Form zu erbringenden „kritizistischen“ Vorleistungen, ohne die jener „Endzweck der Metaphyik“, nämlich „von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten“ (III 590), jedenfalls nicht eingelöst werden kann. Im Blick auf diese „Geschichte der reinen Vernunft“ erwies es sich freilich als unumgänglich, dass die Einlösung dieses „Endzwecks der Metaphysik“ nur in systematischer Abarbeitung an den geschichtlich vorausliegenden Gestalten des „metaphysischen Dogmatismus“ und des „radikalen Skeptizismus“ gelingen konnte,201 wobei jener schon erwähnte Sachverhalt zu berücksichtigen bleibt, dass der aus diesem „kritischen Geschäft“ zunächst erzielte bloß „negative Nutzen“, d. i. die Abwehr des „Materialism, Fatalism und Skeptizism“, von der dann erst unter dessen Voraussetzung begründbaren „praktischen Metaphysik“ und dem hier auf sicherem Boden vollzogenen „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ noch zu unterscheiden bleibt.202 Ohne diese 201 Es gibt übrigens viele Anhaltspunkte dafür, dass Kant in dem Gebiet der „Moralphilosophie“ seine Auseinandersetzung mit dem Stoizismus und dem Epikureismus analog zu seiner Kritik des Dogmatismus und Skeptizismus in der „theoretischen Philosophie“ verstanden hat. 202 Auch in dieser Perspektive einer „Geschichte der reinen Vernunft“ bestätigt sich Henrichs Kennzeichnung des Programms der kantischen Philosophie: „Es ist ein Programm der Selbstaufklärung der Vernunft über die Differenz ihrer Erkenntnisweisen hinweg und somit in ihrer Einheit. Die philosophische Untersuchung der Verfassung aller Operationsweisen der Vernunft zeigt, dass ihrer Architektur eine Dynamik innewohnt. Sie findet in praktischen Ideen ihren Abschluss, so dass also in Beziehung auf solche
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„praktisch-dogmatische Metaphysik“ bliebe auch die seine „Kritik der reinen Vernunft“ beschließende Aussicht darauf noch uneingelöst, dass nach Eröffnung des allein gangbaren „kritischen Wegs“ „dasjenige, was viele Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des gegenwärtigen“ zu erreichen sei: „nämlich, die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich, beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen“ (II 712). Kants „dritte Kritik“ wäre demnach, im Sinne jener Differenzierung von „Kritik und Metaphysik“, erst jene Abschlussgestalt, die so erst, über die „physische Teleologie“ hinaus, mit dem am Leitfaden der „moralischen Teleologie“ vollzogenen „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ auf einen dem „moralischen Endzwecke“ und dem „Endzweck der Schöpfung“ genügenden Gottesbegriff „als Weltursache nach moralischen Gesetzen“ (V 614) führt, d. h. „den Begriff von Gott für den höchsten praktischen Gebrauch der Vernunft zureichend bestimmte“ (V 620). Gegenüber jener schon in der „ersten Kritik“ (mit der „Deduktion der Ideen der reinen Vernunft“ und den darin vorgenommenen Unterscheidungen: II 582 ff ) beanspruchten „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ wäre nunmehr erst dies als das Ende des „ganzen [!] kritische(n) Geschäft(s)“ (V 241) anzusehen. Auch daraus wird noch einmal sichtbar: Im Rückblick auf die durchaus verschlungenen Wege konnte Kant die Entwicklung einer eigentümlichen „teleologia rationis humanae“ auf eine Weise freilegen, die auch eine Selbstverortung innerhalb dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ im „dritten Stadium“ derselben erlaubt. Ihr fällt freilich, gerade mit Blick auf den intendierten „Endzweck der Metaphysik“, auch noch die Aufgabe zu, das in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ebenfalls entfaltete Verhältnis von „Weltbegriff der Philosopie“ und „Ethik“ und die daran geknüpften Differenzierungen zu thematisieren – schon deshalb, weil Kant dieser Ethik (als „System der Zwecke der reinen VerIdeen zuletzt auch alle anderen Wissensweisen samt der ihnen je eigenen Systematizität die ihnen eigentümlichen Orte und Funktionen haben“ (Henrich 1999c, 95). Die im „dritten Stadium der Metaphysik“ intendierte Entfaltung des „Endzwecks der Vernunft“ ist gebunden an eine bezeichnenderweise durch alle drei Kritiken hindurch geleistete Differenzierung des „Fürwahrhaltens“, die in der Charakterisierung des Glaubens („als Habitus, nicht als Actus“) als „moralische Denkungsart der Vernunft im Fürwahrhalten desjenigen, was für das theoretische Erkenntnis unzugänglich ist“ (V 603), im Schlussparagraphen der „dritten Kritik“ zum Abschluss kommt. – In der sehr späten „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie“ (aus dem Jahr 1796) hat Kant ganz in diesem Sinne von der „Weisheitslehre“ die (ihr voranzustellende) „Lehre des Wissens“ (also das Programm der „Kritik der reinen Vernunft“) unterschieden und sodann betont: „Es kann nun kaum die Frage von der Philosophie in der ersten Bedeutung sein: ob man frei und offen gestehen solle, was und woher man das in der Tat von ihrem Gegenstande (dem sinnlichen und übersinnlichen) wirklich wisse, oder in praktischer Rücksicht (weil die Annehmung desselben dem Endzweck der Vernunft beförderlich ist) nur voraussetze?“ Obgleich nach Kant zwar „der Ton der Wahrhaftigkeit (nach dem Beispiel mancher chinesischen Krämer, die über ihre Laden die Aufschrift mit goldenen Buchstaben setzen: ‚allhier betrügt man nicht‘) vornehmlich in dem was das Übersinnliche betrifft, der gewöhnliche Ton ist“, knüpft er daran die ebenso nüchterne wie auch dringliche Empfehlung: „Das Gebot: Du sollst (und wenn es auch in der frömmsten Absicht wäre) nicht lügen, zum Grundsatz in die Philosophie als eine Weisheitslehre innigst aufgenommen, würde allein den ewigen Frieden in ihr nicht nur bewirken, sondern auch in alle Zukunft sichern können“ (III 415 f ). Kants Appell wird mit der „am Ende“ vollzogenen Verbindung des „Endzwecks der Metaphysik“ und der Idee einer „authentischen Theodizee“ noch einmal in einem besonderen Licht erscheinen und die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ maßgeblich gewordenen Perspektiven, „worauf Vernunft hinaussieht“, nicht unwesentlich modifizieren.
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nunft“) näherhin die Bestimmung von „unbedingten Zwecken“ zuweisen wollte, deren Verknüpfung mit den im „Weltbegriff der Philosophie“ explizierten „wesentlichen“ und „höchsten Zwecken“ ausgewiesen werden muss und – im Ausgang von Kant – in einer systematischen Hinsicht sodann auch bemerkenswerte religionsphilosophische Perspektiven eröffnet (s. u. IV., 4.). Der auf die Differenzierung der „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ abzielende „Weltbegriff der Philosophie“ bringt jene „teleologia rationis humanae“ in einer besonderen Akzentuierung zur Geltung, indem er die in der inneren Verfassung der praktischen Vernunft begründeten „Zwecke“ und deren immanente Sinndimensionen – und zwar als „Sinnansprüche“ des und an den Menschen – freilegt. In dieser dem „Weltbegriff der Philosophie“ aufgegebenen Freilegung und systematischen Vermittlung dieser „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ orientiert er sich an der „Gesetzgebung der Vernunft“ selbst und folgt so der diesen Vernunftansprüchen immanenten „Teleologie“, deren in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ sich entfaltenden „Sinnlogos“ – seinen eigenen Gehalt und Anspruch – dieser „Weltbegriff der Philosophie“ darlegen will. Der zu erbringende Nachweis, was zu den „wahren und notwendigen Zwecken“ gehört, bleibt zunächst – vor der anschließenden Frage, „wie Moral unumgänglich zur Religion führt“ – eine Aufgabe der „Ethik“ als der „moralischen objektiven Zwecklehre“203 und erweist sich insofern selbst als unverzichtbarer Bestandteil des „Weltbegriffs der Philosophie“. Sie hat die Vernunft als „Vermögen der Prinzipien“ und als „Vermögen der Zwecke“ zu differenzieren und sodann auch deren Einheit auszuweisen; nicht zuletzt zielt sie auf den Nachweis ab, dass und wie „Vernunft“ letztlich eben erst in dieser Einheit ihr eigenes Interesse sich (IV 249) selbst bestimmt und sich darin selbst „erhält“. Dies erweist sich als die unumgängliche Voraussetzung für eine hinreichend differenzierte Verknüpfung der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“; denn allein dies macht jenen von Kant erhobenen Anspruch, dass „Moral unausbleiblich zur Religion führt“, auf eine Weise einlösbar, die diese Ethik als „Zwecklehre“ mit der dem „Weltbegriff der Philosophie“ aufgegebenen Lehre von den „höchsten Zwecken“ zu verbinden und daraus eine diesen Ansprüchen genügende Hoffnungskonzeption anzubieten vermag. Es wird sich als höchst bedeutsam erweisen – und bestätigt so auch die zu bewahrende Einheit von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ –, dass Kants ethikotheologische Vertiefung als eine im Durchgang durch die Vernunftkritik geleistete Transformation des „theoretisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ gelesen werden darf. Den aus dem im „dritten Stadium“ der „neuzeitlichen Metaphysik“ solcherart erzielten Fortschritt in der geläuterten Gestalt des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ hat Kant zunächst als kritisches Resultat der „Kritik der reinen Vernunft“ verstanden und mit seiner „praktischen Metaphysik“ identifiziert. Dies wollte er in seiner späten Selbstverortung bemerkenswerterweise sogar als die der Kritik der reinen Vernunft – als der „Metaphysik von der Metaphysik“ – verdankte „eigentliche Apologie für Leibniz“ (III 373), diesen „Metaphysiker von altem Schrot und Korn“ (III 612), ansehen, 203 Gleichwohl bleibt zu bedenken: „Die Ethik gibt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das tut das Jus), sondern nur für die Maximen der Handlungen“ (IV 519).
2. Kants späte Selbstverortung in der neueren Metaphysik
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die als eine solche nicht zuletzt eine kritische Rezeption und vollständige Explikation der Idee des „Reichs der Zwecke“ enthält bzw. leisten muss (s. u. III., 2.2.2.). Dass sich der von Kant unternommene „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ und die darin vermittelte Einheit „zwischen dem Reiche der Natur und dem Reiche der Gnaden“ – und nicht schon die „Kritik der reinen Vernunft“, wie er selbst allerdings nahelegt – in diesem Sinne verstehen lassen, ist im Blick auf die von ihm bezüglich der „Fortschritte in der Metaphysik“ angezeigte „Stadienlehre“ und die darin enthaltene kantische Selbstverortung zweifellos ein denkwürdiger Fingerzeig – bedeutsam auch für das im Sinne Kants zu bestimmende Verhältnis von „Kritik“ und das von ihm selbst wenigstens in Aussicht genommene „System der Metaphysik“. Als vorläufiges Ergebnis dieser „kritizistischen Zwischenbilanz“ darf somit festgehalten werden: Kritische Metaphysik als „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ tritt mit der darin vollzogenen Kritik einer dogmatischen Metaphysik und dem dadurch eröffneten „praktisch-dogmatischen Überschritt“ als das Endresultat dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ in Erscheinung. Erst in dieser die „Akten dieses Prozesses ausführlich“ abfassenden „Kritik“ (II 605) hat sie ihre endgültige Gestalt und somit, dem kantischen Selbstverständnis zufolge, auch ihr eigentliches „telos“ erreicht, zumal darin nach Kant erst „die größte Angelegenheit des Menschen, womit die Metaphysik als ihrem Endzweck umgeht“,204 ihre Einlösung findet. Über diese Kennzeichnung der Metaphysik als „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ hinaus werden noch andere wesentliche Aspekte der Endlichkeit bzw. von „Grenzbestimmungen der Vernunft“ zutage treten, die sich der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ geleisteten kritischen Selbstreflexion der Vernunft verdanken und die zunächst ihre „Genese“ sowie ihre immanente Verfassung betreffen – letztendlich aber eben auch das angesprochene Verhältnis von Philosophie und Religion berühren. Es wird sich bestätigen: Die Klärung des Verhältnisses von „Philosophie in demjenigen Teile, der die Wissenslehre enthält (in dem theoretischen), und … sie [die Philosophie] zwar größtenteils auf Beschränkung der Anmaßungen im theoretischen Erkenntnis gerichtet ist“ (III 414), zur eigentlichen „Weisheitslehre“ und dieser wiederum zu einer „Vernunftreligion“ – sowie deren Verhältnis zu den geschichtlichen Religionen – markiert wichtige Aspekte bzw. Etappen in der „Geschichte der reinen Vernunft“ und deren „Kultur“; ohne sie ist auch die Frage nach den „wirklichen Fortschritten in der Metaphysik“ und deren eigentlichem Endzweck, „vom Sinnlichen zum Übersinnlichen fortzuschreiten“, nicht zu beantworten.205
204 AA XX, 329. 205 Auch die Refl. 6317 (aus dem Jahr 1790/91: AA XVIII, 623 f ) reflektiert die darin zutage tretende „Teleologie der Vernunft“: „Um zu beweisen, dass es für die Vernunft unvermeidlich sei, ein Dasein Gottes anzunehmen und zwar nach einem Begriffe, der zum theoretischen sowohl als praktischen Gebrauch unserer Vernunft, sofern sie auf die letzte Prinzipien apriori ausgeht, hinreichend sei, mußte ich beweisen, daß die spekulative Vernunft weder seinen Begriff mit sich selbst einstimmig geben noch ein solches Dasein [beweisen] oder auch nur die Realität [!] dieses Begriffs dartun könne.“
3. Die Fundierung und Entfaltung des „Weltbegriffs der Philosophie“ im „dritten Stadium der Metaphysik“: „Pragmatische“ und „moralische“ Anthropologie
Vorab mag eine kurze Vergegenwärtigung des systematischen Stellenwerts der einschlägigen kantischen Lehrstücke als nicht überflüssig erscheinen, zumal die darin zutage tretenden Fundamente der praktischen Philosophie zugleich die Grundlagen für die Explikation der geschichtsphilosophischen, ethischen und religionsphilosophischen Motive Kants enthalten, welche die „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ als „Weltbegriff der Philosophie“ zur systematischen Entfaltung bringen.
3.1. Zur Erinnerung: Grundlegende anthropologische Differenzierungen im Rahmen der kantischen Kultur- und Geschichtsphilosophie Kants umfassende – d. h. in einem theoretischen und praktischen Sinne bestimmte – Idee eines „Reichs der Zwecke“206 hat bekanntlich im thematischen Kontext seiner praktischen Philosophie eine bedeutende Akzentuierung gewonnen. Dabei steht ihm mit diesem „Reich der Zwecke als ein Reich der Natur“ (IV 70) bekanntlich zunächst „eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze“ vor Augen, „d. i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen auf einander, als Zwecke und Mittel, zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann“ (IV 66). Über den im engeren Sinne moralphilosophischen Zusammenhang hinaus begründet dieser „sehr fruchtbare Begriff eines Reichs der Zwecke“207 in systematischer Hinsicht jedoch auch eine grundlegende „praktisch-
206 Kants (von Leibniz inspirierte) umfassende Idee des „Reichs der Zwecke“ setzt die Vernunftidee einer „Welt, als ein nach Zwecken zusammenhängendes Ganzes und als System von Endursachen“ (V 569), voraus; gleichwohl erfährt sie eine „kritizistische“ Brechung und soll auf solche Weise freilich erst die „eigentliche Apologie für Leibniz“ (III 373) leisten. Zur Bestimmung des „Naturganzen“ als eines „Sys tems der Zwecke“ vgl. vor allem § 67 der Kritik der Urteilskraft. – Es ist dabei nicht zu übersehen, dass die Begründung der Kultur als „letzter Zweck der Natur“, die Bestimmung des Menschen als „der Schöpfung Endzweck“ (V 559), sowie die Kennzeichnung des „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“ (IV 514 ff ) und auch noch des „Endzwecks der Schöpfung“ einer analogen Begründungsfigur folgen. 207 Während Kant diesen „sehr fruchtbaren Begriff des Reichs der Zwecke“ hier in diesem moralphilosophischen Kontext lediglich beiläufig erwähnt, kann die „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ weithin als eine systematische Entfaltung dieser „sehr fruchtbaren Idee“ angesehen werden; die darin unübersehbare Aufnahme Leibniz’scher Motive impliziert gleichermaßen eine Kritik an Leibniz, weil, so Kant, nur so auch eine haltbare „Apologie für Leibniz“ zu leisten sei, wofür er die „Kritik der reinen Vernunft“ (III 373) als unverzichtbare Voraussetzung ansah.
3. „Weltbegriff der Philosophie“ im dritten Stadium der neueren Metaphysik
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teleologische“ Perspektive, die sich auf „ein Ganzes aller Zwecke (sowohl [!] der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag) in systematischer Verknüpfung“ bezieht (ebd.) und sich solcherart für die Explikation des „Weltbegriffs der Philosophie“ als sehr bedeutsam erweist. Vorab bedarf es hierfür freilich einer Besinnung auf den Ort dieses „seiner eigenen Existenz einen Endzweck“208 setzenden Menschen (V 553) in der „Ordnung der Zwecke“; dies soll den Blick auf den der Weltstellung dieses „vernünftigen Weltwesens“209 angemessenen „praktischen Endzweck“ lenken, der freilich, seiner Weltstellung gemäß, sodann noch eine gestufte Entfaltung finden muss. Im Sinne der kantischen „Architektonik der reinen Vernunft“ führt jene Idee eines „Reichs der Zwecke“, entsprechend der „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft“ und deren „Ordnung der Zwecke“, auf die dem „Weltbegriff der Philosophie“ gestellte zweifache Aufgabe, (a) „der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)“ sowie (b) der Verknüpfung der „wesentlichen Zwecke“ mit den „höchsten Zwecken“. Das darin zur Entfaltung kommende „System der Zwecke der Freiheit“ enthält in sachlicher Hinsicht gleichermaßen die Herausforderung, die (schon in der ersten Kritik benannte) Idee einer „moralischen Welt“ bzw. das darin enthaltene Gebot, das „Weltbeste an uns und an andern“ (II 687) nach Kräften zu befördern, sodann auf das – in den Untersuchungen zu Kants Ethik nach wie vor weithin vernachlässigte – späte Lehrstück von dem „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, auszudehnen und dementsprechend zu explizieren. Daraus sollte erkennbar werden, dass reine praktische Vernunft erst als die darin gedachte Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und als „Vermögen der (unbedingten) Zwecke“ ihre Endgestalt zu finden vermag; indes steht sie als solche in einer – praktisch unaufhebbaren – Spannung zum „Ganzen aller Zwecke“, dem „Zweck aller Zwecke“, in dem Vernunft erst vollends bei sich ist und darin „sich selbst erhält“. Es ist die besondere Auszeichnung dieses „Weltbegriffs der Philosophie“ als „Weisheitslehre“, der zufolge die „Idee der Weisheit“ als „Idee von der notwendigen Einheit aller möglichen Zwecke“ gleichermaßen das „System der Zwecke“ wie auch das „System der Zwecke der Freiheit“, d. h. deren „Rangordnung“, umfasst. Insofern ist es diese Idee eines „Reichs der Zwecke“, in der die analoge Kennzeichnung der Weltstellung der Menschen als „vernünftiger Wesen (als Zwecke an sich)“ und der „Zwecke der Freiheit“ begründet ist. Schon hier sei auf den bemerkenswerten Sachverhalt hingewiesen, dass nicht nur in der Kennzeichnung
208 „Der Mensch sieht also sein Dasein unter allen Naturwesen als Endzweck an, er ist Endzweck in dieser Betrachtung; zugleich aber hat sein Wille einen Endzweck als angestrebtes Ziel: das höchste Gut“ (K. Düsing 1971, 37), das selbst noch vom fundierenden „Endzweck der Schöpfung“ unterschieden bleibt. Zu den verschiedenen Zweckbestimmungen Kants vgl. auch Atwell 1986. 209 Diese beim späteren Kant (bes. in ethikotheologischem und ethischem Kontext) gebrauchte Kennzeichnung des Menschen darf zunächst als eine freie Übersetzung des „animal rationale“ angesehen werden, für die er auch gelegentlich „vernunftbegabtes“ („vernünftiges“) Tier gebraucht. – Es fällt auf, dass sich diese Kennzeichnung des Menschen vornehmlich in Kants späteren Schriften (bes. im ethikotheologischen Kontext der dritten Kritik: §§ 86 ff; in seiner „Religionsschrift“ und in der späten „Tugendlehre“) findet (V 479; VI 389; 673; 648; vgl. AA XXI, 36).
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I. Teil: Kants Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“
des „höchsten Gutes“, sondern eben auch in der Bestimmung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, eine Aufwertung des Stellenwerts des „Zweck“-Gedankens erkennbar ist, zumal es sich in beiden „Zweck“-Motiven nicht um „Zwecke“ als neigungsbedingte „Materie“ des Wollens handelt, sondern um (obgleich in unterschiedlicher Weise) gebotene „Zwecke“. Zunächst geht es einer solchen gestuften „Rangordnung der Zwecke“ zufolge um die Entfaltung jener elementaren Bestimmungen, die das „vernunftbegabte Erdwesen“ Mensch – in der „Verbindung von Natur und Sittlichkeit“ – als das gleichermaßen kulturfähige als auch kulturbedürftige Wesen auszeichnen. Gemäß jener Unterscheidung zwischen den „wesentlichen“ und den „höchsten Zwecken“ ist es die Kultur als der „letzte Zweck der Natur“, die den Menschen vorerst lediglich als den existierenden „letzten Zweck der Natur“ qualifiziert, und seine „Bestimmung zum bzw. als Kulturwesen“ im Sinne der „Kultivierung seiner Anlagen“ geschichtlich entfaltet. Zwar werden die „wesentlichen Zwecke“ vornehmlich in Kants Rechts- und Geschichtsphilosophie entfaltet und sind indirekt auch Thema in seiner – wesentlich auf die „Art, das Innere sowohl als das Äußere des Menschen zu erkennen“ (VI 405), abzielenden – „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (in der es um die Beantwortung der Frage, „was der Mensch, als freihandelndes Wesen, aus sich selber machen kann und machen soll“ [VI 399], geht). Jedoch ist der Status des Menschen als existierender „Endzweck der Schöpfung“ erst durch den Bezug auf die an der „ganzen Bestimmung des Menschen“ orientierten „höchsten Zwecke“ zureichend bestimmt, die in der – auf die Begründung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, gerichteten – Ethik als einem „System“ und einer „Rangordnung der Zwecke“ bzw. in der jener Frage nach dem „Endzweck der Schöpfung“ gewidmeten „Weisheitslehre“ (als „Lehre vom höchsten Gut“) auch ihren endgültigen Abschluss finden (s. dazu u. IV., 4.3.1.). Damit sind freilich auch schon die Leitthemen der nachfolgenden Kapitel benannt: Zunächst sind die von Kant bezüglich der „wesentlichen Zwecken“ vorgenommenen Differenzierungen innerhalb des „Weltbegriffs der Philosophie“ näher zu verfolgen, worin die „Gattungsnatur“ des Menschen im Vordergrund steht. Jedoch erschöpft sich die „ganze Bestimmung des Menschen“ eben keineswegs schon in diesen für Kants „Weltbegriff der Philosophie“ maßgeblichen kultur- und geschichtsphilosophischen Perspektiven: Der in seiner Weltstellung begründete Status des Menschen als existierender „Endzweck der Schöpfung“ macht es vielmehr notwendig, in einer darin verankerten bzw. daran anknüpfenden religionsphilosophischen Konzeption die Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ zu explizieren, die auch noch die späte Theodizee-Thematik miteinzubeziehen vermag. Interessanterweise lässt Kants Argumentation hier eine streng analoge Begründungsfigur bezüglich der Weltstellung des Menschen als eines „Endzwecks der Schöpfung“ und des „höchsten Gutes“ als des „Endzwecks der Schöpfung“ erkennen; sie tritt auch in der näheren Differenzierung der damit eng verbundenen Idee einer „Ordnung der Zwecke“ (II 357; IV 86; 263; V 558; 559, Anm.)210 zutage 210 Auch diese „Idee“ einer „Ordnung der Zwecke“ hat bei Kant eine über ihren „moralischen“ und „naturteleologischen“ Sinn noch hinausreichende systematische Bedeutung im Rahmen einer umfassenden Idee
3. „Weltbegriff der Philosophie“ im dritten Stadium der neueren Metaphysik
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und nimmt dabei naheliegenderweise von dem fundamentalanthropologischen Befund ihren Ausgang. Eine knapp gehaltene Vergegenwärtigung der darin maßgebenden Bestimmungen, die jedoch auch den im engeren Sinne religionsphilosophischen Bezügen zugrunde liegen, kann hier genügen. 3.1.1. Der Ort des „vernünftigen Weltwesens“ im „System der Zwecke der Natur“: „Letzter Zweck der Natur“. Die analoge Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen und der „Kultur“ Demnach ist es die Weltstellung des Menschen als des „letzten Zwecks der Natur“, die ihn nicht allein, so wie alle anderen Organismen, als „Naturzweck“ in das Reich des Lebendigen eingliedert, ihm darin seinen besonderen Ort im „System der Arten“ zuweist und ihn als „verständiges Tier“ somit als „letzten Zweck der Natur“ qualifiziert. Die Kennzeichnung des Menschen als „Zweck der Natur“, der sich selbst, vermöge seiner praktischen Freiheit der „Willkür“, nicht nur „mannigfache Zwecke“ zu setzen vermag, sondern als ein nach der Vorstellung von Gesetzen handelndes Wesen gewissermaßen zu sich kommt, findet sodann eine unübersehbare analoge Entsprechung in Kants Bestimmung der Kultur als dem „letzten Zweck der Natur“. Sie beschließt einerseits die Konzeption der Naturteleologie und die darin bloß vorläufige „Bestimmung des Menschen“ und leitet andererseits in ihrer eigentümlichen Zwischenstellung zu den maßgeblichen Bestimmungen der praktischen Philosophie (als eines „Systems der Freiheit“) über.211 Der auf die menschliche Weltstellung abzielende teleologische Aspekt liegt noch seinem späten Hinweis auf die spezifische Weltstellung des Menschen im „System der Zwecke“ (V 548) zugrunde, ihn „nicht bloß, wie alle organisierten Wesen, als Naturzweck, sondern auch hier auf Erden als den letzten Zweck der Natur, in Beziehung auf welchen alle übrigen Naturdinge ein System von Zwecken ausmachen, nach Grundsätzen der Vernunft, zwar nicht für die bestimmende, doch für die reflektierende Urteilskraft, zu beurteilen“ (V 551). Denn kraft dem „Vermögen, das sich über die Schranken, worin alle Tiere gehalten werden, erweitern kann“ (VI 88), sieht auch Kant (in der Spur Herders) den Menschen nicht nur dazu befähigt, sich als „organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“ (V 486) im Sinne der ihn als Lebendiges auszeichnenden „inneren Naturzweckhaftigkeit“ zu erhalten. Daran ist vielmehr die Zumutung geknüpft, den „Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit“
der „Teleologie“; darin spiegeln sich unterschiedliche Bedeutungsnuancen des „Reichs der Zwecke“ und verschiedene „Teleologie“-Ebenen wider. 211 Die diesem näheren Kontext einer „moralischen Anthropologie“ zugehörige Differenzierung der „Anlagen“ für die „Tierheit“, „Menschheit“ und „Persönlichkeit“ (vgl. IV 672 ff ) ist hier nicht näher zu verfolgen (schon früh hat Kant die „Moralität“ als „Übereinstimmung mit der Persönlichkeit“ charakterisiert: Refl. 6713, AA XIX, 139); auch ihre Beziehung zu Kants Bestimmung des Menschen als „Endzweck“ (der Natur und der Schöpfung überhaupt) wäre dabei näher zu analysieren.
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(VI 92) zu vollziehen.212 In dem Vermögen, als „vernünftiges Tier“ „sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfektionieren“ (VI 673), kennt dieser vom „Gängelband der Natur entfesselte“, somit „Freigelassene der Schöpfung“ dank dem „Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinkt zu erweitern, … keine Grenzen ihrer Entwürfe“ und vermag so in einem fortwährenden Lernprozess „Mittel-Zweck“-Relationen auszubilden, deren kognitive Vermittlung in soziokultureller Einbindung, d. h. in konkreten sozialen und kommunikativen Bezügen geschieht. Erweisen sich doch für dieses als „Gattungswesen“ potenziell unbegrenzt lernfähige Wesen viele „Versuche, Übung und Unterricht“ als unumgänglich, „um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählich fortzuschreiten“ (VI 35) und in fortwährender – autobiographische Identität stiftender – Selbstüberschreitung sich in solchem Prozess der Kultivierung selbst zu erhalten und zu entfalten; nicht zuletzt „um seiner Bestimmung gemäß sich zu entfernten Zwecken vorzubereiten“, ebenso um dem nicht versiegenden „Quell von Sorgen und Bekümmernissen, die die ungewisse Zukunft erregt“ (VI 90), standhalten zu können. In einer solchen vorläufigen anthropologischen Perspektive hat Kant deshalb auch den „Verstand“ in praktischer Hinsicht als das „Vermögen“ bestimmt, „sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen“ – näherhin als die „formale, subjektive Bedingung, nämlich der Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen und (unabhängig von der Natur in seiner Zweckbestimmung) die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen als Mittel zu gebrauchen“ (V 553) und gemäß dieser mannigfach bedingten Zwecke eine „Teleologie der Zwecke“ als „Kultur“ auszubilden, d. h. „aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen … ein System der Zwecke [zu] machen“ (V 548)213, das es diesem von Natur aus unbehausten und obendrein „sich in seiner Welt ängstigenden“ Menschen – als dem „ersten Freigelassenen der Schöpfung“ – doch erst ermöglichen soll, denkend und handelnd Orientierung zu finden. Auch für diesen engeren anthropologischen Rahmen gilt also Kants – wichtige Bestimmungen der modernen Anthropologie vorwegnehmender – Befund über die Stellung des Menschen im Kosmos und seine „exzentrische Positionalität“ (H. Plessner): „Die Rolle des Menschen ist also sehr künstlich“ (VI 41, Anm.).214 Solche 212 „Nicht die Natur, sondern die Freiheit macht den Menschen“ (Refl. 1423, AA XV, 621), denn: „Er soll die Humanität sich selbst zu danken haben“ (ebd.) – und er tut dies, indem er in dieser Autonomie als „Selbst-Gesetzgebung“ die Momente von Spontaneität und Bestimmtheit vereint (vgl. dazu Römpp 1994, 129–153, ebd. 146 f ). Vgl. dazu Kants Überlegungen zum „mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte“, bes. den „vierte(n) und letzte(n) Schritt, den die, den Menschen über die Gesellschaft mit Tieren gänzlich erhebende, Vernunft tat“ (VI 90). Auch in den vorkritischen Schriften erweist sich zunächst der „teleologisch“ gedachte „Lebenshorizont“ als maßgebend, aus dem sich über eine Differenzierung des Freiheitsbegriffs später die Sphären der Kultur, Recht und Moralität herauslösen und entfalten. Darin zeigt sich auch eine entsprechende Verschiebung im Gehalt der Menschheits-Idee, die später auch in der Entwicklung der Überwindung des „juridischen“ und „ethischen Naturzustandes“ zutage tritt. 213 In dieser kantischen Spur steht offensichtlich noch Fichtes Kennzeichnung der Kultur in der „Bestimmung des Menschen“: „Sie ist das letzte und höchste Mittel für den Endzweck des Menschen, die völlige Übereinstimmung mit sich selbst, – wenn der Mensch als vernünftig sinnliches Wesen; – sie ist selbst letzter Zweck, wenn er als bloß sinnliches Wesen betrachtet wird“ (Fichte VI, 298 f ). 214 Vgl. dazu auch den „dritten Satz“ der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ über den „alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringenden“ Menschen (VI 36 f ) – d. h., der „von Natur gemacht“ ist, „sich alles selber zu erfinden“ (Kowalewski 1965, 368).
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gewissermaßen als seine „Naturbestimmung“ zu verstehende (von der Natur) „abgedrungene Kunst“ manifestiert und konkretisiert sich sodann vornehmlich darin, dass dieses vernünftige Erdwesen sich selbst, von sich wissend, findet und mit solcher Vorfindlichkeit doch zugleich das Bewusstsein des unentrinnbaren „Sich-aufgegeben-Seins“ einhergeht, das sich auf den verschiedenen Stufen der „Disziplinierung, der Kultivierung und der Zivilisierung“ realisiert. Als „letzten Zweck der Natur“ sieht Kant den Menschen nicht zuletzt dadurch ausgezeichnet, dass er die von ihm als „zweckmäßig“ erkannten diversen Formen der (äußeren) „Zweckmäßigkeiten“ auch in seine praktischen „Zwecksetzungen“ „vermittelnd“ zu integrieren (V 553) und solche Fertigkeiten in potentiell unbegrenzten evolutiven Lernprozessen der menschlichen Gattung zu differenzieren und zu „perfektionieren“ vermag: Im bewussten – und dabei die äußere „Zweckmäßigkeit“ der Natur“ selbst in den Dienst nehmenden – Zweck-Setzen des Menschen überschreitet, infolge seiner „sehr künstlichen Rolle“, die Natur gewissermaßen sich selbst; dergestalt findet sie als ihr „letzter Zweck“ gewissermaßen auch ihre Vollendung. Dies impliziert auch jene Befähigung zur Weitergabe an nachfolgende Generationen bzw. zur Übernahme oder eben zur Korrektur der in „allmählich fortschreitenden“ kollektiven Lernprozessen teilnehmend-kooperativ erworbenen kulturellen Kenntnisse (in diesem weiten Sinne). Daraus wird deutlich: Schon die Bestimmung des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ und der praktischen Vernunft bzw. des „Willens“ als „Vermögen der Zwecke“ impliziert jene potenziell unbegrenzte „Lernfähigkeit“, die freilich eine entsprechende Differenzierung innerhalb des „Systems der Zwecke“ (denjenigen der „Kultur“ und die Ausbildung der „unbedingten Zwecke der Vernunft“) erfordert. Die dafür vorausgesetzte autobiographische Identität (bzw. das „Für-sich-Sein“ endlicher Subjektivität) ist notwendig konstituiert (a) durch die Einheit des „Begriff(s) der Persönlichkeit, so fern er bloß transzendental ist, d. i. Einheit des Subjekts, das uns übrigens unbekannt ist, in dessen Bestimmungen aber eine durchgängige Verknüpfung durch Apperzeption ist)… und so fern ist dieser Begriff auch zum praktischen Gebrauche nötig und hinreichend“ (II 373); (b) durch die Bestimmung der „Person“ als „dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“, ohne die wiederum (c) die Bestimmung der „moralischen Persönlichkeit … als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen“ (IV 329; vgl. auch IV 672 f ) nicht gedacht werden kann. Indes muss es als fraglich erscheinen, ob die notwendige Vermittlung dieser Konstitutions-Aspekte, ohne welche die „Einheit“, „Identität“ und „Einzelheit“ des Subjekts bzw. der „Person“ nicht zu begreifen ist, von Kant auch tatsächlich geleistet wurde (s. dazu u. I., Anm. 261). Diese Fragen haben zuletzt allesamt in derjenigen nach der WeltstelIn diesem Sinne lässt sich sagen: „Der Angelpunkt dieser Thematik [der „Ausgestaltung des Fortschrittgedankens“] ist die zweckmäßige Entwicklung der Naturanlagen des Menschen. Soweit dieser als solcher in Frage steht, ist die Kantische Lehre von der Weltbetrachtung des Menschen Kulturphilosophie (im Kantischen Verstande). Erst wenn diese Thematik des Angelpunkts geklärt ist, kommt die geschichtsphilosophische Fragestellung in den Blick. Die Geschichtsphilosophie baut auf der Kulturphilosophie auf. Sie baut derart auf der Kulturphilosophie auf, dass sie die kulturphilosophische Argumentation zum Hebel für die Geschichtskonzeption macht.“ (Flach 2002, 108) – Zu der mit jener von Kant betonten „sehr künstlichen Rolle des Menschen“ engstens verbundenen „potenziell unbegrenzten Lernfähigkeit“ vgl. Klein 1984, bes. 17 ff u. 52 ff.
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lung des Menschen ihr gemeinsames Zentrum und verwiesen so auf die darin – hinreichend differenziert – zu begreifende zweifache „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ eines „leiblich daseienden“ Vernunftwesens in der unauflöslichen Einheit seines „theoretischen“ und „praktischen Vernunftgebrauchs“ (und somit auch seines „epistemischen“ und „praktischen Selbstbewusstseins“). Indes bleibt für die hier näher zu verfolgenden Zusammenhänge darauf zu achten: Sofern die Ausbildung und Kultivierung jener bloßen „Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt“ (V 554)215 noch von jedem normativen Begriff der Humanität absieht, kennzeichnet dies den Menschen eben als jenes besondere Lebewesen, das als Freiheitswesen existiert. Als ein solches sei er zwar als „betitelter Herr der Natur“ anzusehen, der zufolge solcher „Naturbestimmung“ lediglich den vorläufigen Rang eines „klugen Tieres“ einnimmt aufgrund seiner Kompetenz den Regeln der „Geschicklichkeit“ und der „Klugheit“ gemäß (vgl. IV 46 ff ), sich durchaus verständig„zweckrational“ einzurichten in der von ihm zu deutenden und „bewältigenden“ Welt, eben nach Maßgabe „der Befriedigung seines Bedürfnisses als Sinnenwesen“ (IV 179). Eine derart nach Maßgabe dieser „Verstandesperspektive“ beschränkte Aussicht auf ein solches „System der Zwecke“ des Menschen als „letztem Zweck der Natur“ (eine bloß „äußerlichteleologische“ Konzeption innerhalb dieses bestimmenden Horizonts) bedeutet zunächst lediglich eine Selbstüberschreitung der Natur in der Natur selbst – gewissermaßen ein „Zusich-Kommen der Natur in der Natur“, das sich nicht zuletzt in jenem in der „Naturbeschaffenheit“ menschlichen Handelns begründeten Zweckbezug und dem ihm immanenten „Erwartungsvorgriff auf Künftiges“ manifestiert. Die der pragmatischen Anthropologie216 bzw. auch dem „pragmatischen Imperativ“ gemäße Forderung Kants, dass der „Mensch auch klug werde, in die menschliche Gesellschaft passe, dass er beliebt sei, und Einfluß habe“ (VI 706), ist freilich daraufhin zu prüfen, ob und wie weit dies damit vereinbar sei, dass er als „vernünftiges Weltwesen“ auch „in das System aller Zwecke passen“ müsse (II 687). Demgemäß bleibt von der potentiell unbegrenzten Lernfähigkeit eines zwar der „Zurechnung fähigen“ Wesens die Fähigkeit der „moralischen Persönlichkeit“ zu unterscheiden, das sich erst an „unbedingten Zwecken“ zu orientieren vermag. Es zeigt sich: In Abgrenzung von dem für höher entwickelte Lebewesen charakteristischen „Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln“, d. h. „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (IV 114, Anm.) und der darin sich manifestierenden (alles Organische auszeichnende) „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“217, sah Kant den Menschen als 215 Die mit der Weltstellung des Menschen als des „letzten Zwecks der Natur“ verbundenen Differenzierungen (Disziplinierung, Zivilisierung, Kultivierung) und daran anschließenden „anthropologischen“ Fragen bleiben hier ebenso ausgeklammert wie die Frage nach der subjektiv-„ästhetischen Zweckmäßigkeit“. Zu einer grundsätzlichen Differenzierung des Begriffs der Zweckmäßigkeit bei Kant s. die Skizze von Tonelli 1957/58, 154 ff; vgl. zu diesen Themen auch Flach 2002. 216 Zur kantischen „Anthropologie“ s. den detaillierten Kommentar von Brandt 1999; ders. 2000, 27–40; zu „Kants Idee der Anthropologie“ vgl. auch Hinske 1966. 217 Die vielfältigen diesbezüglichen Bezüge zum stoischen „Selbsterhaltungs“-Motiv („conservantia … eius status“) sind hier nicht zu verfolgen; vgl. zu den zahlreichen stoischen Hintergründen die erhellen-
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„vernünftiges Weltwesen“ ja nicht lediglich durch seine Befähigung ausgezeichnet, mannigfaltige Interessen zu haben. Über solches Interessen-Haben und die Befähigung zur „Kultivierung“ – eben im Dienste der Selbstbehauptung und der stets gefährdeten Daseinsbewältigung218 – hinaus vermag er an vernunftorientierten Maßstäben Interesse zu nehmen, die ihm in seiner Lebensführung eine „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ ermöglichen, dies aber auch zumuten, und ihm so erst eine dem gemäße „Rangordnung der Zwecke der Freiheit“ vor Augen führen. Nur aufgrund dieser „Besonnenheit“ (Herder) vermag ein solches „vernunftbegabtes Wesen“ zu sich selbst in Distanz zu treten, an seiner Existenz ein vernunft-orientiertes Interesse zu nehmen, d. h. vernünftige Leitideen zur erkennenden, handelnden und hoffenden Weltorientierung auszubilden. Zunächst ist es also die Idee eines „teleologischen Systems der Natur“ (V 553), die im geschichts- bzw. kulturphilosophischen Kontext den Blick auf den beschwerlichen Entwicklungsgang des Menschen als Kulturwesen (und damit der „Naturanlagen in der Menschengattung“) lenkt. Wird darin – gemäß dem dennoch unverkennbaren „Fortrücken“ in dem „Naturzweck des menschlichen Geschlechts“ in der „menschlichen Gattung“ (in den entsprechenden „Momenten“ „Disziplinierung, Zivilisierung, Kultivierung“ [VI 44 f] als entscheidenden Aspekten der „wesentlichen Zwecke“) – die Geschichte lediglich als der Ort der Entwicklung und Vollendung dieses „letzten Zwecks der Natur“ thematisch, so ist auf dieser Stufe jedoch noch keineswegs die eigentümliche Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ schon zureichend bestimmt, sondern nicht mehr als eine notwendige Voraussetzung dafür erfüllt, „was er (der Mensch) selbst tun muss“, um ein „Endzweck der Schöpfung“ zu sein. Dass die Natur im Menschen als dem „letzte(n) Zweck der Schöpfung“ (V 548) gewissermaßen „die Augen aufschlägt“, d. h. sich ihrer selbst bewusst wird und sich als Willkür „beliebig Zwecke zu setzen vermag“, ist so freilich noch von dem bewusstes Leben auszeichnenden „Transzendieren“ zu unterscheiden, das dieses erst in eine „ganz andere Ordnung der Dinge“ (IV 91; 94) versetzt bzw. an dieser „Ordnung“ Anteil gewinnen lässt. Als ein eben nicht bloß schlaues und „geschäftiges Wesen“ weiß der Mensch sich überdies mit unabweislichen Fragen einer vernunft-orientierten Lebensführung auch im Ausblick auf ein „bewandtnishaftes Ganzes“ konfrontiert, weshalb er sich in einer solchen notwendigen „Sorge“ für sich selbst – von antreibenden „Besorgnissen oder Hoffnungen“ ist schon in Kants „erster Kritik“ (II 448) die Rede – auch nicht mit der quasi-epikureischen Auskunft zu begnügen bzw. den Darlegungen und Verweise von Santozki (bes. 162 ff; 271 ff ). Freilich verweist Kant auch auf die „Pflicht des Menschen gegen sich selbst, in der Qualität seiner Tierheit“, also die „Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur“ (IV 553). 218 Der Sachverhalt, dass Kant das Erkennen des Verstandes (als „Buchstabieren der Erscheinungen“) als Erfahrung der „Natur“ (als „Dasein der Erscheinungen unter Gesetzen“) bestimmte, das im Dienste der notwendigen Selbstbehauptung des „vernünftigen Weltwesens“ als des „letzten Zwecks der Natur“ steht, hat eine bemerkenswerte Entsprechung in der Bestimmung des „Verstandes“ als des „Vermögens“, „sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen“ (V 553); dem stehen ein Vernunftgebrauch und eine Idee der „Natur“ (im Sinne des „inneren Naturzwecks“) gegenüber, welcher mit der Bestimmung der (reinen praktischen) „Vernunft“ korreliert, „die sich [!] durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz … erkennt“ (IV 233). Mit einer solchen „Selbsterkenntnis“ ist eine „Selbsterhaltung der Vernunft“ verbunden, die sich von jener bloßen „Selbstbehauptung“ als eines „letzten Zwecks der Natur“ abgrenzt.
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zu beruhigen kann: „Eine Ursache weswegen die Vorstellungen des Todes die Wirkung nicht tun, die sie könnten, ist, weil wir von Natur billig gar nicht daran denken sollten als geschäftige Wesen“219 – eine Perspektive, die von dem Daseinsinteresse und Vernunftbedürfnis eines „endlichen Vernunftwesens“ notwendig überwunden wird. Zunächst wird „Kultur“ in diesem anthropologischen Kontext zwar als das „System der Zwecke“ des Menschen als des existierenden „letzten Zwecks der Natur“ ausgewiesen, die sich, der „technischen“ und „pragmatischen Anlage des Menschen“ gemäß, in einer entsprechenden „Logik der Imperative“ im Bildungsprozess dieses auf sich selbst gestellten „Freigelassenen der Schöpfung“ näher entfaltet – ohne dass dies freilich schon der Freiheits- und Sinn-Ebene moralischer Praxis genügen kann, zumal diese an die Orientierung an „unbedingten Zwecken“ gebunden ist.220 Die Bestimmung der „praktischen Freiheit“ als das Vermögen, sich an den „Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist“, zu orientieren – die deshalb auch (als freie Willkür) selbst dazu befähigt, „die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden“ (II 675) –, erschöpft sich zunächst in jenem System der „Imperative der Klugheit und der Geschicklichkeit“ und übersteigt so keinesfalls diesen bloß „verständigen“ Horizont. Gewiss bleibt dabei zu bedenken, dass „Geschicklichkeit“ und ihre Imperative zwar ein wesentliches Moment der Kultur darstellen, ohne dass Letztere – eine „unendliche, nie abschließbare Aufgabe“ – sich darauf reduzieren lässt, gilt hier doch ganz besonders: „Die Kultur in der Bestimmung des Willens ist im Unterschied zur Geschicklichkeit eine Disziplin oder Zucht.“221 Mit der Fähigkeit dieses „verständigen Wesens“, sich als „zwecksetzendes Wesen“ „in Ansehung des Anspruchs, selbst Zweck zu sein“ (VI 91),222 zu begreifen, ist freilich auch schon die Befähigung zur Relativierung seiner selbst im Bezug auf andere als Zwecke an sich selbst verbunden, zumal ja auch der Erwerb jener genannten Kompetenzen des „letzten Zwecks der Natur“ in einen symbolisch vermittelten „sozialen Raum“ eingebunden ist, der jedoch stets durch die „Unvertragsamkeit der Menschen“ (VI 42) im Sinne jener berühmten „ungeselligen Geselligkeit“ geprägt ist. 219 AA XX, 6. 220 In der Tat, die schon berührte „Folge ist paradox: Das Wesen, das durchaus zur Natur gehört, der Mensch, ist nur dann der Endzweck der Natur, wenn es die Natur übersteigt“ (Höffe 2008, 302). 221 Dies betont ausdrücklich Bartuschat in seinem instruktiven Aufsatz (1984, 83 ff ). – Mit Recht weist K. Düsing darauf hin: „Unter dieser Bedingung der Kultur der ‚Zucht‘ muss zuletzt auch alle Beförderung der Geschicklichkeit stehen, um überhaupt zur Kultur als dem letzten Zweck der Natur zu gehören“ (K. Düsing 1968, 218). – In dieser Hinsicht haben die Kulturleistungen der Zivilisierung unverzichtbaren Wert auch in der Vermittlung von Natur und Sittlichkeit „und bereiten dadurch den Menschen zu einer Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll“ (V 556). 222 Eine solche moral-neutrale Bestimmung tritt beispielsweise noch recht deutlich in Refl. 7305 (AA XIX, 307) zutage: „Die Würde der Menschheit in seiner eignen Person ist die Persönlichkeit selbst, d. i. die Freiheit; denn er ist nur Zweck an sich selbst, so fern er ein Wesen ist, das sich selbst Zwecke setzen kann. Die Vernunftlosen, die das nicht können, haben nur den Wert der Mittel.“ Anders argumentierte Kant freilich, wo er zwischen der „Menschheit“ des Menschen „als eines lebenden und zugleich vernünftigen“ und „seine(r) Persönlichkeit, als eine(m) vernünftigen, und zugleich der Zurechnung fähigen Wesen“ (IV 672 f ) unterscheiden wollte, sofern allein Letztere der unbedingten moralischen Gesetzgebung fähig ist, d. h. sich nicht schon in der Kulturfähigkeit als der „Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken“ erschöpft (V 551).
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Dass Kultur als „letzter Zweck der Natur“ gelten darf, bleibt jener Rangordnung der Zwecke zufolge indes an die Bedingung geknüpft, dass diese sich nicht auf die „Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen [„allerlei“] Zwecken“ (VI 554) reduziert, sondern sich dabei eben an dem unverzichtbaren Maßstab der „Tauglichkeit zu höheren Zwecken“ orientiert und als ein entsprechendes „Mittel“ fungiert, d. h. auch mit dem darüber hinausweisenden „moralischen Zweck“ des Menschen nicht nur verträglich, sondern diesem auch förderlich ist,223 und allein so „der Entwicklung der Menschheit Platz zu machen“ vermag (V 556).224 Weder hat Kant die Notwendigkeit noch die Ambivalenz übersehen, die der Kultivierung der natürlichen Anlagen „als Mittel zu allerlei möglichen Zwecken“ (die er als „Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ behauptet) innewohnt, insistiert er doch demgegenüber auf einer sorgsamen Prüfung der Frage: „In welcher Ordnung muss diese Perfektionierung fortgehen?“225 Dies besagt zugleich, dass die so genannte „instrumentelle Vernunft“ ihm zufolge noch gar nicht als „Vernunft“ bezeichnet zu werden verdient. Damit verbindet sein realistischer Sinn die grundsätzliche Skepsis darüber, dass eine von den praktischen Vernunftprinzipien (und ihren „Imperativen“) entbundene Kultur und deren „Perfektionierung“ sich allzu leicht ins sinnwidrige Gegenteil – gar in eine „Hölle von Übeln“ (VI 43) verkehrt.226 Ungeachtet dessen insistierte Kant – gerade auch im Blick auf die Frage nach einem möglichen geschichtlichen „Fortschritt“ – auf dem notwendigen Aufweis des Zusammenhangs und der Differenz in der Bestimmung des „letzten Zwecks“ und des „Endzwecks der Natur“. 223 Hinske hebt deshalb mit Recht hervor: „Die technische, die pragmatische und die moralische Qualifika tion des Menschen stehen in Wahrheit nicht gleich gültig nebeneinander. Es gibt vielmehr einen Primat des Moralischen, der dem Handelnden im Vollzug seines Handelns bewußt wird und der im Konfliktfall den Ausschlag zu geben hat“ (Hinske 1980b, 96). Hinske verweist auf Kants Reflexion 7200: „Die Imperative der Sittlichkeit enthalten die einschränkenden Bedingungen aller Imperative der Klugheit“ (AA XIX, 274). Dies bedeutet bzw. bestätigt die Forderung: „Die Kultur ist nach wahren Prinzipien der Erziehung zum Menschen und Bürger zu gestalten“ (Bartuschat 1984, 83). 224 Denn in der Tat: „Die Geschichtsphilosophie hat es nur mit dem letzten Zweck der Natur, also mit Kultur zu tun, nicht mit dem Endzweck der Natur, also mit dem Menschen als sittlichem Wesen, oder gar mit dessen Endzweck, dem höchsten Gut“ (Geismann 2000, 509). Deshalb bleibt nach Kant „Geschichte im Bereich der äußeren Verhältnisse situiert: Ihr Leitfaden ist nicht die moralische Vervollkommnung des Menschengeschlechts, sondern die Institutionalisierung von Rechtsverhältnissen, die Sicherung des Friedens durch die Errichtung einer weltbürgerlichen Gesellschaft. […] Jenseits des Kreislaufs der Verfassungen und der Errungenschaften des bürgerlichen Staats wird die Gestaltung des Politischen einer progressiven Realisierung in einer offenen Zukunft übertragen“ (Angehrn 2004, 335 f ). 225 Refl. 1468, AA XV, 647 f. Denn: „Worauf beruht die Erzeugung aller dieser Vollkommenheit, die der philosophische Chiliast glaubt und nach Vermögen befördert? Auf der Vollkommenheit der bürgerlichen Verfassung … Darin werden allein alle Talente entwickelt, die größte Vereinigung zu gemeinschaftlichen Zwecken … durch äußere Gesetze und die größte Dauerhaftigkeit dieses Zustandes durch die beste persönliche Denkungsart“ (ebd.). Der Einfluss Rousseaus für die Herauslösung der Geschichtsphilosophie (und der darin maßgebenden Fortschrittsidee) aus der früheren Konzeption einer „Allgemeinen Naturgeschichte …“ ist hier nicht zu verfolgen; s. dazu – sowie zu vermutlichen Einflüssen von A. Ferguson auf Kant – Brandt 2007a. 226 Im Blick auf die Kultur als den „letzten Zweck der Natur“ (die darin maßgebenden „Imperative“) und auf die „Zwietracht, die unserer Gattung so natürlich ist“ (VI 43), bleibt darauf zu achten, dass auch hier noch in gewisser Weise gilt: „In der Natur ist alles; es ist von keinem Soll in ihr die Rede“ (VI 241) – was auch noch für eine ungebändigte Ökonomie und deren „entfesselte Imperative“ gilt.
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3.2. Zur Weltstellung des Menschen als „Zweck an sich selbst“: Nicht nur „letzter Zweck der Schöpfung“, sondern existierender „Endzweck der Schöpfung“ überhaupt Die der „Philosophie der Moral“ („Moral“ hier wiederum in einem weiteren Sinne gefasst) von Kant zugedachte Entfaltung der „ganzen Bestimmung des Menschen“, die als solche den „Weltbegriff der Philosophie“ expliziert, setzt als ihr Fundament die Kennzeichnung des Menschen als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ voraus, die ihn erst als den „Endzweck der Schöpfung“ auszeichnet. Es wird sich noch zeigen, dass diese Verortung des Menschen im „System der Zwecke“ eine sehr bemerkenswerte praktische Entsprechung in Kants Explikation der Ethik als einem „System der Zwecke der Freiheit“ findet. Näher betrachtet zeigt sich, dass dessen Entfaltung wiederum einer Begründungsfigur folgt, die der kantischen Fundierung der Weltstellung des Menschen als des existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ innerhalb des „Systems der Zwecke“ zugrunde liegt, d. h. genauer: in unverkennbarer Analogie dazu angelegt ist. Schon dies weist darauf hin, dass seine Bestimmung des „Endzwecks“ einen mehrfachen Bedeutungsgehalt hat, dessen Differenzierung dem inneren Zusammenhang von „moralischer Anthropologie“, Ethik und Ethikotheologie entspricht und so nichts anderes als die „Idee der moralischen Teleologie“ expliziert. Vorab ist der Zusammenhang von „moralischer Anthropologie“ und Ethik (und die darin zutage tretende analoge Begründung) zu verfolgen, der sodann wiederum für eine systematische Explikation der Idee einer „Ethikotheologie“ und des darin intendierten „Endzwecks der Metaphysik“ vorausgesetzt ist. Dass der Mensch als „vernünftiges Weltwesen“ im strengen Sinne auch als „Endzweck der Schöpfung“ gelten darf, sah Kant ausschließlich in seinem „Dasein unter dem moralischen Gesetz“ begründet. Deshalb war es zunächst um den Aufweis zu tun, „dass es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit) das Tun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen, und dass diese Gesetze schlechterdings (nicht bloß hypothetisch, unter Voraussetzung anderer empirischer Zwecke) gebieten und also in aller Absicht notwendig seien“ (II 678).227 Weder der dem Menschen als Abschluss der „Naturteleologie“ zugedachte Status als „letzter Zweck der Natur als eines teleologischen Systems“ noch derjenige als bloß „vernünftiges Wesen“ (gemäß jener schon erwähnten späten Unterscheidung zwischen 227 Hier ist offenkundig das „moralische Gesetz“ noch nicht als „ratio cognoscendi“ der Freiheit bestimmt. Wenn Kant infolge dieser Kritik durch Pistorius sich genötigt sah, den Nachweis der „epistemischen Priorität des Sittengesetzes gegenüber der Freiheit“ zu erbringen (s. Ludwig 2011), dann musste er in der selbständigen Abhandlung der „Kritik der praktischen Vernunft“ zeigen, dass „reine praktische Vernunft wirklich ist“ und wie der Mensch als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ und nach seiner „Beschaffenheit wirklich ist“ – Fragen, an die sich die in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ verhandelten Probleme von selbst anschließen (und dabei bezeichnenderweise zentrale Themen der „transzendentalen Methodenlehre“ der „ersten Kritik“ aufnehmen) und hier ihren bestimmten Ort finden. Es sei hier nochmals auf die instruktiven Analysen zu „Kants radikaler Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahr 1786“ bei Ludwig (2010) und seine bemerkenswerte Studie (2012) hingewiesen.
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„Vernunftwesen“ und dem bloß „vernünftigen Wesen“: IV 550) vermag dem zu genügen, weil allein die Weltstellung des Menschen – als jenes „Naturwesen“, das als Freiheitswesen nach „Freiheitsgesetzen“228 existiert – gewissermaßen den archimedischen Punkt im „Ganzen der Zwecke“ markiert. Indes, „Endzweck der Schöpfung“ ist dieses „vernünftige Weltwesen“ allein durch seine Befähigung zu „unbedingten Zwecken“; dadurch ist er nicht lediglich in der Lage, die von ihm erkannte „äußere Zweckmäßigkeit der Natur“ seinem „Zweckhandeln“ verfügbar zu machen, vielmehr impliziert überdies die vernunft-begründete Anerkennung „unbedingter Zwecke“, die eben nicht nur „Zwecke für uns“ sind, ebenso die Erkenntnis und Anerkenntnis einer ein „interesseloses Wohlgefallen“ evozierenden „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ (V 399 u. ö.) als einer „Selbstzweckhaftigkeit“ besonderer Art, die deshalb eine Degradierung zum bloßen „Mittel“ verbieten. Die in „reiner praktischer Vernunft“ begründete Anerkennung „unbedingter Zwecke“ besagt näherhin nicht lediglich die geschuldete „Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat“ (IV 600), sondern, über solche „Achtung“ hinaus, sodann auch noch dies, „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“ (IV 526; s. dazu u. I., 4.). Zunächst sei jedoch lediglich dies festgehalten: Ohne diese besondere Weltstellung des Menschen als „Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft“, die ihn über den Rang eines bloßen „Kulturwesens“ (und damit eines „letzten Zwecks der Natur“) hinaushebt, ist auch die Vernunftidee einer „Welt, als ein nach Zwecken zusammenhängendes Ganze(s) und als System von Endursachen“ (V 569), nicht zu fundieren.229 Es ist die Orientierung an einer – der besonderen „Organisation der reinen praktischen Vernunft“ verdankten – unbedingten Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke, die den unvergleichlichen Rang und die Würde des Menschen in der existierenden „Ordnung der Zwecke“ sichert, ja ihn – eben als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ – als „Endzweck der Schöpfung“ auszeichnet, der nur als ein solcher auch nicht mehr der Infragestellung ausgesetzt ist, „wozu er habe existieren müssen“, denn: „Von dem Menschen nun (und so jedem vernünftigen Wesen in der Welt), als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem ad finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf“ (V 558 f ). Ebendies qualifiziert ihn selbst „in der Ordnung der Zwecke“ – d. i. dem „eigentümlichen Gebiet“ der Vernunft (II 357) – als „Zweck
228 Die im engeren Sinne so zu nennende „Moralphilosophie“ Kants (damit das Problem der „Deduktion des Sittengesetzes“, die Formeln des „kategorischen Imperativs“) wird hier nicht näher thematisiert. 229 „Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses, und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon, als oberster Bedingung, die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist.“ (IV 712). – Es wird sich zeigen: Kants Unterscheidung zwischen „Vernunftwesen“ und „bloß vernünftigem Wesen“ (IV 550) begründet nicht nur die Weltstellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“, sondern liegt zuletzt auch seiner Kennzeichnung der „authentischen Theodizee“ zugrunde (s. u. III. 4).
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an sich selbst“ (IV 263),230 zumal sein Dasein als „moralische Persönlichkeit“ diesen „Zweck-an-sich-selbst“-Status ausmacht.231 Für diese Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen als „Zweck an sich selbst“ liegt es durchaus nahe, an die analoge Bestimmung des „Dings an sich selbst betrachtet“ zu erinnern: So wie dieses unterschieden werden muss von der „Erscheinung“ (als „Ding für uns betrachtet“), so ist der „Zweck an sich selbst“ nicht zu einem bloßen „Zweck für uns“ (d. i. als bloßem „Mittel“) zu degradieren; als „Zweck an sich selbst“ „stellt sich notwendig der Mensch sein eignes Dasein vor“ (IV 61) – nichts anderes als dies muss es verbieten, ihn als bloßen „Zweck für uns betrachtet“, d. h. eben: als bloßes Mittel, zu gebrauchen. Einer interessanten Erläuterung Kants zufolge besagt „sich eines andern Menschen bloß als Mittels [zu] bedienen“ eben einen „Widerstreit gegen das Prinzip anderer Menschen“ (IV 62);232 wohlgemerkt: Eben dazu kann jemand, ohne sich selbst als „vernünftiges Wesen“ aufzugeben, „unmöglich einstimmen“ – und in diesem Sinne stellt der Mensch „sein eignes Dasein“ als „Zweck an sich selbst“ vor, der als „Subjekt der Zwecke“ sich auch nicht zum bloßen „Mittel“ für andere degradieren kann, ohne seine „Vernunftbestimmung“ und Selbstachtung preiszugeben. Dass jeder Mensch sein „eignes Dasein“ als „Zweck an sich selbst“ vorstellt, darf deshalb natürlich nicht im Sinne eines – dann möglicherweise ja bloß auf „kollektive Selbstbehauptung“ gestützten – psychologischen „Faktums“ (einer „besonderen Eigenschaft der menschlichen Natur“) missverstanden werden (an das dann die Folgerung der „Generalisierung“ zu knüpfen wäre – etwa im Sinne einer falsch verstandenen „goldenen Regel“); vielmehr ist allein „unser Wille, so fern er, nur unter der Bedingung einer durch seine Maximen möglichen allgemeinen Gesetzgebung, handeln würde, dieser uns mögliche Wille in der Idee [!]…
230 „Daß, in der Ordnung der Zwecke, der Mensch (mit ihm jedes vernünftige Wesen) Zweck an sich selbst sei, d. i. niemals bloß als Mittel von jemandem (selbst nicht von Gott), ohne zugleich hiebei selbst Zweck zu sein, könne gebraucht werden, dass also die Menschheit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse, folgt nunmehr von selbst, weil es das Subjekt des moralischen Gesetzes, mithin dessen, ist, was an sich heilig ist, um dessen willen und in Einstimmung mit welchem auch überhaupt nur etwas heilig genannt werden kann“ (IV 263). 231 Dies besagt zunächst allerdings nicht mehr, als dass diesem „Zweck an sich selbst“ „sein wahres Sein nicht gegeben, sondern aufgegeben ist“ (Picht 1985, 586). – Wenzel (1992, 270) charakterisiert die hier leitende Intention Kants wohl zu Recht folgendermaßen: „Die Natur oder das Wesen des Menschen ist es, sein Dasein als vernünftige Natur zum Zweck zu haben. Der Mensch entspricht seinem Wesen, indem er die Existenzform eines vernünftigen Wesens: die Vollzugsform eines Zwecks an sich selbst übernimmt. Somit indiziert der Ausdruck so etwas wie die Nichtidentität von Subjektivität und Subjekt, von Vernunft und Ich, die in der Selbstbestimmung, zu der der Zweck an sich selbst bestimmt, vollziehbar wird.“ Zur Stellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ vgl. Höffe 2008. 232 Dieser bemerkenswerte Rekurs auf das anzuerkennende „Prinzip anderer Menschen“ steht in engem Zusammenhang mit Kants späterem Verweis darauf, „dass die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein denkt“ (IV 95), wobei dieser „Begriff der Verstandeswelt“ nur ein „Standpunkt“ sei, „den die Vernunft sich genötigt sieht außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken“ (ebd.) und so überhaupt zu einem „Anerkennungsverhältnis“ fähig zu sein. Vgl. auch Refl. 5612 (AA XVIII, 253): „In den freien Handlungen fließt die Vernunft nicht bloß als ein begreifendes, sondern wirkendes und treibendes principium ein.“
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der eigentliche Gegenstand der Achtung“ (IV 74), von der jede Person „uns das Beispiel gibt“233 und so jenen „Widerstreit gegen das Prinzip anderer Menschen“ verbietet. Dass Kant die „Autonomie“ (im „praktischen“ Aspekt) als den eigentlichen „Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (IV 69) ausweist, entspricht dem recht genau; sie bleibt freilich von jener vorläufigen Tugend-Gestalt der „Selbstgesetzgebung“ noch genau zu unterscheiden, welche zwar jenen „gewisse(n) Heroism des über die tierische Natur des Menschen sich erhebenden Weisen“ (IV 258) auszeichnen mag, sich in solcher „Autokratie“ jedoch auch schon erschöpft. Die nach Kant allein darin begründete „Menschenwürde“ darf wohl als eine säkulare Übersetzung der „Gott ebenbildlichkeit“ verstanden werden, die im Grunde freilich allein auf die Idee der „Gott wohlgefälligen Menschheit in moralischer Absicht“ abzielt. Die Befähigung zur Freiheit, die „Bestimmung der Tierheit anzuziehen oder nachzulassen, zu verlängern oder zu verkürzen, nachdem es die Zwecke der Vernunft erfordern“ (V 554), bleibt somit die unumgängliche Voraussetzung für die erst gemäß dem Begriff der „positiven Freiheit“ bestimmte „Selbstverpflichtung“ und für die Bestimmung des angemessenen Gehalts (eines unbedingten „Zwecks“, der als solcher nicht selbst wiederum bloßes „Mittel“ sein kann). Die Unbedingtheit jener moralischen Vernunftgesetzgebung tritt für das „vernünftige Weltwesen“ nach Kant bekanntlich in der Gestalt des kategorischen Imperativs in Erscheinung, weil dieses „Naturwesen, das als Freiheitswesen existiert“, eben als „Bürger zweier Welten“234 sein „Selbstbewußtsein“ gewinnt. Weil die (letztendlich ontologisch verankerte) Idee der „Vollkommenheit“ nach Kant nicht im Sinne einer inhaltlich-normativen Bestimmung als Prinzip der Sittlichkeit fungieren kann, verändert sich notwendig der Gehalt der
233 Auch diesbezüglich bleibt an die kantische Unterscheidung zwischen „Exemplar“ und „Beispiel“ zu erinnern, der zufolge letzteres „nur das Besondere (concretum), als unter dem Allgemeinen nach Begriffen … enthalten vorgestellt, und bloß theoretische Darstellung eines Begriffs“ ist (IV 620). Allein dies sichert aber, auf die „Person als Beispiel der Achtung“ bezogen, dass nicht die (bedingte) Partikularität, sondern die Unbedingtheit als der zureichende Grund der moralischen Verpflichtung ausgewiesen wird und somit die „Universalität“ gewährleistet ist; anders ist auch der Status des Menschen als „Zweck an sich selbst“ nicht zu denken. Kants zentrales Lehrstück über die „Achtung fürs Gesetz“ als ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (IV 27 f, Anm.) gehört wohl zu den nach wie vor klärungsbedürftigen Grundlagen der kantischen Moralphilosophie. (Zum Verständnis von Kants „Achtungslehre der KpV als praktische Axiologie“ vgl. die erhellenden Ausführungen von Bambauer 2011, 415–430.) – Zu beachten bleibt diesbezüglich die zweifache Funktion, der zufolge dieses „durch einen intellektuellen Grund“ gewirkte Gefühl der „Achtung fürs moralische Gesetz“ neben dem „Abbruch aller Neigungen“ (IV 192) eben auch als „positives Gefühl“ erhebend wirkt – als das „einzige, welches wir völlig apriori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können“ (IV 194). 234 Es bleibt freilich immer noch Kaulbachs kritischer Hinweis zu berücksichtigen: „Wenn gelegentlich gesagt wird, dass Kant den Menschen als Bürger zweier Welten verstehe, dann ist das irreführend, weil der falsche Eindruck erweckt wird, als ob damit ein ‚Sowohl-als-auch‘ und die Parallelität zweier verschiedener Zugehörigkeiten behauptet werden. Der Mensch ist nicht sowohl als Naturwesen wie auch ‚andererseits‘ als Wesen der Freiheit zu verstehen, sondern als Über-gang von der einen Welt zur anderen. Wer ihn als Naturwesen anspricht, ‚muss‘ ihn zugleich auch als über die Natur hinausgehend verstehen, so dass der Philosoph nicht nur die Aufgabe hat, die Perspektiven der beiden Welten zu unterscheiden, sondern auch die synthetische, einigende Leistung des Über-gangs von der einen zur anderen zu begreifen“ (Kaulbach 1988, 136). Kants Hinweis auf das zweifache Bewusstsein seiner selbst (als „Ich“), das aber nicht als ein „doppeltes Ich“ misszuverstehen ist (IV 427, Anm.), hat darin eine Entsprechung.
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„perfectio noumenon“ als „perfectio moralis“.235 Näherhin geschieht dies in der bestimmten Hinsicht, dass es der Unbedingtheitsanspruch des moralischen Gesetzes (des unbedingten Sollens) ist, der solcherart in der Aufsuchung eines „objektiven Moralprinzips“ auf den Gedanken der Universalität als „Form der Gesetzmäßigkeit“ führt und solcherart erst, im Blick auf die besondere Weltstellung des Menschen, die Idee des „Vollkommensten seiner Art“ zu fundieren vermag. Maßgebend ist dabei bekanntlich einzig die „Form der Gesetzgebung“, d. h. ob die „Maxime des Wollens“ als allgemeines Gesetz taugt und „um willen des Gesetzes“ auch bejaht wird – was infolge dieser ausschließlich vernunft-immanenten, d. h. alle bloß empirischen Gründe (und somit auch „Glückseligkeit“) distanzierenden Verankerung des moralisch Guten, „die Unzulänglichkeit jeder auf Sinn und Gefühl gegründeten Ethik“236 und ihre Verfehlung der unbedingten moralischen Verbindlichkeit vor Augen führt. Demzufolge ist der Begriff des „moralisch Guten“ nunmehr nicht im Sinne eines normativen Begriffs der „perfectio noumenon“ als „perfectio moralis“ zu bestimmen, sondern führt, entsprechend dem gewandelten Sinngehalt der „Idee“ sowie dem (im „moralischen Gesetz“ offenbar werdenden) einzig real existierenden „Unbedingten der Freiheit“, konsequenterweise dazu, dass, was „wir gut nennen sollen, … in jedes vernünftigen Menschen Urteil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein“ muss (IV 178). Dies verweist hinsichtlich des im eigentlichen Sinne „moralisch Guten“ unweigerlich auf jenes schon erwähnte „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft“: „… dass nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze …, sondern nur … nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“ (IV 180).237 Eine bloße Folgerung daraus für die zureichende Bestimmung eines „Gesetzes der Freiheit“ ist schließlich dies: „Nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der Maximen macht, kann apriori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein“ (IV 182). Nochmals sei betont: Allein darauf, dass das „moralische Gesetz“ als objektiver Bestimmungsgrund der Maximen des Willens für den Menschen als vernünftiges Weltwesen 235 Bedeutsam ist auch Kants Abgrenzung vom („ontologisch“ orientierten) „schulphilosophischen“ Begriff der „moralischen Vollkommenheit“; besondere Beachtung verdient diesbezüglich das „zweite Hauptstück“ aus der „Analytik der praktischen Vernunft“: „Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (IV 174 ff ) und der dortige Hinweis auf das „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft“ (IV 180 f ), das, wie schon erwähnt, gleichsam eine „Revolution der Denkungsart“ indiziert (s. o. I., Anm. 77). 236 Reich 1935, 17. – Zu erinnern ist hier freilich auch an Kants Zurückweisung der „Glückseligkeit“ als Prinzip, zumal diese „nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ist, was bloß auf empirischen Gründen beruht, von denen man vergebens erwartet, dass sie eine Handlung bestimmen sollten, dadurch die Totalität einer in der Tat unendlichen Reihe von Folgen erreicht würde“ (IV 48). 237 Als Frage sei hier vorläufig angemerkt, ob nicht auch die „Einführung der negativen Größen in die praktische Weltweisheit“ unumgänglich ist, um (über eine bloße „privatio boni“ hinaus) das Böse als solches, gleichsam in seiner „positiven Negativität“ – d. h. als das Nicht-Gute im Sinne „eines positiven Grundes des Widerspiels“ des Guten (d. h. nicht eines „bloßen Mangels eines Grundes des Guten = 0“: IV 669, Anm.) –, denken zu können und alle bloße „Stufung“ zu vermeiden. Schon Kants frühe einschlägige Überlegungen (vgl. I 779 ff, bes. 795 f ) weisen jedenfalls ausdrücklich in diese Richtung, sie liegen natürlich auch dem Hinweis auf die „Verkehrtheit des [bösen] Herzens“ (IV 686; IV 709 ff ) zuletzt auch noch der Bestimmung des „schlechthin Zweckwidrigen in der Erfahrung“ (VI 106; s. u. Teil III., 4.) zugrunde.
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auch als der „alleinige [subjektive] Bestimmungsgrund“ desselben fungieren kann, dieses „Gesetz der Freiheit“ also um seiner absoluten Verbindlichkeit willen befolgt wird (d. h. das „moralische Gesetz“ als „principium dijudicationis“ eben zugleich das „principium executionis“ im Sinne des „subjektiven Bestimmungsgrundes“ ist), beruht menschliche Würde.238 Gewiss trifft es zu: Wenn die Vernunft „nur das Rechte erkennen, nicht aber zugleich Grund seiner verpflichtenden Kraft sein“ würde, „so wäre sie zwar das Vermögen, durch das es uns bekannt wird, aber nicht sein Ursprung. Es gäbe eine Autognosie der Vernunft hinsichtlich vernünftigen Handelns, aber keineswegs eine Autonomie. […] Beide Momente zusammen definieren erst den Begriff der Autonomie der Vernunft. Kant hat dies nicht immer mit hinreichender Klarheit ausgesprochen und dadurch viele Missverständnisse ermöglicht. Dennoch ist das Problem der Kritik der praktischen Vernunft in dieser Doppelung gelegen“.239 Auch für die über Kants „erste Kritik“ hinausweisende Entwicklung in religionsphilosophischem Kontext ist offensichtlich die Einsicht bestimmend geworden, dass „reine praktische Vernunft“ eben nur dann (im Vollsinn) als „autonom“ angesehen 238 Mit dieser im Anspruch des kategorischen Imperativs bewahrten unauflöslichen Einheit von „principium dijudicationis“ und „principium executionis“ insistierte Kant gegenüber einem „subjekt“-vergessenen Universalismus wie auch gegenüber einem abstrakten (gleichwohl „entschlossenen“) „Gesinnungs existenzialismus“ auf dieser unaufhebbaren „Wahrheit der Gewissheit seiner selbst“, auch wenn dies ein uneinholbares praktisches Ideal bleiben muss. Vgl. zu dieser von ihm – zunächst – vertretenen Bestimmung der Autonomie auch Kants Notiz: „Er [d. i. J. H. Schulz] hat im Grunde seiner Seele, obgleich er es sich selbst nicht gestehen wollte, vorausgesetzt, dass der Verstand nach objektiven Gründen, die jederzeit gültig sind, sein Urteil zu bestimmen das Vermögen habe, und nicht unter dem Mechanism der bloß subjektiv bestimmenden Ursachen, die sich in der Folge ändern können, stehe, mithin nahm er immer Freiheit zu denken an, ohne welche es keine Vernunft gibt. Ebenso muss er auch Freiheit des Willens im Handeln voraussetzen, ohne welche es keine Sitten gibt, wenn er in seinem, wie ich nicht zweifle, rechtschaffenen Lebenswandel den ewigen Gesetzen der Pflicht gemäß verfahren und nicht ein Spiel seiner Instinkte und Neigungen sein will, ob er schon zu gleicher Zeit sich selbst diese Freiheit abspricht, weil er seine praktische(n) Grundsätze mit den spekulativen sonst nicht in Einstimmung zu bringen vermag, woran aber, wenn es auch niemanden gelänge, in der Tat nicht viel verloren sein würde“ (VI 777 f ). So problemlos dies zunächst erscheinen mag, so führen die darin zutage tretenden Fragen und „Unbegreiflichkeiten“ jedoch erst auf den eigentlichen „Stein des Weisen“, denn: „Urteilen kann der Verstand wohl, aber diesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, den Willen zu bewegen, das ist der Stein der Weisen“; und: „Man soll das Gute durch den Verstand erkennen, und doch davon ein Gefühl haben. Das ist etwas, was man nicht recht verstehen kann“, vgl. Menzer (1924, 54). Gleichwohl hat Kant eine einseitige Akzentuierung verworfen: „Das hat einen praktischen Fehler, wo die Triebfeder wegfällt, und das hat einen theoretischen Fehler, wo die Beurteilung wegfällt“ (ebd. 46 f ). Deshalb bleibt die kantische Bestimmung der Vernunft als „Vermögen, nach der Autonomie, d. i. frei (Prinzipien des Denkens überhaupt gemäß) zu urteilen“ (VI 290) von jenem Autonomie-Aspekt zu unterscheiden, der auf die „Achtung vor dem moralischen Gesetz“ als dem alleinigen „Bestimmungsgrund“ des Willens abzielt. Dies ist sehr klar in Kants Hinweis ausgesprochen: „Zuerst bestimmt das moralische Gesetz objektiv und unmittelbar den Willen im Urteile der Vernunft; Freiheit, deren Kausalität bloß durchs Gesetz bestimmbar ist, besteht aber eben darin, daß sie alle Neigungen, mithin die Schätzung der Person selbst auf die Bedingung der Befolgung ihres reinen Gesetzes einschränkt. Diese Einschränkung tut nun eine Wirkung aufs Gefühl, und bringt Empfindung der Unlust hervor, die aus dem moralischen Gesetze apriori erkannt werden kann“ (IV 199). 239 Henrich 1982a, 14. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Kants späte Notiz (AA XXI, 106): „Alle Philosophie ist 1. Autognosie 2. Autonomie. Wissenschaft u. Weisheit“ auch noch in eine ganz andere Richtung weist, demgemäß aber auch eine nähere Unterscheidung zwischen der Metaphysik als „Vernunftwissenschaft“ (und deren „Endzweck“), der (auf den „Endzweck des Menschen“ abzielenden) „Weisheitslehre“ und der „Weisheit“ selbst verlangt; es sind diese Differenzierungen, die auch den Zusammenhang des III. und IV. Teils dieses Buches markieren.
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werden darf, wenn auch die „Triebfedern“ auf ihr beruhen; entsprechend bezieht sich seine Bestimmung der „Autonomie“ auf das „principium dijudicationis“ – d. h. auf die allein vernunft-bestimmten „Gründe“ (vgl. Kants Kennzeichnung der Vernunft als „Vermögen, nach der Autonomie, d. i. frei [Prinzipien des Denkens überhaupt gemäß] zu urteilen“: VI 290) – wie auch auf das „principium executionis“ als die allein vernunft-gemäße „Triebfeder“. Beide (voneinander eben unablöslichen) „Autonomie“-Aspekte sind in dem Imperativ konzentriert: „Handle pflichtmäßig, aus Pflicht!“ (IV 521). Freilich, darauf beruht auch jene kantische Unterscheidung zwischen „bloß vernünftigem Wesen“ und „Vernunftwesen“ (IV 550); in einem strengen Sinne ist auch nur dieses zu „moralisch-praktischen Verhältnissen“ (ebd.) befähigt, zumal die bloße „rectitudo“ dafür noch nicht genügt. An der notwendigen Unterscheidung zwischen der „sittlichen Richtigkeit“ und dem Aspekt, „ob die Handlung auch … um des moralischen Gesetzes willen geschehen“ ist, also „auch sittlichen Wert, als Gesinnung, ihrer Maxime nach habe“ (IV 297), hat Kant jedenfalls stets festgehalten. Damit ist noch ein anderer wichtiger – gerade auch für religionsphilosophische Bezüge sehr bedeusamer (s. u. IV., 2.2.2.) – Abgrenzungsaspekt berührt: Ein solches Verständnis von „Autonomie“ distanziert auch jede Reduktion dieses Prinzips auf bloße Autarkie und Autokratie240 – jene Souveränität des „Heroism des über die tierische Natur des Menschen sich erhebenden Weisen“ (IV 258)241 –, überwindet somit auch jede auf 240 Genauer besehen zielt Autokratie also nicht bloß auf „Selbstherrschaft“, sondern auf den angeführten Sachverhalt ab, dass der Mensch „unter“ dem moralischen Gesetz steht, dieses also in der Gestalt eines „kategorischen Imperativs“ sich artikuliert; gleichwohl ist „Autokratie der praktischen Vernunft“ vornehmlich „ein, wenngleich nicht unmittelbar wahrgenommenes, doch aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig geschlossenes Bewusstsein des Vermögens …, über seine dem Gesetz widerspenstigen Neigungen Meister zu werden“ (IV 512 f ). Insofern hielt Kant stets an der frühen Kennzeichnung der „Autokratie der Freiheit“ als „principium der Moral“ fest (Refl. 6867, in: AA XIX, 186). Autokratie als das „Vermögen“, „unter allen Hindernissen, welche die Einflüsse der Natur auf uns, als Sinnenwesen, verüben mögen“ (III 632), sich zu bestimmen, ist für ein „endliches Vernunftwesen“ indes die unumgängliche Voraussetzung der „Autonomie der reinen praktischen Vernunft“. Dennoch sind „Autokratie“ und „Autonomie“ genau zu unterscheiden, obgleich Letztere in der erstgenannten ihre Voraussetzung hat; „Autonomie der reinen praktischen Vernunft“ selbst, als „Grund der Würde“, bedarf freilich weder einer „Vervollkommnung“ noch ist sie einer solchen auch fähig. Auch in den „Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten“ heißt es: „Die erste Wirkung der Selbsterkenntnis ist die wahre Demut aus der Vergleichung seiner selbst mit dem Gesetze – die zweite ist das Bewusstsein der Erhabenheit seiner Naturanlage und der durch nichts niederzuhaltenden Stärke gegen die Natur und deren Kräfte auszuhalten“ (AA XXIII, 402). 241 Vgl. dazu auch die Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“ (AA XXIII, bes. 435 ff ), wonach der stoische „Dogmatismus“ sich darin artikuliert, die „Revolution der Gesinnung“ gewissermaßen in eine „Kultur des Guten“ zu verharmlosen und überdies in Verkennung des Prinzips der „moralischen Verbindlichkeit“ dieses zu einer Angelegenheit des Genusses der eigenen Erhabenheit und Seelenstärke zurückstufen und so in Wahrheit einer „arrogantia moralis“ („Tugendstolz“) zu verfallen (vgl. auch IV 570): Eine Art „praktischer Dogmatismus“ in Gestalt des „Eigendünkels“ und der „moralischen Schwärmerei“ (IV 208) also, eine subtile Form eines „praktischen Solipsismus“, der unbedingte Vernunftansprüche in Fähigkeiten der „Kultivierung“ (und somit in die bloße „Herrschaft des Verstandes“) verkehrt. Sehr konzentriert ist diese Kritik auch in der Refl. ausgesprochen: „Das christliche Ideal ist das Ideal der Heiligkeit, d. i. der Reinigkeit der Sitten, die für den Augen Gottes bestehen kann, welches ein Probierstein ist, daran die Vernunft die Reinigkeit der Gesinnung allein prüfen kann … Das christliche Gesetz kann auf diese Art freilich nur einen unaufhörlichen Fortschritt vom Guten zum Bessern fordern, verspricht die Versicherung desselben aber doch durch den guten Geist, der, wenn wir herzlich wollen, in uns wohnen wird. Hierin ist es vom stoischen Ideal der Weisheit unterschieden, welches keine solche Reinigkeit der Gesin-
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Kultivierung, Disziplinierung und Zivilisierung (als bloße Selbstgenügsamkeit sowie eine um sich selbst kreisende Selbstverwirklichung und Selbsterfüllung) verkürzte Konzeption von „Autonomie“ und verwirft nicht zuletzt auch alle Reduktion moralischer Verbindlichkeit auf die bloß „sympathetisch“ gefühlte faktische Verbundenheit. „Vernunftsubjekt“ ist der Mensch demnach in der besonderen (zweifachen) Hinsicht, dass er der „Gesetzgebung der Vernunft“ so untersteht, dass er sich ihr unterstellt: „Moralisches Subjekt“ (im zweifachen Wortsinn) ist er, sofern er jenes Gesetz, dem er untersteht, eben zugleich sich selbst gibt und dieses um seiner selbst willen befolgt. Anknüpfend an jene kantische Unterscheidung zwischen „Vernunftwesen“ und bloß „vernünftigem Wesen“ (IV 550) sowie an Kants Begründung des „Primats der praktischen Vernunft“ bleibt festzuhalten: Wenn das – wie sich erweist: von der Realität lediglich am entferntesten „scheinende“ – „Ideal der Vernunft“ sich dieserart als wirklich manifestiert (II 512) und darin der Mensch „an sich selbst aus reiner Vernunft a priori“ des „Ideals der Menschheit“ ansichtig wird (wie Kant interessanterweise bemerkt: VI 673), so wird erst über diese Vernunftperspektive bzw. über den dadurch qualifizierten Freiheitsstand jene noch vorläufige Frage nach dem bloßen „Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen“ auf die Idee eines umgreifenden „Systems der Zwecke“ hin überschritten; solcherart ist auch jede bloß „moral-neutrale“ Bestimmung des „Zwecks an sich selbst“ endgültig überwunden. Demnach ist es ausschließlich die „unbedingte Gesetzgebung der praktischen Vernunft“ – genauer: die über die bloß „negative Freiheit“ (als „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“: II 489) hinausgehende „positive Freiheit“242 –, die auch die Weltstellung des Menschen als „Zweck an sich selbst“ (und dessen „Würde“) in dem umfassenden „teleologischen System der Natur“ gewissermaßen „letztbegründet“, weil sich darin ein in der „Gesetzgebung der Vernunft“ verankertes „praktisch Unbedingtes“ zur Geltung bringt und so als „objektives Prinzip des Willens“ fungiert, das es verbieten muss, dieses dadurch ausgezeichnete „vernünftige Weltwesen“ zum bloßen Mittel zu degradieren. Was die damit ausgewiesene Weltstellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ betrifft, so ist – auch bezüglich jener kantischen Unterscheidung zwischen „letztem Zweck der Natur“ und „Endzweck der Schöpfung“ – der (in zeitlicher Nähe zur Grundlegungsschrift stehende) kantische Hinweis, „die Freiheit, nur die Freiheit allein, macht, dass wir Zweck an sich selbst sind“,243 sogleich dahingehend zu präzisieren, dass nungen, sondern nur Zutrauen zu seiner Stärke in Ansehung aller Versuchungen fordert und Eigendünkel erregt, der sehr schädlich ist und den Fortschritt verhindert“ (Refl. 7312, in: AA XIX, 309). 242 In der „Kritik der praktischen Vernunft“ betonte Kant ausdrücklich: „In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können.“ (IV 144) 243 AA XXVII, 1322. Wobei freilich gilt, dass „die Freiheit sich selbst ein Gesetz sei“ (ebd.), d. h. diesem – aber keinem anderen ontologisch oder theologisch verankerten – Maß untersteht. Dies widerspricht in
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eben nur im „Menschen, aber auch in diesem nur als Subjekte der Moralität, … die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung aller Zwecke anzutreffen“ ist, „welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist“ (V 558 f ). Seine „Selbsterhaltung“ als „vernünftiges Weltwesen“ ist an die Bedingung geknüpft, dass Selbsterhaltung im biologischen Sinne (und die darin zutage tretende „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“: V 545)244 nicht letzter Zweck ist und folglich in eine „andere Ordnung der Zwecke“ (mithin auch auf eine gewissermaßen moralisch transformierte „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ im Sinne qualifizierter „Selbstbestimmung“) führt, vermöge deren er nicht selbst bloßes „Exemplar der Art“, sondern „Selbstzweck“ ist. Die Frage „Was ist der Mensch?“ zielt also darauf ab, dass im Menschen – gemäß dieser „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ (IV 113) – sein leibliches Dasein als „innerer Naturzweck“ mit jener Einheit der „Zwecke der Freiheit“ vereint gedacht werden muss, weil allein in solcher zwiefältigen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ dieses „vernünftige Weltwesen“ sich als „bewusstes Leben“ selbst erhält – näherhin als jenes „Naturwesen, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) … erkennen können“ (V 558), d. h. das sein Leben als erster „Freigelassener der Schöpfung“ (Herder) „nach ‚Freiheitsgesetzen‘ führt“. In der von Kant bevorzugten Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ sind diese den „inneren Naturzweck“ auszeichnende, „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ und die „teleologia rationis humanae“ (als die offenbar analog dazu gedachte „sich erhaltende Zweckmäßigkeit“ der Vernunft) demnach in einer konkreten und unauflöslichen Einheit gedacht,245 die solcher Hinsicht wohl der Auffassung, es könne „die Zweck-an-sich-selbst-Formel … niemals an die Stelle des formalen Imperativs treten oder ihm gegenüber sogar einen Vorrang haben. Denn dass es Zwecke an sich selbst gibt, das ist die dogmatische Behauptung einer Metaphysik der Natur, die sich jedenfalls nach Kant nicht begründen lässt, ohne ebenso dogmatisch die Natur oder Gott zum Urheber solcher vernünftiger Wesen zu machen“ (Baum 2005, 22). Dies ist insofern nicht recht überzeugend, weil so, Kant zufolge, „sich notwendig der Mensch sein eignes [!] Dasein“ vorstellt (IV 61); dies zielt freilich nicht bloß auf einen „anthropologischen“ Sachverhalt ab, sondern allein auf den andernfalls unvermeidlichen „Widerstreit gegen das Prinzip anderer Menschen“ (IV 62). Vgl. zu den möglichen – durch Panaitios und Cicero (bzw. durch Garves Cicero-Kommentar) vermittelten – Vorgaben auch die Studie von Reich 1935, bes. 37 ff. 244 In systematischer Hinsicht spricht vieles dafür, diese im zweifachen Sinne verstandene „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ mit der Bestimmung des Menschen als „eines lebenden und zugleich vernünftigen“ und „zugleich der Zurechnung fähigen Wesens“ (IV 672 f ) zu verknüpfen, zumal diese „Elemente der Bestimmung des Menschen“ auch in dem „ganzen Zweck der praktischen Vernunft“ aufgehoben bleiben müssen. 245 Hier ist die schon erwähnte „Analogie zwischen Natur und Freiheit“ (AA XXI, 553) besonders deutlich erkennbar; sie hat eine unübersehbare Entsprechung darin, dass es die Idee des „Naturzwecks“ ist, welche „die Vernunft in eine ganz andere Ordnung der Dinge“ führt, „als die eines bloßen Mechanisms der Natur“ (V 489). Es ist demgegenüber die besondere Befähigung des Menschen[,]… sich durch seinen „Willen, der von Antrieben der Sinnlichkeit frei ist, … in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der Dinge“ zu versetzen, „als die seiner Begierden im Felde der Sinnlichkeit“ (IV 91). – Zu „Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft“ s. den gleichnamigen Aufsatz v. N. Fischer 2004. Die unauflösliche Korrespondenz zwischen dem „Selbstzweckcharakter des Moralischen“ und dem „Selbstzweck“-Status des Menschen hat Bambauer (2011, 438) sehr präzis formuliert: „Wir sollen unsere Pflicht tun, weil es unsere Pflicht ist. Das pflichtgemäße Handeln aus Pflicht ist aber unsere Pflicht, weil moralisch-praktische Rationalität als Inbegriff des autonomen Selbstbezugs absolut werthafter, endlicher Vernunftwesen Selbstzweck ist und wir uns als selbstzweckhafte Vernunftwesen betrachten müssen.“
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auch die Existenz des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ fundiert. Die Analogie ist nicht zu übersehen: So wie die „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ an die in sich differenzierte „Mittel-Zweck“-Relation gebunden ist, so verlangt die „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit der Vernunft“ eine entsprechend differenzierte Relation, damit aber auch ein „System der Zwecke“ der Vernunft und eine daraus gewonnene Bestimmung eines „Endzwecks“ als desjenigen Zwecks, „der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“ (V 557) und somit auch nicht selbst wiederum Mittel für andere Zwecke ist.246 Jene Unterscheidung zwischen „Vernunftwesen“ und „vernünftigem Wesen“ hat nicht nur in derjenigen zwischen „hypothetischen“ Imperativen und dem „kategorischen Imperativ“ eine unübersehbare Entsprechung. Im Folgenden wird sich überdies bestätigen: Gemäß der von Kant angezeigten Differenz zwischen dem „moralischen Imperativ“ und dem „Imperativ, welcher die Tugendpflicht gebietet“, findet der „kategorische Imperativ“ erst in Letzterem seine Endgestalt (s. u. I., 4.2.), weil dieser „einen Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks überhaupt verbindet“ (IV 514) und die vollendete Stufe der Sittlichkeit anders auch nicht bestimmt werden könnte, weil doch erst über sie „das Gesetz der Moralität in Erfüllung geht“.247 Gemäß der von Kant betonten Forderung, dass in jeder Handlungsmaxime die „Form“ und eine „Materie, nämlich ein Zweck“, unterschieden werden müssen (IV 69 f ) und sich die unbedingte Gesetzgebung der Vernunft dementsprechend auf beide bezieht (weil aufgrund dieser Begründungslogik der auf die Form der Gesetzgebung bezogenen „Unbedingtheit“ eben eine solche des „unbedingten Zwecks“ korrespondiert), hat die Explikation praktischer Vernunftansprüche bzw. dieser Differenzierungen der Momente praktischer Vernunft sonach eine recht genaue Entsprechung im „System der Imperative“.248 Dass erst mit diesen „Tugendpflichten“ „das Gesetz der Moralität in Erfül246 Eine Nähe zur aristotelischen „Zweck“-Bestimmung ist nicht zuletzt mit Blick auf Kants Bestimmung des „Endzwecks“ unübersehbar. Aristoteles hat bekanntlich betont: „Ferner ist das Weswegen Endzweck. Endzweck aber ist das, welches nicht um eines andern willen, sondern um dessentwillen das andere ist. Wenn es also ein solches Äußerstes gibt, so findet dabei kein Fortschritt ins Unendliche statt; gibt es kein solches, so gibt es überhaupt kein Weswegen. Aber wer hierin einen Fortschritt ins Unendliche behauptet, der hebt, ohne es zu wissen, das Wesen des Guten auf. Und doch würde niemand etwas zu tun unternehmen, wenn er nicht zu einem Ende zu kommen gedächte. Auch läge in solchem Verhalten keine Vernunft; denn der Vernünftige handelt immer nach einem Weswegen; dies ist aber eine Grenze; denn der Zweck ist eine Grenze“ (Aristoteles, Metaphysik 994b). 247 Schon hier sei der entsprechende Passus (Metaphysik der Sitten, nach der Mitschrift aus dem Wintersemester 1793/94) vollständig angeführt (AA XXVII. 2.1, 651 f; Hervorhebung v. Verf.): „In specie ist hier im moralischen Sinn Vollkommenheit die Übereinstimmung aller seiner Vermögen mit dem Zwecke der Menschheit, d. i. Glückseligkeit; und sind unsre Handlungen darauf gerichtet, dass wir eigene Vollkommenheit zur Glückseligkeit anderer suchen, so stimmen sie mit dem Zweck der Menschheit überein: ja, wenn hiemit das Gesetz der Moralität in Erfüllung geht, so erreichen wir den letzten Zweck aller Dinge, das höchste Gut, wohin der Mensch es nur dadurch, dass er sich dazu tauglich machet, bringen kann. […] Um es nun dahin zu bringen, hat er sowohl Pflichten gegen sich selbst, als gegen andere zu beobachten, welche man officia amoris nennt“. Dieser späte kantische Bezug auf das in der „Liebe“ in „Erfüllung gehende moralische Gesetz“ ist möglicherweise durch Schriften des Theologen Tieftrunk inspiriert, die Kant in den frühen 1790er-Jahren bekannt geworden sind. „Unsere Handlungen sind nicht in Ansehung Gottes meritorisch im positiven Verstande; wir können ihn nicht obligieren“ (Refl. 7109, AA XIX, 250). 248 Zu Recht betont H. Oberer: „Kant kennt also einen bloß formalen kategorischen Imperativ und eine Mehrzahl materialer, aber ebenfalls kategorisch gebietender Imperative. Von dem singulären, bloß formalen kategorischen Imperativ handelt deshalb die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und … die
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lung geht“, besagt demnach, dass darin auch erst das „absolut Praktische“ seine Vollendung findet; dies erklärt auch die notwendige Differenzierung des „kategorischen Imperativs“ und der darin entfalteten moralisch-ethischen Ansprüche. Demnach sind der Bestimmung des Menschen auf der Stufe eines „letzten Zwecks der Natur“ das „System der Kultur“ als „Tauglichkeit zu beliebigen Zwecken“, die unterschiedlich maßgebenden „hypothetischen“ („technischen“ und „pragmatischen“) „Imperative“ (vgl. V 243) und deren „Grundsätze“ zuzuordnen (von denen hier jedoch abgesehen wird), während mit seiner Auszeichnung als „Zweck an sich selbst“ die Qualifikation des sittlichen Imperativs als „kategorisch“ korreliert (vgl. IV 43 ff ). Letzterer, „der, ohne irgend eine andere durch ein gewisses Verhalten zu erreichende Absicht als Bedingung zum Grunde zu legen, dieses Verhalten unmittelbar gebietet“ (IV 45) und so erst die gesuchte „unbedingte und zwar objektiv und mithin allgemein gültige Notwendigkeit bei sich“ führt (IV 46), bringt ein „unbedingtes Sollen“ zur Geltung – so freilich, dass er eben „nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr folgen soll“, betrifft, „sondern die Form und das Prinzip, woraus sie selbst erfolgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle“ (IV 45). Erst dies rückt die Stellung des Menschen als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ ins Blickfeld, ohne die sein Status als „Zweck an sich selbst“ nicht hinreichend ausgewiesen werden kann. Dieser Weltstellung als existierendem „Endzweck der Schöpfung“ entspricht es sodann, dass auch seine praktische Orientierung am „Endzweck der Schöpfung“ eine „ganz andere Ordnung der Dinge“ anzeigt, die wiederum, dem „Weltbegriff der Philosophie“ gemäß, eine Differenzierung und Verknüpfung der „wesentlichen“ und der „höchsten Zwecke der Vernunft“ verlangt. Gleichwohl bleibt auch für den Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ die Aufgabe bzw. die notwendige Orientierung daran maß-gebend, „die Bestimmung der Tierheit in uns nicht zu vernachlässigen, oder gar zu verletzen, indes wir doch frei genug sind, sie anzuziehen oder nachzulassen, zu verlängern oder zu verkürzen, nachdem es die Zwecke der Vernunft erfordern“ (V 554). Der Rückblick darauf, dass im Menschen als „Kulturwesen“ die Natur sich selbst überschreitet, während dieser als „Endzweck der Schöpfung“ über die „Kultur“ hinaus in „eine ganz andere Ordnung der Dinge“ übertritt,249 verbindet sich so mit dem Ausblick darauf, dass dieser existierende „Endzweck der Schöpfung“ durch das moralisch inspirierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ sich „vermissend“ und „hoffend“ an jenen vernunft-legitimierten moral-transzendierenden „Endzweck“-Bestimmungen orientiert, die in der Idee des „Übersinnlichen in uns“ verwurzelt bleiben. Kritik der praktischen Vernunft, – von dessen materialen Derivaten die Metaphysik der Sitten. Thema der ‚Grundlegungsschriften‘ ist also die Pflicht ihrer Form nach, d. h. das, was ihren Begriff überhaupt ausmacht, Thema der Sittenmetaphysik ist die Pflicht ihrer Materie nach“ (Oberer 1997, 165). Freilich, schon in der Grundlegungsschrift ist von einem „durch bloße Vernunft“ gegebenen Zweck die Rede, der als solcher „für alle vernünftige Wesen gleich gelten“ (IV 59) und als solcher deshalb auch, als ein moralischer Zweck“, „von der Neigung unabhängig apriori gegeben sein muss“ (IV 510). 249 Noch der späte Kant betonte: „Die technisch-praktische Vernunft eines Naturwesens geht auf das Erkenntnis der Mittel zu allen beliebigen Zwecken“ und unterschied davon die „moralisch-praktische Vernunft“ (AA XXII, 64). S. dazu u. II., 1.
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3.2.1. Der Mensch als „Subjekt des moralischen Gesetzes“: Die im „moralischen Standpunkt der Freiheit“ sich offenbarende Wirklichkeit des „Übersinnlichen in uns“ Es ist die im „Sollensanspruch“ des moralischen Gesetzes sich manifestierende „Unbedingtheit“ und die dadurch qualifizierte menschliche Weltstellung, die den Menschen nicht nur als „letzten Zweck der Natur“, sondern als „Endzweck der Schöpfung“ ausweist und so einen andernfalls drohenden Begründungsregress zu vermeiden vermag. Allein im „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“ (und der darin verwurzelten Befähigung zu nicht nur beliebigen, sondern „unbedingten Zwecken“) wird er seines „eigentlichen Selbst“ (vgl. II 461; IV 95; 98)250 und somit auch erst seiner „praktischen Bestimmung“ (II 361; IV 139) inne.251 Es ist dieses von Kant in seiner Besonderheit ausgewiesene „Faktum“, das den Aspekt der uneinholbaren „Faktizität“ und denjenigen, dass „Vernunft darin sich selbst schafft“252 (s. u. III., 2.1.), in eigentümlicher Weise in sich vereint und dergestalt die im theoretischen Vernunftgebrauch (durch die Unterscheidung der „Phäno250 Vgl. dazu Konhardt (1986, 160–184; 179 ff ); für dieses im Sinne des „genitivus subjectivus“ und „genitivus objectivus“ zu verstehende „Faktum der Vernunft“ bleibt in der Tat bezüglich der „Grundstruktur der Subjektivität“ zu beachten: „Ein Wesen, an das der Anspruch der Vernunft (in der Form des zum kategorischen Imperativ umformulierten Sittengesetzes) überhaupt ergehen kann, d. h. ein solches Wesen, das diesen Anspruch überhaupt ‚verstehen‘ und anerkennen kann, muss sich grundsätzlich so in ein Verhältnis zu sich selbst setzen können, dass es sich selbst zugleich als denjenigen, der den Anspruch erhebt, und als den Adressaten dieses Anspruchs zu begreifen vermag: ‚Mein‘ Anspruch ergeht ‚an mich‘. Erst in diesem Sinne kann von ‚Selbstgesetzgebung‘ (Autonomie) gesprochen werden“ (ebd. 176). Die (von Kant letztendlich doch nicht offengelassene) entscheidende Frage, ob „ein unbedingtes Gesetz bloß das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffe der Freiheit sei“ (IV 139), liegt dem zugrunde. Erst dadurch partizipiert der Mensch am „mundus intelligibilis“ als der „Welt vernünftiger Wesen, betrachtet nach objektiven Gesetzen der Freiheit“ (Refl. 4254, AA XVII, 484), die als solche freilich als Idee der „moralischen Welt“ gelten darf. – Eine präzise Bestimmung dieses „eigentlichen Selbst“ und seiner immanenten Selbstdifferenzierung bietet Römpp (2006, 287): „Der Begriff des ‚eigentlichen‘ Selbst bezeichnet das Selbst der Freiheit, das nicht ein bestimmtes Selbst sein kann, aus dessen Bestimmungen die ethischen Gesetze ihrerseits ihre Bestimmtheit erhalten würden, sondern nur ein bestimmungsloses Selbst, das sich durch das Sich-allgemein-machen seiner Selbstgesetzgebung erst als Selbst bestimmt, und damit Selbstgesetzgebung im Sinne eines genitivus subiectivus und obiectivus ist. Deshalb wird es in seiner ethischen Selbstbestimmung im Sich-allgemeinmachen auch frei ‚von sich‘ – d. h. von seiner vorgegebenen Bestimmtheit – und frei ‚zu sich‘ bzw. ‚für sich‘, indem es sich darin eine ethische Bestimmtheit gibt, die weder durch äußere noch durch innere Vorgegebenheiten determiniert ist. Die Freiheit der ethischen Bestimmtheit besteht also in einem Sichdurch-sich-selbst-bestimmen, das kein ‚sich‘ und kein ‚selbst‘ voraussetzt.“ 251 Denn „(n)icht die Fähigkeit zu handeln überhaupt und im allgemeinen macht für ihn [Kant] das ‚eigentliche Selbst‘ aus, sondern die bewusste Übernahme des Vernunftanspruchs, der sich im Faktum der Vernunft anmeldet“ (Konhardt 1986, 182). – In diesem „Faktum der Vernunft“ ist noch jener zentrale Gedanke mitzuhören, wonach „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst hervorbringt“; denn anders wäre der für die Autonomie entscheidende Gedanke der Einheit des „allgemeinen Gesetzes“ und der „eigenen Gesetzgebung“ nicht zu legitimieren. – In der Tat: „Das ‚Factum‘ ist nicht etwas Vor- oder gar Irrationales, das die Vernunft einfach hinnehmen muss, sondern das, was durch sie allererst geschaffen wird – metaphorisch gesprochen: ihre Tat“ (Willaschek 1991, 458); vgl. dazu Beck 1960/61 u. 1974. – Im Ausgang davon ist auch Kants Bemerkung darüber zu lesen, dass in den „subjektiven Ideen der Vernunft“ diese lediglich „sich selbst schafft“ (VI 181); s. dazu u. III., 2.1. 252 AA XXI, 93.
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mena und Noumena“) zwar denkbare „Kausalität durch Freiheit“, „durch die Tat“ gemäß dem „Grundsatz der Sittlichkeit“ als wirklich erweist und so jenes (im Sinne der „transzendentalen Freiheit“) bloße „Als-frei-gedacht-werden-Können“ der Handlungen „in ein Sein verwandelt“ (IV 231) – entscheidendes Grundmotiv der neuen „Freiheitslehre“ der „zweiten Kritik“, dessen notwendige Explikation der „wahren Glieder, die den Zusammenhang des Systems bemerklich machen“ (IV 112), innerhalb des Rahmens einer Neuauflage der „Kritik der reinen Vernunft“ nicht zu leisten war (s. dazu u. IV., 1.). Jener „Standpunkt“, „den die Vernunft sich genötigt sieht außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken“ (IV 95), ist nunmehr allein im „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“ verankert und hat in jenem frühen kantischen Rekurs auf das anzuerkennende „Prinzip anderer Menschen“ (IV 62) eine bemerkenswerte Entsprechung. Es ist also der „zweiten Kritik“ zufolge „das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewusst werden (sobald wir uns Maximen des Willens entwerfen), welches sich uns zuerst [!] darbietet, und, indem die Vernunft jenes als einen durch keine sinnliche Bedingungen zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Grund darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit führt [!]“ (IV 139).253 Es könnte sein, dass sich in diesem unscheinbaren Hinweis geradezu eine „Revolution der Denkungsart“ verbirgt, besagt dieser Hinweis doch näherhin dies: „Er urteilet also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre“ (IV 140).254 Das in diesem unbedingten Anspruch des moralischen Gesetzes – als „Faktum der reinen Vernunft, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend … ankündigt“ (IV 142)255 – offenbar gewordene „Übersinnliche in uns“256 soll den Gegenstand der „Idee der Freiheit“ als „Tatsache“ bestätigen, 253 Damit ist nicht nur das „Können in ein Sein verwandelt“ (IV 231) und mithin die „transzendentale Freiheit“ erwiesen, sondern diese Freiheit als „ratio essendi“ des Bewusstseins des „moralischen Gesetzes“ als Vermögen des „Guten“ und des „Bösen“ ausgewiesen; Letzteres wird auch aus Kants Hinweis auf die „Verkehrtheit des Herzens“ (IV 686) bzw. auf die „perversio boni“ (vgl. IV 709 ff ) deutlich, die sich nicht auf „Schwäche“ reduzieren lassen. 254 Denn, so heißt es nunmehr: „Dass wir frei sind können wir nicht durch unmittelbares Bewusstsein unserer Spontaneität (denn dieser Begriff ist alsdann negativ) sondern nur durchs moralische Gesetz in uns erkennen. Wir erkennen eher dass wir sollen als wir den Bestimmungsgrund unserer Kausalität und dass wir können, erkennen“ (so auch in den Vorarbeiten zur späten Metaphysik der Sitten: XXIII, 245). – Von daher fällt auch auf die frühere Reflexion 6319 (AA XVIII, 633) ein neues Licht: „Aber auch das empirische Bewusstsein der Vernunftvorstellungen oder auch der Kategorien und des Denkens überhaupt gehört immer noch zur Erscheinung, weil es Begebenheit ist, und es bleibt nichts Intellectuelles als das Ich – praktisch aber [!] die Freiheit samt ihrem Gesetze als Erkenntnis.“ 255 Römpp markiert den Zusammenhang genau: „Deshalb ist die Einnahme des intelligiblen Standpunkts ein bloßer Gedanke, und die Vernunft kann sich in die Verstandeswelt zwar hineindenken, nicht aber ‚hineinschauen‘ oder sich ‚hineinempfinden‘ … Folglich bleibt der Standpunkt der Intelligibilität ein negativer Gedanke, der nur in einer einzigen Hinsicht positiv wird, nämlich durch die Moralität selbst, und besagt nur, dass die Freiheit mit einem Willen verbunden ist, so zu handeln, dass das Prinzip der Handlungen der wesentlichen Beschaffenheit einer Vernunftursache gemäß ist, d. h. der Bedingung der Allgemeinheit der Maxime“ (Römpp 1994, 142). 256 Zum Begriff des „Übersinnlichen“ s. auch Winter (2004, 318 f ) und Schwaiger (2004, 331–345); A. Model (1986/87) will nachweisen, dass Kant diesen Terminus erst in den Schriften nach 1786 und unter dem Einfluss von Mendelssohns „Morgenstunden“ übernommen hat.
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die als solche (als einzige der „Ideen“) auch „unter die Scibilia mit gerechnet werden“ müsse (V 599)257 – und bleibt doch, eben darin, für sich selbst uneinholbar vorausgesetzte „unbegreifliche“ Wirklichkeit. Zu den damit verbundenen „Unbegreiflichkeiten“ gehört ja nicht allein der unableitbare unbedingte Anspruch der „praktische(n) unbedingte(n) Notwendigkeit des moralischen Imperativs“ (vgl. die Schlussanmerkung der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“),258 sondern auch die daran anknüpfende Frage, wie es denn möglich ist, dass reine Vernunft durch den Bezug auf das „Gefühl der Achtung fürs moralische Gesetz“ (ein „von der Vernunft selbst gewirktes Gefühl“) für den Menschen als sinnlich affiziertes Wesen Grundlage der moralischen Motivation sein soll: Einerseits unbegreiflich in seiner Wirklichkeit – und dennoch, „nicht empirischen Ursprungs“, „ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig apriori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können“ (IV 194), weil es der „Anerkennung des moralischen Gesetzes“ zugrunde liegt. Sofern der vernommene Anspruch des „moralischen Gesetzes“ in diesem Sinne mit dem Bewusstsein der Freiheit untrennbar verbunden ist, lässt sich sagen: In der das „Dass ich soll“ des unbedingten Sollensanspruchs der Moralität begründenden Freiheit (als „ratio essendi“) ist dieses praktische Selbstbewusstsein verankert und realisiert.259 Darin ist das „vernünftige, endliche Wesen“ in der zweifachen Hinsicht „Subjekt des moralischen Gesetzes“, dass es als „Gesetzgeber“ zugleich selbst diesem „moralischen 257 Dies besagt jedenfalls etwas anderes als die in der Vorrede zur „zweiten Kritik“ geäußerte These, „dass das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit bewusst werden können“, Ersteres also „ratio cognoscendi“ der Letzteren ist. Auch bezüglich dieser Auszeichnung der Freiheitsidee als „scibile“ bleibt freilich zu bedenken, dass mit dieser Freiheit zwar notwendig das „Bewusstsein“ von ihr verbunden ist; gleichwohl macht es einen wesentlichen Aspekt ihrer „Unbegreiflichkeit“ aus, dass die Wirklichkeit der Freiheit daraus nicht begründbar, d. h. daraus in ihrer Realität nicht ableitbar ist. 258 In der späten „Tugendlehre“ thematisierte Kant diese immer neu staunenswerte „Unbegreiflichkeit“ als eine solche der „Selbsterkenntnis“, die auf diese uneinholbare „Aufgegebenheit“ abzielt: „(W)as ist das in dir, was sich getrauen darf, mit allen Kräften der Natur in dir und um dich in Kampf zu treten
? Wenn diese Frage, deren Auflösung das Vermögen der spekulativen Vernunft gänzlich übersteigt und die sich dennoch von selbst einstellt, ans Herz gelegt wird, so muss selbst die Unbegreiflichkeit in diesem Selbsterkenntnisse der Seele eine Erhebung geben, die sie zum Heilighalten ihrer Pflicht nur desto stärker belebt, je mehr sie angefochten wird“ (IV 624). 259 Sehr deutlich (vielleicht sogar in der schärftsten Form) hat Kant dies in seiner späten „Anthropologie …“ formuliert, wenn er dort – in Abgrenzung sowohl von dem „Ich des inneren Sinnes“ als auch demjenigen der (an „Inhalt gänzlich leeren“) „bloßen Apperzeption“ – betont: „Das Erkenntnis seiner selbst nach derjenigen Beschaffenheit … was er an sich selbst ist, kann durch keine innere Erfahrung erworben werden und entspringt nicht aus der Naturkunde vom Menschen sondern ist einzig und allein das Bewusstsein seiner [!] Freiheit, welche ihm durch den kategorischen Pflichtimperativ, also nur durch den höchsten praktischen Vernunft[gebrauch?] kund wird“ (VI 429, Anm.) – und so auch erst im eigentlichen Sinne „individuiert“. Kurz davor hatte Kant betont, dass eine Kenntnis seiner „an sich selbst“ eben doch „ein Bewusstsein der reinen Spontaneität (den Freiheitsbegriff )“ zugrunde legen müsse, welches freilich nicht empirische Selbsterkenntnis wäre, „sondern nur Bewusstsein der Regel seines Tuns und Lassens ohne dadurch ein theoretisches … Erkenntnis seiner Natur erworben zu haben“ (VI 427, Anm.). Obgleich es also „ein und dieselbe Vernunft“ ist, unterschied er doch einen theoretischen vom praktischen „Vernunftgebrauch“ (und ein zweifaches „Vernunftbedürfnis“), der offenbar auch seiner ebenfalls späten (terminologisch allerdings keineswegs konsequent befolgten) Unterscheidung zwischen „bloß vernünftigem Wesen“ und „Vernunftwesen“ (IV 550) zugrunde liegt und unterschiedliche Konzeptionen der Begründung der Gottesidee bzw. daran geknüpfter Vernunftansprüche zur Folge hat.
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Gesetz“ (als „Glied“ des „Reichs der Zwecke“) unterworfen ist; anders kann „moralische Selbstverpflichtung“ auch nicht gedacht werden. Dass die „intelligible Existenz“ sich erst im Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ realisiert (und anders auch gar keine Erkenntnis ihres „eigentlichen Selbst“ hat), qualifiziert den Menschen als moralische „Persönlichkeit“ und somit als Angehörigen der „moralischen Welt“; andernfalls wäre er lediglich „vernünftiges Wesen“ in einem noch moral-neutralen Sinne – „ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische schlechthin gebietende Gesetz ist, zu ahnen“ (IV 673).260 Indes, allein aus dieser Erfahrung des unbedingten „dass ich soll“ ist auch eine authentische Lebensführung im Blick auf das „Ganze“ einer „moralischen Lebensgeschichte“ (IV 811) zu begründen. „Reine praktische Vernunft“, d. h. ihre „Prinzipien a priori“ (III 650; vgl. auch II 255), sind es also, die allein das Bewusstsein seiner selbst „nach demjenigen, was ich als Ding an sich selbst bin“, konstituieren (III 601; III 628; 652 f; II 498 f; VI 429, Anm.) und solcherart das „Übersinnliche in uns“ durch diese „praktischen Datis“ nunmehr auch positive Bestimmtheit gewinnen lassen (IV 110; vgl. auch IV 224), d. h., in Kants aufschlussreicher Wendung, „unsere Wirklichkeit bestimmbar“ (II 361) machen. Denn „ebendasselbe Subjekt, das sich … auch seiner, als Dinges an sich selbst, bewußt ist, betrachtet auch sein Dasein, so fern es nicht unter Zeitbedingungen steht, sich selbst aber nur als bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch Vernunft selbst gibt“ (IV 223); und auch nur in dieser Hinsicht sei es erlaubt, von dem „intelligiblen Bewußtsein seines Daseins (der Freiheit)“ (IV 224) zu reden.261 Über diese allein in der „praktischen Er260 Eine solche Zweideutigkeit verrät die schon angeführte Refl. 7305 (AA XIX, 307). 261 Dass wesentliche Ausführungen Kants in der „zweiten Kritik“ im Gegensatz zur „Grundlegung …“ stehen (s. Ludwig 2010; 2011), sofern sie eben „Kants Bruch mit der schulphilosophischen Freiheitslehre“ anzeigen, zeigt auch sein Rekurs darauf, dass „uns die Wirklichkeit der intelligiblen Welt, und zwar in praktischer Rücksicht bestimmt, gegeben worden [ist], und diese Bestimmung, die in theoretischer Absicht transzendent (überschwenglich) sein würde, ist in praktischer immanent“ (IV 232). Hier rekurriert Kant nun bezeichnenderweise auf unser „eigne(s) [!] Subjekt, so fern es sich durchs moralische Gesetz einerseits als intelligibeles Wesen (vermöge der Freiheit) bestimmt, andererseits als nach dieser Bestimmung in der Sinnenwelt tätig, selbst erkennt, wie jetzt der Augenschein dartut“ (IV 233). (Hier wird die Aufnahme und Transformation des Faktums des „zweifachen Bewusstseins des Ich“ besonders deutlich.) So wird im Unterschied zur bestimmenden Argumentation der „ersten Kritik“ (in der „Auflösung der dritten Antinomie“) die „individualisierend-praktische“ Bestimmung besonders deutlich, die sich, auf diesem Fundament der neuen „Freiheitslehre“, auch als „existenzialanthropologisches“ Fundament der Postulatenlehre erweisen wird (s. dazu den IV. Teil). Heimsoeths Frage enthält deshalb in dieser Hinsicht nicht mehr als einen Problemverweis: „Gibt es im sittlichen Bewusstsein der Person nicht auch Bestätigung und in gewissem Maße selbst Erfüllung jener im Apperzeptionsbewusstsein nur punktuell gegebenen Ichrealität? Zu wenig wird ja immer noch die enge Ineinanderarbeit von theoretischer und praktischer Vernunft betrachtet!“ (Heimsoeth 1971, 250). Was Heimsoeth hier offenbar als „Ichrealität“ vor Augen steht, wäre demzufolge nur jenseits der bloßen „Allgemeinheit“ des „intellektuellen Selbstbewusstseins“ und der bloßen Einzelheit des „empirischen Subjekts“ in seiner „Besonderheit“ zu denken, die eben, wie schon erwähnt (s. o. I., Anm. 160) auf jenes „Bewusstsein seiner [!] Freiheit“ führt, „welche ihm [nur] durch den kategorischen Pflichtimperativ … kund wird“ (VI 429, Anm.). – Diese „Einheit der Vernunft“ in ihrer theoretischen und praktischen Differenzierung (und die darin implizierte „Individuierung“) scheint doch das diesbezüglich entscheidende Kernproblem zu sein (die übrigens auch die erwähnte späte Unterscheidung zwischen „Vernunftwesen“ und „vernünftigem Wesen“ berührt: IV 550). Klärungsbedürftig ist dabei nicht zuletzt das Verhältnis jener „Allgemeinheit des intellektuellen Apperzeptionsbewusstseins“ zu jener „Allgemeinheit“ der „Form des Willens“ und zu den weiteren Di-
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kenntnis“ zugänglichen „Data“ wird also jener zwar unabweisliche, obgleich „transzendente Vernunftbegriff des Unbedingten“ bestimmbar (II 28), sofern dieses „Unbedingte“ sich nicht nur (wie im „theoretischen Vernunftgebrauch“) als notwendig „Erdachtes“ zu denken aufgegeben, sondern im Anspruch des moralischen „Sollens“-Gesetzes als „gegeben“ erweist und in solcher „Positivität“ zu einer „Anzeige“ der besonderen Art wird: „Dagegen gibt das moralische Gesetz, wenn gleich keine Aussicht, dennoch ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Faktum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese so gar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen lässt“ (IV 156). Nur dies erlaubt es, jenen zwar „theoretisch“ nicht erkennbaren (und insofern „leeren“) Begriff einer „causa noumenon“ mit dem „der Freiheit (und, was davon unzertrennlich ist, mit dem moralischen Gesetze, als Bestimmungsgrunde derselben) zu verbinden“ (IV 172). Demnach ist es dieses „übersinnliche Vermögen“ der „positiven Freiheit“, welches die Wirklichkeit der (Idee der) Freiheit „durch die Tat“ (IV 107) erweist und so auch erst einen unbedingten „Zweck der Freiheit“ zu begründen und zu „realisieren“ vermag: „Also ist jene unbedingte Kausalität und das Vermögen derselben, die Freiheit, mit dieser aber ein Wesen (ich selber), welches zur Sinnenwelt gehört, doch zugleich als zur intelligiblen gehörig nicht bloß unbestimmt und problematisch gedacht (welches schon die spekulative Vernunft als tunlich ausmitteln konnte), sondern sogar in Ansehung des Gesetzes ihrer Causalität bestimmt und assertorisch erkannt und so uns die Wirklichkeit der intelligiblen Welt, und zwar in praktischer Rücksicht bestimmt, gegeben worden, und diese Bestimmung, die in theoretischer Absicht transzendent (überschwenglich) sein würde, ist in praktischer immanent“ (IV 232).262 Dabei bleibt freilich im Sinne notwendiger Differenzierungs- und Vermittlungsschritte – und vor allem in Rücksicht auf die in Kants Denken stillschweigend vollzogene „radikale Umgestaltung“, ja den darin zutage tretenden „Bruch“ (s. o. I., Anm. 34) – zu beachten, dass das – die bloß intellektuelle „Ich-Form“ indizierende, gleichwohl „leere“ – „dass ich bin“ der „ursprünglichen Einheit der synthetischen Apperzeption“ als „bloße Form des Bewusstseins“ (II 384) allgemein bleibt im Sinne der transzendentalen Voraussetzung aller Erfahrungskonstitution (inklusive „meiner selbst“ als „empirischer Erscheinung“). Davon ist deshalb jene darin nicht einzuholende „Individualisierung“ der sittlichen Konstitution des Subjekts zu unterscheiden, die aus jenem „dass ich bin“ als formal-„allgemeinem mensionen des „Freiheits“-Begriffs. – Die Zweifel daran, ob Kant die notwendige Vermittlung der Allgemeinheit des „intellektuellen Selbstbewusstseins“ mit der „Einzelheit des Subjekts“ und der angezeigten „praktischen“ Dimension und die damit zusammenhängende Differenzierung von „Identität“ auch wirklich gelungen ist. Bezüglich dieser sehr schwierigen Probleme ist natürlich in besonderer Weise auf die einschlägigen Überlegungen von D. Henrich hinzuweisen. 262 Es ist wichtig – nicht zuletzt für die darauf beruhende Differenzierung der Begriffe „Person“ und „Persönlichkeit“ –, darauf zu achten, dass Kant ausdrücklich die je bestimmte Individualität des „intelligiblen Charakters“ des „vernünftigen Weltwesens“ betonte: „Daher kann man nicht fragen: warum hat sich nicht die Vernunft anders bestimmt? Sondern nur: warum hat sie die Erscheinungen durch ihre Kausalität nicht anders bestimmt? Darauf aber ist keine Antwort möglich. Denn ein anderer [!] intelligibeler Charakter würde einen andern empirischen gegeben haben …“ (II 504). Diese Unterscheidung ist auch für den Grund jener Differenzierung zwischen „Vernunftwesen“ und „vernünftigem Wesen“ (IV 550) bedeutsam.
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Prinzip“ einerseits zwar nicht einfach ableitbar ist, gleichwohl „ein und dasselbe Subjekt“ ausmacht (wie wohl in besonderer Weise Fichte in der Spur Kants betont hat). Allein auf solche Weise ist „unser Selbsterkenntnis von der fruchtlosen überschwenglichen Spekulation zum fruchtbaren praktischen Gebrauche“ (II 355) fortgeschritten, wodurch jene „nur zum Denken überhaupt“ „gegebene“, „rein intellektuelle“ Vorstellung „Ich“ (II 355 f, Anm.) (als bloß „logische Funktion“: II 359) durch „apriori feststehende, unsere Existenz betreffende Gesetze des reinen Vernunftgebrauchs“ (II 360) erst individuelle Konkretheit gewinnt, d. h. den Menschen in besonderer Weise seiner selbst innewerden lässt: „Gesetzt aber, es fände sich in der Folge, nicht in der Erfahrung, sondern in gewissen (nicht bloß logischen Regeln, sondern) apriori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs, Veranlassung, uns völlig apriori und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen, so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; und hier würden wir inne werden, dass im Bewusstsein unseres [!] Daseins apriori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz, doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens [„welches mir das Bewusstsein des moralischen Gesetzes allererst offenbart“] in Beziehung auf eine intelligible (freilich nur gedachte) Welt zu bestimmen dienen kann“ (II 360 f ). Dieser wichtige – freilich bezeichnenderweise in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“, d. i. nach der von Kant vorgenommenen (durch Pistorius’ Kritik inspirierten) „Umgestaltung der Freiheitslehre“ eingefügte – Passus in der „Allgemeinen Anmerkung“ zur „Paralogismenlehre“ über das alleinige „Bestimmbar-Werden unserer [!] Wirklichkeit“, das auch allein durch praktische „Prinzipien apriori“ gewährleistet ist, macht besonders deutlich, dass dieses „Bewusstsein“ eben nicht einfach mit dem „dass ich bin“ der „synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption“ identisch ist, von dem in der „transzendentalen Deduktion“ (im berühmten § 25 der KrV) die Rede ist, zumal durch dieses ja gerade noch nicht „unsere Wirklichkeit bestimmbar“ wird: „Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewusst, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur dass ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein Anschauen“ (II 152).263 263 Freilich betonte Kant in der „allgemeinen Anmerkung“ wiederum (II 359 f ): „[I]m Bewusstsein [!] meiner selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst, von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist“ (ebd. 360); indes, in der „Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ heißt es von dem „Wesen an sich selbst“ wiederum: „… daß dieses Faktum [„worin sich reine Vernunft bei uns in der Tat praktisch beweiset“] mit dem Bewusstsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei sei, wodurch der Wille eines vernünftigen Wesens, das als zur Sinnenwelt gehörig, sich, gleich anderen wirksamen Ursachen, notwendig den Gesetzen der Kausalität unterworfen erkennt, im Praktischen doch zugleich sich auf einer andern Seite, nämlich als Wesen an sich selbst, seines in einer intelligiblen Ordnung der Dinge bestimmbaren Daseins bewusst ist, zwar nicht in einer besondern Anschauung seiner selbst, sondern gewissen dynamischen Gesetzen gemäß, die die Kausalität desselben in der Sinnenwelt bestimmen können“ (IV 155). Hier wurde von Kant – unausgewiesen und als Folge jenes angezeigten „Bruchs“ – der Rekurs auf die „apriorischen Prinzipien“ des Sittengesetzes vollzogen, wodurch jenes „Wesen an sich selbst“ bzw. die „intelligible Existenz“ allererst bestimmbar wird. Jenes hier behauptete „Einerlei“ des „Faktums“ des „Bewusstseins des Sittengesetzes“ und des „Bewusstseins
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Gegenüber jenem allgemeinen „dass ich bin“ der „Apperzeption“ (des „absoluten Subjekts“ als „Gefühl eines [!] Daseins ohne den mindesten Begriff“: III 205, Anm.),264 das deshalb auch als keine Erkenntnis gelten darf, ist in dem Anspruch des „dass ich soll“ (im „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“) eine „Vermeinung“ von ganz anderer Art wirklich. Von der die „synthetische Einheit der Apperzeption“ auszeichnenden Spontaneität“ und „Identität“ ist das je individuierende Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ unterschieden (worin freilich jene „synthetische Einheit der Apperzeption“ aufgehoben bzw. hierfür auch vorausgesetzt bleibt) und stellt insofern eine „praktische Konkretisierung“ der „Subjektivität“ dar, die als solche auch über die die „transzendentale Freiheit“ konstituierende Spontaneität noch hinausgeht.265 Die „Gewissens-Gewissheit“ wäre so nach der Freiheit des Willens“ ist freilich, ohne erneuten Rückfall, nur im Sinne der Differenz von „ratio cognoscendi“ und „ratio essendi“ zu verstehen; keinesfalls darf dies jedoch auf den in der „Grundlegung“ (gegenüber der „ersten Kritik“) maßgebenden Gedanken verkürzt werden, dem zufolge die für uns als „vernünftige Wesen zum Gesetz“ dienende „Sittlichkeit“ „lediglich aus der Eigenschaft der Freiheit abgeleitet werden“ müsse (IV 82). Die berühmte (Kants „Umgestaltung der Freiheitslehre“ indizierende) Bestimmung in der Vorrede zur „Kritik der praktischen Vernunft“, wonach die Freiheit „ratio esssendi“ des „moralischen Gesetzes“ ist, während Letzteres wiederum als „ratio cognoscendi“ der Freiheit fungiert (IV 108, Anm.), richtet sich offenkundig (von Pistorius gleichsam „zurecht gebracht“) direkt gegen die in der „Grundlegung …“ maßgebende Versicherung (die offensichtlich noch ohne Rekurs auf das „Bewusstsein des Sittengesetzes“ auskommen will): „Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen andern Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstände affiziert wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese, als reine Selbsttätigkeit, ist sogar darin noch über den Verstand erhoben“; Kant verwirft demnach die für die „Grundlegung“ leitende Auffassung: „Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit, welches in der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen eben so zum Grunde liegt, als Naturgesetz allen Erscheinungen. […] Denn jetzt sehen wir, dass, wenn wir uns als frei denken [!], so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen [!] die Autonomie des Willens samt ihrer Folge [!], der Moralität“ (IV 88 f ). Auch dies spricht dafür, die kantische Bestimmung der „Freiheit“ als „ratio essendi“ des moralischen Gesetzes als „praktisch-transzendentale Geltungsbedingung“ zu verstehen: „Die praktisch-transzendentale Geltungsfunktion der Freiheit ist im Rahmen der Faktumslehre derart zu spezifizieren, dass das endliche Vernunftwesen nach Kant ohne die Voraussetzung der Freiheit kein Bewusstsein vom Sittengesetz, von der eigenen unbedingten moralischen Verpflichtung besitzen könnte“ (Bambauer 2011, 262). Noch der späte Kant hat diesen Gedanken folgendermaßen resümiert: „Der Geist des Menschen (mens) in einem Zwange, der nur durch Freiheit möglich ist“ (AA XXI, 25). 264 Es ist höchst bemerkenswert, dass Kant hier über die „psychologische Idee“ anmerkt (III 205, Anm.): „Wäre die Vorstellung der Apperzeption, das Ich, ein Begriff, wodurch irgend etwas gedacht würde, so würde es auch als Prädikat von anderen Dingen gebraucht werden können, oder solche Prädikate in sich enthalten. Nun ist es nichts mehr als Gefühl eines [!] Daseins ohne den mindesten Begriff und nur Vorstellung desjenigen, worauf alles Denken in Beziehung … steht“. Indes, in Abhebung von jenem „Bewusstsein meiner selbst beim bloßen Denken“ als dem „Wesen selbst“ verwies Kant – freilich schon unter den Vorzeichen der Kritik an seiner frühen Konzeption – ausdrücklich auf das „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“ (II 361), zumal im Anspruch solcher „Gesetzgebung“ eine Individualisierung besonderer Art eröffnet ist, die sich, dem Inhalte nach, freilich an der Idee der „allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft“ orientiert. In dieser besonderen Hinsicht gilt in der Tat: „Kantisches ‚Selbstbewußtsein‘ in reiner praktischer Absicht intendiert: Sichwissen als bestimmt durch ein ausgezeichnetes Gesetz: das ‚Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft‘. Das Bewusstsein dieses Grundgesetzes als eines Faktums der Vernunft bezeichnet für Kant die maßstäbliche Zugänglichkeit eines Subjektum für sich“ (Ebeling 1979, 18). 265 Es ist dies gewissermaßen Kants Version der Fichte’schen Bemerkung, „dass das praktische Ich das Ich des ursprünglichen Selbstbewusstseins sei; dass ein vernünftiges Wesen nur im Wollen unmittelbar sich wahrnimmt […]. Das praktische Vermögen ist die innigste Wurzel des Ich, auf dieses wird erst alles andere aufgetragen, und daran angeheftet“ (Fichte III, 21). – Mit Recht bemerkt Wenzel (1992, 127) zu die-
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Kant jenes „bewunderungswürdige Vermögen“ bzw. der Ort der evidenten Erfahrung des „Sich-aufgegeben-Seins“, das sich in jenen „gewissen … apriori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs“ (II 360) artikuliert – und dem zugleich das widerständige „Bewusstsein“ des Nicht-entsprochen-Habens korrespondiert. Auch in diesem Sinne ist Kants Bestimmung des Gewissens als „sich selbst richtende moralische Urteilskraft“ zu verstehen, worin „die Vernunft sich selbst“ richtet, „ob sie auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe, und … den Menschen, wider oder für sich selbst, zum Zeugen auf[stellt], dass dieses geschehen, oder nicht geschehen sei“ (IV 860).266 Demnach ist die (von der bloß „logischen Persönlichkeit“ unterschiedene) Eigenart dieses „Für-sich-Seins“ der „moralischen Persönlichkeit“ (im „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“: II 361), die sich dem unbedingten Anspruch dieses „moralischen Gesetzes“ unterstellt, in ihrer „Meinigkeit“, d. i. „in Ansehung unsres eignen Subjekts“ (IV 233), also auch nicht einfach mit der „ursprünglich synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption“ identisch bzw. daraus herleitbar. Gleichwohl ist es doch „ein und dieselbe Vernunft“, die sich freilich in der Einheit des „theoretischen“ und (reinen) „praktischen Vernunftgebrauchs“ realisiert,267 zumal eine solche Einheit und Differenz beider auch allein ihren „zweckmäßigen Gebrauch“ gewährleistet. Diese erst über die umgestaltete „Freiheitslehre“ möglich gewordene „praktisch-moralische“ Konkretisierung der „Transzendentalität“, durch die erst die „Selbsterhaltung“ des „vernünftigen Weltwesens“ in ser erst dadurch erreichten „Individualisierung“ (die so auch erst von „meinem intelligiblen Charakter“ zu sprechen erlaubt, besser: dazu nötigt): „Von der transzendentalen Apperzeption des begleitenden ‚Ich denke‘ (KrV B 131) allerdings ist das moralisch-praktische Selbstverhältnis des ‚Ich will‘ unter anderem dadurch unterschieden, dass es individuiert.“ 266 In einer (hier nicht zu leistenden) moralphilosophischen Differenzierung wären die kantischen Bestimmungen des „moralisch Richtigen“, des „moralisch Guten“ und das Urteil über das „in concreto“ Angemessene, und zuletzt das – auf alle diese Aspekte zu beziehende – Gewissen (als „sich selbst richtende moralische Urteilskraft“) miteinander zu vermitteln. 267 Eine sehr bemerkenswerte Differenzierung bzw. Stufung findet sich wenigstens andeutungsweise im Kontext seiner „Auflösung der dritten Antinomie“ (II 497 f ), wo Kant allerdings ausdrücklich, ohne nähere Differenzierung, betont (jene spätere Auffassung des „moralischen Gesetzes“ als „ratio essendi“ der Freiheit ist hier offensichtlich noch gar nicht in Sicht): „Der Mensch ist eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt, und insofern auch eine der Naturursachen, deren Kausalität unter empirischen Gesetzen stehen muss. Als eine solche muss er demnach auch einen empirischen Charakter haben, so wie alle anderen Naturdinge. Wir bemerken denselben durch Kräfte und Vermögen, die er in seinen Wirkungen äußert. Bei der leblosen, oder bloß tierisch-belebten Natur finden wir keinen Grund, irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken. Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich freilich eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft, vornehmlich [!] wird die letztere ganz eigentlich und vorzüglicher Weise von allen empirischbedingten Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und den Verstand darnach bestimmt, der denn von seinen (zwar auch reinen) Begriffen einen empirischen Gebrauch macht. Dass diese Vernunft nun Kausalität habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.“
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seiner „Anlage für seine Persönlichkeit“ gewährleistet ist, macht auch dies deutlich: Dass „Moralität und nicht der Verstand … es also … [ist], was den Menschen erst zum Menschen [eben als „individuelle Persönlichkeit“] macht“ (VI 344),268 bringt gleichermaßen den Unterschied zwischen der „moralisch-praktischen“ und der „technisch-praktischen Vernunft ihren Prinzipien nach“ (V 583)269 zur Geltung, wodurch auch seine Bestimmung der „Anthroponomie“270 – letzte „Bestimmung des Menschen“, „wozu er durch seine eigene Natur schon bestimmt“ (IV 69) ist271 –, aufgehoben bleibt. Erst darin ist die Sonderstellung des Menschen als des „vernünftigen Weltwesens“, über jene bloß relative Vorrangstellung hinaus, in der „Ordnung der Zwecke“ fundiert – eine „Ordnung“, die sich, so wie das „Reich der Zwecke“, gleichermaßen auf die von Kant unterschiedene „physische“ und „moralische Teleologie“ wie auch auf deren Einheit bezieht. Die solcherart im Menschen als „Subjekt der Moralität“ offenbar werdende und realisierte Idee des „Übersinnlichen in uns“ ist nach Kant demnach das „wahre (nicht erdachte) Ideal“, welches im „Ideal der Menschheit“, in der „in unserer Vernunft liegende(n)“ Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“ (VI 427, Anm.), schon seine „symbolische Darstellung“ gefunden hat und so „den Menschen an sich selbst darstelle“. In der „moralische(n), von der Menschheit unzertrennliche(n) Anlage in uns“ als dem „Übersinnliche(n) in uns, weil es doch praktisch ist“ (VI 328), offenbart sich dergestalt das „wahre (nicht erdachte) Ideal“ (vgl. dazu Kants Vergleich zwischen den „stoischen“ und den „christlichen Vorschriften der Sitten“ und das daran geknüpfte „Ideal“: IV 258 f, Anm.). Allein dadurch erfüllt der Mensch seine „praktische Bestimmung“ und passt in das „System der Zwecke“, dass er eben nicht nur „in die menschliche Gemeinschaft passe“ (VI 706).
268 Dem liege freilich die Bestimmung des „Zwecks an sich selbst“ schon voraus: „Nicht ein Begriff vom Wesen des Menschen, sondern der Begriff eines vernünftigen Wesens, das als Selbstvollzug existiert, bildet den Grund des moralisch Guten“; indes unterstehe dieser „Selbstvollzug der vernünftigen Natur keiner weiteren Instanz mehr, die in ihm vollzogene Selbstbestimmung ist der Ursprung jedes Anspruchs, auch des moralischen, als eines Selbstanspruchs; jedes Sollens als eines Wollens“ (Wenzel 1992, 269). Dies wird sich für ein unverkürztes „Existenz“-Verständnis bei Kant als höchst bedeutsam erweisen (s. u. IV., 1.). 269 Zu dieser Unterscheidung der Stellung des Menschen „im System der Natur“ und „als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft“, das nur als solches „eine Würde (einen absoluten innern Wert)“ hat, vgl. IV 569. Schon früh ist dieses Motiv bestimmend: „Daher nichts einen absoluten Wert hat als Personen, und dieser besteht in der Bonität ihrer freien Willkür“ (so in der frühen [auf den Zeitraum 1769–1770 datierten] Refl. 6598, AA XIX, 103). Für die kantische Bestimmung von „Subjektivität“ und den darin verankerten unbedingten Geltungs-Sinn bleibt die Unterscheidung und Einheit des „theoretischen“ und des „praktischen“ Autonomie-Aspektes genau zu beachten. 270 Kant unterschied in dieser Hinsicht von der „Anthropologie, welche aus bloßen Erfahrungserkenntnissen hervorgeht“, die „Anthroponomie, welche von der unbedingt gesetzgebenden Vernunft aufgestellt wird“ (IV 538); nur in diesem kantischen Sinne der „Anthroponomie“ ist von der „Selbstbestimmung als Selbstgesetzgebung“ zu reden (vgl. dazu Wenzel 1992, 261 ff ). 271 Brandt (2007a, 19) gibt Kants Auffassung treffend wieder: „Wir sind durch unsere eigene Vernunft dazu bestimmt, uns selbst zu bestimmen. Der Plan der Natur ist, paradox formuliert, dass wir uns gemäß unserer Natur von der Natur emanzipieren. Unsere Vernunftnatur bestimmt uns zum ‚sapere aude‘, zur Freiheit und damit zur Selbstgesetzgebung.“ Zu diesem im 18. Jahrhundert aufkommenden Topos „Bestimmung des Menschen“ und seinem besonderen Stellenwert bei Kant sei ausdrücklich auf die erhellenden Analysen dieser Studie Brandts verwiesen, auf die im Folgenden auch wiederholt Bezug genommen wird.
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3.2.2. Anmerkung: Einige moralphilosophische Anschlussfragen Bezüglich der Konstitution des „eigentlichen Selbst“ und der daran geknüpften notwendigen Unterscheidung zwischen „Autonomie“ und bloßer „Autokratie“ sei hier, auf spätere systematische Überlegungen vorausblickend, noch darauf hingewiesen: Im Unterschied zu den Forderungen der „theoretisch-beobachtenden“ Vernunft (und ihrer notwendigen „Schule“ bzw. dem dadurch ermöglichten „Sich-Wiederfinden-Können“: vgl. II 685) ist jene Selbst-Erfahrung als „moralische Persönlichkeit“ erst die Bedingung der Möglichkeit dafür, um „die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz“ zu spüren (IV 211), und so, auf sich selbst gleichsam „zurückgeworfen“, einer „Achtung für etwas ganz anderes, als das Leben“ innezuwerden (ebd.). Dafür ist freilich vorausgesetzt, dass dem solcher Selbsterfahrung zugrunde liegenden unbedingten Anspruch der „praktischen Vernunft“ in der Natur gerade nichts entspricht, zumal in ihr „als einer Macht“ – ungeachtet ihrer „Unermeßlichkeit“ (V 349) – doch „von keinem Soll
die Rede“ ist. Diese aus solch „Gespürtem“ von jenem berühmten „Rechtschaffenen“ Kants gewonnene „Gewissheit“ seiner selbst, „nur noch aus Pflicht“ zu leben, „nicht weil er am Leben den mindesten Geschmack findet“ (ebd.), liegt auch noch dem späten – gewiss denkwürdigen – kantischen „Aufforderungs“-Befund zugrunde: „Also ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns, überlegen zu sein uns bewusst werden können. Alles, was dieses Gefühl in uns erregt, wozu die Macht der Natur gehört, welche unsere Kräfte auffordert [!], heißt alsdenn (obzwar uneigentlich) erhaben“ (V 353). Offenbar handelt es sich dabei um eine Selbst-Begegnung (eine „Aufforderung“ dazu) von besonderer Art: Denn zwar gibt uns die „Unwiderstehlichkeit“ der „Macht der Natur“ „unsere physische Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurteilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz anderer Art gründet“ (V 349 f ). Solche „Autokratie“ ist also das Fundament jener moralischen „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“, die Kant im Sinne der Gesetzgebung des „moralischen Gesetzes“ sodann erst als „Autonomie“ bestimmt.272 Im Vorblick auf spätere Überlegungen sei noch darauf hingewiesen, dass diese „Natur in uns und außer uns“, die dergestalt „unsere Kräfte auffordert“, gewissermaßen eine notwendige „Schule“ für die „praktische Vernunft“ darbietet, indem diese erst in solchem „Bildungsweg“ die „Kultur durch Gegenstände, welche den Stoff zu solchen Begriffen darböten“ (II 685), zu finden und so erst eine besondere „Quelle der Ideen“ zu entdecken vermag (s. o. I., 3.2.) und darin gewissermaßen „zu sich kommt“. Indes, für die Ansprüche der „praktischen Vernunft“ erweist sich die widerfahrene „Macht der Natur“ nicht 272 Nochmals sei betont, dass die „Autokratie“ für ein „endliches Vernunftwesen“ und sein „Pflichtbewusstsein“ die Voraussetzung für das Bewusstsein der „Autonomie“ bleibt; diese „Autokratie“ zu überspringen wäre dem Irrtum jener Taube vergleichbar, die meint, ohne den „hinderlichen“ Luftwiderstand müsste das Fliegen doch ein Leichtes sein; jene „autokratische“ Freiheit von sich liegt jener „Freiheit zu sich“ zugrunde, letztere setzt gewissermaßen die „widerständige Kraft“ der ersteren voraus.
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als bloße „Schule“, sondern zunächst eher als „Aufforderung“ an uns – und zwar mit der darin in Aussicht gestellten Erfahrung unserer Überlegenheit über die „Natur in uns und außer uns“; wird doch der Mensch erst durch „diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht“ (H. v. Kleist), die ihn, in der Erprobung und Übung seiner Kräfte, des Vermögens der „Freiheit der Willkür“ als „Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe“ (d. i. des „negativen Begriffs der Freiheit“: IV 318) und des daran geknüpften „Selbstbewusstseins“ innewerden lässt.273 Wenn also die „Macht der Natur“ diesbezüglich als „Aufforderung für unsere Kräfte“ fungiert und somit Bedingung der Möglichkeit dafür ist, in solcher Selbsterfahrung „die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz“ zu spüren (IV 211), und dergestalt das Bewusstsein der „Freiheit“ als „Autokratie“274 (gegen alle „Hindernisse, welche die Einflüsse der Natur auf uns, als Sinnenwesen, verüben mögen“: III 632) gewissermaßen konstituiert – so stellt sich doch mit Kant die weitere Frage nach dem Anspruch jener darüber noch hinausgehenden „Aufforderung“, worin diese die ihr angemessene „Schule“ zu finden vermag. Deshalb wird die Reflexion darauf geradezu unumgänglich, ob bzw. durch welche „Aufforderung“ das „Bewusstsein“ der „Autonomie“ als „Bedingung“ dieser „Freiheit im positiven Verstande“ „vermittelt“ ist;275 zielt dies doch auf die Frage nach der Aufforderung zur „Sittlichkeit, die wir … auch das schlechthin oder absolut Praktische nennen“ (III 518). 273 Gleichwohl ist dieses zwar aus einem solchen Mangel an „Ent-Sprechung“ in der Natur gespeiste Gespür noch durch jene eigentümlichen selbstvergewissernden Züge des autokratischen „Herr-über-sich selbstSeins“ bestimmt, das nicht mit „Autonomie“ verwechselt bzw. auch nicht mit jenem „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ des „Sohnes Gottes“ (als „Urbild für uns“) schon identifiziert werden darf, der in der „Beförderung des Weltbesten“ das Leiden „im größten Maße übernimmt“ (IV 713); s. dazu u. IV., 4.2. u. IV., 4.3. 274 Hier steht freilich die „Autokratie“ als das „Vermögen“ der „Selbstherrschaft“ im Vordergrund, d. h. die Überwindung der „Hindernisse“, „welche die Einflüsse der Natur auf uns, als Sinnenwesen, verüben mögen“ (III 632), und das dieser „Seelenstärke“ entsprechende „Selbstbewusstsein“. Dass diese „Autokratie“ für ein „vernünftiges Weltwesen“ die „Bedingung der Möglichkeit“ von „Autonomie“ ist und Letzterer insofern zugrunde liegt, mag auch erklären, dass bzw. weshalb Kant beispielsweise im späten „Bruchstück eines moralischen Katechismus“ offensichtlich auf die „autokratische“ Freiheit abzielte: „Das nun in dir, was nur nach Glückseligkeit strebt, ist die Neigung; dasjenige aber, was deine Neigung auf die Bedingung einschränkt, dieser Glückseligkeit zuvor würdig zu sein, ist deine Vernunft, und dass du durch deine Vernunft deine Neigung einschränken und überwältigen kannst, das ist die Freiheit deines Willens“ (IV 621). 275 Auch in diesem thematischen Kontext ist Kants Reflexion 6076 (AA XVIII, 443) aufschlussreich: „Der negative Begriff der Freiheit ist Independenz, der positive Begriff: Autonomie durch [!] Vernunft“. – In einer brieflichen Mitteilung an Kant betonte Fichte, er habe besonders in der „Kritik der Urteilskraft“ „eine besondere Harmonie mit (s)einen besonderen Überzeugungen über den praktischen Teil der Philosophie entdeckt“ (Fichte GA III. 2, 138). Es scheint nicht ganz abwegig zu sein, diesbezüglich auch an Kants Hinweis auf jene „unsere Kräfte auffordende Natur“ zu denken, von der allerdings jene von Fichte geltend gemachte „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ noch genau zu unterscheiden bleibt, obgleich diese jene zur Voraussetzung hat. – Naheliegende Bezüge zu Fichtes Interpersonalitäts-Konzeption bzw. seiner Aufforderungs-Theorie sind hier nicht zu verfolgen, ein knapper Hinweis muss genügen. Besonders ist hier natürlich an folgenden Passus aus Fichtes „System der Sittenlehre“ zu denken: „Ich kann diese Aufforderung zur Selbsttätigkeit nicht begreifen, ohne sie einem wirklichen Wesen außer mir zuzuschreiben, das mir einen Begriff, eben von der geforderten Handlung, mitteilen wollte; das sonach des Begriffs vom Begriffe fähig ist; ein solches aber ist ein vernünftiges, ein sich selbst als Ich setzendes Wesen, als ein Ich. (Hier liegt der einzige zureichende Grund, um auf eine vernünftige Ursache außer uns zu schließen;
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Jene auf den Status des Menschen als „Zweck an sich selbst“ rekurrierende Begründung des kategorischen Imperativs wird so durch Kants Verweis auf den der „Pflicht“ allein „würdigen Ursprung“ noch vertieft, d. h. eben im Rekurs auf die „Persönlichkeit, d. i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigentümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen … unterworfen ist“ (IV 209 f ). Nur so ist wohl auch der ausdrückliche Rekurs auf die „Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit“ (IV 211) zu verstehen, bzw. die ausdrückliche Bemerkung: „Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen“ (IV 197), die freilich auch die gebotene Wahrung der Selbstachtung als „vernünftiges Weltwesen“ voraussetzt. Wohl am deutlichsten tritt dieser Gedanke in der – die „Gesetzes-Formel“ schon voraussetzenden – sogenannten „Menschheitsformel“ des „kategorischen Imperativs“ entgegen und liegt unverkennbar auch der späten These zugrunde, dass der Mensch „sonst keine Pflicht gegen irgend ein Wesen haben“ kann „als bloß gegen den Menschen“ (IV 578) – eine Wendung, die in einer kritischen interpersonalitäts-orientierten Lesart wiederum auf Kants Bestimmung der Pflicht als „objektiver Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit“ (IV 74) bzw. als „Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (IV 26) ein besonderes Licht wirft. Demzufolge wäre jene Auskunft Kants, dass „Achtung … jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen“ geht (IV 197), nun auch so zu verstehen, dass die auferlegte „Achtung fürs moralische Gesetz“ eben darin gleichsam ihre notwendige „Schule“ (als deren Voraussetzung) hätte und dies freilich eine „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ ermöglicht, gleichermaßen aber auch verlangt. Letztere ist als solche nicht lediglich „vermittelt“ durch die „unsere Kräfte auffordernde Macht der Natur“ und erschöpft sich folglich auch nicht in dem für die „Autokratie“ bestimmenden „Herr-über-sich-selbst-Sein“ (d. h. in dem darin maßgebenden „Von-sich-Absehen“ gemäß der als „Seelenstärke“ verstandenen „Tugend im Kampfe“). Für „endliche Vernunftwesen“ bliebe somit zwar jenes Bewusstsein der „autokratischen“ Freiheit unumgänglich vorausgesetzt, weil dieses nirgendwo in der Natur sich „wiederzufinden“ vermag, sondern jene „unsere Kräfte auffordernde Macht der Natur“ außer uns und „in uns“ jene „Seelenstärke“ des „Herrseins über sich selbst“ vielmehr erst evoziert, das sodann, „positiv“ „Freiraum“ und „Quell der Ideen“ eröffnend, selbst jenem „vernunftgewirkten“ „moralischen Gefühl“ zugrunde liegt. Dieses müsste so wiederum selbst jene „Schule“ voraussetzen; dergestalt wäre es an die „Achtung“ gebunden, „die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann …, also die Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen“, d. i. die Anerkennung „eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das
und nicht etwa nur darin, dass die Einwirkung sich begreifen lasse, denn dies ist immer möglich … Es ist Bedingung des Selbstbewusstseins, der Ichheit, ein wirkliches vernünftiges Wesen außer sich anzunehmen. Ich setze diesem vernünftigen Wesen mich, und dasselbe mir entgegen; dies aber heißt, ich setze mich als Individuum in Beziehung auf dasselbe, und jenes als Individuum auf mich. Sonach ist es Bedingung der Ichheit, sich als Individuum zu setzen“ [Fichte IV, 217]). Kants Bestimmung des „Anderen“ als „objectum [nicht: „causa“] obligationis“ bietet hier einen wichtigen Anknüpfungspunkt (s. u. I., 4.1.).
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Objekt der Wertschätzung (aestimii) ausgetauscht werden könnte“ (IV 600).276 Auf solche Voraus-Setzung zielt offenbar jenes in der Grundlegungsschrift beiläufig benannte „Prinzip anderer Menschen“ (IV 62) ab, dessen Missachtung darauf hinausliefe, sich des „andern Menschen bloß [!] als Mittels zu bedienen“ (ebd.); dieser „objektive Zweck“ ist demnach zugleich „die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke“ (IV 63). Diese Begründung nahm Kant offensichtlich auch in seiner kleinen (nahezu zeitgleich mit der „Grundlegung …“ erschienenen) Schrift über den „Mutmaßliche(n) Anfang der Menschengeschichte“ auf; näherhin in dem dort verfolgten „vierte(n) und letzte(n) Schritt, den die, den Menschen über die Gesellschaft mit Tieren gänzlich erhebende, Vernunft tat“, eben in Ansehung jener „Einschränkungen, die die Vernunft künftig dem Willen in Ansehung seines Mitmenschen auferlegen sollte“ (VI 90 f ). Darin ist enthalten, dass die Degradierung des Anderen zum bloßen „Mittel“ auch auf den degradierenden Akteur zurückschlägt, d. h. solche „Verletzung“ ihn selbst damit bestraft, dass dieser solcherart auf den Status eines bloß klugen Tieres und seiner natürlichen „Selbsterhaltung“ herabsinkt, sofern in der Tat „sich die Person nur selbst als ‚Zweck an sich selbst‘ erkennen kann, wenn sie auch andere Personen als Selbstzweck anerkennt.“277 Die Freilegung des Zusammenhangs zwischen Kants Berufung auf das „Prinzip anderer Menschen“ und seiner These: „Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung“ (IV 28 Anm.) und jenem Rekurs auf die „Anerkennung einer Würde … an anderen Menschen“ bildet auch ein entscheidendes Fundament für die nach-kantischen Anerkennungs-Theorien. Es wird sich zeigen: Kants Unterscheidung und Vermittlung zwischen dem „principium obligationis“ und dem „objectum obligandi“ enthält hier wohl einen entscheidenden Problemverweis (s. u. I., 4.1.). Zu der von Kant ebenfalls geltend gemachten These, dass „Achtung jederzeit nur auf Personen geht“ (IV 197), und näherhin „alle moralische Verhältnisse vernünftiger Wesen
sich auf Liebe und Achtung zurückführen“ lassen (IV 629), sei vorweg angemerkt: 276 Mit dieser „Anerkennung einer Würde an anderen Menschen“ korrespondiert die „Anerkennung des moralischen Gesetzes“, die Kant als das „Bewusstsein einer Tätigkeit der praktischen Vernunft aus objektiven Gründen“ ausweist, „die bloß darum nicht ihre Wirkung in Handlungen äußert, weil subjektive Ursachen (pathologische) sie hindern“ (IV 200). Schon im Blick auf diese „Anerkennung“ (die eben nicht bloß ein Akt theoretischer Vernunft ist), sei noch darauf hingewiesen, dass zufolge jener „interpersonalitätstheoretischen“ Einbindung die nachfolgend zitierte Bemerkung aus Kants „Anthropologie“ über die Annahme des „Dasein(s) eines Ganzen anderer, außer mir in Gemeinschaft stehender Wesen“ (VI 411) besondere Bedeutung gewinnt. Freilich, die (von Leibniz aufgenommene) „Idee eines Reichs der Zwecke“ hätte darin wohl eine entscheidende Grundlage, zumal sie erst den praktischen Raum der „Anerkennung“ konstituiert. – Eine indirekte diesbezügliche Kritik an Kant ist wohl nicht zu überhören, wenn Fichte in einem Brief an Reinhold anmerkt: „Der Begriff eines Reichs vernünftiger Wesen, und überhaupt irgend eines vernünftigen Wesens außer mir, darf in einem solchen Beweise, durch den jener Begriff erst deducirt werden soll, nicht vorkommen. Er kann demnach nur aus dem bloßen Ich, er kann nur so geführt werden: Ich selbst kann mich nicht denken, ohne vernünftige Wesen außer mir anzunehmen“ (Fichte GA III. 2, 385). 277 Hutter 2003, 181. Dies erinnert an Ciceros „hominem ex homine tollat“ – in der Kant bekannten Übersetzung Garves: „im Menschen die Menschlichkeit aufhebt“ (Cicero, Abhandlung über die menschlichen Pflichten in drey Büchern. Übersetzt Breslau 1792, 183). – Zu Kants Begriff der Person s. den gleichnamigen Aufsatz von H. Zeltner 1967.
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Dies impliziert im Blick auf das für die Identität der „moralischen Persönlichkeit“ konstitutive Achtungsverhältnis wohl auch eine notwendige – interpersonalitätstheoretisch orientierte – Korrektur seiner Behauptung (die freilich auch nicht auf die „Widerlegung des [empirischen] Idealismus“ zu reduzieren ist): „Wenn nämlich bloß die Frage wäre, ob ich, als denkendes Wesen, außer meinem Dasein noch das Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender, Wesen (Welt genannt) anzunehmen Ursache habe, so ist sie nicht anthropologisch, sondern bloß metaphysisch“ (VI 411).278 Über den engeren Problemkontext hinaus sei hier auch auf die in sachlicher Hinsicht damit eng zusammenhängende Argumentation Kants verwiesen: „Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten! Also kann man wohl sagen, dass diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme“ (III 280).279 Dies liefe zuletzt also darauf hinaus, den in der „Autonomie“ begründeten Rang des Menschen als „Vernunftwesen“ überhaupt zu negieren (VI 290). Freilich enthält diese Frage der „Richtigkeit des Denkens“ überdies eine Selbstrelativierung in der zweifachen Hinsicht: Sie enthält auch die Einsicht in die Endlichkeit (d. h. auch die prinzipiell unüberwindliche Fehlbarkeit) der eigenen Vernunftansprüche (und somit der Urteilskraft) sowie die Bejahung dieser Endlichkeit; desgleichen verlangt sie die Lern- bzw. Korrekturbereitschaft, ebendies auch in gegenseitiger Anerkennung als vernunftfähige Wesen und deren gemeinsamen Bemühungen einzulösen. Weil „Rationalität“ andernfalls nach Kant gar nicht möglich wäre, stellt dies ihm zufolge in dem angeführten Sinne auch eine unverzichtbare Voraussetzung von „Autonomie“ dar: Die Anerkennung der „Rationalität“ – d. h. der „Wahrheitsfähigkeit“ – der Anderen ist somit eine elementare Bedingung für die Berufung auf bzw. für die Inanspruchnahme der eigenen „Autonomie, d. i. frei (Prinzipien des Denkens gemäß) zu urteilen“ (VI 290), d. h. für die eigene Urteilskompetenz („Richtigkeit zu denken“). Damit ist auch gesagt: Weil 278 Es war bekanntlich Fichte, der eben diese Ansicht der Sache nach schon in seiner „Grundlage des Naturrechts“ entschieden dem Einwand ausgesetzt hat: „Ich komme gar nicht zum Selbstbewusstsein und könne nicht dazu kommen, ausser zufolge der Einwirkung eines vernünftigen Wesens ausser mir auf mich […]. Ich werde zu einem vernünftigen Wesen, in der Wirklichkeit, nicht dem Vermögen nach, erst gemacht“ (Fichte III, 74). 279 Jedoch ist es wichtig, in dieser Frage der „Richtigkeit des Denkens“ den interpersonalen Aspekt (gleichsam in der „Gemeinschaft-mit-Anderen-Denkens“: als „Probierstein“) mit dem (geradezu „Psycho logismus“-kritischen) normativen Aspekt zu verknüpfen, der besonders deutlich auch in Kants „Logik“ angesprochen ist: „In der Logik ist aber die Frage nicht nach zufälligen, sondern nach notwendigen Regeln; nicht wie wir denken, sondern wie wir denken sollen. […] Wir wollen in der Logik nicht wissen: wie der Verstand ist und denkt und wie er bisher im Denken verfahren ist, sondern wie er im Denken verfahren sollte. Sie soll uns den richtigen, d. h. den mit sich selbst übereinstimmenden Gebrauch des Verstandes lehren“ (III 435). In diesem Sinne betonte Kant auch schon in der frühen Refl. 5441 (AA XIII, 182 f ): „… allein der Verstand … ist frei und eine reine Selbsttätigkeit, die durch nichts anderes als sich selbst bestimmt ist. Ohne diese ursprüngliche und unwandelbare Spontaneität würden wir nichts apriori erkennen; denn wir wären zu allem bestimmt, und unsere Gedanken selbst ständen unter empirischen Gesetzen.“ Ob bzw. wie weit der spätere Kant seine diesbezügliche Lehre geändert hat, ist hier nicht zu verfolgen.
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dieses „vernünftige Weltwesen“ sich an der Idee der „Wahrheit“ orientiert (und diese ihn „verbindet“), ohne über diese jedoch zu verfügen, deshalb ist es zur Orientierung am „öffentlichen Vernunftgebrauch“ gleichermaßen berechtigt und verpflichtet: Signatur „endlicher Vernunft“. Auch für die Begründung des Status des „Zwecks an sich selbst“ spielt zweifellos der Autonomie-Aspekt eine wichtige Rolle; er liegt auch einem – noch in einer anderen Hinsicht – sehr bemerkenswerten Hinweis in Kants „Logik“ über die prinzipielle „Wahrheitsfähigkeit“ menschlichen Erkennens zugrunde, der auch eine „anerkennungstheoretische“ Lesart nahelegt: „Aller Irrtum, in welchen der menschliche Verstand geraten kann, ist aber nur partial, und in jedem irrigen Urteile muss immer etwas Wahres liegen. Denn ein totaler Irrtum wäre ein gänzlicher Widerstreit wider die Gesetze des Verstandes und der Vernunft. Wie könnte er, als solcher, auf irgendeine Weise aus dem Verstande kommen, und, so fern er doch ein Urteil ist, für ein Produkt des Verstandes gehalten werden!“ (III 481) Andernfalls liefe dies doch darauf hinaus, dem anderen Menschen den Status eines „Verstandes“- bzw. Vernunftwesens abzusprechen, das der „Freiheit zu denken“ und somit auch zu „objektiven Gründen“ unfähig ist: „Wir haben in uns ein Vermögen, welches nicht bloß mit seinen subjektiv bestimmenden Gründen, welche die Naturursachen seiner Handlungen sind, in Verknüpfung steht, und so fern das Vermögen eines Wesens ist, das selbst zu den Erscheinungen gehört, sondern auch auf objektive Gründe, die bloß Ideen sind, bezogen wird, sofern sie dieses Vermögen bestimmen können, welche Verknüpfung durch ein Sollen ausgedrückt wird. Dieses Vermögen heißt Vernunft; und sofern wir ein Wesen (den Menschen) lediglich nach dieser objektiv bestimmbaren Vernunft betrachten, kann es nicht als Sinnenwesen betrachtet werden, sondern die gedachte Eigenschaft eines Dinges an sich selbst“ (III 218).280 Lediglich eine Folgerung daraus ist in diesem Zusammenhang dies: Solcherart lässt sich die oben angeführte These Kants darüber durchaus entscheiden, „ob ich, als denkendes Wesen, außer meinem Dasein noch das Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender, Wesen (Welt genannt) anzunehmen Ursache habe“; wäre dies, über diesen engeren Rahmen hinaus, nicht noch dahingehend auszudehnen, dass die Möglichkeit der Wahrheitsfindung für „vernünftige, aber endliche Wesen“ notwendig im Zeichen bzw. unter der Voraussetzung des „Primats des praktischen Vernunftgebrauchs“ steht?281 Dann wäre wohl das Verhältnis von „theoretischer Vernunft“ (und „Verstand“ und „Urteilskraft“) und „praktischer Vernunft“ („praktischer Urteilskraft“) 280 Die „anerkennungs“-theoretische Relevanz dieser beiläufigen Bemerkung Kants wäre eigens zu thematisieren, gewinnt doch sein Rekurs auf einen „Widerstreit gegen das Prinzip anderer Menschen“ (IV 62) in solchem Kontext besonderes Gewicht. Schon in der frühen Refl. 2250 (AA XVI, 286) heißt es: „Ein Irrtum ist jederzeit partialiter wahr. Die subjektive Ursache derselben ist phaenomenon und muß erklärt werden. Irrtum in Regeln und in Anwendung.“ S. dazu auch Kants sehr bemerkenswerte Bemerkung über die „Pflicht der Achtung für den Menschen selbst im logischen Gebrauch seiner Vernunft: IV 602). – Kants frühe „pädagogisierende“ Notiz erlaubt bzw. verlangt freilich eine prinzipielle „anerkennungs“orientierte Modifikation: „Man muss die Jugend lehren den gemeinen Verstand in Ehren zu halten aus so wohl moralischen als logischen Gründen“ (AA XX, 44). 281 Dass dies auch im Blick auf Kants Kennzeichnung der „Religion als reine Vernunftsache“ (VI 338) sowie sein Verständnis der „authentischen Schriftauslegung“ von Interesse ist, wird sich noch zeigen.
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noch differenzierter zu bestimmen. Eine gewisse Entsprechung hat dies wohl auch noch in Kants Hinweis darauf, dass „nur dadurch, dass Gelehrte [der Schriftauslegung] ihre Auslegungen jedermanns Prüfung aussetzen, selbst aber auch zugleich für bessere Einsicht immer offen und empfänglich bleiben, sie auf das Zutrauen des gemeinen Wesens zu ihren Entscheidungen rechnen können“ (IV 776 f ). Ein diesen „Primat des Praktischen“ berührender elementarer Sachverhalt wäre demnach mit Kant vielleicht auch so zu formulieren: Wenn jene Frage: „Wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten“, die Anerkennung des Anderen als „Zweck an sich selbst“ und dessen Autonomie, wahrhaftig und verständlich zu urteilen, notwendig voraussetzt, dann ist diese Anerkennung aber auch die Bedingung der Möglichkeit der eigenen „Vernünftigkeit“. Dieserart wäre ein grundlegender Aspekt jenes „Primats der praktischen Vernunft“ freizulegen, der übrigens ohndies überall dort vorausgesetzt ist, wo es nicht um strategische Überredungs-Absicht, sondern um „Überzeugung“ geht. Auch Kants Kennzeichnung des „Praktischen“ (II 673) wird hier deshalb besonders bedeutsam, weil aus dem genannten Grund ohne anerkennungs-orientierte Freiheit auch „Rationalität“ gar nicht zu denken ist. Kants aufschlussreiche Bemerkung über die Unverzichtbarkeit des „Gemeinsinns“ (und die darin vorausgesetzte Idee eines gleichsam „durch die Menschheit selbst diktierten“ „ursprünglichen Vertrages“: V 394) weist vermutlich durchaus in diese Richtung: Letzterer könnte ihm zufolge deshalb „mit Grunde angenommen werden … und zwar ohne sich desfalls auf psychologische Beobachtungen zu fußen, sondern [wird] als die notwendige Bedingung der allgemeinen Mitteilbarkeit unserer Erkenntnis, welche in jeder Logik und jedem Prinzip der Erkenntnisse, das nicht skeptisch ist, vorausgesetzt“ (V 322):281a Eine kantische Version bzw. indirekte Vorwegnahme der Einsicht, dass der Sprache „das Telos der Verständigung innewohnt“ (J. Habermas)? Es sind dies auch für eine interpersonalitätstheoretische Perspektive höchst bedeutsame Motive, die, in unübersehbarem „Ausgang von Kant“, bekanntlich zunächst vornehmlich bei Fichte und Hegel einen besonderen Stellenwert erhalten haben.
281a Dennoch darf es nach Kant – mit Blick auf den „Charakter der Gattung“ – als ein besonderer „teleologischer“ Aspekt angesehen werden, dass, wie in einem bemerkenswerten Gedankenexperiment (über Bewohner anderer Planeten) von ihm erwogen, die Menschen als „vernünftige Weltwesen“ eben doch nicht solche sind, „die nicht anders als laut denken könnten, d.i. im Wachen, wie im Träumen, sie möchten in Gesellschaft oder allein sein, keine Gedanken haben könnten, die sie nicht zugleich aussprächen. Was würde das für ein von unserer Menschengattung verschiedenes Verhalten gegen einander, für eine Wirkung abgeben? Wenn sie nicht alle engelrein wären, so ist nicht abzusehen, wie sie nebeneinander auskommen, einer für den anderen nur einige Achtung haben und sich mit einander vertragen könnten“ (VI 689).
4. Der Ort der Ethik als einer „moralischen objektiven Zwecklehre“ innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“
4.1. Eine bemerkenswerte Differenzierung in der Begründung des „kategorischen Imperativs“ Vorab ist in Anknüpfung an Kants Bestimmung des Menschen als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ daran zu erinnern, dass er die fundamentale Frage nach dem „Grund eines möglichen kategorischen Imperativs“ mit jenem schon erwähnten entscheidenden Hinweis auf das „oberste praktische Prinzip“ des Willens und dessen „Grund“ beantwortet sah: „Der Grund [!] dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst“ (IV 60 f ) – eine Begründung, auf die sich bekanntlich auch die so genannte „Selbstzweckformel“ des kategorischen Imperativs stützt.282 Jene – auf die Konstitu tionsgründe dieser unbedingten Selbsterfahrung als des „Übersinnlichen in uns“ abzielende – weitere These, „Autonomie“ sei der Grund der Möglichkeit eines „kategorischen Imperativs“, enthält, wie sich zeigen soll, eine sehr aufschlussreiche Mehrdeutigkeit:283 Zunächst ist damit, als der gleichsam „subjektive Grund“ dieser Möglichkeit, das Vermögen thematisiert, „frei (Prinzipien des Denkens überhaupt gemäß) zu urteilen“ (VI 290); sodann verweist sie auf die Fähigkeit der Selbstdistanzierung und Vernunftgesetzgebung, d. h. sich dem Anspruch des moralischen Gesetzes zu unterstellen, also auf die „Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist“ (IV 74); andernfalls wäre wiederum „Achtung“ vor dem „moralischen Gesetz“ als der „alleinigen Triebfeder“ nicht möglich – und allein in solcher Befähigung zu dieser unbedingten Gesetzgebung als „Selbstverpflich282 Zu Recht hat Ch. Horn die (u. a. von L. Nelson vertretene) Auffassung zurückgewiesen, dass sich in Kants sog. „Selbstzweckformel“ „ein Rückfall Kants aus der Gesetzesethik in die Güterethik“ widerspiegle (Horn 2004, 197). An die „Selbstzweckformel“ knüpft offenbar auch die These von Schönecker/ Wood an: „Bis zum heutigen Tag wird Kants Ethik als deontologische Ethik charakterisiert. Wenn es wesentlich für eine solche Ethik ist, dass in ihr substantielle … Werte oder Zwecke keine oder bestenfalls nur eine untergeordnete Rolle spielen, dann ist Kants Ethik aber nicht nur nicht deontologisch, sondern dezidiert antideontologisch. Denn sowohl die inhaltliche Bestimmung moralischer Pflichten wie auch die Begründung ihrer Gültigkeit hält Kant ohne einen substantiellen Wertbegriff für unmöglich. Vernünftige Wesen als zwecksetzende und autonomiebegabte Wesen haben einen absoluten Wert (Würde); das und nicht etwa der Gedanke einer formalen Maximenuniversalisierung ist die zentrale These in Kants Ethik“ (Schönecker/Wood 2002, 140). Gleichwohl darf dies die kantische Unterscheidung zwischen „principium obligandi“ und „objectum obligationis“ nicht ignorieren, von der sogleich die Rede sein soll. Vgl. dazu auch die entsprechenden Kapitel in Bambauer 2011. 283 Zu diesem Abschnitt sei auf frühere Überlegungen des Verf. verwiesen: Langthaler 1991, 104 ff; 157–257.
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tung“) ist die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs letztbegründet, ebenso die menschliche „Würde“. Über diese Verankerung des „kategorischen Imperativs“ in der Befähigung des Menschen zur „unbedingten Gesetzgebung“ hinaus enthält jene Bestimmung der Autonomie als „Grund der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs“ eben auch noch einen „objektiven Grund“: Demgemäß zielt diese „Autonomie“-Bestimmung darauf ab, dass „vernünftige Wesen“ als Personen in dem angezeigten Sinne selbst „objektive Zwecke“ sind und infolgedessen allein die ihre „Vernünftigkeit“ konstituierende „Autonomie“ (und nicht die bloße Befähigung, sich „willkürliche Zwecke zu setzen“) „Gegenstand der Achtung“ sein kann. Dieser anerkannte Status der „Anderen“ thematisiert zwar das allein adäquate „objectum obligationis“ der den kategorischen Imperativ auszeichnenden „Unbedingtheit“, gleichwohl kann es nicht als „causa obligationis“284 gelten, setzt dies doch 284 In diesem Sinne wären vielleicht auch in einem „interpersonalitäts-theoretischen“ Kontext die (frühen) kantischen Reflexionen 6953 u. 6954 von besonderem Interesse: „ab aliquo obligari setzt jederzeit einen actum obligatorium eines andern voraus; denn wenn einer passiv ist, so muss der andere activ sein, folglich ist alle obligatio passiva hypothetica (diese hypothesis kann ideal sein in statu naturali, aber dann ist die … obligatio auch idealiter passiv). Der andere ist nicht causa, sondern objectum obligationis.“ Und: „Es kann niemand den andern obligieren, als durch eine notwendige … Einstimmung des Willens anderer mit dem seinen nach allgemeinen Regeln der Freiheit. Also kann er niemals den andern obligieren, als vermittelst [!] desselben eignen Willen“ (AA XIX, 212 f ). – Es spricht vieles dafür, in diesen hier angesprochenen „formalen“ und „materialen“ Aspekten schon wichtige „Teilmomente“ der späteren (unterschiedlichen) Formeln des „kategorischen Imperativs“ vorgebildet zu sehen; ebenso enthält dies jedoch einen Hinweis darauf, dass beispielweise die sog. „Menschheitsformel“ keinesfalls die „allgemeine Formel“ des „kategorischen Imperativs“ ersetzen (bzw. als „äquivalent“ gelten) kann. Die Frage nach der „causa obligationis“ darf nicht mit derjenigen nach der Begründung der „absoluten Verbindlichkeit“ verwechselt werden, obgleich in jener „Menschheitsformel“ dieses Moment der „causa obligationis“ möglicherweise „eigenständig“ thematisch wird. Der „Unbedingtheits“-Charakter des „kategorischen Imperativs“ hat im „Selbstzweck-Status“ des Menschen („Zweck an sich selbst“) eine genaue Entsprechung. – Vermutlich klingen jene beiden wohl zu unterscheidenden – jedoch nicht zu trennenden – Aspekte auch in Kants Charakterisierung der „moralischen Welt“ nach, so wenn er diese als „ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr“ bestimmt, „so fern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als [!] mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat“ (II 679). – Eine interpersonalitätstheoretische Perspektive im Kontext dieser kantischen Überlegungen wäre sonach vor die Aufgabe gestellt, jenen oben angeführten Hinweis Kants auf den „Anderen“ nicht als „causa, sondern objectum obligationis“ mit seiner Bestimmung der „rationes obligandi“ zu vermitteln, die „bloß in der Form des Willens“ bestehen (Refl. 7225, AA XIX 190). Auch die spätere Unterscheidung der „Achtung für das moralische Gesetz“ und der „jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen“ gehenden „Achtung“ (IV 197) klingt hier schon an (abgesehen von der Frage nach dem besonderen Charakter dieses „Gefühls der Achtung“). – Sodann spricht einiges dafür, diese frühen Motive Kants (ebenso im Sinne der zu denkenden Einheit von „principium obligandi“ und „objectum obligationis“) auch im Blick auf die späte kantische Lehre von den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, in der besonderen Hinsicht zu lesen, dass darin jenes „objectum obligationis“ (als das „materiale Moment“) noch eine nähere Differenzierung findet; in solcher Perspektive bezieht sich das vom „principium obligationis“ (als einem „principium intellectuale internum“) unterschiedene „objectum obligandi“ auf den Anderen als „vernünftiges Weltwesen“ zunächst im Sinne der Anerkennung und Achtung desselben als Rechtsperson und als „moralische Persönlichkeit“, und ebenso entsprechend der gebotenen Beförderung von dessen „Glückseligkeit“. In der von Kant benannten Verpflichtung, „die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen“ (IV 601), sind „principium obligandi“ und „objectum obligationis“ offenbar vereint; anders akzentuiert gilt dies auch für Kants Galgen-Beispiel (IV 140). In der Sache sehr deutlich ist diese Korrelation zwischen „principium obligandi“ und „objectum obligationis“ (die ihre Verwechslung verbietet) auch in Kants Bemerkung angesprochen:
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die in der Existenz des Menschen als des „Zwecks an sich selbst“ verankerte „ratio obligandi“ vielmehr schon voraus: „Gesetzt aber es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein [!] der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen. Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“ (IV 59 f ). Ist doch, in Vermeidung eines unendlichen Regresses, die „Idee der Menschheit als Zweck an sich selbst“ Bedingung der Möglichkeit eines „obersten praktischen Prinzips“ (vgl. dazu die zentralen Passagen IV 59 ff ), zumal die „Ursprünglichkeit“ und „Selbständigkeit“ der moralischen Gesetze sich „auf nichts als auf ein Dasein“ begründe.285 Folglich ist auch im Sinne einer differenzierten Begründung des „kategorischen Imperativs die Fundierung der „Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ in der Autonomie aufzunehmen (IV 69). In Vermeidung eines andernfalls drohenden (von Kant bekanntlich ausdrücklich verworfenen) Rekurses auf ein bloß „anthropologisches Faktum“ kann es doch allein jene „Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen“ – d. i. die „Menschheit selbst“ als eine innewohnende „Würde“ – sein (IV 600 f ), die solcherart gleichsam „ratio essendi“ des kategorischen Imperativs ist.286 „dass, wenn wir zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen stehen, wir allerwärts dem moralischen Gesetz gehorchen müssen“ (VI 133 Anm.). 285 AA XXVII, 135. Jener kantische Rekurs auf „etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte“ (IV 59), bleibt somit auf jenen Passus aus der „allgemeinen Anmerkung“ zum „psychologischen Paralogismus“ rückzubeziehen, wonach durch „apriori feststehende, unsere Existenz betreffende Gesetze des reinen Vernunftgebrauchs“ sich Anlass dazu fände, „uns völlig apriori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen“ und „dadurch eine Spontaneität entdecken“ würde, „wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre“ (II 360 f ). 286 Infolgedessen liegt es auch nahe, die kantische Wendung, dass die „Vernunft“ dem Menschen „im moralischen Gesetz den Spiegel vorhält“ (VI 324), mit seinem Hinweis darauf zu verbinden, dass der Gebrauch anderer Menschen „bloß als Mittel“ einen „Widerstreit gegen das Prinzip anderer Menschen“ (IV 62) bedeutet. Zu diesen Fragen vgl. bes. die Ausführungen von Fischer in: Fischer/Hattrup 1999, §§ 9, 10; Cunico 1998, 114 ff; zur „Menschheit als Zweck an sich selbst“ s. auch A. Wood 1999, 111 ff. – Mit Recht betont Fischer (1999, 226): „Kant zeigt auch in der Kritik der praktischen Vernunft, dass das oberste formale Prinzip der Moral nur objektiv ist und unbedingt gilt, wenn die Beziehung auf die anderen vernünftigen Wesen mit ins Spiel kommt.“ Gleichwohl bleibt auch für interpersonalitäts-theoretische Aspekte genau darauf zu achten, dass und wie Kant den besonderen „Selbstverpflichtungs-Charakter“ einschärft: „Denn ich kann mich gegen andere nicht für verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich [!] mich selbst verbinde; weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehung meiner selbst bin“ (IV 549 f ). Dies steht freilich nicht im Widerspruch dazu, dass erst vom anderen (als „objectum obligationis“) her die Selbstwerdung in „concreto“ geschieht. Jenes angeführte denkwürdige „zugleich“ verbindet die „rationes obligandi“, die „bloß in der Form des Willens“ bestehen (Refl. 7225, AA XIX 190) mit dem korrespondierenden Aspekt: „Der andere ist nicht causa, sondern objectum obligationis“ (s. o. I., Anm. 284). Im Sinne dieser notwendigen Unterschiedenheit und zugleich zu bewahrenden Einheit von „ratio obligandi“ und „objectum obligationis“ ist auch jene späte (schon zitierte) Bemerkung Kants zu verstehen: „Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer
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Demnach wäre zwar daran festzuhalten, dass auch nur die Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft (die „Gesetze des allgemeinen Willens“) den Unbedingtheitsanspruch der Moralität begründen und in diesem bestimmten Sinne tatsächlich nichts anderes der eigentlich zureichende Grund der „Obligation“ sein kann (d. h. dieses „moralische Bewusstsein des unbedingten Sollens“ nicht anderswoher als aus der Existenz des Menschen als „Zweck an sich selbst“ abzuleiten ist);287 so wäre also – mit Kant selbst und in Rücksicht auf die faktische Verbindlichkeit – darauf zu insistieren, dass „alter ego“ in der Tat zwar nicht „causa“, jedoch eigentliches „objectum obligationis“ wäre – besser: dies dem unbedingten moralischen Anspruch ursprünglich „korrespondiert“: „Alter ego“ wäre also zwar „objectum“ und könnte, eben im Sinne der Nichthintergehbarkeit der moralischen Selbstverpflichtung, dennoch nicht selbst „Grund der Verpflichtung“ sein. Es bleibt dabei, dass die – eben unbedingte – Selbstbestimmung durch kein Objekt „bedingt“ sein kann, gleichwohl hat sie notwendigerweise einen Gehalt, der als jenes „objectum obligationis“ zu bestimmen ist: Die Unterscheidung zwischen „causa“ und „objectum obligationis“ impliziert somit zugleich deren unauflösliche Korrelation: Erst „angesichts“ des konkreten „Anspruchs“ bzw. der „Herausforderung“ durch das „objectum obligationis“ findet jene „causa“ als „principium obligationis“ auch ihre „Realisierung“. So wenig das „objectum obligationis“ selbst „causa obligandi“ sein kann, so ist es gleichwohl eine notwendige Bedingung seiner „Realisierung“: Zwar kann die in der „Subjektivität“ gründende Selbstbeziehung und die darin verankerte „Selbstverpflichtung“ in ihrer „Ursprünglichkeit“ und „Unbedingtheit“ nicht anderswoher hergeleitet (in diesem Sinne „relativiert“) werden, obgleich auch hinsichtlich der „praktischen Realisierung“ diese interpersonalitäts-bezogenen Aspekte als eine Art „Schule für die Vernunft“ unverzichtbar sind. Somit wären zwei – allerdings unauflöslich miteinander verbundene – Aspekte zu unterscheiden: Jener Sachverhalt, dass „wir zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen stehen“ (VI 133, Anm.),288 bringt zwar (interpersonalitätstheoretisch akvon mir fordern kann …, ist also die Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent“ (IV 600). Weil „die Menschheit selbst … eine Würde“ ist, ist der Mensch „verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht“ (IV 601). – Jene Unterscheidung und Einheit von „ratio obligandi“ und „objectum obligationis“ bleibt jedenfalls auch im Blick auf die an der „Andersheit des Anderen“ orientierten Figur zu bedenken, der zufolge „das Andere nicht nur das Gegenstück des Selben bildet, sondern zu seiner innersten Sinnkonstitution dazugehört“ (Ricoeur 1996, 395). Gleichwohl ist der (schon vorausgesetzte) anzuerkennende Anspruch moralischer Verbindlichkeit daraus nicht erst ableitbar. 287 Es spricht jedenfalls vieles dafür, den sachlichen Zusammenhang der kantischen Kennzeichnung des „Anderen“ als „objectum obligationis“ mit seiner Bestimmung des „Grundes“ des „obersten praktischen Prinzips: „die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst“ (IV 60 f ) im Auge zu behalten. 288 Vgl. dazu auch die interpersonalitätstheoretisch (und damit auch mit Blick auf Fichte) sehr interessante (von der Bestimmung des Person-Status unabtrennbare) „allgemeine Einteilung der Rechtspflichten“: „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)“; „Tue niemandem Unrecht (neminem laede)“; „Tritt … in eine Gesellschaft mit andern, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue“: IV 344); diese Forderungen sind freilich auch als „moralisch geboten“ wahrzunehmen. – Es wäre eine reizvolle Aufgabe, die einzelnen Schritte der Explikation dieser „Vernunftverfassung“ und ihrer impliziten intersubjektiven Anerkennungs-Struktur anhand des kleinen Aufsatzes über den „Mutmaßlichen Anfang des Menschengeschlechts“ und der kantischen Anthropologie zu buchstabieren.
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zentuiert) das „objectum obligationis“ zur Geltung, ohne dass daraus indes der Grund der unbedingten Verbindlichkeit des „moralischen Gesetzes“ abgeleitet bzw. der Aspekt der „Selbstverpflichtung“ darin aufgelöst werden könnte. In diesem bestimmten Sinne ist die „Unvordenklichkeit des Anderen“ zwar tatsächlich „Bedingung der Möglichkeit“ des „moralischen Gesetzes“ (das wiederum „ratio cognoscendi“ der Freiheit ist);289 gleichwohl wird dadurch die Unbegreiflichkeit der „Wirklichkeit der Freiheit“ nicht relativiert, auch wenn jene „Unvordenklichkeit“ ebenso den Hinweis darauf enthält, dass das moralische Subjekt nicht über das „objectum obligationis“ als einer Bedingung seiner Selbstverpflichtung verfügt und sich nur „angesichts“ desselben realisiert. Es verdient deshalb nochmals Beachtung: Der von Kant formulierte Konditionalsatz bringt die notwendige Zuordnung und Unterscheidung jener von ihm schon früh benannten Differenz von „causa“ und „objectum obligationis“ sehr deutlich zum Ausdruck: „dass, wenn wir zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen stehen, [dann] wir allerwärts dem moralischen Gesetz gehorchen müssen …“ (VI 133 Anm.). Es wurde schon darauf hingewiesen (s. o. I., 3.2.1.): Näherhin ist es nach Kant dieses „wundersame Vermögen in uns, das wir Gewissen nennen“ (IV 223), bzw. die Verpflichtung darauf, worin diesem „vernünftigen Weltwesen“ der an es ergehende – un-erhörte – Anspruch widerfährt, dass seine Wirklichkeit als „moralische Persönlichkeit“ also primär diejenige des (Ver-)Antwortenden ist, sofern dieses Un-Erhörte konkret „im Antlitz des Anderen zu uns spricht und … nur eine persönliche Antwort zulässt, nämlich einen ethischen Akt“.290 Vielleicht ist hier eine analoge Argumentation bezüglich der Begründung 289 Vgl. auch Refl. 6860, AA XIX, 183: „Wir können uns keinen Begriff davon machen, wie eine bloße Form der Handlungen könne die Kraft einer Triebfeder haben. Indessen muss dieses doch sein, wenn Moralität stattfinden soll, und Erfahrung bestätigt es. Diese formale Kausalität als wirkend ist nicht unter Erscheinungen bestimmt. Sie ist also jederzeit neu, ungeachtet alles dessen, was geschehen sein mag. Es ist bloß unser Selbst und keine fremde Anlage, keine Kette der Erscheinungen, die empirisch bestimmt ist, welche die Handlung bestimmt. Die Apperzeption seiner selbst als eines intellektuellen Wesens, was tätig ist, ist Freiheit.“ Davon ist, so heißt es sodann in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“, nur noch der durch die „spekulative Vernunft“ zwar eröffnete, jedoch „leer“ gelassene Platz übrig geblieben – nunmehr freilich verbunden mit der Forderung, „ihn durch praktische Data“ der Vernunft, „wenn wir können, auszufüllen“ (II 28). Kants Hinweis aus der „Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“, wonach den kritisch zwar „leer“ bzw. „offen“ gehaltenen „Platz“ „nun reine praktische Vernunft, … nämlich das moralische Gesetz“, ausfüllt (IV 163), schließt in der Sache offensichtlich unmittelbar daran an. 290 In dieser Hinsicht ist es tatsächlich auch eine bei Kant vorhandene Perspektive, wenn es bei Levinas heißt: „Die Gegenwart des Anderen – eine privilegierte Heteronomie – verletzt nicht die Freiheit, sondern setzt sie ein, ist ihre Investitur“ (Levinas 1993, 122) – freilich lediglich in der bestimmten Hinsicht, dass sie sich darin in ihrer „Unbedingtheit“ (der „Form“ und der „Materie“ nach) zwar „realisiert“, gleichwohl derart nicht „konstituiert“ wird, d. h. der „Selbstverpflichtungs“-Charakter darin nicht einfach aufgelöst werden kann und folglich auch „Geltung“ und „Genesis“ durchaus zu unterscheiden bleiben. – Dass die Vernunft dem Menschen im „moralischen Gesetz den Spiegel vorhält“, worin er also erst das Bewusstsein seiner selbst als „Vernunftwesen“, d. h. als „moralische Persönlichkeit“, gewinnt, wäre eben in diesem Sinne aufzunehmen. In der Tat: „Weil das durch-den-Anderen-genötigt-Werden demnach Selbst-Nötigung dazu ist, durch ihn mich nötigen zu lassen, ist noch die Heteronomie der Autonomie Werk meiner Freiheit. Und wenn, wie Levinas sagt, meine Verantwortung Passivität ist und meine Subjektivität Geiselschaft, so bin doch ich derjenige, der sich in Passivität und Geiselschaft begibt oder das nicht tut und sich stattdessen entzieht. Daher bin ich das Subjekt schon dieser Sub-jektion und nicht bloß derjenige, der Subjekt wird erst dank der Sub-jektion, die ihm durch den Anderen, von der Epiphanie des Gesichts her, widerfährt“ (Aschenberg 2003, 194 f ). Dies bleibt wohl auch zu bedenken, wenn Ricoeur
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des Verhältnisses von „Freiheit“ und „moralischem Gesetz“ derart fruchtbar zu machen, dass die „Autonomie“ (als „Grund der Würde“ der „menschlichen und jeder vernünftigen Natur“) des Anderen „allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes“ ist, die Unbedingtheit des moralischen Gesetzes hingegen als die „ratio cognoscendi“ der „Autonomie des Anderen“ gelten müsste. Denn – in diesem Sinne wäre diese analoge Begründungsfigur dann wohl weiterzuführen – wäre nicht das „moralische Gesetz in unserer Vernunft“ eher deutlich gedacht, so könnten wir uns niemals dazu berechtigt wissen, so etwas wie „Autonomie“ anzunehmen291 – gäbe es indes nicht Autonomie, „so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein“. Die Frage liegt nahe: Spiegelt sich diese maßgebende Begründungsordnung nicht auch in jenem bezeichnenden Schwanken Kants wider, wonach einerseits alle „Achtung lediglich auf das moralische Gesetz gehe (wovon die Person lediglich das Beispiel gibt)“ (IV 28, Anm.), während er an der zuvor angeführten Stelle andererseits ausdrücklich versichert, dass „Achtung … jederzeit nur auf Personen“ (IV 197) gehe – ein Schwanken, das indirekt auf jene Unterscheidung zwischen „causa“ und „objectum“ der Verpflichtung verweist? Kants Auskunft, dass es Pflichten doch nur gegenüber dem Menschen gebe, also „Pflicht … bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander“ beruhe (IV 67), wäre demzufolge wohl ebenso im Sinne jener nicht zu nivellierenden Differenz zwischen „principium obligationis“ und „objectum obligandi“ zu verstehen – d. h. aber auch: demmit Blick auf Levinas betont: „In mir beendet die vom Anderen ausgehende Bewegung ihren Lauf: Der Andere konstituiert mich als einen Verantwortlichen, das heißt als jemanden, der zu einer Antwort fähig ist. Auf diese Weise gelingt es dem Wort des Anderen, sich an den Ursprung des Wortes zu setzen, durch das ich mir selbst den Ursprung meiner Akte zurechne“ (Ricoeur 1996, 404). – Indes, ein besonderer Rückbezug auf Kant legt sich im Blick auf Levinas von hier aus durch die Rücksicht darauf nahe (s. dazu noch einmal o. Anm. 284): Das kantische „principium obligandi“ verweist einerseits auf das ihr entsprechende, d. h. allein adäquate „objectum obligationis“ und andererseits auf den „für uns unerforschlichen Grund“ (IV 805) dieses allein im Bewusstsein des moralischen Gesetzes offenbaren „Übersinnlichen in uns“; so verknüpft es in wiederum denkwürdiger Weise den (von Kant selbst in diesem „objectum obligationis“ angezeigten!) Bezug auf die Idee des „Anderen“ mit der „Gottesidee“, die in jenem Verweis auf den „unerforschlichen Grund der Freiheit“ (sowie auch in dem späten „Reflexe“-Motiv, s. dazu schon o. I., 1.1.1.; I., 2.2.) jedenfalls indirekt angezeigt ist: eine auch für das Gespräch zwischen Kant und Levinas vermutlich nicht uninteressante Perspektive. 291 Freilich, in jedem Erfahrungsurteil (d. h. in dem darin beanspruchten „objektiven“ „ist“) wird ein „Aussich-Heraustreten“ vollzogen, sofern in dem darin implizierten Geltungsanspruch ja ein Stand „gleichsam in der Persönlichkeit der Vernunft“ eingenommen bzw. hierfür vorausgesetzt wird (und darin die „kommunikative Tiefenstruktur“ des Urteils bzw. den gemeinsamen „Raum der Gründe“ sichtbar macht); sofern auch jeder mögliche Irrtum sich allein auf das Urteil bezieht, hat dies weitreichende anerkennungstheoretische Implikationen. Besagt dies doch, dass alles Gesagte (bzw. das darin intentional „Gemeinte“) gleichwohl in einer nicht zu nivellierenden Weise zugleich anerkennungs- bzw. „geltungsrelevant“ ist und insofern in gewisser Weise einen „Sinn des Unbedingten“ impliziert; darin ist wohl jene schon angeführte Auffassung Kants begründet, wonach „in jedem irrigen Urteile … immer etwas Wahres liegen“ müsse (III 481). Dieser unscheinbare Verweis auf die nicht eliminierbare (bzw. naturalistisch zu entsorgende) anerkennungs-konstitutive Dimension der „Subjektivität“ (und des darin implizierten Geltungs-Sinnes) in Kants Logik wäre auch hinsichtlich des „theoretischen“ und „praktischen“ AutonomieBegriffs (bzw. „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“) noch näher zu explizieren. Darin ist wohl ein wichtiger (im Sinne der Unterscheidung von „Vernunftwesen“ und „vernünftigem Wesen“ noch zu differenzierender) Unbedingtheits-Aspekt enthalten, der auch dem kantischen Autonomie-Begriff in theoretischer und praktischer Hinsicht zugrunde liegt.
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gemäß zu differenzieren, und wirft so auch noch einmal ein bezeichnendes Licht auf jenen – durchaus zweideutigen – kantischen Bezug auf die „Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit“.292 Jenes von der Realität am entferntesten „scheinende“ Ideal hat im „Übersinnlichen in uns“ (als dem „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“) gleichsam ein „Gesicht“ erhalten („causa obligandi“); konkret weiß es sich so in Verantwortung gegenüber dem im „Antlitz“ des Anderen (als „objectum obligationis“) begegnenden Auftrag – eine durchaus differenzierte kantische Begründungsfigur, die durch den späten Aufweis der Verbindlichkeit der Tugendpflicht erst angemessen eingelöst wird. Der ihr gemäße Anspruch, „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“, sei „an sich selbst des Menschen Pflicht“ (IV 526) und die darin begründete Forderung des „tätige(n), praktische(n) Wohlwollen(s), sich das Wohl und Heil des anderen zum Zwecke zu machen“ (IV 588), rückt diesen bei Kant rekonstruierbaren Begründungszusammenhang noch in ein besonderes Licht (s. u. I., 4.2.). Der unbedingten Forderung des Sittengesetzes („principium obligandi“) korrespondieren die konkreten Aufgaben gemäß den „Pflichten gegen sich selbst“ und den „Pflichten gegen Andere“. In Anlehnung an eine berühmte Argumentation aus der „ersten Kritik“ wäre nun resümierend zu sagen: Dass alle Moralität mit bzw. in konkreten moralischen Verhältnissen anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das moralische Vermögen sonst zur Ausübung erweckt werden als dadurch, dass „wir zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen stehen“ (VI 133, Anm.); wenn aber gleich alle Sittlichkeit mit diesen Verhältnissen anhebt, so entspringen die moralischen Prinzipien selbst doch nicht aus ihnen – sie sind also daraus nicht ableitbar, sondern bleiben ihnen in ihrer „Unbedingtheit“ vorausgesetzt. Deshalb könne auch „fremder Wesen Glückseligkeit“ zwar „das Objekt des Willens eines vernünftigen Wesens sein“ und wäre dennoch kein angemessener „Bestimmungsgrund der Maxime“; als zwar durchaus mögliche „Materie der Maxime“ (IV 145) kann sie nicht eine vom „Objekt der Neigung“ herkommende „Triebfeder“ sein, weil dies nach Kant, wie „fein“ auch immer, unweigerlich auf eine Fremdbestimmung im Sinne der Abhängigkeit von einem „Antriebe oder Neigung“ hinausliefe. Es war offensichtlich diese Sorge, die Kant noch in der Vorrede zur „Religionsschrift“ zur Ablehnung der „fremden Glückseligkeit“ als ein in Erwägung gezogener „Bestimmungsgrund“ – als des „auf Glückseligkeit anderer Menschen gerichteten Zweck[s]“ – veranlasste: „Denn eine Handlung muss zuvor an sich selbst nach dem moralischen Gesetze abgewogen werden, ehe sie auf die Glückseligkeit anderer gerichtet wird. Dieser ihre Beförderung ist also [!] nur bedingter Weise Pflicht, und kann nicht zum obersten Prinzip moralischer Maximen dienen“ (IV 649 f ).293
292 Ausdrücklich betonte Kant die in dem (moralisch akzentuierten) „Reich der Zwecke“ gedachte „systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch [!] gemeinschaftliche objektive Gesetze …“ (IV 66). Die sachliche Anknüpfung an Ciceros Motiv der „communis humani generis societas“ (de officiis III, 28), „communis tamquam humanitas corporis“ (ebd. 32), ist nicht zu übersehen. 293 Diese (in ihrer Intention bzw. Befürchtung zwar durchaus verständliche, jedoch) missverständliche Argumentation bezüglich der noch gleichsam „vorgelagerten“ „Abwägung“ „nach dem moralischen Gesetz“ wird durch die in der noch späteren „Tugendlehre“ vorgenommene Unterscheidung zwischen dem
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Jene Frage nach dem „Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes“, bzw. dem Grund des darin maßgebenden „objektiven Prinzips“: dass „die vernünftige Natur … als Zweck an sich selbst“ existiert (IV 59 ff ), ist infolge solcher notwendigen Differenzierungen auch in der besonderen Hinsicht aufzunehmen, dass darin allein die maßgebende „ratio essendi“ jener moralischen Selbsterfahrung thematisch wird, welche – in diesem unerhörten Anspruch der gebietenden praktischen Vernunft – die Existenz des Menschen als „Zweck an sich“ im Bewusstsein des Sittengesetzes, d. i. unser „unsichtbares“, „eigentliches“ Selbst“, konstituiert und somit in der angezeigten Weise als Bedingung der Möglichkeit des kategorischen Imperativs und des darauf begründeten Bewusstseins der „moralischen Persönlichkeit“ aufweisbar wird. „Selbstbestimmung“ erweist sich für dieses endliche Vernunftwesen als „Prinzip“ und „Faktum“, sofern es sich als „solches doch gleichsam nicht selber schafft“ und somit in der ihm gleichermaßen unverfügbaren Differenz und Einheit von Subjekt und Person steht – weshalb die Frage, ob es außer uns noch andere Wesen gibt, auch in solcher Hinsicht keineswegs eine bloß „metaphysische“ Frage darstellt, wie Kant freilich in jener (wohl mit Blick auf Jacobi aufgeworfenen Frage) behauptet, „ob ich, als denkendes Wesen, außer meinem Dasein noch das Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt genannt) anzunehmen Ursache habe“ (VI 411). Mit Rücksicht auf diese „metaphysische Frage“ (in Erinnerung an Kants einschlägige Argumentation in seiner „Widerlegung des Idealismus“) wäre wohl dies erwägenswert (ohne damit das subjekt-theoretische Konstitutionsproblem zu nivellieren): So wie das „empirisch-personale Selbstbewusstsein“ erst im „anstoßenden“ Gegenstands-Bezug auf ein räumliches „Außer-uns“ sich als bestimmtes ausbildet, sich in diesem Selbstverhältnis wissend selbst in der Welt positioniert und darin als empirisches Subjekt auch als Teil derselben erhält (seine „Identität“ gewinnt), so wäre zu fragen, ob, in analogem Sinne, das Bewusstsein der je individuellen „moralischen Persönlichkeit“ und sein unbedingtes „Du sollst“ sich nicht allein in dem an sie ergehenden Anspruch des Anderen „realisiert“, d. h. „die Vernunft im moralischen Gesetz den Spiegel vorhält“ (VI 324);294 „moralischen Imperativ“ und dem „Imperativ, welcher die Tugendpflicht gebietet“ (s. u. I., 4.), korrigiert bzw. überholt. 294 Dies gewinnt für die sich hier auftuende Dimension der Interpersonalität eine besondere Bedeutung. Freilich, seine schon angeführte (auf Jacobis Idealismus-Kritik gemünzte) Auskunft über den Status jener „Frage“ nach dem „Dasein eines Ganzen anderer … Wesen (Welt genannt)“ (VI 411) erhält so, gegen den Anschein der Belanglosigkeit, vielmehr eine eminente Bedeutung. Anders wäre nämlich nicht zu begreifen, dass der Mensch „durch seine eigene Natur“ (d. i. „durch seine Vernunft“: VI 678) „zum Gliede in einem möglichen Reiche der Zwecke“ (bzw. „für die Gesellschaft“: IV 611; VI 685) bestimmt sei (IV 69). – Fichte hat dies, vermutlich zunächst inspiriert durch Jacobis diesbezüglich wegweisende Idealismus-Kritik, wohl schon früh erkannt. Aus seiner Lektüre von Jacobis Spinoza-Büchlein (die ja auch in Kants Einspruch gegen die Auffassung eines „psychologischen Idealismus“ erkennbar wird, wonach wir „das Dasein der Dinge außer uns … bloß auf Glauben annehmen … müssen“: II 38, Anm.) war ihm Jacobis Argumentation über jene „unmittelbare Gewissheit“ des Glaubens ja durchaus bekannt: „Wenn nun jedes Fürwahrhalten, welches nicht aus Vernunftgründen entspringt, Glaube ist, so muss die Überzeugung aus Vernunftgründen selbst aus dem Glauben kommen, und ihre Kraft von ihm allein empfangen. Durch den Glauben wissen wir, dass wir einen Körper haben, und dass außer uns andere Körper und andre denkende Wesen vorhanden sind. (…) denn ohne Du ist das Ich unmöglich“ (Jacobi
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der unbedingte moralische Selbst-Bezug hätte in seiner Realisierung darin bzw. in dem als „Zweck an sich selbst“ existierenden Anderen seine „unbedingte“ Vermittlung, ohne indes das „moralische Selbstverhältnis“ dieserart stillschweigend aufzulösen. Dass die Vernunft in dem das „Übersinnliche in uns“295 offenbarenden „moralischen Gesetz den Spiegel“ vorhält, rückt so auch die „ratio essendi“ jener moralischen „Selbst“-Erfahrung ins Blickfeld,296 die allein den Status des Menschen als „Zweck an sich“ zu fundieren vermag, sofern er sich „dieses Gesetzes bewusst ist“ und sich so „als zur reinen Verstandeswelt gehörig … erkennt“ (IV 233). Dies liegt auch dem – für seine Begründung des „Primats des praktischen Vernunftgebrauchs“ bedeutsamen, allerdings häufig igno2000, 113 f ). Auch das letztgenannte bedeutende Argument hat Kant offensichtlich nicht dazu veranlasst, von jener oben angeführten Behauptung (VI 411) abzurücken. – Noch H. Cohens bedeutsames Motiv versteht sich offenbar in einer solchen kantischen Spur: „Neben dem Ich erhebt sich, und zwar im Unterschiede vom Es, der Er: ist er nur das andere Beispiel vom Ich, dessen Gedanke daher durch das Ich schon mitgesetzt wäre? Die Sprache schon schützt vor diesem Irrtum: sie setzt vor das Er das Du. Ist auch das Du nur ein anderes Beispiel für das Ich und bedürfte es nicht einer eigenen Entdeckung des Du, auch wenn ich bereits meines Ich gewahr geworden bin? Vielleicht verhält es sich umgekehrt, dass erst das Du, die Entdeckung des Du mich selbst auch zum Bewusstsein meines Ich, zur sittlichen Erkenntnis meines Ich zu bringen vermöchte“ (Cohen 1919, 17). 295 Mit Rücksicht auf den angemessenen – seiner „Bestimmung“ entsprechenden – Vernunftgebrauch des Menschen ist in diesem Sinne wohl auch Kants Hinweis zu verstehen, inwiefern „wir in das System aller Zwecke passen“ (II 687). 296 Kants Auskunft, dass dieses „eigentliche Selbst“ seiner selbst allein dadurch innewird, dass ihm „das moralische Gesetz den Spiegel vorhält“, gewinnt freilich im Blick auf Platon noch eine besonders aufschlussreiche Nuance. Die von Sokrates geäußerte Ansicht: „Unsere Seele also sollen wir kennen lernen, das ist der Sinn des Spruches, der uns zur Selbsterkenntnis auffordert“ (Alkibiades I, 130e) ist nämlich mit der Einsicht verbunden, dass dieses so schwer zu erkennende „eigentliche Selbst“ (ebd. 129) AnErkenntnis voraussetzt bzw. daran gebunden ist. Dass Sokrates den Sinn dieses Spruchs sodann als den „Rat“ deuten will: „(D)as Auge solle auf etwas hinblicken, worin es sich selbst sehen könne“, und dies es doch ermögliche, darin „nicht nur den Gegenstand, sondern auch uns selbst zu sehen“, zumal unser Auge „eine Art Spiegel“ sei, gewinnt mit Blick auf jene kantische These, dass das „moralische Gesetz den Spiegel vorhält“, dann noch einen verblüffenden Sinn, wenn man sich das sokratische Resümee daraus vergegenwärtigt: „Du hast doch also bemerkt, dass das Antlitz dessen, der in das Auge eines anderen schaut, sich in dem gegenüberstehenden Auge wie in einem Spiegel abgebildet zeigt …“. Daraus folgert er: „Das Auge braucht also nur in ein anderes Auge und zwar in den edelsten und eigentlich wirksamen Teil desselben … zu schauen, um sich selbst zu sehen“, d. h.: „Will das Auge sich selbst sehen, so muss es in ein anderes Auge schauen und zwar in die Stelle desselben, in dem die eigentliche Kraft desselben ihren Sitz hat“ (ebd. 133a – b). Was aber, so ist, auch mit Blick auf Kant, zu fragen, hat Platon denn dazu veranlasst, gerade das „Auge des anderen“ als „Spiegel“ zu wählen, und nicht eine andere „Spiegelfläche“? Ist darin etwa ein versteckter Hinweis auf eine notwendige „zweite Fahrt“ der besonderen Art angezeigt – eine „Anschauung seiner selbst im Andern“ (um es mit einer Wendung Hegels zu formulieren) –, der nicht zuletzt auch besondere Bezüge zu Platons Freundschafts- und Eroslehre nahelegen könnte? Wenn aber die (daraus vermittelte) „Selbsterkenntnis“ nach Platon doch die „vornehmliche“ Aufgabe ist: Was wäre die Konsequenz daraus für die „erste Philosophie“? – Dass der Versuch, in die Sonne zu blicken und daraus auch Erleuchtung über sich selbst („Selbsterkenntnis“) zu gewinnen, nicht nur scheitern muss, sondern zum Erblinden führt, während diese gebotene „Selbsterkenntnis“ nach Platon eben nur über das „Umwegige“ des „Auges des anderen“ als „Spiegel“ ermöglicht wird, wäre mit Blick auf Kant neu zu buchstabieren – nicht zuletzt daraufhin, dass ihm zufolge das „Ideal der Vernunft“ nur „am entferntesten von der Realität zu sein scheint“ (II 512), dass die Vernunft dem Menschen „im moralischen Gesetz den Spiegel vorhält“ (VI 324), und in Rücksicht auf die daraus resultierende Forderung der Differenzierung theoretischer und praktischer Vernunftansprüche. Eben dafür ist die „Kritik der Vernunft“ vorausgesetzt.
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rierten – Hinweis zugrunde, wonach das „Ideal“ der Vernunft „von der objektiven Realität“ lediglich am weitesten „entfernt zu sein scheint“ (II 512), hingegen „die Prinzipien der reinen Vernunft, in ihrem praktischen, namentlich aber dem moralischen Gebrauche, objektive Realität“ haben (II 679), d. h. jenes „Ideal“ im „positiven Begriff der Freiheit“ (als dem „Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein“: IV 318; IV 81) allein wirklich ist. Auch jenes bemerkenswerte kantische Argument, „dass, wenn [!] wir zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen stehen, wir allerwärts dem moralischen Gesetz gehorchen müssen“ (VI 133, Anm.), wäre nun genau in diesem Sinne verständlich zu machen – ebenso sein erwähnter Hinweis darauf, dass „alle moralischen Verhältnisse“ ihm zufolge – freilich im Sinne von noch zu leistenden „interpersonalen“ Differenzierungsschritten – diejenigen von „Liebe und Achtung“ sind. Indes, als eine bloße Konsequenz daraus liegt ein weiterer Schritt nahe, der schon zum nächsten Abschnitt überleitet. Denn in gebotener Rücksicht auf die diesen „gewissen moralischen Verhältnissen“ (VI 133, Anm.) selbst immanenten notwendigen Differenzierungen gewinnt nun auch eine frühe Reflexion noch besonderes Gewicht: „Das regulative Prinzip der Freiheit: dass sie sich nur nicht widerstreite; das konstitutive: dass sie sich wechselseitig befördere, nämlich den Zweck: die Glückseligkeit.“297 Dies klingt noch in Kants Hinweis nach, dass „alle moralischen Verhältnisse“ der Menschen zueinander auf „Liebe und Achtung“ abzielen, der in seiner späten „Tugendlehre“ auch erst seine systematische Entfaltung findet: „Alle moralische Verhältnisse vernünftiger Wesen, welche ein Prinzip der Übereinstimmung des Willens des einen mit dem des anderen enthalten, lassen sich auf Liebe und Achtung zurückführen, und, so fern dies Prinzip praktisch ist, der Bestimmungsgrund des Willens in Ansehung der ersteren auf den Zweck, in Ansehung des zweiten auf das Recht des anderen“ (IV 629).298
297 Refl. 7251, AA XIX, 294; vgl. AA XXVII, 1319. – Gleichwohl bleibt auch die Rangordnung in der darin angezeigten Unterscheidung zwischen „vollkommenen“ und „unvollkommenen Pflichten“ zu beachten, denn: „Vollkommene Pflicht ist diejenige, welche nicht auf die Bedingung eingeschränkt ist, eine andere Pflicht nicht zu übertreten. Ist also so viel als unbedingte Pflicht gegen sich selbst und gegen andere. Sie ist das Recht der Menschheit oder der Menschen. Die unvollkommene geht auf die Zwecke der Menschheit in unserer Person und die Zwecke der Menschen. Die erste(n) setzen Achtung für die Menschen, die zweite(n) Liebe voraus“ (Refl. 7264, AA XIX, 297). In jener gestuften Einheit von „regulativem“ und „konstitutivem Prinzip der Freiheit“ – einem bloß „negativen“ und einem „affirmativen Prinzip“ (Baum 2007, 219) – artikuliert sich, im Blick auf eine allerdings in einem rechtsphilosophischen Kontext stehende Wendung Hegels gesprochen, in differenzierter Weise „der freie Wille, der den freien Willen will“. 298 Es scheint so, dass H. Arendts erstaunliche Kritik leitende Intentionen Kants hier geradezu auf den Kopf stellt: „Es ist höchst auffallend, dass in der Kritik der praktischen Vernunft und den anderen moralischen Schriften Kants von dem sogenannten Mitmenschen kaum die Rede ist. Es geht wirklich nur um das Selbst und die in der Einsamkeit funktionierende Vernunft [genau das wäre im Sinne Kants doch lediglich der „Verstand“ als „Vermögen der Willkür“, der noch der bloßen „Kultur“ zugehört]. Also ist Kants Moral inklusive dem moralischen Imperativ die Moral der Ohnmacht; als solche aber ist sie unantastbar. Das nennt man Gesinnungsethik, und auf Gesinnungsethik hat man nur in ‚Grenzsituationen‘ ein Recht, wenn man für die Welt Verantwortung nicht mehr übernehmen kann“ (Arendt 2002, 818). Dem widerspricht nicht zuletzt schon Kants Bestimmung der (moralischen, nicht nur „ästhetischen“) „Humanität“ – nämlich als „Sinn für das Gute in Gemeinschaft mit Anderen überhaupt“ (AA XXIII 409), ebenso Kants Verwerfung aller Gestalten eines (moralischen) „Solipsismus“.
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4.1.1. Die Vernunft als „Vermögen der Prinzipien“ und der Wille als „Vermögen der Zwecke überhaupt“ – vereint im Anspruch der „unbedingten Zwecke“ als „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“ Es ist in systematischer Hinsicht sehr aufschlussreich, dass in der genaueren Entfaltung der kantischen Idee eines „Reichs der Zwecke“ die für den naturphilosophisch-anthropologischen Aufweis der Sonderstellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ leitende Begründungsfigur eines „Systems der Zwecke“ auch in Kants Differenzierung menschlicher Praxis und deren „Ordnung der Zwecke“ eine Entsprechung findet. Es ist der abschließende Gedanke eines „Ganzen aller Zwecke“, d. i. eines „unter einem Prinzip befassenden Endzweck(s)“ (VI 132, Anm.), der so zuletzt die Bestimmung des „inneren Naturzwecks“, diejenige des Menschen als „Zweck der Natur“ und das System der „Zwecke der Freiheit“ umgreift299 und so erst die Idee des „Reichs der Zwecke“ abschließt. So ist in der näheren Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen als des existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ und der Bestimmung des „sittlich-praktischen Endzwecks“ des Menschen eine analoge Begründungsfigur (die, unterschiedlich akzentuiert, eine „schlechte Unendlichkeit“ vermeiden will) nicht zu übersehen: So wie ohne den Menschen als „letzten Zweck der Natur“ bzw. als Endzweck im „System der Zwecke“ „die Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet“ wäre (V 558 f ), d. h. unabschließbar bliebe, so gilt dies, eben in analogem Sinne, auch für die „unbedingten Zwecke“, die eben als solche „Zwecke … zugleich Pflichten sind“; sie sind es, die die unbedingte Gesetzgebung der Vernunft „in Ansehung der Zwecke“ einerseits erst vollenden, andererseits jedoch selbst auf das „umfassende Ganze aller Zwecke“ als „Endzweck der Schöpfung“ verweisen. Im Sinne der in einem „System der Zwecke der Freiheit“ zu leistenden Differenzierung menschlicher Praxis – „praktisch“ heißt nach Kant „alles, was durch Freiheit möglich ist“ (II 673)300 – bliebe darauf zu achten, wie dergestalt eine „Rangordnung der Zwecke“ zutage tritt, worin die „praktische Bestimmung 299 Insofern geht dieser umgreifende Bezug auf das „Ganze aller Zwecke“ noch über die frühere „teleologische“ Perspektive hinaus: „Wenn also der Gebrauch des teleologischen Prinzips zu Erklärungen der Natur, darum, weil es auf empirische Bedingungen eingeschränkt ist, den Urgrund der zweckmäßigen Verbindung niemals vollständig und für alle Zwecke bestimmt genug angeben kann: so muss man dieses dagegen von einer reinen Zweckslehre (welche keine andere als die der Freiheit sein kann) erwarten, deren Prinzip apriori die Beziehung einer Vernunft überhaupt auf das Ganze aller Zwecke enthält und nur praktisch sein kann“ (V 168). Kants Entfaltung dieser „reinen Zweckslehre“ erfolgt in genauer Entsprechung dazu: „In der Welt als System der Zwecke muss zuletzt ein Zweck sein, und das ist das vernünftige Wesen“ (AA XXVII, 1319), obgleich dieser Begriff des „vernünftigen Wesens“ (und seiner „Anlagen“) später noch näher differenziert wird. 300 Diese allgemeine Bestimmung des „Praktischen“ wurde von ihm – hinsichtlich des „Technisch“-, „Pragmatisch“- und „Moralisch“-Praktischen und der damit verbundenen Imperative, Vorschriften usw. und ihres Verbindlichkeits-Status – bekanntlich noch näher differenziert; diese in anthropologisch-kulturphilosophischer Hinsicht zwar durchaus bedeutsamen Zusammenhänge können hier vernachlässigt werden. Im Folgenden steht stets das „Moralisch-Praktische“ im Vordergrund, auch in den damit verbundenen „Grenzbestimmungen“, im Unterschied zu den für die „Kultur“ maßgebenden „technisch-praktischen Regeln“ (vgl. V 242 f ); in diesem Sinne bleibt das „Moralische“ als das „absolut Praktische“ von jener allgemeinen Bestimmung des „Praktischen“ noch unterschieden.
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des Menschen“ ihre konkrete Entfaltung und danach in dem „unbedingten Zweck“ – der deshalb ein „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, sein muss – auch ihre Vollendung findet, weil andernfalls eben auch diese „Zwecke ohne Endzweck“ bleiben müssten. Deshalb kann davon die Vernunft als „Vermögen der Zweckesetzung“ gerade nicht absehen, ohne mit sich selbst in Widerstreit zu geraten. Der Wille eines „vernünftigen Weltwesens“, welches unter dem unbedingten Anspruch der reinen praktischen Vernunft steht und deshalb zwar durch keine von außen kommenden Zwecke bestimmt („nezessitiert“) sein kann, ist doch zugleich derjenige eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“, das notwendig auf Zwecke gerichtet ist; „reine praktische Vernunft“ darf zwar nicht durch diese Zwecke bestimmt sein, gleichwohl bleibt der Wille eines endlichen Vernunftwesens auf „positive“ (und doch nicht bloß äußere) Zwecke bezogen, weil allein darauf sich ein „Interesse der Vernunft“ beziehen kann. Begründete nach Kant zunächst allein das Vermögen, sich von der „Materie aller seiner Zwecke auf Erden“ loszureißen und „sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen“ (V 553), den vorläufigen Status des Menschen als eines „letzten Zwecks der Natur“, so ist es dieses – eben selbst zum Zweck gemachte – „Vermögen der Zwecke“, das sich so, über dieses Vermögen der bloß „negativen Freiheit“ hinaus, als das „Vermögen des Unbedingten“ für den Menschen als „existierenden Endzweck der Schöpfung“ konstituiert und zuletzt in den „reine praktische Vernunft“ abschließenden und krönenden „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, sein letztes Maß findet. So gewinnt jener frühe kantische Verweis auf die „Ordnung der Zwecke“ als das der Vernunft „eigentümliche Gebiet“ (II 357) eine besondere Bedeutung und vermag erst damit dem Status der Vernunft als untrennbarer Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ (IV 249; 317) und des „Vermögens der Zwecke überhaupt“ (IV 526) vollauf gerecht zu werden.301 Erst die späte „Tugendlehre“ expliziert als Einheit des „Unbedingten der Form“ mit demjenigen des Inhalts (der „Materie“)302 den „objektiven Zweck“ und dessen „positive 301 Eine wichtige Unterscheidung bleibt zu beachten: Praktische Vernunft als das „Vermögen der Zwecke“ findet in der Ethik als „Zwecklehre“ ihre systematische Explikation: Ethik geht, weil „ohne alle Zweckbeziehung … gar kein Wille sein kann“, notwendig auf das „Wohin“ der „Willensbestimmung“, und begnügt sich deshalb nicht mit der moralisch relevanten Perspektive, „wie sie zu wirken habe“ (IV 650). Gleichwohl bleibt dieses „Wohin der Willensbestimmung“ von jener ethischen Orientierung an den „Gegenständen der freien Willkür unter ihren Gesetzen“ zu unterscheiden, „welche er sich zum Zweck machen soll“ (IV 515) – und doch steht auch die Vermittlung dieser beiden „teleologischen Perspektiven“ in einer „moralischen Teleologie“ an. 302 Nur beiläufig sei hier auf den allerdings recht interessanten Sachverhalt hingewiesen, dass Kant in der ersten Fassung seiner Einleitung in die „Kritik der Urteilskraft“ der „Vernunft“ (als „Begehrungsvermögen“) die „Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist (Verbindlichkeit)“, zuordnete (V 225 f ); in der zweiten Fassung dieser Einleitung wird indes als vernunftbestimmtes „Prinzip a priori des Begehrungsvermögens“ der „Endzweck“ angeführt. Wenn beide sich offenkundig auf dasselbe beziehen: Ist dies nicht ein „ethisches“ Motiv, das sich in der späten Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten“ recht eigentlich als maß-gebend erweist und in dem „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, näher expliziert wird? Jedenfalls kann für sein Vorhaben, „ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen“ (II 697), auf dem Gebiet der praktischen Vernunft diese Bezugnahme auf die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, nicht ausgeblendet bleiben, zumal sich darin erst die Idee eines „Systems [bzw. „Reichs“] der Zwecke“ vollendet. Es trifft wohl zu: „Während in GMS und KpV in einschlägigen Passagen Kernkonzeptionen wie diejenige des guten Willens (GMS) und des Paradoxons der Methode (KpV) die Untermi-
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Verbindlichkeit“. Dies wäre demnach nicht ein „bedingter“ Zweck, der bloß „interessiert“, sondern einer, der auf einen „unbedingten Zweck“ ausgerichtet wäre und auch nur als solcher ein „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, sein kann, woran Vernunft um ihrer Selbsterhaltung willen notwendig „Interesse nimmt“, besser: nehmen muss.303 So wird dieser „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, der in der auf die Einheit des Moments der „Form“ und des Moments der „Materie“ (den „Zweck“) abzielenden Vernunftgesetzgebung begründet ist, sowie der darauf gestützte Anspruch der Tugendpflicht304 von Kant näher entfaltet und gleichermaßen legitimiert. Solche „Deduktion“ zielt auf den Nachweis ab, dass ohne diese „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, die Vernunft als Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“ nicht möglich wäre; daran nimmt Vernunft deshalb um ihrer selbst willen ein notwendiges Interesse und erlaubt es so auch erst, für die menschliche Freiheit ein letztes Maß zu definieren, worin mit dem „Unbedingten der Form“ ein „unbedingter Zweck“ als Inhalt korreliert. Ebendies veranlasste Kant zur Ausschau nach nicht mehr lediglich empirisch vorgegebenen (d. h. relativen), sondern nach „unbedingten“ Zwecken – solchen, die mit der Unbedingtheit des Sittengesetzes nicht allein vereinbar sind, sondern dieser auch als selbst „unbedingte Zwecke“ entsprechen.305 Infolge dieser differenzierten – auf „Form und Matenierung strenger vernunftmoralischer Verbindlichkeit durch natürlich basierte Zwecke und Begehrungen ausschließen sollten, stellt die MS keinen alternativen Ansatz zu diesen Entwürfen dar, sondern vielmehr deren Vollendung durch die Anwendung der Inhalte und methodischen Implikationen beider genannten Werke auf die menschliche Existenzform“ (Bambauer 2011, 203 Anm. 30). 303 Darauf zielt vermutlich auch die schwierige und denkwürdige Reflexion 6977: „Der moralische Grund ist der Bewegungsgrund der Handlungen aus den ursprünglichen Zwecken vernünftiger Wesen, d. i. denen Zwecken, durch die allein ihr Dasein möglich ist. Alles, was dem widerstreitet, widerstreitet ihnen selbst, weil es dem principio essendi derselben entgegen ist. Wenn die Glückseligkeit nur ein Werk vernünftiger Wesen gegeneinander sein kann, so ist es ihre Pflicht oder eigentümliche Funktion, solche zu erteilen. Sie sind zu dem Ende da, um das Glück anderer zugleich mit ihrer Sorgfalt sein zu lassen. Die selbsttätige(n) Zwecke machen einen noch größeren Bewegungsgrund. Denn die Einstimmung der Willen ist eine notwendige Bedingung der Einigkeit der Willen, welches die wesentliche Form der intelligiblen Welt ist“ (AA XIX, 218). 304 In der Tat: „Was hier gefordert ist, ist der Nachweis, dass es in der Ethik möglich ist, Maximen der Zwecksetzung in der Weise nach moralischen Prinzipien zu begründen, dass gesagt werden kann, welche Zwecke wir uns setzen sollen. Gäbe es solche obligatorischen Zwecke, Zwecke, die zu haben Pflicht ist, so könnten wir sie ‚Tugendpflichten‘ nennen, die sich von (inneren oder äußeren) Rechtspflichten, die sich immer nur auf den äußern Freiheitsgebrauch in Handlungen gegenüber anderen beziehen, eindeutig unterscheiden“ (Baum 2007, 219). Eine systematische Erörterung der einzelnen Tugendpflichten in Kants „Tugendlehre“ ist hier nicht zu leisten. 305 „Die Maximen werden hier als solche subjektive Grundsätze angesehen, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung bloß qualifizieren; welches nur ein negatives Prinzip (einem Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten) ist. – Wie kann es aber dann noch ein Gesetz für die Maxime der Handlungen geben?“ (IV 519). – Mit Recht merkt Geismann zum Anspruch der Tugendpflicht (und ihrem „Imperativ“) an: „Allererst die Ausrichtung auf Zwecke ist es, die eine Gesetzgebung für die Maximen des Handelns zur Folge hat. Hier genügt somit nicht das Haben zwar „qualifizierter‘, aber zugleich ‚willkürlicher‘ Maximen; hier kommt es vielmehr auf das Haben ganz bestimmter […] Maximen an“ (Geismann 2006, 31), weshalb eben erst darin im vollen Sinne das „Vermögen der Vernunft“ „für sich selbst praktisch ist“. – Ch. Taylor scheint hingegen zu übersehen, dass sich Kants Begründung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, und der darauf bezogene „Imperativ“ keinesfalls mit der „Universalität“ im Sinne des „Handeln(s) nach universalisierbaren Maximen“ begnügt (Taylor 2009, 1167) und dass die Intention der Tugendpflicht, den „Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“ (d. h. auf „Wohl und Heil“ desselben abzu-
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rie“ der Handlungsmaximen abzielenden – Gestalt einer Vernunftgesetzgebung erschöpft sich die daraus resultierende Einheit des „obersten Prinzips der Moralität“ und des „obersten Prinzips der Tugendlehre“ mit der darin fundierten „Zweckmäßigkeit, die Gesetz ist“, weder in einer lediglich negativen Distanzierung materialer Bestimmungsgründe („Autarkie“ und bloßer „Autokratie“ im Sinne der bloßen Bezwingung der „widerspenstigen Neigungen“: IV 513) noch in den ebenfalls bloß negativen Rechts- und Achtungspflichten.306 Es ist deshalb auch nicht lediglich jenes Anerkennungsverhältnis, dem zufolge der „freie Wille den freien Willen will“; vielmehr affirmiert die Vernunft als „Vermögen der Zwecke“ auf diesem ihr „eigentümlichen Gebiet“ der „Ordnung der Zwecke“ (II 357) in solcher Beförderung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, in Wahrheit sich selbst. Daraus wird deutlich: Die auf die Begründung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, abzielende Ethik setzt die Moralphilosophie (im engeren Sinne) als die „praktische Gesetzgebung der Vernunft nach dem Freiheitsbegriff“ (V 242) voraus, erschöpft sich jedoch nicht in der „Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (IV 16) bzw. in der Freilegung des „Vermögens der Prinzipien“. Als „Ethik“ zielt sie, darin zwar verankert, auf die Bestimmung eines „Zwecks der reinen Vernunft“ (IV 509) ab, der von Kant als ein „objektiv-notwendiger Zweck“, d. h. als ein „unbedingter Zweck“ und näherhin als ein „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, ausgewiesen wird: „Also wird in der Ethik der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen, in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach moralischen Grundsätzen begründen müssen“ (IV 513). Daran ist also der notwendige Nachweis geknüpft, dass in der Kennzeichnung der „praktischen Vernunft“ dem „Vermögen der Prinzipien“ ein „Vermögen der Zwecke“ entspricht. Genauer besehen zeigt sich im Blick auf jene von Kant angezeigte Selbstverortung in dem „dritten Stadium der Metaphysik“, dass auch die von ihm in der späten „Metaphysik der Sitten“ unternommene Differenzierung der Rechts- und Tugendlehre innerhalb der „praktischen Philosophie“ inhaltlich nicht nur über die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und die „Kritik der praktischen Vernunft“ hinausweist, sondern sich auch ausdrücklich als eine zielen), sich gewiss nicht in einem „einheitlichen, aus einer einzigen Quelle abgeleiteten Kodex“ (ebd.) erschöpft. Der gegen Kant gerichtete Vorwurf, „die Moral aus einem einzigen Quellprinzip ableiten [zu] wollen“ (ebd. 1168), wird der gestuften kantischen Differenzierung des Anspruchs der Rechts- und Tugendpflichten wohl nicht gerecht. Dies gilt nicht zuletzt auch für Taylors Befund: „Nicht nur das Gesetz, sondern auch die Ethik wird als Regelwerk aufgefasst (Kant)“ (Taylor 2009, 1227). 306 Man kann deshalb der Aufforderung Ludwigs nur zustimmen, „den immer wiederkehrenden Vorwurf der ‚Formalität‘ der Kantischen Moralphilosophie endlich in das Kabinett negativer Hagiographie zu verweisen. Dass die Kantische Moralphilosophie allein auf dem formalen Prinzip des kategorischen Imperativs gegründet ist, ist der ganze Stolz ihres Autors – und kann daher allein keinen per se vernichtenden Vorwurf abgeben. Zu zeigen, dass man anhand dieses formalen Prinzips bis zu materialen Bestimmungen gelangt, ist Kants Ehrgeiz in der Tugendlehre. Letztlich ist diese damit Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung mit Formalismus-Vorwürfen aller Art. Hier erst sind sie anzubringen und in ihrer Einschlägigkeit zu erweisen“ (Ludwig 1990, XXIV); grundsätzlich ähnlich Weil 2002, 28. Auch Bambauer weist darauf hin, dass „allein schon die Einführung der Tugendpflichten in der MS … einen wichtigen Entwicklungsschritt des Pflichtkonzepts etwa gegenüber der GMS oder KpV“ darstelle. „Allerdings“, so betont Bambauer, „kann man auch argumentieren, dass im Konzept der Tugendpflichten der eigentliche, immer schon implizit auf Zwecke bezogene Charakter des schon in den der MS vohergehenden kritischen Werken etablierten Pflichtbegriffs zur Ausprägung kommt“ (Bambauer 2011, 278 f, Anm. 258).
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Abgrenzung gegenüber den zeitgenössischen „Naturrechtslehren“ versteht und „zugleich die Metaphysik der Sitten als gemeinsames System von jus und ethica“ ermöglicht.307 Hier sei lediglich daran erinnert, dass die in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, als einer bloßen „Grundlegung“308, ausdrücklich maßgebende Absicht sich zunächst darauf konzentriert, dass sie „mit dem Prinzip der Pflicht vorläufige Bekanntschaft machen will und eine bestimmte Formel derselben angibt und rechtfertigt“ (IV 112 f ) – also im Grunde „überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei“ (IV 331). Kants eindeutige Beantwortung der Frage: „… ob in Aufgaben der praktischen Vernunft vom materialen Prinzip derselben, dem Zweck (als Gegenstand) der Anfang gemacht werden müsse, oder vom formalen“ (VI 231), bleibt deshalb, abgesehen vom Status der sogenannten „Achtungspflichten“, von der umfassenden Idee der Einheit des „obersten Prinzips der Moral“ mit dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“ für sich genommen noch ganz unberührt. Demzufolge kann sich die Vernunft als das „Vermögen des Unbedingten“ in ihrer Gesetzgebung nicht allein damit begnügen, als „Vermögen der Prinzipien“ („Bestimmungsgrund des Willens“) zu fungieren, sondern zielt in ihrer Gesetzgebung als „Vermögen der Zwecke“ gleichermaßen, freilich in Wahrung der rechten Begründungsordnung, auf beide Aspekte – eben mit Rücksicht darauf, dass alle Handlungsmaximen eine „Form“ und „eine Materie, nämlich einen Zweck“, haben (vgl. IV 69 f ). Dies geschieht auf eine Weise, die folgerichtig auf den (beide in sich vereinenden) Gedanken einer „Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist“, führt und dieserart die „ursprüngliche Gesetzgebung der Vernunft“ (im Sinne des „unbedingten Bestimmungsgrundes des Willens“) mit der Idee eines letzten, unbedingten Zwecks verknüpft und Letzterem als „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, bestimmt. 307 Baum 2007, 213. Auf Baums Skizze des Verhältnisses von „Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie“ – nicht zuletzt auf die darin sichtbar gewordenen kantischen Abgrenzungen von zeitgenössischen Konzeptionen (Wolffs, Baumgartens, Thomasius’) – sei ausdrücklich hingewiesen. – In einer Vorlesung aus dem Jahr 1793/94 betonte Kant: „Die Principia juris müssen von den Principiis ethicis sehr wohl unterschieden werden, welches Baumgarten außer Acht gelassen, so wie die Bestimmung des obersten Distinctions-Princips, die an sich sehr schwierig ist, noch bis jetzt nicht entwickelt worden“ (AA XXVII, 539) – was nach Baum „nichts weniger“ besagt, „als dass Kant beansprucht, der erste Philosoph zu sein, der die vorhandene und notwendige Unterscheidung von Recht und Ethik innerhalb der praktischen Philosophie auf dem gemeinsamen Einteilungsgrund, den Gesetzen der Freiheit, begründet hat“. Mit „seiner eigenen Neubestimmung dieser Einteilung“ habe Kant für seine Konzeption der „Metaphysik der Sitten“ „beansprucht, etwas geleistet zu haben, was der Philosophie menschlichen Handelns seit der Antike nicht gelungen sei“ (so Baum 2007, 216 f ). Dann gehören die darin differenzierten „Unbedingtheits“-Aspekte freilich selbst in die von Kant aufgewiesene „Geschichte der reinen Vernunft“ und sind so dem „dritten Stadium der Metaphysik“ zuzuordnen. 308 Dass das in dem berühmten Eröffnungssatz der „Grundlegungsschrift“ ausgesprochene Prinzip des „guten Willens“ auch noch für Kants ethikotheologische Fundierung der Stellung des Menschen (als existierender „Endzweck“) sowie des „Endzwecks der Schöpfung“ seine entscheidende Bedeutung behält, zeigt ein Passus aus Kants Bestimmung der „Ethikotheologie“: „[E]in guter Wille ist dasjenige, wodurch sein Dasein allein einen absoluten Wert und in Beziehung auf welches das Dasein der Welt einen Endzweck haben kann“ (V 568). – Um dem Sinnpotenzial der kantischen Ethik (gegenüber weithin üblich gewordenen Verkürzungen) einigermaßen gerecht zu werden, gilt es, die „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ und das von ihm herausgestellte entscheidende „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft“ (IV 180) mit seiner Begründung des „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“, zu verbinden und diese somit als konstitutive Elemente der Ethik als eines „Systems der Zwecke der Freiheit“ auszuweisen.
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I. Teil: Kants Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“
Insofern bleibt der in der späten „Metaphysik der Sitten“ explizierten Ethik309 ihre (die Idee der „moralischen Verbindlichkeit“ aufweisende) „Grundlegung“ begründungstheoretisch noch vorgelagert, zumal erst dies das Verhältnis von „Moral(prinzip)“ und Ethik angemessen zu bestimmen erlaubt. Deshalb orientiert sich jene maßgebende Verbindlichkeit des „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“, an einem Gesetz, das seiner Qualität nach auf ein „Begehen“ abzielt (und zwar der Relation nach gegenüber der „Persönlichkeit“), und bedeutet als Tugendpflicht eine „unvollkommene Pflicht“ (in Abhebung von den „Rechtspflichten“). Im Sinne dieser erforderlichen weiteren Differenzierung des sittlichen Imperativs hat Kant – in vertiefender Aufnahme der zwar schon in der „Grundlegungsschrift“ vorgenommenen Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten („vollkommenen“ und „unvollkommenen Pflichten“, „juridischer“ und „ethischer Verbindlichkeit“) – ausdrücklich den Anspruch des „kategorischen Imperativs“ als des „moralischen Imperativs“ von „demjenigen, welcher die Tugendpflicht gebietet“ und als solcher auf den „gesollten Zweck“ (den „die reine praktische Vernunft in sich hat“: IV 528) zielt, unterschieden; damit ist dessen über die bloße „Kultur der Moralität“ noch hinausweisender Anspruch unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Bevor diese auf ein „System der Zwecke der Freiheit“ abzielenden kantischen Begründungsfiguren noch genauer verfolgt werden sollen, sind einige grundlegende Bestimmungen zu vergegenwärtigen, die auch jene betonte Analogie in der Begründung der Weltstellung des Menschen und der Ethik als „System der Zwecke der Freiheit“ noch einmal sichtbar machen. Gegenüber der Willkür als dem bloßen Vermögen, „sich beliebig Zwecke zu setzen“,310 ist der Wille als das „Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein“ (IV 318), bzw. die Vernunft als das „Vermögen der Zwecke überhaupt“, vorrangig an dem „gesollten Zweck“ orientiert – d. i. an einer „Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist“, woran sie auch notwendig Interesse nimmt. Als „Vermögen des Unbedingten“ realisiert sie sich darin als Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“ in dieser Doppelgestalt der Vernunftgesetzgebung,311 309 Auf Kants Ethik (bzw. näherhin auf die Tugendlehre) wird im Folgenden allerdings nur soweit Bezug genommen, als dies die Begründung des Status der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, berührt, bzw. soweit „im Ausgang“ ein erweitertes Fundament bzw. eine Radikalisierung des Anspruchs der kantischen Idee einer „Ethikotheologie“ zu gewinnen ist. Vgl. zu den „Tugendpflichten“ und deren „Imperativ“ jetzt auch Bambauer 2011, 214 ff, bes. auch 224 ff. 310 Auch für Kant ist die „Willkür“ im Grunde jener „Widerspruch der Freiheit mit sich selbst“, dass diese „Willkür“ der „Form nach“ zwar „un-bedingt“, gleichwohl dem Inhalt nach „bedingt“ ist, was ebendeshalb ihre „Aufhebung“ im Sinne Hegels verlangt – in den Worten Hegels (Hegel 17, 254): „Die Natürlichkeit des Willens ist näher die Selbstsucht des Willens, unterschieden von der Allgemeinheit des Willens und entgegengesetzt der Vernünftigkeit des zur Allgemeinheit gebildeten Willens“. Erst so ist „Freiheit“ auch „Inhalt der Freiheit“ und konstituiert damit jene Ebene der „Anerkennung“, die sich schon für Kants Bestimmung des „Zwecks an sich selbst“ und für seinen Rekurs auf das anzuerkennende „Prinzip anderer Menschen“ (IV 62) als konstitutiv erweist. 311 In einer gewissen Analogie zu Kants Hinweis auf die „subjektiven Ideen, welche die Vernunft selbst schafft … indem sie sich selbst schafft“ (AA XXI, 93), wäre vielleicht zu sagen, dass in diesem Bezug darauf, „die Menschheit überhaupt sich zum Zwecke zu machen“, reine praktische Vernunft in der Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“ sich selbst schafft und „realisiert“ (s. u. III., 2.1.).
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worin sich das eigentliche Interesse der Vernunft an sich selbst manifestiert und diese sich auch allein erhält. In diesem Sinne darf auch Kants – bemerkenswerte selbstreflexive – Bestimmung des Vernunftinteresses verstanden werden (das es der Vernunft auch allein erlaubt, „für sich selbst praktisch zu sein“): „Einem jeden Vermögen des Gemüts kann man ein Interesse beilegen, d. i. ein Prinzip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben befördert wird. Die Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, bestimmt das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“ (IV 249);312 schon deshalb bliebe ihr auch die Funktion einer lediglich „neigungs“-bedingte Zwecke restringierenden Instanz noch völlig unangemessen. Die darüber noch hinausgehende – weil auf aus ihr selbst gewonnene Zwecke abzielende – Forderung setzt freilich die Kennzeichnung des „Vermögens(s), sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen“, als „das Charakteristische der Menschheit“ (IV 522) voraus.313 Noch einmal sei betont: Letzter Zweck der reinen praktischen Vernunft kann nur sein, dass sie sich als „Vermögen der Prinzipien“ und als „Vermögen der Zwecke“ selbst zum Zwecke macht, mithin „das Vermögen des Unbedingten“ selbst zum Inhalt hat und sich insofern eben an der Idee der „Menschheit überhaupt“ orientiert, d. h. dieserart alle bloß empirischen Interessen und Triebfedern als nach dem Prinzip der Selbsterhaltung zu koordinierende Gegebenheiten transzendiert. Wenn reine praktische Vernunft sich in dieser selbstbezüglichen Weise als das „Vermögen der Zwecke“ selbst zum Zweck macht, d. h. in diesem eminenten Sinne „für sich selbst praktisch ist“, so „realisiert“ und bewahrt sie sich selbst als „Vermögen der Zwecke überhaupt“ und bringt sich darin als „Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der 312 Dass Kant diese Kennzeichnung der Vernunft, wonach diese als „Vermögen der Prinzipien“ nicht nur „das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“ bestimmt, indes nicht konsequent beibehalten hat, lässt nicht nur ungeklärte Sachprobleme vermuten, sondern begünstigt wohl auch Missverständnisse. Demzufolge wäre die bloß „instrumentelle Vernunft“ doch jene, in der Vernunft eben nicht „ihr Interesse selbst bestimmt“, sondern (als „verständiges Mittel“) im Dienste anderer Triebfedern bzw. Zwecke stünde. Es ist die „instrumentelle Vernunft“, die Kant gelegentlich (vgl. IV 673, Anm.) in der Kennzeichnung der „Menschheit“ vor Augen hatte, während er die „Persönlichkeit“ hier bemerkenswerterweise als die „Idee der Menschheit, ganz intellektuell betrachtet“ (IV 675), bestimmte: Besagt dieses „intellektuell betrachtet“ sodann, dass allein hier „die Vernunft ihr Interesse selbst bestimmt“, d. h. ihr an sich selbst als „Vermögen der Prinzipien“ gelegen ist, also keiner anderen Instanz untersteht und so auch allein „für sich selbst praktisch ist“ (IV 673, Anm.)? Vgl. dazu auch J. Atwell 1986, bes. 87–92; ähnlich Wood 1999, 111 ff. – Freilich bleibt bei Kant diese „Idee der Menschheit als Zweck an sich selbst“ (die der berühmten, an der „Materie“ orientierten „Menschheitsformel“ zugrunde liegt) auf die in der auf die „bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit“ abzielenden „Grundformel“ zurückverwiesen. 313 Darauf rekurriert auch Horn (2004, 208): „Kant meint also, dass nicht erst realisierte Moral oder Vernunft, andererseits aber auch nicht einfache Gattungszugehörigkeit unbedingte Werthaftigkeit begründet, sondern die freie Zwecksetzungsfähigkeit“; Horn betont ebenso, dass Kant die „‚Menschheit in der Person‘ bei näherem Hinsehen nicht nur zum regulativen, sondern auch zum positiv herzustellenden Zweck“ erklärt (ebd. 204). Hat also „Freiheit“ zunächst an dem „Prinzip anderer Menschen“ (als „Selbst zwecken“) ihr Maß, das fordert, dass diese selbst „den Zweck meiner Handlungen enthalten können“ (IV 62), so ist es die zu befördernde „fremde Glückseligkeit“ als der „positive Zweck“, der so für diese „Freiheit im positiven Verstande“ noch einmal in anderer Weise zum Inhalt bzw. Richtmaß wird. Schon in den „Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten“ notiert Kant: „Liebe ist Zusammenstimmung mit dem Zweck Anderer, Achtung mit dem Recht anderer“ (AA XXIII 411). Dass diese Bestimmung der „Liebe“ auch bedeutsame religionsphilosophische Implikationen hat, wird sich noch zeigen (s. IV., 4.).
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Vernunft des Subjekts angetroffen wird“, d. h. als „Wille“ (IV 317), zur Geltung. Eine diesbezügliche Indifferenz der praktischen Vernunft gegenüber diesem „Vermögen“ liefe also zuletzt auf ein – deshalb mit sich selbst in „Widerspruch“ geratendes – Desinteresse an der „Idee der Menschheit“ und somit auch an sich selbst hinaus. Mithin ist ihr, im Blick auf die „Menschheit in der eigenen Person und der des anderen“, in solcher Orientierung an den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, ohnedies in je unterschiedlicher Weise lediglich an sich selbst gelegen, d. h. sie erhält darin sich – bewahrend und gleichermaßen vollendend – als „reine praktische Vernunft“314 und „realisiert“ so das praktische „Reich der Zwecke“.315 Genauer besehen ist diese Forderung auch schon in jener bemerkenswerten – der Idee der „moralischen Welt“ geschuldeten – Bezugnahme auf die „Idee eines Endzwecks im Gebrauche der Freiheit nach moralischen Gesetzen“ ausgesprochen: „Wir sind a priori durch die Vernunft bestimmt, das Weltbeste, welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an demselben, d. i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit, besteht, nach allen Kräften zu befördern“ (V 580).316 314 Der Aufweis dieses „gesollten Zwecks“, „den also die reine praktische Vernunft [als „ein Vermögen der Zwecke überhaupt“] in sich hat“ (IV 527), macht eine höchst aufschlussreiche „Reflexionsstruktur“ sichtbar, deren diffizile Begründungslogik M. Baum in einem instruktiven Aufsatz über die „Tugendpflichten“ nachgezeichnet hat: „Zur praktischen Vernunft als solcher gehören Zwecke, sie ist gar nichts anderes als das Vermögen der Zwecksetzung oder der Wille als vernünftiges, durch Begriffe geleitetes Begehrungsvermögen. Als reine praktische Vernunft aber dient sie nicht ihr von außerhalb ihrer selbst gegebenen Zwecken, die sie haben kann oder auch nicht, sondern hat ihre Zwecke aus sich selbst. Solche Zwecke haben also nicht die Zufälligkeit und Beliebigkeit, mit der sich der Mensch etwas zum Zweck machen kann. Sofern sie aber die reine praktische Vernunft des Menschen ist, gebietet sie ihm aus sich selbst, die Menschheit als das Vermögen der Zwecksetzung in ihm und in anderen Menschen sich zum Zweck zu machen. Die Zwecke, die der Mensch im Verhältnis zu sich selbst und zu andern Menschen sich setzen und die er als Mensch, d. h. kraft seiner Menschheit als des Vermögens der vernünftigen Zwecksetzung, haben kann, sind also diejenigen Zwecke, die eben dieses Zwecksetzungsvermögen in ihm und andern Menschen betreffen. Solche Zwecke sind also ebensowenig beliebige Zwecke wie die Zwecke der reinen praktischen Vernunft in ihm. Dass also vor der reinen praktischen Vernunft, etwas ‚Zweck ist‘, bedeutet demnach, dass der Mensch, sofern die reine praktische Vernunft in ihm wirksam ist, sie haben muß oder soll“ (Baum 1999, 47; vgl. ders., 2007, bes. 217 ff ). Die subtile Begründungsstruktur dieses ethischen Anspruches bei Kant war mir in früheren einschlägigen Bezugnahmen auf Kants Begründung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ (Langthaler 1991), noch nicht einsichtig. Ich danke M. Baum für wichtige diesbezügliche Hinweise. 315 Mit Recht weist P. Guyer (1997, 5) darauf hin, dass „Kant in seiner Beschreibung des Reichs der Zwecke“ betone, „dass wir ein Ganzes sowohl von vernünftigen Wesen als Zwecken als auch von ihren eigenen Zwecken begründen müssen“. (Gleichwohl bleibt in dieser Idee des umfassenden „Reichs der Zwecke“ auch der „innere Naturzweck“ aufgehoben.) – Auch hier wird die (dem Doppelsinn des „Reichs der Zwecke“ gemäße) analoge Stellung des Menschen als des „existierenden Endzwecks“ und des „unbedingten Zwecks“ deutlich erkennbar. Auch im Blick auf eine immanente Differenzierung der Idee des „Reichs der Zwecke“ ist die erkennbare Stufung von Interesse: Schlägt die belebte Natur in dem der „Zwecksetzung tauglichen“ Naturwesen Mensch gleichsam die Augen auf, so überschreitet sie in den auf die Moralität hin „affinen“ Zwecken sich selbst, während die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, dieses praktische „System der Zwecke der Freiheit“ vollenden; andererseits bleibt dies selbst noch mit den Differenzierungen der kantischen Idee des „praktischen Endzwecks“ und des „Endzwecks der Schöpfung“ zu vermitteln (s. dazu u. die entsprechenden Kapitel im III. u. IV. Teil). 316 Dies bestätigt wiederum, dass Kant die Bestimmung der „moralischen Gesetze“ bzw. der „Moralität“ immer wieder auch in einem sehr weiten Sinne fasst; so z. B. in seiner Bemerkung, dass in Kultur und
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So zeigt sich: Indem die Vernunft als solche Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke überhaupt“ – in dieser notwendig „selbstbezüglichen Form“ – sich selbst zum Zweck macht, macht sie eben damit nichts anderes als „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke“ (IV 526). Dass die praktische Vernunft ohne diesen immanenten Zweckbezug nicht gedacht werden kann (d. h. nicht „Vermögen der Zwecke“ wäre), als „reine praktische Vernunft“ jedoch nicht auf bloße „Zwecke der Willkür“ rekurrieren darf bzw. darin Genüge finden kann, sondern selbst auf „unbedingte Zwecke“ bezogen sein muss – und auch nur dies in Einklang mit der Bestimmung der Vernunft als „Vermögen der Prinzipien“ zu bringen ist: Ebendies ist in jener Kennzeichnung des „Vermögens der Zwecksetzung“ als des „Charakteristischen der Menschheit“ vereint, das darin selbst „Zweck“ ist. Gefragt wird nach „Zwecken“, die dem „Pflichtbegriff“ angemessen sind bzw. ihm korrespondieren (und nicht nur damit „verträglich“ sind), sofern sie, weil alles Handeln auch auf „Zwecke“ geht, auch „geboten“ sind und so alle dem Interesse der bloßen „Selbstliebe“ unterstehenden „Zwecke“ ausschließen. Dass die Vernunft „für sich selbst praktisch“ ist, hätte in dieser Bestimmung derselben als „Vermögen der Prinzipien“ und als „Vermögen der Zwecke“ somit eine Bestätigung und Vollendung gefunden. Allein die Vereinbarkeit der Bestimmung der Vernunft als des „Vermögens der Prinzipien“ (IV 249; IV 317) und des „Vermögens der Zwecke überhaupt“ (IV 526), die demzufolge in der zweifachen Unbedingtheit der ursprünglichen Gesetzgebung und des „letzten und vollständigen Zwecks“ sich manifestiert, vermag jene nicht empirischen „Zwecke der Freiheit“ (und damit eine „reine Zwecklehre“) in der „Ordnung der Zwecke“ zu begründen. Das wäre freilich unmöglich, „wenn dieser [d. i. der „Freiheit“] vorher die Gegenstände des Wollens durch die Natur (in Bedürfnissen und Neigungen) als Bestimmungsgründe gegeben werden müßten, um bloß vermittelst der Vergleichung derselben unter einander und mit ihrer Summe dasjenige durch Vernunft zu bestimmen, was wir uns zum Zwecke machen“ (V 167 f ). Dieser – auch bezüglich der das „Reich der Zwecke“ konstituierenden Momente – überaus interessante Hinweis aus dem kleinen Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ aus dem Jahr 1786 (V 139 ff ) ist nicht zuletzt deshalb besonders richtungsweisend, weil er (möglicherweise inspiriert durch die ungefähr zeitgleich rezensierte und positiv gewürdigte Schrift von G. Hufeland, vgl. VI 809 f ) mit der darin formulierten „reinen Zwecklehre“ entscheidende Aspekte einer Fundierung der Ethik als „Zwecklehre“ und deren Zusammenhang mit der Religion (somit der darin maßgebenden Idee eines „Ganzen aller Zwecke“, s. dazu auch noch einmal VI 132 f, Anm.) formuliert. Jene in der „reinen praktischen Vernunft“ zu denkende Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“ wird sodann auch in dem (im Vorfeld der „Metaphysik der Sitten“ formulierten) Hinweis Kants auf die Notwendigkeit deutlich, „zu einer Metaphysik (der Sitten), als einem Inbegriff bloß formaler Prinzipien des Freiheitsbegriffs, zurückzugehen, ehe noch vom Zweck der Handlungen (der Materie des Politik „ein großer Schritt zur Moralität (obgleich noch nicht moralischer Schritt) getan“ werden kann (VI 238, Anm.).
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Wollens) die Frage ist“ (III 414 f; vgl. auch VI 132)317, worauf noch der späte Kant, insbesondere auch gegenüber Chr. Garve, insistierte. Damit verträgt sich durchaus die Auffassung, dass dennoch erst mit dem Anspruchsniveau des „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“, „das Gesetz der Moralität“ im Grunde in Erfüllung (s. dazu u. I., 4.2.1.) geht – freilich auf eine Weise, die selbst noch einmal notwendige weitere Unterscheidungen vor Augen führt. Die begründungsorientierte „Unbedingtheitsforderung“ stellt sich demnach in einer differenzierten Weise dar: Denn jenes auf das „oberste Prinzip der Moral“ und dessen „Reinheit“ abzielende entscheidende Moment dieser „Gesetzmäßigkeit der Form der Maxime“ kann, für sich genommen, einer Ethik als dem „System der wesentlichen Zwecke des menschlichen Daseins“ schon deshalb nicht genügen, weil bezüglich der konkreten Wirklichkeit menschlichen Handelns von solchem Zweckbezug gar nicht abzusehen ist (vgl. IV 514). Das bloß „Förmliche der sittlichen Willensbestimmung“ bleibt infolgedessen auf ein seiner „Unbedingtheit“ entsprechendes „materiales Moment“ (die „Materie“, den „Zweck“) als das ihm gemäße Korrelat verwiesen – und das sind eben jene unbedingt „gebotenen Zwecke“, d. h. „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“. Sodann wird in der Einleitung zur späten Tugendlehre von Kant ausdrücklich geltend gemacht, dass die im eigentlichen Sinne so zu nennende „Ethik“ eben nicht nur (als ein zwar nach wie vor unentbehrliches Moment) auf das „Unbedingte der Form“ („bloß das Förmliche der sittlichen Willensbestimmung“: IV 512) abziele: „korrespondiert [doch] aller ethischen Verbindlichkeit der Tugendbegriff“; darüber hinaus soll also in dieser Ethik „der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach moralischen Grundsätzen begründen müssen“ (IV 512) – und zwar im Sinne des Aufweises der Unverzichtbarkeit eines solchen „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“ (IV 514 f ).318 Darin wird die für die Tugendhaftigkeit konstitutive 317 Nochmals sei hier auf die in dem „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft“ (vgl. IV 180) angezeigte „kopernikanische Wendung der praktischen Philosophie“ hingewiesen (s. o. I., Anm. 77). Nun ist es, jener Idee einer „moralischen Teleologie“ folgend, allerdings wichtig, diese „kopernikanische Wendung“ dahin zu erweitern, dass die „praktisch-revolutionierte Denkungsart“ (die für uns ohnehin unerforschliche „Herzensänderung“ als „Umwandlung der Gesinnung“) eben doch erst in dem Anspruchsniveau des „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“ (also sich auf den „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, bezieht), ihr „telos“ findet. Dies relativiert jedenfalls die andernorts geäußerte missverständliche – gleichwohl provokante – These Kants: „Wenn alle Menschen und Regierungen nach Regeln des Rechts geschähen, so würden die Pflichten der Gütigkeit unnötig sein“ (Refl. 6672, AA XIX, 129; vgl. auch IV 595). Indes sind diese nicht nur „moralische Zierde“, sondern ohne sie wäre wohl auch die „Ehre Gottes“ als „Endzweck der Schöpfung“ nicht zureichend bestimmt. 318 Vermutlich ist Kants Lehre von den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, besonders auch von G. Hufelands „Versuch über den Grundsatz des Naturrechts“ beeinflusst, dem Kant in seiner Rezension (aus dem Jahr 1786) durchaus „viel Neues, Tiefgedachtes und zugleich Wahres“ zuerkennt (VI 811). Diese Vermutung wird vor allem durch folgende Bezugnahme Kants gestützt, die offenbar auch die in seiner späten Tugendlehre vorgelegten Differenzierungen inspiriert hat: „Der Vf. hält nämlich Prinzipien, die bloß die Form des freien Willens, unangesehen alles Objekts, bestimmen, nicht für hinreichend zum praktischen Gesetze und also, um Verbindlichkeit davon abzuleiten. Daher sucht er zu jenen formalen Regeln eine Materie, d. i. ein Objekt, welches, als der höchste Zweck eines vernünftigen Wesens, den ihm die Natur der Dinge vorschreibt, als ein Postulat [!, bei Kant später: „Pflicht“] angenommen werden könne, und setzt es in der Vervollkommnung … aller empfindenden, vorzüglich der vernünftigen Wesen – also [!] auch deine eigene; woraus denn der Satz: verhindere die Verminderung derselben an andern – vorzüglich an dir selbst (so fern andere davon die Ursache sein möchten), welches letztere ei-
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Rücksicht auf das „Formale der Maximen“ mit derjenigen „auf die Materie derselben, nämlich auf einen Zweck“ (IV 525 f ), verknüpft und führt konsequenterweise zur Formulierung bzw. zu der höchst aufschlussreichen Begründung des „obersten Prinzips der Tugendlehre“: „handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. – Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, dass er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist …, sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht. Dieser Grundsatz der Tugendlehre verstattet, als ein kategorischer Imperativ, keinen Beweis, aber wohl eine Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft. – Was im Verhältnis der Menschen, zu sich selbst und anderen, Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt; in Ansehung derselben indifferent sein, d. i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch; weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde. Die reine Vernunft aber kann apriori keine Zwecke gebieten, als nur so fern sie solche zugleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht alsdann Tugendpflicht heißt“ (IV 526 f ).319 Der sich darin artikulierende Anspruch, sich „den Menschen überhaupt“ (IV 526) und somit „Wohl und Heil des anderen zum Zweck zu machen“ (IV 588), weist augenfällig über jene negative Verbindlichkeit (und den darin „gemeinten“ Anspruch der Gerechtigkeit) sowie über das Verbot, „gegen das Prinzip anderer Menschen“ (IV 62) zu verstoßen, hinaus. Er überbietet also auch die zwar auf die „Materie“ abzielende zweite Formel des „Sittengesetzes“ insofern, als diese für sich genommen doch nicht mehr besagt, als „dass das vernünftige Wesen, als Zweck seiner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst, jeder Maxime zur einschränkenden [!] Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse“ (IV 70; 71 f ). So erweist sich nunmehr: Erst das „oberste Prinzip der Tugendlehre“ entfaltet den für die Ethik unerlässlichen unbedingten Zweckbezug („den wir haben sollen“) und vermittelt diesen mit der Idee der geforderten „Unbedingtheit“ – eine Gedankenfigur, die sodann in jene „Zwecke-Formel“ des „Imperativs, der nen Widerstand, mithin einen Zwang offenbar in sich schließt“ (VI 810). Bei Kant hat sich daraus wohl auch die explizite Unterscheidung der gebotenen „Beförderung der eigenen Vollkommenheit“ sowie der „fremden Glückseligkeit“ als „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, entwickelt, worin das moralische Subjekt sich in unterschiedlicher Weise von sich selbst (als physischem Wesen) und von anderen (als moralischen Wesen) unterscheidet und auf sich (in unterschiedlicher Weise verpflichtet) bezieht. Möglicherweise hat Hufeland ihn ebenso zu der Unterscheidung zwischen dem auf die „Prinzipien, die bloß die Form des freien Willens, unangesehen alles Objekts, bestimmen“ (ebd.), zielenden „moralischen Imperativ“ und demjenigen, „der die Tugendpflicht gebietet“, inspiriert. Zur wichtigen Unterscheidung der „fremden Glückseligkeit“ als „Objekt des Willens“ bzw. als „Bestimmungsgrund der Maxime“ vgl. die Anmerkung I der „Kritik der praktischen Vernunft“ (IV 145 f ). – Diese bei Kant durchaus bedeutsamen Differenzierungen bleiben bei Taylor offenbar vernachlässigt, wenn er geltend macht, dass sich Kants Lösung „auf den Begriff des Prinzips – des Gesetzes – stützt und eine extreme Unterscheidung zwischen Gefühl (Neigung) und moralischen Triebfedern trifft“ (Taylor 2009, 1011). 319 „Das bedeutet, dass die beiden einzig möglichen Tugendpflichten darin bestehen, das Vermögen der Zwecksetzung im handelnden Menschen selbst und die (erlaubten) Zwecke anderer Menschen sich zum Zweck zu machen, also eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit“ (Baum 2007, 222).
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die Tugendpflicht gebietet“, einmündet, die über alle bloß „negative Verbindlichkeit“ hinauszielt, von der sogleich genauer die Rede sein soll (s. u. I., 4.2.). Jener in der Regel vernachlässigte Passus aus der Einleitung zur kantischen „Tugendlehre“, in dem Kant das „oberste Prinzip“ derselben bestimmt, will so nicht zuletzt den Widerspruch verdeutlichen, dass die Vernunft als „Vermögen der Zwecke“ sich als „reine praktische Vernunft“ selbst negieren würde, wenn sie von den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, abstrahieren wollte, und damit unweigerlich auf die Ebene der bloßen „Willkür“ (als des „Vermögen[s] [bloß] beliebiger Zwecke“) herabsinken müsste. Andernfalls wäre mit Blick auf den Anspruch der „reinen praktischen Vernunft“ wohl auch nicht mehr aufrechtzuhalten, dass die „Vernunft … das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“ bestimmt (IV 249). Mit dieser späten Begründung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, hat Kant eindrucksvoll vor Augen geführt, weshalb sich seine Ethik mit der negativen „Achtungspflicht“ bzw. mit dieser „einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke“ keinesfalls begnügen konnte. Über den Anspruch der zu achtenden Würde hinaus zielt der „Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet“, auf die „positive Übereinstimmung zur Menschheit, als Zweck an sich selbst“, und orientiert sich somit ausdrücklich daran, „die Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern“ (IV 63). Damit wird deutlich, dass erst dies jene die „verdienstliche Pflicht gegen andere“ indizierende „positive Übereinstimmung zur Menschheit“ einzulösen vermag, die Kant selbst freilich schon in der „Grundlegungsschrift“ folgendermaßen bestimmt hat: „[A]llein es ist dies doch nur eine negative und nicht positive Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst, wenn jedermann auch nicht die Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern trachtete. Denn das Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung tun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein“ (IV 63).320 Als „Zwecke an sich selbst“ anerkennen sich „vernünftige Weltwesen“ demzufolge in eminenter Weise erst im moralisch-affirmativen Bezug auf die „Zwecke“ je Anderer, der sich somit in der bloß achtungs-orientierten Nichtbehinderung derselben nicht erschöpft. Auch die (später von der bloß „pathologischen“ unterschiedene) „Liebe“ „als freie Aufnahme des Willens eines anderen unter seine Maximen“ weist in ihrer – an solcher „Andersheit“ maßnehmenden – Intentionalität in diese Richtung. Eine bloße Beschränkung auf die „Achtungspflichten“ und die dadurch gewährleistete „Kompossibilität“ der Freiheit würde der Forderung der Vernunft, sich das „Vermögen der Zwecke“ selbst zum Zweck zu machen, lediglich nicht widersprechen. Der im Absehen von den je eigenen partikulären Interessen und Neigungen sich manifestierende „Standpunkt der Freiheit“ (und die darin vollzogene Selbstrelativierung) als die – subjekt-konstituierende 320 Schon in Refl. 7308 (AA XIX, 308) heißt es: „Die officia humanitatis sind die, da beide Gegenstände (nicht bloß nicht als Mittel), sondern auch als Zwecke für uns gelten, und da ist eigene Vollkommenheit und andrer Glückseligkeit der Zweck. Die zwei letztere(n): Das Interesse der Menschheit in unserer Person und das Interesse der Menschen“. – Im Zweck „fremde Glückseligkeit“ expliziert Kant in seiner späteren Lehre über die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, begründungstheoretisch auch jene in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ angeführte „Pflicht der Wohltätigkeit“ als „Tugendpflicht“. Vgl. dazu aber auch die aufschlussreiche Anmerkung im „Gemeinspruch“-Aufsatz VI 132 f.
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– Kompetenz, sich den normativen Ansprüchen des allgemeinen Sittengesetzes zu unterstellen, impliziert so zwar die gerechtigkeits-orientierte Forderung der moralischen Anerkennung des Anderen als Subjekt und somit das Gebot, dieses „niemals bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck an sich selbst“ zu behandeln – jedoch nicht mehr. Über diese lediglich gewährleistete „Ko-Existenz“ der Freiheit hinaus bedeutet die Pflicht, „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“, schließlich auch die sensible Rücksicht und das tätig-solidarische Engagement dafür, dass der „Mensch eben nur unter Menschen ein Mensch wird“ – d. h. dass dieser als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ „in einer Gesellschaft mit Menschen zu leben“ bestimmt ist, ebendies mannigfache Abhängigkeit und Zwang impliziert und folglich die sensible Orientierung am „Frei-Werden“ der „vernünftigen Weltwesen“ verlangt.321 So erweist sich, dass in solcher „Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist“, die „Freiheit Anderer“ also noch einmal in ganz anderer – d. h. radikalerer – Weise zum Maßstab wird als in jener bloß negativen, weil „rechtspflichtigen“ „Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit …, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen [!] könne“ (VI 39). Solche praktische Intentionalität weist somit auch über das „Stand-Nehmen“ „(g)leichsam in der Persönlichkeit der Vernunft: da man sich im Allgemeinen fühlt und sein Individuum als ein zufällig[es] Subjekt wie ein accidens des allgemeinen ansieht“, noch hinaus.322 Vor allem wird sich als bedeutsam erweisen, dass sich das „Interesse der Vernunft“ in ihrem praktischen Gebrauch „in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks“ (IV 249 f ) nur unter Einbeziehung bzw. der Voraussetzung dieses gebotenen Zwecks der „reinen praktischen Vernunft“ begründen lässt, weil anders, wie erwähnt, auch das umgreifende „Ganze aller Zwecke“ nicht bestimmt werden könnte. Weil in jenem „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, der Vernunft als dem „Vermögen der Zwecke“ doch an sich selbst gelegen ist und sie sich, wie gezeigt, als „Vermögen der Zwecke“ andernfalls selbst geradewegs negieren würde, bleibt sie infolgedessen auf die „Vernunft, die in der Zweckbeziehung ihr selbst das oberste Gesetz sein kann“ (V 576), auch in solcher Akzentuierung verwiesen. Daraus erklärt sich wohl auch die von Kant in seiner späten Tugendlehre ausdrücklich vorgenommene notwendige immanente Differenzierung des kategorischen Imperativs. 321 Zu Recht hat R. Aschenberg darauf hingewiesen: „Als anderen Menschen kann ich den Anderen allein unter der Bedingung erfahren (widerfahren lassen), dass ich ihn überhaupt als einen Menschen erfahre (widerfahren lasse), genauer: als ein Subjekt, das darin, Subjekt zu sein, mir ähnlich (keineswegs notwendig gleichartig!) ist. Das Widerfahrnis der Alterität des Anderen setzt die Anerkennung seiner Identität mit mir qua Mensch bzw. Subjekt voraus, und zwar in der Weise sowohl noematischer wie praktisch-moralischer An-erkennung. Ohne die ihn an-erkennende Identifikation seiner als eines mir vergleichbaren Subjekts, das freilich zugleich ein radikal anderes und ein in dieser Alterität mir entzogenes Subjekt ist, kürzer: ohne die Identifikation seiner als nicht identifizierbar, und das heißt: als Subjekt, könnte die Alteritätserfahrung mir bei prinzipiell beliebigen Entitäten … aufgehen. … Diese anerkennende Identifikation ist indes nicht dasselbe wie das theoretische Erkennen seiner Art-Gleichheit mit mir, in ihr führe ich den Anderen nicht auf mich oder auf etwas Abstraktes … zurück, ihn dergestalt reduktiv vereinnahmend. […] Die verausgabende Identifikation des Anderen nimmt mir mich selbst, um sogar mich mir widerfahren zu lassen. In der praktisch-moralischen Identifikation des Anderen ver-andert ich (sich). Weil Subjektivität als solche Andersheit und Transzendenz ist, bleibt die Theorie der Subjektivität der Entzogenheit stets eingedenk“ (Aschenberg 2003, 195 f ). 322 Refl. 6598, AA XIX, 103.
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4.2. Die Doppelgestalt des „kategorischen Imperativs“ als „moralischer Imperativ“ und als „Imperativ, welcher die Tugendpflicht gebietet“ Es hat sich schon gezeigt, weshalb jener der Vernunft allein angemessene „Zweck“, in dem sich ihre Bestimmung als „Vermögen der Prinzipien“ und als „Vermögen der Zwecke“ verbinden, als ein „gesollter Zweck“ kein bloß „äußerlich“ vorgefundener sein kann, sondern ihr selbst immanent sein muss, weil darin – gemäß solcher Gesetzgebung – Vernunft gewissermaßen „bei sich“ ist. Eben dieser „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, macht nun eine weitere Differenzierung des kategorischen Imperativs unumgänglich. Demzufolge ist es der „Ethik“ als einer „moralische(n) objektive(n) Zwecklehre“ (IV 515)323 vorbehalten – dies scheint in der Tat ein häufig vernachlässigtes Element bzw. eine Voraussetzung der kantischen Idee der „moralischen Teleologie“ zu sein –, mit der darin zu leistenden Begründung und Differenzierung über die bloße – gleichwohl als unerlässlich vorausgesetzte und „aufgehobene“ – „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (IV 16) sowie über die Rechtslehre hinaus den notwendigen („gesollten“) Zweck-Bezug herzustellen. Als „unbedingter Zweck“ stellt dieser das unverzichtbare adäquate „materiale“ Korrelat dieses „vernünftigen Wollens“ dar und muss insofern als eine „Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz“, oder als ein „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, bestimmt werden, der folgerichtig auf den einem solchen unbedingten „Zweck … korrespondierenden Imperativ“ führt: „Es muss nun einen solchen Zweck und einen ihm korrespondierenden kategorischen Imperativ geben. Denn da es freie Handlungen gibt, so muss es auch Zwecke geben, auf welche als Objekt jene gerichtet sind. Unter diesen Zwecken muss es aber auch einige geben, die zugleich […] Pflichten sind. – Denn gäbe es keine dergleichen, so würden, weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwecken gelten, und ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt“ (IV 514 f ). Auch dies scheint übrigens zu bestätigen, dass Kants Begründung der Notwendigkeit, „sich einen Zweck, der zugleich Pflicht ist, zu denken“, bemerkenswerterweise in einer Analogie zu der schon angeführten aristotelischen Bestimmung des „Endzwecks“ steht.324 Indes, jene Kennzeichnung des sittlichen Imperativs als „kategorisch“ (als unumgängliches „oberstes Prinzip der Moralität“) behält auch in den anschließenden Differenzierungen innerhalb des „Systems der Imperative“ ihre grundsätzliche Bedeutung. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Kant sodann betont: „Im moralischen Imperativ, und der notwendigen Voraussetzung der Freiheit zum Behuf desselben, machen: das Gesetz, das Vermögen (es zu erfüllen) und der die Maxime bestimmende Wille alle 323 Wohl zu Recht betont Ludwig in seiner Einleitung zu den „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“ (Ludwig 1990, XVI), „dass die Explikation der Theorie der Gesetzgebung für die Handlungsmaximen (in der Einleitung zur ‚Tugendlehre‘) sowie die systematische Vorstellung der Pflichtenlehre (im Hauptteil) im Rahmen der kantischen Schriften etwas Neues darstellen.“ 324 Kant selbst zitiert die aristotelische Metaphysik: AA XV, 923. Das klingt auch noch durch in seinem schon angeführten Hinweis auf die „größte Angelegenheit des Menschen, womit die Metaphysik als ihrem Endzweck umgeht“ (AA XX, 329). Hier wird der enge Zusammenhang zwischen dem „Endzweck der Metaphysik“ und dem „Weltbegriff der Philosophie“ besonders deutlich.
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Elemente aus, welche den Begriff der Rechtspflicht bilden. Aber in demjenigen, welcher die Tugendpflicht gebietet, kommt, noch über den Begriff eines Selbstzwanges, der eines Zwecks dazu, nicht den wir haben, sondern haben sollen, den also die reine praktische Vernunft in sich hat, deren höchster, unbedingter Zweck (der aber doch immer noch Pflicht ist) darin gesetzt wird: dass die Tugend ihr eigener Zweck und, bei dem Verdienst, das sie um den Menschen hat, auch ihr eigener Lohn sei“ (IV 527 f ).325 Natürlich kann auch dieser „gesollte Zweck“ die unaufgebbare prinzipielle Unterscheidung zwischen dem „Bestimmungsgrund“ und dem „Objekt“ bzw. dem gebotenen „Zweck“ der praktischen Vernunft nicht wiederum nivellieren. In der angezeigten Weise also hat Kant die in der Tat bestehen bleibende Frage beantwortet: „Welchen Zweck verfolgt ein Wille, sofern reine praktische Vernunft ihn normiert und motiviert?“326 Es hat sich schon erwiesen: Als „reine praktische Vernunft“ bzw. als „Vermögen der Zwecke“ kann sie sich jedenfalls nicht damit begnügen, in ihren Zwecksetzungen nicht mit sich selbst in Widerspruch zu geraten. In der ihr immanenten Differenziertheit verwirklicht sie sich über bloße „moralische Selbsterhaltung“ hinaus allein dadurch, dass sie sich als solches Vermögen selbst „zum Zwecke macht“ und solcherart auf „Begehungspflichten (viribus concessis utere)“ verweist, die als solche „auf die Vervollkommnung seiner selbst gehen“ (IV 551), zumal eben – wie Kant in unüberhörbarer Anlehnung an das biblische Motiv der Liebe als „pleroma“ des Gesetzes betont – erst in der Orientierung am Anspruch jener „Begehungspflichten“ das „Gesetz der Moralität in Erfüllung geht“327 und darin sich jenes „vernünftige Wesen“ nicht nur „erhält“, sondern sich doch allererst in neuer Weise „gewinnt“. Kants denkwürdiger Hinweis, dass die Vernunft dem Menschen „im moralischen Gesetz den Spiegel vorhält“ (VI 324), d. h. derart sich das Selbstbewusstsein der „moralischen Persönlichkeit“ konstituiert und diese darin ihres 325 Der „moralische Imperativ“ unterscheidet sich in seinem (freilich bloß „form“-bezogenen) Absehen von allem Zweckbezug auch in Kants Vorlesungen von dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“: „Der Zweck ist bei dem moralischen Imperativo eigentlich unbestimmt, die Handlung ist auch nicht nach dem Zweck bestimmt, sondern geht nur auf die freie Willkür, der Zweck mag sein, welcher er wolle“ (AA XXVII, 247). (Freilich zielt eine „Formel“ des kategorischen Imperativs bekanntlich auch auf die „Materie [ich folge hier der Akademie-Ausgabe, die „Materie“ statt „Maxime“, so in der Weischedel-Ausgabe setzt], nämlich einen Zweck“, weshalb das „vernünftige Wesen … als Zweck an sich selbst, jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse“ (IV 70). Der Anspruch des Prinzips der Tugendlehre geht darüber freilich hinaus: „Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist also negativ ausgedrückt ein Verbot der Indifferenz meiner Maximen, der wirklich von mir befolgten Handlungsregeln, gegenüber möglichen verpflichtenden Zwecken“ (Baum 1999, 45). Die Verortung ihres Anspruchs innerhalb der „Kategorien der Freiheit“ ist hier nicht weiter zu verfolgen (ebenso wenig wie Kants Lehrstück von diesen „Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen“ in der KpV als Differenzierung der reinen praktischen Vernunft und der darin begründeten „Willensbestimmungen“). 326 Barth 2005b, 273. 327 In dieser bemerkenswerten späten Wendung fügte Kant seiner Interpretation des „Gebots der Nächstenliebe“ – das er als das „Gesetz aller Gesetze“ bezeichnete und das als solches eben, „wie alle moralische Vorschrift des Evangelii, die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit“ darstellt (IV 205 f ) – noch einen Aspekt hinzu, der dann in der „Tugendlehre“ weiter entfaltet wird. Es wird sich zeigen: Durchaus analog zu den entsprechenden Differenzierungen des Liebesbegriffs und zu seiner Kritik an einer unzureichenden, weil „prinzipien-unfähigen“ Kennzeichnung der Liebe verwirft er auch eine als „leere Sehnsucht“ (d. i. als bloßer „Affekt“) missverstandene Hoffnung.
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„eigentlichen Selbst“ ansichtig wird, erhält zweifellos noch einen besonderen Sinn, wenn dies gemäß jener – die bloß „liberalisierte Denkungsart“ aufhebenden – „revolutionierten Denkungsart“, d. h. dem das moralische Gesetz erst „erfüllenden“ Imperativ, „welcher die Tugendpflicht gebietet“, ausgewiesen wird. Jener von Kant betonte Sachverhalt, dass also die Vernunft als Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“ ihr eigenes Interesse selbst bestimmt, d. h. sich auch in dieser Einheit selbst zum Zweck hat und sich somit erst in diesen „Unbedingtheitsaspekten“ die „Menschheit überhaupt zum Zweck macht“, hat zweifellos weitreichende Folgen: Soll Kants Ethik als „praktische Zwecklehre“ nicht hinter das von ihm selbst geltend gemachte Begründungsniveau zurückfallen, so kann dies doch nur bedeuten, dass jene „Gesetzmäßigkeit, die zugleich Pflicht ist“, sich eben auf die „eigene Vollkommenheit“ und auf die „fremde Glückseligkeit“ – als die von Kant ausgewiesenen „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ – beziehen muss.328 Demnach führen die – für sich genommen unvermeidlich relativierenden – Prinzipien einer bloß „pragmatischen Zwecklehre“ auf den Gedanken einer „moralischen (objektiven) Zwecklehre“; ist es doch allein der darin vermittelte (unbedingte) „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, der jene „Rangordnung der Zwecke“ (und damit jenes letzte „Worumwillen“) verbindlich zu begründen erlaubt und seine Idee eines „Systems der Sittlichkeit“ beschließt – d. h. aber auch: dieses auch erst zu vollenden vermag. Darin wird die zweifache Bestimmung der Vernunft – als „Vermögen der Prinzipien“, gemäß der „Idee, die die Vernunft apriori von sittlicher Vollkommenheit entwirft, und mit dem Begriffe eines freien Willens unzertrennlich verknüpft“ (IV 36), und als „Vermögen der [unbedingten] Zwecke“, die als solche auf „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, geht – noch einmal in besonderer Weise deutlich. Erst ihre Einheit vermag die die „perfectio moralis“ umgreifende „perfectio noumenon“ zu thematisieren,329 ohne dieser328 Der Einfluss Baumgartens auf Kants Lehrstück über „eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit“ als „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, ist hier nicht zu verfolgen. Ein Hinweis auf seine Erläuterungen zu Baumgarten muss hier genügen (Refl. 7209: AA XIX, 286): „Es gibt aber noch objektive Gesetze, welche die Freiheit aus sich selbst, folglich unmittelbar bestimmen oder restringieren. Diese Necessitationen heißen Verbindlichkeiten. Sie können auf nichts anderem beruhen als auf der Freiheit, so fern sie mit sich selbst in Ansehung aller Zwecke überhaupt zusammenstimmt. 1. Der Freiheit als einem principio in Ansehung seiner eignen Person, welche durch die Bedingungen der Persönlichkeit restringiert wird, damit sie nicht der Menschheit in seiner eignen Person widerstreite. (Pflichten gegen sich.) 2. Der Freiheit als einem principio der allgemeinen Glückseligkeit, d. i. der Zusammenstimmung mit allen Privatneigungen nach einer Regel. (Gütigkeit gegen andere.)“ Vgl. Refl. 7200 (AA XIX, 274): „Principien der Sittlichkeit aus der Einstimmung der Freiheit mit den notwendigen Bedingungen der Glückseligkeit überhaupt, d. i. aus dem allgemeinen selbsttätigen principio der Glückseligkeit. Wenn die Freiheit unangesehen des Zustandes, darin das freie Wesen sich befindet, mithin unabhängig von empirischen Bedingungen (der Antriebe) soll eine notwendige Ursache der Glückseligkeit sein, so muß sie 1. Aus Prinzipien die Willkür bestimmen. 2. Aus Prinzipien der Einheit so wohl mit seiner eigenen Person und zugleich in Ansehung der Gemeinschaft mit andern, weil Freiheit, die nicht äußerlich nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend ist, sich selbst in der Glückseligkeit hindert in der Zusammenstimmung aber sie durchaus befördert. Prinzipien der Einheit aller Zwecke überhaupt (vorhergehend vor allen empirischen Bedingungen der Zwecke). Mithin Prinzipien der reinen Vernunft.“ 329 Zu den auch hier inspirierenden platonischen Hintergründen vgl. Reich (1935). Für die „eigene Vollkommenheit“ wie auch für die „fremde Glückseligkeit“ gilt gleichermaßen, dass ihre „Beförderung“ eine
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art das von Kant noch in der „zweiten Kritik“ (§ 8, bes. eindringlich Anm. I: IV 144 ff ) geäußerte zentrale Anliegen zu revidieren, dass keine „Materie des Wollens“ als „Bedingung der Möglichkeit des moralischen Gesetzes“ (IV 144) in Frage kommt, d. h. als „ursprüngliches Prinzip der Moral“ nicht geeignet ist; denn obgleich „fremder Wesen Glückseligkeit das Objekt des Willens eines vernünftigen Wesens sein“ mag, so kann sie als „Zweck“ doch nicht als ein in moralischer Hinsicht tauglicher „Bestimmungsgrund“ desselben gelten. Gemäß der kantischen These, die „höchste Kultur“ sei „die Naturbestimmung des Menschen“, wäre die Frage nach der „Vernunftbestimmung des Menschen“ nunmehr durch den Ausblick auf die „höchste Stufe der Moralität“ zu beantworten, die damit auch erst dem „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ zu genügen vermag, weil gemäß dieser „moralischen (objektiven) Zwecklehre“ erst diese „gesollten“ Zwecke als „unbedingte“ gelten dürfen. Während sich also im moralischen Imperativ (mit dem Aufweis des „Prinzips der Verbindlichkeit“ und der „Allgemeinheit“) das Moment der „Form der Maxime“ in der moralischen Begründungsreflexion als maßgebend330 erwies, sollte die nähere Entfaltung dieser „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, jene „Zwecksetzung der reinen (praktischen) Vernunft“ rechtfertigen und somit den Nachweis dafür erbringen, wie jene Einheit des notwendigen „obersten Prinzips der Moral“ mit dem „gesollten Zweck“ in dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“ erst auf den „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ führt. Nur dies vermag auch der „strengsten Forderung der Vernunft“ zu genügen. Die in Kants Systematik grundgelegte Einheit des „obersten Prinzips der Moral“ mit dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“ begründet sonach erst mit der darin intendierten Korrelation des „formalen“ und „materialen“ Moments jene Idee eines „Zweckes, den wir haben sollen“,331 und verleiht so der Idee einer „Gesetzgebung der Vernunft“ noch eine besondere Zuschärfung. Sie verdeutlicht, dass ohne diesen Bezug auf den in der nunmehr maßgebenden Perspektive der Tugendlehre verstandenen (und ihr gemäß erweiterten) „moralischen Endzweck“ auch die „notwendigen und wesentlichen Zwecke der Menschregulative Perspektive darstellt, d. h. bei allem stets „strebenden Bemühen“ uneinholbar bleibt. 330 Vgl. auch dazu die auf die „Allgemeinheit der Form“ der Maximen bzw. auf die „Materie, nämlich [auf] einen Zweck“ der Maximen, abzielende Unterscheidung (IV 69 f ); diese Reflexionsstruktur, der zufolge das „Vermögen der Zwecke“ sich selbst zum Zweck macht, hat wohl eine Entsprechung in der (vielfach immer noch unbeachteten) eigentümlich „selbst-reflexiven“ „Grundformel“ Kants, die den „einzigen kategorischen Imperativ“ formuliert: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (IV 51; v. Verf. hervorgehoben). 331 „Die moralgesetzlich notwendige Einschränkung der Maxime der Selbstliebe ist zugleich die ebenso notwendige Erweiterung der Maxime durch Einbeziehung der Glückseligkeit Anderer. Der Grund aber für die Hinzufügung der neu gewonnenen Materie zum Willen liegt nicht etwa in dieser Materie und einem (stets neigungsbedingten) Interesse an ihr, sondern ausschließlich in der bloßen Form des (die Materie der Maxime der Selbstliebe einschränkenden) Gesetzes. Die Pflicht der Wohltätigkeit ergibt sich notwendig dadurch, dass die auf die Selbstliebe bezogene Maxime, der der Mensch gar nicht entsagen kann, nur dadurch zu einem objektiv gültigen Gesetz wird, dass ihr die Form der Allgemeinheit gegeben wird. Abermals zeigt sich, dass nicht die Materie des Wollens, sondern nur dessen (gesetzliche) Form Bestimmungsgrund des moralischen Willens ist“ (Geismann 2000, 450). Indes hat Kant den differenzierten Anspruch der Tugendpflichten und die daran geknüpften Konkretisierungen offenbar erst in der späten „Tugendlehre“ entfaltet.
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heit“ nicht adäquat zu thematisieren sind. Demnach verleiht erst der Anspruch des „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“, der frühen kantischen These einen präzisen Sinn und eine stichhaltige Begründung: „In der Moral haben die Gesetze eine Beziehung auf die Glückseligkeit anderer.“332 Über die an der je konkreten Individualität des Anderen als „Selbstzweck“ Maß nehmende Anerkennung hinaus orientiert sich der (vom moralischen Imperativ noch unterschiedene) „Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet“, in einer über diesen „Standpunkt der Freiheit“ hinausgehenden „Ordnung der Zwecke“ notwendig an den berechtigten Ansprüchen „vernünftiger Weltwesen“, um in solcher gestuften sittlichen Bindung sowie in Wahrung der „Einheit des sittlichen Bewußtseins“ erst der „Besonderheit“ des Anderen und damit dem „Anderen der Gerechtigkeit“ (s. u. I., 4.3.2.) zu genügen. Gleichwohl ist es nicht zuletzt jene Pflicht, „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“ (IV 526), die dabei in besonderer Weise für den vorrangigen Anspruch der „Rechtspflichten“ sensibel bleibt. Vor dem Hintergrund einer umfassenden Idee der „teleologia rationis humanae“ gewinnt also dieser für seine Begründung des „Primats des Praktischen“ entscheidende Gedanke besonderes Gewicht, wonach das „von der objektiven Realität“ am entferntesten scheinende „Ideal der Vernunft“ indes als das „Unbedingte der Freiheit“ in dem „Übersinnlichen in uns“ wirklich ist und auch als letzter Maßstab einer „praktisch revolutionierten Denkungsart“ fungiert, dem erst der „Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet“, genügt. Daraus, so wird sich zeigen, ergeben sich nun weitreichende Folgen für eine angemessene Bestimmung des „obersten Guts“ (die „moralische Vollkommenheit“) sowie für die darin verankerte Bestimmung des „Ideals des höchsten Guts“ und somit auch für den Zusammenhang zwischen Ethik und Religion: Wenn die Wirklichkeit der „positiven“ Freiheit (eben „das Übersinnliche in uns“) nunmehr gemäß dem – lediglich am entferntesten „scheinenden“ – „Ideal der praktischen Vernunft“ eine letzte Gestalt gewinnt, so ist infolgedessen ohne den „Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet“, und ohne den in diesem Sinne erweiterten ganzen „Endzweck der praktischen Vernunft“ auch jenes in Kants „erster Kritik“ angeführte „Ideal des höchsten Guts“ als einer „moralischen Welt“ (II 681) bzw. des „höchste(n) Weltbeste(n)“ (II 684; vgl. V 580) nicht zureichend zu bestimmen. Schon hier werden Konturen einer religionsphilosophischen Perspektive sichtbar, die später (IV., 4.) noch genauer zu entfalten sein wird: Dass in den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, die Vernunft sich selbst (als unauflösliche Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“) zum Zweck macht und d. h.: darin sich selbst erhält, bleibt mithin, im Blick auf die Weltstellung als „vernünftiges, aber endliches“ Wesen, noch von einem anderen Aspekt der „Selbsterhaltung der Vernunft“ genau zu unterscheiden. Gleichwohl sind beide notwendigerweise auf den „Weltbegriff der Philosophie“ zu beziehen, weil anders von den in ihm intendierten „höchsten Zwecken des Menschen“ auch nicht die Rede sein könnte. Dass ebendies auch den Status der kantischen Idee der „Ethikotheologie“ nicht unberührt lässt und eine wesentliche motivliche Erweiterung derselben nahe legt, soll noch ausführlich dargelegt werden.
332 Menzer 1924, 60.
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4.2.1. Die „Tugendpflichten“ als Vollendungsgestalt der „moralisch-revolutionierten Denkungsart“ – zumal erst darin „das Gesetz der Moralität in Erfüllung geht“ Eine Konsequenz aus den voranstehenden Überlegungen ist dies: Somit kann Kants Bezugnahme auf die „höchste sittliche Vollkommenheit“ (die „höchste Stufe der Moralität“: IV 513) ausschließlich im Sinne der Einheit des „obersten Prinzips der Moral“ mit dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“ zureichend bestimmt werden, weil die von ihm so bezeichnete „sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit“ (IV 205 f; v. Verf. hervorgeh.), d. i. die „innere moralisch-praktische Vollkommenheit“, anders nicht hinreichend charakterisiert werden kann. Auch Kants früher Hinweis gewinnt im Lichte des „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“, unverkennbar neue Bedeutung, wonach für sittliches Handeln jenes „Ideal … zum Urbilde der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes“ dient; anders ist auch das „Ideal der reinen praktischen Vernunft“ und die „Idee des Vollkommensten seiner Art“ (II 325)333 nicht hinreichend zu bestimmen. Der im Sinne der „Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist“, radikalisierte Freiheitsanspruch gewinnt somit gleichsam als eine „Freiheit zu sich aus der Freiheit von sich“ seine endgültige Gestalt.334 Indes, jener für seine Begründung des Anspruchs der Tugendpflichten entscheidende Sachverhalt, dass reine praktische Vernunft sich als das „Vermögen der Zwecke“ selbst zum Zweck macht und erst über den darin fundierten „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, die Forderung zu legitimieren vermag, den „Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“ (und zwar sowohl in der eigenen Person wie in derjenigen des anderen), verlangt nach Kant noch eine nähere Differenzierung. Die in ihr zu leistende gestufte Konkretisierung dieser besonderen Verpflichtung weist nicht nur über die Festsetzung der unbedingten „moralischen Verbindlichkeit“ sowie über die (von allem Zweckbezug abstrahierenden negativen) „Achtungspflichten“, d. i. das zu bewahrende „Prinzip anderer Menschen“ (IV 62), hinaus. Denn mit Rücksicht auf die Weltstellung des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ und dessen „Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen“ (vgl. V 553), besagt die den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, imma333 An diese Bestimmung knüpft offensichtlich die sodann in der „Religionsschrift“ maßgebende Gedankenfigur des „Ideals“ als „Richtmaß unseres Lebenswandels“ lediglich an (vgl. IV 782). 334 Diese Wendung ist M. Theunissen (1991, 360) entlehnt. – Feuerbachs Rekurs auf das „Du“ als „die Vernunft des Ichs … [a]us dem Anderen, nicht aus unserem eigenen in sich befangenen Selbst spricht die Wahrheit zu uns“ (Feuerbach 1903 ff, Bd. 2, 371), erscheint so noch als Widerhall jener kantischen Forderung, „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke“ zu machen, bzw. des „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“; vgl. das 17. Kapitel in „Das Wesen des Christentums“ (hier seine Kennzeichnung des „Anderen“ als „mein gegenständliches Gewissen“ – das „Bewusstsein des Moralgesetzes, des Rechtes, der Schicklichkeit … ist nur an das Bewusstsein des anderen gebunden“: L. Feuerbach, ebd. Bd. 6, 191). Gleichwohl hätte Kant der energischen Kritik von Marx an einer abstrakt ausgedünnten „Ich-Du-Beziehung“ und deren Folgen zugestimmt (dies ist schon in seinem Aufweis des Anspruchs der „Rechtspflichten“ enthalten). – Daran bemisst sich auch noch Hegels Hinweis auf die „Liebe, die etwas Analoges mit der Vernunft hat, insofern als die Liebe in anderen Menschen sich selbst findet oder vielmehr sich selbst vergessend sich aus seiner Existenz heraussetzt, gleichsam in anderen lebt, empfindet und tätig ist – so wie Vernunft, als Prinzip allgemein geltender Gesetze, sich selbst wieder in jedem vernünftigen Wesen erkennt, als Mitbürgerin einer intelligiblen Welt“ (Hegel 1, 30).
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nente Forderung, sich den „ganzen Menschen zum Zwecke zu machen“, was näherhin bedeutet, sich „Wohl und Heil des anderen“ (IV 588) – d. i. eben als eines „vernünftigen Weltwesens“ – als Zweck zu setzen.335 Derlei Forderung impliziert demnach zunächst die „Beförderung eigener Vollkommenheit“ – d. i. der „Kultur aller Vermögen überhaupt, zu Beförderung der durch die Vernunft vorgelegten Zwecke“ sowie die Beförderung der „Kultur der Moralität in uns“, am Maßstab des „Ideals der Heiligkeit“ (IV 522 f ). Gegenüber dieser Aufgabe der „Kultivierung“ und „Moralisierung“ lässt es sich diese Forderung in der „Beförderung fremder Glückseligkeit“ – d. i. „ihren natürlichen und von allen Menschen dafür anerkannten Zweck zu befördern“ (IV 521) – in sensibler Weise und mit geschärfter Urteilskraft vornehmlich daran gelegen sein, „im Anderen“ auch wahrhaft „beim Anderen“ zu sein. Es ist dieser gebotene Vernunftzweck, der freilich noch einer konkretisierenden Vermittlung bedarf und hierfür den Blick der geschärften Urteilskraft verlangt, an der sich auch die gebotene Beförderung der „fremden Glückseligkeit“ orientieren muss; als diejenige eines vernünftig-leiblichen Wesens ist Letztere wiederum nicht anders zu spezifizieren als allein dadurch, „sich Wohl und Heil des Anderen zum Zwecke zu machen“ – freilich nach Maßgabe der je Anderen. Anders ist sonach die „größte moralische Vollkommenheit des Menschen“ (IV 523) nicht zu bestimmen.336 Solche erst „von sich freie“ Selbstbestimmung ist, jenseits von bloß subtiler „Selbstbehauptung“, eine durch den eigenen Status des „Zwecks an sich“ und den Anspruch des Anderen als eines „Zwecks an sich“ inhaltlich vermittelte, sofern darin „fremde Glückse335 Kant sah durchaus, dass das Gebot der „Liebe … nicht das Recht, sondern die Wohlfahrt des anderen zum Zwecke hat, also das Verhältnis zu seiner Besonderheit“ (Hegel 17, 283). – Insofern betont auch Esser wohl zu Recht (in Bezugnahme auf Ebbinghaus): „Wer sich also für die Glückseligkeit eines anderen nicht interessiert, dem ist nicht nur dessen persönlicher Zustand gleichgültig, sondern der andere als ein ‚zwecksetzende(s) Wesen überhaupt, sofern dieses in seinen möglichen Zwecken auf Bedingungen der Erfahrung eingeschränkt ist‘“ (Esser 2004, 340 f ). – Auch P. Guyer stellt fest, dass nach Kant „die Anforderung, Humanität immer als Zweck zu behandeln, nicht bloß eine negative Pflicht“ impliziert, „nämlich zu verhindern, dass das Vermögen, uns selbst oder anderen Zwecke zu setzen, vernichtet oder unnotwendig beschränkt wird, sondern auch die positive Pflicht, die Verwirklichung der besonderen, frei gewählten Zwecke anderer und sogar unserer zu befördern, so lange natürlich, als ein solches Handeln mit dem negativen Teil der Pflicht konsistent ist“ (Guyer 2004, 406); vgl. dazu ders. (1997, 4 ff ); auch Horn 2004. 336 Deshalb betont Römpp (2006, 82): „Wenn die fremde Glückseligkeit also einen Zweck darstellt, den zu haben Pflicht ist, so wird damit eine Bestimmung des Willens als moralisch ausgezeichnet, in der das wollende Subjekt auf seine eigene Bestimmungsfähigkeit verzichtet und die Selbstbestimmung des anderen – und damit eben den anderen selbst – als Determinante seines Willens zulässt. Darin geschieht wohl eine ‚Selbstbestimmung‘, aber im Sinne einer freien Bestimmung des eigenen Willens durch den freien – also moralischen – Willen des anderen“; vgl. dazu auch Römpp (2006, 171 ff ). Bezüglich der „fremden Glückseligkeit“ als „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, konstatiert Römpp andernorts: „Die Pflicht gegenüber anderen Menschen kann sich nur auf deren Selbstverhältnis in ihrer Freiheit beziehen, das nicht als Verlängerung der eigenen Bestimmtheit im anderen aufgefasst werden kann, da nur so in das moralische Subjekt eine Differenz der inneren Freiheit eingeführt wird, in der es sich tatsächlich zu anderen Menschen verhält, die sowohl in einer physischen als auch in einer moralischen Dimension verstanden werden müssen, indem sie nur so andere Menschen sein können. […] Deshalb kann die Pflicht nicht lauten, das Glück der anderen nach den eigenen Vorstellungen zu befördern; damit bliebe das moralische Subjekt gerade in seiner eigenen Dimension und könnte den anderen nicht von der eigenen Vorstellungswelt unterscheiden. Damit wäre im Bezug zum anderen Menschen nicht die Differenz zu sich enthalten, in der das moralische Subjekt in der doppelten Selbstauffassung sich als verpflichtend und verpflichtet verstehen kann“ (Römpp 2001, 85).
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ligkeit“ als ein „Zweck an sich“ intendiert wird. Allein die derart praktisch-revolutionierte Intentionalität vermag doch jener Forderung der Tugendpflicht (als „Liebespflicht“) zu genügen, d. i. sich „fremde Glückseligkeit“ – diejenige des Anderen als eines „vernünftigen Weltwesens“, und somit eben auch „Wohl und Heil des anderen“! – „zum Zwecke zu machen“. Es ist dies der kantische Versuch, je „besonderer Individualität“ zu entsprechen, ohne also in pathologischer Affiziertheit den moralischen Prinzipiencharakter stillschweigend preiszugeben bzw. „Objekt“ und „Bestimmungsgrund des Willens“ zu verwechseln. In jenem „Imperativ, welcher die Tugendpflicht gebietet“, wird dieserart das formale Prinzip des kategorischen Imperativs mit den notwendigen „materialen Bestimmungen“ vermittelt, die allein auf solche Weise der konkreten Individualität, d. h. der jeweiligen „Besonderheit“ des „Menschen überhaupt“, gerecht zu werden vermögen – und eben darin schreibt die „praktische Urteilskraft“ (jenseits der „Typik der reinen praktischen Urteilskraft“ und deren Regeln: IV 186 ff ) sich selbst ein Gesetz „vor“. Erst dies vermag, in Durchbrechung bloßer Subsumtionsverhältnisse eingespielter und verfestigter „Wir-IhrSie-Relationen“, auch die praktisch-intersubjektive „Ordnung der Dinge“ zu „besondern“, damit aber auch „Alterität“ an den Maßstäben praktischer Urteilskraft zu differenzieren und gleichermaßen zu konkretisieren. Dabei kommt dieser Urteilkraft notwendig eine konstitutive Bedeutung zu; sie hat damit die der Vernunft zugeschriebene Aufgabe einzulösen, in solcher (beim Wort genommenen) Konkretisierung „die Verknüpfung des Allgemeinen mit dem Besonderen“ (vgl. auch VI 731) auf eine Weise zu leisten, die sich dann keineswegs mit einem bloß äußerlichen „Anwendungs“-Verhältnis begnügen könnte; vielmehr muss sie gewissermaßen jene Notwendigkeit der besonderen Art auf diesem Boden der „praktischen Vernunft“ ins Blickfeld rücken, worin nunmehr die praktische Urteilskraft sich an jener Idee der „Menschheit“ als dem „Vermögen der vernünftigen Zwecksetzung“ orientieren muss, d. h. daran, sich „anderer ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen“ (IV 586) – wohl nichts anderes besagt auch, wie sich sogleich zeigen soll, die kantische Kennzeichnung der „Nächstenliebe“. Dieserart leisten die Vernunft und ihre „allgemeinen Begriffe“ in ihrem „praktischen Gebrauch“ nunmehr in entsprechender Weise jene erforderliche „Wendung“ zu „den Individuen“, von der im Kontext des „theoretischen Vernunftgebrauchs“ (bzw. der „Urteilskraft“) als dem „Gesetz der Spezifikation“ die Rede war. In einer solchen moralphilosophischen Akzentuierung wäre der universale Anspruch des moralisch Gesollten mit der gebotenen, „besondernden“ Rücksicht auf die bestimmte Individualität der Person „in Ansehung ihres Zustandes“, sei es auch als „Fremder, Witwe und Waise“, untrennbar verbunden. Solche „Ansehung“ bleibt der „reinen praktischen Vernunft“ freilich keineswegs äußerlich; denn erst dies „realisiert“ vielmehr jene Forderung, „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“, „angesichts“ der je bestimmten „Besonderheit“337 337 Es sind eben „apriori objektive sowohl als subjektive Prinzipien der Freiheit (Gesetze)“, die (entsprechend den „Kategorien der Freiheit“) ein „Begehen“ fordern und in ihrer Intentionalität auf den „Zustand der Person“ abzielen, der „Modalität“ nach aber als „unvollkommene Pflichten“ im Sinne der kantischen Bestimmung anzusehen sind (IV 185). Auch insofern dürfte die gegen Kant gerichtete Kritik Schillers nicht stichhaltig sein: „Wie können wir, bei noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig, und menschlich gegen andere sein, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen,
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und hat gemäß dieser Aufgabe an solcher Konkretheit auch ihr Maß. Noch einmal sei betont: Das Bewusstsein davon, die jeweilige besondere Individualität reiche nicht als Geltungsgrund des Gebotes der Nächstenliebe aus, ist auch bei Kant mit der Sensibilität dafür verbunden, dass der geltungs-begründende Rekurs auf die „Idee der Menschheit“ nicht darüber hinwegsehen kann: Dieses „Allgemeine“ ist doch nur in bestimmter Individuierung „in concreto“ wirklich, es gewinnt also nur auf den je Anderen (und dessen „Zustand“) hin bzw. von diesem her seinen konkreten Gehalt. Diese Problemperspektive bildet nun wohl nicht nur für die kantische Begründung der Pflicht des „tätigen Mitleids“ den Hintergrund, sondern tritt auch besonders deutlich in Kants Argument hervor: „Wenn es also auf Glückseligkeit ankommt, worauf, als meinen Zweck, hinzuwirken es Pflicht sein soll, so muss es die Glückseligkeit anderer Menschen sein, deren (erlaubten) Zweck ich hiemit auch zu dem meinigen mache. Was diese zu ihrer Glückseligkeit zählen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurteilen überlassen; nur dass mir auch zusteht, manches zu weigern, was sie dazu rechnen, was ich aber nicht dafür halte, wenn sie sonst kein Recht haben, es als das Ihrige von mir zu fordern“ (IV 518).338 Andernfalls (d. h. ohne diese einschränkende Bedingung) wäre es eben gerade keine Beförderung der Vernunft als „Vermögen der Zwecke“, sondern fiele auf die willkürlichen Zwecksetzungen des Verstandes zurück.339 fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen?“ (zit. n. Fleischer 2009, 333). Der angeführte „besondernde“ Bezug auf die Anderen „in Ansehung ihres Zustandes“ relativiert wohl den durch das „Fürsorge“-Motiv inspirierten Einwand Ricoeurs gegen Kant, wonach ihm zufolge „in Ausdrücken wie ‚der Mensch‘, ‚jedes vernünftige Wesen‘, ‚die vernünftige Natur‘ die Andersheit durch eine sie kraft der Idee der Menschheit einschnürende Universalität an der Entfaltung gehindert wird“. Dagegen wirft Ricoeur die Frage auf: „Und war es nicht ebenso legitim, hinter der Goldenen Regel der Stimme Gehör zu verschaffen, die verlangt, die Pluralität der Personen und deren Andersheit nicht durch die umfassende Idee der Menschheit zu entwerten?“ (Ricoeur 1996, 274). 338 Die Reflexion 7310 (AA XIX, 308 f ) begründet dies folgendermaßen: „Der Zweck der Menschen ist Glückseligkeit, und die Pflicht, sie in anderen zu befördern, schließt die ihres objektiven Zwecks, nämlich die … Sittlichkeit in sich, damit sie ihrer würdig und dadurch teilhaftig werden; nicht für sich allein, sondern um ihrer Glückseligkeit willen, weil es unvollkommene Pflicht ist, der wir keine vollkommene nachsetzen können.“ Die genannte Einschränkung erklärt sich auch daraus, dass dies andernfalls auf eine Degradierung zum bloßen „Mittel“ hinausliefe, sofern es verlangen würde, mich „selbst weg[zu]werfen, um [s]einem Zwecke zu frönen“ (IV 586): D. h. um der „Anerkennungswürdigkeit“ des Anderen willen ist jene Einschränkung unverzichtbar, insofern sie eine anerkennungs-konstitutive Verpflichtung an den anderen enthält. 339 Ich nehme in dieser – freilich moralphilosophisch akzentuierten – Unterscheidung von „Subjekt- und Person-Sinn“ und mit dem darin angesprochenen Problem sittlicher Konstitution Motive von Henrich aus dem Kontext seiner „Erklärung von Subjektivität“ auf, die „zugleich über Allgemeinheitsbezug und Vereinzelung konstituiert“ sind: „Zwischen der Akzeptanz universaler Normen und dem Eintritt in sittliche Bindungen hat eine Umkehrung der Ausrichtung des sittlichen Bewusstseins zu geschehen, die aber dessen Einheit nicht aufhebt, sondern über die sie sich vollendet. Von einer Umkehr ist insofern zu sprechen, als sich das Subjekt unter der universalen Norm selbst zu einem allgemeinen macht, während es sich in der sittlichen Bindung, wenn auch unter Erhaltung der Verallgemeinerung, partikularisiert. Dass beides eine einige sittliche Grundtatsache ergibt, läßt sich nur verstehen, wenn darauf zurückgegangen wird, dass das Subjekt in seine Selbstbeziehung eingesetzt ist und dass es sich in ihr von Beginn an als Einzelnes weiß. Daraus lässt sich nämlich begreifen, dass es seine Subjektnatur über die Erfassung von und den Respekt für Universalität realisieren muss, dass es aber seine Subjektivität zugleich in der Relationierung zu anderen Subjekten zu vollziehen hat, die wie es selbst Einzelne sind“ (Henrich 1999b, 157 f ).
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Auch in der späten Behandlung der „Liebespflichten“ betonte Kant ausdrücklich: „Ich kann niemand nach meinen Begriffen von Glückseligkeit wohltun …, sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen denke“ (IV 591), weil nur „in Ansehung“ desselben auch diesen Anforderungen zu genügen ist. Denn erst dies erfüllt den Anspruch, „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“, der darin in seiner Person- und Subjektstatus in sich vereinigenden Wirklichkeit – eben nicht nur im Sinne des nicht zu negierenden „Prinzip(s) anderer Menschen“ (IV 62) – anerkannt und bejaht ist; erst so konkretisiert sich praktische Vernunft als das „Vermögen der Zwecke“ und gewinnt damit auch ihre Endgestalt.340 Die so verstandene Pflicht der zu befördernden „fremden Glückseligkeit“ bringt mithin eine der Pflicht, „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“ (IV 526), selbst immanente Anerkennung der jeweiligen „Besonderheit“ zur Geltung, weil dies erst der konkreten Individualität (und ihrer moralisch zu befördernden „Individuierung“) des Anderen „gerecht“ zu werden sucht, diese darin jedenfalls ihren Maßstab hat und solcherart reine praktische Vernunft sich auch „angesichts“ der konkreten Beanspruchung bewährt.341 Dies erst impliziert nach Kant jene Sensibilität, die nicht den „Anderen“ als den „Nächsten“, sondern sich selbst als den „Nächsten“ des Anderen begreifen lässt und so alle bloßen Subsumtions-Aspekte durchbricht.
340 Die ganze Breite dieser Konkretisierungsstufen von dem gemäß der „Gattungsnatur“ zu differenzierenden Rechtsverhältnis bis zur „Besonderheit“ des „unvertretbar Einzelnen“ ist in der schon angeführten (auch diesbezüglich interessanten) Refl. 7251 (AA XIX, 294) enthalten: „Das regulative Prinzip der Freiheit: dass sie sich nur nicht widerstreite; das konstitutive: dass sie sich wechselseitig befördere, nämlich den Zweck: die Glückseligkeit“. In diesem Sinne unterscheidet Kant die „Pflicht der freien Achtung gegen andere, weil sie eigentlich nur negativ ist“ („sich nicht über andere zu erheben“), als „Rechtspflicht“ von der „Pflicht der Nächstenliebe“ (IV 586, s. o. I., 4.2; vgl. auch die Vorarbeiten zur „Metaphysik der Sitten“: AA XVIII, bes. 406 ff ). Von dieser „Rechtspflicht“ ist der in dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“ formulierte Anspruch zu unterscheiden (IV 526). – In diesem näher differenzierten Sinne ist Kants Versuch zu verstehen, „der vom handlungstheoretischen Willensbegriff her geforderten Zweckrelation auch unter den Bedingungen einer spezifisch freiheitstheoretischen Fassung des Moralitätsprinzips Rechnung zu tragen“ (Barth 2005b, 275). – An jene in der (im Jahr 1797 erschienenen) Tugendlehre enthaltenen Differenzierungen hätte auch der junge Hegel (der ab Sommer 1798 mit einem gründlichen Studium der kantischen „Metaphysik der Sitten“ befasst war) zweifellos anknüpfen können – dies liegt nicht zuletzt auch für das Motiv des jungen („Frankfurter“) Hegel besonders nahe: „Moralität erhält, sichert nur die Möglichkeit der Liebe und ist daher ihrer Handlungsart nach nur negativ; ihr Prinzip ist die Allgemeinheit, d. h. alle als seinesgleichen – als gleiche zu behandeln, die Bedingung der Liebe; das Vermögen der Allgemeinheit ist die Vernunft … Bei Moralität ohne Liebe ist zwar in der Allgemeinheit die Entgegensetzung gegen das einzelne Objekt aufgehoben – eine Synthese Objektiver; aber das Einzelne ist als ein Ausgeschlossenes, Entgegengesetztes vorhanden“ (Hegel 1, 307 f ). Dass in den vielfachen thematischen „Liebesbezügen“ beim jungen Hegel wichtige sachliche Differenzierungen (zwischen agape, philia und eros) vernachlässigt bleiben, sei nur am Rande vermerkt. Damit soll natürlich keineswegs gesagt sein, dass Kant diesen notwendigen Differenzierungsaufgaben schon hinreichend gerecht geworden ist. 341 Es wäre eine besondere Aufgabe, die von Kant im „Anhang zur transzendentalen Dialektik“ als „Ideen“ angeführten Prinzipien systematischer Einheit, nämlich „Gleichartigkeit, Varietät und Affinität“ – die er, nach erst später (in der Einleitung zur „Kritik der Urteilskraft“) erfolgter Klärung ihres spezifischen Status, als „transzendentale Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft“ expliziert –, nunmehr auf dem Fundament der „praktischen Vernunftprinzipien“ als „Prinzipien der Urteilskraft“ zur Geltung zu bringen und in ihrem unverzichtbaren anerkennungs-spezifischen Differenzierungs-Sinn auszuweisen. Zu den darin zutage tretenden bemerkenswerten „Brüchen“ bzw. dem „Doppelsinn der Kantischen Ideenlehre“ und den damit verbundenen Fragen vgl. Zocher 1966, 222–226.
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Dies korrigiert wohl jenes immer noch weit verbreitete Vorurteil, wonach Kants ethische Position durch das lediglich „formale Rechtsprinzip“ bestimmt sei, das „für jene feineren und gefühlvolleren Tugenden höchstens an der Peripherie ein Plätzchen lässt“.342 Ebenso wäre deshalb der Vorwurf zu entkräften, wonach Kant die Intention des sittlichen Bewusstseins verfehle und im Besonderen den Anspruch der Liebespflichten nicht erklären könne, weil er diese als „Einheit der Intention auf den Anderen und der Intention auf Pflicht“ verkenne.343 Deshalb geht wohl auch der Vorwurf zu weit, dass Kants Ethik die „unverwechselbare Besonderheit der konkreten Person“344 verfehle und sein „moralischer Universalismus“ überdies eine „Ignoranz gegenüber der Eigenart des Anderen“345, d. h. eine Blindheit für das „Andere der Gerechtigkeit, die menschliche Fürsorge“, verrate – nicht zuletzt für die „konkrete Verpflichtung gegenüber hilfsbedürftigen Einzelsubjekten“.346 In der zu befördernden „fremden Glückseligkeit“ als „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, artikuliert sich nicht zuletzt der Anspruch, der individuellen Besonderheit des Anderen auf eine Weise „gerecht“ zu werden, wovon indes die (geschuldete) Achtungspflicht gerade absehen muss. Demgegenüber untersteht die gebotene Beförderung „fremder Glückseligkeit“ als „Willensbestimmung“ den zu befolgenden Vorschriften des Begehens in Rücksicht auf den besonderen „Zustand der Person“ und bleibt angesichts der „Arten der Anwendung“ und der dabei verbleibenden Spielräume des Erwägens eine „unvollkommene Pflicht“. So unterscheidet Kant in der „ethischen Elementarlehre“ der „Metaphysik der Sitten“ explizit sowohl die „ethischen Pflichten gegen andere“ als auch die „Pflichten gegen andere bloß als Menschen“, ebenso die „Liebespflicht gegen andere Menschen“, die „Pflicht der Achtung für andere“ und letztendlich die in Rücksicht auf die jeweiligen besonderen Ansprüche noch geltend gemachte „alteritäts“-bedachte „Pflicht gegen andere nach Verschiedenheit ihres Zustandes“, welche die besondere „Aufmerksamkeit“ und „Sensibilität“ der geschärften Urteilskraft erfordert. 342 Metzger 1917, 80. 343 So Henrich 1982a, 44. – Für Kants Begründung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, erweist sich geradezu als maßgebend, was Henrich (mit Bezug auf den jungen Hegel) gegen Kant geltend macht – dass nämlich „sich das sittliche Bewusstsein schon zu Kants Zeit gegen eine Lehre zur Wehr“ setzte „und weigert sich noch heute, sie zu akzeptieren, die den Ursprung der sittlichen Beziehung zum Anderen allein in der Beschränkung des Glückswillens eines vernünftigen Wesens durch das Sittengesetz sieht“; für Kants Liebespflichten ist offenbar genau dasjenige bestimmend, was Henrich freilich bei ihm vermisst: „Hier geht es dem sittlichen Bewusstsein in einem darum, seine Pflicht zu tun und dem Anderen zu helfen“ (ebd. 27). – Auch der von W. Ritzel vertretenen Ansicht, Kants „kritischer Personalismus“ könne seine (zwar vorhandene) „Überzeugung“ von der ethischen Pflicht (jedoch) nicht begründen (Ritzel 1989, 281), ist wohl am ehesten mit dem Hinweis auf die Fundierung und den Status des „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“, zu begegnen. Ritzels Einwurf: „Der Persönlichkeit ist Kant gerecht geworden wie kein Denker vor ihm. – Aber Menschheit erscheint nicht personal, ohne sich zu individualisieren; als individuelle Menschheit erscheint sie, besser noch: als menschliche Individualität“ (Ritzel 1989, 283), verfehlt bzw. ignoriert Kants Begründung und die genauere Differenzierung des „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“. 344 Honneth 2000a, 134. – Zu diesbezüglichen älteren Vorwürfen gegen Kant vgl. v. Verf. (1991, 258 ff ). 345 Honneth ebd, 143 f. 346 Honneth ebd., 135.
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Beachtenswert bleibt dabei auch dies: Gerade der Umstand, dass Kants leitende Rücksicht auf die „reinen Vernunftprinzipien“ ausdrücklich das Problem der „verschiedenen Arten der Anwendung“ noch ausblenden wollte, lässt erkennen, dass er sich der damit verbundenen Herausforderungen (nicht zuletzt bezüglich „der Pflicht gegen andere nach Verschiedenheit ihres Zustandes“) zweifellos bewusst war und dem auch „nach Verschiedenheit der Subjekte der Anwendung des Tugendprinzips“ Rechnung tragen wollte; denn: „Die verschiedene andern zu beweisende Achtung nach Verschiedenheit der Beschaffenheit der Menschen, oder ihrer zufälligen Verhältnisse, nämlich der des Alters, des Geschlechts, der Abstammung, der Stärke oder Schwäche, oder gar des Standes und der Würde, welche zum Teil auf beliebigen Anordnungen beruhen, darf in metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre nicht ausführlich dargestellt und klassifiziert werden, da es hier nur um die reinen Vernunftprinzipien derselben zu tun ist“ (IV 607). Damit ist aber auch indirekt die Aufgabe angezeigt, solche praktische Intentionalität notwendigerweise im Ausgang vom „Unbedingten in uns“ bis hin zu der je „individuellen Existenz“ Anderer (deren „Wohl und Heil“ als „fremder Glückseligkeit“) zunehmend zu spezifizieren, d. h. sich dabei am Ganzen ihres „Zustandes“ zu orientieren, was der „Imperativ, welcher die Tugendpflicht gebietet“, eben als eine „Begehungspflicht“ relativ „auf den Zustand der Person“ ausdrücklich gebietet und es somit nicht bei einer bloß „abstrakten Andersheit“ belässt, die von den konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Lebensformen und Lebensbedingungen „abstrahiert“. Nicht zuletzt zielt die auf die „herzustellenden Rechte der Menschheit“ abzielende Aufmerksamkeit auf die konkreten gesellschaftlich-politischen Bedingungen und Organisationsformen, die dem im Wege stehen und auch dem geforderten Ausgang aus dem „ethischen Naturzustande“ hinderlich sind. Noch einmal sei hier gegenüber diesbezüglichen Einwänden gegen Kant betont: Das „praktische Ideal der reinen praktischen Vernunft“ findet Kant zufolge, in Anknüpfung an die „Idee der Menschheit“, in der Gesetzgebung der Rechts- und Tugendpflichten (als den „vollkommenen“ und „unvollkommenen Pflichten“) eine notwendige Konkretisierung. Sie findet in der Intention der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ – d. h. hier: in der Beförderung „fremder Glückseligkeit“ als „Wohl und Heil des Anderen“ –, eine Realisierung, die in solcher Hinsicht in der Tat ihren letzten moralischen Maßstab „angesichts“ der Besonderheit des je „konkret Anderen“ gewinnt347 und sich dabei für die schwierigen Realisierungsbedingungen „endlicher Freiheit“ in besonderer Weise als sensibel erweist.348 Über die Achtung des „Anderen“ als „Zweck an sich selbst“ (im Sinne 347 Gemäß der notwendigen Vermittlungsfigur des den Begriff des „Moralisch-Guten“ auszeichnenden „Unbedingtheits-Charakters“ als „perfectio noumenon“ und der darüber hinaus notwendigen „typisierenden“ „Darstellung“ des Sittengesetzes „in concreto“ auf der Handlungsebene wäre zu fragen, ob dieser Vermittlungsfigur auf der Ebene der „Tugendpflicht“ auch ein ebenso gestuftes Verhältnis korrespondiert – nämlich: „den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen“ (IV 526), sich „fremde Glückseligkeit“ zum Zwecke zu machen, „sich Wohl und Heil“ anderer Menschen „zum Zweck zu machen“ – nicht zuletzt die gebotene Rücksicht „in Ansehung des Zustandes“. Daraus mag wohl deutlich werden, dass Bubers Kritik, wonach es „nichts gibt, das uns so das Antlitz des Mitmenschen verstellen kann wie die Moral“ (so Buber 1954, 150 f ), auf Kant nicht zutrifft. 348 So mag auch sichtbar werden, weshalb die einschlägige Kant-Kritik Taylors (an einer „Regelmoral“) und seine daran geknüpfte Alternative nicht überzeugt (zumal sich die Verbindlichkeit sowie die für die
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der „einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke“) hinaus erhält die „strengste Forderung der Vernunft“ erst ihre äußerste Zuschärfung und spezifiziert dergestalt gewissermaßen in unüberbietbarer Weise die „Idee der Menschheit“ (und deren „Charakteristisches“: d. i. das „Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen“: IV 522) „in individuo“. Obgleich sich „fremde Glückseligkeit“, auch der späten Tugendlehre zufolge, zwar als „Bestimmungsgrund des reinen Willens“ als untauglich erweist, so ist sie jedoch notwendiges „Objekt“ im Sinne des „gebotenen Zwecks“, mit dem sie über den bloßen Maßstab der zu prüfenden „Allgemeinheit“ der Form der Maximen ebenso hinausweist wie über jene nunmehr die „Materie“ als einen „Zweck“ betreffende Formel des kategorischen Imperativs (IV 70). Mit dieser Bestimmung der „fremden Glückseligkeit“ als „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, wird die „Freiheit anderer“ in einer Weise zum „positiven“ Inhalt der Freiheit, worin in der Tat das „Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen“, als „das Charakteristische der Menschheit“ (IV 522) in besonderer Konkretisierung bejaht, d. h. als positiver „Zweck“ affirmiert wird. Sowohl die indirekte Beförderung – Unterstützung und „Ermutigung“ – fremder „Autonomie“ als auch „fremder Glückseligkeit“ ist so besonderer „Zweck“ und somit auch das Maß dieser Vollendungsgestalt der „positiven Freiheit“ und genügt so letztendlich auch erst dem Anspruch der unter der „Fahne der Tugend“ als Vereinigungspunkt“ Versammelten (IV 752). Und doch sind es sie, die, fern allem moralischen „Enthusiasmus“, die für den unüberholbaren bzw. unaufhebbaren Anspruch der „pflichtmäßig, aus Pflicht“ zu befolgenden Rechtspflichten in besonderer Weise sensibel und irritierbar bleiben. Mehr noch: Ist es nicht – zunächst und zumeist – solche not-wendige Sensibilität für den Anspruch der in moralischer Absicht zu befolgenden Rechtspflichten, worin die Tugendpflicht selbst ihre Gestalt gewinnt und ihre Bewährung verlangt, und zeichnet es nicht geradewegs die gebotene Nüchternheit derselben aus, dass sie – zumeist – aus der ernüchternden Erfahrung des Versagens sich jeden moralischen Überschwang verbieten muss? Sodann sind es offenbar jene angeführten Bestimmungen über das „praktische Ideal“, die Kant im religionsphilosophischen Kontext auch seinem Verständnis des „Gebots der Nächstenliebe“349 – das er als das „Gesetz aller Gesetze“ (IV 205) würdigte – zugrunde „Tugendpflicht“ maßgebende „Urteilskraft“ gewiss keinem „Bauchgefühl“ überlässt): „Nicht nur das Gesetz, sondern auch die Ethik wird als Regelwerk aufgefasst (Kant). Der Geist des Gesetzes ist dort, wo er überhaupt wichtig ist, deshalb wichtig, wie er ebenfalls ein allgemeines Prinzip ausdrückt. Bei Kant besagt das Prinzip, dass wir der Regulierung durch Vernunft beziehungsweise der im Sinne des rationalen Handelns aufgefassten Menschlichkeit den Vortritt lassen sollen. Dagegen [!] setzt das Netzwerk der Agape … die durch unser Bauchgefühl ausgelöste Reaktion [!] auf diesen Menschen an die erste Stelle. Das lässt sich nicht auf eine allgemeine Regel zurückführen“ (Taylor 2009, 1227 f ). Die sich an der anzuerkennenden Besonderheit des (je) „Anderen“ orientierende, d. h. daran „Interesse“ und auch ihr „Maß“ nehmende kantische „Tugendpflicht“, wollte solchem „Bauchgefühl“ das „Wohl und Heil“ des Anderen nicht ausgeliefert sehen. Kant hat sich offenbar die Frage „Wer ist mein Nächster?“ durchaus anders (und „kontingenz“-sensibler) gestellt, als Taylor einräumen will. 349 Wohl zu Recht merkt Hinske zu Kants Interpretation des Gebots der Nächstenliebe an: „Nicht zuletzt die Rede von der ‚Menschheit […] in deiner Person‘ geht vermutlich auf das biblische ‚wie dich selbst‘ zurück. Was Kant vom Gebrauch der Formel abgehalten hat, war vermutlich nur das mißverständliche Verb ‚lieben‘ Kants Versuch einer Neuformulierung des moralischen Gebotes mit Hilfe seines kategorischen
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legte, die er noch in der späten Tugendlehre als die besonders individualitäts-sensible Pflicht bestimmt, „anderer ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen; die Pflicht der Achtung meines Nächsten ist in der Maxime enthalten, keinen anderen Menschen bloß als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen (nicht zu verlangen, der andere solle sich selbst wegwerfen, um meinem Zwecke zu frönen)“ (IV 586). Indes, steht es dann nicht ohnedies so, dass erst mit dieser Forderung der Tugendpflicht (als „Liebespflicht“) das „Gesetz der Moralität“ in seiner „ganzen Strenge“ in Erfüllung geht und allein aus der daran bemessenen „perfectio moralis“ auch der „letzte Zweck aller Dinge, das höchste Gut, wohin der Mensch es nur dadurch, dass er sich dazu tauglich machet, bringen kann“,350 bestimmbar wird? Dann gewinnt offenbar auch Kants gelegentliche – und wohl ein wenig überraschende – Behauptung besonderes Gewicht: „Wir haben nur alsdenn einen moralischen Wert, wenn unsre Handlungen verdienstlich sind … Wenn wir unsre Schuldigkeit tun; so üben wir dabei keine verdienstliche Handlung aus“351 – zumal, wie erwähnt, auch das „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ als das „Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit“ (IV 713 f ) in Absehung davon nur unzureichend bestimmt bliebe. Gegenüber einer voreiligen Abwertung des Verbindlichkeitsanspruches der Tugendpflicht (als „verdienstlicher Pflicht“) ist deshalb tatsächlich ihr Status bzw. Anspruch – und zwar im Rahmen einer Differenzierung der Vernunft als Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“ – festzuhalten und auch im Sinne der in Frage stehenden „Verdienstlichkeit“ genauer zu berücksichtigen,352 obgleich die darin zutage tretende „verpflichtende Beziehung“ und die hierfür maßgebende „Verbindlichkeit“ den Status einer universalistisch begründbaren Pflicht (im Sinne der „Rechtspflichten“) übersteigt. Kants Bezugnahme auf ein „System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft“ mag vor dem angezeigten Problemhintergrund noch einmal besser verständlich werden; sie erhält überdies dadurch noch besonderes Gewicht, dass dergestalt offenbar die nunmehr maßgebende Einheit des notwendigen „obersten Prinzips der Moral“ mit dem „obers ten Prinzip der Tugendlehre“ (d. i. die Verbindung des „Pflichtbegriff(s) mit dem eines Imperativs ist alles andere als ein Konkurrenzunternehmen zum Christentum. Es ist eher schon der Versuch, dessen Botschaft vor Mißverständnissen und gedankenloser Routine zu schützen“ (Hinske 2000, 186). – Es ist für Kants Einschätzung der Verbindlichkeit der Nächstenliebe sehr aufschlussreich, dass ihm zufolge „der Mensch so wohl sich selbst, als auch jeden anderen Menschen, sich als seinen Zweck zu denken verbunden ist (die man Pflichten der Selbstliebe und Nächstenliebe zu nennen pflegt), welche Ausdrücke hier in uneigentlicher Bedeutung genommen werden; weil es zum Lieben direkt keine Pflicht geben kann, wohl aber zu Handlungen, durch die der Mensch sich und andere zum Zweck macht“ (IV 542). In dieser Verbundenheit dazu, „sowohl sich selbst, als auch jeden anderen Menschen sich als seinen Zweck zu denken“, liegt das Fundament der Begründung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“. 350 AA XXVII, 652. In diesem Kontext gewinnt Kants Bestimmung der Moralität gelegentlich auch einen „latitudinarischen“ Sinn: „Daher heißt auch Legalität die Übereinstimmung mit den Regeln des Rechts, aber Moralität mit den Regeln der Liebespflicht“ (Refl. 7259, AA XIX, 296). 351 AA XXVII, 133. „Von dem Spruch wir sind unnütze Knechte etc. wir haben unsere bloße Schuldigkeit getan und kein Verdienst. Daher der Begriff der Seligkeit aus Gnaden“ (AA XXIII, 342), eben: „Gottseligkeit“; auch dies indiziert eine Begrenzung praktischer Vernunftansprüche (s. u. V., 3.). 352 Darauf hat ausführlich J. Schmucker in seiner bedeutenden Kant-Studie (Schmucker 1961) hingewiesen (vgl. dazu v. Verf. 1991, bes. 157 ff ).
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Zweckes überhaupt“: IV 514) auf eine Weise bestimmt wird, die einerseits jeden Rückfall in heteronome Bestimmungsgründe vermeidet und dennoch von „zu bewirkenden Zwecken nach Freiheitsgesetzen“ zu sprechen erlaubt. In solcher Hinsicht steht jene kantische Bestimmung und Differenzierung des „Praktischen“ – „(p)raktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist“ (II 673) – selbst im Dienste der Explikation der Idee einer „teleologia rationis humanae (practicae)“, die der Idee einer „moralischen Teleologie“ zugrunde liegt und auf jenes Programm der „Selbsterhaltung der Vernunft“ verweist, ohne die wiederum eine differenzierte Idee der Humanität nicht zu denken ist. Die vorgestellten Momente der kantischen Idee eines „Systems der Zwecke der reinen praktischen Vernunft“ implizieren demnach eine Differenzierung des Begriffs der „Humanität“, die sich freilich nicht mit der einer „pragmatischen Anthropologie“ gestellten Aufgabe einer Entfaltung dessen, was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (VI 399), begnügen kann. Jene – in der „teleologia rationis humanae practicae“ verankerte – umfassende Idee der „praktischen Zweckmäßigkeit“ enthält also, soweit dies den „praktischen Endzweck“ im Sinne der „Zwecke der reinen praktischen Vernunft“ betrifft, notwendigerweise die Momente des „obersten Prinzips der Moralität“ (die „moralische Triebfeder“, den „guten Willen“, d. i. die Wahrhaftigkeit als „formale Gewissenhaftigkeit“) sowie die „materiale Gewissenhaftigkeit“ als die der „praktischen Urteilskraft“ aufgegebene „Behutsamkeit, nichts auf die Gefahr, dass es unrecht sei, zu wagen“ (VI 120). Zudem schließt diese „Idee“ den Bezug auf den notwendigen (unbedingten) Zweck und dessen nähere Bestimmung im Sinne „fremder Glückseligkeit“ („Wohl und Heil des anderen“) in sich ein, wenn doch, den voranstehenden Überlegungen gemäß, ohne einen solchen Bezug auch der korrespondierende „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, nämlich „eigene Vollkommenheit“, nicht zureichend zu bestimmen wäre. Näher betrachtet genügen freilich auch erst diese Differenzierungsmomente der kantischen Charakterisierung der „Wissenschaft von der Moral“: „Moral ist die Wissenschaft, welche die Prinzipien der Einheit aller möglichen Zwecke vernünftiger Wesen apriori enthält“353 (IV 112 f; v. Verf. hervorgehoben), und expliziert, in diesem weiten Sinne verstanden, entscheidende Dimensionen der „teleologia rationis humanae“. Demzufolge erschöpft sich der durch den „Imperativ, welcher die Tugendpflicht gebietet“, erweiterte Standpunkt der „positiven Freiheit“ (bzw. die ihr gemäß „revolutionierte Denkungsart“) keineswegs schon in jenem bloßen „Praktisch-Werden der reinen Vernunft“, obgleich dieserart moralische „Freiheit, wenn sie uns beigelegt wird, uns in eine intelligible Ordnung der Dinge versetzt“ (IV 155). Dennoch bleibt – eben dafür war 353 Refl. 7205, AA XIX, 284. – In der Tat: „Moralphilosophie ist … von Kant umfassend verstanden: als Philosophie vom Endzweck des Menschen, als Philosophie der Freiheit zur Verwirklichung dieses Endzwecks in einem guten Leben und damit als praktische Philosophie im eminenten Sinne, nämlich als Weisheitslehre. Moralphilosophie als Tugendlehre, d. h. als eine Lehre zu realisierender moralischer Einzelzwecke, Haltungen und Einstellungen wäre demgegenüber sekundär“ (Wimmer 2004a, 351). – In diesem weiten Sinne hat Kant auch die Moralphilosophie bestimmt als „die Wissenschaft der Zwecke, so fern sie durch reine Vernunft bestimmt [sind]. Oder von der Einheit aller Zwecke (da sie sich selbst nicht widerstreiten) vernünftiger Wesen“ (Refl. 6820, AA XIX, 172). Dies ist gleichermaßen auf die „Ethik“ und auf den „Weltbegriff der Philosophie“ zu beziehen.
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Kant besonders sensibel – auch der über die wahrhaft „revolutionierte Denkungsart“ bestimmte Anspruch der Tugendlehre (als „reiner Zwecklehre“) in der Begründung und Bestimmung des Menschen als „Selbstzweck“ verankert bzw. daran auch rückgebunden.354 Davon soll sogleich noch die Rede sein. Die in ihren Hauptaspekten charakterisierte kantische Begründungsfigur des „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“, erlaubt es demnach, den Begründungszusammenhang dieses selbst teleologisch konzipierten „Systems der Zwecke der Freiheit“ in seiner Ethik gleichsam von einem „archimedischen Punkt“ aus zu fundieren und im Sinne einer „moralischen, objektiven Zwecklehre“ eine umfassende „Ordnung der Zwecke“ zu verankern, die nunmehr freilich in einen umfassend konzipierten „Weltbegriff der Philosophie“ eingebunden bleibt und aus der daraus resultierenden Verbindung sodann noch neue Motivkonstellationen eröffnet (s. dazu u. IV., 4.). Die einer „Philosophie der Moral“ von Kant zugedachte umfassende Orientierung der „ganzen Bestimmung des Menschen“ – somit die Entfaltung einer gerade nicht „moralistisch“ zu verkürzenden Idee der „Humanität“ – wird im Grunde erst auf solche Weise einlösbar. Demzufolge wäre die eingangs erwähnte Analogie zwischen der Weltstellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ im „System der Zwecke“ und dem „System der Zwecke der Freiheit“ noch einmal dahingehend zusammenzufassen und zugleich in gestufter Form weiterzuführen: So wie nach Kant in einer kritisch-teleologischen Gesamtkonzeption „die Welt, als ein nach Zwecken zusammenhängendes Ganze[s] und als System von Endursachen“ (V 569), nur durch die Existenz des „moralischen Wesens“ Mensch (als „Endzweck der Schöpfung“) begründet gedacht werden kann, so stellt sich bezüglich der freiheitlichen Selbstbestimmung die Frage nach dem „praktischen Endzweck“ (dem Endzweck des Handelns) dieses „existierenden Endzwecks“ Mensch, dessen „ganzer moralischer Zweck“ als „Endzweck der Freiheit“ erst über den „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, angemessen, d. h. hinreichend differenziert, formuliert werden kann. Nur über den in der angezeigten Weise zu vermittelnden „notwendigen Zweck“ selbst ist eine „Ordnung der Zwecke“ in verbindlicher Weise zu fundieren, zumal auch nur so eine „systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen … als ein System der Freiheit … d. i. moralische Welt (regnum gratiae)“ (II 684) ausweisbar ist.355 Damit gewinnt freilich auch der kantische Hinweis einen besonderen Sinn, dass die „Glückseligkeit … ein System zufälliger Zwecke“ darstellt, „die Moralität aber … das absolut not354 Die von Kant aufgenommene Unterscheidung zwischen „engeren“ und „weiteren“ („vollkommenen“ und „unvollkommenen“) Pflichten (vgl. IV 520 ff ) gewinnt erst im Ausgang von seiner „Ethik“ (als dem „System der Sittlichkeit“) ihren eigentlichen und systematisch bedeutsamen Stellenwert. Diese praktischen Vernunftperspektiven lassen sich so tatsächlich von der Absicht der „Beförderung des Besonderen“ leiten, wie Nagl-Docekal zu Recht für die „universalistische Moralphilosophie“ Kants geltend macht (Nagl-Docekal 1996, 39). Zur Begründung des Zusammenhanges der kantischen Anthropologie mit dem „Pflichtensystem“ s. Firla (1981, bes. Kap. 4), die bei Kant die „Ableitung des moralphilosophischen Pflichtensystems mit Hilfe der Transzendentalanthropologie“ (ebd. 275) verfolgt. 355 Dass „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich verbunden“ ist (II 680) und die daran orientierte „Idee einer moralischen Welt“ auf das von Leibniz inspirierte „Reich der Zwecke“ verweist, ist evident. Kants „Idee einer moralischen Welt“ ist zweifellos eine kritizistische Transformation Leibniz’scher Motive.
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wendige System aller Zwecke“ sei, „und eben die Zusammenpassung mit der Idee eines Systems aller Zwecke ist der Grund der Moralität einer Handlung“.356 Dies legt nun einen nochmaligen Blick auf Kants Differenzierung des „Gegenstandes der (reinen) praktischen Vernunft“ nahe, die offensichtlich, einer „moralischen Teleologie“ zufolge, ebenfalls in gestufter Form erfolgen soll: Primär sind, gemäß dem „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft“ (vgl. IV 180 f ), die erst aus dem Begriff der Freiheit abgeleiteten – und nicht etwa dieser begründungstheoretisch schon vorausliegenden – „Begriffe vom Guten und Bösen“ zwar die „alleinigen Objekte einer reinen praktischen Vernunft“ (IV 174), zumal ohne Rekurs auf das Prinzip des „guten Willens“ von „moralisch gut“ gar nicht gesprochen werden kann. Das darin zwar zunächst maßgebende (von allem Zweckbezug noch absehende) „oberste Prinzip der Moralität“ und der Autonomie, dem zufolge ausschließlich das Gesetz selbst die „Triebfeder sei“, hat jedoch, wie gezeigt, erst in dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“, worin praktische Vernunft sich das „Vermögen der Zwecksetzung selbst“ zum Zweck macht, sein adäquates materiales Korrelat gefunden und erlaubt dergestalt die zureichende Bestimmung der sittlich maßgebenden Idee des „obersten Gutes“ als „moralischer Vollkommenheit“ (des „praktischen Endzwecks“). Bevor daran weitere Überlegungen geknüpft werden, sei nochmals vergegenwärtigt: Den oben vorgestellten Differenzierungen zufolge manifestiert sich der kategorische Imperativ in einer Doppelgestalt, zumal er sich doch gleichermaßen auf den (im engeren Sinne so bezeichneten) „moralischen Imperativ“ wie auch auf „denjenigen, der die Tugendpflicht gebietet“, bezieht. Letzterer weist jedenfalls nun nicht allein über die „liberalisierte Denkungsart“, sondern ebenso über die bloße „Kultur der Moralität“ hinaus: „Die größte moralische Vollkommenheit des Menschen ist: seine Pflicht zu tun und zwar aus Pflicht (dass das Gesetz nicht bloß die Regel sondern auch die Triebfeder der Handlungen sei)“ (IV 523). Gewiss, diese „Umwandlung der Denkungsart“ als „Revolution in der Gesinnung im Menschen“ – wodurch er, „wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst“ (IV 698 f ) – wird von Kant zunächst zwar als die praktisch „revolutionierte Denkungsart“ gewürdigt; gleichwohl ist es erst der jenen „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, innewohnende moralische Anspruch, der diese liberalisierte „Denkungsart“ auf die im eigentlichen Sinne so zu nennende praktisch „revolutionierte Denkungsart“ (und deren „Ordnung der Zwecke“) hin überschreitet bzw. diese erst als eine solche qualifiziert und dergestalt den angeführten Differenzierungsmomenten erst zu genügen vermag. Das bloße „Absehen von sich“ im Sinne des zwar geleisteten Verzichts auf die „Freiheit, für uns, oder (auch nur für diesesmal) zum Vorteil unserer Neigung“, vom Anspruch des „allgemeinen Gesetzes“ eine „Ausnahme zu machen“ (IV 55), ist als „liberalisierte Gesinnung“ gewissermaßen ein erster Schritt, jedoch noch nicht die „Revolution der Denkungsart“ selbst und deren „von sich absehende“ Hinsicht auf die Beförderung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, der zufolge der Mensch erst in dem solcherart „radikalisierten“ Sinne
356 AA XXVIII. 2.2, 1075.
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„einen neuen Menschen anzieht“ (IV 698). Daraus ergibt sich des Weiteren die erforderliche Herleitung bzw. die nähere Differenzierung der verschiedenen (Tugend-)Pflichten. Es sollte einsichtig geworden sein, weshalb die „strengste Forderung der praktischen Vernunft“ und die folglich allein daraus zu vermittelnde „höchste Stufe der Moralität“ (IV 513) sowie der „praktische Endzweck“ als der „ganze moralisch gebotene Endzweck“ zuletzt eben nur über den in der späten Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten“ artikulierten Anspruch des „obersten Prinzips der Tugendlehre“ (d. h. den darin explizierten „Zweck, der zugleich Pflicht ist“) und somit über den „Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet“ (IV 527 f ), zureichend bestimmt werden können. Eine wahrhaft so zu nennende „Umwendung der Denkungsart“ durchbricht alle „Wechselseitigkeitserwartungen“. Waren die „vollkommenen Pflichten“ als solche auf Gegenseitigkeitsbedingungen bezogen, die insofern „geschuldet“ sind, so sind die „unvollkommenen Pflichten“ aber allein aufgrund ihrer alle Gegenseitigkeit sprengenden Ent-Grenzung des Bezuges „unvollkommen“ und lassen – eben darin liegt ihre „Unvollkommenheit“ – deshalb auch Spielräume für ein „Mehr oder Weniger“ zu – allerdings nur in der besonderen Hinsicht, dass sie vom Anderen her nicht „einklagbar“ sind. 4.2.2. Das erweiterte praktische „Ideal der Vernunft“ und die Kritik eines quasi-„natürlichen Scheins“ von besonderer Art Demgemäß ergeben sich daraus weitreichende Konsequenzen. So folgt daraus, dass erst auf solche Weise die Idee der „Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit“ (IV 712) in unverkürzter Weise zur Geltung kommt – ist doch jenes „Ideal des Guten“ gar nichts anderes als das auf „unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft“ beruhende „Ideal der Menschheit“, welches als „Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit“ („Sohn Gottes“) im Sinne der „personifizierte(n) Idee des guten Prinzips“ (IV 712) zur Darstellung gelangt.357 Vor allem dieser späte Bezug auf das „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ (IV 713) macht deutlich, dass Kant dieses „Ideal“ – eben als „Urbild für uns“ – zuletzt mit dem biblischen Liebes- bzw. Nachfolge-Motiv in engste Verbindung bringt und insofern jenen früheren Verweis auf diese Idee des „göttlichen Menschen in uns“ (II 513) noch verschärft – damit aber auch jene frühere, „platonisierende“ These in eigentümlicher Weise mit seinem späten Verweis auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ verschmilzt: „(W)ir haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen, als das Verhalten dieses göttlichen Menschen in uns, womit wir uns vergleichen, beurteilen und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können“ (II 513). Es ist dies jenes „von der objektiven Realität“ lediglich „am entferntesten scheinende Ideal“ (als „Idee in concreto 357 Derart ist vielleicht auch der vom jungen Hegel so bezeichnete „positive moralische Begriff“ zu verstehen, der „fähig“ sei, „den Charakter der Positivität zu verlieren, wenn die Tätigkeit, die er ausdrückt, selbst entwickelt wird und Kraft bekommt“ (Hegel 1, 240); für solche Liebe beansprucht Hegel: „Wo Subjekt und Objekt oder Freiheit und Natur so vereinigt gedacht wird, dass Natur Freiheit ist, dass Subjekt und Objekt nicht zu trennen sind, da ist Göttliches“ (ebd. 242).
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und individuo“: II 512) – Kants Verständnis des „Christus“ als „Urbild aller Moralität“358 –, welches indes in praktischer Vernunftperspektive selbst zwar „wirklich“ ist, seine „Vollkommenheit“ der späten „Religionsschrift“ (bzw. auch der „Tugendlehre“) zufolge letztendlich aber erst über das Liebesmotiv gewinnt. Eine in diesem radikalen Sinne „revolutionierte Denkungsart“ rückt damit die praktische Dimension einer „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ (V 350) ins Blickfeld, die jedes an bloßer Selbstbehauptung bzw. Selbstverwirklichung des „eigentlichen Selbst“ orientierte „praktische Selbstverhältnis“ noch überschreitet, d. h. auch über alle (negative) „moralische Selbsterhaltung“ (im Sinne von Autarkie und Autokratie als „Überlegenheit über die Natur“) hinausführt,359 folglich auch das bloße „Bei-sich-Sein“ eines solchen „moralischen Erhabenheitserlebens“ sowie eine ihm gemäße „Würde“ überwindet und erst in den sogenannten „Begehungspflichten“ (IV 551) ihr immanentes „telos“ findet. „Praktisch revolutioniert“ in diesem strengen Sinne darf solche „Denkungsart“ (in nochmaliger Abgrenzung von der zwar „liberalisierten“, d. h. praktisch-„erweiterten“) nun wohl auch deshalb genannt werden, weil sie weder in mehr oder weniger subtilen Formen der „Selbstliebe“ befangen bleibt noch die bloße „moralische Selbsterhaltung“ („Selbstbehauptung“) maßgebend ist, sondern es vorrangig um die Einlösung des Anspruchs jenes „Zwecks, der zugleich Pflicht“ ist (und damit um „Wohl und Heil des Anderen“), geht. Eine solche „Denkungsart“ hat daran nicht bloß ein „pathologisch affiziertes Interesse“, sondern nimmt an diesem „Interesse“, ohne dieserart jedoch erneut in lediglich subtilere Formen bloßer Heteronomie zurückzufallen. Im Grunde gewinnt die nicht nur „erweiterte“ („liberalisierte“), sondern radikal gedachte praktisch-„revolutionierte Denkungsart“ (und mit ihr die Idee der „moralischen Vollkommenheit“) aus solcher Intention ihren spezifischen Sinngehalt. Erst in der gemäß dieser „neuen sittlichen Stufe“ (IV 207) vollendeten Umwandlung des „intelligiblen Charakters“ wird der „Überschritt zu jener neuen Ordnung der Dinge“ (IV 235) wahrhaft vollzogen – jenseits der „liberalisierten Denkungsart“ und auch der geforderten „Achtungspflichten“ (als Rechtspflichten wie auch [bloß] „ethischer“ Pflichten). So unzweifelhaft jene „Revolution der Gesinnung“ die unverzichtbare Voraussetzung einer grundsatz-verankerten moralischen Verbindlichkeit darstellt, so sehr ist es der Anspruch der „Liebespflichten“, worin sich die „praktisch-revolutionierte Denkungsart“ (der „Form“ und dem „Inhalt“ nach) erst vollendet findet. 358 AA XXVIII, 577. Genauer wäre freilich zu sagen, dass die „moralischen Ideen“ „als Urbilder der praktischen Vollkommenheit … zur unentbehrlichen Richtschnur des sittlichen Verhaltens, und zugleich zum Maßstabe der Vergleichung“ dienen (IV 259, Anm.), diese dann aber auch als notwendige Voraussetzung fungieren, denn: „Allein um etwas als ein Urbild anzusehen, müssen wir vorher eine Idee haben, wornach wir das Urbild erkennen können, um es dafür zu halten; denn sonst könnten wir ja nicht das Urbild erkennen […]. Ich muss eine Idee haben, um das Urbild in concreto zu suchen“ (AA XXVIII, 577). 359 Darin erst vollendet sich die Aufgabe der „Selbsterhaltung“ von „Subjektivität“ auf eine Weise, die freilich über diese moralische Selbstherrschaft in dem von Wenzel gekennzeichneten Sinn noch hinausweist: „Subjektivität ist nicht einfachhin das Selbstsein der ‚Selbsterhaltung‘ …, sie ist zugleich (moralisches) Selbstbewußtsein. Selbsterhaltung ist zu verstehen als sich potenzierende (moralisch-praktische) Selbstherrschaft: Im perennierenden Sollen ruft das moralische Subjekt sich zur potenziell unendlichen Selbstüberwindung auf, die doch immer seine eigene Leistung bleibt, in der es sich übertrifft“ (Wenzel 1992, 87). Zum Zusammenhang von Moralphilosophie und Anthropologie bei Kant vgl. auch Munzel 1991.
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Freilich bleibt hierbei Kants unüberhörbare Mahnung bezüglich der „geschuldeten“ und „verdienstlichen“ Handlungen gegenüber den Menschen besonders beherzigenswert und darf auch nicht etwa durch den vorschnellen Hinweis auf die Unterscheidung zwischen „vollkommenen“ und „unvollkommenen“ Pflichten überspielt werden. Supererogatorische und agapistische Aufschwünge und Höhenflüge müssen sich von Kant nicht nur stets daran erinnern lassen, dass die „Pflicht, mit andern wegen ihrer Unterdrückung gemeinschaftliche Sache zu machen, … mehr als bloß gütige Pflicht“ ist;360 vielmehr mahnt seine von psychologischem Feingespür geleitete Nüchternheit zur unbeirrbaren Beachtung eines besonderen Aspekts „moralischer Selbsterkenntnis“ und zu einer damit verbundenen Selbstbescheidung – gerade auch bezüglich der adäquaten Einschätzung der „sittlichen Stufe, worauf der Mensch steht“ (IV 207). Ebenso verwarf er energisch jene dünkelhafte Anmaßung, sich „gleichsam als Volontäre … mit stolzer Einbildung über den Gedanken der Pflicht“ hinwegzusetzen, d. h. „Pflicht und Schuldigkeit“ als die eigentlichen „Benennungen“ zu verkennen bzw. zu ignorieren, „die wir allein unserem Verhältnisse zum moralischen Gesetze geben müssen“; dies mündet sonach in den unnachgiebigen Befund: „[D]ie Verkennung unserer niederen Stufe, als Geschöpfe, und Weigerung des Eigendünkels gegen das Ansehen des heiligen Gesetzes, ist schon eine Abtrünnigkeit von demselben, dem Geiste nach, wenn gleich der Buchstabe desselben erfüllt würde“ (IV 204 f ). Es ist allein das fortwährende Bemühen um „Heiligung“ unter der maßgebenden Idee der „Heiligkeit“, das die dem „vernünftigen Weltwesen“ gemäße „sittliche Stufe“ darstellt. Kants Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten (das darin jeweils „Gemeinte“) meint freilich anderes – nämlich die Möglichkeit einer „äußeren“ und „inneren“ Gesetzgebung –, als dass dies dazu im Widerspruch stehen könnte. Die gemäß der „Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist“, qualifizierte „praktische Intentionalität“ solcher Freiheit bleibt demnach, in nüchterner Abwehr eines sich allzu leicht breitmachenden „Überschwanges“ einer vermeintlich „höheren Sittlichkeit“, immer noch auf die gewissenhafte Orientierung an den Prinzipien der „politischen“ Freiheit und somit auf die schon genannten Dimensionen „gesellschaftlicher Praxis“ rückverwiesen – und zwar gerade auch in ihrer Sensibilität für die Gefährdung „von Humanität und Solidarität“, in ihrem Protest „gegen himmelschreiende Ungerechtigkeit“ und gegen einen sich heimlich ausbreitenden „Defätismus der Vernunft“. Jene Mahnung Kants, „mit andern wegen ihrer Unterdrückung gemeinschaftliche Sache zu machen“, sei jedenfalls „mehr als bloß gütige Pflicht“, gewinnt damit noch einmal besonderes Gewicht; der in Kants Bezugnahme auf den „sehr fruchtbaren Begriff“ des „Reichs der Zwecke“ enthaltene Hinweis auf die darin bestimmenden „gemeinschaftliche(n) objektive(n) Gesetze(n)“, welche „die Beziehung dieser Wesen auf einander, als Zwecke und Mittel, zur Absicht haben“ (IV 66), verdient so wohl besondere Aufmerksamkeit. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass Kant diesen „sehr fruchtbaren Begriff“ eines „Reichs der Zwecke“ und die darin bestimmende Idee eines „Ganze(n) aller Zwecke“ (sowohl der vernünftigen Weltwesen 360 Refl. 6997, AA XIX, 222. – Grundsätzlich bleibt ja erinnernswert: „Pflichten können eigentlich nie in Beziehung auf Belohnung sondern nur auf Freisprechung von der Schuld stehen“ (AA XXIII, 382).
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als Zwecke an sich, als auch eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag)“ (IV 66) in der späten „Religionsschrift“ einerseits aufnimmt und zugleich im Sinne der Idee eines „Volkes Gottes“ unverkennbar neu akzentuiert, vornehmlich durch die nunmehr maßgebende Orientierung an dem „gemeinschaftlichen Zwecke“ der „Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts“ (IV 756). Mit dieser Idee einer gemeinsamen praktischen Orientierung an der Beförderung des „höchsten Gutes“ als einer „gemeinschaftlichen Aufgabe“ nach „ethischen Gesetzen“ unter einem „gemeinschaftlichen Gesetzgeber“ (IV 757), der zugleich „Herzenskündiger“ ist, weist Kant offenbar über die frühe Bestimmung des „Reichs der Zwecke“ noch hinaus.361 Mit dieser Betonung der „Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts“362 ist zugleich ein Akzent gesetzt, der offenbar die Idee der „Solidarität“ besonders in den Vordergrund rückt und gerade darin für den Vorrang der „Rechtspflichten“ sensibel bleibt, der auch in jener „Pflicht“ zum Ausdruck kommt, „mit andern wegen ihrer Unterdrückung gemeinschaftliche Sache zu machen“. Die damit zu verbindende frühe Forderung Kants, „die Rechte der Menschheit herzustellen“363, erhält so, verbunden mit dem kritischen Vermögen der „Aufmerksamkeit“ (als dem „Bestreben, sich seiner Vorstellungen bewusst zu werden“: VI 412), einen besonderen Stellenwert innerhalb einer (praktischen) Vernunftkritik und übernimmt so auch eine eminent kritische Funktion: Die Verknüpfung der Forderungen, die „Rechte der Menschheit herzustellen“ und „mit 361 Vielleicht darf diese in dem „ethischen gemeinen Wesen“ als dem „Volk Gottes unter ethischen Gesetzen“ maßgebende Verpflichtung zur „Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts“ unter der „Idee … eines höhern moralischen Wesens“ (IV 756 f ) auch als eine indirekte Aufnahme und gleichermaßen als entschiedene Korrektur des Leibniz’schen Motivs, „dass die Verbindung aller Geister das Reich Gottes bilden muss, d. h. den vollkommensten Staat, der unter dem vollkommensten aller Monarchen möglich ist“ (Monadologie Nr. 85); deren Mitglieder erweisen diesem Gott freilich nicht dadurch die „wahre Ehre“ (die er andernfalls „ja nicht haben würde“), indem sie „seine Größe und seine Güte“ erkennen und bewundern (Monadologie Nr. 86), sondern sie sind bzw. verstehen sich als „Abbilder der Götter“ (Monadologie Nr. 83) vornehmlich in der „Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts“; und diese Aufgabe orientiert sich vornehmlich daran bzw. in der unbeirrbaren Sensibilität dafür, dass die „Rechte der Menschheit herzustellen“ auch für die derart „unter der Fahne der Tugend Versammelten“ die Verbindlichkeit einer „geschuldeten Pflicht“ hat, die nicht „agapistisch“ absorbiert werden darf. 362 Interessant ist diesbezüglich auch ein Passus aus Kants später Schrift „Zum ewigen Frieden“: „Freilich ist das Wollen aller einzelnen Menschen, in einer gesetzlichen Verfassung nach Freiheitsprinzipien zu leben (die distributive Einheit des Willens aller), zu diesem Zweck nicht hinreichend, sondern daß alle zusammen diesen Zustand wollen (die kollektive Einheit des vereinigten Willens), diese Auflösung einer schweren Aufgabe, wird noch dazu erfordert, damit ein Ganzes der bürgerlichen Gesellschaft werde, und, da also, über diese Verschiedenheit des partikularen Wollens aller, noch eine vereinigende Ursache desselben hinzukommen muß, um einen gemeinschaftlichen Willen herauszubringen, welches keiner von allen vermag“ (VI 230 f ). 363 AA XX, 44. – Auch im Blick darauf verdient Habermas’ Mahnung besondere Beachtung: „Die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit, die mit der Positivierung der Menschenrechte in die Wirklichkeit selbst einbricht, konfrontiert uns heute mit der Herausforderung, realistisch zu denken und zu handeln, ohne den utopischen Impuls zu verraten. Diese Ambivalenz führt uns nur zu leicht in Versuchung, sich entweder idealistisch, aber unverbindlich auf die Seite der überschießenden moralischen Gehalte zu schlagen oder die zynische Pose des sogenannten ,Realisten‘ einzunehmen“, der die „Menschenrechte von ihrem wesentlichen moralischen Antrieb, dem Schutz der Menschenwürde eines jeden, abschneidet“ (Habermas 2011, 35 f ) und so die „Menschenrechte selbst ihres moralischen Mehrwerts“ beraubt.
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andern wegen ihrer Unterdrückung gemeinschaftliche Sache zu machen“, bedeutet – mit Blick auf jene Charakterisierung der „Anderen“ als „objectum obligationis“ und auf die unverkürzte „Menschheits“-Idee – gemäß jener geforderten „Aufmerksamkeit“ zunächst wohl vor allem die geforderte Aufdeckung des „natürlichen Scheins“ falscher „Unmittelbarkeiten“, der auch in der vermeintlich kritischen Berufung auf „die Anderen“, in dem nicht selten eher suggestiven Rekurs auf „Alterität“, begegnet. Die Aufdeckung dieses falschen „Scheins“ und damit verbundene notwendige Differenzierungen stellen somit eine vorrangige Herausforderung für eine praktische Philosophie dar, die sich in besonderer Weise dem Thema „Alterität“ verpflichtet weiß und auch nur dadurch der vielbeschworenen „Andersheit“ gerecht zu werden vermag, dass sie diese „Anderen“ erst einmal als „Veranderte“ wahrnehmbar macht und so für die darin vorherrschende „Asymmetrie“ der besonderen Art sensibilisiert. Die „Anderen“ als die „Veranderten“ zu begreifen: Dies ist zweifellos eine besondere und unnachgiebige Forderung der moralisch-praktischen Vernunft, die auch in solcher Hinsicht den Vorrang der „Rechtspflichten“ verdeutlicht. Dies setzt näherhin die „Aufmerksamkeit“ dafür voraus, dass jene „Anderen“ – gegen solchen einer eigentümlichen „Abstraktion von uns selbst“ verdankten „Schein“ – vorgängig doch schon die „via exclusionis“ „Veranderten“ sind, die allererst in den durch solchen „Schein“ bedingten „Hypostasierungen“ „uns begegnen“: Eine eigentümliche (undurchschaute) „Selbstbegegnung“ in den von uns selbst gedankenlos „Veranderten“ gewissermaßen,364 die den Prozess und die recht unterschiedlichen Gestalten des – d. h. eben: ihres – „Veranderns“ (des „Abstrahierens“ als einer „abstractio practica“) gleichsam vergessen bzw. „davon abstrahiert“ hat und demzufolge, mangels geschuldeter „Aufmerksamkeit“, einer solchen Täuschung unterliegt, d. h. diese „Veranderten“ „selbstvergessen“ als die uns begegnenden „Anderen“ „ansieht“ und so diesen scheinbar unmittelbaren Alteritäts-Bezug als eine Vergesslichkeit bzw. als eine gedankenlose „Erschleichung“ der besonderen Art erscheinen lässt. Jene von Kant verfolgte „Auflösung“ des „natürlichen Scheins“, dem zufolge die „selbstgemachten“ Ideen uns (infolge undurchschauter „Hypostasierung“) gewissermaßen als von uns unabhängige „Gegenstände“ „objektiv“ begegnen, hätte derart auf dem Felde der „praktischen Vernunft“ in der Aufdeckung jener – einer „Selbstvergessenheit“ und Unaufmerksamkeit besonderer Art verdankten – „anscheinenden“ „Unmittelbarkeiten“ möglicherweise eine Entsprechung und wäre so wohl eine wichtige Aufgabe für die „praktische Philosophie“ – vor allem natürlich auch hinsichtlich der darin zu leistenden Differenzierung des Themas „Anerkennung“. Von seiner frühen Ethik-Vorlesung an bis hin zur späten „Tugendlehre“ ließ Kant sich – gerade auch im Sinne jener diesbezüglichen Forderung, „die Rechte der Menschheit herzustellen“ – von der besonderen Aufmerksamkeit und Sensibilität für das elemen364 Im Lichte dieser (und jener angeführten frühen) Äußerungen ist dann freilich auch Kants (ebenfalls frühe) Reflexion zu lesen: „Wir sind frei in Ansehung aller ethischen Verbindlichkeit; nämlich es sind motiva, welche nicht notwendig antreiben. Also tun wir die Handlung aus freiem Belieben: wir erteilen den andern von dem Unsrigen und können uns (ohne … Eintrag der Demut) mit den guten Folgen derselben, so weit wir wollen, erfreuen“ (Refl. 7159, AA XIX, 260).
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tare Unrecht leiten, das zunächst eben schon darin besteht, jene „Anderen“ infolge solcher „moralischen Abstraktionen“ gerade nicht als die „Veranderten“ wahrzunehmen.365 Demgemäß insistierte noch der späte Kant darauf: „Das Vermögen wohlzutun, was von Glücksgütern abhängt, ist größtenteils ein Erfolg aus der Begünstigung verschiedener Menschen durch die Ungerechtigkeit der Regierung, welche eine Ungleichheit des Wohlstandes, die anderer Wohltätigkeit notwendig macht, einführt. Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den der Reiche den Notleidenden erweisen mag, wohl überhaupt den Namen der Wohltätigkeit, mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet?“ (IV 591) Einer solchen Vergesslichkeit und „Abstraktion“ korrespondiert recht genau jene Gestalt eines – ganz und gar selbstbezüglichen – „Von-sich-Absehens“, die sich geradewegs in der gerechtigkeits- und solidaritäts-„vergessenen“ Weigerung manifestiert, „die Rechte der Menschheit herzustellen“. Im Sinne dieser vorrangig gebotenen Orientierung an den „Rechten der Menschheit“ hätte dies die Aufklärung über den „falschen Schein“ bzw. darüber zur Voraussetzung, dass in diesen „Anderen“ zunächst doch der zu objektiven Gestalten verfestigte Prozess des „Veranderns“ selbst entgegentritt. In Wahrheit begegnen die „Verandernden“ darin also sich selbst bzw. ihren eigenen objektivierten „Abstraktionen“.366 Ebendies nötigt, im Durchschauen jener „Hypostasierungen“, solcherart dazu, deren konkrete „Andersheit“ – d. i. als Flüchtlinge, Verelendete, Erniedrigte, Marginalisierte, Ausgeschlossene – „dergestalt“ erst zu begreifen; andernfalls bliebe auch jene Forderung, „die Rechte der Menschheit herzustellen“, buchstäblich „abstrakt“ und entsprechend blass. Dies hätte wiederum zur unvermeidlichen Folge, dass 365 Demzufolge bestünde eine besondere Aufgabe einer „Kritik der praktischen Vernunft“ bzw. einer „Metaphysik der Sitten“ nicht zuletzt in der Aufdeckung des „täuschenden Scheins“ falscher „Unmittelbarkeiten“ und der ihnen verdankten „Hypostasierungen“. Es wäre dies gewissermaßen analog zu jener „Täuschung“, die den regulativen Charakter der Ideen (als von uns gezogene „Richtungslinien“) vergisst und sich so eben darüber täuscht, „als wenn diese Richtungslinien von einem Gegenstande selbst … ausgeschossen wären (so wie die Objekte hinter der Spiegelfläche gesehen werden)“ (II 565); (ich folge hier der AkademieAusgabe, weil es in der Weischedel-Ausgabe hier irreführenderweise heißt: „… von einem Gegenstande … ausgeschlossen wären“). Es impliziert jene „Aufmerksamkeit“ somit auch die besondere Sensibilität dafür, ob diese „Veranderten“ gleichsam aus dem politisch-rechtlichen Wahrnehmungshorizont herausfallen. 366 Dass Kant „Abstraktion“ immer wieder auch mit „Absonderung“ übersetzt, ist dabei beachtenswert. Die von Kant durchaus geteilte Zumutung, „sich mit den Augen der anderen zu betrachten“ (J. Habermas), impliziert in der Folge selbst die Forderung, diese „Anderen“ als „Veranderte“ wahrzunehmen und die in solcher „Veranderung“ faktisch vollzogene (obgleich „vergessene“) „Absonderung“ mitzureflektieren. – Unter den Vorzeichen der (selbst in der „Geschichte der reinen Vernunft“ entwickelten) Idee einer „moralischen Gemeinschaft“ impliziert die „Einbeziehung der Anderen“ (als Bedingung dafür) stets den aufmerksamen Blick für jene vorgängigen „Veranderungen“; dies ist auch die Voraussetzung für jenen von Habermas betonten „für Differenzen hoch empfindlichen Universalismus“: „Der gleiche Respekt für jedermann erstreckt sich nicht auf Gleichartige, sondern auf die Person des Anderen oder der Anderen in ihrer Andersartigkeit. Und das solidarische Einstehen für den Anderen als einem von uns bezieht sich auf das flexible ‚Wir‘ einer Gemeinschaft, die allem Substanziellen widerstrebt und ihre porösen Grenzen immer weiter hinausschiebt. Diese moralische Gemeinschaft konstituiert sich allen über die negative Idee der Abschaffung von Diskriminierung und Leid sowie der Einbeziehung der – und des – Marginalisierten in eine wechselseitige Rücksichtnahme. Diese konstruktiv entworfene Gemeinschaft ist kein Kollektiv, das uniformierte Angehörige zur Affirmation der je eigenen Art nötigen würde. Einbeziehung heißt hier nicht Einschließen ins Eigene und Abschließen gegens Andere. Die ‚Einbeziehung des Anderen‘ besagt vielmehr, dass die Grenzen der Gemeinschaft für alle offen sind – auch und gerade für diejenigen, die füreinander Fremde sind und Fremde bleiben wollen“ (Habermas 1996, 7f ).
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der in dieser Forderung enthaltene provozierende Anspruch noch verdeckt wäre. Solche Rücksicht macht doch auch diejenigen Anfragen allererst vernehmbar, welche die „Anderen“, in Auflösung dieses „Blendwerkes“, als die von uns „Veranderten“ an uns selbst stellen – eine Voraussetzung, ohne die auch das Vorhaben, „die Rechte der Menschheit herzustellen“ illusorisch bleiben müsste und übrigens auch die im moralischen Imperativ eingeforderte „Selbstzweckhaftigkeit“ der Person verfehlt wäre, zumal sie sich so in Wahrheit in bloße „Abstraktionen“ verflüchtigte und eben darin geradewegs das NichtAbsehen von der eigenen Egozentrik offenbart. Nicht zuletzt gegenüber undurchschauten „alteritäts“-fixierten Unmittelbarkeits-Phantasien und – ethisch „chic“ – entsprechenden Attitüden367 bleibt es auch hier die unverzichtbare Aufgabe jener „selbstreflexiven“ „Aufmerksamkeit“ als des „Bestreben(s), sich seiner Vorstellungen bewusst zu werden“, die im Dienste einer „Kritik der rechtlichpolitischen Vernunft“, gegen solchen vermittlungs-„vergessenen“ „Schein“ und entsprechende „Trugbilder“ („idola“) ihren Einspruch erhebt und mit dem Aufweis eines solchen „natürlichen Scheins“ erneut den vorrangigen gerechtigkeits-orientierten Anspruch der „Rechtspflichten“ zur Geltung bringt368 – nicht zuletzt gegenüber „agapistisch“ getönter Gedankenlosigkeit und alteritäts-beschwörender Einäugigkeit sowie daraus gespeisten Beteuerungen,369 die gleichwohl notwendige anerkennungs-relevante Differenzierungen 367 Diese Bemerkung richtet sich wohlgemerkt keineswegs gegen Levinas selbst (obgleich auch die Vermittlung der gerechtigkeits-orientierten Dimension des „Politischen“ wichtige Fragen im Kontext seines Denkens aufwirft), sondern eher gegen einen mitunter zu beobachtenden Umgang mit seinen philosophischen Leitmotiven, der sich recht ungeniert mit einer nicht selten rhetorisch aufgezäumten Ausbeutung derselben begnügt, jedoch auf die kritische Aneignung und Auseinandersetzung mit ihnen weithin verzichtet. 368 Freilich wusste auch Kant darum (Refl. 6601, AA XIX, 104): „Wir haben einen größeren Trieb, geachtet als geliebt zu werden, – aber einen größeren zur Liebe gegen andere als zur Achtung. Denn in der Liebe gegen andere empfindet er seinen eignen Vorzug, in der Achtung vor andere schränkt er diesen ein.“ „Daher vor aller Anpreisung der Regeln der Gütigkeit zuerst der Nacken unter das Joch der schuldigen Pflichten muss gebeugt werden. Der ist immer ein Rebell gegen das göttliche Regiment, der es sich ausnimmt, als ein Freigeist nach bloßem eigenen Gutdünken zu tun, was Menschen von ihm fordern können“ (Refl. 6736, in: AA XIX, 145). – Kaum etwas anderes hat bekanntlich Kants Verachtung und seinen bissigen Spott in vergleichbarer Weise und Schärfe auf sich gezogen wie die einschlägige arrogante „moralische Schwärmerei“ jener sei es spirituell, sei es mystagogisch inspirierten „Lieblinge Gottes“ und die Inszenierungen jener teilnehmend gestimmten „schönen Seelen“, die „mit stolzer Einbildung über den Gedanken von Pflicht“ hinwegzusetzen sich ermächtigt fühlen. Gegen solche „Seelenerhebungen“ hat Kant schon in der „Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft“ in der ihm eigenen unbestechlichen Nüchternheit zu bedenken gegeben: „Man darf nur ein wenig nachsinnen, man wird immer eine Schuld finden, die er sich irgend wodurch in Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen hat (sollte es auch nur die sein, dass man, durch die Ungleichheit der Menschen in der bürgerlichen Verfassung, Vorteile genießt, um deren willen andere desto mehr entbehren müssen), um durch die eigenliebige Einbildung des Verdienstlichen den Gedanken an Pflicht nicht zu verdrängen“ (IV 292, Anm.). 369 Vgl. auch Kants nüchterne Notiz gegen fehlgeleitete „agapistische“ Anwandlungen in pädagogischem Kontext: „Geistliche fehlen sehr oft darin, dass sie die Werke des Wohltuns als etwas Verdienstliches vorstellen. Ohne daran zu denken, dass wir in Rücksicht auf Gott nie mehr, als unsere Schuldigkeit tun können, so ist es auch nur unsere Pflicht, dem Armen Gutes zu tun. Denn die Ungleichheit des Wohlstandes der Menschen kommt doch nur von gelegentlichen Umständen her. Besitze ich also ein Vermögen, so habe ich es auch nur dem Ergreifen dieser Umstände, das entweder mir selbst oder meinem Vorgänger geglückt ist, zu danken, und die Rücksicht auf das Ganze bleibt doch immer dieselbe“ (VI 752). Gegenüber einer „Vermessenheit“ von besonderer Art bleibt es dabei: „Demnach müssen alle Moralisten
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in politischer, rechtlicher und moralischer Hinsicht allzu leicht aus den Augen verlieren bzw. diese nivellieren. Deshalb impliziert diese Aufmerksamkeit ebenso das sensible Bewusstsein darüber, diese „Anderen“ (und deren geforderte „Einbeziehung“) zunächst einmal als die „durch und von uns“ „Abgesonderten“ – und solcherart erst „Veranderten“, die sich als solche aber auch wissen! – in einem buchstäblichen Sinne wahrzunehmen und das heißt: sie als solche anzuerkennen. Schon deshalb muss diese Forderung, „die Rechte der Menschheit her[zu]stellen“, zunächst darauf bzw. auf die befreiende Aufhebung dieses „naturwüchsigen Scheins“ der besonderen Art bezogen werden. Wenn erst solches Aufmerken jene „Anderen“ als die von uns „Veranderten“ – d. h. für sich „ohne uns“, aber dies doch durch uns – wahrnehmbar und ihre „Einbeziehung“ zur unabweislichen Forderung macht, dann verdankt sich der Auflösung dieses „Scheins“ wohl auch erst das geschärfte Bewusstsein davon, dass „im Zustand der Gesellschaft … der Mangel sogleich die Form eines Unrechts“ annimmt370 – eine Einsicht, die Kant, wie sich zeigen wird, keineswegs fremd geblieben ist. Eine an der Aufdeckung jenes „falschen Scheins“ (und daraus folgenden „Erschleichungen“) orientierte „Kritik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche“ wäre demnach – eine von Kant her gegen Levinas zu erinnernde? – auch die unumgängliche Voraussetzung für jene Forderung, „die Rechte der Menschheit herzustellen“, die damit erneut dem Vorrang der Rechtspflichten Rechnung tragen will. Erst recht setzen alle weitreichenden Ansprüche der „Tugendpflichten“ vorgängig die Sensibilität für jene „Veranderungen“ voraus, weil andernfalls der vorrangige Anspruch der „Rechtspflichten“ in Frage gestellt und dementsprechend „paternalistische“ Fehlformen und auch supererogatorisch getönte Kurzschlüsse unvermeidlich wären. Die Besinnung auf den vorrangigen Anspruch der „Rechtspflichten“ wäre so wohl der notwendige erste Schritt aus jenem eigentümlichen alteritäts-beschwörenden „Vergessen-Sein“ und ist mithin die Voraussetzung dafür, um den „Anderen“ als Anderen wahrzunehmen und dessen „Andersheit“ auch gerecht zu werden. Demzufolge gewinnt jene Charakterisierung der „Aufmerksamkeit“ in solchem Kontext nicht nur einen moralisch gehaltvollen, sondern gleichermaßen einen eminent provozierenden Sinn; ohne sie bliebe die Sicherung des mühsam erreichten zivilisatorischen Zustands eines behaglich-„dezenten Überlebens“ (M. Benedikt) sowie der daran ihr Maß nehmenden Imperative gleichsam das letzte Wort in der „Geschichte der Gattung“, die derart in einem – sei es auch kollektiven – „moralischen Solipsismus“ verharrte. Deshalb zeichnet es geradezu jene (auch diesbezüglich) von psychologischen Engführungen zu befreiende und für praktische Vernunft in den Dienst genommene „Aufmerksamkeit“ einer wirklich „teilnehmenden Vernunft“371 und geschärfter „Urteilskraft“ aus, dass moralische und Lehrer darauf sehen, dass sie die Handlungen der Gütigkeit so viel als möglich als Handlungen der Schuldigkeit ausgeben und sie aufs Recht reduzieren. Man muss dem Menschen nicht schmeicheln, wenn er Handlungen der Gütigkeit ausgeübt, denn sonst blähet er sein Herz von Großmut auf und will, dass alle seine Handlungen alsdenn Handlungen der Gütigkeit sein sollen“ (Stark 2004, 284). 370 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 244 Zusatz. 371 In diesem kantischen Bezug auf die „teilnehmende Vernunft“ ist zunächst die Aufforderung zur Überwindung des „Solipsism“ und des „Eigendünkels“ bestimmend, vgl. z. B. Refl. 2147, AA XVI 252; eine nicht „teilnehmende Vernunft“ wäre demzufolge ein Widerspruch in sich, nämlich „moralische Borniertheit“.
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„Selbstbestimmung“ gerade für die „Vermitteltheit“ dieser „Andersheit“ sensibel bleibt,372 d. h. derart suggerierte „Unmittelbarkeiten“ eben als solche ausweist, die sich entweder der Ignoranz oder einer besonderen Form teilnahmsloser Vergesslichkeit verdanken. Es liegt in diesem Problemkontext besonders nahe, jene beiläufige kantische Wendung: „Man sagt daher nicht, etwas abstrahieren (absondern), sondern von etwas, d. i. einer Bestimmung des Gegenstandes meiner Vorstellung, abstrahieren, wodurch diese die Allgemeinheit eines Begriffs erhält, und so in den Verstand aufgenommen wird“ (VI 412 f; v. Verf. hervorgehoben), nun noch in einem zweifachen Sinne zu präzisieren: Vornehmlich ist den in „moralisch-praktischen Verhältnissen“ stehenden „vernünftigen Weltwesen“ ein „Absehen von sich“ zugunsten jener von uns „Abstrahierten“ – d. h. eben: der von uns „Abgesonderten“ und exkludierend „Veranderten“ – in „teilnehmender Vernunft“ und sensibilisierter „Urteilskraft“ zugemutet; nur so werden diese, entgegen einem unbedachten Rekurs auf bzw. einer inflationären Strapazierung von „Alterität“, gleichsam als die „Anderen unserer selbst“ – d. h. weder „wir“ noch „ihr“, sondern allein als „sie“! – jenseits der vielfach beschworenen „Unmittelbarkeiten“ wahrgenommen und dürfen, im Durchschauen einer solchen doppeldeutigen „Selbstbezüglichkeit“, als solche „Andere“ auch benannt werden. Wenn diese „Anderen“ als solche erst einmal als „Veranderte“ wahrgenommen und anerkannt werden müssen, dann ist es doch der darin liegende Anspruch, der so noch einmal auf besondere Weise für den von Kant nüchternerweise geforderten Primat der „Rechtspflichten“ und für die daran geknüpften Gerechtigkeits-Perspektiven sensibilisiert, die auch erst dem besonderen Charakter dieser wahren „Fremdheit“ gerecht zu werden vermag. Dann wäre der jener kantischen Version des Terenz’schen „Ich bin ein Mensch. Alles, was Menschen widerfährt, das trifft auch mich“ immanente Anspruch wohl auch in solcher Zuschärfung wahrzunehmen. Mithin bleibt die nüchterne und unbestechliche Erinnerung des „Moralisten“ Kant: die „Pflicht, mit andern wegen ihrer Unterdrückung gemeinschaftliche Sache zu machen, ist mehr als bloß gütige Pflicht“, in diesem Kontext ebenso ein besonderer Stachel, der zweifellos auch für die aus solchem „Schein“ resultierenden Konsequenzen sensibilisiert: „Wir haben demnach Instinkt zur Gütigkeit, aber nicht zur Gerechtigkeit. Nach diesem Triebe erbarmen sich Menschen über andere und erzeigen demjenigen Wohltaten, dem sie es vorher entrissen, obgleich sie sich keiner Ungerechtigkeit bewusst sind, das kommt daher, weil sie es nicht recht untersuchen. Man kann mit Anteil haben an der allgemeinen Ungerechtigkeit, wenn man auch keinem nach den bürgerlichen Gesetzen und Einrichtungen ein Unrecht tut. Wenn man nun einem Elenden eine Wohltat erzeiget, so 372 Die Kehrseite davon ist freilich: Darin ist – jedenfalls „ex negativo“ – die Forderung enthalten, dass die Vergewisserung und politisch-praktische Bewährung der eigenen „Identität“ („Wer sind wir?“) nicht auf die dem Befund „Wir sind nicht die Anderen“ verdankte Selbstbehauptung schrumpfen kann; vielmehr wäre derart berücksichtigt, dass in der „moralischen Gemeinschaft“ alle füreinander „Fremde“ und gleichermaßen „Angehörige“ sind (vgl. dazu Wingert 1991), demzufolge „Identität“ auch nur als „Identifikation“ gedacht werden kann. Dass auch manche Äußerungen Kants (über die „Rassen“, „Neger“ und „Indianer“) unter diesen Vorzeichen als höchst problematisch erscheinen müssen, ja geradezu irritieren, sei hier nur beiläufig angemerkt; sie indizieren wohl ein auch diesbezüglich offenbar zu beachtendes Vermittlungsproblem zwischen den universalistischen Prinzipien der Moralphilosophie und der „Urteilskraft“. S. dazu auch die Refl. 1520 (AA XV, 875 ff ).
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hat man ihm nichts umsonst gegeben, sondern man hat ihm das gegeben, was man ihm durch eine allgemeine Ungerechtigkeit hat entziehen helfen. Denn wenn keiner die Güter des Lebens mehr an sich ziehen möchte, als der andre, so wären keine Reiche, aber auch keine Arme. Demnach sind selbst die Handlungen der Gütigkeit Handlungen der Pflicht und Schuldigkeit, die aus dem Recht anderer entspringen“373 – was wohl erst recht nach globalen Maßstäben gilt. Darin artikuliert sich wohl Kants besondere Sensibilität dafür, dass die im Namen der das „bloß Allgemeine“ durchbrechenden Nächstenliebe erhobenen Ansprüche nicht die an der Idee der Gerechtigkeit und Gleichheit orientierten Forderungen überlagern bzw. relativieren dürfen, zumal sich allzu oft vermeintliche „Handlungen der Gütigkeit“ näher betrachtet ohnehin eben als solche „Handlungen der Pflicht und Schuldigkeit“ erweisen, „die aus dem Recht anderer entspringen“. Der angeführte Passus impliziert Kants Einsicht, dass diese „Anderen“ solche eben durch unseren Bezug auf sie sind; seine Insistenz auf „Pflicht und Schuldigkeit, die aus dem Recht anderer entspringen“, verdankt sich in besonderer Weise jener Aufmerksamkeit als dem „Bestreben, sich seiner Vorstellungen bewusst zu werden“ (VI 412). Indes, solche „Aufmerksamkeit“ impliziert noch einen anderen bedeutsamen Aspekt, der nicht vergessen werden darf: Jene von Kant benannte „Pflicht: nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen das Notwendigste abgeht, umzugehen, sondern sie aufzusuchen“ (IV 594), sowie sein Hinweis darauf, dass „ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“ (VI 214), schärfen, in unterschiedlicher Akzentuierung, nicht zuletzt das Bewusstsein für eine besondere Facette der „Kontingenz“: Es ist die „teilnehmender Vernunft“ geschuldete Sensibilität für die radikale Kontingenz der eigenen Lebensumstände im Unterschied zu denjenigen anderer „vernünftiger Weltwesen“, die dazu verurteilt sind, ihr Leben unter Umständen führen zu müssen, das sich eher
373 AA XXVII, 416 (Vorlesungen Moralphilosophie Collins aus dem Jahr 1784/85). Eben solche (gegenüber einer andernfalls dominanten, quasi-„naturwüchsigen“ unvermeidlichen „Einäugigkeit“ und Ignoranz besonderer Art) geforderte „Untersuchung“ – die auch für jene lediglich „faktische“ Partizipation an der „allgemeinen Ungerechtigkeit“ sensibilisiert – verdankt sich freilich jener „Aufmerksamkeit“ als dem „Bestreben, sich seiner Vorstellungen bewusst zu werden“ (VI 412), um so auch dieser nicht bewussten (d. h. schonenden) „allgemeinen Ungerechtigkeit“. Die ihn immer schon zum (geschickten) „Mitspieler im großen Spiel des Lebens“ (Refl. 1502a, in: AA XV, 799 f ) ihre Unschuld zu nehmen. – In diesem Kontext des „Naturrechts“ als „Hospitalitätsrecht“ verwies Kant bekanntlich auch auf das Recht „des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden zu müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“ (VI 214). Dieses von Kant als „Hospitalitätsrecht“ verstandene „Recht jedes Menschen“ wäre freilich im Blick auf gegenwärtige kosmopolitische Herausforderungen einer „globalisierten Welt“ weiterzuentwickeln – nicht zuletzt, weil jenes von Kant so bezeichnete „Recht jedes Menschen“ sich bei ihm auf ein „Besuchsrecht“ beschränkt. Im Anschluss an den angeführten Passus heißt es sodann: „Vergleicht man hiemit das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit“. S. dazu die (bes. in kritischem Rekurs auf Arendt und Derrida vorgenommenen) Überlegungen von B. Liebsch 2008, bes. 188 f. – Gerade auch in diesem Kontext bleibt zu bedenken, dass in einer entgrenzten „moralischen Gemeinschaft“ deren Mitglieder stets zugleich füreinander „Fremde“ und „Angehörige“ sind und bleiben (vgl. dazu L. Wingert 1991, 89); auch dies legt es nahe, diese als universal gedachte „moralische Gemeinschaft“ und die Idee der „Solidarität“ näher zu differenzieren.
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auf die fortwährende not-wendige Herausforderung reduziert, ihr Dasein zu fristen. Solche Aufmerksamkeit dafür nimmt in besonderer diejenigen in die Pflicht, die sich in der wechselseitigen Vergewisserung bzw. in dem Zuruf: „Heil uns, wir sind! und der Schöpfer hat an uns Wohlgefallen“ (I 594) nur allzu gern sich selbst genügen – und genießen. Kant hatte zweifellos ein untrügliches Gespür dafür: Gerade jene „Handlungen aus Gütigkeit“ bleiben in ihrer beanspruchten Selbstlosigkeit der besonderen Aufmerksamkeit und Sensibilität dafür ausgesetzt, ob und wie weit angebliche Anerkennungsverhältnisse sich nicht lediglich als subtile Formen der Exklusion einer zum „Wir gedehnten Egozentrik“ und ihrer Selbstvergewisserung verdanken und eine „Dezentrierung“ derselben in ebenfalls unverzichtbaren Lernprozessen verlangt. Der unbestechlichen Nüchternheit und dem Feingespür Kants blieb nicht verborgen, wie leicht und oft die stolze Selbstgewissheit über die vermeintlichen eigenen moralischen „Mehrleistungen“ mit einem faktischen Mangel an Aufmerksamkeit für (geschuldete) Minderleistungen einhergeht, die, obgleich dies den seelischen Haushalt des „homo phaenomenon“ stabilisieren und beleben mag, der moralischen „Ordnung der Zwecke“ geradewegs widerspricht. Seine erwähnte Mahnung: „Wir haben demnach Instinkt zur Gütigkeit, aber nicht zur Gerechtigkeit“ und jene geforderte Sensibilität für die „Pflicht und Schuldigkeit, die aus dem Recht anderer entspringen“, sowie die daran geknüpfte Forderung, „die Rechte der Menschheit herzustellen“, implizieren demzufolge geradewegs die Aufforderung, in bzw. aus jener „Veranderung der Anderen“ – wie in einem vorgehaltenen Spiegel – „uns selbst“ zu begreifen und den suggestiven Charakter jener alteritäts-getönten Unmittelbarkeits-Erfahrungen zu durchschauen und zu überwinden. Dies bestätigt erneut, dass nach Kant jene „Aufmerksamkeit“ vornehmlich durch besondere Wachsamkeit für das geschuldete Gerechte, in Abwehr allen supererogatorischen Überschwangs, ausgezeichnet ist. Ebenso zeigt sich, dass auch die im Sinne der „praktisch-revolutionierten Denkungsart“ verwandelte „Intentionalität“, in nüchterner Abwehr eines drohenden „Überschwanges“ einer vermeintlich „höheren Sittlichkeit“, immer noch auf die Prinzipien der „rechtlich-politischen“ Freiheit rückverwiesen bleibt und in der solcherart gebotenen Orientierung an einer nicht verkürzten „Idee der Menschheit“ wohl auch gelten muss: „Ohne sie kein Wir“. Die Idee der umfassenden „solidarischen Bundesgenossenschaft“ und deren rechtliche Verankerung ist lediglich die Kehrseite jener Sensibilität, die sich der Durchbrechung jenes bloßen „Scheins von Alterität“ verdankt. Jene Aufmerksamkeit richtet sich deshalb nicht zuletzt gegen eine mitunter recht unvermittelte philosophischtheologische „Alteritäts“-Rhetorik, die hingegen um die Priorität der Rechtspflichten, d. h. um die Orientierung an dem „Recht Anderer“, nicht selten erstaunlich unbekümmert bleibt. Aufs engste verbunden (bzw. dadurch „bedingt“) ist ein solcher (in der „praktischen Philosophie“ aufzudeckender) quasi-„natürlicher Schein“ also mit einem merkwürdigen „Überschwang“ praktischer Vernunft, auf dessen „Blendwerk“ die Einebnung des Unterschieds bzw. der Priorität der Rechts- gegenüber den Tugendpflichten, ebenso die in „moralischer Schwärmerei“ begründete Verkennung der dem Menschen angemessenen „sittlichen Stufe“ (IV 207) zurückzuführen ist. Dass die praktische Idee des „Reichs der Zwecke“ darauf zielt, „was durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann“ (IV 70 Anm.), erweist sich in diesem Kontext als besonders bedeutsam.
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4.3. Kants komplementäre Bestimmung der „Liebe“ als „unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur“ Auch im Sinne einer der „Bestimmung des Menschen“ angemessenen „sittlichen Stufe“ (IV 207) bleibt es beachtenswert, dass Kant in dem kleinen (späten) Aufsatz über „Das Ende aller Dinge“ – in genauer Abgrenzung von den „Tugendpflichten“ als den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“374 – die Liebe „als freie Aufnahme des Willens eines anderen unter seine Maximen“ charakterisierte. Wohlgemerkt: Diese komplementäre Perspektive zielt auf die Form der „Pflichtbefolgung“, nicht auf die „Pflichtvorstellung“ ab; während Letztere – als inhaltlicher Aspekt – in jenen „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, angesprochen ist, steht im erstgenannten Fall die „Triebfeder“ (bzw. die der „Bestimmung des Menschen“ allein angemessene „sittliche Stufe“) im Vordergrund. Denn „wenn es nicht bloß auf Pflichtvorstellung, sondern auch auf Pflichtbefolgung ankommt, wenn man nach dem subjektiven Grunde der Handlungen fragt, aus welchem, wenn man ihn voraussetzen darf, am ehesten zu erwarten ist, was der Mensch tun werde, nicht bloß nach dem objektiven, was er tun soll: so ist doch die Liebe, als freie [!] Aufnahme des Willens eines anderen unter seine Maximen, ein unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur (zu dem, was die Vernunft durchs Gesetz vorschreibt, genötigt [!] werden zu müssen): denn was einer nicht gern tut, das tut er so kärglich, auch wohl mit sophistischen Ausflüchten vom Gebot der Pflicht, dass auf diese, als Triebfeder, ohne den Beitritt jener, nicht sehr viel zu rechnen sein möchte“ (VI 188). Zur Vermeidung von Einseitigkeiten bleibt also zu berücksichtigen, dass Kants Bestimmung der Liebe als „Erfüllung der Moralität“ (dem „Inhalt nach“, d. i. im Sinne der gemäß den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, verstandenen „Liebespflichten“) von dem (der „Form nach“) auf die „Triebfeder“ zu beziehenden „unentbehrlichen Ergänzungsstück“ unterschieden bleibt. Indes, dieser „Triebfeder“-Aspekt verbindet sich so mit dem inhaltlichen Aspekt der „Vereinigung“, der in jener Pflicht zum Ausdruck kommt, „anderer ihre Zwecke … zu den meinen zu machen“; beide Aspekte bleiben jedoch noch einmal von jener besonderen Einheit zu unterscheiden, die Kant zuletzt mit seiner Kennzeichnung der „moralischen Freundschaft“ als der „innigsten Vereinigung der Liebe mit der Achtung“ (IV 608) vor Augen hatte.375 Mit jenem „Ergänzungsstück“, welches also auf die „Triebfeder, nicht auf die Norm selbst“ und somit gewissermaßen auf die „ethische Moralität“ abzielt, brachte Kant – ohne Rückfall auf den bzw. Preisgabe des Status „moralischer Autonomie“ – jenes komplementäre („motivationale“) Moment 374 Mit Recht betont Simon: „Die Tugendpflicht, sich fremde Glückseligkeit zum Zweck zu setzen, ist der Form ihrer Begründung nach also nicht dasselbe wie die Liebe, die Kant über alle Rechts- und Tugendpflichten hinaus in ihrem Dasein als ein ‚unentbehrliches Ergänzungsstück‘ zur ‚Unvollkommenheit der menschlichen Natur‘ versteht. Diese Liebe kann nicht Pflicht sein“ (Simon 2003, 426 f ). Eben in dieser Hinsicht ist der kantische „Liebes“-Begriff zu differenzieren. 375 Bekanntlich ist der „Beschluss der Elementarlehre“ der Tugendlehre „der inniglichen Vereinigung der Liebe mit der Achtung in der Freundschaft“ gewidmet; obgleich deren „Ideal“ auch „nicht das ganze Glück des Lebens bewirkt“, so war auch Kant zufolge, wohl ähnlich wie Aristoteles und Cicero, ein Leben ohne Freundschaft „arm und trostlos“.
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(von Schillers Kritik inspiriert?) zur Sprache, das sich in der Folge auch für die dem Niveau dieser Tugendpflicht adäquate Idee der „moralischen Vollkommenheit“ als unabdingbar erweist.376 Somit muss die von Kant als „Umwandlung der Denkungsart“ charakterisierte „Wiedergeburt“ („Änderung des Herzens“) aus dem Blickwinkel dieses neu qualifizierten Freiheitsstandes wohl ebenfalls in einem neuen Licht erscheinen. Ebenso bleibt darauf zu achten, dass das in der „Pflichtgemäßheit“ artikulierte Moment der „Unbedingtheit“ (als „Form der Handlungen“) durch das so bestimmte „unentbehrliche Ergänzungsstück“ ja keineswegs revidiert wird, sondern darin durchaus „aufgehoben“ bleibt – eine kantische Lesart der traditionellen Kennzeichnung der Liebe als „forma virtuum“? Daraus wird erkennbar: Die „perfectio noumenon“377 in praktischer Hinsicht vollendet sich letztendlich erst – als Idee der „Heiligkeit“ – in der Einheit jenes „unentbehrlichen Ergänzungsstückes“ und des gebotenen „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“. Zielt jenes „Ergänzungsstück“ auf die Überwindung des Zwiespalts von Pflicht und Neigung („Sinnlichkeit“ und „Vernunft“) ab, so hat sie gleichwohl, auf die „Materie“ gesehen, an den zu befördernden „Zwecken der anderen“, die, „so viel möglich, meine Zwecke sein“ sollen (IV 63), ihr spezifisches Maß; der Rücksichtnahme darauf kommt sonach ebenso jene Aufgabe bzw. Stelle zu, die bezüglich des „moralischen Imperativs“ die „Typik der reinen praktischen Urteilskraft“ innehatte. Zweifellos hat auch Kant, bekanntlich unter dem Eindruck der mit diesen Fragen verbundenen berühmten Kritik Schillers an dem angeblichen Dualismus von „Pflicht und Neigung“, die Einheit des unbedingten Anspruchs der sittlichen Pflicht und der Neigung als ein „sittliches Ideal“ anerkannt, das als ein anzustrebendes (d. i. „gesolltes“) auch wirklich ist.378 Im nüchternen Blick auf die „conditio humana“ würdigte Kant dies als 376 Auch G. Simmel vertrat das bemerkenswerte Fehlurteil, dass für den durch Verarmung und Verengung geprägten kantischen „Moralismus“ „der ganze Bezirk des Menschlichen, den die Liebe bestimmt,
außerhalb seines Wertsystems“ steht, „und nicht nur als ein solcher von absoluter Bedeutung, ganz jenseits des Ethischen, sondern auch nach den Verwebungen, Konflikten, gegenseitigen Steigerungen, die er mit dem Ethischen eingeht
Für Kant aber wäre Liebe ein subjektiver, womöglich ‚sinnlicher‘ Zustand, etwas Egozentrisches, Eudämonistisches, das sozusagen in ernsthaften Wertfragen gar nicht in Betracht kommt. Dass es so etwas wie praktische, wie aufbauende Liebe gibt, die mit dem Glückstrieb nicht das geringste zu tun hat, aber auch ihre Kräfte keineswegs aus sittlichen Imperativen gewinnt – dies und anderes von gleichem Gewicht ist ihm so verschlossen, dass man sich manchmal fragen muss, in welcher seelisch dürftigen Welt dieser Geistesriese eigentlich gelebt hat.“ (Simmel 1997, 158) Indes, eine solche „seelisch dürftige Welt“ wäre wohl so manchen „mystagogischen Kraftmännern“ und sich spirituell „bevorzugt“ dünkenden „Schwärmern“ als „medicina mentis“ nur zu wünschen. 377 Vgl. dazu Heimsoeth 1966a. 378 Insofern hätte Kant Schiller ja auch zugestimmt: „Bis hieher glaube ich mit den Rigoristen der Moral vollkommen einstimmig zu sein; aber ich hoffe dadurch noch nicht zum Latitudinarier zu werden, dass ich die Ansprüche der Sinnlichkeit, die im Felde der reinen Vernunft und bei der moralischen Gesetzgebung völlig zurückgewiesen sind, im Felde der Erscheinung und bei der wirklichen Ausübung der Sittenpflicht noch zu behaupten versuche“ (F. Schiller 1922, VII 129 f ). „Der reine Geist kann nur lieben, nicht achten“ (ebd. 154): Das mag ja so sein – so ungefähr könnte Kants Antwort auf diesen in „Anmut und Würde“ erhobenen Anspruch Schillers gelautet haben –, ebendies ist jedoch nicht die „sittliche Stufe“ des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“. Darf dies doch Kants Mahnung nicht vergessen lassen, dass wir „unter einer Disziplin der Vernunft“ stehen, weshalb, gegen allen moralischen Überschwang, „Pflicht und Schuldigkeit … die Benennungen“ bleiben, „die wir allein unserem Verhältnisse zum moralischen Gesetze geben müssen“. Diese Gestalt einer „Positivität“ ist eben „unserm Standpunkte, unter vernünftigen
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jenes „Ideal“, das sich jedoch, ohne moralischen Überschwang bzw. „Schwärmerei“, niemals über den auf „Selbstzwang“ beruhenden Nötigungscharakter – „d. i. Verbindlichkeit“ (IV 203) – des moralischen Gesetzes (des „unbedingten Sollens“) hinwegsetzen kann.379 Obgleich Liebe in Ansehung der Pflichtbefolgung, d. h. mit Rücksicht auf den „subjektiven Grund der Handlungen“ (VI 187), als „unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur“ fungiert, kann sie die „Achtung“ doch nicht einfachhin ersetzen (vgl. IV 203 ff ) – ungeachtet des fortwährenden Bemühens, dass „das Gute auch lieb gewonnen, d. i. es in seine Maxime aufgenommen“ wird (IV 670, Anm.). Freilich wies auch Kant in der „ethischen Asketik“ der Tugendlehre (IV 625) darauf hin, dass die „Regeln der Übung in der Tugend … auf die zwei Gemütsstimmungen“ hinausgehen: „wackeren und fröhlichen Gemüts … in Befolgung ihrer Pflichten zu sein“, weil – als „Ideal“ – „seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister … und über sich selbst Herr zu sein“ (IV 539) noch nicht als die höchste Stufe der Humanität gelten kann (vgl. IV 622).380 Insofern bleibt es also dabei: „Das höchste, für Menschen nie völlig erreichbare Ziel der moralischen Vollkommenheit endlicher Geschöpfe ist aber die Liebe des Gesetzes“ (IV 813). Dies wäre wohl auch Kants Antwort auf Schillers (gegenüber Goethe geäußerten) Einwand gewesen: „Ich finde in der christlichen Religion virtualiter die Anlage Wesen, als Menschen“, durchaus angemessen (ebd.), auch wenn die „Geneigtheit zum Guten“ erstrebenswertes Ziel bleiben mag. – Hölderlin hat dies wohl ähnlich wie Kant gesehen und indirekt gegen Schiller betont: „Es gibt eine Seite des empirischen Begehrungsvermögens, die Analogie dessen, was Natur heißt, die am auffallendsten ist, wo das Notwendige mit der Freiheit, das Bedingte mit dem Unbedingten, das Sinnliche mit dem Heiligen sich zu verbrüdern scheint, eine natürliche Unschuld, man möchte sagen eine Moralität des Instinkts, und die ihm gleichgestimmte Phantasie ist himmlisch. Aber dieser Naturzustand hängt als ein solcher auch von Naturursachen ab. Es ist ein bloßes [eben gleichsam noch grundsatz-vergessenes] Glück, so gestimmt zu sein“ (Hölderlin 1992, II 46). Hölderlins Bedenken verdanken sich vermutlich auch einer Erinnerung an Kants nüchterne Mahnung: „Nur nach bezwungenen Ungeheuern wird Herkules Musaget“ (IV 670, Anm.). Vgl. auch die nächste Anmerkung. Zum Verhältnis Kant – Schiller s. jetzt auch die einschlägigen instruktiven Abhandlungen von G. Geismann 2009. 379 Eine besonders scharfe diesbezügliche Kritik findet sich in Kants „zweiter Kritik“: „Es ist lauter moralische Schwärmerei und Steigerung des Eigendünkels, wozu man die Gemüter durch Aufmunterung zu Handlungen, als edler, erhabener und großmütiger, stimmt, dadurch man sie in den Wahn versetzt, als wäre es nicht Pflicht, d. i. Achtung fürs Gesetz, … was den Bestimmungsgrund ihrer Handlungen ausmachte“ (IV 207). 380 Wohl zu Recht vermutet Höffe (und wird darin m. E. auch schon durch Kants Antwort auf Schiller im „ersten Stück“ der „Religionsschrift“ bestätigt: IV 669 f, Anm.), „dass Schiller in seinem Distichon [„Gerne dien’ ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung. Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin“] nicht sieht, dass der Kantische Dualismus und Rigorismus sich auf der fundamentalethischen Ebene bewegt und dass er dort um der Reinheit der Moral willen unvermeidbar ist“ (Höffe 2006, 16). Dem von Höffe gezogenen Resümee ist wohl zuzustimmen: „Für Kant wäre die schöne Seele ein Ideal, also eine Idee von Vollkommenheit, sofern sie in einem Individuum existiert. Sein Beispiel ist der stoische Weise …, der aber nicht als eine reale Person zu verstehen ist, sondern als ein personalisiertes Ideal. Ihm sich mehr und mehr anzunähern, ist dem Menschen geboten, es jemals voll zu erreichen, aber grundsätzlich verwehrt“ (ebd. 19). Zur Prüfung der Stichhaltigkeit der an Schillers Einwänden orientierten – „philosophische Verwirrung, ja … Schaden“ stiftenden – Kant-Kritik s. auch die grundsätzliche Problememerörterung bei Geismann 2004, 237–250. Es gehört ebenso zu der dem Menschen angemessenen „sittlichen Stufe“, dass „von ihm gefordert werden“ kann, er solle tun, „was das Gesetz … ihm gebietet … Dass er es gern tue, nicht“ (Refl. 8105, AA XIX, 647).
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zu dem höchsten und edelsten, und die verschiedenen Erscheinungen derselben im Leben scheinen mir bloß deswegen so widrig und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses höchsten sind. Hält man sich an den eigentümlichen Charakterzug des Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderm als in der Aufhebung des Gesetzes oder des Kantischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will. Es ist also in seiner reinen Form Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen, und in diesem Sinn die einzige ästhetische Religion.“381 Eben diese „reine Form“, so Schiller, hätte Kant als der „sittlichen Stufe“ des Menschen nicht angemessen problematisiert.382 In der Tat: Kants Kennzeichnung der dem Menschen angemessenen „sittlichen Stufe“ zielt darauf ab, dass das „moralisch Gesollte“ mit unbestechlicher Konsequenz „aus Pflicht“ zu befolgen ist. Ob dann, in solcher gebotenen Bewährung, die Erfüllung der Vorschrift des moralischen Gesetzes letztlich ihren Last-Charakter verlieren mag, entzieht sich ihm zufolge jedoch der Verfügung des moralisch Handelnden. Dies fordert jedenfalls jene auch hier wiederum unentbehrliche Aufmerksamkeit dafür, ob nicht doch heimlicher „Dünkel“ und Stolz den Verbindlichkeitsanspruch unterwandern bzw. abschütteln; jedenfalls impliziert auch hier die Einsicht in das stets Fragmentarische moralischer Selbsterkenntnis das sensible Bewusstsein darüber, dass die Aufhebung des „moralischen Gebietens“ selbst nicht eine Angelegenheit des guten Vorsatzes sein kann – ungeachtet der auf ein „wackeres und fröhliches Gemüt“ hin ausgerichteten „Übung der Tugend“. Indes, die aus jenem von Kant geltend gemachten „unentbehrlichen Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur“ gespeiste Selbstbestimmung aus Freiheit transformiert somit auch jene „Moralität auf ihrer höchsten Stufe“ und macht desgleichen eine Neubestimmung des „a priori durch reine praktische Vernunft bestimmt gegebenen Zweck(s)“ (V 139) als des „notwendige(n) Objekt(s) der reinen praktischen Vernunft“ (IV 268) unumgänglich. Ein solches „unentbehrliche(s) Ergänzungsstück“ scheint jedenfalls jenen von ihm betonten Unterschied zwischen „juridischer“ und „ethischer Legalität“383, welche auch nicht bloß als „moralische Zierde“ anzusehen ist, 381 So Schiller in seinem Brief an Goethe v. 17.8.1795 (Schiller 1992 ff, 40). 382 In diesem Sinne hätte Kant wohl auch der Unterscheidung Schillers zugestimmt: „Achtung ist Zwang, Hochachtung schon ein freieres Gefühl. Aber das rührt von der Liebe her, die eine Ingredienz der Hochachtung ausmacht“ (Schiller, Über Anmut und Würde, zit. n. Henrich 1982a, 47). Freilich wusste auch Kant darum: „Moralisch notwendige, aber gern geschehende Handlungen sind moralisch frei … Aber so fern er nicht passive, sondern active obligiert ist, ist er frei externe. Interne ist er frei, wenn er nicht absolute necessitiert ist, sondern nur per gradum bonitatis“ (Refl. 7002, AA XIX, 223). 383 Ausdrücklich betonte Kant: „Die Legalität ist entweder juridisch oder ethisch“ (Refl. 6764, AA XIX, 154); vgl. dazu Höffe 2001, 111 ff. – Mag diese kantische Vorstellung einer „ethischen“ Legalität zunächst als nicht unproblematisch erscheinen, zumal die Ethik doch „auf Zwecke geht“, so bleibt doch das von Baum vorgebrachte Argument zu bedenken: „Gleichwohl ist die Kantische Lehre von der Moralität, als des Eigentümlichen der Ethik, gerade durch ihr Insistieren auf der Notwendigkeit einer Identität von pflichtgebietendem Gesetz und dem Motiv seiner Befolgung in Handlungen, um dem so motivierten Wollen und Handeln einen moralischen Wert zuschreiben zu können, nichts anderes als eine Lehre vom Kriterium der Beurteilung von Handlungen. Bekanntlich lehrt Kant, dass wir weder über uns selbst noch gar über andere Menschen ein sicheres Urteil hinsichtlich der Moralität von Handlungen fällen können. Es bleibt also nach Kant möglich, dass noch niemals eine Handlung geschah, deren allein zureichender Grund die
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wiederum zu relativieren, denn zweifellos verhält es sich doch so: „Strikt genommen ist freilich ethische Legalität nur in eins mit Moralität möglich. Im Falle einer Tugendpflicht ist ja unmittelbar nicht eine bestimmte Handlung, sondern das Haben eines bestimmten Zweckes geboten; und der gewollte Zweck ist je nach der die moralische Qualität des Wollens bestimmenden Triebfeder (Pflicht oder Neigung) ein anderer.“384 Folglich liegt das dieserart neu qualifizierte „Übersinnliche in uns“ als „Ideal der reinen praktischen Vernunft“ auch dem „Ideal des Gott wohlgefälligen Menschen“ zugrunde, weil erst darin das die „sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit“ formulierende „Gebot der Nächstenliebe“ (als das „Gesetz aller Gesetze“: IV 205) thematisch wird und dergestalt „das moralische Gesetz in Erfüllung geht“.385 In diesem Sinne verwies Kant ja nicht nur auf die „Pflicht der Wohltätigkeit“, „anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein“ (IV 589), sondern ebenso – vermutlich in einer Reminiszenz und doch in kritischer Anknüpfung an Leibnizens Bestimmung der Liebe als der durchaus behaglichen „Freude am Glück eines anderen“386 – auf das „Wohlwollen“ als „Vergnügen an der zuvor erkannte Gesetzmäßigkeit ihrer Maxime und die moralische Unmöglichkeit ihres Gegenteils war, so dass bisher nur solche Handlungen vollzogen wurden, die bloße moralische Legalität hatten. […] Wenn also die Maxime der Wohltätigkeit nicht das Gesetz der Allgemeingültigkeit selbst mit enthält, so hat die wohltätige Handlung bloß ethische Legalität. Ihr Motiv ist ja nicht die Vorstellung des Gesetzes selbst. Gerade indem Kant die Moralität als die Wirksamkeit des Sittengesetzes selbst definierte, hat er einen neuen Begriff von Tugend und ethischer Pflichterfüllung geschaffen, der nach seiner Selbstinterpretation nur mit den Heiligkeitsforderungen des Christentums vergleichbar ist“ (Baum 2007, 225 f ). 384 Geismann 2000, 444 Anm. 35. 385 Die Forderung bezieht sich demzufolge zunächst auf den gebotenen „Inhalt“, den Kant eben als das christliche Gebot der Nächstenliebe bestimmt, „anderer ihre Zwecke zu den meinen zu machen“; ein anderer Aspekt dieses „In-Erfüllung-Gehens“ des Gesetzes zielt hingegen auf die „Triebfeder“ ab, d. h. die Liebe eben als ein „unentbehrliches Ergänzungsstück des moralischen Gesetzes“ ausweist, das freilich „nicht geboten werden kann“. – Freilich, seine Bestimmung der Menschenliebe: „Anderen Menschen nach unserem Vermögen wohlzutun ist Pflicht, man mag sie lieben oder nicht“ (IV 533), indiziert den Unterschied zwischen der inhaltlichen Bestimmung derselben und der „Triebfeder“; sie ist indirekt auch gegen Leibnizens Kennzeichnung der Liebe gerichtet, sofern sie den – durch nichts ersetzbaren – moralischen „Prinzipiencharakter“ einmahnt. 386 Leibniz 2003, 237–243. Zu Kants früher Unterscheidung der „Liebe des Wohlwollens oder des Wohlgefallens“ vgl. Stark 2004, 279 ff. Möglicherweise äußerte Kant in seinen Vorlesungen aber auch eine indirekte Kritik an Leibnizens Bestimmung der Liebe: „Wir sollen nicht allein Wohlgefallen an der Wohlfahrt und Glück anderer haben, sondern dieses Wohlgefallen muss sich auf tätige Handlungen beziehen, die zu dieser Wohlfahrt was beigetragen haben. Eben so soll ich nicht wünschen, wenn der andere im Elend ist, damit er davon befreit wäre, sondern ich soll solche zu befördern suchen. […] Alle moralische Unterweisung wird also darauf beruhen, dass unser Wohlgefallen an dem Glück anderer nur insofern bestehen soll, als wir ein Vergnügen finden, des andern sein Glück zu befördern“ (Stark 2004, 290 f ). Und das ist die Pflicht der „tätigen Teilnehmung“, für die uns das gefühlte „Mitleid“ als „gutherziger Instinkt“ zwar sensibilisieren mag, aber dieses noch nicht selber ist. Denn: „Die Maxime des Wohlwollens (die praktische Menschenliebe) ist aller Menschen Pflicht gegen einander; man mag diese nun liebenswürdig finden oder nicht, nach dem ethischen Gesetz der Vollkommenheit: Liebe deinen Nebenmenschen als dich selbst“ (IV 587). – Auch Kants Distanzierung des „Mitleids“ blieb freilich sensibel für die Frage, wer denn der „Nächste“ sei, sowie für damit verbundene Ansprüche: „So ist es Pflicht: nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen das Notwendigste abgeht, umzugehen, sondern sie aufzusuchen, die Krankenstuben, oder die Gefängnisse der Schuldener u. dergl. zu fliehen, um dem schmerzhaften Mitgefühl, dessen man sich nicht erwehren könne, auszuweichen; weil dieses doch einer der in uns von der Natur
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Glückseligkeit (dem Wohlsein) anderer“. Freilich wollte er in solcher Hinsicht das bloße „Wohlwollen des Wunsches in Ansehung anderer Menschen (welches uns nichts kostet)“ unterschieden wissen von dem „Wohltun“ als der „Maxime, sich dasselbe [„Wohlsein anderer“] zum Zweck zu machen, und Pflicht dazu ist die Nötigung des Subjekts durch die Vernunft, diese Maxime als allgemeines Gesetz anzunehmen“ (IV 589). Es wäre deshalb auch ganz verfehlt, wollte man Kants Würdigung des „Prinzips der Apathie“ bzw. seine Ablehnung des Mitleids als eines „blind machenden Affekts“387 gegen die Tugendpflichten ausspielen, denn solcherart wäre auch jener „ganze moralische Zweck“ nicht zureichend zu charakterisieren. Diese Überlegungen sollten auch verdeutlichen, dass Kants Ethik zweifellos anderes und mehr zur Sprache bringt als lediglich „die Ethik des Rechts, der Ordnung und des Maßes“ und sich somit in dem bloßen Imperativ: „Du sollst die rechtlich-sittlichen Grenzen zwischen Dir und den anderen beobachten“388, keinesfalls schon erschöpft. In diesem Falle hätte er sich zweifellos mit den Bestimmungen des Rechtsbegriffes in der Rechtslehre – allenfalls noch der moralischen Befolgung dieses Rechts, d. h. dessen „moralischem Begriff“, also der von Kant so bezeichneten „ethischen Legalität“ – begnügen können.
gelegten Antriebe ist, dasjenige zu tun, was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde“ (IV 595). „Wem bin ich der Nächste?“: dies scheint hier die von Kant bevorzugte Lesart des von ihm sogenannten „Gesetzes aller Gesetze“ zu sein. 387 Vgl. dazu auch schon Kants frühe Bemerkung zu bzw. Bewertung der „die Würde der Tugend“ noch entbehrenden „mitleidigen Eigenschaft“, d. i. des „warmen Gefühl(s) des Mitleidens“, das zwar „eine gütige Teilnehmung an dem Schicksale anderer Menschen“ anzeige, die jedoch als eine solche „wohl schwach und jederzeit blind“ bleibe und ebendeshalb erst „aus einem höhern Standpunkte in das wahre Verhältnis gegen eure gesamte Pflicht versetzt“ werden müsse: „So bald nun dieses Gefühl zu seiner gehörigen Allgemeinheit gestiegen ist, so ist es erhaben aber auch kälter“ (I 835). Diese Einschätzung tritt ziemlich unverändert noch in der „zweiten Kritik“ entgegen: „Selbst dieses Gefühl des Mitleids und der weichherzigen Teilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegte Maximen in Verwirrung, und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein“ (IV 248). – Kant teilte zweifellos auch die von Hegel geäußerten Bedenken gegen die „Schalheit“ einer abstrakten Menschenliebe: „Die Menschenliebe, die sich auf alle erstrecken soll, von denen man auch nichts weiß, die man nicht kennt, mit denen man in keiner Beziehung steht, diese allgemeine Menschenliebe ist eine schale, aber charakteristische Erfindung der Zeiten, welche nicht umhin können, idealische Forderungen, Tugenden gegen ein Gedankending aufzustellen, um in solchen gedachten Objekten recht prächtig zu erscheinen, da ihre Wirklichkeit so arm ist. – Die Liebe zu dem Nächsten ist Liebe zu den Menschen, mit denen man, so wie jeder mit ihnen, in Beziehung kommt. Ein Gedachtes kann kein Geliebtes sein“ (Hegel 1, 362). Ebenso hat Kant sehr energisch davor gewarnt, solchen Rekurs auf die „Menschenliebe“ an die Stelle der gebotenen Beachtung der moralischen und rechtlichen Gerechtigkeitsprinzipien zu setzen. 388 Metzger 1917, 80 f. Dem widerspricht ganz offensichtlich schon die gebotene Beförderung des „höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts“: „Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke, zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann, die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe: so ist die Pflicht, der Art und dem Prinzip nach, von allen andern unterschieden“ (IV 756).
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4.3.1. Eine Folge daraus: Die der „praktisch revolutionierten Denkungsart“ gemäße Idee des „ethischen Gemeinwesens“ Erst mit der durch dieses Anspruchsniveau der Tugendlehre ergänzten „Zwecklehre“ ist nunmehr jene Stufe erreicht, die nun auch das Ideal eines „Reichs der Zwecke“ als die „systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“ (IV 66) „abschließt und krönt“. Im Sinne der voranstehenden Differenzierungen und mit Rücksicht auf die demgemäß zu explizierende Idee eines „moralischen Reichs der Zwecke“ ist nun wohl auch Kants These zu verstehen: „Man kann eine Verbindung von Menschen unter bloßen Tugendgesetzen nach Vorschrift dieser Idee eine ethische, und sofern diese Gesetze öffentlich sind, eine ethisch-bürgerliche (im Gegensatz der rechtlich-bürgerlichen) Gesellschaft, oder ein ethisches gemeines Wesen nennen“ (IV 752).389 Sofern dieses dem Maßstab der „Tugendpflichten“ untersteht, markierte Kant den konstitutiven Unterschied: „Übrigens, weil die Tugendpflichten das ganze menschliche Geschlecht angehen, so ist der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen, und darin unterscheidet es sich von dem eines politischen“ (IV 754 f ). Freilich, die an den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, Maß nehmende und in diesem Sinne gewissermaßen „von sich [durch ihre „Antagonismen“ zusammengehaltene] reine Gesellschaft“390 zielt auch über diese in Kants „Religionsschrift“ vorgenommene Kennzeichnung des „ethischen gemeinen Wesens“ und seine „Verbindung von Menschen unter bloßen Tugendgesetzen“ noch hinaus; als maßgebendes Ideal eines „ethischen Gemeinwesens“ setzt sie das „Maschinenwerk“ des „gesellschaftlichen Antagonismus“ freilich nicht außer Kraft, gleichwohl transzendiert sie dessen blinde mechanische Kraft. Es ist nicht zu übersehen, dass die gebotene Rücksicht auf die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, jene das kantische Ideal des „Reichs der Zwecke“ zunächst leitende Idee eines „Ganze(n) aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag [!]“) (IV 66), noch überschreitet. Anders wäre wohl auch der höchste Anspruch der kantischen Idee einer „moralischen Welt“ (obgleich bloß als „praktische Idee“) nicht aufrechtzuerhalten; erst dies würde nämlich, über alle Kultivierung, Zivili389 Kants Lehre vom „ethischen gemeinen Wesen“ und somit auch die zweifellos wichtigen Aspekte der über die individuelle Sinndimension des „höchsten Gutes“ hinausweisenden Bezüge werden hier nicht weiter verfolgt; vgl. dazu die Ausführungen bei Baumgartner (1992) sowie in den Monographien von Habichler (1991) und Wimmer (1990); s. dazu auch die kritischen Bemerkungen von Th. Auxter (1979). Diese im „ethischen gemeinen Wesen“ maßgebende Orientierung an der „Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Gutes“ (IV 756), knüpft in zugeschärfter Form an die kantische Bestimmung an, „dass alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reich der Zwecke, als einem Reiche der Natur, zusammenstimmen sollen“ (IV 70). Mit Recht kommentiert Bambauer dies folgendermaßen: „Kant erläutert die Analogie des Reichs der Zwecke zum Reich der Natur dergestalt, dass die grundlegende gemeinsame Eigenschaft beider Reiche in ihrer Regelung durch allgemeine, wenn auch natürlich verschiedene Gesetzmäßigkeiten besteht. Der Begriff des ‚Reichs‘ könne dabei in der Weise auf die Natur angewandt werden, dass ein Verständnis der Natur als auf Vernunftwesen als ihr Zweck hingeordnetes, demnach teleologisches Ganzes möglich sei“ (Bambauer 2011, 233, Anm. 128). 390 Ich übernehme diese Wendung (in modifizierter Weise) aus dem Werk des Wiener Philosophen Franz Fischer 2007.
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sierung und Moralisierung hinausweisend, nicht nur „das Leere der Schöpfung … ausfüllen“ (VI 38), sondern Letztere auch erst „in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur“, im Sinne eines „Endzwecks der Schöpfung“, erfüllen. Dieses „ethische Gemeinwesen“ vereint demzufolge jene „Wohlgesinnten“, die über die pflichtmäßige Befolgung des moralischen Gesetzes hinaus sich dem Maß des „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“, in dem sensiblen Bewusstsein davon verpflichtet wissen, dass doch erst in einer solchen Übereinstimmung „mit dem Zweck der Menschheit … das Gesetz der Moralität in Erfüllung geht“. Sie bestärken sich in ihrer tugendhaften Gesinnung und der notwendigen Bewährung, sprechen einander angesichts der stets widerfahrenden Enttäuschungen Trost und Ermutigung zu, um „unter den Mühseligkeiten immer noch Mut zu fassen“ (VI 99). Dabei orientieren sie sich an den nur gemeinsam bewältigbaren Aufgaben, weil die „Beförderung des Weltbesten an uns und anderen“ eben eine alle Einzelnen überfordernde, unabschließbare „gemeinschaftliche“ Aufgabe darstellt und deshalb nicht nur in Anbetracht der Bedrohungen, Rückfälle, Gebrechlichkeiten und der fortwährenden Versuchung des „Sich-Verschließens“ der gegenseitigen Tröstung und Ermutigung, sondern in prinzipieller Hinsicht bezüglich des erfolgreichen Heraustretens aus dem „ethischen Naturzustande“ „eines sie vereinigenden Prinzips“ (IV 755) bedarf. In der aus wechselseitiger Ermutigung gespeisten Zuversicht sind sie so in der gemeinsamen Überzeugung vereint – und muten dies einander ebenso zu! –, dass es ein „richtiges Leben auch im falschen“ gibt. Eben in solcher „Gesinnung“ befolgen sie das moralische Gesetz „als“ göttliches Gebot:391 „Denn so allein kann für das gute Prinzip über das Böse ein Sieg erhofft werden. Es ist von der moralisch gesetzgebenden Vernunft außer den Gesetzen, die sie jedem einzelnen vorschreibt, noch überdem eine Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben, ausgesteckt, um sich darunter zu versammeln“ (IV 752).392 Ohne solche Gesinnung der in einem „ethischen 391 Gleichwohl begnügen sich die Mitglieder dieses „ethischen gemeinen Wesens“ nicht mit der „gegenseitige(n) Versicherung von ihrer Gewissenhaftigkeit, guten Absichten“ etc. (Hegel 3, 481); auch erschöpft sich ihr Anspruch nicht in dem Appell des „Sich-nicht-zur-Ausnahme-Machens“, sondern sensibilisiert in besonderer Weise für die schon „geschuldeten Pflichten“. 392 Diese „unter der Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt“ Versammelten, nicht sich als „favorisiert“ wähnende Himmelsgünstlinge (IV 877) sind nach Kant die „Herausgerufenen“ („ek-klesia“ also in diesem ganz bestimmten Sinne). Hier ist der Einfluss der Leibniz’schen Perspektive wohl besonders augenfällig, „dass jeder Geist sich immer in der Weise verhalten muss, die am geeignetsten ist, zur Vervollkommnung der Gemeinschaft aller Geister – die deren moralische Vereinigung im Gottesstaate bildet, beizutragen“ (Leibniz 1995, 33; vgl. zu diesem Motiv auch noch einmal die o. I., Anm. 147 angeführte Refl. 4349). Auch in Kants Ideal der „unsichtbaren Kirche“ als „allgemeiner Republik nach Tugendgesetzen“ wird der Leibniz’sche Hintergrund deutlich; noch in Kants später Bemerkung: „Gott, der innere LebensGeist des Menschen in der Welt“ (AA XXI, 41) klingt dies nach. – Man kann Kants Bestimmung des „ethischen Gemeinwesens“ im Sinne der „unter der Fahne der Tugend Versammelten“ (vollendet „auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen“) auch verstehen als eine der „Vernunftreligion“ gemäße – eine „größere Bearbeitung der sittlichen Ideen“ freilich schon voraussetzende – Übersetzung der im gemeinschaftsbildenden „rituellen Praktiken“ verankerten Identitätsbildung und der daraus gespeisten moralischen Motivation – wobei Kant hier bekanntlich von einer „Pflicht des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ spricht im Blick auf eine gemeinschaftliche sittliche Aufgabe (orientiert an und „vereinigt zu einer gemeinsamen Wirkung“: IV 757); auch darin bleibt der Bezug auf das vereinigende Band des „gemeinsamen Vaters“ als eines „Herzenskündigers“ erhalten. Erst das durch
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Gemeinwesen“ (als einem „Reich der Tugend“ in gemeinsamem Bemühen und Ermutigen) Vereinigten wäre auch das nach Kräften und kooperativ zu befördernde „Weltbeste an uns und anderen“ nicht zu denken. Ihr wachsames Bewusstsein und ihr moralischer Impuls begreift sich vornehmlich aus jener Aufgabe, „die Rechte der Menschheit herzustellen“, die sich nicht zuletzt auch auf die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen der „Freiheit“ im rechtlichen Sinne erstrecken muss. Die moralische Sensibilität dieser Mitglieder des „ethischen Gemeinwesens“ bewährt sich freilich nicht nur in der permanenten Überwindung der praktisch-solipsistischen Gefangenheit in der bloßen Intimität eines zum „Wir gedehnten Ich“, sondern vornehmlich in der Überwindung dieses bloßen (sei es kollektiven) „Wir“ auf das darin gerade nicht zugehörige, d. h. distanz-bedachte „Ihr“ – nicht zuletzt in der besonderen Aufmerksamkeit für die aus dem Wahrnehmungshorizont ausgeschlossenen bzw. daraus entschwindenden anonymen „Sie“. Sofern sich die unter diesem Anspruch stehenden „vernünftigen Weltwesen“ als Mitglieder des „ethischen Gemeinwesens“ an der praktischen „Beförderung“ des „höchsten Gutes“ als einer gemeinschaftlichen Aufgabe orientieren, hat Kant die Partizipation an diesem „Gemeinwesen“ in der „Religionsschrift“ sogar noch als eine besondere „Pflicht der Gattung gegen sich selbst“ geltend gemacht: „Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objektiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt“ (IV 756).393 Zunächst besagt diese „besondere Pflicht des Menschengeschlechts gegen sich selbst“ lediglich, sich in dem „von der Sittlichkeit selbst [!] diktierte(n) Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht“ hinsichtlich des „höchste(n) in der Welt zu befördernde(n) Gut(s)“ (III 638) wechselseitig zu bestärken und zu ermutigen.394 Diese „besondere Pflicht“ wurde sodann durch den Hinweis darauf noch unterstützt, dass allein – und letztendlich im Sinne der Pflicht, „die Rechte der Menschheit herzustellen“ – mit Rücksicht auf die „moralische Bestimmung des Menschen“ sowie auf seine Verfasstheit als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ (IV 133) auch die Hoffnung auf einen an rechtlich-moralischen Vernunftmaßstäben orientierten „Fortschritt zum Besseren“ möglich sei, nicht zuletzt eingedenk der „moralischen Gebrechlichkeit“, seiner Bedrohtheit, Verführbarkeit und abstumpfenden Sensibilität, das heißt der auch noch für die „revolutionierte“ Gesinnung stets bedrohlichen „Gefahr des Rückfalls“ (IV 752). jene „größere Bearbeitung der sittlichen Ideen“ freigelegte Band, das die „unter der Fahne der Tugend Versammelten“ einigt, stiftet diesen geläuterten, d. h. nunmehr moralisch begründeten Gottesbezug und hat solcherart einen „poietischen“ Umgang mit dem „Numinosen“ und darin bestimmende „Identitätsstiftungen“ überwunden. Das „substanzielle Band“ dieser potentiell unbeschränkten Gemeinschaft ist nicht mehr durch kultisch-rituelle Vollzüge bestimmt, letztere haben nach Kant vielmehr lediglich eine ästhetische und wohl auch eine nachgeordnete „motivationale“ Bedeutung. 393 Diese Erwägungen Kants in der „Religionsschrift“ stehen in einem engen sachlichen Zusammenhang zu denjenigen über die „Garantie des ewigen Friedens“ (VI 217) und der Idee der „Vorsehung“, die „zwar in theoretischer Absicht überschwenglich, in praktischer aber (z. B. in Ansehung des Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden …)… wohl gegründet ist“ (VI 218). 394 Solche „Ermutigung“ ist gleichsam eine religionsphilosophisch übersetzte Bestimmung des „Geistes“, der, „in ästhetischer Bedeutung“, nach Kant „das belebende Prinzip im Gemüte“ (V 413) ist, das sich freilich aus moralischen Impulsen speist und auch so indirekt auf die Analogie von „Moralität und Schönheit“ verweist. Die angeführte kantische Kennzeichnung des „Geistes“ verdient wohl auch im engeren religionsphilosophischen Kontext Beachtung.
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Fernab einer abstrakt-schalen „Nächstenliebe“ sowie einer – grundsatz-vergessenen – „moralischen Schwärmerei“ von „teilnehmend“ gestimmten Gemütern orientiert sich solche Sensibilität vornehmlich an den dringenden Ansprüchen einer zunächst geforderten „Erwürdigung“ und geschuldeten Gerechtigkeit der bzw. gegenüber jenen Ausgeschlossenen und Entwürdigten – auch in der Aufmerksamkeit für die schleichende faktische Normalisierung von und Abstumpfung gegenüber gesellschaftlichen Marginalisierungen und Ausgrenzung. Sie verschafft dem gebotenen Widerstand gegen solche Tendenzen auch in der Öffentlichkeit Gehör, um solcherart überhaupt „vernehmbar“ zu bleiben und überdies vielleicht sogar Einfluss zu nehmen, gar als (vor Fäulnis bewahrendes) „Salz der Erde“ für „wahr genommen“ zu werden. Darauf zielt wohl auch Kants Bestimmung des „Volkes Gottes“, das als ein solches, fern aller moralischen „Schwärmerei“ und „Überschwänglichkeit“, sich vorrangig an der „Freiheit anderer“ orientiert, ohne dabei die hierfür verbindlichen Maßstäbe der ohnehin geschuldeten Gerechtigkeit aus den Augen zu verlieren bzw. diese „aufzuheben“ – durchaus in dem unbeirrbaren Bewusstsein darüber, dass „Gott (sein) Recht geben“ zunächst einmal doch dies heißt: den „Menschen Recht zu verschaffen“.395 Die an derlei Einsichten geknüpfte Sensibilität hätte Kant wohl als unerlässliche Bedingung angesehen, um gegenüber den sich als Glieder eines „Volkes Gottes“ dünkenden „vernünftigen Erdwesen“ sein (im siebenten Satz seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ ausgesprochenes) Urteil doch wenigstens zu mildern – freilich es nicht schon zu widerrufen: „Wir sind im hohen Grad durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert, bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel“ (VI 44). Diese Aspekte sind jedenfalls im Kontext dieser Anmerkung zur kantischen Idee des „ethischen Gemeinwesens“ auch in der auffälligen und denkwürdigen späten kantischen Übersetzung des „Ich bin ein Mensch. Alles, was Menschen widerfährt, das trifft auch mich“ (IV 598) mitzuhören. Auch in dieser späteren Version396 ist die gebotene Sensibilität 395 In solchem Ausgang wären auch die von H. Cohen erwähnten prophetischen Traditionen mit diesen kantischen Themen zu verbinden, auch in dem Punkt: „Sie [die Propheten] konnten sich von jener Kulturphilosophie nicht trösten lassen über den Jammer, den sie bei dem Menschenelend der Armut empfanden. Jetzt erst wurde es ihnen klar, was der Mensch ist und was er für das Bewußtsein jedes Menschen bedeutet. Der Mensch ist dem Menschen nicht ein Fremder, der auch Sklave sein könnte, sondern er gehört in mein Selbstbewusstsein; und zwar nicht allein theoretisch, sondern vor allem praktisch. Und wie wurde diese praktische Einsicht gewonnen? Hier trat das Leiden ein. Der Mensch leidet, und zwar als Armer; und er ist kein isoliertes Glied in der Maschine des menschlichen Haushalts, und kein isoliertes Wesen, wie es etwa das Tier ist, sondern ich kann mich selbst nicht als Menschen denken, es sei denn, dass ich meinen Begriff des Menschen von diesem Menschenbegriffe des Armen abstrahiert habe“ (Cohen 1996, 75 f ). – Zu der damit zusammenhängenden Unterscheidung Cohens zwischen dem „ethischen“ und dem „religiösen Gott“ vgl. Cohen, ebd. 78 ff. 396 H. Peukert verdanke ich den Hinweis auf eine frühe – noch ganz „harmlose“ – kantische Variante dieses Terenz’schen Diktums „Homo sum. Nihil humani a me alienum puto“: In einem frühen Schreiben an eine Hochwohlgeborene Frau Rittmeisterin (aus dem Jahr 1760) nimmt Kant Bezug auf das „schwermütige Gefühl“, „was in einer Versammlung der Römer einstmals mit so viel Beifall gehört wurde, weil es unserer allgemeinen Empfindung so gemäß ist“ – nämlich: „Ich bin ein Mensch, und was Menschen widerfährt, kann auch mich treffen“ (AA II, 40). Dies besagt freilich noch nicht mehr als das bloße Erschrecken bzw. die Irritation darüber, infolge dieser unentrinnbaren Zugehörigkeit möglicherweise selbst mitbetroffen bzw. faktischem Unheil durch Zufall entgangen zu sein. Einer derartigen Motivationslage entspricht auch Kants frühe
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und Aufmerksamkeit dafür zum Ausdruck gebracht, in der moralphilosophisch entsprechend beliebt gewordenen Berufung auf die vielbeschworene Kategorie „Alterität“ bzw. „die Anderen“ den darin implizierten Vermittlungsaspekt zu hören, d. h. diese „Anderen“ als die „Veranderten“ und somit jene „Alterität“ als ein Resultat zu begreifen – „unsere Anderen“, die deshalb stets auch eine Infragestellung „unserer“ eigenen Identität bedeuten –, nicht zuletzt in Inanspruchnahme, besser wohl: der Strapazierung der „Menschheits“-Idee. Derart gewinnt im Kontext dieser Bestimmung des „ethischen Gemeinwesens“ und der darauf bezogenen „Pflicht des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ jenes kantische Diktum: „Ich bin ein Mensch. Alles, was Menschen widerfährt, das trifft auch mich“ (IV 598), noch eine aufschlussreiche Nuancierung. Sie indiziert nicht zuletzt die – den Mitgliedern des „ethischen gemeinen Wesens“ gleichermaßen zugemutete – Sensibilität und solidarische Teilnahme für bzw. mit jenen, die nicht nur davon bedroht sind, an der „Idee der Menschheit“ zu zweifeln und zu verzweifeln, sondern an widerfahrener Lebensnot, Sinnlosigkeit und „Sinnwidrigkeit“ überhaupt zu zerbrechen. In Erinnerung an die im Kontext der Frage nach einer umfassenden Lebensorientierung von Kant geäußerte Mahnung, ein gewiss legitimes „Bedürfnis“ gleichwohl nicht für „Einsicht“ zu nehmen, besagt dies auch, dass das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ (V 609) menschliche Existenz eben keineswegs nur zu sammeln vermag, sondern eine solche möglicherweise auch scheitern lässt, ohne dass freilich solches Scheitern und das Widerfahrnis radikalen Sinnverlustes gar einer moralischen Qualifizierung ausgesetzt werden dürften. Auch in einer solchen Hinsicht wäre jenes „Alles, was Menschen widerfährt, trifft auch mich“ noch als Ausdruck jener „teilnehmenden Vernunft“ wahrzunehmen und gleichermaßen zu bewähren – auf eine Weise, die sich mit jener Mahnung, „Bedürfnis nicht mit Einsicht zu verwechseln“, zu einer besonderen Gestalt einer aus praktischer Selbstbescheidung gespeisten „docta ignorantia“ verbindet.
Reflexion: „Wir halten uns nur in der Vergleichung mit anderen glücklich; daher das Übel, das andere drückt, eben so viel Erleichterung des unsrigen ist und in dem Leiden unserer besten Freunde etwas ist, das uns nicht ganz missfällt“ (Refl. 1471, AA XV, 649). Während diese Reflexion sich vermutlich einer Erinnerung an moralpsychologische Erkundungen Humes verdankt, stehen dem frühen Kant (an der oben genannten Stelle: AA II, 40) offensichtlich primär einschlägige Mitleid-Bestimmungen von Hobbes bzw. Rousseau vor Augen (d. i. das Mitleid als die bloß daraus gespeiste irritierende „Vorstellung, dass solches fremde Unglück ja auch einem selbst zustoßen könnte“ oder die sich in dem das Gleichgewicht unseres Seelenhaushalts beeinträchtigenden „angeborenen Widerwilllen, seinen Mitmenschen leiden zu sehen“, artikuliert). Interessant ist nun allerdings, dass Kant schon wenige Jahre später (vgl. seine im Jahr 1764 erschienenen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“: I 841) eine behutsamere Wiedergabe jenes Diktums bevorzugt (die sich dann auch noch beim späten Kant findet): „Wie aber, wenn so gar die geheime Sprache seines Herzens also lautete: ich muss jenem Menschen da zu Hülfe kommen, denn er leidet; nicht dass er etwa mein Freund oder Gesellschafter wäre, oder dass ich ihn fähig hielte, dereinst Wohltat mit Dankbarkeit zu erwidern. Es ist jetzt keine Zeit, zu vernünfteln und sich bei Fragen aufzuhalten: Er ist ein Mensch und was Menschen widerfährt, das trifft auch mich. Alsdenn stützet sich sein Verfahren auf den höchsten Grund des Wohlwollens in der menschlichen Natur, und ist äußerst erhaben, so wohl seiner Unveränderlichkeit nach, als der um Allgemeinheit seiner Anwendung willen.“ – Angemerkt sei noch dies: Auch mit Blick auf die unterschiedliche Wiedergabe des Terenz’schen Diktums beim frühen und späten Kant wäre zu zeigen, dass darin zunächst eher „(moral-)psychologische“ Bestimmungen eine Transformation bzw. Übersetzung in Bestimmungen der praktischen Vernunft und derart auch eine sachliche Aufwertung erfahren – nicht zuletzt auch gegenüber trivialisierenden Versionen desselben in anthropologischem Kontext. Besonders im zweiten (geschichtsphilosophischen) Teil wird sich dafür eine Reihe von Beispielen finden.
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Eben für solche in der praktischen Vernunft selbst verankerten (d. h. legitimierten) Ansprüche wollte Kant, nicht zuletzt in einer motivationalen Hinsicht, der Religion eine wichtige Rolle zuerkennen, obgleich sie sich auch für ihn in dieser „Funktion“ wohl nicht erschöpfte und ihm auch etwas anderes galt als eine „eminent soziale Angelegenheit“ (E. Durkheim). Demzufolge wäre, wiederum in Anlehnung an einen Passus aus der späten Tugendlehre (und im Vorblick auf seine Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“: s. u. III., 3.), vielleicht zu sagen: Die Angehörigen des durch die „revolutionierte Denkungsart“ ausgezeichneten „Reiches der Freiheit“ könnten sich so „gleichsam als Brüder unter einem allgemeinen Vater, der aller Glückseligkeit will“ (IV 613), verstehen397 – ein Motiv, das, obgleich ganz beiläufig, diese – besondere solidaritätsund identitätsstiftende – „Selbstvergewisserung“ an diesen gemeinsamen Bezugspunkt knüpft; unverkennbar ist auch hier der von Kant selbst ausgesprochene Gedanke der Belebung einer „Gemeinde zu der darunter vorgestellten sittlichen Gesinnung der brüderlichen Liebe“ (IV 876) leitend, die alle „Achtung fürs moralische Gesetz“ noch überhöht und so jene geforderte „Solidarität“ noch in einen erweiterten Sinnhorizont einrückt.398 Die „Menschheits“-orientierte Perspektive der „Religionsschrift“ darf, sofern diese die „Menschheit“ als ganze für die „Beförderung des höchsten Gutes“ als gemeinschaftliche Aufgabe in die Pflicht nimmt, im Sinne dieser solidaritätsstiftenden Funktion verstanden werden, wobei dieser „Menschheitsidee“ jener Rekurs auf einen „allgemeinen Vater“ offensichtlich genau korrespondiert. Dieser gemeinsame Beziehungspunkt der unter der „Fahne der Tugend Versammelten“ ist es allerdings, aus dem sich ihre Ermutigung zur gemeinsamen Aufgabe der Beförderung des höchsten Gutes speist und so eine hilfreiche Stärkung der Motivation für die Glieder des „Reichs der Zwecke“ bedeutet. Von diesem nur in kollektiver Anstrengung zu befördernden „höchsten, als eine[m] gemeinschaftlichen Gut“, das, als solches, sich am innerweltlichen „Fortschreiten zum Besseren“ im Sinne einer „Transzendenz ins Diesseits“, „einer anderen Welt, aber in dieser Welt“ (J. Habermas), orientiert und dabei an rechtlich-politischen Ideen sein Maß hat, bleibt jedoch, in gebotener Rücksicht auf die genau zu unterscheidenden Ebenen, die noch näher zu differenzierende Dimension des erhofften „höchsten Gutes“ abzugrenzen, auf die Kants Idee der „moralischen Welt“ verweist, die auf nichts anderes als auf die Beantwortung der Frage abzielt, wie „für ein vernünftiges, aber endliches Wesen die Welt beschaffen sein muss“. 397 Dies besagt im Grunde gar nichts anderes als das von Fichte ausgesprochene Motiv: „Jedem sind alle andere außer ihm Zweck; nur ist es keiner sich selbst. Der Gesichtspunkt, von welchem aus alle Individuen ohne Ausnahme letzter Zweck sind, liegt über alles individuelle Bewußtsein hinaus; es ist der, auf welchem aller vernünftigen Wesen Bewußtsein, als Objekt, in Eins vereinigt wird; also eigentlich der Gesichtspunkt Gottes. Für ihn ist jedes vernünftige Wesen absoluter und letzter Zweck“ (Fichte IV, 256 f ). 398 Es soll sich noch zeigen: Kants Rekurs auf die „Vorstellung und Beherzigung der Gleichheit unter Menschen, mithin die Idee, dadurch selbst verpflichtet zu werden, indem man andere durch Wohltun verpflichtet
, gleichsam als Brüder unter einem allgemeinen Vater, der aller Glückseligkeit will“ (IV 612 f ), darf auch als eine „Übersetzung“ des biblischen Motivs gelesen werden, das auch die Zumutung enthält, „Hüter seines Bruders“ zu sein und sich solidaritäts-sensibel als ein solcher auch zu wissen; es impliziert somit die Forderung, der Frage standzuhalten: „Wo ist dein Bruder?“ – und Letzteres auch wissen zu wollen.
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4.3.2. Exkurs: Ein gegen Kant gerichteter zeitgenössischer Einwand: Bleibt das „Andere der Gerechtigkeit“ bei ihm unberücksichtigt? Vieles spricht den voranstehenden Überlegungen zufolge dafür, dass auch Kant die „trans-moralische“ Sinndimension des „Anerkennens der Liebe“ (Hegel) – freilich jenseits alles bloß „pathologischen Gefühls“ oder eines „moralischen Überschwanges“ – keineswegs fremd geblieben ist und sich dies auch mit dem „deontologischen Charakter“ seiner Moralphilosophie ohne weiteres verträgt. Jedenfalls darf der unstrittige Sachverhalt, dass bei ihm „der Begriff der ‚Achtung‘ sogar in dem Sinn die Funktion eines höchsten Prinzips aller Moral“ übernimmt, „dass er den Kern des kategorischen Imperativs enthält, jeden anderen Menschen nur als Zweck in sich selber zu behandeln“,399 die von ihm durchaus gewahrte Anerkennung des unterschiedlichen Status der „verschiedene(n) Verpflichtungen“ nicht übersehen lassen, „die deswegen unterschiedslos einen moralischen Charakter besitzen, weil sie jeweils eine andere Anerkennungsbeziehung zum Ausdruck bringen“.400 Noch einmal sei daran erinnert, dass nicht zuletzt die in seiner „Tugendlehre“ ausdrücklich vollzogene Unterscheidung zwischen dem „moralischen Imperativ“ und „demjenigen, welcher die Tugendpflicht gebietet“ (IV 527 f ), sowie die daran geknüpften Differenzierungen offenbar genau darauf abzielen. Diese in Kants eigener Ethik entfalteten Ansprüche weisen über die in der Grundlegung seiner Moralphilosophie allein maßgebende Festsetzung des „obersten Moralprinzips“ und das darin verankerte „Prinzip der Achtung“ ausdrücklich hinaus, ohne damit freilich den unbedingten Geltungsanspruch der in der „allgemeinen Gesetzesformel“ ausgesprochenen „Gesetzlichkeit“ zu relativieren – denn allein sie ist es doch, die nach Kant diesen Status „unbedingter Verbindlichkeit“ zu gewährleisten vermag. Die diesbezüglich gegen Kant gerichteten Einwände dürfen indes auch jene schon erwähnte ausdrückliche Forderung nicht ignorieren, wonach eine Metaphysik der Sitten zunächst auf einen „Inbegriff bloß formaler Prinzipien des Freiheitsbegriffs zurückgehen [muss], ehe noch vom [nicht nur erlaubten, sondern gebotenen] Zweck der Handlungen (der Materie des Wollens) die Frage ist“ (III 414). Somit ist es der Ethik vorbehalten, in der angezeigten Weise auch „auf Zwecke“ zu leiten, die in den „Pflichten gegen den Anderen“ noch ihre genaue Differenzierung finden – eben auf eine Weise, die über das „oberste Prinzip der Moral“ und seinen Verbindlichkeitsanspruch, aber auch über die sogenannten „Achtungspflichten“, noch hinausführt. Die Unterscheidung zwischen „Rechtsverpflichtung“ und „Tugendpflicht“ verweist so auch auf die recht verstandene Selbstbescheidung des moralischen Universalitätsanspruches, ohne damit jedoch hinter das Niveau der Ersteren zurückzufallen und ohne deren nicht relativierbaren Prinzipiencharakter dieserart wieder in Frage stellen zu wollen. Wenn also die in einschlägigen Diskussionen gegen Kants Moralprinzip eingeforderte Dimension der „Fürsorge“ in seiner Ethik durchaus Berücksichtigung findet, so relativiert dies wenigstens den gegen „das kantische Paradigma der Achtungsmoral“ hartnäckig er399 Honneth 2000b, 174. 400 Honneth ebd., 190.
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hobenen Einwand, wonach „die Liebe eine Form der intersubjektiven Beziehung darstellt, die die beteiligten Personen zu mehr an wechselseitigem Wohlwollen berechtigt, als im Kantischen Rechtsgebot zum Ausdruck kommt“.401 Kants Ethik selbst weist über ein solches „Rechtsgebot“ hinaus; das derart geforderte „überschießende“, weil trans-moralische Moment der Liebe wollte Kant – bei Beachtung der rechten Begründungsordnung – deshalb gewiss nicht in Frage stellen. Ebensowenig hätte er jedoch (wie schon seine Einteilung der „Tugendlehre“ verdeutlicht) in Zweifel gezogen, dass über die am „Allgemeinen“ orientierte „Gleich-Gültigkeit“ der in den Rechtspflichten artikulierten Ansprüche der Anerkennung sowie „neben die moralische Achtung, die wir allen Menschen gleichermaßen zu zollen haben, … jene besonderen Pflichten“ treten, „die wir aus Gründen der Zuneigung denjenigen Personen schulden, mit denen wir durch Liebesbeziehungen verbunden sind.“402 Gegenüber einschlägigen Einwänden bleibt überdies daran zu erinnern, dass sich die Forderung der von Kant näher differenzierten „Pflichten gegen andere Menschen“ auch mit diesem von Honneth geltend gemachten Aspekt des „moralischen Gehalts affektiver Bindungen“ keineswegs schon begnügen wollte; zudem betonte Kant selbst ausdrücklich die Pflicht der „teilnehmenden Empfindung“ (IV 593), die in seiner – in der angezeigten Weise allerdings nicht unproblematischen – Unterscheidung zwischen „juridischer“ und „ethischer“ Legalität und Moralität403 begründet ist. Schon die in der Einteilung der ethischen Elementarlehre vorgestellten Differenzierungen machen deutlich, dass sich Kants Ethik weder darauf beschränkt, mit dem „obers ten Prinzip der Moralität“ vertraut zu machen, noch sich auf eine bloße Gerechtigkeitsund „Achtungsmoral“ reduzieren lässt. Sie ist deshalb auch nicht durch eine angeblich „vorherrschende Ignoranz des Anderen“404 geprägt, sondern trägt, wie deutlich geworden sein sollte, auch diesem „fürsorge-ethischen“ Motiv der je „individuellen Besonderheit“ bzw. des „unvertretbaren Einzelnen“ durchaus Rechnung; desgleichen erweist sich die kantische Ethik durchaus jener „Steigerung der ethischen Sensibilität“ fähig, welche die 401 Honneth 200c, 236. Des Anderen je bestimmtes „Sich-gegeben-Sein“ als sich „aufgegeben“ wird in den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, selbst zur Aufgabe. 402 Honneth 2000c, 236. – Genau aus diesen Gründen betonte Kant: „Das Wohlwollen in der allgemeinen Menschenliebe ist nun zwar dem Umfange nach das größte, dem Grade nach aber das kleinste, und wenn ich sage, ich nehme an dem Wohl dieses Menschen nur nach der allgemeinen Menschenliebe Anteil, so ist das Interesse, was ich hier nehme, das kleinste, was nur sein kann. Ich bin in Ansehung desselben nur nicht gleichgültig“ (IV 587 f ); Kant übersah keineswegs, dass „einer mir näher ist (in der Pflicht des Wohlwollens) als der andere“, und betonte ausdrücklich – gleichsam als Antwort auf Honneths Einwand – bezüglich der Pflicht des „Wohltuns“ (im Unterschied zum Wohlwollen): „Denn im Wünschen kann ich allen gleich wohlwollen, aber im Tun kann der Grad, nach Verschiedenheit der Geliebten (deren einer mich näher angeht als der andere), ohne die Allgemeinheit der Maxime zu verletzen, doch sehr verschieden sein“ (IV 588); ähnlich argumentierte übrigens auch Fichte in seiner „Sittenlehre“ aus dem Jahr 1812. 403 S. dazu die Ausführungen des Verf. (1991, bes. 180 ff ). – In der Tat scheint in dieser Menschheitsformel – selbst schon eine „Konkretisierung des kategorischen Imperativs“ – „mehr gedacht …, als die Grundformel des kategorischen Imperativs enthält“ (Riedel 1980, 116). Insofern weist die Zwecke-Formel über „das Prinzip der gleichen Achtung für die Integrität oder Würde einer jeden Person“ (Habermas 1991b, 67) noch hinaus und nötigt so auch zu einer genaueren Differenzierung des „Ergänzungsverhältnis(ses) von positivem Recht und Moral“ (ebd. 66). 404 Honneth 2000a, 148.
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„asymmetrische Verpflichtung zwischen Personen“405 und damit auch die „moralische Verantwortung für den konkreten Anderen“406 sowie deren je besondere Ansprüche gebührend zu beachten vermag. Mithin steht sie auch in einer solchen „Beziehung mit dem Anderen“, „die ihn als den Anderen meint“407 – jenseits einer bloßen „Partikularität“ und „Subsumtion“ unter ein „abstrakt Allgemeines“: Für Kant war in dieser Hinsicht vielmehr die Einsicht leitend, dass das „wahrhaft Allgemeine“ konkret sein muss, „Einzelnes“ und „Allgemeines“ also im „Konkret-Besonderen“ vereint gedacht werden müssen. Freilich, eben hierfür bedarf die praktische Urteilskraft einer „Regel“, die sie sich selbst geben muss. Wie sollte denn anders auch jene erwähnte Forderung der Tugendpflicht zu verstehen sein, „sich den Menschen überhaupt zum Zweck zu machen“, sowie die daran von Kant näherhin geknüpfte Konkretisierung derselben, „Wohl und Heil des Anderen sich zum Zweck zu machen“? Demnach muss sich dieser Anspruch der Tugendpflicht selbst – d. h. in dieser Hin-Sicht einer (der „praktischen Urteilskraft“ verdankten) gewissermaßen vernehmenden Sensibilität – mit geschärftem Blick für das „Wohl und Heil des Anderen“ „besondern“, weil er nur so nicht lediglich „bei sich“ ist, sondern, von sich absehend, tatsächlich den Anderen „meint“. Dies ist dann freilich kein Rückfall in bloße „Partikularität“, die den „Anspruch“ des „Vernünftig-Allgemeinen“ ignoriert bzw. unterbietet; vielmehr sucht sie durchaus an dem „allgemeinen Wesen in seinem Gegenteile“, als der „absolut in sich seienden Einzelheit“, Maß zu nehmen.408 In der Tat legt auch die (im Anschluss an Derrida formulierte) These Honneths Bezüge zur kantischen Kennzeichnung der „Freundschaft“ als der „innigsten Vereinigung der Achtung mit der Liebe“ nahe: „Innerhalb der Freundschaftsbeziehung begegnet mir also mein Gegenüber in einer Doppelrolle, indem es einerseits auf der affektiven Ebene von Sympathie und Zuneigung an meine asymmetrischen Verpflichtungen appellieren kann, andererseits zugleich aber auch als eine moralische Person wie jede andere respektiert werden will; und es ist diese unaufhebbare Spannung zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Verantwortung, die überhaupt erst das moralische Band der Freundschaft stiftet.“409 Es ist vornehmlich diese von Honneth betonte „unaufhebbare Spannung“, die zweifellos an die ausdrückliche Bemerkung Kants erinnert, wonach alle „moralischen Verhältnisse vernünftiger Wesen, welche ein Prinzip der Übereinstimmung des Willens des einen mit dem des anderen enthalten, … sich auf Liebe und Achtung zurückführen“ lassen (IV 629) – und, „so fern dies Prinzip praktisch ist, der Bestimmungsgrund des Willens in Ansehung der ersteren auf den Zweck, in Ansehung des zweiten auf das Recht des anderen“ (IV 629) geht. Ebenso ist dem Anliegen, „der Fürsorge im Phänomenbereich des Moralischen wieder den Platz zurückzuerstatten, der ihr in der auf Kant zurück405 Honneth ebd., 134. 406 Honneth ebd., 135. 407 Henrich 1982a, 53. 408 Auch mit Bezug auf dieses Hegel’sche Anerkennungs-Motiv (im engeren Kontext von „Versöhnen und Verzeihen“ in der „Phänomenologie des Geistes“) sind einige Anliegen Kants zu rekonstruieren, die mit der Verhältnisbestimmung von „bestimmender“ und „reflektierender Urteilskraft“ (nunmehr im Kontext praktischer Vernunftansprüche) eng verbunden sind. 409 Honneth 2000a, 157.
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gehenden Tradition der Moralphilosophie allzu häufig versagt geblieben ist“,410 durchaus schon in der kantischen Tugendlehre selbst entsprochen; Letztere ist wohl eher – d. h. mit plausibleren Gründen – als eine implizite Kritik an denjenigen Kant-Rezeptionen zu lesen, die diese späten Motive der kantischen Ethik tatsächlich weithin vernachlässigen und somit auch jenen ausdrücklichen Differenzierungen Kants nicht gerecht werden. Es sollte deutlich geworden sein: In Überwindung eines allgemein-abstrakten Gerechtigkeitsprinzips und dessen maßgebenden Prinzips der „Gleich-Gültigkeit“ wollte das von Kant ausdrücklich bedachte Maßnehmen am „Wohl und Heil des Anderen“ im Sinne der Einbeziehung des „Anderen der Gerechtigkeit“ gerade der individuellen Besonderheit „gerecht“ werden. Dies geschieht freilich in gebotener Achtnahme darauf, dass dessen Status als „vernünftiges Weltwesen“ und somit als „moralische Persönlichkeit“ dabei nicht stillschweigend beschnitten wird, ohne den von „fremder Glückseligkeit“ rechtens auch gar nicht die Rede sein könnte. Auch insofern ist es, mit Rücksicht auf die zu unterscheidenden Begründungsebenen, wohl nicht ganz zutreffend, von „der kantischen Forderung der Abstraktion von aller ‚Glückseligkeit‘“ zu sprechen.411 Gegenüber einschlägigen Einwänden sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die von Kant vorgelegte Begründung für den Status der „fremden Glückseligkeit“ als eines „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“, und die daraus abgeleitete konkretisierende Orientierung am „Wohl und Heil des Anderen“ (vgl. o. I., 3.4.1.) doch an der „unverwechselbaren Besonderheit der konkreten Person“ ihr verbindliches Maß nimmt. Dies geschieht freilich wiederum auf eine Weise, dass die in dieser praktischen Intentionalität bestimmende Verbindlichkeit weder auf „pathologische Affiziertheit“ gestützt werden noch in bloßer „Klugheit … auf die Gemeinschaft, darin wir mit Menschen stehen“,412 abzielen bzw. sich dabei mit den pragmatischen Imperativen solcher Klugheit begnügen dürfte.413 Insbesondere bleibt auch hier die von Kant eingeschärfte Unterscheidung der „fremden Glückseligkeit“ als notwendiges „Objekt des Willens“ und als „Bestimmungsgrund“ derselben genau zu beachten; vor allem wohl auch gegenüber jenen Gestalten eines als Hilfsbereitschaft und Fürsorge getarnten „moralischen Solipsismus“ und dessen latentem Interesse an einer Stabilisierung von Bindungen und Abhängigkeitsverhältnissen, das andere Personen und deren „individuelle Besonderheit“ eher für narzisstische Vereinnahmungen missbraucht und „besetzt“, sich jedoch mitnichten an deren Würde und „Selbstzweckhaftigkeit“ orientiert. Diesbezüglich verdient das sehr feine – durch seine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen moralphilosophischen Konzeptionen wohl noch sensibilisierte – Ge410 Honneth ebd., 170. 411 Honneth 2000b, 185. Dagegen spricht wohl schon die in der Reflexion 7200 (AA XIX, 274) erhobene Forderung. Vgl. AA XXVII, 200: „Die Liebe zu der höchsten Glückseligkeit und also die Liebe zu sich selbst ist ganz richtig. Sich selbst aber lieben mit Ausschließung anderer macht die Selbstliebe fehlerhaft, weil ich alsdenn gleichgültig in Ansehung der Glückseligkeit anderer bin.“ Vgl. dazu auch noch einmal die o. in Anm. 297 u. 340 zitierte Reflexion 7251. 412 Refl. 1482, AA XV, 659. 413 So wichtig es nach Kant ist, diesen moralischen Imperativ und seine Verbindlichkeit von den anderen „Imperativen“ zu unterscheiden, so bleiben sie gleichwohl notwendigerweise aufeinander bezogen; der „moralische Imperativ“ ohne Rücksicht auf die Gebote der Klugheit bliebe jedenfalls leer.
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spür Kants auch für subtilere Formen eines moralisch-„solipsistischen“ „Im-Anderen-beisich-Seins“ besondere Erwähnung: „Wir haben eine Idee von der Möglichkeit und der Bestimmung der Vernunft, in dem Glück anderer uns glücklich zu finden: und doch auch einen unbezwinglichen Hang, jenes nur um dieses willen zu suchen (Solipsism).“414 Auch dem von Honneth erhobenen Anspruch, seine gegen Kant geltend gemachten Motive stünden „nicht eigentlich in einem Gegensatz, sondern in einem Ergänzungsverhältnis“ zu einer Moraltheorie „kantischer Prägung“,415 ist wohl am besten mit einer Vergegenwärtigung der einschlägigen Motive Kants zu begegnen. Finden diese bei Kant maßgebenden moralphilosophisch-ethischen Begründungsfiguren die ihnen gebührende Beachtung, so verliert auch die von Honneth intendierte Überwindung der bei Kant diagnostizierten Defizite sowie das dagegen aufgebotene „Ergänzungsverhältnis“ an Gewicht; denn weder die von ihm daran geknüpfte Forderung der „menschlichen Fürsorge“ als des „Anderen der Gerechtigkeit“ noch jene geltend gemachte „moralische Verantwortung für den konkreten Anderen“ treffen Kants differenzierte ethische Konzeption. Erneut bleibt zu fragen: Wie wäre denn die von ihm ausdrücklich eingemahnte ethische Verpflichtung anders zu verstehen, sich „den ganzen Menschen [und zwar eben als ein „vernünftiges Weltwesen“] zum Zweck zu machen“, d. h. am „Wohl und Heil des Anderen“ – d. i. an unverkürzter „fremder Glückseligkeit“! – Maß zu nehmen, wenn doch eben dies der „Imperativ, welcher die Tugendpflicht gebietet“, ausdrücklich verlangt und somit natürlich auch die gebotene Orientierung an der „Idee einer moralischen Berücksichtigung des Besonderen, des Heterogenen“,416 impliziert? Sofern dieser kantische „Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet“, in der angezeigten Weise offenkundig selbst an der „Sorge für das Wohl der Anderen“ Maß nimmt, führt dies zweifellos auch über das von Habermas im Sinne der „Zweckformel“ des kategorischen Imperativs verstandene Gerechtigkeitsprinzip (und insofern über „das Prinzip der gleichen Achtung für die Integrität oder Würde einer jeden Person“)417 noch hinaus. Demnach ist dem (gegenüber Kant) als „bahnbrechend“ gewürdigten Versuch, „das Prinzip der Sorge für das Wohl des Anderen neben dem Gerechtigkeitsprinzip zur Geltung zu bringen“,418 mit den dem „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, immanenten Differenzie414 Refl. 1471, AA XV.2, 649 f. Damit hängt auch Kants Zurückweisung einer auf altruistische Grundlagen rekurrierenden, insofern „empiristisch“ begründeten Moralphilosophie zusammen. 415 Honneth 2000a, 147. 416 Honneth ebd., 134. 417 Habermas 1991c, 67. 418 Ebd. – Hatte Habermas in seiner „Replik auf Einwände“ (Habermas 1984, 515) „Mitleid und Solidarität … in einer konsequent zu Ende gedachten Diskursethik mindestens als Grenzbegriffe“ anerkannt, so weist deren späte Bestimmung als „das Andere der Gerechtigkeit“ darüber offenbar hinaus. Noch in diesem Motiv des „Anderen der Gerechtigkeit“ wird als Hintergrund jenes Anliegen und jene „grundlegende Intuition“ vernehmbar, die Habermas in einem Interview folgendermaßen charakterisierte: „Diese [Intuition] geht übrigens auf religiöse Traditionen, etwa der protestantischen oder der jüdischen Mystiker zurück, auch auf Schelling. Der motivbildende Gedanke ist die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne, die Vorstellung also, dass man ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens findet, in der wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten; dass man aufrecht gehen kann in einer Gemeinsamkeit, die nicht die Fragwürdigkeit rückwärts gewandter substantieller Ge-
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rungsmomenten im Grunde hinreichend entsprochen. Dies geschieht überdies auf eine so behutsame Weise, dass dieses „Prinzip der Sorge“ sich keinesfalls unversehens in bloß „pathologische Teilnahme“ und Formen des „moralischen Solipsismus“ und Narzissmus verflüchtigt. Auch so scheint sich zu bestätigen, dass diese gemäß dem „Anderen der Gerechtigkeit“ verstandene „Einbeziehung des Anderen“ nicht nur schon bei Kant Berücksichtigung findet, sondern wohl in der die Verfasstheit des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ – im Sinne einer konstitutiven Selbstdifferenzierung – auszeichnenden Einheit von „Subjekt- und Person-Sinn“ als konkreter „individueller Persönlichkeit“419 verwurzelt ist. Schon jener erwähnte Hinweis Kants auf die notwenmeinschaftlichkeiten an sich hat. Diese Intuition stammt aus dem Bereich des Umgangs mit anderen; sie zielt auf Erfahrungen einer unversehrten Intersubjektivität, fragiler als alles, was bisher die Geschichte an Kommunikationsstrukturen aus sich hervorgetrieben hat – ein immer dichter, immer feiner gesponnenes Netz von intersubjektiven Beziehungen, das gleichwohl ein Verhältnis zwischen Freiheit und Abhängigkeit ermöglicht, wie man es sich immer nur unter interaktiven Modellen vorstellen kann. Wo immer diese Vorstellungen auftauchen …, es sind immer Vorstellungen von geglückter Interaktion. Gegenseitigkeiten und Distanz, Entfernungen und gelingende, nicht verfehlte Nähe, Verletzbarkeiten und komplementäre Behutsamkeit – all diese Bilder von Schutz, Exponiertheit und Mitleid, von Hingabe und Widerstand steigen aus einem Erfahrungshorizont des, um es mit Brecht zu sagen, freundlichen Zusammenlebens auf. Diese Freundlichkeit schließt nicht etwa den Konflikt aus; was sie meint, sind die humanen Formen, in denen man Konflikte überleben kann“ (Habermas 1985b, 202 f ). (Vgl. zu diesem Motiv der „in Begriffen einer unversehrten Intersubjektivität“ gedachten Idee der „Versöhnung“ auch schon: Habermas I 1981, 523 ff; ders., 1988, 185 f ). Noch diese „unversehrte Intersubjektivität“ und dieses „immer dichter, immer feiner gesponnene Netz von intersubjektiven Beziehungen, das gleichwohl ein Verhältnis zwischen Freiheit und Abhängigkeit ermöglicht“, wecken Erinnerungen an die von Kant für die „moralische Freundschaft“ als konstitutiv angesehene „innigste Vereinigung der Liebe mit der Achtung“ und an den darin gewährten (allerdings keinesfalls überschwänglichen) „Genuß der Freiheit“, den der Mensch – als ein zwar „für die Gesellschaft bestimmtes (obgleich doch auch ungeselliges) Wesen“ – „in dem großen Haufen entbehrt, wo er sich in sich selbst verschließen muß“ (IV 611 f ). Kants Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten hat offenbar eine Entsprechung in Habermas’ Hinweis auf die „komplementären Aspekte“ der „Prinzipien der Gerechtigkeit und der Solidarität“: „Während das eine gleichmäßige Achtung und gleiche Rechte für jeden Einzelnen postuliert, fordert das andere Empathie und Fürsorge für das Wohlergehen des Nächsten. Gerechtigkeit im modernen Sinne bezieht sich auf die subjektive Freiheit unvertretbarer Individuen; hingegen bezieht sich Solidarität auf das Wohl der in einer intersubjektiv geteilten Lebensform verschwisterten Genossen“ (Habermas 1991a, 16). Andernorts hat Habermas „Solidarität“ für einen „modernen Begriff von Gerechtigkeit“ als „Kehrseite von Gerechtigkeit“ (Habermas 1991b, 73) geltend gemacht: „Gerechtigkeit bezieht sich auf die gleichen Freiheiten unvertretbarer und sich selbst bestimmender Individuen, während sich Solidarität auf das Wohl der in einer intersubjektiv geteilten Lebensform verschwisterten Genossen bezieht – und damit auch auf die Erhaltung der Integrität dieser Lebensform selbst. Moralische Normen können nicht eins ohne das Andere schützen: die gleichen Rechte und Freiheiten des Individuums nicht ohne das Wohl des Nächsten und der Gemeinschaft, der sie angehören. Als Bestandteil einer universalistischen Moral verliert freilich Solidarität ihren bloß partikulären, auf die Binnenverhältnisse eines ethnozentrisch gegen andere Gruppen sich abschließenden Kollektivs beschränkten Sinn – jenen Charakter von erzwungener Opferbereitschaft für ein kollektives Selbstbehauptungssystem, das in vormodernen Formen der Solidarität stets mitschwingt“ (Habermas 1991b, 70). 419 Hier ist auf Hegels Kennzeichnung der „Grundbestimmungen, welche die Natur des Ich ausmachen“, zu verweisen, die er als konkrete Einheit dahingehend charakterisierte: „Wenn man daher an die Grundbestimmungen, welche die Natur des Ich ausmachen, erinnert, so darf man voraussetzen, dass an etwas Bekanntes, d. i. der Vorstellung Geläufiges erinnert wird. Ich aber ist erstlich diese reine sich auf sich beziehende Einheit, und dies nicht unmittelbar, sondern indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahiert und in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht. So ist es Allgemeinheit; Einheit, welche nur durch jenes negative Verhalten, welches als das Abstrahieren erscheint,
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dige „Anwendung des Tugendprinzips“, d. i. der „reinen Pflichtprinzipien auf Fälle der Erfahrung“, und die damit verbundene „Schematisierung“ derselben gemäß den „Arten der Anwendung“ (IV 607 f ), weist wohl selbst in diese Richtung und dürfte insofern auch jenen geforderten (bzw. bei ihm vermissten) „fürsorglichen Hinsichten“ Rechnung tragen. Zugleich hätte das gemäß der „Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens“ bloß regulative „Als-ob“420 in diesem praktischen Vernunfthorizont eine konstitutiv-praktische Bedeutung – eben im Sinne der positiven Verbindlichkeit als Beförderung der „fremden Glückseligkeit“ – gewonnen. Ergänzend sei hier noch angemerkt: Kant wollte, über „Disziplinierung“, „Kultivierung“ und „Klugheit“ hinaus, ebenso solche „Moralisierung“ als unverzichtbare Aufgabe der Erziehung gewürdigt und berücksichtigt sehen, denn: „Der Mensch soll nicht bloß zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern auch die Gesinnung bekommen, dass er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden; und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können“ (VI 707). In seinen Reflexionen über die Erziehung zur „Moralisierung“ findet sich überdies der auch in sozialpsychologischer Hinsicht interessante Bezug auf „Menschenliebe gegen andere, und dann auch auf weltbürgerliche Gesinnungen. In unserer Seele ist etwas, dass wir Interesse nehmen 1) an unserm Selbst, 2) an andern, mit denen wir aufgewachsen sind, und dann muß 3) noch ein Interesse am Weltbesten Statt finden. Man muss Kinder mit diesem Interesse bekannt machen, damit sie ihre Seelen daran erwärmen mögen. Sie müssen sich freuen über das Weltbeste, wenn es auch nicht der Vorteil ihres Vaterlandes, oder ihr eigner Gewinn ist“ (VI 761).421 Dies gehört, ohne die auch moralphilosophisch bedeutsame Differenz von „Genesis und Geltung“ zu nivellieren, zur gebotenen Rücksichtnahme auf die notwendigen „subjektiven Bedingungen“ für die Ausbildung der „moralischen Persönlichkeit“. Bemerkenswerterweise steht Kants pädagogische Perspektive auch jenem von Honneth betonten entwicklungspsychologisch-„genetischen“ Aspekt in gewisser Hinsicht durchaus nahe: „Genetisch … geht die Erfahrung dieses Moralprinzips, weil es unter glücklichen Umständen am Beginn des kindlichen Entwicklungsprozesses steht, der Begegnung mit allen anderen Gesichtspunkten der Moral voraus; ja es mag sein, dass ein Sensorium für das, was Gleichbehandlung in einem unbeschränkten Sinn heißen kann, überhaupt nur dann zu entwickeln ist, wenn an der eigenen Person einmal die Erfahrung einer unbegrenzten Fürsorge, einer Ungerechtigkeit, gemacht worden ist.“422 Einheit mit sich ist und dadurch alles Bestimmtsein in sich aufgelöst enthält. Zweitens ist Ich ebenso unmittelbar als die sich auf sich selbst beziehende Negativität Einzelheit, absolutes Bestimmtsein, welches sich Anderem gegenüberstellt und es ausschließt; individuelle Persönlichkeit“ (Hegel 6, 253). 420 Die verschiedenen Bedeutungen bzw. Funktionen des „Als-ob“ (vornehmlich in seiner „heuristischen“ Funktion, dem „regulativen Sinn“ der „reflektierenden Urteilskraft“ in der Beurteilung des „inneren Naturzwecks“, das „als ob“ im Sinne des „instar“, das „Als-ob“ im Sinne der „Analogie“, nicht zuletzt das „als ob“ des „reflektierenden Glaubens“) sind hier nicht näher zu verfolgen. 421 Interessant ist diese Bemerkung, auch losgelöst von der engeren „pädagogischen Perspektive“, nicht zuletzt deshalb, weil in dieser „philanthropisch“ getönten Notiz Kants eine an der „Idee der Menschheit“ orientierte Hoffnungsperspektive bzw. die Ermutigung dazu anklingt. 422 Honneth 2000a, 169.
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Aufschlussreich ist jene kantische Notiz über das ausdrücklich gebotene „InteresseNehmen“ wohl auch deshalb, weil darin offenbar das in gegenwärtigen Diskussionen zur „Fürsorgeethik“ bestimmende Motiv der „Solidarität“ und des „Wohls des Nächsten“ als das „Andere der Gerechtigkeit“ angesprochen ist, sofern „in ihr [der Solidarität] sich alle Subjekte wechselseitig um das Wohl des jeweils anderen bemühen, mit dem sie zugleich als gleichberechtigte Wesen die kommunikative Lebensform des Menschen teilen“.423 Beachtenswert ist diesbezüglich gleichermaßen die kantische Begründung jener „Pflicht der Wohltätigkeit“, „d. i. anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein“. Diese „allgemeine Pflicht der Menschen“ und die indirekte Pflicht des Mitleids als „tätige Teilnehmung an ihrem Schicksale“ (IV 595)424 beruhen, in unübersehbarer sachlicher Nähe zu einschlägigen Motiven bei Habermas und Honneth, eben auch darauf, dass „sie als Mitmenschen, d. i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihilfe vereinigte vernünftige Wesen anzusehen sind“ (IV 589 f ). Dieser hiermit abzuschließende Exkurs wollte in besonderer Rücksicht auf leitende Motive der kantischen Tugendlehre vor allem den Blick dafür schärfen, dass Kants Moralphilosophie und Ethik durchaus Perspektiven eröffnen, die sich jedenfalls nicht auf angebliche „rechtsförmige“ Engführungen reduzieren lassen. Standen in den voranstehenden Überlegungen des I. Teils die „moralische Anthropologie“ und die Ethik Kants im Kontext des kantischen „Weltbegriffs der Philosophie“ im Vordergrund, so verlangt jedoch die „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft“ auch in Bezug auf diese „wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ selbst noch einmal weitere Differenzierungen, ohne die, gemäß der darin leitenden „teleologia rationis humanae“, auch die im „Weltbegriff der Philosophie“ ebenfalls zu thematisierenden „höchsten Zwecke“ letztendlich ohne Fundament bleiben müssten. Im Folgenden sind nun, wiederum am Leitfaden jener den „Weltbegriff der Philosophie“ bestimmenden Unterscheidung der „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“,425 einige Grundmotive und Differenzierungen innerhalb der kantischen Geschichtsphilosophie zu vergegenwärtigen. In der näheren Explikation der „wesentlichen Zwecke“ und der schon darin maßgeblichen Orientierung an dem, „was da sein soll“, sowie im Blick auf den darauf beruhenden Zusammenhang der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ kommt diesen geschichtsphilosophischen Motiven sogar eine grundlegende Bedeutung zu. Dabei gewinnt freilich die Freilegung von latenten geschichtsphilosophischen Problemperspektiven einen besonderen Stellenwert; diese soll dabei einerseits jene „wesentlichen Zwecke“ noch näher differenzieren und bereichern, zudem jedoch auch Anknüpfungs-
423 Honneth ebd., 168. 424 Diese Wendung impliziert ebenso Kants Sensibiliät dafür, dass „fremdes Leid“ erst dadurch wirklich „wahr“-genommen ist, dass „Mitleiden“ in tätiger „Mithilfe“ aufgehoben ist. 425 Der Unterscheidung zwischen den „wesentlichen“ und den „höchsten Zwecken“ entspricht offenbar in gewissem Sinne diejenige zwischen der „Naturbestimmung“ („höchste Kultur“) und der „Vernunftbestimmung des Menschen“ („Moralität“); vgl. auch Refl. 1521, AA XV, 885.
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punkte für die von Kant so genannten „höchsten Zwecke“ bereitstellen. Dies soll sodann weiterführende thematische Gesichtspunkte eröffnen, die über dieses geschichtsphilosophische Terrain in mehrfacher Hinsicht hinausweisen. Derart soll vor allem eine Schnittstelle zwischen Geschichts- und Religionsphilosophie zutage treten, die sodann auf eine die Geschichtsphilosophie prinzipiell übersteigende ethikotheologische Verbindung jener zuvor genannten Fragen führt. Auch wenn die „ganze Bestimmung des Menschen“ und somit die darauf abzielende Frage „Was ist der Mensch?“ – und nicht zuletzt die durchaus differenzierte Verknüpfung der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ – auf solche Weise erst ihre adäquate Entfaltung finden,426 so ist hierfür nicht nur die Darlegung der „wesentlichen Zwecke“ vorausgesetzt; vielmehr verweisen die diesbezüglichen zentralen Fragen der Geschichtsphilosophie darüber hinaus auf Themen, welche des Weiteren auch als Scharnier zu denjenigen religionsphilosophischen Themen fungieren, die in den nachfolgenden Teilen in den Vordergrund treten werden und sodann den „Weltbegriff der Philosophie“ (d. h. die „höchsten Zwecke der Vernunft“) im Sinne des eröffneten „praktischdogmatischen Überschritts“ und des „Endzwecks der Vernunft“ näher explizieren.
426 Brandt (2007a, 30) hat besonders nachdrücklich herausgestellt, dass die „finalistische“ Verfassung der kritischen Philosophie Kants in der „selbstbezüglichen ‚teleologia rationis humanae‘“ liegt. – Gegenüber einer (im Sinne einer primär theoretischen Absicht) missverstandenen Frage „Was ist der Mensch?“ bekräftigt Brandt bezüglich dieser maßgebenden Erkundung der „Bestimmung des Menschen“: „Es ist keine bloße Verstandesfrage, die hier verhandelt wird, sondern ein Existenzial des ganzen Menschen“ (ebd. 126). Als engführende Orientierung an einem „Definitivum“ wäre diese Frage „Was ist der Mensch?“ missverstanden, zumal der Mensch „von Natur aus“ dazu bestimmt sei, seine Bestimmung erst finden zu müssen – und dies ist die Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“. – Zur Verbindung des „Weltbegriffs der Philosophie“ mit dieser praktisch akzentuierten „Bestimmung des Menschen“, die in zahllosen Reflexionen und Vorlesungen Kants bestätigt wird, vgl. besonders Brandt 2007a, Kap. 2. In dem späten Hinweis der kantischen „Anthropologie“, wonach die „nur nach von ihnen selbst gegebenen Gesetzen“ sich unterworfen wissenden Menschen „durch dies Bewusstsein sich veredelt fühlen, nämlich zu einer Gattung zu gehören, die der Bestimmung des Menschen, so wie die Vernunft sie ihm im Ideal vorstellt, angemessen ist“ (VI 685), erkennt Brandt „die Summe nicht nur der Anthropologie, sondern der Kantischen Philosophie im Ganzen“ (Brandt 2007a, 122); vgl. dazu auch die u. IV. Teil, Anm. 381 angeführte Argumentation von D. Henrich.
II. Teil: Der Ort der kantischen Geschichtsphilosophie innerhalb des „Weltbegriffs der Philosophie“ – und notwendige gegenläufige Perspektiven
1. Zur Erinnerung: Kants Verankerung der geschichtsphilosophischen Idee der „Weltgeschichte“ in „Prinzipien der praktischen Vernunft“ (Recht und Politik)
Für die dem Gebiet der praktischen Philosophie zugehörige kantische Geschichtsphilosophie sind bekanntlich die Prinzipien der praktisch-rechtlichen Vernunft in besonderer Weise maßgebend. Näherhin sind es die praktischen Vernunftideen der politischen Freiheit, des „einzige(n), ursprüngliche(n), jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende(n) Recht(s)“ (IV 345), die Idee einer „nach Begriffen des Menschenrechts geordneten Staatsverfassung“ („res publica noumenon“) (VI 804; 39; 364) als das „äußerste Ziel der Kultur“ (VI 94) sowie die Idee des „Völkerrechts“ und des „ewigen Friedens“, welche für die Vernunftidee der „Weltgeschichte“, die als geschichtsphilosophischer „Leitfaden apriori“ fungieren soll, die erforderlichen Kriterien liefern.1 Die angeführten Vernunftideen, genauer die „unbezweifelte praktische Realität“ derselben – vornehmlich die „Idee des Menschen“ bzw. der „Menschheit“ und des Rechts, orientiert an den rechtlich-(kosmo-)politischen Maßstäben der „res publica noumenon“, des globalen, völkerrechtlich gewährleisteten „ewigen Friedens“ und somit der entsprechenden Idee des „Völkerbundes“ bzw. der „Weltrepublik“ –, erweisen sich für die Grundlegung der kantischen Geschichtsphilosophie schon deshalb als unentbehrlich (als „verbindend“), weil ohne sie auch eine kritische „Idee des Fortschritts“ und somit dessen „Richtungssinn“ nicht bestimmbar wäre, zumal diese doch erst den leitenden verfassungsgeschichtlichen Gesichtspunkt bereitstellen, „was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben“ (VI 49 f ).2 1
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Deshalb betonte Kant in einer „kosmopolitischen“ Ausrichtung: „Bei dem Plan einer Universal-Geschichte: 1. Die Natur der bürgerlichen und Staatsverfassung; die Idee, wenn sie gleich niemals völlig wirklich wird, und zwar die Idee des Rechts, nicht der Glückseligkeit“ (Refl. 1443, AA XV, 630). „Man kann die Geschichte eines jeden Volks als eine Bestrebung der Natur zur Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung ansehen. Die der Staaten als Versuche zum Völkerrecht“ (Refl. 1468, AA XV, 647). – Zu den unterschiedlichen Problemaspekten und zu den besonderen thematischen Akzentuierungen in den geschichtsphilosophischen Schriften Kants s. jetzt auch die in Höffe 2011b gesammelten Beiträge sowie die dort angeführten Literaturhinweise. Diese kritische Absicht wird schon aus folgender Bemerkung in einer Vorlesung zur Anthropologie aus dem Jahr 1775/76 besonders deutlich: „Es hat noch keiner eine Welthistorie geschrieben, wo zugleich eine Geschichte der Menschheit war, sondern nur den Zustand und die Veränderung der Reiche, welches zwar als ein Theil was großes, aber im Ganzen genommen ist es eine Kleinigkeit. Alle Geschichten der Kriege kommen auf eins heraus, indem sie nichts mehr als die Beschreibungen der Bataillen in sich enthalten. Ob nun eine Schlacht mehr oder weniger gewonnen, das macht im Ganzen nichts aus. Es sollte aber dabei mehr auf die Menschheit gesehen werden“ (Kants Anthropologievorlesungen 2004, 163). Es wird sich zeigen: Genau diese von Kant geforderte Perspektive „auf die Menschheit“ ist im Sinne des der Geschichte eingeschriebenen kritischen Motivs der „Naturgeschichte“ zu ergänzen (s. u. II., 4.), wobei
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Allein über die Begründung und Differenzierung der Rechtsidee und des daran bemessenen Rechtsfortschrittes3 – einer „vollkommene(n) rechtliche(n) Verfassung unter Menschen“ (IV 497) – als einer regulativen Idee der „rechtlich-praktischen Vernunft“ sah Kant bekanntlich, in direkter Abgrenzung von zeitgenössischen Konzeptionen, die Möglichkeit gewahrt, auf diesem geschichtsphilosophischen Feld anhand des modernen naturrechtlichen Leitfadens des „Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts“ Kriterien für die Beurteilung der Frage nach Fortschritt und Sinn der Geschichte zu entwickeln. In der Tat: „Kants stillschweigende Grundfrage der Idee lautet: Wie läßt sich ein Fortschritt der Menschheit philosophisch begründen: Des Näheren: Worin besteht er? Und: Was ist die Antriebskraft, die den Fortschritt erwarten läßt?“4 In diesem Sinne bleibt jener an diese praktischen Vernunftprinzipien geknüpfte „Leitfaden apriori“ als kritische Norm unumgänglich auf die „empirisch abgefasste Historie“ (VI 49) verwiesen, enthält doch die allein aus solcher notwendigen Verknüpfung der „cognitio ex principiis“ und einer „cognitio ex datis“ konstituierte geschichtsphilosophische Perspektive gleichermaßen eine Kritik an einer bloß abstrakt-„ideengeschichtlich“ sich verflüchtigenden Geschichtsphilosophie wie auch an einer vernunft-, d. h. „ideen“-losen empirischen Geschichtsschreibung. Auch eine primär an einem methodischen Begrün-
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freilich auch die Perspektive auf die Idee der „Menschheit“ und des „Rechts“ maßgebend bleibt. Indes ist es offenbar die Auseinandersetzung mit Herders „Ideen zu einer Geschichte der Menschheit“, die ihn (im Ausblick auf die spätere kantische Bestimmung des Menschen als des „letzten Zwecks der Natur“ und als „Endzwecks der Schöpfung“) noch zu einer Rückbindung der Geschichtsphilosophie in die Konzeption einer „Teleologie der Natur“ veranlasste; die wiederum jedenfalls in dem „Ersten Satz“ seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ sichtbar und richtungsweisend wurde: „Alle Anlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“ (VI 35). Kleingeld macht freilich gegenüber verkürzenden Interpretationen geltend, „dass keine dieser beiden Arten des Rechtsfortschrittes [bezogen auf das „allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“ sowie auf den utopischen „weltbürgerlichen Zustand“] der ‚Endzweck‘ der Geschichte genannt werden kann, sondern dass beide selbst Mittel zu einem weiteren Zweck sind. Der wahre Endzweck ist die völlige Entwicklung der ‚Anlagen der Menschheit‘, die in ihrer Moralisierung, d. i. in der Verwandlung des menschlichen Zusammenlebens in ein ‚moralisches Ganzes‘ kulminiert“ (Kleingeld 1995, 14; vgl. 21). Die „allgemein das Recht verwaltende bürgerliche Gesellschaft“ und darüber hinaus der utopische „weltbürgerliche Zustand“ seien vielmehr selbst – und zwar als „conditio sine qua non“ (ebd. 23) – lediglich der „Schoß, worin alle ursprüngliche Anlagen der Menschengattung entwickelt werden“ (VI 47). In der Tat ist jene späte Perspektive Kants nicht zu übersehen (obgleich im „Gemeinspruch“-Aufsatz nur anmerkungsweise formuliert): „Es fällt nicht so fort in die Augen, wie eine allgemein-philanthropische Voraussetzung auf eine weltbürgerliche Verfassung, diese aber auf die Gründung eines Völkerrechts hinweise, als einen Zustand, in welchem allein die Anlagen der Menschheit gehörig entwickelt werden können, die unsere Gattung liebenswürdig machen“ (VI 165, Anm.). Höffe 2011b, 5. Mit Rücksicht auf Kants „relativ frühe Dreigliederung der Praxis in technisch, pragmatisch und moralisch orientiertes Handeln“ bleibt zu beachten: „Die Geschichte der Menschheit bewegt sich für Kant ja gewissermaßen auf drei ganz verschiedenen Ebenen: der Ebene der Kultur, der Ebene der Zivilisation und der Ebene der Moral. […] Die geschichtliche Situation seiner Zeit ist für Kant durch das Zurückbleiben der Moral hinter dem bereits erreichten Stand der Kultur und der Zivilisation bestimmt, der Sinn der Geschichte aber zielt für ihn auf eine Verschmelzung jener drei Ebenen in ihrer höchsten dem Menschen möglichen Vollendung. […] Gerade diejenige Form des Handelns also, in welcher der Mensch allererst seine Identität zu finden vermag und der eben deshalb bei der Diskussion der Grundformen der Praxis schließlich der Primat zugefallen war, ist Kants Analyse zufolge im faktischen Zustand der Geschichte am weitesten zurückgeblieben“ (Hinske 1980a, 114 ff ).
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dungsversuch orientierte „Kritik der historischen Schriften“ (s. u. II., 3.1.1.) vermag sich Kants Geschichtsphilosophie wohl nur deshalb vorzunehmen, weil sich die darin maßgebenden regulativen Ideen immer schon auf die historische „cognitio ex datis“ beziehen und in derlei Absicht mit kritischem Blick auf die Bearbeitung derselben ideengeleitet eine unentbehrliche korrektivische Aufgabe übernehmen. Umgekehrt erweist sich wiederum eine Rückbindung der an den angeführten Vernunftideen maßnehmenden „Idee der Weltgeschichte“ an die „empirisch abgefaßte Historie“ – in differenzierter Weise freilich, wie sich zeigen wird – schon deshalb als unverzichtbar, weil doch nur aus einer solchen Einheit geschichtliche Anhaltspunkte als unübersehbare „Geschichtszeichen“ wahrgenommen werden können, die dieserart eine ideen-geleitete geschichtsphilosophische Hoffnungsperspektive zu begründen bzw. zu unterstützen vermögen, die sich selbst an der Leitidee der Aufklärung orientiert.5 Kants wiederholt eingeschärfte Lehre, wonach die Vernunft den Verstand voraussetzt, d. h. sich auf die durch den Verstand konstituierte Welt bezieht und aus dem solcherart „verständig“ Konstituierten erst „Erfahrung“ ermöglicht, indem sie diesem Verstand in regulativer Absicht die Richtung weist, hat darin eine unverkennbare geschichtsphilosophische Entsprechung. Eine berühmte kantische Gedankenfigur variierend, bliebe in diesem Kontext vorweg dies anzumerken: Während die Vernunft-„Idee der Weltgeschichte“ ohne „empirisch abgefasste Historie“ leer bliebe, müsste Letztere hingegen ohne Rückbezug auf jene „Vernunftidee“ gewissermaßen erblinden – erst die Verbindung beider lässt demnach eine „undogmatische“, d. h. vernunftbegründet-zukunftsorientierte Beantwortung der Frage nach einem möglichen „Fortschritt des Menschengeschlechts zum Besseren“ zu. Auch in einer geschichtsphilosophischen Akzentuierung bestätigt so der hierfür nötige Rekurs auf einen „Leitfaden a priori“ jenes kantische Diktum, dass die Vernunft, gegenüber einem bloß „empirischen Herumtappen ohne ein leitendes Prinzip“ (V 140), doch nur dasjenige einsieht, „was sie selber nach ihrem eignen Entwurf hervorbringt“ – in diesem Fall freilich mit kritischer Rücksicht auf den darin maßgebenden Bezugspunkt: was eine vernunft-orientierte Perspektive vornehmlich mit den erlittenen Widerfahrnissen macht. Denn erst die darin leitende „Idee der Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ ermöglicht es – gewissermaßen im Sinne „philosophischer Anfangsgründe der Geschichtswissenschaft“ –, mit dem aus jenen praktischen Vernunftideen geknüpften „Leitfaden apriori“6 über ein „Buch5
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Von einem „geschichtlichen Hoffnungsbegriff“ spricht Koselleck primär mit Blick auf Kants Idee der „res publica noumenon“ bzw. die „positive Idee einer Weltrepublik“ (VI 213) (Koselleck 1979, 63). Siehe zu dieser bloßen, aber „in aller Absicht sehr nützliche(n) Idee“ auch Kant VI 806; VI 41. Nach Koselleck war es „Kant, der vermutlich auch den Ausdruck ‚Fortschritt‘ geprägt hat“ (ebd. 365). In der Tat: „Man spürt den Atem des Fortschritts, des Aufwärtsschreitens in die Zukunft bei Kant fast überall, es ist der Fortschritt der Menschheit und der Metaphysik, der Kultivierung, der Zivilisierung und der Moral. Man entdeckt jedoch rasch, dass auch der Fortschritt, zu dem die Natur den Menschen zwingt und den die Vernunft gebietet, nur in der letzteren, der Moral, ihr Ziel und ihren Wert hat“ (Brandt 2007a, 167). Kants „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte …“ dürfen wohl auch als eine Art philosophischer „Anfangsgründe der Geschichtswissenschaft“ verstanden werden, die sich an den maßgebenden Bestimmungen und Differenzierungen des Kultur- und des Rechtsbegriffes orientieren. Dass Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ „in einer gewissen Analogie zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften zu lesen“ sind, hat Höffe (2011b, 5) ausdrücklich betont. – Riedel (1974, 16) will
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stabieren“ und äußerliches Aneinanderfügen der lediglich aggregathaften historischen Erscheinungen7 hinaus die losen Blätter der Geschichte und deren Fragmente in einer kritischen Betrachtungsweise gemäß einem für kritische Geschichtsforschung tauglichen „Leitfaden“ zu einem lesbaren Text zu verknüpfen – gleichwohl des entscheidenden Sachverhaltes gegenwärtig, dass eben auf diesen losen Blättern selbst immer schon diese gemachten „Erfahrungen“ und erlittenen Widerfahrnisse der in der Geschichte handelnden Akteure als „Begebenheiten“ (als „Erscheinungen in der Welt“: II 443) „eingeritzt“ sind, d. h. den „Charakter“ der Weltgeschichte bestimmen. Ebendies nötigt, wie sich zeigen soll, zu weitreichenden Differenzierungen auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain, die indes allein Kurzschlüsse vermeiden lassen. Zunächst bezieht sich dieser Gesichtspunkt freilich auf das Fortschreiten „in Ansehung der Kultur, als dem Naturzwecke“ des „Menschengeschlechts“; hinsichtlich des „Fortschreiten(s) zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins“ (VI 167)8 bleibt indes allein die Rücksicht auf die „Phänomene der sittlichen Beschaffenheit des Menschengeschlechts“, d. i. gemäß der „virtus phaenomenon“, im strengen Sinne maßgebend. Jedenfalls müsse sich, so Kants wiederholte Mahnung, ein kritischen Maßstäben genügender Sondierungs- bzw. Orientierungsversuch an „einer praktisch-ver-
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in Kants „Entwurf einer a priori verfaßten und a priori gedeuteten Geschichte der Menschheit“ eine geschichtsphilosophische „Revolution der Denkungsart“ erkennen. So plausibel dies in mancher Hinsicht ist und auch durch Kants vernunft-kritischen Hinweis auf die rechte „Wahl des Standpunkts, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen“ (VI 355), in gewisser Weise nahegelegt wird, so ist doch zu fragen, ob das Motiv einer geschichtstheoretisch „revolutionierten Denkungsart“ nicht erst in den nachfolgend herausgestellten Elementen und Aspekten (s. bes. II., 2.-II., 4.) seinen besonderen bzw. vollständigen Gehalt gewinnt; vielleicht wäre es, mit Rücksicht auf Riedels geschichtsphilosophische Version einer „Revolution der Denkungsart“, dann sinnvoll, im Blick auf das Motiv der „Naturgeschichte“ von einer „zweiten Revolution der Denkungsart“ zu reden (s. u. II., 4.). Nach Höffe (2011b, IX) erweiterte Kant „die Wissenschaftstheorie um den bislang unbekannten Grundsatz einer regulativen Idee der Geschichtsforschung“; vgl. dazu auch Flachs Überlegungen zur „empiriologischen Orientierung der Kantischen Geschichtsphilosophie“ in Flach 2002 u. 2006. Dass dies auch eine geschichtsphilosophische Version erlaubt, ja sogar unumgänglich macht, wird sich zeigen (II., 3.3.). Die erkenntnisregulierenden Ideen des spekulativen Vernunftgebrauchs als unentbehrliche Voraussetzungen des „größtmöglichen empirischen Vernunftgebrauchs“ hätten so eine unübersehbare Entsprechung: Bietet doch die reine Vernunft den Leitfaden für einen „zweckmäßigen Gebrauch in Ansehung der Erkenntnis“ und eröffnet so die Perspektive einer „zweckmäßigen Einheit“ (II 685), die nunmehr freilich an die orientierende Funktion der praktischen Vernunftideen (vornehmlich am Leitfaden der Idee der „Menschheit“ und des „Rechts“) gebunden ist; Kants Rekurs auf regulative Prinzipien als „Grundsatz der größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung“ (II 472) verdient auch hier entsprechende Berücksichtigung, die freilich eine entscheidende Modifikation des „Erfahrungs“Begriffs voraussetzt. Vgl. dazu Geismann 2000, bes. 512 ff. Auch Kant räumt freilich einen „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ ein, der gerade auch dem der „terroristischen Geschichtsauffassung“ eigenen „Geschrei von der unaufhaltsam zunehmenden Verunartung“ entgegen trete; denn solches Geschrei selbst komme gerade daher, „dass, wenn es auf einer höheren Stufe der Moralität steht, es noch weiter vor sich sieht, und sein Urteil [!] über das, was man ist, in Vergleichung mit dem, was man sein sollte, mithin unser Selbsttadel immer desto strenger wird, je mehr Stufen der Sittlichkeit [!] wir im Ganzen als uns bekannt gewordenen Weltlauf schon erstiegen haben“ (VI 168 f ). Aus einem solchen Blickwinkel erfolgt ja wohl auch die späte Diagnose: „Wir leben im Zeitpunkte der Disziplinierung, Kultur und Zivilisierung, aber noch lange nicht in dem Zeitpunkte der Moralisierung“ (VI 708).
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nünftigen Begründung der empirischen Geschichte“9 davor hüten, in der Art einer bloß „gutmütigen Voraussetzung der Moralisten von Seneca bis zu Rousseau“ (IV 666), „in der Begründung einer solchen Geschichtsphilosophie von dem Moralprinzip der praktischen Vernunft … einen direkten Gebrauch zu machen“, zumal eine solcherart völlig unkritische „Moralisierung“ von Geschichte und Recht – und damit eine Konfundierung unterschiedlicher Stufen im „System der Zwecke“ der menschlichen Freiheit – nicht zu rechtfertigen ist. Bekanntlich war vor allem dagegen sein nüchterner Befund gerichtet: „Nicht ein immer wachsendes Quantum der Moralität in der Gesinnung, sondern Vermehrung der Produkte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen … also in den Phänomenen der sittlichen Beschaffenheit des Menschengeschlechts wird der Ertrag (das Resultat) der Bearbeitung desselben zum Besseren allein gesetzt werden können“ (VI 365). Indes scheint der bei Kant allerdings keineswegs einheitliche Gebrauch von „moralisch“ (in einem strengen bzw. engen Sinne einerseits, Moral und Recht bzw. Legalität umfassenden Sinne andererseits) ein eindeutiges Verständnis zu erschweren und dürfte jedenfalls auch diesbezügliche Missverständnisse mitunter begünstigen.10 In einer kulturgeschichtlichen Perspektive bzw. der ihr entsprechenden „pragmatischen Anthropologie“11 und den darin maßgebenden Kategorien sind derlei Fortschritte lediglich solche einer auf dem Gebiet der Geschichte angewandten „instrumentellen Vernunft“ und ihrer „Imperative“, derer sich der Mensch als ein kluges – und schlau-gerissenes – Tier fähig erweist. Es trifft zweifellos zu: „Die Geschichtsphilosophie ist Bestandteil der Anthropologie, weil der Mensch die Naturbühne als Mängelwesen (speziell: noch unbestimmtes Wesen) der Kultur, Zivilisation und Moral betritt und durch seine sinnliche und intelligible Natur dazu bestimmt ist, sich durch den Zwang der Naturmechanik und unter der Pflicht des Sittengesetzes selbst zu bestimmen und zu vervollkommnen und sich stufenweise zu einem globalen Rechtssystem (in Form eines friedlichen Staaten-Bundes) und zur Sittlichkeit emporzuarbeiten.“12 9
Riedel 1974, 19. Genau darin scheint aber doch der Grund dafür zu liegen (was Riedel allerdings als ein „Problem“ ansieht), dass in der Begründung der kantischen Geschichtsphilosophie „von dem Moralprinzip der praktischen Vernunft kein direkter Gebrauch gemacht wird“ (Riedel 1989a, 136). 10 In der Tat sind es „die Antinomien im Kulturbegriff, die das 18. Jahrhundert als moralische Paradoxien notiert und die Kant … in ihrer geschichtlichen Tragweite erkannt hat; die fortschreitende Kultur einer Gesellschaft beruht nicht auf den Tugenden, sondern auf den Lastern der Menschen (Mandeville)“ (Riedel 1974, 13). Zweifellos hat Kant damit in Ablehnung herkömmlicher „geschichtsphilosophischer“ Deutungsmuster die Auffassung vertreten, dass die „Geschichte … nicht als Entwicklung einer angeborenen ‚moralischen Natur‘“ (Riedel 1974, 15) zu verstehen ist; suchte er doch plausibel zu machen, dass sich „die Geschichte als Genese seiner Naturanlagen, als Kulturgenese der Menschengattung verstehen lässt. Gerade weil der Mensch, moralisch gesehen, keinen festen Charakter hat, wird es möglich anzunehmen, daß er sich einen solchen Charakter erst noch zu bilden habe“ (ebd. 16). 11 Diese „pragmatische Anthropologie“ bestimmte Kant schon in den 1770er-Jahren im Sinne von „Welt“und „Menschenkenntnis“ auch folgendermaßen: „Klugheit geht auf die Gemeinschaft, darin wir mit Menschen stehen. Alle anderen Wissenschaften borgen daher. Pragmatische Geschichte.“ (Refl. 1482, AA XV, 659). 12 Brandt/Stark 1997, LIII. – Hier muss der bloße Hinweis darauf genügen, dass in Kants Entwicklung tatsächlich ein zunehmend klareres (gleichwohl viele Fragen aufwerfendes) Nebeneinander von moral- und rechtsphilosophischer bzw. kultur- und geschichtsphilosophischer Perspektive zu beobachten ist (vgl. dazu auch die folgenden Anmerkungen!).
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1.1. „Mit Grunde hoffen“: Zu Kants geschichtsphilosophischer Differenzierung der Fortschritts- und Hoffnungsperspektive 1.1.1. Kultur (der „letzte Zweck der Natur“) und Recht (der „Augapfel Gottes auf Erden“13) im Rahmen der kantischen Geschichtsphilosophie Vor solchem Hintergrund bleibt bezüglich des Stellenwerts der kulturphilosophischen Überlegungen im Zusammenhang bzw. im Rahmen der kantischen Geschichtsphilosophie zunächst dies zu berücksichtigen: Dieser der Kultur eingeräumte Status eines „letzten Zwecks der Natur“, worin „die Natur des Menschen zur Erfüllung gelangt“,14 verbindet sich bei Kant mit dem erfahrungsgesättigten nüchternen Zweifel darüber, ob solche „Kultur“ für sich genommen denn tatsächlich als ein „Prozess der Selbstbefreiung des Menschen“ gelten darf; deshalb stellt die auf „moralische Zwecke“ hin „affine“ Kultur in diesem teleologischen System eine zwar unumgängliche (und auch vorrangige), im Grunde jedoch bloß vorläufige Stufe der Vermittlung des „Natur“- und „Freiheitsbegriffs“ dar.15 13 Diese späte Kennzeichnung des „Rechts der Menschen“ hat eine unübersehbare geschichtsphilosophische Entsprechung in Kants schon angeführter Bemerkung, wonach „die Geschichte des menschlichen Geschlechts“ den eigentlichen „Zweck“ der „Weisheit der Schöpfung“ darstelle; eben daraus resultiert die Notwendigkeit einer Differenzierung der kantischen Hoffnungs-Konzeption bzw. derjenigen des „höchsten Gutes“ (bzw. des „Endzwecks“). – Schon jene Kennzeichnung der Idee des „Rechts“ als „Augapfel Gottes auf Erden“ (und seiner immanenten Differenzierungen), die in das „höchste politische Gut“ einmünden, lässt erkennen, dass ihr innerhalb der „wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ ein herausragender Stellenwert zukommt. Zu Kants Rechtsphilosophie und Politischer Philosophie s. jetzt auch die eingehenden Analysen von G. Geismann, in: Geismann 2010 u. 2011; Höffe 2001; Cavallar 1992. 14 Bartuschat 1984, 74. Freilich: „Letzter Zweck der Natur kann am Menschen nur dessen Fähigkeit sein, die Natur als das Mittel zu gebrauchen, das seinen Zwecken, die er als autonomes Wesen sich selber setzt, angemessen ist“ (ebd. 75). Entsprechend wird sich zeigen: Während der „letzte Zweck“ der reinen praktischen Vernunft sich an dem unbedingten Zweck dieses „Vermögens der Zwecke“ orientiert, steht dies noch in einer Spannung zum ganzen „praktischen Endzweck“ bzw. zum „Endzweck der Schöpfung“. „Innere“ und „äußere Zweckmäßigkeit“, das „Vermögen, sich Zwecke zu setzen“ und die Bestimmung der „Zwecke der Vernunft“ stellen so eine Stufenordnung dar. So wäre des Weiteren, gemäß dem „Weltbegriff der Philosophie“, die „trans-naturale“ Bestimmung der Kultur von der „trans-kulturalen“ Dimension der Moral zu unterscheiden, während letztere in einer unaufhebbaren Spannung zur „transmoralischen“ Ebene des „praktischen Endzwecks“ bzw. des „Endzwecks der Schöpfung“ steht. Der Terminus „transnatural“ ist W. Flach (2006) entlehnt. Damit kennzeichnet er auch den der „Natur unterstellten Endzweck“: „Und da dieser Endzweck eine gewisse Unabhängigkeit ihr gegenüber einschließt, kann es als letzter oder als höchster Zweck der Natur angesehen werden, sozusagen in ihrem Ziel an ihre Grenze zu gelangen, das Andere ihrer zu bewirken, konkret: die Tauglichkeit des Menschen zu einem durch Freiheit (freien, zwecksetzenden Willen) zu charakterisierenden Wesen, kurz: zu einem Vernunftwesen, zu bewirken, Kultur möglich zu machen. Der Mensch nutzt diese Möglichkeit. Er bringt in seiner Freiheit Kultur hervor. Er ist darin vernünftig.“ (Flach 2005, 171) Gleichwohl darf dabei, jenseits terminologischer Fragen, der von Kant betonte sachliche Unterschied zwischen „Vernunftwesen“ und dem „bloß vernünftigen Wesen“ (IV 550) nicht eingeebnet werden, der freilich selbst auf jene „trans-kulturale“ Dimension verweist, die freilich jene Vermögen der Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung voraussetzt, darauf angewiesen ist und sie den „Zwecken der Vernunft“ (V 554) gemäß in den Dienst nimmt und sie gleichermaßen „befördert“. 15 Vgl. auch Refl. 1521, AA XV, 885: „Was ist die Naturbestimmung des Menschen? Die höchste [!] Kultur“; sie ist deshalb nicht dessen „ganze Bestimmung“. – In der Tat ist der Stellenwert der Kultur als „letzter Zweck der Natur“ bei Kant dadurch bestimmt, dass er „mit deren Theorie … seine Theorie des
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Freilich, unter solchen Vorzeichen wollte Kant der „Kultur aller Vermögen überhaupt, zur Beförderung der durch die Vernunft vorgelegten Zwecke“, sogar den Status eines „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“ („eigene Vollkommenheit“), einräumen. Dafür bedarf es zunächst der „Kultur der Zucht (Disziplin)“ als der „Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden“, zumal dieses „Verstandeswesen“ andernfalls unfähig bliebe, „selbst zu wählen, indem wir uns die Triebe zu Fesseln dienen lassen“ (V 554). Insofern impliziert Kants Geschichtsphilosophie also auch jene grundlegenden kulturphilosophischen Aspekte, worin die Kultur als „System der Zwecke“ des Menschen (sofern dieser „letzter Zweck der Natur“ ist) ausgewiesen wird; erst durch die Herausarbeitung aus der „Rohigkeit“ erlangt der sich dergestalt „emporbildende“ Mensch – obgleich durch „ungesellige Geselligkeit“ „abgedrungen“ – auch „gesellschaftlichen Wert“ (VI 38), wobei die Perfektionierung der „technisch-praktischen“ sowie „pragmatisch-praktischen Freiheit“ gleichwohl notwendigerweise auf die kritischen Maßstäbe rechtlichmoralisch-„praktischer Vernunft“ rückverwiesen bleibt. Kant hatte jedenfalls ein recht klares Bewusstsein von der dem „Fortgang der Kultur“ immanenten Ambivalenz: Letztere bzw. die Perfektionierung der „Tauglichkeit zu beliebigen Zwecken“, einschließlich der kognitiv-wissenschaftlichen Fähigkeiten eines bloß „vernünftigen Wesen“, bliebe ohne solche Rückbindung an praktische Vernunftmaßstäbe eine in höchstem Maße zweischneidige Angelegenheit; auch Kant hatte wohl „schreckliche Zweifel“, ob nicht möglicherweise der „Erkenntnisgewinn des Menschen die Ursache einer zeitweiligen, jedoch langandauernden moralischen Degeneration“ (Darwin) werden kann. Die Differenzierung und Entfaltung der „menschlichen Zwecke“ zu einem umfassenden „System der Zwecke“ – nunmehr als einem „System der Sittlichkeit“ (II 680) – macht demzufolge eine Besinnung auf die spezifische Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen Tieres“ (wie Kant manchmal sagt: z. B. VI 673) unentbehrlich. Dabei bleibt nun im Sinne der von Kant explizierten „Ordnung der Zwecke“ darauf zu achten, dass für die der Weltstellung dieses „vernünftigen Weltwesens“ gemäßen Entfaltung der Kultur die Realisierung der Rechtsverhältnisse (der Rechtsordnung) als der hierfür allein tragfähige Boden selbst vorausgesetzt ist. Hat doch jene „Entwicklung der Kultur“ in der das „Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“ schon deshalb eine unentbehrliche Vernunftbedingung, weil die Eigendynamik der darin erzielten Errungenschaften und freigesetzten Potenziale gleichwohl einer politisch-rechtlichen Regulierung bedarf. Deshalb kann, jener Voraussetzung gemäß, der „größtmögliche Grad“ der Kultur selbst „nur das Produkt einer nach Begriffen des Menschenrechts geordneten Staatsverfassung, folglich ein Werk der Menschen selbst sein“. Vorrangig in einer solchen Hinsicht sieht Kant – nicht zuletzt darin zeigt sich seine Abkehr von traditionellen Geschichtskonzeptionen – die Geschichte als den Ort der Entfaltung der Vernunftidee des „Rechts“ und deren „Realisierung“ an. Es sei freilich eine Verkehrung der sittlichen Welt, wenn die Lebens abschließt“ und so den Nachweis erbringt: Kultur „geht selbst aus den Naturtrieben des Menschen hervor, verstärkt und zähmt den Gegensatz der Interessen, steigert die Vereinzelung des Individuums und bindet es zugleich mit sublimeren Mitteln an seinesgleichen. Die Kultur trägt und stützt das Denken und Wollen aller“ (Gerhardt 2002, 293).
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„Natur … von der Kultur zur Moralität, nicht (wie es doch die Vernunft vorschreibt) von der Moralität und ihrem Gesetz anhebend, zu einer darauf angelegten, zweckmäßigen Kultur hinzuleiten strebt: welches unvermeidlich eine verkehrte, zweckwidrige Tendenz abgibt“ (VI 682).16 Auch wenn in einer solchen vorläufigen kulturphilosophischen Perspektive die Geschichte zunächst lediglich als Ort der Entwicklung des „Naturzwecks“ des Menschengeschlechts ins Blickfeld tritt (vgl. z. B. VI 165 f ), so ist es, dieser Sichtweise folgend, allein die „Verfassung im Verhältnisse der Menschen untereinander, wo dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird“, und worin in der Folge auch allein „die größte Entwicklung der Naturanlagen geschehen“ kann (V 555; VI 39),17 deren in den Dienst der Vernunft gestellte Kultivierung „als Mittel zu allerlei möglichen Zwecken“ freilich eine „Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ ist (IV 580). Gegenüber der sachlich untergeordneten kulturphilosophischen Perspektive mag aber auch deutlich werden, dass die den „reinen praktischen Vernunftbegriff“ des Rechts erst ermöglichende (und diesem auch genügende) Sichtweise allein nach vollzogenem Perspektivenwechsel entsprechend der Differenzierung des Freiheitsbegriffs und der „Prinzipien der praktischen Vernunft“ in Sicht kommen kann. Dieses „praktische Vernunftprinzip“ begründet somit auch erst den Rang des Menschen als „Rechtsperson“ sowie als „moralisches Subjekt“ und erlaubt allein so eine Fundierung und Differenzierung seiner Weltstellung als „Endzweck der Schöpfung“. Dieserart wird auch erst jener praktische Sinnhorizont eröffnet, der infolge der unumgänglichen Unterscheidung zwischen dem „Naturzweck des Menschengeschlechts“ und den „moralischen Zwecken seines Daseins“ (VI 167) überhaupt die maßgeblichen Momente der Idee des „praktischen End16 Vgl. auch Refl. 1522, AA XV, 892 ff. Es zeigt sich – und dies demonstrieren die erwähnten gegenläufigen Konzeptionen bei Kant: „… die Gattung macht einen Umweg – statt den Weg zur Sittlichkeit und Rechtlichkeit zu gehen und diesem Ziel die Kulturentwicklung unterzuordnen, geht sie, so allein dürfen wir wenigstens denken, vorausgesetzt, dass wir tun, was wir tun können und sollen, den von der Kultur zum Rechtszustand. Nicht der Weg des Geistes – der Weg der Natur der Menschengattung ist der Umweg“ (Reich 1935, 25). Für den „verkehrten Menschen“ ist die Kultur ein „unentbehrliches Mittel der Erziehung des Menschengeschlechts zu seinem Endzweck, der Moralität“ (ebd. 26) – schon deshalb, weil die menschliche Vernunft andernfalls völlig einfluss- und wirkungslos bleiben müsste gegenüber der zu zähmenden „unvernünftigen“ Natur in uns: „Der Streit der Tierwelt mit dem Vernunftprinzip in uns muss durch allmähliche Kultur überwältigt werden“ (Refl. 6102, AA XVIII, 454, zit. n. Bartuschat 1984, 79 Anm. 24). Gerade auch in diesen geschichtsphilosophischen Bezügen bleibt jene kantische Unterscheidung der „Anlagen“ zur „Tierheit“, „Menschheit“ und „Persönlichkeit“ zu beachten: IV 672 f. 17 Das heißt eben, dass er nur auf diese Weise in Orientierung an dieser „praktischen Idee“ „seine Vollkommenheiten, und demnach auch die Gutartigkeit seines Charakters aus sich selbst hervorarbeiten“ kann (AA XXVIII, 1077 f ). Vgl. AA XXIII, 353 f (Vorarbeiten zur „Rechtslehre“): „Der fest gegründete Frieden bei dem größern Verkehr der Menschen unter einander ist diejenige Idee, durch welche allein der Überschritt von den Rechts- zu den Tugendpflichten möglich gemacht wird, indem, wenn die Gesetze äußerlich die Freiheit sichern, die Maximen aufleben können sich auch innerlich nach Gesetzen zu regieren und umgekehrt diese wiederum dem gesetzlichen Zwange durch ihre Gesinnungen den Einfluss erleichtern, sodass friedliches Verhalten unter öffentlichen Gesetzen und friedfertige Gesinnungen (auch den inneren Krieg zwischen Grundsätzen und Neigungen abzustellen) also Legalität und Moralität, in dem Friedensbegriffe den Unterstützungspunkt des Überschrittes von der Rechtslehre zur Tugendlehre antreffen.“
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zwecks“ zutage treten lässt. Kants Rekurs auf die Vernunftidee einer „Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann (nicht von der größesten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen [!])“, als „eine notwendige Idee, die man … auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muss“ (II 323 f ), weist ebenso in diese Richtung wie seine Kennzeichnung des „Rechts der Menschen“ als „Augapfel Gottes auf Erden“ (VI 751). Die „praktische Vernunftidee“ des Staates, die nach Kant wesentlich in dem Prinzip der „bürgerlichen“ und „politischen Freiheit“ verankert ist (vgl. VI 204, Anm.), wäre anders auch nicht als „vernünftig“ auszuweisen. Wäre in Kants geschichtsphilosophischer Konzeption jene im engeren kulturphilosophischen Rahmen leitende Perspektive eines „letzten Zwecks der Natur“ indes allein maßgebend, so bliebe auch diese „Idee des höchsten politischen Guts“ (als eine sozialtechnische Maßnahme eines „verständig-klugen Tieres“ und dessen naturbedingter „ungeselliger Geselligkeit“) im Hinblick auf den drohenden Missbrauch der „Freiheit in Ansehung anderer seinesgleichen“ (VI 40) selbst noch der Vorstellung einer bloß „pathologisch-abgedrungenen Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft“ (sei es eines „Volks von Teufeln“: VI 224) verhaftet; sie verbliebe damit selbst innerhalb des engen Horizonts der „physiologischen Anthropologie“ (VI 399 ff ) und des darin maßgebenden Gesichtspunkts, „was die Natur aus dem Menschen macht“ – nämlich sich in das „Gehege des Rechts“ zu begeben, wie Kant nüchternerweise anmerkte. Dass er „durch seine Vernunft bestimmt“ ist, „in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren“ (VI 678) und nicht allein aus wohlbegründetem Kalkül und „Trieb genötigt“, wäre einer derartigen Engführung zufolge auch gar nicht zu behaupten; dies zeigt vielmehr die „Vernunftbestimmung“ des Rechts (als „Augapfel Gottes“) an, die sich nicht auf diesen „Naturzweck“ reduzieren lässt. Folglich lässt sich der Sinngehalt des Rechts als einer „praktischen Vernunftkategorie“ nicht auf die bloß „verständige“ Maßnahme bzw. Perspektive des „klugen Tieres“ (und dessen „Gehege“) innerhalb des „Naturzustandes“ reduzieren; allein dies vermag auch zu verhindern, dass politisch-rechtliche „Praxis“ zu bloßen – den „Schlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre“ (VI 237) und ihrer „politischen Maximen“ zum Verwechseln ähnlichen – „Praktiken“ (VI 235) verkommt und so die in dem „Antagonismus“ der „ungeselligen Geselligkeit“ maßgebende Logik (des schlauen „Kalküles“ und des Tausches) als das verbindende „vinculum“ zwar nicht aufhebt bzw. auflöst, aber eben doch relativiert. Denn, so Kant, auch wenn in solchem „Rechtszustand“ also der „gesellschaftliche Antagonismus“ der „ungeselligen Geselligkeit“ und dadurch bedingte Konflikte keineswegs überwunden sind – der „Antagonismus“ ist nach Kant „unvermeidlich“ und zeigt so lediglich einen „unvermeidliche(n) Ausgang der Not“ an –, so ist darin doch der in einer mühsamen „Logik der kleinen Schritte“ der „brutalen Freiheit“ abgerungene und immer wieder von Rückfällen bedrohte Fortschritt zu sehen, dass diese Konflikte, in Aufhebung des „juridischen Naturzustandes“, nunmehr innerhalb der Ebene des Rechts und nach Maßstäben der „Vernunftidee des Rechts“, seiner Prozeduren und Instrumente, ausgetragen werden.
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Demgemäß zielt ein fundamentaler Aspekt der kantischen Idee einer „Ordnung der Zwecke“ darauf ab, dass die Rechtsidee (Rechtsordnung) nicht nur die „formale Bedingung“ darstellt, „unter welcher die Natur diese ihre Endabsicht [die Kultur] allein erreichen kann“ (V 555), sondern auch allein jene elementaren rechtlichen Voraussetzungen der Anerkennung moralischer Selbstbestimmung gewährleistet,18 die alle Maßstäbe bloßer Selbstbehauptung des Menschen als einen „letzten Zweck der Natur“ distanziert und noch einmal eine „Selbsterhaltung von ganz andrer Art“ ins Blickfeld rückt – eine Wendung, deren stoischer Hintergrund bei Kant natürlich zu beachten bleibt.19 Denn auch in jenen kultur-orientierten Bestimmungen kann sich die mit dem „Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft“ (VI 92), verknüpfte Auszeichnung des Menschen aus mehreren Gründen nicht erschöpfen. In den im engeren Sinne geschichtsphilosophisch relevanten Texten Kants wird bekanntlich die „Geschichte“ zunächst als der Ort der Implementierung und „Realisierung“ der genannten Leitideen ausgewiesen und dementsprechend gemäß der „Idee des Rechts“ (und der an deren einzelnen Momenten orientierten „Verfassung“) bis hin zur Idee des „ewigen Friedens“ näher expliziert, worin sich die konkrete Bestimmung der „Menschheit“ als „Gattungswesen“ entfaltet. Indes, nicht diese geschichtsphilosophischen Aspekte (und die darin implizierten rechtsphilosophischen Themen) stehen dabei im Vordergrund des Interesses; vielmehr soll sich zeigen, dass das dem Programm einer umfassenden „Kritik der Vernunft“ verpflichtete „Doppelprogramm von Legitimation und Limitation“20 sich ebenso auf die dem Gebiet der praktischen Vernunft zugehörige Geschichtsphilosophie erstreckt. Während sie demnach die auch auf diesem Terrain unverzichtbare Aufgabe der Rechtfertigung der darin maßgebenden Kategorien und Leitideen verfolgt, führt die Forderung der „Limitation“ über deren kritische Begrenzung hinaus noch auf weitere „quid-juris“-Gesichtspunkte. Die in seiner geschichtsphilosophischen Grundschrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ bestimmenden „Ideen“ (im Plural) sind offensichtlich die „Idee“ einer „Weltgeschichte“ selbst, ebenso die hierfür maßgebenden „Leitfäden apriori“ sowie die „Idee des Menschen“ bzw. der „Menschheit“, des Rechts, der „res publica noumenon“, des globalen, völkerrechtlich gewährleisteten „ewigen Friedens“ und somit auch die entsprechende Idee des „Völkerbundes“ bzw. der „Weltrepublik“. Die „allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung“ als nicht bloß ein „Teil“, sondern als der „ganze End18 Über die allgemeine Entwicklung der „Anlagen der Menschheit“ hinaus lässt sich deshalb insofern auch sagen: „Die ‚äußere‘, d. h. rechtliche Freiheit fördert also den moralischen Fortschritt, was heißt, dass die Mittel zum Rechtsfortschritt indirekt den moralischen Fortschritt fördern“ (Kleingeld 1995, 60). In diesem Sinne steht auch der „bürgerliche Zwang“ der „Freiheit zu denken“ und damit der „Autonomie“ entgegen (vgl. dazu nochmals die schon angeführte Bemerkung Kants über die „Richtigkeit des Denkens“, s. o. I., Anm. 279). 19 Vgl. die einschlägigen Ausführungen und Hinweise bei Santozki 2006. – Zu kritischen Rückfragen an Kants „Theorie des Rechts“ vgl. H.-D. Klein 2003, der ein Grunddefizit der kantischen Rechtstheorie darin erkennt, dass Kant dabei „das Problem der positiven Sitte“ völlig vernachlässige (ebd. 210 f ). 20 Höffe 2003, 333.
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zweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (und mithin als das „höchste politische Gut“) geht also in dieser kosmopolitischen Perspektive über die Idee der „Verfassung von der größten menschlichen Freiheit“ nach „allgemeinen Gesetzen“ noch hinaus; auch sie hat als „praktische Idee“ „objektive praktische Realität“, zumal sie das „vernünftige Weltwesen“ dazu bestimmt, so zu „handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist“ (IV 478). Davon – und auch vom besonderen Charakter dieses durchaus bestimmenden „Als-ob“ – soll noch genauer die Rede sein. 1.1.2. Eine „tröstende Aussicht in die Zukunft“: Das „höchste politische Gut“ – der „ganze Endzweck der Rechtslehre“ und „Endzweck der Geschichte“ Mit dem Versuch, über die an den politisch-rechtlichen Vernunftprinzipien orientierte Idee der „Weltgeschichte“ die Idee des „höchsten politischen Guts“ als den „Endzweck der Geschichte“ zu bestimmen, verknüpfte Kant bekanntlich die Absicht, über das in den gemachten Erfahrungen bestimmende erkenntnisleitende Interesse wenigstens „schwache Spuren der Annäherung“ gemäß diesen praktischen Vernunftideen ausfindig zu machen – und überdies „Geschichtszeichen“, die doch eine „Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen“ bestätigen könnten (vgl. VI 361). Noch seine späte geschichtsphilosophische Bezugnahme auf die „Geschichtszeichen“ (im Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen um die Frage „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?“: VI 351 ff ) sollte diesen Gedanken in Ansehung der „Geschichte des menschlichen Geschlechts“ legitimieren und auch als tragfähig ausweisen. Diese „Zeichen“ sollten wenigstens als ermutigende Anhaltspunkte dafür wahrgenommen werden dürfen, dass die zwar stets mit desillusionierenden widerständigen Erfahrungen der rechtlich-politischen Praxis konfrontierte Orientierung an den praktischen – rechtlich-politischen – Vernunftideen nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, was alles Bemühen und alle praktisch notwendige Zuversicht auf eine mögliche Beförderung des „höchsten politischen Gutes“21 lähmen und gleichermaßen jede Verpflichtung zu – den angeführten Vernunftprinzipien als Maßstab verpflichtetem – politischem Handeln dementieren müsste. Bekanntlich ließ sich das – Traditionen utopischen Denkens in freilich kritischer Weise aufnehmende – geschichtsphilosophische Programm Kants dabei von der Absicht leiten, dass eine Orientierung an den Prinzipien der „Rechtsidee“ und der „bürgerlichen Verfas21 In dieser Kennzeichnung des „höchsten politischen Guts“ als „Endzweck der Rechtslehre“ spiegelt sich die Idee der Rechtslehre als „ein aus der Vernunft hervorgehendes System“ (IV 309) wider, die tatsächlich eine Entwicklung „eine(s) immanenten, universalen, rechtlich-politischen Begriff des höchsten Guts“ (Cheneval 2002, 444) erkennen lässt. Im Blick darauf trifft es zweifellos zu: „In Kants Geschichtsphilosophie spricht sich eine Hoffnungs-Vernunft aus“ (Höffe 2011b, 22). – Die mit dem „kosmopolitischen Begriff des höchsten Guts und der Möglichkeit seiner Realisierung“ verbundenen geschichts- und rechtsphilosophischen Perspektiven – die „globale Rechtsgemeinschaft und ihre politische Verwirklichung in der Geschichte“ (ebd. 445) bis hin zur Idee des „ewigen Friedens“ und die daran geknüpften Themen des „Völkerbundes“, des „Weltstaates“ – sind hier allerdings nicht zu verfolgen.
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sung“ auch einen „Leitfaden“ für eine kritische Konzeption eines – freilich noch näher zu differenzierenden – geschichtlichen Fortschritts erlaubt. Gleichwohl hat dieses darin verankerte utopische „Noch-nicht“ nichts mit dem ihm unterstellten „Fortschrittsoptimismus“ zu tun, ebenso wenig sind die seinen geschichtsphilosophischen Entwurf begründenden Ideen mit prognostischen Ansprüchen zu verwechseln; ohne die Überzeugung vom rechtlichen und moralischen Fortschritt würde nach Kant jedenfalls „das von der Verzweiflung ergriffene, endliche Wesen aufhören, für die Verwirklichung des Reichs der Zwecke zu arbeiten. Der Glaube an einen Sinn der Geschichte und an den moralischen Fortschritt ist Pflicht.“22 Gemäß der in praktischer Vernunft begründeten „Rechtsidee“ zukunftsorientiert auf die Beförderung des „höchsten politischen Guts“, die „Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen …“ (IV 323 f ) bzw. des „ewigen Friedens“ nach Kräften „hinzuwirken“, ist Aufgabe der jeweiligen Gegenwart – nicht zuletzt als eine Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen. Indes, ein solches gebotenes „Hinwirken“ steht so vorrangig vor der Herausforderung, auch jene vielfachen (nicht zuletzt auch „ökologischen“ und ökonomischen) Bedingungen zu gewährleisten – d. h. diese zu bewahren bzw. erst zu schaffen –, die eine „Beförderung“ der Realisierung des „höchsten politischen Gutes“ nicht dauerhaft erschweren bzw. dieser überhaupt im Wege stehen. In einer solchen praxis-ermutigenden Absicht hat Kant die „weltbürgerliche Gesellschaft“ im Widerstand gegen die lähmenden Zweifel als eine „an sich unerreichbare Idee“ gekennzeichnet, die „aber kein konstitutives Prinzip (der Erwartung eines, mitten in der lebhaftesten Wirkung und Gegenwirkung der Menschen bestehenden, Friedens), sondern nur ein regulatives Prinzip ist: ihr [dieser „Idee“], als der Bestimmung des Menschengeschlechts, nicht ohne gegründete Vermutung einer natürlichen Tendenz zu derselben, fleißig nachzugehen“ (VI 687 f ). Der schon in seinen „Vorarbeiten zum ewigen Frieden“ geäußerte Rat: „Man tut am besten anzunehmen, dass die Natur im Menschen nach demselben Ziel hinwirkt, wohin die Moralität treibt“, liest sich wie eine ins Praktische gewendete Version der Leibniz’schen Idee einer „Harmonie des Reichs der Natur und der Gnaden“; sie ist, fernab allen bloß „gutartigen Wünschens“ (VI 503)23, in der praktisch-moralischen Aufgabe begründet und erfüllt als solche einen orientierenden Sinn, der auch nur unter der vorausgesetzten Möglichkeit dieses Zieles sich nicht als vergeblich oder sogar als absurd erweist. Eben in einer solchen „moralischen Absicht“ ist ja auch Kants praktisch-teleologischer Rekurs auf eine „Naturabsicht“ als „Garantie des ewigen Friedens“ zu verstehen (VI 217 ff )24 sowie seine Aufforderung, mit der „Vorsehung zufrieden zu sein“ (VI 99), zielt dies doch vornehmlich auf die Ermutigung und Zuversicht ab, durch vernunft-orientiertes politisches 22 Weil 2002, 105. 23 Hier wird eine ganz besondere Konvergenz von „Natur und Freiheit“ nach Kant insofern sichtbar, als auch in dieser Akzentuierung die „Natur“ den unverzichtbaren rechtlich-politischen „Freiheitsansprüchen“ und „Zwecken“ gleichsam „entgegen kommt“. 24 In einem wohl nicht zu beseitigenden Widerspruch zu dieser „regulativ“ verstandenen „Naturabsicht“ steht aber offensichtlich Kants späte Bemerkung aus dem „Ewigen Frieden“: „Wenn ich von der Natur sage: sie will, dass dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht soviel, als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu tun (denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie tut es selbst, wir mögen wollen oder nicht“ (VI 223).
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Engagement einen – wie auch immer bescheidenen – Beitrag zum möglichen „Fortschritt zum Besseren“ zu leisten; insofern könne auch die „Philosophie ihren Chiliasmus haben“, der freilich nur so „nichts weniger als schwärmerisch“ (VI 45) und auch nicht mit schiefen utopischen Vorstellungen zu verwechseln ist.25 Wie sehr Kant sich dieser besonderen „Voraussetzung in praktischer Absicht“ bewusst war, macht sein Rekurs auf die diesbezüglich „in Anschlag gebrachte“ „menschliche Natur“ besonders deutlich, „welche, da in ihr immer noch Achtung für Recht und Pflicht lebendig ist, ich nicht für so versunken im Bösen halten kann, oder will [!], dass nicht die moralisch-praktische Vernunft nach vielen misslungenen Versuchen endlich über dasselbe siegen, und sie auch als liebenswürdig darstellen sollte“ (VI 172). Gleichermaßen speist sich der im Blick auf die „menschliche Gattungsgeschichte“ vorgenommene Rekurs auf eine „Naturabsicht“ freilich aus jener schon erwähnten Einschätzung, „bei Menschen und ihrem Spiele im großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen“ zu können (VI 35), oder doch wenigstens, so einige erfahrungsgesättigte (und entsprechend ernüchterte) Jahre später, aus seinem tiefen Misstrauen, sich von „Menschen in ihren Fortschrit25 Vgl. dazu die kritischen Ausführungen von Flach 2005. – Gleichwohl trifft zweifellos für Kants Intention zu, dass bei ihm „gegen die Weltflucht, welche auf Vernunft ‚nur in einer anderen Welt‘ hofft, … die Diesseitigkeit als der ernstzunehmende Bereich menschlicher Vernunft reklamiert“ wird (Angehrn 1991, 85). In der Tat: „Kants Geschichtsphilosophie ist von dem Anliegen getragen, nachzuweisen, dass ein moralisch motiviertes Engagement für Gerechtigkeit nicht von vornherein sinnlos ist“ (Nagl-Docekal 2003, 244). „Wie er explizit festhält, liegt die eigentliche Zielsetzung seiner Geschichtsphilosophie darin, eine ‚tröstende Aussicht in die Zukunft‘ zu eröffnen, um so zumindest jenes Maß an Zuversicht zu vermitteln, das als Vorbedingung für das Handeln nötig ist“ (ebd. 250). Nichtsdestoweniger ist die Kant bisweilen zugeschriebene völlige Historisierung der Idee des „höchsten Gutes“ verfehlt, enthalten doch die „geschichts- und die religionsphilosophischen Überlegungen … nicht … konkurrierende, vielmehr komplementäre Modelle der Sinngebung“, wie Höffe mit Recht bemerkt (Höffe 1983, 240); diese Unterscheidung (der die Differenzierung zwischen dem „höchsten Gut“ und dem „höchsten politischen Gut“ korrespondiert) hat in derjenigen zwischen einer „Geschichte der Gattung“ und einer „Geschichte der Menschen“ eine direkte Entsprechung. – Sehr prägnant hat Geismann diese Differenz formuliert: „Bei der Beschränkung der Hoffnungsfrage auf den Menschen als vernünftiges Naturwesen und dessen irdisches Leben kommt Kant zur Teleologie der Geschichtsphilosophie, bei der Ausdehnung der Frage auf den Menschen als natürliches Vernunftwesen und dessen Leben in einer intelligiblen Welt kommt Kant zur Teleologie und Theologie der Religionsphilosophie“ (Geismann 2000, 512). Chenevals (wiederholt geäußerte) These trifft deshalb nicht zu: „Die ethikotheologischen Elemente, die weitgehende theoretisch-metaphysische Aussagen implizieren und der Kritik der reinen Vernunft nicht standhalten, aber in Bezug auf die Exekution der Moral auch dem Autonomieprinzip der praktischen Vernunft widersprechen, versuchte Kant in der Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung durch eine Reflexion auf die immanenten Bedingungen der historisch-politischen Realisierung des Endzwecks der Vernunft zu ersetzen [!]. Dies brachte ihn dazu, den praktischen Endzweck vom Moralzweck auf den Rechtszweck einzugrenzen“ (Cheneval 2002, 409). Auch die daran geknüpfte Auffassung, dass „Kant im weltbürgerlichen Standpunkt eine Alternative zur Gotteslehre der Individualmoral“ suche (ebd. 447) und das „Ideal des höchsten Guts … zum regulativen Ideal der Geschichte“ werde (ebd. 449), dürfte eine Einebnung der von Kant betonten Differenzierung unterschiedlicher Ebenen geradewegs begünstigen und wird deshalb wohl auch der in Kants „Weltbegriff der Philosophie“ enthaltenen Differenzierung der „wesentlichen“ und „höchsten Zwecken“ nicht gerecht. Der Sachverhalt, dass in Kants späten rechts- und geschichtsphilosophischen Texten (in der „Friedens“-Schrift, in seiner Rechtsphilosophie und im „Streit der Fakultäten“) naturgemäß diese Perspektiven als Themen in den Vordergrund treten, bedeutet nicht, dass sie die religionsphilosophischen Aspekte verdrängen bzw. ersetzen. Dass eine solche Interpretation einseitig ist, wird nicht zuletzt aus Adornos Rekurs auf einschlägige Motive Kants deutlich.
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ten zum Besseren … viel [zu] versprechen“ (VI 365). In diesem Sinne betonte Kant noch in der „Preisschrift“: „Dass die Welt im ganzen immer zum Besseren fortschreite, dies anzunehmen berechtigt ihn keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet“ (III 647).26 Nun ist es allerdings sehr aufschlussreich, dass Kant in dieser zukunftsgerichteten Perspektive nicht nur einem die moralischen Kräfte lähmenden „Defätismus der Vernunft“, sondern ebenso der („quietistische“ Versuchungen begünstigenden) Berufung auf vermeintliche „objektive Tendenzen“ eine Absage erteilt, so wie er nicht weniger entschieden alle bloße Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit gegenüber diesen lediglich unsere späten Nachkommen betreffenden Aussichten verbietet, weil – so darf man diese zukunftsgerichtete Orientierung hier wohl verstehen – uns doch auch mit Blick darauf daran gelegen sein muss, „was Menschen widerfährt“: „Indessen bringt es die menschliche Natur so mit sich: selbst in Ansehung der allerentferntesten Epoche, die unsere Gattung treffen soll, nicht gleichgültig zu sein, wenn sie nur mit Sicherheit erwartet werden kann [heißt wohl: nicht grundsätzlich unmöglich, sondern eben „eine Sache der Freiheit ist“]. Vornehmlich kann es in unserem Falle um desto weniger geschehen, da es scheint [!], wir könnten durch unsere eigene vernünftige Veranstaltung diesen für unsere Nachkommen so erfreulichen Zeitpunkt schneller herbeiführen. Um deswillen werden uns selbst die schwachen Spuren der Annäherung desselben sehr wichtig“ (VI 46).27 Es wird sich zeigen, dass sich eben derlei „Gleichgültigkeit“ gleichermaßen in einer erst freizulegenden gegenläufigen Perspektive verbietet, weil auch in diesem geschichtsphilosophischen Kontext jene vorgeschlagene Lesart des (von Kant vermutlich aus Ciceros „de officiis“ aufgenommenen Terenz’schen Diktums) „Homo sum. Nihil humani a me alienum puto“ sich geradezu aufdrängt, die jedwede psychologische Verkürzung sowie eine bloß zukunftsorientierte Version derselben (und ein entsprechend „instrumentalisiertes Gedächtnis“ [P. Ricoeur]) verbieten muss.
26 Mit Recht betont Cheneval im Blick auf Kant: „Die Geschichtsphilosophie ist nicht eine objektive Theorie vom notwendigen Gang der Geschichte und von der Konstitution ihrer Fakten, sondern sie schafft interpretativ und regulativ lediglich die Voraussetzungen zur Begründung der grundsätzlichen Möglichkeit und Sinnhaftigkeit von praktisch gebotenem kosmopolitischen Handeln“ (Cheneval 2002, 513). Zu möglichen (und auch häufigen) diesbezüglichen Missverständnissen der Kant leitenden Intentionen s. Flach 2005. 27 Der gelegentliche Vorwurf einer geschichtsphilosophischen „Heilsgewissheit“ trifft auch dort nicht zu, wo Kant (wie in seiner Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn) – trotz des „traurigen Anblick(s), nicht so wohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken, als vielmehr derjenigen, welche die Menschen sich unter einander selbst antun“ (VI 168) – durchaus entschieden geltend macht: „Überdem lassen sich manche Beweise geben, dass das menschliche Geschlecht, im ganzen, wirklich in unserem Zeitalter, in Vergleichung mit allen vorigen, ansehnlich moralisch zum selbst Besseren fortgerückt sei (kurzdauernde Hemmungen können nichts dagegen beweisen)“ (ebd.). – Auch Landgrebe gab zu bedenken: „Es ist eine seit langem feststehende Meinung, daß Kants Philosophie ‚ungeschichtlich‘ sei und daß er speziell in seiner Geschichtsphilosophie auf dem Boden der Aufklärung und ihres Vernunftoptimismus stehengeblieben wäre“ (Landgrebe 1968, 46). Eine solche problematische Einschätzung begegnet auch in Collingwoods Bemerkung: „Diese extreme Betrachtungsweise, welche die Geschichte in eine durchgängig vernunftlose Vergangenheit und eine durchweg vernunftbeherrschte Zukunft einteilt, ist das Erbe, das Kant von der Aufklärung übernommen hat“ (Collingwood 1955, 111).
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Die für jene Frage „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?“ maßgebende „Wahl des Standpunkts, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen“ (VI 355) sollen, zielt demnach auf jenen weltbürgerlichen „Standpunkt“ ab, der sich der interesse-geleiteten „praktischen Idee, …, was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann“ (IV 70, Anm.), und somit den zukunftsorientierten Perspektiven und Ansprüchen unserer „späten Nachkommen“ verdankt; indes impliziert die notwendige begleitende Reflexion auf die daraus inspirierte Frage „Was will man hier wissen?“ selbst schon das kritische Bewusstsein darüber, dass „die Vernunft sich genötigt sieht“, noch einen anderen geschichtsphilosophischen Standpunkt der „Weltbetrachtung“ einzunehmen, wenn die „Idee“ sowie das „Interesse der Menschheit“ (VI 361) nicht lediglich verkürzt wahrgenommen werden bzw. eine „Herrschaft des Zukünftigen über das Vergangene“ nicht stillschweigend Platz greifen sollen. Andernfalls wäre ein bloß partikuläres „Interesse für uns selbst“ heimlich an die Stelle eines vernunftgeleiteten „Interesses an uns selbst“ getreten. Damit ist vorab lediglich angedeutet, dass jene vom Interesse einer „wahrsagenden Geschichtserzählung des Bevorstehenden in der künftigen Zeit“ geleitete Frage „Wie ist aber eine Geschichte apriori möglich?“ (VI 351) und ihr daran geknüpftes „Was will man hier wissen?“, ungeachtet ihrer Unentbehrlichkeit, keinesfalls die einzig maßgebende bleiben darf, obgleich dies zweifellos die in den von Kant vorgelegten geschichtsphilosophischen Konzeptionen dominierende Perspektive darstellt. Indes vermag die Orientierung an diesem „höchsten politischen Gut“ der praktischen Weltstellung des Menschen und dem „Interesse der Vernunft“ als Maßstab schon deshalb noch nicht zu genügen, weil sich die darin wurzelnde unabweisliche Frage nach dem „Sinn des Buchstabens der Schöpfung“ (VI 116) innerhalb der geschichtsphilosophischen Sinndimension noch nicht erschöpft und auch in der kantischen Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ sowie in seinem in geschichtsphilosophischem Kontext geäußerten „Befremden“ zum Ausdruck kommt.28 Demgemäß macht die in der Sache klar erkennbare Verbindung – die ebenso eine kritische Differenzierung voraussetzt – von geschichts- und religionsphilosophischer Perspektive weitere Differenzierungen unumgänglich, die vornehmlich auch unterschiedliche Sinndimensionen der Hoffnungsfrage selbst berühren. Darauf verweist auch die in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ in Ansehung der „Geschichte des menschlichen Geschlechtes“ ausgesprochene Frage: „Denn was hilft’s, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen: wenn der Teil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesen den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden, und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer andern Welt zu hoffen?“ (VI 49) 28 S. dazu u. II., 3.2. Der kantische Befund: „Ganze lange Reihen von Generationen haben ihren Wert in der Weltveränderung nur durch die Beförderung der künftigen vollständigen Entwickelung“ (AA XV, 891) provoziert jedenfalls solches „Befremden“.
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Auch jene Frage nach dem „beständigen Fortschritt“ des menschlichen Geschlechts ist daher unverkennbar von dem praktischen Vernunftinteresse eines gegenwarts- und zukunftsorientierten ermutigenden Ausblicks auf eine an Vernunftprinzipien (bzw. der Idee eines Systems von daran orientierten rechtsstaatlichen Demokratien) ausgerichtete gemeinsame rechtlich-politische Praxis geleitet und mündet bekanntlich auch in die nicht weissagende, sondern praxis-inspirierende Antwort, ein solcher Fortschritt sei allein möglich, „wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt“, derlei Bemühungen also keineswegs von vornherein als „widersinnig“ erscheinen müssen, sondern durchaus „mit Grunde“ gehofft werden darf (VI 49): Kants geschichtsphilosophische Version des Vico-Axioms „ens et factum convertuntur“, die lediglich jenes programmatische Diktum variiert, „dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“ (II 23)? Deshalb soll diese „Voraussetzung in notwendig praktischer Absicht“ mit Rücksicht auf das geforderte praktisch-politische Engagement gerade davor bewahren (d. h. das geschichtsphilosophische „absurdum practicum“ vermeiden), dasjenige als bloße Chimäre zu entlarven bzw. verabschieden zu müssen, worauf „hinzuwirken“ für uns doch zugleich unumgängliche Pflicht ist (III 411, Anm.) – eine postulatorische Gedankenfigur übrigens, die in modifizierter Gestalt auch in Kants Vermittlung der Idee des „höchsten Guts“ zutage tritt.29 Jene im Zentrum von Kants Geschichtsphilosophie stehenden praktischen Vernunft ideen lassen demnach ihre von einem besonderen Vernunftinteresse geleitete Orientierung „von vornherein [als] ein praktisches, nicht nur theoretisches Projekt“ erscheinen,30 das es allein erlaubt, in der dadurch eröffneten „weltgeschichtlichen Vernunftperspektive“ die geschichtliche Wirklichkeit nach möglichem Sinn und wirklichem Fortschritt „abzuspähen“ und solcherart, in einer sowohl „historische Kenntnis“ wie auch „philosophische Bildung“ in sich vereinigenden Perspektive, die Frage nach Sinn und „Endzweck“ der Geschichte im Ganzen des umfassenden „Systems der Zwecke“ noch näher zu differenzieren. Der darin maßgebende „Leitfaden“ und die durch ihn eröffnete praktische Orientierung, welche die Menschen herausfordert und ermutigt, die gesellschaftlich-politische Zukunft selbst in aktiver Orientierung an jenen Vernunftprinzipien zu gestalten, bewahrt jedoch gleichermaßen vor der Illusion einer „die conditio humana übersteigende(n) Selbstermächtigung“.31 29 Auf die einschlägige analoge („postulatorische“) Argumentation Kants in seinen geschichts- und reli gionsphilosophischen Begründungsfiguren hat auch Ch. Wild (1970, 270) hingewiesen. 30 Angehrn 2004, 344. Diese an einem „praktischen Projekt“ orientierte „Idee der Weltgeschichte“ lässt in ihrem „Projekt“-Charakter (in ihrem Verhältnis zu der „eigentlichen bloß empirisch abgefaßten Historie“: VI 49) freilich noch eine unübersehbare Analogie dazu erkennen, dass es die Idee der „systematischen Einheit als Natureinheit“ (II 599) war, die das „Systematische der Erkenntnis“ (II 566) erst ermöglichte, weil ohne diese in heuristischer Absicht „projektierte Einheit“ (II 567) kein zusammenhängender „Verstandesgebrauch“ (II 570) möglich wäre. Dass wir „ohne Vernunft … keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch“ hätten, wäre im Sinne einer „Kritik der Geschichte und der historischen Schriften“ einerseits eben daraufhin zu prüfen, welche Maßstäbe darin diese „Zusammenhänge“ fundieren; andererseits bliebe eben diese Einsicht in die dem Verstandesgebrauch vorausgesetzte „Vernunft“ auch im Sinne einer gegenläufigen Geschichtsperspektive fruchtbar zu machen (s. u. II., 3.; II., 4.). 31 Angehrn 2004, 341. – Indes lässt sich mit Blick auf Kant wohl nicht behaupten: „Gerade die Idee des Fortschritts – wenn es sich dabei um mehr handelt als einen Wandel von Umständen und eine Verbesserung der Welt – widerspricht Kants Vorstellung von der Würde des Menschen. Es ist gegen die menschli-
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Dass Kant jedenfalls ein gewissermaßen „geschichtstechnisches“ – d. i. allein von „technisch-pragmatischen Imperativen“ geleitetes – Missverständnis ablehnte, das im Sinne des gebotenen gesellschaftlich-politischen Engagements verstandene, an praktischen Vernunftkategorien orientierte geschichtliche Handeln (als „Praxis“32 im Sinne einer „menschlichen Angelegenheit“) dem Modell eines „Geschichte-Machens“ (in der Art eines geschichtlich-gesellschaftlichen „Herstellungsprozesses“) zu assimilieren, und deshalb allen sozialtechnologischen Versuchen widerstrebte, geschichtliche Praxis auf „Geschichtstechnik“ zu reduzieren, versteht sich so wohl von selbst und sei auch nur beiläufig angemerkt. Dies impliziert auch Kants Absage an ein Geschichtsverständnis, das „technisch-praktische Regeln“ an die Stelle rechtlich-politischer Prinzipien und Kategorien setzen möchte, das heißt „Geschichte macht“ und nicht gemäß praktisch-rechtlichen „Vernunftgesetzen“ handelt,33 also die Frage des „Tun-Sollens“ durch die Frage „Was tun?“ ersetzen bzw. erübrigen will.34 Demzufolge, so soll sich zeigen, bleibt auch der Stellenwert des zunächst bloß anthropologischen – geschichtsphilosophisch neu zu akzentuierenden – Hinweises darauf genau zu beachten, was der „Mensch, als freihandelndes Wesen … aus sich selber machen kann und machen soll“ (VI 399),35 den Kant
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che Würde an den Fortschritt zu glauben“ (Arendt 1985, 101). Dies legt Alternativen bzw. Disjunktionen nahe, die Kant wohl kaum gerecht werden. Kants Hinweis, „nur diejenige Bewirkung eines Zwecks“ heiße „Praxis, welche als Befolgung gewisser im allgemeinen vorgestellter Prinzipien des Verfahrens gedacht wird“ (VI 127), bleibt hinsichtlich der Differenz von „moralisch“- und „technisch“-praktisch noch neutral, obgleich natürlich jene „Prinzipien des Verfahrens“ als „rechtlich-moralische“ auf praktische Urteilskraft und Klugheit bezogen bleiben müssen. Kant kann aber auch „eine ‚Verwechslung von Herstellen und Handeln‘ nicht … vorgeworfen werden. Der ‚ewige Friede‘ ist nicht als ein fabriziertes Ergebnis gedacht, mit dem die Geschichte an ihr Ende käme, sondern, ganz im Gegenteil, als eine Eröffnung von Freiheitsräumen“ (Nagl-Docekal 2003, 250). Ebenso findet sich in Kants Ausführungen „auch keinerlei Anhaltspunkt für den [von H. Arendt] erhobenen Vorwurf, Geschichtsphilosophie biete die Legitimierung für eine Politik, die bereit ist, Menschen ‚für … den Gang der Geschichte zu opfern‘“ (ebd. 251); vielmehr stehen Arendts einschlägige Motive, die sich gegen eine „geschichtstechnisch“ missverstandene politisch-gesellschaftliche Praxis und eine daran orientierte Geschichtsphilosophie richten, diesbezüglich den kritischen Anliegen Kants durchaus nahe. In diesem Sinne ist Kants Antwort auf jene Frage zu verstehen: „Wie ist aber eine Geschichte apriori möglich?“ (VI 351) Das von ihm als Erläuterung angeführte Beispiel solchen „Machens“ zielt ironischerweise auf eine „self-fulfilling prophecy“, bevor sie auf eine andere „Erfahrung im Menschengeschlecht“ verweist, die ein „Fortschreiten zum Besseren“ indiziert (VI 356). Genau darauf zielt, umgekehrt, auch Kants Mahnung: „So ist es z. B. ein Grundsatz der moralischen Politik: dass sich ein Volk zu einem Staat nach den alleinigen Rechtsbegriffen der Freiheit und Gleichheit vereinigen solle, und dieses Prinzip ist nicht auf Klugheit, sondern auf Pflicht gegründet. Nun mögen dagegen politische Moralisten noch so viel über den Naturmechanism einer in Gesellschaft tretenden Menschenmenge, welcher jene Grundsätze entkräftete, und ihre Absicht vereiteln werde, vernünfteln, oder auch durch Beispiele schlecht organisierter Verfassungen alter und neuer Zeiten (z. B. von Demokratien ohne Repräsentationssystem) ihre Behauptung dagegen zu beweisen suchen, so verdienen sie kein Gehör; vornehmlich, da eine solche verderbliche Theorie das Übel wohl gar selbst bewirkt, was sie vorhersagt, nach welcher der Mensch mit den übrigen lebenden Maschinen in eine Klasse geworfen wird, denen nur noch das Bewußtsein, daß sie nicht freie Wesen sind, beiwohnen dürfte, um sie in ihrem eigenen Urteil zu den elendesten unter allen Weltwesen zu machen“ (VI 241). Mit Recht bemerkt Brandt zu dieser anthropologischen Perspektive, was er „aus sich selber machen kann und machen soll“: „Die Vernunft leitet … zugleich als praktische von den pragmatischen Möglichkeiten zu einem Sollen der Menschheit im Ganzen. Ich denke, dass das in der ‚Vorrede‘ angeführte ‚soll‘ … am besten geschichtsphilosophisch und somit vom Ende der Schrift her zu verstehen ist. Die Menschheit im
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der Sache nach eng mit der Beantwortung jener Frage verknüpft: „Wie ist aber eine Geschichte apriori möglich?“ (VI 351).36 Ebendies darf nicht zu voreiligen bzw. einseitigen Schlüssen verführen, die Kants geschichtsphilosophischen Entwurf dann nicht mehr hinreichend zu berücksichtigen und zu würdigen vermögen als ein Projekt „in universalistischer Perspektive, doch zugleich im offenen Horizont menschheitlicher Verständigung und kosmopolitischen Handelns“.37 Daran anknüpfend darf hier wohl der Hinweis genügen: Gegenüber einem geschichtstechnisch irreleitenden „Eudämonismus mit seinen sanguinischen Hoffnungen“ (VI 354) einerseits, der verzweifelten Ausflucht, „jemals darin [in der „Geschichte des menschlichen Geschlechts“] eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen“ (und diese sich also „nur in einer andern Welt hoffen“ lasse: VI 49), andererseits, stellte Kant die Legitimität und Unverzichtbarkeit des in jenen praktischen Vernunftideen begründeten „geschichtlichen Hoffnungsbegriffs“ heraus. Entgegen allen Entmutigungstendenzen wollte er damit vornehmlich verdeutlichen, dass sich die leitende „praktische Funktion der Geschichtsphilosophie“ an seiner Kennzeichnung des „Praktischen“ orientiert, die es vermeidet bzw. geradewegs verbietet, die Dimension politischen Handelns in der Geschichte in einer gewissermaßen „geschichtstechnischen Absicht“ den Imperativen instrumenteller Vernunft zu überlassen und so den Unterschied zwischen dem „Technisch-Praktischen“ und dem „Moralisch-Praktischen“ einzuebnen. Das „Praktische nach Naturbegriffen mit dem Praktischen nach dem Freiheitsbegriff für einerlei“ zu nehmen,38 Ganzen ist dazu bestimmt, einen Friedenszustand zwischen Republiken zu errichten – dies ist das ‚Soll‘, in dem alle vereint sind. […] Die finale Bestimmtheit der Gattung im Ganzen überschreitet … die Dimension der bloßen Klugheit“ (die vornehmlich in der Frage nach dem „Machen-Können“ angesprochen ist) (Brandt 1999, 12). Brandt/Stark (1997, AA XXV, LI f ) betonen in ihrer Einleitung zu Kants Vorlesungen über Anthropologie den von Rousseau ausgehenden Impuls, der zur „Erweiterung der Anthropologie durch die Geschichtsphilosophie“ geführt hat: „Die pragmatische Anthropologie führt also nicht auf die Feststellung des Wesens des Menschen, auch nicht auf die Bestimmung des einzelnen Individuums, sondern auf die in der Spannung des geschichtlichen Woher und Wohin liegende Bestimmung der Gattung im Ganzen“. Gleichwohl führt eben diese Verbindung von Anthropologie und Geschichtsphilosophie und das darin zutage tretende „Dilemma“ auf eine unverzichtbare Erweiterung der geschichtsphilosophischen Perspektive. 36 Diese Formulierung wehrt genauer besehen jeden Vorhersage-Anspruch ab und verweist so gerade bei Kant auf den Charakter der „Geschichte als regulative Idee der Historie wie unseres Selbstverständnisses und Handelns. Sie ist Anleitung zur Selbsterkenntnis, jedoch nicht mehr: Anlaß zur Selbsttäuschung, Verführung zum Hochmut“ (Baumgartner 1996, 171). In ähnlichem Sinn ist übrigens auch Kants Rekurs auf das „Vorhersehungsvermögen“ zu verstehen, das deshalb „mehr als jedes andere“ interessiere, weil es „die Bedingung aller möglichen Praxis [!] und der Zwecke ist, worauf der Mensch den Gebrauch seiner Kräfte bezieht“ (VI 490). Andernfalls bliebe jenes „Vorhersehungsvermögen“ bloß ein solches des „letzten Zwecks der Natur“ und seiner eingeschränkten „technisch-praktischen“ Zwecke. 37 Angehrn 2004, 344. Hierfür bleibt eben zu beachten, dass Kants Begründung der Idee des „öffentlichen Rechts“ (und seiner inneren Differenzierungen als Privat-, Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht: vgl. § 43 der Rechtslehre: IV 429) in „weltbürgerlicher Absicht“ erfolgt, d. h. die kosmopolitische Dimensionierung der Vernunftidee des „Rechts“ darin maßgebend ist, weil andernfalls die Idee der „Menschheit“ preisgegeben wäre. 38 Gerade auch in diesen geschichtsphilosophischen Zusammenhängen ist auf Kants Mahnung vor einem solchen „großen Mißbrauch“ hinzuweisen. „Hier wird nun in Ansehung des Praktischen unbestimmt gelassen: ob der Begriff, der der Kausalität des Willens die Regel gibt, ein Naturbegriff, oder ein Freiheitsbegriff sei. Der letztere Unterschied aber ist wesentlich. Denn, ist der die Kausalität bestimmende Begriff
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hätte unvermeidlich geschichtstechnische Reduktionismen zur Folge. Auch noch in anderer Akzentuierung wird sich bestätigen: Kants Absage an totalitäre Machbarkeitsansprüche der Geschichte (im Sinne einer als „Geschichtstechnik“ „poietisch“ missverstandenen „Praxis“) impliziert freilich desgleichen eine nicht weniger energische Kritik an „einäugigen“, quasi-theologischen Sinngebungsversuchen; weder lassen sich seine geschichtsphilosophischen Leitperspektiven geschichtstechnisch missbrauchen noch als bloße „Legitimationserzählungen“ (Lyotard) vereinnahmen. Diese kritischen Differenzierungen Kants zu einer offenkundig durchaus mehrdimensionalen Hoffnungskonzeption insistieren demnach auf der konkret-utopischen politischen Sphäre solcher Hoffnung und gleichermaßen darauf, herkömmliche unkritische – weil maßstablos „vernünftelnde“ – Geschichts- und Fortschritts-Konzeptionen wie auch geschichtsphilosophische „Theodizee-Versuche“ begründeterweise zu verabschieden. Dabei bleibt freilich darauf zu achten, dass in diesen rechts- und geschichtsphilosophischen Bezügen die Frage „Was muss (bzw. soll) ich hoffen?“, d. h. „Hoffnungen, die wir haben müssen“, leitend ist – denn „‚Hoffnung‘ ist wichtig, weil sie jetzt motiviert“.39 Als solche orientieren sich diese Konzeptionen an der Idee des „ewigen Friedens“, an der Idee der „res publica noumenon“ bzw. an der „weltbürgerlichen Idee“ der „vollkommene(n) bürgerlichen Vereinigung in der Menschengattung“ (VI 45) und sind deshalb in solcher Orientierung an der „Geschichte der Menschheit (allmählicher Fortgang der ganzen Gattung zu ihrer Bestimmung)“40 von anderen, „volltönenden Hoffnungen“ genau abzugrenzen. Indes, schon terminologisch indiziert diese Idee des „höchsten politischen Guts“ ebenso die von Kant ausdrücklich betonte spezifische Differenz zwischen einem „philosophischen“ und dem „theologischen“ Chiliasmus (IV 682 f ), bringt doch Kants Geschichtsphilosophie ausdrücklich seine Weigerung zum Ausdruck, die Hoffnungsthematik (und damit die Frage, ob sich „mit Grunde hoffen“ lässt) ausschließlich einer religiösen Sinn-Dimension vorzubehalten, d. h. eine „vernünftige Absicht“ nur für „eine andere Welt zu hoffen“. Diese in der Idee der Weltgeschichte leitenden Fragen nach einem „Fortschritt zum Besseren“ verdeutlichen, dass die an dem „höchsten politischen Gut“ (als dem „ganzen Endzweck der Rechtslehre“, d. i. die Idee des „allgemeinen weltbürgerlichen Zustandes“: VI 47) orientierte „geschichtliche Hoffnung“ auch eine „utopische Dimension“ im Sinne jener leitenden Maßgaben der praktisch-rechtlich-politischen Vernunftperspektiven (eben als praktische Vernunftidee) explizit zur Geltung bringt, in solcher Fortschrittskonzeption aber auch die Rücksichtnahme auf die kultur-, sozialisationsgeschichtlichen und ökonomischen Faktoren und Entwicklungen als die unverzichtbaren Bedingungen dieses Fortschritts nicht ein Naturbegriff, so sind die Prinzipien technisch-praktisch; ist er aber ein Freiheitsbegriff, so sind diese moralisch-praktisch“ (V 243). 39 Gerhardt 2002, 243. Kant spricht diesbezüglich auch davon, dass die „Tendenz zum continuierenden Fortschritt des Menschengeschlechts zum Besseren“ nur zu denken ist, wenn „der Einfluss dieser Idee aufs Gemüt aller Menschen, die einiger Kultur ihrer praktischen Vernunft fähig sind, ohne Ausnahme so allgemeine und zugleich tief eindringende Teilnehmung an jenem höchsten weltbürgerlichen Gut bewirke“ (Refl. 8077, AA XIX, 611 f ): Es besagt dies eben die geforderte Bewährung dieser „moralischpraktischen Idee“. 40 Refl. 1405, AA XV.2, 613.
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ausgeblendet lässt, wenn die rechtliche Freiheitsidee und die Perspektive des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts hier im Vordergrund stehen und den geschichtsphilosophischen Leitfaden fundieren. Daran orientiert sich auch jene erwähnte Idee des „philosophischen Chiliasmus, der auf den Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten, Friedens hofft“ (und auch der Idee einer „Universalgeschichte“ zugrunde liegt) – im Unterschied zum „theologischen Chiliasmus“, „der auf des ganzen Menschengeschlechts vollendete moralische Besserung harret“ (IV 682 f ). Allein die gebotene Differenzierung der Beurteilungsebenen vermag den kritischen Status der „reinen [praktischen] Vernunftideen“ der „politischen Freiheit“ und der „res publica noumenon“ sowie des „ewigen Friedens“ zu bewahren und begründet so eine „Hoffnung auf eine bessere Zukunft“ (die als solche freilich noch nichts mit Religion zu tun hat). Demgemäß rekurrierte Kant auf die „Aufforderung der Vernunft, … die Menschengattung nicht als böse, sondern als eine aus dem Bösen zum Guten in beständigem Fortschreiten unter Hindernissen emporstrebende Gattung vernünftiger Wesen darzustellen“ (VI 690)41 – ein Ziel, das freilich „nur durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System“ zu denken ist, wie Kant in dem seine „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ beschließenden Hinweis auf den „Charakter der Gattung“ betonte. Ebensowenig ist jedoch zu übersehen, dass gerade die praktischregulative Vernunftidee des „höchsten politischen Guts“ als die dem „philosophischen Chiliasmus“ zugrunde liegende Idee eine „Historisierung“ der Idee des „höchsten Guts“ verbietet,42 zumal die intendierte Aufhebung dieses „Idealischen“ in geschichtliche Realität den kritisch-regulativen Charakter jener Vernunftideen verkennen müsste und eine unkritisch-schwärmerische Moralisierung der Geschichte zur Folge hätte.43 41 Nach Kant ist eben darin die Bestürzung darüber begründet, „dass diese Rasse vernünftiger Weltwesen unter den übrigen (uns unbekannten) keine ehrenwerte Stelle verdiene“. Noch im (ebenfalls im Jahr 1798 erschienenen) „Streit der Fakultäten“ heißt es freilich: „Wenn man den Menschen einen angebornen und unveränderlich-guten, obzwar eingeschränkten Willen beilegen dürfte, so würde er dieses Fortschreiten seiner Gattung zum Besseren mit Sicherheit vorhersagen können; weil er eine Begebenheit träfe, die er selbst machen kann. Bei der Mischung des Bösen aber mit dem Guten in der Anlage, deren Maß er nicht kennt, weiß er selbst nicht welche Wirkung er sich davon gewärtigen könne“ (VI 356). 42 Die berühmt gewordenen Diagnosen Yovels: „In other words, the HG [höchstes Gut] becomes a historical ideal“ (Yovel 1972, 274) – „The highest good remains no longer a separate, transcendent world, but becomes the consummate state of this world, to be realised through a concrete development in time“ (ebd. 240 f ) –, erweisen sich insofern als unzutreffend, als sie eine Einebnung der verschiedenen – geschichts-, rechts- und religionsphilosophischen – Problemebenen jedenfalls begünstigen (wie sich auch an der diesbezüglich an Yovel anschließenden Kant-Interpretation von Cheneval zeigt). Seine These wird auch durch die Einschränkung nicht zustimmungsfähiger: „I am not denying that the historical meaning of the Highest Good is not the only one; but it is the most comprehensive and includes (if not ,sublates‘) all the others“ (ebd. 241). Schon in der „Religionsschrift“ bleibt der individuelle Aspekt des „höchsten Gutes“ von dem „höchsten gemeinschaftlichen Gut“ unterschieden, die in den vier Teilen der „Religionsschrift“ unterschiedlich akzentuiert werden (vgl. auch Allison 2011, 43 f ); gleichwohl verbietet sich eine entsprechende Reduktion der kantischen Idee des „ethischen Gemeinwesens“ bzw. ihre „geschichtsphilosophische“ Auflösung. Vielmehr bleibt darauf zu achten, dass diese innerhalb des „ethischen Gemeinwesens“ intendierte „Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftichen Guts“ erst über die „Tugendpflichten“ ihren letzten Maßstab gewinnt. 43 Dass die „Moralität“ in der Tat „niemals in Erscheinung tritt“, so Geismann (2000, 526 f ) gegen Kleingeld, ist für sich genommen allerdings noch kein stichhaltiger Einwand dagegen, dass Kant auch eine
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Kants Rekurs auf die politisch-praktische Vernunftidee des „ewigen Friedens“ bringt dies im Sinne einer durch praktische Vernunft begründeten (und demgemäß gebotenen) Zuversicht besonders klar zum Ausdruck: „Wenn es Pflicht, wenn zugleich gegründete Hoffnung da ist, den Zustand eines öffentlichen Rechts, obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung wirklich zu machen, so ist der ewige Friede … keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (weil die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt“ (VI 251; vgl. VI 364 ff; VI 684 ff ).44 Eben dies, dass nicht theoretische Erwägung bzw. „weissagende Erwartung“, sondern praktische Vernunft „nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet“, wonach „die Welt im Ganzen immer zum Bessern fortschreite“45 (und die „Wahrsager doch selbst die Handelnden sein müssen“) – gleichwohl ein Weg, der stets „vom Schlechtern zum Besseren“ führt und als „Geschichte der Freiheit“ lediglich „Menschenwerk“ bleibt (VI 102) –, begründet bzw. stützt jene unumgängliche Zuversicht und „tröstende Aussicht in die Zukunft“ (VI 49); ohne sie wäre die Orientierung an dem moralisch Gebotenen und alles „eifrige Bemühen“ (VI 168) als illusorisch preiszugeben, d. h. sie liefen jener praktischen Vernunftforderung strikt zuwider, „unter den Mühseligkeiten immer noch Mut zu fassen“ (VI 99).46 Dass die „Wahrsager doch selbst die Handelnden sein müssen“, besagt dann eben, dass diese Zukunft zunächst als Aufgabe geschichtlichen Handelns zukommt; nur von diesem der praktischen Vernunft als Voraussetzung immanenten Zukunftsbezug her bezieht es sich auf das utopisch-ausstehende Zukünftige hin, „das kommen soll“. Dieser rechts- bzw. geschichtsphilosophischen Begründungsfigur zufolge findet also die „fortschreitende Kultur“ in dem (von Kant mit Bedacht so bezeichneten) „höchsten politischen Gut“ – d. i. der Idee des „weltbürgerlichen Ganzen“ als „ein System aller Staaten“ (V 555), also mit einer die Menschheit umspannenden Rechts- und Friedensordnung der Völker47 – ihre Vollendung; dieses „höchste politische Gut“ stellt so den „ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (IV 479) dar und darf zugleich als „äußerstes Ziel der Kultur“ angesehen werden, obgleich es
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Hoffnung auf ein (im engeren Wortsinn verstandenes) „moralisches Fortschreiten des Menschengeschlechts“ vor Augen hatte; wohl aber bleibt festzuhalten, dass deshalb diese „Moralität“ („Moralisierung“) nicht als ein „Leitfaden apriori“ der Geschichtstheorie in Frage kommt. – Der in Benjamins „Kritik der Theorie von einem möglichen Fortschritt auf allen Gebieten“ enthaltene kritische Hinweis auf die „Differenz zwischen Fortschritten der Gesittung – aber wo ist der gemeinsame Maßstab? – und moralischen Fortschritten, für die der Maßstab des reinen Willlens, der intelligible Charakter als Gegenstand sich anbieten“ (Benjamin I. 3, 1239), erinnert zweifellos an Kant. Jedoch ist nicht zu übersehen, dass nach Kant nur „die Annäherung zu dieser Idee … uns von der Natur auferlegt [!]“ ist (VI 41), denn das „unaufhörliche Fortschreiten und die Vollendung … ist eine bloße [!], aber in aller Absicht sehr nützliche Idee von dem Ziele, worauf wir, der Absicht der Vorsehung gemäß, unsere Bestrebungen zu richten haben“ (VI 806). AA XX, 307. Insofern betonte Kant auch das Hilfreiche bzw. die Notwendigkeit, der zufolge „die Vernunft in Vorstellung des Moralisch-Guten durch Verknüpfung ihrer Ideen mit Anschauungen (Beispielen), die ihnen untergelegt werden, eine Belebung des Willens hervorbringen“ könne (VI 583). Schon früh merkte Kant deshalb in dieser geschichts- und rechtsphilosophischen Perspektive an: „Die letzte Vollkommenheit: Völkerbund“ (Refl. 1499, AA XV, 783). – Vgl. dazu Kleingeld 2004, 99–112.
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dieser Vernunftperspektive gemäß selbst unentbehrliche Bedingung desselben ist.48 Es ist die „allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung“, die eben deshalb selbst nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (IV 479) für sich geltend machen muss. Kants nähere Charakterisierung des Stellenwertes dieser Idee des „ewigen Friedens“ als des „höchsten politischen Guts“ – fundiert in dem „Rechtsprinzip“ als einem „reinen praktischen Vernunftprinzip“, das als solches alle „eudämonistischen“ Reduktionismen dieser Vernunftidee verwerfen muss (vgl. etwa VI 242; VI 687)49 – lässt nun keinerlei Zweifel darüber zu, dass, dieser praktischen Vernunftidee gemäß, „die Rechte der Menschheit herzustellen“ in derlei Hinsicht für Kant auch die vorrangige Aufgabe bedeutet, denn: „Sich als ein nach dem Staatsbürgerrecht mit in der Weltbürgergesellschaft vereinbares Glied zu denken, ist die erhabenste Idee, die der Mensch von seiner Bestimmung denken kann und welche nicht ohne Enthusiasm gedacht werden kann.“50 „Zukunft“ kommt deshalb, in diesem emphatischen Sinne, der sich an vernünftigen Maßstäben orientierenden politischen Praxis zu – und nur unter dieser Voraussetzung lässt sich dann auch fragen und hoffen, ob denn bzw. dass der „Fortschritt zum Besseren“ sich auch als realisierbar erweisen wird. Dies ist offensichtlich der leitende Gesichtspunkt, der sodann in Kants Hinweis auf die „Evolution einer naturrechtlichen Verfassung“ zur Geltung kommt und sich sodann zu einer „völkerrechtlichen“ und „weltbürgerrechtlichen“ Perspektive erweitert. Die Geschichte erweist sich also, über jene Ebene der Kultur als dem „letzten Zweck der Natur“ hinaus, als der Ort der Ausbildung und Entfaltung der Vernunftidee des „Rechts“, zumal in dem „höchsten politischen Gut“ als dem „ganzen Endzweck der Rechtslehre“ mit dem darin bestimmenden Freiheitsbegriff eine weltbürgerlich erweiterte Vernunftperspektive erst ihre Vollendung gewinnt. Die Rechtssphäre galt Kant demzufolge als die Vernunftbedingung für eine nicht „planlose“ Entwicklung der Kultur, welche so, als „letzter Zweck der Natur“, in der maßgebenden „praktischen Vernunftperspektive“ notwendig selbst auf den „ganzen Endzweck der Rechtslehre“ (das „höchste politische Gut“) bezogen bleibt und deshalb nicht mit dem „Reich Gottes auf Erden: das ist die letzte Bestimmung“, gleichgesetzt werden darf. Freilich bleibt es dabei: „Ein ethisches gemeines Wesen … hat eigentlich keine ihren Grundsätzen nach der politischen ähnliche Verfassung“ (IV 762).51 48 „Der Friede wird zum philosophischen, nicht mehr theologischen Grundbegriff und hat seinen Schwerpunkt in der Rechts- und Staatsphilosophie“ (Höffe 2001, 165). Als solcher ist er als „höchstes politisches Gut“ Gegenstand begründeten Hoffens, der „durch allmähliche Reform nach festen Grundsätzen versucht und durchgeführt wird, in kontinuierlicher Annäherung“ (IV 479). – Die für das „höchste politische Gut“ wie auch für „das ethische Gemeinwesen“ konstitutive (unaufhebbare) Differenz zwischen „Errichtung“ und „Erreichung“ und die diesbezügliche „Verpflichtung“ bzw. die entsprechend verschiedenen „Perspektiven“ haben in der Unterscheidung zwischen der „Beförderung“ und dem „Bewirken“ des „höchsten Gutes“ eine gewisse Entsprechung. 49 Vgl. auch AA XXIII, 257. 50 Refl. 8077, in: AA XIX, 603 ff, hier: 609. 51 In der Tat: „Das ‚Reich Gottes auf Erden‘ wird bei Kant niemals zu einer rein säkularen politischen Größe, zur säkularisierten Gestalt eines messianischen Reiches“ (Habichler 1991, 223). Die freie Anlehnung an die augustinische Idee ist in der Bezugnahme auf die „civitas dei in mundo“ (vgl. Menzer 1924, 319) erkennbar; vgl. auch Refl. 4349, AA XVII, 516.
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Dass der Rechtszustand als „unverzichtbare Voraussetzung der zu höheren Zwecken“ tauglichen „Kultur“ fungiert, ist demzufolge vor allem von der – Kant durchaus geläufigen – Einsicht bzw. Befürchtung geleitet, dass eine von den Prinzipien praktisch-rechtlicher Vernunft losgelöste bzw. entkoppelte Rationalität nicht nur rasch „luxuriert“, sondern überdies Gefahr läuft, als ungebändigtes „instrumentelles Vermögen“ und als „brutale Freiheit“ (VI 42; IV 755) eines maßstablosen „vernünftigen Wesens“ in Unkultur und Barbarei zu entgleisen bzw. umzuschlagen. Eine unvermeidliche Folge wäre dies, dass „homo faber et rapiens“ den „homo sapiens“ verdrängt, d. h. die bloßen „Anlagen für die Menschheit“ die „Anlage für die Persönlichkeit“ (IV 673 f ) vollends absorbieren. Dies wäre freilich lediglich die fatale Konsequenz aus dem Missbrauch, „das Praktische nach Naturbegriffen mit dem Praktischen nach dem Freiheitsbegriff für einerlei“ zu nehmen (V 242; vgl. IV 179). Kant war – von Rousseau wohl auch diesbezüglich „zurecht gebracht“, obgleich in kritischer Distanz zu dessen Kulturkritik – durchaus sensibel für die aus einer „gleichsam planlos fortgehenden Kultur“ (VI 95, Anm.) resultierenden Bedrohungen, zumal – dieser Aspekt war bekanntlich vor allem auch für seine kritische Auseinandersetzung mit Herders Geschichtsphilosophie bestimmend52 – eine solche Kultur, im „juridischen Naturzustand“ verharrend, um die Idee der „eigenen allgemeinen und zwar äußeren Gesetzmäßigkeit, welche das bürgerliche Recht heißt“, noch unbekümmert bliebe und ihre Folgen geradezu als „Laster der Kultur“ (bis hin zur „Bösartigkeit“ der „teuflischen Laster“: IV 674) gelten müssten. Dass menschliche Freiheit auch als „das Schrecklichste, was nur sein kann“,53 in solchen Bedrohungen geschichtlich-gesellschaftliche Realität wird, spielt gerade in diesem geschichtsphilosophischen Zusammenhang eine bedeutsame Rolle und spiegelt in dieser Hinsicht ebenso Kants unbeirrbares Bewusstsein von der drohenden Ambivalenz des Fortschritts-Begriffs wider, der zufolge ohne jene Verankerung bzw. Rückbindung der Kultur in praktischen Vernunftprinzipien jener Fortschritt sich allzu leicht in einen Schritt fort vom Menschen, in eine stillschweigende Preisgabe der „Idee der Menschheit“, verkehrt. „Kultur“ als „System aller Zwecke“ im Dienste der fortschreitenden „Natur- und Selbstbeherrschung“ bleibt selbst – schon hier bestätigt sich Kants Idee der „Philosophie als der Wissenschaft der Beziehung aller Wissenschaften auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)“ (II 700) – gegen die Gefahr ihrer Verselbstständigung bzw. Verabsolutierung an die Maßstäbe rechtlich-moralischer Natur gebunden. Jener Sachverhalt, dass die „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“ als Bedingung einer „vernunft“-orientierten Kultur ausgewiesen
52 Die diesbezüglich im Hintergrund stehenden geschichtsphilosophischen Kontroversen zwischen Kant und Herder sind hier nicht zu verfolgen. 53 Menzer 1924, 152. Diese Wendung findet sich auch in Kants späteren Vorlesungen häufig; sie bleibt mit jener Leitfrage einer „pragmatischen Anthropologie“ zu verbinden, die darauf abzielt, „was der Mensch … aus sich selber macht“. Deshalb ist auch die Ausbildung der „Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind“ und nur „in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig [sich] entwickeln“ können (VI 35), an die „moralisch-praktischen Prinzipien“ rückgebunden, zumal auch nur diese den „technisch-praktischen“ Gebrauch eines „intelligenten Wesens“ zu zähmen vermögen. Denn: „Wenn die Menschen im höchsten Grad kultiviert sind, so kultivieren sie … die Künste des Krieges“ (Refl. 1460, AA XV, 642).
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wird, lässt mithin erkennen, dass die in dieser geschichtsphilosophischen Perspektive enthaltene „Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung“ (VI 49) – im Sinne des in der „Geschichte des menschlichen Geschlechts“ sich entwickelnden „regelmäßigen Ganges der Verbesserung der Staatsverfassung“ eine für politisches Handeln und Verantwortung unentbehrliche utopisch-hoffnungsorientierte Idee – eine „Voraussetzung in notwendig praktischer Absicht“ gewissermaßen – darstellt,54 die für Kant die maßgebliche geschichtsphilosophische Perspektive in der Idee der „gattungsgeschichtlichen Vervollkommnung“ ist.55 Dass Kant im Rahmen seiner „politischen Philosophie“ die Idee des „ewigen Friedens“ als das „höchste politische Gut“ – und in solcher Hinsicht sogar als den „ersten Zweck“ – würdigte, besagt deshalb lediglich dies: Der Rechtssphäre und dem ihr korrespondierenden Freiheitsbegriff (und damit auch der Idee des Rechtsfortschrittes auf innerstaatlicher und internationaler Ebene) ist ein – unaufhebbarer – Eigenwert in dem „System“ und der „Rangordnung der Zwecke“ und somit auch in der Bestimmung des „praktischen Endzwecks“ zuzuerkennen; dieser muss – gemäß jener erwähnten Kennzeichnung des „Rechts der Menschen“ als „Augapfel Gottes auf Erden“ (VI 207, Anm.; IV 751) – einer Zurückstufung auf das Niveau bloßer Nützlichkeitserwägungen ebenso wie einer in geschichtsphilosophischer Hinsicht beabsichtigten „teleologischen“ Aufhebung (d. h. in Wahrheit: seiner Suspendierung) eine entschiedene Absage erteilen. 1.1.3. Der allein in „praktischer“ Absicht legitimierte kritisch-regulative Rekurs auf die „Naturabsicht“ In jenem praxis-inspirierenden Sinne ist bei Kant – gegenüber einer andernfalls unvermeidlichen Entmutigung, d. h. der Preisgabe „unserer gutmütigen Hoffnung“ (VI 230) – von einem „Naturplan“, d. i. von einer „Tendenz der Natur zu diesem Zweck“ in regulativer Absicht, die Rede – näherhin davon, dass Menschen „durch ihre eigene Tätigkeit die Entwicklung des Guten aus dem Bösen dereinst zu Stande bringen: im Prospekt, der, wenn nicht Naturrevolutionen ihn auf einmal abschneiden, mit moralischer (zur Pflicht der Hinwirkung zu jenem Zweck hinreichender) Gewissheit erwartet werden kann“ (VI 684). Darin bringt sich also in einer geschichtsphilosophischen Akzentuierung gleichermaßen die Zuversicht bzw. die Ermutigung zum Ausdruck, dass diesbezügliche Bemühungen sich weder erübrigen noch als ohnehin vergeblich abzutun sind.56 Das in 54 In diesem Sinne betont Bartuschat: „Der Natur eine Verfassung zuzuschreiben, der zufolge sich in ihr die Vernunft artikuliert, ohne dass wir berechtigt wären, die Vernünftigkeit der Natur zu behaupten, ist ein Gedanke, der für Kant im Rahmen einer Kritik der teleologischen Urteilskraft exponierbar ist, in der die Natur auf einen Zweck hin beurteilt wird, den wir als bloß regulative Idee voraussetzen, mit deren Hilfe wir allein eine bestimmte Beschaffenheit der Natur uns begreiflich machen können“ (Bartuschat 1984, 73). 55 Vgl. zu dem diesbezüglich bedeutsamen Einfluss Rousseaus auf Kants „Geschichtsperspektive“: R. Brandt 2007. 56 Vgl. dazu auch F. Kaulbach 1965. – Über die (im Sinne einer kritischen „moralischen Teleologie“ zu verstehende) hoffnungs-begründende „regulative“ Funktion dieser „Naturabsicht“ hinaus weist freilich jene schon angeführte Kennzeichnung, die eher die Vergeblichkeit eines allfälligen Widerstrebens geltend macht: „Wenn ich von der Natur sage: sie will, dass dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht so-
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einem solchen Rekurs auf die „Naturabsicht“ akzentuierte geschichtsphilosophische Motiv erlaubt es demnach erst, im Sinne der leitenden Vernunftperspektive eines möglichen politisch-rechtlichen Fortschritts in der Geschichte gemäß diesen rechtlich-politischen Maximen vernunft-orientiert und mit „begründeter Hoffnung“ zu handeln. Dies bringt so – letztendlich in der praktisch-prospektiven Orientierung an der Vernunftidee bzw. des „Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden“ (VI 218) – einen bedeutsamen geschichtsphilosophischen Aspekt einer „praktischen Teleologie“ zur Geltung,57 nämlich über einen „Zweck, den uns die Vernunft unmittelbar vorschreibt“ (ebd.). Eine analoge Betrachtungsweise legt sich wohl nahe: Erwies sich die unterstellte „zweckmäßige Einheit“ der Naturerscheinungen als eine notwendige Voraussetzung für die „forschende Vernunft“, wenn diese in systematischer Absicht urteilen will, so ist solche Voraus-Setzung erst recht auf dem Gebiete praktisch-geschichtlichen Handelns vonnöten. Dies schon deshalb, weil hierfür diese „vernünftigen, aber endlichen Wesen“ sich orientieren, d. h. urteilen und handeln – und somit eben auch voraussetzen – müssen, damit ein an jenen rechtlich-politischen Vernunftmaßstäben orientiertes Handeln möglich ist, d. h. auch zielführend sein kann. In gebotener Beachtung des nicht zu nivellierenden „Punktes der Ungleichartigkeit“ darf jene geschichtsphilosophische Gedankenfigur gemäß der von Kant geltend gemachten Voraussetzung der „Harmonie zwischen den Folgen aus unseren Naturbegriffen und denen aus dem Freiheitsbegriffe, mithin zweier ganz verschiedener Vermögen, unter ganz ungleichartigen Prinzipien in uns“ (III 373), verstanden werden. Was im erstgenannten Fall die Einheit der Prinzipien der Naturphilosophie und der Moralphilosophie (und deren Gesetzgebung) betrifft, wäre hier also in analogem Sinne für eine geschichtsphilosophische Argumentationsfigur geltend zu machen; andernfalls sind nach Kant der recht verstandene „philosophische Chiviel, als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu tun (denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie tut es selbst, wir mögen wollen oder nicht“ (VI 223). Auch die andernorts geäußerte These Kants (Refl. 8077, AA XIX, 603 ff, hier 605), es sei „eine Sache der Freiheit, von der man nichts mit Sicherheit vorhersagen kann“, steht dazu in einer unübersehbaren Spannung, wenngleich der jeweilige Interessens-Horizont beider Behauptungen zu berücksichtigen bleibt. Es sind eben recht unterschiedliche Akzente bzw. maßgebende Interessen, die Kant in seinen geschichtsphilosophischen Abhandlungen verfolgt; die jeweils unterschiedlichen Intentionen bleiben jedenfalls genau zu beachten, wenn sein Rekurs auf die „Naturabsicht“ bzw. seine Antwort auf die Frage „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?“ sowie der Verweis auf die diesbezüglichen „Unsicherheiten“ nicht als widersprüchlich erscheinen sollen (s. dazu jetzt auch Höffe 2011c, bes. 172 f ). Darüber hinaus bleibt darauf zu achten: Dem prospektiven – rechtlich-moralischen – Richtungssinn korrespondiert die Forderung einer gegenläufigen Perspektive, die sich den verstummten Opfern nicht verschließt, wobei erst recht in einer solchen geschichtsphilosophischen Hinsicht „die Vernunft ins Stocken gerät“ (vgl. AA XXVIII, 1120; s. dazu u. VI. Teil) und dennoch ein solches „tiefes Stillschweigen der Vernunft“ in einer anderen „moralischen Absicht“ Gehör finden muss. 57 Insofern weist dies doch noch über den gewiss berechtigten Hinweis Geismanns hinaus, dass Kant mit der „Naturabsicht“ „weder einen göttlichen Eingriff, noch eine zum Willenssubjekt hypostasierte Natur, noch überhaupt eine auf die Natur selber bezogene Wirklichkeitsbehauptung“ gemeint habe: „Kurz: Kants teleologischer Naturbegriff hat im Rahmen der Geschichtsphilosophie allein die regulative oder heuristische Funktion, als Leitfaden der Geschichtsbetrachtung zu dienen“ (Geismann 2009, 94). Vgl. dazu jedoch auch die einschlägigen kritischen Bemerkungen zu einem falschen Verständnis dieser „Naturabsicht“ bei Flach 2002.
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liasmus“ sowie jene erwähnten „schwachen Spuren der Annäherung“ nicht zu begreifen und bleiben auch mit seiner kritischen Beantwortung jener Frage nach dem „beständigen Fortschreiten zum Besseren“ sowie der kritischen „wahrsagenden Geschichte des Menschengeschlechts“ (VI 356 ff ) unvereinbar. So unübersehbar dieses analoge Argumentationsmuster auch ist, so darf der in praktisch-moralischer Absicht vorgenommene Rekurs auf einen „verborgenen Plan in der Natur“ indes nicht vergessen lassen, dass nach Kant „die Natur den Keim der Zwietracht in sie [die Menschengattung] gelegt und gewollt [!] hat, dass ihre eigene Vernunft aus dieser diejenige Eintracht, wenigstens die beständige Annäherung zu derselben, herausbringe“ (VI 673) – ein Gedanke, der mit der Vorstellung einer „höchsten uns unerforschlichen Weisheit“ – wenn sie denn eine „moralische“ sein soll – wohl nicht so ohne Weiteres vereinbar sein dürfte und erneut (auch mit Rücksicht auf den von Kant erwähnten „göttlichen Concursus“: VI 219) zögern lässt, an diese – eher listig als „moralisch weise“ zu nennende – Instanz den „Begriff einer Gottheit“ zu „verschwenden“, wie Kant andernorts (V 562) ausdrücklich mahnt. Sehr bezeichnend ist diesbezüglich auch folgende – gewissermaßen auf eine geforderte Beweislastumkehr abzielende – Argumentation Kants in seinem späten „Gemeinspruch“Aufsatz: „Ich werde also annehmen dürfen: dass, da das menschliche Geschlecht beständig im Fortrücken in Ansehung der Kultur, als dem Naturzweck desselben, ist, es auch im Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins begriffen sei. Diese Voraussetzung zu beweisen, habe ich nicht nötig; der Gegner derselben muss beweisen. Denn ich stütze mich auf meine angeborene Pflicht, in jedem Gliede der Reihe der Zeugungen – worin ich (als Mensch überhaupt) bin, und doch nicht mit der an mir erforderlichen moralischen Beschaffenheit so gut, als ich sein sollte, mithin auch sein könnte – so auf die Nachkommenschaft zu wirken, dass sie immer besser werde (wovon also auch die Möglichkeit angenommen werden muß), und dass so diese Pflicht von einem Gliede der Zeugungen zum andern sich regelmäßig vererben könne. Es mögen nun auch noch so viel Zweifel gegen meine Hoffnungen aus Geschichte gemacht werden, die, wenn sie beweisend wären, mich bewegen könnten, von einer dem Anschein nach vergeblichen Arbeit abzulassen: so kann ich doch, so lange dieses nur nicht ganz gewiß gemacht werden kann, die Pflicht (als das Liquidum) gegen die Klugheitsregel, aufs Untunliche nicht hinzuarbeiten, (als das Illiquidum, weil es bloße Hypothese ist) nicht vertauschen; und, so ungewiß ich immer sein und bleiben mag, ob für das menschliche Geschlecht das Bessere zu hoffen sei, so kann dieses doch nicht mit der Maxime, mithin auch nicht der notwendigen Voraussetzung derselben in praktischer Absicht, daß es tunlich sei, Abbruch tun“ (VI 167 f ). Im Blick auf den eigentümlichen Status der „Kultur“ als „letzter Zweck der Natur“ ist jenes von Kant betonte beständige „Fortrücken in Ansehung der Kultur, als dem Naturzweck“ des Menschengeschlechts, auch in terminologischer Hinsicht (und insbesonders im Blick auf die von Kant betonte „Naturabsicht“) bemerkenswert, zumal solches „Fortrücken“ offenbar eine eigentümliche Stellung zwischen der „Herrschaft“ bzw. dem „Gängelband des Instinktes“ („bloß instinktmäßig“) einerseits und einem nur „vernünftige Weltbürger“ auszeichnenden „verabredeten Plan“ (VI 34) bzw. einem „Fortschreiten zum Besseren in An-
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sehung des moralischen Zwecks“ (VI 167) anzeigt.58 Der Rekurs auf eine „Naturabsicht“ ist in Zusammenhang mit der Bestimmung der „Kultur“ als dem „letzten Zweck der Natur“ (und deren „teleologischer Entfaltung) und gleichermaßen mit gebotener Rücksicht darauf zu verstehen, dass den praktischen „Vernunftideen“ („Recht“, „Staat“, „ewiger Friede“) „verbindende Kraft, mithin objektive (praktische) Realität“ (VI 164) zukommt, d. h. diese „Ideen“ auch tatsächlich praxis-orientierende Bedeutung haben. Gegenüber einer einseitigen geschichtsteleologischen Lesart, die unvermeidlich hinter Kants kritisches Anliegen zurückfiele, ist es deshalb auch geboten, den „reflektierenden“ Stellenwert der im achten Satz seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ eingeräumten berühmten Bestimmung genau zu beachten – d. h. vor allem die darin implizit enthaltene „Voraussetzung in notwendig praktischer Absicht“ (ihren „praktisch-regulativen“ Charakter), die freilich an die Bestimmung der Kultur als des „letzten Zwecks der Natur“ rückgebunden bleibt und so ein eigentümliches Verbindungsglied zwischen dem „Reich der Natur“ und dem „Reich der Vernunft“ darstellt: „Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann“ (VI 45). Auch dies lädt in der angezeigten analogen Weise wohl zu einer Leart ein, die darin eine geschichtsphilosophische Variante jener regulativen Beurteilungsperspektive erkennen will, welche die unumgängliche – gleichsam jenes moralphilosophische „Du kannst, denn du sollst!“ variierende – Voraussetzung thematisiert, unter der allein jedes (zwar stets von Rückschlägen bedrohte) Bemühen gleichwohl nicht prinzipiell zum Scheitern verurteilt, d. h. nicht aussichtslos, sein soll.
58 Dass hier bei Kant alternative Ansatzpunkte dafür zu erkennen sind, „die Fortschrittshypothese als Produkt eines Perspektivenwechsels der geschichtlichen Subjekte selbst zu begreifen“ und d. h. „den geschichtlichen Weg zum Besseren … als Produkt eines menschlichen Lernprozesses zu beschreiben“, will Honneth (2004, 93) aufweisen. Dies soll es erlauben, Kants Geschichtsdenken auch als für die Einsicht zugänglich auszuweisen: „Die menschliche Geschichte könnte daher im Ganzen, einen solchen Mechanismus des generationsübergreifenden Lernens vorausgesetzt, als ein kognitiver Prozess des Fortschritts, als ein Vorgang eben der moralischen Rationalisierung begriffen werden“ (ebd. 96). Honneth entnimmt einem Passus des „Gemeinspruch“-Aufsatzes eine solche – bei Kant wenigstens angelegte – Perspektive eines geschichtlichen Lernprozesses; freilich, die von ihm im Sinne des Lernprozesses verfolgte Idee der „moralischen Rationalisierung“ ist nicht schon „Moralisierung“ selbst – denn auch im „Gemeinspruch“Aufsatz erweist sich die spätere Auffassung als bestimmend, wonach eben lediglich „Vermehrung der Producte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch veranlasst sein mögen“ (VI 365), hier maßgebend ist. (Dies zeigt auch der im näheren Kontext vorgenommene Verweis auf die „Mittel“ zu diesem „immerwährenden Fortschritt“ in Richtung auf die „weltbürgerliche Verfassung“ bzw. auf das Völkerrecht und das „sich allein am Recht“ orientierende „gemeine Wesen“; ähnlich der abschließende Rekurs auf das „Rechtsprinzip …, wie das Verhältnis unter Menschen und Staaten sein soll“: VI 172). Hinweise auf die daran orientierten gattungsgeschichtlichen „Lernprozesse“ in der menschlichen „Geschichte der Freiheit“ als „Menschenwerk“ sind auch in Kants Überlegungen zum „Charakter der Gattung“ (in der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“: VI 672 ff ), aber auch schon in seiner Rezension zu Herders Geschichtsphilosophie erkennbar. – Ob und wie weit hier neben Herder auch Motive Mendelssohns über die „Bestimmung des Menschen“ im Hintergrund erkennbar werden, ist hier nicht zu verfolgen (s. dazu Brandt 2000, 35 ff ).
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Deshalb darf eine wesentliche Zielsetzung der kantischen Geschichtsphilosophie wohl in einer begründbaren Antwort darauf erblickt werden, „ob es in der Geschichte trotz des ‚widersinnigen Gange[s] menschlicher Dinge‘ Regelmäßigkeit und darin Zeichen für einen ‚Fortschritt‘ in Richtung auf den Frieden auf Erden gibt. Ihre wesentliche Funktion ist es, das politische Verhältnis des Menschen zur Zukunft der Menschheit auf Erden zu bestimmen. Ihre Leistung besteht darin, mit Hilfe eines juridico-teleologischen Leitfadens empirische Gründe für die Hoffnung beizubringen, dass die Verwirklichung des höchsten politischen Gutes möglich und also das politische Leben des Menschen nicht notwendig zwecklos ist, wenn er nur seinen Pflichtteil zu jener Verwirklichung beiträgt.“59 Eine – zweifellos auch den Intentionen Kants gemäße – Folge daraus wäre freilich dies, dass damit die Erwartung eines „Newton der Geschichtswissenschaft“ (vgl. VI 34)60 und die daran geknüpfte Vorstellung einer „Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur“ wohl entschieden zurückzuweisen wäre. Auch darf dabei ja nicht vergessen werden, dass die in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ leitende Wahl eines „besonderen Gesichtspunkt(s) der Weltbetrachtung“ sich der „Rechtfertigung der Natur“ als dem besonderen „Beweggrund“ verdankt – ein Umstand, der selbst schon die Rücksicht auf anders orientierte „Beweggründe“ nahelegt. Entsprechend zu jener systematisch grundlegenden – zunächst handlungstheoretischen – Gedankenfigur (die auf die Frage der „Einheit“ des „Naturbegriffs“ und des „Freiheitsbegriffs“ abzielt) ist demzufolge auch Kants geschichtsphilosophische Begründung und die dadurch eröffnete „tröstende Aussicht in die Zukunft“ zu lesen, die in diesem „achten Satz“ zum Ausdruck kommt – und zwar als „besonderer Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ und, näherhin spezifiziert, in Bezug auf das menschliche „Gattungssubjekt“, d. h. in einer gattungsgeschichtlichen Erweiterung. Geht es doch vorrangig darum, dass nicht nur die „Möglichkeit, das Zusammenbestehen beider Gesetzgebungen und der dazu gehörigen Vermögen in demselben Subjekt … wenigstens ohne Widerspruch zu denken“ (V 246) sei, sondern auch deren „Wirkungen in der Sinnenwelt“ trotz der „un übersehbaren Kluft“ (V 247) nicht von vornherein als unmöglich erscheinen, sondern ihr durchaus „günstig“ sind.61 In einer gewissen Analogie dazu rekurrierte Kant, wiederum 59 Geismann 2000, 530. Vielleicht sollte – zurückhaltender – davon die Rede sein, dass die praktische Orientierung an der Idee des „höchsten politischen Gutes“ möglich, d. h. geboten, sinnvoll und auch „bedeutend“ ist, d. h. Realitätsbezug hat. – In der Tat ist es so, dass „das Denken in Kategorien von Rückschlägen, Rückfällen, Rückschritten den vorgängigen Tribut an die Idee des Fortschritts bekundet“ (Recki 2006b, 81). – Insofern ist, wie Weyand mit Recht betont, die Auffassung unzutreffend, bei Kant sei „eine reine Fortsetzung oder ein Rückfall in die Philosophie der Aufklärung zu finden, der eigentlich nach der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr hätte stattfinden dürfen“ (Weyand 1963, 28). 60 In einem Reisejournal (aus dem Jahr 1769) wirft Herder – daran knüpft Kant hier offenkundig an – die Frage auf: „Welche große Geschichte, um die Literatur zu studieren, in ihren Ursprüngen, in ihrer Fortpflanzung, in ihrer Revolution bis jetzt! Alsdenn aus den Sitten Amerikas, Afrikas und einer neuen südlichen Welt, besser als Ihre, den Zustand der künftigen Literatur und Weltgeschichte zu weissagen! Welch ein Newton gehört zu diesem Werke? Wo ist der erste Punkt?“ (Herder 1984, 363). 61 „Jetzt ist die Frage, die das Wesentliche der Absicht auf den ewigen Frieden betrifft: Was die Natur in dieser Absicht beziehungsweise auf den Zweck, den dem Menschen seine eigene Vernunft zur Pflicht macht, mithin zu Begünstigung seiner moralischen Absicht tue, und wie sie die Gewähr leiste, daß dasjenige, was der Mensch nach Freiheitsgesetzen tun sollte, aber nicht tut, dieser Freiheit unbeschadet auch
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in „notwendig praktischer Absicht“, auf jene praktisch-regulativ notwendige Voraussetzung eines „Naturplans“, der allein auch das Vertrauen und die „tröstende Aussicht in die Zukunft“ zu stützen vermag und so Anlass dazu gibt, „mit Grunde [zu] hoffen“ (VI 49), aber auch in „praktischer Absicht … es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß chimärischen) Zwecke hinzuarbeiten“ (VI 226 f ). Dieser durchaus selbst „teleologischen“ Absicht folgt auch noch seine Auskunft: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“ (VI 35), ein Motiv, das auch im Blick auf den Menschen in der Idee einer „teleologia rationis humanae“ aufgenommen ist.62 Von daher erscheint Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ und die darin zu Hilfe genommene reflektierend-regulative „Naturabsicht“ bemerkenswerterweise als das ins Geschichtsphilosophische gewendete heuristische Motiv, der menschlichen Vernunft auch auf diesem Gebiet gleichsam eine „Schule“ zu geben, d. h. auf ein „System der Erfahrung“ zu führen – und zwar eben in einer analogen Weise zu der für die systematische Naturforschung maßgebenden Gedankenfigur: So wie für Letztere die regulativen „teleologischen Prinzipien“ über das verständige „Buchstabieren der Erscheinungen“ hinaus das Buch der Natur erst lesbar – d. i. den systematischen Zusammenhang der Erscheinungen begreifbar – machen, indem sie den „Naturforscher … sogar im Suchen und Beobachten … leiten“ (V 141), weil allein auf solche Weise ein bloßes „Herumtappen“ vermieden werden kann und die „forschende Vernunft“ des Menschen als „vernünftiges Weltwesens“ sich in ihren Entwürfen „wiederzufinden“ vermag, so wäre eine solche Idee des „Naturplans“ lediglich, in kritisch-heuristischer Absicht freilich, als eine geschichtsphilosophische Variation aufzunehmen. Dies darf indes nicht über den schon berührten entscheidenden Sachverhalt hinwegsehen lassen, dass Geschichte, der Zweideutigkeit des Begriffs der Geschichte als „res gestae“ bzw. der „historia rerum gestarum“ entsprechend,63 sich in ihren „Leitfäden“ erzählend immer schon auf die geschichtlich Handelnden, auf ihre Taten, Erfahrungen und Widerfahrnisse bezieht. Auf spätere Überlegungen verweisend (s. u. II., 3.), ist schon hier zu beachten, durch einen Zwang der Natur, daß er es tun werde, gesichert sei“ (VI 223). – Hier scheint doch eine Analogie in Kants Begründung bestimmend zu sein: Der hinsichtlich der Möglichkeit des „höchsten politischen Gutes“ in kritischer Absicht erfolgende Rekurs auf die „große Künstlerin Natur“ (als „Garant des ewigen Friedens“: VI 217) im Sinne eines regulativen Prinzips der „Als-ob-Zweckmäßigkeit“ in Bezug auf die „menschliche Gattung“ hat eine Entsprechung in der voraus-gesetzten Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ als Ermöglichungsgrund des „höchsten (vollendeten) Guts“ als des „praktischen Endzwecks“. Ist es in dem „höchsten politischen Gut“ um die praktische Orientierung an dem der „praktischen Idee des Rechts“ (dem „Augapfel Gottes auf Erden“) adäquaten „Rechtszustandes“ zu tun (daraufhin fortzuschreiten Ziel und Aufgabe der menschlichen Gattung ist), so legitimierte Kant die moralisch zu „befördernde“ Idee des „höchsten Guts“ als „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen [!] seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht“ (IV 255). S. dazu u. IV., 1.3. 62 In dieser transformierten Gestalt sind in der Tat die (vermutlich über Baumgarten tradierten) wirkungsgeschichtlichen Spuren des in die mittelalterliche Transzendentalien-Lehre zurückweisenden Prinzips erkennbar: „Ergo omne ens est perfectum transcendentaliter“; vgl. dazu die im Blick auf Kant interessanten historischen Bezüge zur „Bestimmung des Menschen“ bei Zöller 2001. 63 Damit enthält diese Kritik eben auch die kritische Reflexion auf den Doppelsinn der Historie als „res gestae“ und „historia rerum gestarum“.
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dass – weil eben das Leiden und widerfahrene Unrecht der menschlichen Subjekte selbst schon Geschichte und nicht bloß bedeutungsloses, erst noch zu verarbeitendes „datum“ ist! – eine kritische geschichtsphilosophische Konzeption doch gerade darauf bedacht wäre, dass eine derart ins Blickfeld tretende „Leidensgeschichte“ sich in keine Vernunftidee und ihre Deutungsmuster „aufheben“ lässt. Darauf beruht auch die Möglichkeit und Notwendigkeit, dass „anamnetische Vernunft“ sich als Kritik der „Geschichte und der historischen Schriften“ (III 469) und nicht zuletzt als kritische Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft artikuliert. Dies macht es deshalb notwendig, Kants berühmte stolze Ankündigung: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss“, ebenso auf das Selbstverständnis der Historie als Wissenschaft zu beziehen, und impliziert auch in dieser besonderen Hinsicht jene Kritik der „Geschichte und historischen Schriften“, die nach Kant freilich engstens mit dem Programm einer „Kritik der Vernunft“ selbst verbunden ist. Zwar zielt dies bei Kant zunächst in der Tat auf die zeitgenössische Geschichtsschreibung,64 darf jedoch (gemäß dem kantischen Sinn von „Kritik“) wohl auch in einer prinzipiellen Hinsicht verstanden werden, zumal das umfassende Unternehmen einer Vernunftkritik auch von der Geschichte als der besonderen – geschichtlich sich wandelnden – Weise, „wie Vergangenheit gegenwärtig ist“ und wie somit auch Gegenwart gedeutet und Zukunft entworfen wird, nicht absehen kann. Eben darauf, wie „Vergangenheit gegenwärtig ist“ – sowie auf unser kontinuitätsstiftendes Verhältnis dazu! –, muss sich demzufolge die von ihm intendierte „Kritik der [historischen] Vernunft, der Geschichte und historischen Schriften“ erstrecken – und folglich auch darauf, was Letztere an Vergessen widerspiegeln. Die einer geschichtsphilosophisch orientierten Kritik der „historischen Schriften“ ebenfalls gestellte Aufgabe kritischer Besinnung auf die Geschichte („historia rerum gestarum“) in der besonderen Hinsicht, wie Vergangenes „historisch“ gegenwärtig ist, impliziert nicht zuletzt die Kritik an einer bloß „antiquarischen“ und „monumentalistischen Geschichtsschreibung“.
64 Siehe dazu die Einleitung von M. Riedel (Riedel 1974), der den Ausgangspunkt der kantischen Geschichtsphilosophie nicht in der „überlieferten Geschichtstheologie“, sondern im „Zustand der zeitgenössischen Geschichtsschreibung“ sieht, „die sich mit der Anhäufung und Ausbreitung des historischen Stoffes begnügt und unreflektiert den Interessen der herrschenden Mächte (von Staat und Kirche) dient“ (ebd. 6 f ). Dieses kritische Interesse könnte indes noch eine andere Erweiterung und Radikalisierung des geschichtsphilosophischen Interesses erfordern. Dafür wird sich freilich auch in besonderer Weise die von Ricoeur dem kritischen Historiker abverlangte Einsicht als unverzichtbar erweisen, „dass selbst diejenige Erzählform, die sich in dieser Hinsicht als die neutralste gibt, nämlich die historiographische Erzählung, niemals den Nullpunkt des Bewertens erreicht. Ohne dass er eine persönliche Präferenz der Werte dieser oder jener Epoche bekundet, bleibt der Historiker, der sich stärker von der Neugierde als vom Interesse am Gedanken oder Verabscheuen leiten lässt, nichtsdestoweniger – und zwar aufgrund dieser Neugierde selbst – auf die Art und Weise bezogen, wie die Menschen nach dem, was sie für das wahre Leben hielten, gestrebt, es erreicht oder verfehlt haben. Zumindest im Modus der Einbildung und der Sympathie lässt er die Weisen des Bewertens aufleben, die auch heute noch tief in unserem Menschsein verwurzelt sind. Unter bestimmten Umständen, besonders wenn der Historiker dem Grauenhaften, der Grenzgestalt der Geschichte der Opfer, gegenübersteht, schlägt das Schuldverhältnis in die Pflicht des Nichtvergessens um“ (Ricoeur 1996, 201 f ).
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Das vernunftgeleitete Interesse an der Geschichte und die Weise, wie Vergangenes gegenwärtig ist, kann sich demnach nicht darauf beschränken, woran den „späten Nachkommen“ gelegen ist, und ist insofern auch nicht lediglich praktisch-zukunftsorientiert. Kants berühmte Gedankenfigur, wonach die „Gesetzgebung der Vernunft dem Verstand die Regel gibt“, wäre demnach in entsprechender Weise ebenso auf das Selbstverständnis einer kritischen Geschichtswissenschaft und deren Verhältnis zur Geschichtsphilosophie – desgleichen in Ansehung der in Aussicht genommenen „Kritik der historischen Schriften“ – zu erweitern. Dies verleiht ebenso seinem Hinweis auf den regulativen Status der unentbehrlichen (Vernunft-)Ideen, „nämlich den [historischen] Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten“ (II 565), in diesem speziellen Problemzusammenhang einen guten Sinn, sofern auch hier „Vernunft“ auf „Verstandeserkenntnis“ bzw. „Verstandesgebrauch“ (II 330 f ) verwiesen bleibt, d. h. eben der „Verstand nicht geschenkt werden kann“ (Hegel). Dass auch die praktischen Vernunftideen „nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Vernunft selbst aufgegeben“ sind „und sich daher notwendigerweise auf den ganzen Verstandesgebrauch“ beziehen (II 331), hat ja Kant selbst für seine „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ fruchtbar gemacht; jedoch fordert dies gleichermaßen, wie sich zeigen soll, eine gegenläufige Lesart (s. u. II., 3.3.). Ihre Freilegung ist wohl eine Voraussetzung dafür, um Kants Geschichtsdenken in produktiver Weise auch mit einschlägigen zeitgenössischen Positionen ins Gespräch zu bringen.65 Es wird sich im Folgenden noch bestätigen: Zu der von Kant beabsichtigten „Kritik der Geschichte und historischen Schriften“ gehören in vielfältigen Bezügen auch die Aufmerksamkeit bzw. sensible Rücksicht darauf, dass sich jene „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ und der maßgebende „Bewegungsgrund“ in dem darin bestimmenden „besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ (VI 49) nicht unbedachterweise von der Logik bzw. vom Interesse der „Einfühlung in die Sieger“ in Dienst nehmen bzw. überreden lassen.66 Eine solche Perspektive auf die „Kritik der Geschichte und der historischen Schriften“ weist jedenfalls über die bloße methodologische Orientierung geschichtlicher Erfahrung noch hinaus. Dass Kant in dem Programm der „Erweiterung und Demarkation unserer Erkenntnis“ die „Kritik der Vernunft“ nicht zuletzt diejenige „der Geschichte und historischen Schriften“ miteinschließt, ist gewiss bemerkenswert; gleichwohl verlangt auf diesem geschichtsphilosophischen Feld der der „Kritik der Vernunft“ zugedachte „Mittelweg“ zwischen „Dogmatism“ und „Skeptizism“, „den man nach Prinzipien genau bestimmen kann“ (III 236), eine besondere Ausgestaltung in dem Sinne, dass dies eine durchaus „nach Prinzipien genau bestimmte“ Notwendigkeit gegenläufiger Gesichtspunkte vor Augen führt.
65 Auch diesbezüglich ist natürlich an das Alterswerk von P. Ricoeur zu denken. 66 Auch in diesem Sinne ist Kants Aufforderung zu nehmen, „den absoluten Horizont des ganzen menschlichen Geschlechts (der vergangenen und künftigen Zeit nach) zum voraus zu bestimmen“ (III 468).
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1.1.4. Eine daran geknüpfte Klarstellung bzw. Mahnung Kants: „Es ist eine Sache der Freiheit, von der man nichts mit Sicherheit vorhersagen kann“ Ungeachtet dieses in praktisch-regulativem Sinne unternommenen Rekurses auf den Leitfaden einer fortschrittsverbürgenden „Naturabsicht“ hat Kant, vor allem auch in seinen „Reflexionen“67 zur Geschichts- und Rechtsphilosophie, stets auf die „vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängige Erschöpfung ihrer [der Menschen] Kräfte“ (VI 42) verwiesen und die ebenso notwendige wie aufreibende „Maulwurfsarbeit“ sowie das immer neu Gefährdete dieser geschichtlichen Vermittlung praktischer Vernunftprinzipien – den drohenden Widerstand und „Widersinn“ – betont. Noch darin ist in unbeirrbarer Nüchternheit, jedem unkritischen Fortschrittsoptimismus zuwider, ausgesprochen, dass ein solcher „Fortschritt zum Besseren“ doch allein als ein „allmählicher“, in mühevoller „tätiger Hoffnung“ – und um den Preis zu erleidender Rückschläge und Bedrohungen: „bisweilen unterbrochen, aber nie abgebrochen“ (VI 167) – errungen gefasst werden muss.68 So sei, wie Kant im Blick auf die französische Revolution (näherhin auf die „einzig rechtliche Konstitution“) anmerkt, nicht zu übersehen, dass dies, bei allen immer wieder auftretenden Rückschritten auf diesem Weg des „Fortschritts zum Besseren“, „doch nie in Vergessenheit [!] kommen kann, um es auf andre Art anzufangen, bis es gelingt, und alsdann fernerhin nicht aufhören kann. Man kann nicht voraussagen, dass es gelingen werde, sondern nur, dass sie es versuchen und so oft versuchen
67 Besonders aus ihnen wird auch deutlich, dass es Kant vornehmlich (eben im Sinne eines unverzichtbaren „Leitfadens“) um die „Aufgabe“ ging, „zu sagen: worauf es ankomme, um … auszumachen, ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschritt zum Bessern sei oder nicht …; … wobei man, dass ein solcher Fortschritt sei, … unausgemacht lassen darf“ (Refl. 1471a, AA XV, 651). Indes, Kants Rekurs auf ermutigende „Geschichtszeichen“ wollte sich damit doch nicht begnügen. Freilich, ohne die Voraussetzung des möglichen Erfolges des moralisch-politischen Engagements wäre der „Defätismus der Vernunft“ unvermeidlich – „ohne Hoffnung ist kein Gutes“ (Adorno 1966, 272). 68 Insofern ist es eine kantische Perspektive, wenn Habermas gegen Horkheimer/Adorno geltend macht: „In den wie immer auch geschundenen Ideen einer verfassungsrechtlich verkörperten republikanischen Tradition verrät sich jenes Stück existierender Vernunft, das die ‚Dialektik der Aufklärung‘ nicht zu Wort kommen ließ, weil es sich dem nivellierenden Blick der negativen Geschichtsphilosophie entzog“ (Habermas 1991d, 118). Gleichwohl kann dieses nicht zu leugnende „Stück existierender Vernunft“ das von Kant bezüglich der Geschichte geäußerte „Befremden“ nicht übersehen lassen, vor allem aber dies: Sein Rekurs auf die „Existenz der Vernunft“ verweist über dieses wahrgenommene „Stück existierender Vernunft“ hinaus auf eine geschichts- und religionsphilosophische Sinndimension und legt es nahe, in entsprechender Weise Kants Hinweis zu modifizieren, wonach diese Vernunft „kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein Veto, ohne Zurückhalten muss äußern können“ (II 631). Mag auch die „Existenz der Vernunft“ daran gebunden sein, so legt es die kantische Explikation des Vernunftbedürfnisses doch nahe: Die „Selbsterhaltung der Vernunft“ ist nur durch die darüber hinausgehende Besinnung gewährleistet, dass dies nicht bloß auf die Zustimmung und die Interessen der Gegenwärtigen und Zukünftigen beschränkt werden kann (wenn jene Selbsterhaltung der Vernunft sich nicht stillschweigend zu einer bloß partikulären Selbstbehauptung verkehren soll). Dies führt Adorno in seinen „Meditationen zur Metaphysik“ offenbar zu einer besonderen Lesart der kantischen Postulatenlehre, die ihn über eine Verknüpfung des benjaminschen „Rettungs“-Motivs mit Kants Idee des „höchsten Gutes“ zu der Feststellung veranlasst, das Geheimnis der kantischen Philosophie sei „die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung“ (Adorno 1966, 378); s. dazu u. III., 4.1.
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werden, bis dass es doch einmal gelingen muss“.69 Allein diese im Zeichen des „Primats des praktischen Vernunftgebrauchs“ stehende, gegen alle Entmutigung der praktischen Vernunft gerichtete „Hoffnung besserer Zeiten, ohne welche eine ernstliche Begierde, etwas dem allgemeinen Wohl Ersprießliches zu tun, nie das menschliche Herz erwärmt hätte“ (VI 168), vermag vor einem moral-unsensiblen und verantwortungslosen Optimismus und seiner Zerstörung angesichts irritierender Erfahrungen zu bewahren und verwirft so, eben als ein praktisch-regulatives Prinzip, jenes „schädliche Vorurteil: dass alles ehedem eben so gewesen und künftig bleiben werde. Die Natur bleibt, aber wir wissen noch nicht, was Natur ist, und müssen von ihr das Beste vermuten.“70 Unüberhörbar zögerlich-vorsichtig ist deshalb bei Kant lediglich von dem „nicht mehr gänzlich [!] rückgängig werdende(n) Fortschreiten“ des Menschengeschlechts „zum Besseren“ (VI 361) die Rede, denn auch jener heuristische Leitfaden einer „Naturabsicht“ kann – und darf! – ja daran nichts ändern: „Es ist eine Sache der Freiheit, von der man nichts mit Sicherheit vorhersagen kann“71 – zumal auch dies unter dem sehr unsicheren Vorbehalt bleibt: „wenn sie [selbst ein „Volk von Teufeln“] nur Verstand [!] haben“ (VI 224; vgl. auch VI 683), und ohne dass „dabei die moralische Grundlage im Menschengeschlechte im mindesten vergrößert werden darf“ (VI 365). Denkwürdigerweise sei es lediglich „etwas weniges“, worauf Kant nüchternerweise seine positive Beantwortung der Frage stützen wollte, „ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke“ (VI 45) – obgleich dies, eben unverzichtbar, die am „Ideal der Menschheit“ Maß nehmende und zukunftsorientierte Überzeugung und Zuversicht durchaus bestärkt, „wir könnten durch unsere eigene vernünftige Veranstaltung diesen für unsere Nachkommen so erfreulichen Zeitpunkt schneller herbeiführen“ (VI 46), ohne sich jedoch „von Menschen in ihren Fortschritten zum Besseren … zu viel versprechen“ zu wollen (VI 365). Kants unbestechlicher Blick ließ es deshalb auch nicht zu, sich über die „vielen misslingenden Versuche“ auf diesem Weg zu ihrer „ganzen Bestimmung“ (destinatio) hinwegzutäuschen, „binnen welcher Zwischenzeit die Menschheit unter den Übeln seufzt“ (VI 95, Anm.), und musste schon deshalb jede unkritisch-lineare Fortschrittskonzeption verwerfen. Stehen doch den „schwachen Spuren der Annäherung“ zu jenem „allgemeinen weltbürgerlichen Zustand“ bzw. zum „ewigen Frieden“ – ebenso „zu machende“! – gegenläufige „Erfahrungen des Menschengeschlechts“ gegenüber, welche den späten Kant in seinen anthropologischen Überlegungen über den „Charakter der Gattung“ auch wieder zunehmend „für unsere Gattung“ daran zweifeln ließen, „in das Gleis der kontinuierlichen Annäherung zu ihrer Bestimmung zu kommen“, wenn doch schon „die Erfahrung alter und neuer Zeiten … jeden Denkenden hierüber verlegen und zweifelhaft 69 Refl. 8077, AA XIX, 609. 70 Refl. 1524, AA XV, 896. 71 Refl. 8077, AA XIX, 603 ff. In diesem Sinne betont Flach: „Es ist völlig unkantisch, den weltbürgerlichen Zustand als einen vorherzusagenden zu betrachten. Er ist allein der definierte Vernünftigkeitszustand. Diesen Zustand muss man einem durch Vernünftigkeit bestimmten Wesen auch zurechnen können. Nichts liegt Kant ferner als die Geschichtsbetrachtung in der Wahrsagerattitüde“ (Flach 2005, 172).
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machen [muss], ob es mit unserer Gattung jemals [!] besser stehen werde“ (VI 680). Verdankt sich doch die „Evolution einer naturrechtlichen Verfassung“ dem fortwährenden Widerstand gegen die ständige Gefahr eines Rückfalls, dem zufolge „alles ins vorige Gleis zurückgebracht würde“ (VI 360 f ).72 Den Gedanken freilich, „dass … ein solcher Schlag von verderbten Wesen überhaupt hat auf Erden sein sollen“, was „durch keine Theodizee [als] gerechtfertigt“ scheinen könne, „wenn wir annehmen, dass es mit dem Menschengeschlechte nie besser bestellt sein werde noch könne“, nannte Kant eine „verzweifelte Folgerung“, zu der „wir unvermeidlich hingetrieben“ werden, „wenn wir nicht annehmen, die reinen Rechtsprinzipien haben objektive Realität, d. i. sie lassen sich ausführen“ (VI 243). Diese daran geknüpfte Gedankenfigur bestätigt übrigens den genaueren geschichtsphilosophischen Stellenwert jenes „Naturplans“ bzw. der „Vorsehung“, die jedenfalls nicht als ein Rückfall in eine vorkritische Geschichtsteleologie angesehen werden kann.73 Auch schätzte Kant die Rede von „der Natur“ als weniger missverständlich (weil einem heuristischen Prinzip näher) ein und deshalb als „schicklicher für die Schranken der menschlichen Vernunft“ (VI 219).74 Der besondere Status jener in Kants Geschichtsphilosophie maßgebenden praktischen Vernunftideen bringt es so mit sich, dass ihr Sinnpotenzial, d. h. ihr kritisches Maß sowie ihre diagnostische Kraft, sich stets „widerständig“, in konkret-geschichtlicher Vermittlung gegenüber der konkreten Unrechts- und Leidensgeschichte – eben „ex negativo“ – zur Geltung bringen. Erst die grenzbegrifflich-regulative Funktion dieser Vernunftideen erlaubt, gleichsam als Bedingung der Möglichkeit „bestimmter Negation“, die für diesen Kontext praktischer Vernunft notwendige, universalistisch maßgebende „Erweiterung 72 Darauf verweist im Grunde auch Kants berühmter Hinweis auf den „Antagonismus“ der „ungeselligen Geselligkeit“; s. dazu auch noch einmal den o. zitierten Passus VI 683. Kants Fortschritts-Perspektive verbindet sich mit seiner unbestechlichen Nüchternheit: „Wenn das menschliche Geschlecht im Ganzen betrachtet eine noch so lange Zeit vorwärts gehend und im Fortschreiten begriffen gewesen zu sein befunden würde, so kann doch niemand dafür stehen, dass nun nicht gerade jetzt, vermöge der physischen Anlage unserer Gattung, die Epoche seines Rückganges eintrete“ (VI 355). So wird sich zeigen: Dieser geschichtsphilosophisch unumgängliche Rekurs auf „Erfahrung und Geschichte“ nötigt jedoch noch zu einer anderen Perspektive. Demzufolge darf Fortschritt als regulative Idee deren „Als ob“-Charakter nicht verdecken, so als ob nicht auch diese Geschichte als Leidensgeschichte zu buchstabieren bliebe. Während der Satz: „Es gibt einen möglichen Fortschritt in der Geschichte“, als ein als „solcher nicht erweislicher Satz“ gelten muss, „sofern er mit unserem praktischen Vernunftgebrauch unzertrennlich verbunden ist“, steht dagegen die Leitperspektive der Geschichte als „Leidensgeschichte“, sofern sie und der hierfür konstitutive „mikrologische Blick“ „mit unserem praktischen Vernunftgebrauch unzertrennlich verbunden“ sind. 73 Dass andernfalls Kants Rekurs auf eine „Finalität der Natur in der Geschichte der Menschheit“ tatsächlich unweigerlich absurde Konsequenzen hätte, wenn „Kant die Kulturgeschichte unter die Obhut der Natur und der Vorsehung stellen“ wollte, liegt auf der Hand; zumal in einer so begründeten „philosophischen Geschichte“ „den wirksamen moralischen Monstern ein besonderer Platz“ gebühren müsste, weil so doch „die paradoxe Kraft des Negativen, des Bösen und der Übel … den Erhalt und Fortschritt des Systems der menschlichen Gattung erzeugen“ würde. Die Frage Brandts wäre so wohl unvermeidlich: „Kann der Versuch, die mörderische Fortschrittsgeschichte in die Zwecknatur der Natur einzubetten, überzeugen?“ (Brandt 2009, 518 ff ). 74 Zu einschlägigen Missverständnissen s. Geismann 2000, 510 ff. Vgl. Refl. 488, AA XV.1, 211: „Ob nicht alle Menschen in gewisser Weise gestört sind (Narrenspital des Universi) … Wer nicht besoffen ist, kann die Tollheit sehen …“
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des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ (II 550; v. Verf. hervorgeh.), die so geschichtliche Irrwege, Verletzungen und Rückschläge als solche allererst wahrnehmbar macht. Die also durchaus erinnerungs-gebundenen (andernfalls leeren) praktischen Vernunftideen widerstehen somit selbst einer geschichtslos-abstrakten Fixierung bzw. ihrer bloß ideengeschichtlichen Ausdünnung und erfüllen ihre geschichtsphilosophisch unentbehrliche Aufgabe, gemäß jener „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“, vornehmlich dadurch, dass sie solcherart im Grunde „Erfahrung selbst allererst möglich machen“ (II 325). Hierfür bleiben freilich die „Idee des Menschen“ („die Idee der Menschheit“: vgl. VI 35; IV 675) sowie die politisch-rechtliche Vernunftidee der „res publica noumenon“ (VI 364) und die Idee des „Rechts“ als Maßstab vorausgesetzt, weil doch auch hier gilt, dass „niemand eine Verneinung bestimmt denken“ kann, „ohne dass er die entgegengesetzte Bejahung zum Grunde liegen habe“ (II 517). Wenn also die geschichtliche „Realisierung“ dieser praktischen Vernunftideen demzufolge der Wirklichkeit erst „unter Hindernissen“ (VI 690) und in stets neuen „widerständigen“ Anläufen abgerungen werden muss – Geschichte gewissermaßen als „Material der Pflicht und Bildung“ für die „menschliche Gattung“ –, so darf die darin leitende praktische Zuversicht freilich keinesfalls mit einer theoretischen Gewissheit verwechselt werden – erst recht nicht jene schon erwähnte Erwartung, dass „die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden“ (VI 251). Vielmehr weiß sich derlei „begründete Hoffnung“ (im Sinne eines diesbezüglich unumgänglichen „Urteilen-Müssens“, vgl. III 274) selbst in solcher praktischen Vernunftperspektive in die Pflicht genommen und wird so eine „moralische …, wenn ihre Bewirkung nur nicht demonstrativ-unmöglich ist, Pflicht“ (VI 168).75 Vielleicht wäre im Blick auf Kants Idee einer „Geschichte der reinen Vernunft“ auch zu sagen, dass jene praktischen Vernunftprinzipien – des Rechts, Menschenrechts, der „res publica noumenon“, des Weltbürgerrechts und des „ewigen Friedens“ – sich selbst in mühsamer Erarbeitung (und d. h. „Erleidung“) „realisieren“, d. i. im Sinne jenes „Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ erst in der Re-Aktion auf bzw. im Widerstand gegen bedrohende Widerfahrnisse sich entfalten und in diesem Sinne gewissermaßen selbst „ursprünglich erworben“ (also erst „bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt“: II 108) werden – und zwar als jene vorrangigen „ursprünglichen Anlagen der Menschengattung“, welche die unumgängliche Voraussetzung dafür sind, dass diese auch entfaltet werden (VI 47). Kants aufschlussreicher Hinweis auf die „sich auswickelnden Anlagen“ bzw. auf die „sich bloß auswickelnde Vernunft“ (II 697) verlangt bzw. gewinnt hier durchaus auch eine geschichtsphilosophische Relevanz und lässt sich in einer derartigen Perspektive wohl unschwer auf seine Kennzeichnung des „einzige(n), ursprüngliche(n), jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehenden Recht(s)“ (IV 345) – d. h. auf die „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ – bezie75 Zur Frage des „Fortschritts in der Geschichte“ merkt Kleingeld mit Recht an, dass es nach Kant „Gründe gibt, anzunehmen, dass es Fortschritt in der Geschichte gibt“; dies sei freilich gerade nicht damit gleichzusetzen, dass „Kant behauptet, dass es Fortschritt in der Geschichte gibt“ (Kleingeld 1995, 215). Zu „Kants Rechtfertigung einer teleologischen Geschichtsauffassung“ vgl. ebd. 11 ff.
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hen, zumal gerade auch die geschichtlich-genealogische Situierung bzw. Ausbildung der Menschenrechte in diesem konkreten Sinne begreiflich zu machen ist. Dieses zweifellos dunkle kantische Lehrstück von der „ursprünglichen Erwerbung“ der „apriorischen“ Verstandeskategorien und Vernunftideen und dem daran geknüpften Nachweis ihres „Rechtsgrundes“ (III 337 f ) wäre demzufolge in freilich entsprechend modifizierter Weise aufzunehmen: Legen es doch gerade diese geschichtsphilosophischen Bezüge nahe, im Sinne der „ursprünglichen Erwerbung der apriorischen Prinzipien“ auch auf dem Gebiet der praktischen Vernunftprinzipien „die Brücke zwischen Transzendentalität und Geschichte zu schlagen“ und die Menschenrechte als eben in diesem Vermittlungsprozess „bei Gelegenheit der Erfahrung“ ursprünglich erworbene – d. h. hier freilich: durch geschichtliche „Widerfahrnisse“ veranlasst – zu legitimieren: „In ihrer Genese stellen sich die Menschenrechte als geschichtliche Antworten auf exemplarische Unrechtserfahrungen dar. In diesen zeigt sich die Bedrohung menschlicher Freiheit auf je unterschiedliche Weise und wird so zum Ausgangspunkt für die Garantie menschenrechtlicher Verbürgungen. Menschenrechte besitzen somit Antwortcharakter. Dieser Antwortcharakter der Menschenrechte in ihrer jeweiligen geschichtlich-institutionellen Gestalt wurde von Kant selbst … nicht in den Blick gebracht, zumindest nicht explizit“.76 Demnach könnte gerade eine diesbezügliche Aktualisierung jenes Lehrstückes von der „ursprünglichen Erwerbung“ bei „Gelegenheit der Erfahrung“ – d. h. hier wohl: angesichts geschichtlicher Widerfahrnisse – ihre Entstehung aus den verschiedenen Gestalten des politischen Widerstandes gegen diese mannigfachen „Unrechtserfahrungen“ vergegenwärtigen. Kants Hinweis auf eine eröffnete „tröstende Aussicht in die Zukunft …, in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu dem Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime … völlig entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllet werden“ (VI 49), lässt erkennen, dass dieses „Emporarbeiten“ und seine „bildende Kraft“ allein im mühsamen und opferreichen Widerstand gegen die unvernünftigen Gegebenheiten und Unrechtserfahrungen sich „realisiert“, d. h. sich erst „durchsetzen“ muss. Es entspricht jedenfalls jener geschichtlichen „Auswickelung der Vernunftanlage“, dass der darin verwirklichte „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ gemäß jenen praktischen Vernunftideen nur im Widerfahrnis bzw. im stets neu geforderten Widerstand 76 Luf 1999, 39. Gleichwohl bezieht sich dieser „Antwort“-Charakter der Menschenrechte auf die „schrittweise Realisierung“ derselben. Adornos Satz: „Ungerechtigkeit ist das Medium wirklicher Gerechtigkeit“ (Adorno 1951, 95), entspricht dieser kantischen Perspektive. – Eine solche kritische Rezeption des kantischen Lehrstücks von der „ursprünglichen Erwerbung“ könnte so möglicherweise – in Vermeidung eines „genealogischen Fehlschlusses“ – auch den Nachweis erbringen, dass noch Kants Bestimmung des „einzige(n), ursprüngliche(n), jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehenden Recht(s)“ (VI 345) sich in seinem Antwort-Charakter auf konkrete geschichtliche Herausforderungen verstehen – und als solches auch geschichtlich fortschreiben – lässt. Insofern ist es eine kantische Perspektive, wenn Habermas betont: „Menschenrechte sind immer erst aus dem Widerstand gegen Willkür, Unterdrückung und Erniedrigung hervorgegangen. Heute kann niemand einen dieser ehrwürdigen Artikel in den Mund nehmen – beispielswiese den Satz „Niemand darf der Folter oder grausamer Strafe unterworfen werden“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 5) –, ohne das Echo zu hören, das darin nachhallt: der Aufschrei unzähliger gepeinigter und hingemordeter menschlicher Kreaturen. Die Berufung auf Menschenrechte zehrt von der Empörung der Beleidigten über die Verletzung ihrer menschlichen Würde.“ (Habermas 2011, 15 f ).
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gegen faktische Unrechtserfahrungen zu realisieren ist; solcher „Fortschritt“ ist demzufolge stets aus dem bzw. als „Fortschritt im Bewusstsein der Unfreiheit“ und deren realen Bedingungen vermittelt und gewinnt so erst konkrete Gestalt, zumal „Übel und Gewalttätigkeit, an einem Orte unseres Globs, an allen gefühlt wird“, wie Kant im Abschnitt über das „Weltbürgerrecht“ anmerkt (IV 476), und dies erst die Idee der einen und umfassenden „Menschheit“ bewusst werden lässt. Es ist nach Kant dieser „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, der auch für mannigfaltige, faktisch bestehende und fortdauernde Formen der Unfreiheit und Erfahrungen des so hartnäckigen Nicht-sein-Sollens sensibilisiert77 und so den Blick für das „Zweckwidrige“, hier in den mannigfachen Gestalten des Unrechts, der Verletzung der „Menschenwürde“, „was Erfahrung an dieser Welt zu erkennen gibt“ (VI 114), schärft, die, um eine kantische Wendung hier zu variieren, als solches unzähligen Stoff „zu ganz anderen Begriffen darböte“, der „praktischen Vernunft“ noch eine ganz andere „Schule“ zumutet und das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ (V 609) noch auf andere Weise zu unabweislichen Fragen nötigt. Dergestalt verbindet sich in Kants Geschichtskonzeption in der Tat der „Widerstand gegen die immerwährende Gefahr des Rückfalls“78 in concreto mit der allein praktischpolitische Orientierung gewährleistenden „Antizipation des Besseren“, ohne auf solche Weise indes das Missverständnis dieser praktischen Vernunftidee als einer „abschlußhaften Kategorie“ zu begünstigen. So wusste Kant durchaus darum, dass jene Idee des „einzige(n), ursprüngliche(n), jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehenden Recht(s)“ (II 345) stets vermittelt ist über konkrete Widerfahrnisse von Unrechtserfahrungen, auch wenn sich Gehalt und Geltungsanspruch dieser Idee in keiner dieser so resultierenden bzw. „realisierten“ Vermittlungsgestalten erschöpfen. Die „Vernunftidee“ des Rechts fungiert als die alles politisch-rechtliche Handeln leitende Orientierungs-Instanz, die gleichwohl ihren Richtmaß-Status bewahrt, zumal alle Realisierung gemäß dieser Idee im politischen Handeln selbst „in concreto“ sich eben lediglich negativ, also in der Beseitigung bzw. Minimierung von je faktisch-konkreten Unrechtsverhältnissen, vermittelt, d. h. sich in einem mühsamen, der „Logik der kleinen Schritte“ folgenden Procedere „realisiert“ – noch mehr mit der faktischen Macht und List der Unvernunft rechnend als auf die „List der Vernunft“ hoffend. Allein so gewinnt „praktische Vernunft“ auf dem Feld der Geschichte „objektive Realität“ (d. i. „Ausführbarkeit“: VI 211; 243) und 77 Hier sei an den Einwand Adornos (1984, 96) erinnert, der in direkter Bezugnahme auf Benjamins geschichtsphilosophische Thesen zu bedenken gab: „(K)ein Fortschritt ist derart zu unterstellen, als wäre die Menschheit überhaupt schon und könne deshalb fortschreiten. Vielmehr wäre er erst ihre Herstellung, deren Perspektive angesichts der Auslöschung sich öffnet. Dass, wie Benjamin weiter lehrt, der Begriff der Universalgeschichte nicht zu retten sei, folgt daraus; er leuchtet nur so lange ein, wie der Illusion einer bereits existenten, in sich selbst stimmigen und einheitlich sich aufwärts bewegenden Menschheit sich vertrauen ließ.“ Dies bleibt wohl auch bezüglich der Feststellung Ricoeurs bedenkenswert: „Die Geschichte ist die Geschichte der Menschheit und in diesem Sinne Weltgeschichte, Weltgeschichte der Völker. Während Geschichte zum Kollektivsingular wird, wird zugleich die Menschheit zum totalen Objekt und zum einzigen Subjekt der Geschichte. […] Mit dieser letzten Entwicklung schließt sich an die Ausweitung des narrativen Territoriums der Geschichte eine moralisierende Reflexion von universeller Tragweite über die eigentliche Bedeutung der Geschichte an“ (Ricoeur 2004, 465). 78 Adorno 1984, 118.
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erweist damit, als die in der Geschichte sich realiter entfaltende Idee, im unermüdlichen Kampf bzw. im Widerstand gegenüber bestehender Unvernunft „ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat“.79 Auch Kants beiläufige anthropologische Bemerkung über den Schmerz als den „Stachel der Tätigkeit …, um immer zum Bessern fortzuschreiten“ (VI 556), gewinnt in einem solchen geschichtsphilosophischen Rahmen einen besonders präzisen Sinn und verrät seine unbeirrbare Sensibilität für die begangenen und stets drohenden „Verbrechen wider die menschliche Natur“ (VI 58). Obgleich Kant natürlich nicht „die ideologischen Gefahren eines unbesonnenen Fortschrittsoptimismus erahnen“80 konnte, wird sich eine an seiner geschichtsphilosophischen Konzeption orientierte Position in einer grundsätzlichen Hinsicht, d. h. über den historischen Kontext des kantischen Geschichtsdenkens hinaus, seinen kritischen Bedenken gegen eine auf „Kontinuität“ und „Monumentalität“ fixierte Fortschritts-Konzeption jedoch nicht einfach verschließen. Vor solchem Hintergrund wird sie insbesondere auch der Skepsis Benjamins durchaus verständnisvoll und mit Sympathie begegnen: „Der Fortschrittsbegriff musste von dem Augenblick an der kritischen Theorie der Geschichte zuwiderlaufen, da er nicht mehr als Maßstab an bestimmte historische Veränderungen herangebracht wurde, sondern die Spannung zwischen einem legendären Anfang und einem legendären Ende der Geschichte ermessen sollte. Mit andern Worten: sobald der Fortschritt zur Signatur des Geschichtsverlaufes im ganzen wird, tritt der Begriff von ihm im Zusammenhange einer unkritischen Hypostasierung statt in dem einer kritischen Fragestellung auf. Dieser letztere Zusammenhang ist in der konkreten Geschichtsbetrachtung daran kenntlich, dass er den Rückschritt zumindest ebenso scharf umrissen als irgendeinen Fortschritt ins Blickfeld rückt“.81 79 Zu Recht betont Brandt (1999, 401): „Wichtig ist, dass Kant nach 1795 die Fortschrittsannahme nicht mehr an der Naturteleologie festmacht, sondern einer moralischen Ursache, die tendenziell zu besseren Rechtsverhältnissen führt.“ Darin wird die Kant leitende Frage sichtbar, „ob überall etwas Systematisches in der Geschichte der menschlichen Handlungen sei. Eine Idee leitet sie alle, d. i. die ihres Rechts“ (Refl. 1420, AA XV. 2, 618). Hier sei noch einmal an die beim späten Kant diesbezüglich unüberhörbaren skeptischen Töne erinnert. 80 Honneth 2004, 86. Obwohl vermutlich auch hier Kants Hinweise auf die Möglichkeit einer „gleichsam planlos fortgehenden Kultur“ (VI 95, Anm.) sowie auf die Gefahr der „Bösartigkeit“ und „teuflischen Laster“ (VI 674) in diesem Sinne verstanden werden dürfen – eben gemäß der kantischen Forderung, dass die Kultur an die Maßstäbe und „Prinzipien“ der rechtlich-politischen Vernunft zurückverwiesen bleibt, wenn sie als „letzter Zweck der Natur“ gelten können soll. 81 Benjamin V. 1, 598 f. – Benjamins (und Adornos) Diagnose trifft vermutlich eher Schillers universalgeschichtliche Orientierung als Kant: „Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muss die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden“ (so in These XIII seiner „geschichtsphilosophischen Thesen“: I. 2, 701). Benjamins Protest richtet sich gegen die Fixiertheit der „Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte“ auf die Vorstellung „ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs“ (Über den Begriff der Geschichte XIII) und die darauf beruhende Vorstellung des „Kontinuum(s) der Geschichte“ (ebd. Nr. XV; XVI). „Die Vorstellung, dass die Geschichte des Menschengeschlechts sich aus der der Völker zusammensetze, ist heute, da das Wesen der Völker durch ihre derzeitige Struktur ebenso verdunkelt wird wie durch ihr derzeitiges Verhältnis zueinander, eine Ausflucht der bloßen Denkfaulheit“ (I. 3, 1240). Bezüglich des „Fortschritts“ vgl. auch Benjamins Bezug auf den Neukantianer H. Lotze (Benjamin 1983 I, 602 f ). Freilich, schon Kants Schrift „Idee zu
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Dieser Forderung Benjamins ist wohl schon insofern Rechnung getragen, als das leitende Interesse der späten Nachkommen nach Kant ebenso jenen gebotenen „Gesichtspunkt“ miteinschließt, „was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht [nicht nur] geleistet [sondern auch]… geschadet haben“ (VI 50). Indes finden sich für jene geschichtsphilosophischen Anliegen Benjamins in Kants Geschichtsdenken auch andere Anknüpfungspunkte. Denn der letztgenannten Benjamin’schen Forderung genügt Kants geschichtsphilosophische Konzeption wohl schon deshalb, weil darin ja nicht bloß jene von Benjamin beanstandeten „unkritischen Hypostasierungen“ durchaus vermieden werden; ebenso liegt es nahe, dass Kants nüchtern-skeptischer, unverkennbar erinnerungsgeprägter Befund in einer grundsätzlichen Hinsicht einschlägigen Bedenken Benjamins recht genau entspricht: „Der Gang der Menschengattung zur Erreichung ihrer ganzen Bestimmung scheint … unaufhörlich unterbrochen, und in kontinuierlicher Gefahr zu sein, in die alte Rohigkeit zurückzufallen“ (VI 95, Anm.). Insofern muss eine gängige These zu Kants Geschichtsdenken doch wenigstens als eine problematische Vereinfachung erscheinen: „Kants ganze Anstrengung als Geschichtsphilosoph zielte darauf ab, den verborgenen Naturplan, der die Menschheit auf die Bahnen eines unbegrenzten Fortschritts zu drängen schien, in einen bewußten Plan der vernunftbegabten Menschen zu überführen.“82 Dass es nach Kant ausdrücklich eine „Sache der Freiheit“ sei, „von der man nichts mit Sicherheit vorhersagen kann“, und gleichermaßen eine „defätistische“ Einstellung vermieden werden soll, bleibt hier doch zu wenig berücksichtigt. Jene Sichtweise verdeckt wohl eher die leitende Absicht des kantischen Rekurses auf eine „Naturabsicht“, die den politisch-rechtlichen Bestrebungen der fortschritts-orientierten Vernunft gleichsam „entgegen kommt“; darin ließ Kant sich wohl vornehmlich von der Frage leiten, „wie eine Welt für ‚vernünftige Weltbürger‘ beschaffen sein muss“, weil dies andernfalls in der Tat unvermeidlich auf jenen Defätismus hinausliefe, der alle „praktisch“politischen Bemühungen ad absurdum führen müsste. Denn, so Kant: „Übrigens soll und kann die Menschengattung selbst Schöpferin ihres Glücks sein; nur dass sie es sein wird, einer allgemeinen Geschichte …“ enthält die von Benjamin erwähnten „kritischen Funktionen“ des Fortschrittsbegriffs, die es ermöglichen, „die Aufmerksamkeit der Menschen auf rückläufige Bewegungen in der Geschichte zu lenken“ (Benjamin 1983 I, 596); das in kritischer Absicht aufgenommene Motiv der „Naturgeschichte“ weist darüber noch hinaus (s. u. II., 4.) und ist so zugleich auch ein komplementäres Korrektiv gegenüber der durch den Rückgriff auf vorhandene „Nachrichten“ begründeten „Geschichte der Freiheit in ihrem Fortgange“ (VI 85). 82 Koselleck 1979, 267. Kosellecks These: „Mit seiner Frage nach der Geschichte apriori hat Kant das Modell ihrer Machbarkeit gesetzt“ scheint freilich zu weit zu gehen. In der Tat verhält es sich so, „dass Kant nicht rundweg [!] davon spricht, daß Geschichte machbar sei, er spricht nur von den Begebenheiten, die ein Wahrsager selber hervorrufe“ (ebd. 267), deren Sinn und Folgen sich einer geschichtstechnischen Verfügung freilich geradewegs entziehen. Jedenfalls bleibt solche politische „Praxis“ an die normative Vernunftidee des Rechts gebunden, in Orientierung an der Idee des Völkerbundes bzw. der Weltrepublik; diese Rückbindung an praktische Vernunftprinzipien verhindert es, die Frage „Was soll ich tun?“ durch die Frage „Was tun?“ und entsprechende „Kalküle“ (und deren „Imperative“) zu ersetzen. – Eine Kritik an der dominanten einäugigen geschichtsphilosophischen Lesart kommt unter dem Aspekt der „gegenläufigen“ Perspektive zur Geltung und gibt in diesem geschichtsphilosophischen Kontext Anlass dazu, Kants Notiz auch kritisch zu betrachten: „Wir können aber nur das verstehen und anderen mitteilen, was wir selbst machen können“ (Brief Kants an J. S. Beck, 1. 7. 1794: AA XI, 515).
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läßt sich nicht apriori, aus den uns von ihr bekannten Naturanlagen, sondern nur aus der Erfahrung und Geschichte, mit so weit gegründeter Erwartung schließen, als nötig ist, an diesem ihrem Fortschreiten zum Besseren nicht zu verzweifeln [!], sondern, mit aller Klugheit und moralischer Vorleuchtung, die Annäherung zu diesem Ziele (ein jeder, so viel an ihm ist) zu befördern“ (so Kant in seiner späten „Anthropologie“, in einem Abschnitt über den „Charakter der Gattung“: VI 683).83 Es trifft gewiss zu, dass Kants geschichtsphilosophische Anstrengungen darauf gerichtet waren, „alle Einwände der Erfahrung, die dagegen sprechen, so zu ordnen, dass sie die Erwartung des Fortschritts bestätigen. Er sträubte sich … gegen die These, dass es bleiben werde wie es von jeher gewesen ist, und dass man daher nichts geschichtlich Neues voraussagen könne.“84 Gleichwohl soll im Folgenden vor allem der Nachweis dafür erbracht werden, dass das kantische geschichtsphilosophische Potenzial unter der kritischen „Oberaufsicht der Philosophie“ darauf jedoch nicht reduziert werden darf bzw. sich darin nicht erschöpft. Gerade weil in der Kant-Forschung „in den letzten Jahrzehnten die Zukunftsträchtigkeit und geradezu paradigmatische Profilierung seiner politisch-geschichtlichen Schriften gewürdigt worden“ ist,85 dürfen jene latenten Motive und Anknüpfungspunkte in Kants Denken nicht ausgeblendet bleiben, die ebenso gegenläufige geschichtsphilosophische Gesichtspunkte eröffnen, ohne die auch jene für den „Weltbegriff der Philosophie“ maßgebende Orientierung an dem, „was jedermann notwendig interessiert“, jedenfalls unvollständig, besser: „einäugig“, bliebe.86 In solcher Hinsicht muss sich, einem kritischen „erkenntnisleitenden Interesse“ zufolge, vor allem auch ein ausschließlich prospektiv orientiertes philosophisches Interesse an der Geschichte verbieten. Von diesen latenten Motiven der kantischen Geschichtsphilosophie, die noch andere Anknüpfungen an Benjamin’sche Motive besonders nahelegen, soll später noch genauer die Rede sein (s. u. II., 4.).
83 In der Tat: „Kants kosmopolitische Rechtsmetaphysik wird im reflektierenden Urteil einer kosmopolitischen Geschichtsphilosophie politisch operationalisierbar“ (Cheneval 2002, 540). 84 Koselleck 1979, 364. In der Tat wollte Kant seinen Rekurs auf die „Denkungsart der Zuschauer“, die in der „Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen“ (VI 357 f ), sichtbar werde, sodann zum Anlass dafür nehmen, die darin eröffneten Aussichten auf ein „Fortrücken zum Besseren“ damit zu verbinden, dass „dann auch auf die Geschichte der vergangenen Zeit (dass es immer im Fortschritt gewesen sei)“ rückzuschließen erlaubt sei. 85 Angehrn 2004, 337. 86 Dies gilt auch mit Blick auf die Feststellung Ricoeurs: „Der Gedanke, dass die Geschichte dem menschlichen Machen unterworfen ist, ist der neueste und … auch der fragilste der drei Gedanken, die mit dem Auftauchen eines neuen Erwartungshorizonts einhergehen. Aus dem Imperativ der Verfügbarkeit der Geschichte wird ein Optativ, schließlich ein futurischer Indikativ. Diese Sinnverschiebung wurde begüns tigt durch die Insistenz, mit der Kant und die mit ihm verwandten Denker versuchten, die ‚Zeichen‘ zu lesen, die schon jetzt die Notwendigkeit der Aufgabe verbürgen und so die Bemühungen der Gegenwart unterstützen. Diese Art, ein Sollen dadurch zu rechtfertigen, dass man Anfänge seiner Verwirklichung nachweist, ist im höchsten Maße charakteristisch für die Rhetorik des Fortschritts, die in dem Ausdruck ‚die Geschichte machen‘ kulminiert. Die Menschheit wird zum Subjekt ihrer selbst, indem sie sich zur Sprache bringt. Erzählung und Erzähltes können von neuem koinzidieren, und die beiden Ausdrücke ‚die Geschichte machen‘ und ‚die Geschichte schreiben‘ kommen zur Deckung. Das Machen und das Erzählen werden zur Vorder- und Rückseite ein und desselben Vorgangs“ (Ricoeur 1991, 342).
2. Im Ausgang von Kant: Geschichtsphilosophie vor dem „Gerichtshof der Vernunft“ – das diesbezüglich geforderte „zweite Auge“ der „wahren Philosophie“
2.1. Die daraus resultierende besondere „Nötigung, Geschichte philosophisch zu denken“. Erste Hinweise auf notwendige Blickwendungen und auf entsprechende „Leitfäden“ Schon aus dem voranstehenden Abschnitt sollte, obgleich in einer gewiss noch vorläufigen Weise, sichtbar werden: So bedeutsam jene in den Dienst eines „praktischen Projekts“ gestellte Geschichtsperspektive zweifellos ist,87 so wenig vermag sie jedoch das latente Sinnpotenzial der kantischen Geschichtsphilosophie auszuschöpfen.88 Zweifellos blieb Kant stets dafür sensibel, dass eine an der „Idee des Rechts“ kosmopolitisch orientierte „Geschichte der Gattung“ – ohne Preisgabe der „Menschheitsidee“ – den Blick auf die „Geschichte der Menschen“89 nicht einfachhin absorbieren kann. Ebenso wenig ist zu übersehen, dass seine „Idee einer Weltgeschichte“ ausdrücklich auf den „regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem [!] Weltteile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird)“ (VI 48)90 abzielt – eine universalistische Perspektive, die weitere Differenzierungen unumgänglich macht und jedenfalls nicht so ohne Weiteres, d. h. ohne Rückfall in eine besondere Spielart eines „moralischen Egoismus“, mit jener auf die „Geschichte des menschlichen Geschlechts“ 87 Gerade auch der Sachverhalt, „dass Kants Geschichtsphilosophie … die praktisch-normativen Grundlagen der Geschichtswissenschaft, die Frage eines kritischen, um seine Grenze wissenden Verhältnisses des Menschen zur Geschichte“ betrifft (Riedel 1974, 20), indiziert die unumgängliche Erweiterung im Sinne des „gegenläufigen“ Standpunktes, wofür die differenzierte „Kritik der historischen Urteilskraft“ ein besonderes Erfordernis darstellt. 88 Auch in einer solchen Akzentuierung wäre wohl der Befund Wilds aufzunehmen und weiterzuführen: „Das historische Bewusstsein Kants ist nicht so ausgeprägt, dass für ihn die Geschichte ein ebenso selbstverständlicher Gegenstand des Wissens wäre wie die Natur. Er unterzieht deshalb das Geschichtswissen nicht einer ähnlichen Reflexion auf seine apriorischen Bedingungen der Möglichkeit, wie er es in Bezug auf die Naturerfahrung tut“ (Wild 1970, 260). 89 „Die Geschichte der Gattung, nicht der Menschen. Jene setzt eine Idee voraus“ (vgl. Refl. 1467, AA XV.2, 645 f ). 90 Auf die nicht zu übersehenden „eurozentristischen“ Züge im Denken Kants (und die damit verbundenen Probleme) macht auch Brandt (1999, 56) aufmerksam; besonders deutlich in der Reflexion 1501 (AA XV.2, 788 f ): „Die orientalischen Nationen würden sich aus sich selbst niemals verbessern. Wir müssen im Occident den kontinuierlichen Fortschritt des menschlichen Geschlechts zur Vollkommenheit und von da die Verbreitung auf der Erde suchen“, denn: „Aus Europa muss es kommen.“ Dass „aus Europa“ freilich auch anderes gekommen ist und von „unserem Weltteile“ – über das „inhospitable Betragen“ weit hinaus – auch ganz andere „erschreckende Ungerechtigkeiten“ ausgegangen sind, worin die „Einwohner … für nichts“ gerechnet wurden (VI 214 f ), ist Kant nicht verborgen geblieben.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
bezogenen Sichtweise gleichgesetzt werden darf. Vor allem dafür müsste der dem kantischen „Weltbegriff der Philosophie“ verpflichtete Appell, „die Rechte der Menschheit herzustellen“,91 in einer geschichtsphilosophischen Lesart wachsam („aufmerksam“: s. u. II., 2.1.1) bleiben und könnte auch nur so vor dem Schicksal bewahren, die „moralische Physiognomik … unserer Gattung“ (VI 688) vollends zu verfälschen. Freilich wird sich zeigen, dass diese zentrale Aufgabe, die „Rechte der Menschheit herzustellen“, auch für eine kritische Geschichtsphilosophie weitreichende Konsequenzen bzw. Forderungen enthält. Wenn die „Geschichte“ auch die konkrete Weise ist, in der Vergangenes gegenwärtig wird bzw. bleibt, dann impliziert dies auch schon einen Hinweis darauf, dass jener Gesichtspunkt, was die „späten Nachkommen“ interessiert, doch nicht der einzig maßgebende sein kann, zumal dies in einer unübersehbaren Spannung stünde zu jener für den „Weltbegriff der Philosophie“ konstitutiven Rücksicht darauf, „was jedermann notwendig interessiert“ (II 701, Anm.).92 Wenn die „Vernunft … sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen“ muss, d. h. sich dieser „niemals verweigern kann“ (II 630 f ), so kann natürlich auch eine kritische Geschichtstheorie bzw. Geschichtsphilosophie davon nicht ausgenommen bleiben, wenn anders Gestalten eines geschichtsphilosophischen „Dogmatismus“ oder „Skeptizismus“ nicht das letzte Wort behalten sollen. Daran sei, in einer ersten geschichtsphilosophischen Blickwendung, die Frage geknüpft, ob sich jene umrisshaft sichtbar gewordene gegenläufige Geschichtsperspektive in entsprechender Weise nicht gleichermaßen an der „Idee der Menschheit“ orientiert – und zwar durchaus gemäß jener leitenden Absicht, die „Rechte der Menschheit herzustellen“. Eine „cyklopische“ Ausblendung dieser gegenläufigen Perspektive liefe zweifellos auf eine stillschweigende Preisgabe der „Idee der Menschheit“ hinaus, wogegen die Ausbildung jener gegenläufigen Geschichtsperspektive als eine „Pflicht des Menschen gegen 91 AA XX 44. – Im Sinne dieser Forderung, „die Rechte der Menschheit wiederherzustellen“, lässt sich auch Angehrns luzide Interpretation eines tragenden Motivs Benjamins gut verstehen: „Das Vergessen ist eine Form des Zunichtewerdens des Endlichen, das Erinnern eine Form seiner Rettung. Dabei erhält dieses Motiv im Fall der Entrechteten und spurlos Untergegangenen eine besondere Prägnanz. Das Gedenken ist eine partielle Revision ihres Schicksals, sofern es nicht einfach bestimmte Fakten, sondern nicht-realisierte Möglichkeiten, uneingelöste Ansprüche festhält und darin die Unabgeschlossenheit des Vergangenen bekräftigt. Erinnerung trägt zur Wiedergutmachung bei, sofern sie des Unerfüllten gedenkt, dem Namenlosen zu seiner Würde verhilft. Das Wachhalten des einstigen Anspruchs ist ein tentatives Offenhalten des Rechtsstreits der Geschichte, ein Einspruch gegen Endgültigkeit. Dennoch bleibt fraglich, wie weit diese rettende Kraft der Erinnerung reicht, wie weit sie vergangenes Unrecht zu widerrufen, Leiden zu erlösen vermag. Es ist in der Tat die Hoffnung auf eine tiefgreifende Suspendierung der Endgültigkeit, der Benjamin Ausdruck verleiht“ (Angehrn 1991, 171 f ). Eben ein solcher eingestandener Zweifel darüber, „wie weit diese rettende Kraft der Erinnerung reicht“, weist über den geschichtsphilosophischen Rahmen in prinzipieller Hinsicht hinaus; dies hat offenbar auch den späten Horkheimer (gegenüber seiner frühen Kritik an benjamins Motiv der „Unabgeschlossenheit der Vergangenheit“) zu seiner Rehabilitierung Benjamin’scher Motive veranlasst, und Letztere untrennbar mit der „Frage der Philosophie“ verknüpft (zu diesem Motiv der „Unabgeschlossenheit“ s. u. II., 4.). 92 Es wird sich deshalb zeigen, dass der vom frühen Kant angeführte „Probierstein“ des „Unterschiedes des Natürlichen vom Unnatürlichen“: „ob es allen Menschen könne gemein sein, oder nur wenigen mit Unterdrückung [!] der übrigen“ (AA XX, 35), auch eine kritische geschichtsphilosophische Akzentuierung erlaubt.
2. Geschichtsphilosophie und der „Gerichtshof der Vernunft“
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sich selbst“ wahrzunehmen bliebe, die – einseitig zukunftsorientierte – identitätsvergewissernde Orientierungen und „Indienstnahmen“ jener „Menschheits“-Idee verbieten und in ihrem ideologischen Charakter entlarven muss. Kants Forderung, „die Vernunft mit sich einstimmig zu machen“ (vgl. V 380), eben auch auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain zur Geltung zu bringen – dies impliziert vor allem das Verbot einer einäugigen Inanspruchnahme der „Menschheitsidee“; im Falle einer einseitigen Wahrnehmung der zukunftsorientierten Perspektive der „späten Nachkommen“ könnte von der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ nicht die Rede sein, bliebe dies doch allzu leicht selbst einer subtileren Spielart jenes „moralischen Egoismus“ verhaftet, „welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt“ (VI 410). Kant sah alle Wissenschaften von cyklopischen Engführungen bedroht, sofern deren Vertreter Gefahr laufen, „Egoist(en) der Wissenschaft“ zu sein, die eben deshalb noch ein „Auge nötig haben“, „welches macht, dass er seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer ansieht“ (s. u. II., 3.) und hierauf erst „sich die Humanität der Wissenschaften“ gründet, „d. i. die Leutseligkeit des Urteils, dadurch man es andrer Urteil mit unterwirft. […] Einem jeden muss ein Auge aus besonderer fabrike beigesellt werden. (Dem Medicus Critik unserer Naturkenntnis, dem Juristen unsrer Rechts und- Moralkenntnis, dem Theologen unsrer Metaphysik. Dem geometra Critik der VernunftErkenntnis überhaupt.)“ (ebd.).93 Dann wird freilich die Frage unabweislich, worin denn die spezifische Eigenart der Geschichtsphilosophie und der ihr aufgegebenen „Gesetzgebung der Vernunft“ zu sehen ist und worin denn die spezifische Gefahr ihrer „Einäugigkeit“ liegt; daran knüpft sich, mit Kant formuliert, die notwendige Erkundung, aus welcher „besonderer fabrike“ denn das auch für sie unerlässliche – der „Humanität der Wissenschaften“ erst genügende – „zweite Auge“ zu sein hat, das jener Forderung des „Weltbegriffs der Philosophie“, alle „Erkenntnis auf die wesentlichen und höchsten Zwecke“ zu beziehen, auch erst genügt und solchen Anspruch nicht stillschweigend untergräbt. Obgleich jenes „praktische Interesse“ in prospektiver Absicht in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ unverkennbar im Vordergrund steht (und in der Tat auch als das einzige von Kant explizit verfolgte geschichtsphilosphische „Projekt“ gelten muss), so wird dessen ungeachtet – im Sinne Kants – noch zu fragen sein, ob denn eine solche ideen-geleitete Geschichtsorientierung auch die einzig maßgebende bleiben darf; als aufklärungsbedürf93 Refl. 903, AA XV.1, 395. Es wird sich freilich erweisen, dass sich dieses von Kant geforderte „zweite Auge der Philosophie“ nicht schon mit der Ausbildung einer „regulativen Forschungsperspektive“ (und einer dadurch kritisch zu legitimierenden Idee der „Zweckmäßigkeit“) begnügt, sondern überdies eine „gegenläufige“ Perspektive fordert, ohne die das Interesse-Nehmen an der Weltgeschichte selbst „einäugig“ bliebe. Es wird sich zeigen, dass dies wesentlich mehr besagt als die geforderte kritische Rücksicht auf die Kehrseite des Fortschritts der zivilisatorischen Entwicklung. – Auf welche Weise Kant mit der beabsichtigten „Kritik der historischen Schriften“ das von jenem „zweiten Auge“ verfolgte Anliegen der „Selbsterkenntnis“ verknüpft, zeigt der in dem angeführten Zitat unternommene Vergleich mit den anderen Wissenschaften. – Zu der unter der Oberaufsicht jenes „zweiten Auges“ vollzogenen Kritik „historischer Schriften“ gehört ferner die Erinnerung daran, dass der ideen-geleiteten historischen Konstruktion die „geschichtliche Wirklichkeit“ in ihrem Eigen-Sinn und ihrer Eigen-Erfahrung schon vorausliegt und nicht einfachhin erst das nachträglich zu formierende „Material“ ist – ein Gesichtspunkt, der in Anbetracht der zu verfolgenden „gegenläufigen“ Perspektiven besonders bedeutsam ist.
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tig wird sich also erweisen, ob die gebotene Orientierung an der „Idee der Menschheit“ auf diesem Terrain nicht noch ein anderes Vernunftinteresse zu begründen vermag – und dazu auch nötigt! –, das indes nicht als „praktisch“ (jedenfalls im strengen Sinne) bezeichnet werden kann, sondern in einem anders orientierten moralischen „Interesse“ verwurzelt ist. Könnte es nicht sein, dass das „Interesse der Vernunft“ schon deshalb notwendig eine differenziertere Gestalt gewinnen muss, weil sie sich auf diesem geschichtsphilosophischen Feld als unumgänglich erweist und sich selbst dem Interesse an einer ungeteilten „Idee der Menschheit“ verdankt, während jene prospektiv-praktisch orientierte „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ für sich genommen eben doch nur ganz bestimmte Aspekte dieser „Idee der Menschheit“ zu thematisieren vermag? Ohne solche kritische Rückbesinnung, so wird sich zeigen, schlägt die beanspruchte bzw. in Aussicht gestellte „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ auf diesem geschichtsphilosophischen Boden in eine „Einäugigkeit“ bzw. besondere „Borniertheit“ (das Gegenteil von „erweitert, aufgeklärt“)94 um. In diesem Sinne verlangt Kants umfassendes Programm einer „Vernunftkritik“ auch eine entsprechende Lesart; als solche ist sie um den Nachweis bemüht, dass sich das geschichtsphilosophische Potenzial des kantischen Kritizismus keineswegs in jenen Gesichtspunkten schon erschöpft, die in den von Kant veröffentlichten Schriften zur Geschichtsphilosophie zweifellos im Vordergrund stehen, ja eigentlich maßgebend sind. Was aber wären die hierfür erforderlichen Kategorien, die vernunftgemäßen Maßstäbe und Leitfäden, wenn diese erst ans Licht zu bringenden geschichtsphilosophischen Gesichtspunkte doch ebenfalls der praktischen Philosophie zugehörig sind? Diese hier freizulegenden geschichtsphilosophischen Motive, die mit der von einer kritischen Geschichtsschreibung aufgestellten Forderung, „die Rechte der Menschheit herzustellen“, engstens verbunden sind, verdanken sich demnach – wohl ganz im Sinne der von Kant intendierten Kritik der „Geschichte und der historischen Schriften“ – vornehmlich der schon erwähnten Intuition, dass jene an der „Idee des Rechts“ orientierte „Geschichte der Menschheit“ nicht zu Lasten der „Geschichte der Menschen“ als „vernünftiger Erdwesen“ gehen darf (um diese eher beiläufige Unterscheidung Kants noch einmal aufzunehmen, s. o. II., Anm. 89). Vor allem auch dafür müsste sein dem „Weltbegriff der Philosophie“ verpflichteter Appell, „die Rechte der Menschheit herzustellen“, gegenüber „universalgeschichtlichen“ Ansprüchen sensibilisieren. Eine Geschichtsphilosophie, die es diesbezüglich an Sensibilität fehlen ließe, könnte gewiss nicht die – freilich genau der Philosophie in ihrem „Weltbegriff“ zugedachte (vgl. II 700) – Aufgabe bzw. Kompetenz einer „Gesetzgebung (Nomothetik) der menschlichen Vernunft“ in einer umgreifenden Weise für sich beanspruchen.95 Deshalb kann sich die von Kant beabsichtigte „Kritik der Geschichte und der historischen Schriften“ auch nicht mit einer Kritik an der Maßstablosigkeit herkömmlicher 94 Refl. 514, AA XV, 223. „Cyklopisch“ wäre genauer besehen eine Vorgangsweise zu nennen, die überhaupt ohne „Vernunftideen“ auskommen will bzw. lediglich einen einseitigen Gebrauch derselben geltend macht. 95 Refl. 4925, AA XVIII 30. Erst recht bleibt die Rücksicht auf gegenläufige geschichtsphilosophische Motive und die ihr zugrunde liegenden Kategorien gerade auch bezüglich der Geschichtswissenschaft unerlässlich, weil andernfalls der Anspruch der Philosophie jedenfalls nicht aufrechtzuhalten wäre, sie sei „die Wissenschaft der Angemessenheit aller Erkenntnisse mit der Bestimmung des Menschen“ (Refl. 4970, AA XVIII, 44; vgl. auch Kants Bezugnahme auf den „Begriff von der Philosophie überhaupt“: III 444 ff ).
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Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie bzw. an bloßer „Gelehrsamkeit“ begnügen,96 sondern fordert überdies die Freilegung und Legitimation gegenläufiger Perspektiven, weil doch auch nur dies einer rechtens so zu nennenden „Vernunftverfassung“ entspricht. Dafür finden sich, wie sich zeigen soll, bemerkenswerterweise bei Kant nicht nur motivliche Anknüpfungspunkte; auch für eine daraus zu begründende gegenläufige Geschichtsperspektive stellt sein Denken die unentbehrlichen logischen und anthropologischen Kategorien zur Verfügung, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll. Zuvor ist freilich noch ein Blick auf jene Organe zu werfen, ohne die jenes der „Selbsterkenntnis der Vernunft“ verpflichtete „zweite Auge“, gerade auch bezüglich einer kritischen Geschichtsphilosophie, seine Aufgabe nicht einlösen könnte und infolgedessen, wie sich zeigen wird, auch eine geschichtsphilosophische Aktualisierung der Forderung unumgänglich macht: „Also muß man seine Urteile gerne andern zu sichten übergeben.“97 Nur in solcher Selbstrelativierung und Öffnung gegenüber den unsichtbar und ungehört gewordenen bzw. gebliebenen Ansprüchen einer „Geschichte als Leidensgeschichte der Welt“98 darf dies als „vernünftig“ bezeichnet werden. Freilich stellt in diesem geschichtsphilosophischen Kontext die Forderung: „Also muß man seine Urteile gerne andern zu sichten übergeben“ eine besondere Herausforderung dar und demonstriert gleichermaßen ihre prinzipielle Überforderung und Ausweglosigkeit. 2.1.1. „Gedächtnis, Erinnerung und Aufmerksamkeit“ – ihre vernunft-orientierte Aufwertung und deren Bedeutung in geschichtsphilosophischem Kontext Für den in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ geltend gemachten „besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ gewinnen zunächst insbesondere „Gedächtnis“ und „Erinnerung“99 einen besonderen Stellenwert. Zwar bleiben diese in den anthropologischen Rahmen eingebetteten „Vermögen“ insgesamt lediglich untergeordnete Themen – bemerkenswerterweise innerhalb des „Erkenntnis96 Zu dieser „Kritik der Geschichte und der historischen Schriften“ gehört, im Sinne der darin geforderten „Disziplinierung“ als „Selbsterkenntnis“, gleichermaßen die Kritik an einer vernunft-vergessenen „Gelehrsamkeit“ (als einer bloßen Angelegenheit der Kultur „zu beliebigen Zwecken“); somit impliziert dies die Kritik an einem Geschichtsdenken, das seine Voraussetzungen, Interessen und „Leitfäden“ unreflektiert lässt und so allzu leicht den undurchschauten Imperativen bloßer „Selbstbehauptung“ folgt. Dies bleibt jedenfalls auch bezüglich der Bemerkung Höffes zu beachten, wonach sich Kant „eine Kritik der historischen Vernunft … nie vorgenommen“ habe (Höffe 2011b, IX; ebd. 11). 97 AA XXIV, 391. 98 Benjamin Bd. i.1, 343. Davon zu „abstrahieren“ wäre auch mit Kants – nun freilich geschichtsphilosophisch gewendeter – Kritik des „Cyklopischen“ unverträglich (s. u. II., 2.2.); käme es doch in solcher geschichtsphilosophischen Wendung für eine „aufgeklärte Denkungsart“ darauf an, seine Kritik an dem den „logischen“ und „moralischen Egoismen“ innewohnenden, d. h. die Ansprüche der „allgemeinen Menschenvernunft“ negierenden „Eigendünkel“ aufzunehmen. 99 Eine Analyse und geschichtsphilosophisch hinreichende Akzentuierung der Kategorie der „Erinnerung“ als „Erkenntnisvermögen“, genauer: als konstitutiv für „historische Vernunft“, ist hier nicht zu leisten; sie hätte dabei, gerade im Blick auf Kant, vornehmlich an die einschlägigen geschichtstheoretischen Arbeiten von H. M. Baumgartner und J. Rüsen in produktiv-kritischer Weise anzuknüpfen. Vgl. dazu auch Zwenger 1994.
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vermögens“ der „Einbildungskraft“ als des „Erinnerungsvermögens“, „sich vorsätzlich das Vergangene zu vergegenwärtigen“ (vgl. VI 485 ff );100 ihre Loslösung aus derlei anthropologisch-„psychologischen“ Engführungen101 sowie aus „privatistischen“ Verkürzungen eröffnet indes aufschlussreiche Problemperspektiven, die vor allem auch Kants Geschichtsdenken um wichtige Aspekte und Differenzierungen bereichern. Auch in diesem geschichtsphilosophischen Umfeld erweist sich, nicht zuletzt in Ansehung der seitens der „historischen Vernunft“ (d. h. „Geschichtsschreibung“ und „Geschichtstheorie“) erhobenen Ansprüche, jene schon erwähnte Notiz Kants über den Zusammenhang der „Vermögen des Gemüts“ mit dem entsprechenden „Interesse“ als richtungsweisend, die nunmehr auf jene angeführten „Vermögen“ zu beziehen ist: „Einem jeden Vermögen des Gemüts kann man ein Interesse beilegen, d. i. ein Prinzip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben befördert wird. Die Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, bestimmt das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“ (IV 249). Es bezieht sich die solcherart „bestimmende“ Vernunft demzufolge zunächst auf das Interesse von „Gedächtnis, Erinnerung und Aufmerksamkeit“, was freilich vornehmlich in diesem geschichtsphilosophischen Kontext von besonderer Relevanz ist; dass die Vernunft das „ihrige“ Interesse „aber sich selbst“ bestimmt, impliziert dabei zunächst eine Legitimation desselben und verlangt in der Folge notwendige weitere geschichtsphilosophische Differenzierungen der hierfür maßgebenden Kategorien. Die Frage erweist sich schon hier als unabweislich: Wie also bestimmt die „Vernunft … das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“, ohne dabei selbst jener „cyklopischen Einengung“ zu verfallen (s. u. II., 3.)? Zwar erweisen sich „Gedächtnis und Erinnerung“ genauer besehen schon für Kants wiederholten geschichtsphilosophischen Rekurs auf die „Erfahrung im Menschengeschlechte“ (VI 356) als notwendige Voraussetzungen für jene „Belehrung durch öffentliche Erfahrung“ (VI 361 f ) und eine dadurch eröffnete „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“. Es ist aufschlussreich zu beobachten: So wie Kant die Hoffnung aus einer psychologisierenden Engführung befreite und den ihr immanenten „Logos“ als ein Vernunftinteresse auswies, so wäre dies in analogem Sinne wohl auch für diese anthropologischen Kategorien zu erwarten; wird solcherart eine Reduktion von 100 Diese Bestimmungen aus Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ werden hier ungeachtet der von R. Brandt ausgesprochenen Mahnung, d. h. auch auf die Gefahr hin aufgenommen, dass es „bei Detailfragen“ durchaus sein könne, „dass man es nicht mit der Kantischen Theorie, sondern mit dem Text aus der Dachstube einer Hilfskraft zu tun hat“ (so Brandt 2000, 29). 101 Hier ist nicht näher zu verfolgen und auch die Vermutung nicht zu begründen, dass vom vorkritischen Kant als „Affekte“ bzw. psychologische Vermögen benannte „anthropologische Instanzen“ sodann im Rahmen seiner kritischen Philosophie durchaus als unentbehrliche Momente (innerhalb) der (praktischen) Vernunft höchst bedeutsam werden, dergestalt freilich auch einen neuen Status gewinnen. Neben „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ wäre eine solche Befreiung von „psychologisierenden“ Engführungen insbesondere auch für „Trauer“, „Hoffnung“, ebenso für „Mitleid“ und „Liebe“ zu leisten – wohl über den Aufweis, dass ihre „Ausübung nur durch die Vernunft möglich ist“ (IV 581): Wenn Ähnliches gleichermaßen für Mitleid, Hoffnung, Trauer auszuweisen wäre, so ließe sich dies vielleicht im Sinne einer „Intellektualisierung“ der Affekte verstehen, die ja auch von Kant selbst gegenüber der englischen „Moral Sense“-Moralphilosophie gefordert bzw. geleistet wurde; erst recht bliebe dies hinsichtlich der „Achtung“ (als „attentio“ bzw. „reverentia“) bedenkenswert. S. nächste Anm.
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„Gedächtnis und Erinnerung“ (und der ihnen eigenen, in einem praktischen Vernunftinter esse wurzelnden „intelligiblen Kraft“) auf eine „vermögenspsychologisch“ verstandene Gedächtnisfunktion (d. i. als bloßes „Memorieren“) vermieden, so werden bezüglich der Frage nach der Möglichkeit geschichtlicher Erfahrung (und ihrem systematischen Stellenwert) nunmehr Konturen einer differenzierten Gestalt einer „erinnerungs-geleiteten“ Vernunftkonzeption sichtbar. Dass diese anthropologischen Kategorien in einem bemerkenswerten Korrelations-Verhältnis zueinander stehen und so eher als „Geisteskräfte“ (nicht als bloße „Seelenkräfte“) zu qualifizieren sind – eben als solche, „deren Ausübung nur durch die Vernunft [nicht durch bloßen „Verstand“] möglich ist“ (IV 581)102 –, muss sich sodann für diese Vernunftkonzeption selber als sehr bedeutsam erweisen, sofern, wie sich zeigen soll, das „er-innernde In-sich-Gehen“ selbst doch nicht weniger als eine Vernunftgestalt darstellt; als eine solche hat die moralisch verwurzelte „Erinnerung“ freilich selbst einen konstitutiven „Öffentlichkeits“-Anspruch. Demnach spricht doch einiges dafür, entsprechend der von Kant betonten notwendigen Beziehung (bzw. Einheit) zwischen Verstand und Vernunft auch das Verhältnis von „Gedächtnis und Erinnerung“ zu bestimmen. So wenig (gegen alles bloße „Vernünfteln“) der Verstand „geschenkt“ werden kann, so sehr bleibt er notwendigerweise auf die Vernunftdimension bezogen (so wie diese, umgekehrt, auf den Verstand) – denn Gedächtnis ohne Erinnerung wäre blind, Erinnerung ohne Gedächtnis hingegen „leer“. Dann wären diese Bestimmungen, in solchem Ausgang, in entsprechender Weise vielleicht auch für das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie fruchtbar zu machen. Einen vermutlich naheliegenden diesbezüglichen Anhaltspunkt liefert die bemerkenswerte – später (s. u. II., 2.1.2) noch genauer zu verfolgende – kantische Forderung: „Die Moral muss mit der Kenntnis der Menschheit verbunden werden.“103 Sie erlaubt eine Lesart, welche in der Tat beide Perspektiven in sich vereint und so ein lediglich unter der „Botmäßigkeit der Intelligenz“ eines bloß „vernünftigen Wesens“ stehendes „Gedächtnis“ irritieren muss. Auch hier bleibt also Kants Unterscheidung zwischen dem „Vernunftwesen“ 102 Viele Bestimmungen der „rationalen Psychologie“ seiner Zeit haben bekanntlich durch Kant eine transzendentalphilosophische Transformation bzw. Aufwertung erfahren; dies wäre auch im Einzelnen für die bezüglich der praktischen Philosophie relevanten Kategorien zu verfolgen, zumal die im anthropologischen Kontext vorgenommenen Kategorien solcherart einen neuen Status gewinnen. So wie Kants Kritik an Locke und Hume auch als eine bestimmte Form einer „Psychologismus“-Kritik zu lesen ist, so wäre dies (über die moralphilosophischen Aspekte hinaus) auch für jene angeführten Bestimmungen zu leisten müsste wohl auch in einem religionsphilosophischen Kontext von besonderem Interesse sein. Indes ist nicht zu übersehen, dass Kant selbst diese anthropologischen Kategorien transformiert und aufwertet, indem er sie gewissermaßen der „praktischen Vernunft“ einschreibt. Ihre „Aufhebung“ zu praktischen Vernunftprinzipien wäre wohl, wie angedeutet, analog zu den einschlägigen moralphilosophischen Bestrebungen zu leisten. Auch die von ihm wiederholt geäußerte Notwendigkeit einer Überwindung von „anthropologischen Beimischungen“ ist oftmals im Sinne einer „Psychologismus“-Kritik zu lesen. 103 AA XXV, 472. – Dass jedoch auch „die Erkenntnis der Menschheit mit der Moral“ zu verbinden sei, entspricht unübersehbar jenem „Weltbegriff der Philosophie“ und erlaubt eine geschichtsphilosophische Akzentuierung desselben. – Freilich: Eine solche umgekehrte Forderung, „die Erkenntnis der Menschheit mit der Moral“ zu verbinden, wird sich dann wohl nicht mit der Perspektive begnügen können: „Unsere Anthropologie kann von jedermann, sogar von Damen bei der Toilette, gelesen werden, weil sie viel Unterhaltendes hat, wenn man allenthalben auf Regeln stößt, die Auskunft geben, und wenn man bei scheinbaren Unordnungen immer einen Leitfaden findet“ (so Kant: Vorlesung über Menschenkunde aus dem WS 1781/82, 179).
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
und dem „bloß vernünftigen Wesen“ bestimmend (IV 550); die darin implizierte Differenz zwischen „theoretischem“ und „praktischem Vernunftgebrauch“ erweist sich nicht zuletzt in diesem geschichtsphilosophischen Kontext als sehr bedeutsam. Vermag allein die Einheit von „Verstandes- und Vernunftgebrauch“ einen unverkürzten Erfahrungsbegriff zureichend zu fundieren, so führt erst die Einheit von „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ auf eine zureichende Konzeption des geschichtlichen „Eingedenkens“: Eine (unter den Vorzeichen des „Primats der praktischen Vernunft“ stehende) geschichtsphilosophische Version der „erfahrungs-begründenden“ Einheit von „Verstand und Vernunft“? Demgemäß wäre „Erinnerung“ auf das (andernfalls orientierungslos bleibende) „Gedächtnis“ verwiesen, während „Er-innern“ erst Erfahrung ermöglicht und infolgedessen die Einheit von „Gedächtnis und Erinnerung“ als „Eingedenken“ zu bestimmen wäre; derart wäre, auf diesem Feld, die Einheit der „cognitio ex datis“ und der „cognitio ex principiis“ auszuweisen. Auch dies bestätigt: Allein „ideen-geleitet“, d. h. auf ein unabweisliches praktisches Vernunftinteresse bezogen, sind „Gedächtnis und Erinnerung“ als solche auszuweisen, die in der angezeigten Weise auch hier gegenüber allem bloß partikulären InteresseHaben ein den Vernunftansprüchen genügendes „Interesse-Nehmen“ geltend machen und so auch allein dem universalistischen Gehalt des den „Weltbegriff der Philosophie“ bestimmenden Bezuges auf dasjenige, „was jedermann notwendig interessiert“, gerecht werden können. So wie eine Kultur, die nicht an die normativen Prinzipien praktischer Vernunft gebunden (bzw. darin verankert) ist, maßstablos bleibt, ja lediglich den „zweckrationalen“ Imperativen der Selbstbehauptung folgt und zuletzt zur „Barbarei“ neigt, so gilt dies auch für ein andernfalls ebenso maßstabloses, luxurierendes „Gedächtnis“. Daraus folgt zunächst, dass – gemäß jener der Philosophie nach ihrem „Weltbegriff“ zugemuteten „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft“ (vgl. II 700 f ) – zweifellos das „erkenntnisleitende Interesse“ der historischen Wissenschaften selbst auf das „Erinnern“ als praktische Sinnkategorie zurückverwiesen bleibt. Wenn ein solches in praktischen Vernunftansprüchen verwurzeltes Er-innern gemäß dem „Weltbegriff der Philosophie“ in kollektivem Erinnern als geschichtlich-gesellschaftlich „situiertes“ und geprägtes ausgewiesen werden kann, so impliziert dies auch eine Absage an eine „privatistische“ Verengung bzw. Aushöhlung von Erinnerung (und, wie sich zeigen wird, auch der Trauer, s. dazu u. II., 4.1.1.), desgleichen an eine geschichtslos-abstrakte „Privatisierung der Vergangenheit“ – obgleich solches „Erinnern“ für den Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ eben doch allein in individuell-konkreter Aneignung lebendig und „identitätsstiftend“ bleiben kann. Deshalb ist Erinnerung stets an den produktiven Prozess der „Ent-sinnung“104 gebunden und nötigt so, ungeachtet des „Subjektiv-Werdens“ von Erinnerung, in dem diesem „Er-innern“ immanenten Bildungsprozess dazu, jede Fixierung auf ein bloß „erlebnisorientiertes Erinnern“ zu überwinden; in solcher Erinnerung geht es vielmehr um ein „In-sich-Gehen“, das freilich an der „Idee der Menschheit“ sein Maß hat. 104 Kant fasste dieses „Ent-sinnen“, das als der eigentliche Sinn des „Er-innerns“ im Sinne eines erlebnis-entbundenen „Sich-innerlich-Machens“ freizulegen wäre, allerdings in einem ganz anderen Sinn, vgl. VI 486; dazu Brandt 1999, 263 f. Der kantischen Unterscheidung zwischen dem „bloß vernünftigen Wesen“ und dem „Vernunftwesen“ würde somit diejenige zwischen „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ genau entsprechen.
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In solchem Ausgang wäre wohl eine in jenen Prinzipien der praktischen Vernunft fundierte Vertiefung eines geschichtlichen Erfahrungsbegriffs zu begründen.105 Mithin müssten in diesem Geschichtsdenken solche Aspekte besondere Relevanz gewinnen, die eine Abgrenzung vom Erfahrungsbegriff der „theoretischen Vernunft“ (genauer: des „Verstandes“, als Vermögen, „Erscheinungen nach synthetischer Einheit zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“: III 181), ebenso von den „regulativen Prinzipien des theoretischen Vernunftgebrauchs“ sowie von der „ästhetischen Erfahrung“ des „Schönen“ und „Erhabenen“ in der ihr eigentümlichen spezifischen Intention – und d. h. eben auch: in kritischer Absicht – erst ermöglichen. Derlei „Erfahrung“ macht deutlich, dass der gegen Kants Geschichtstheorie bisweilen erhobene Vorwurf einer in ihr angeblich zutage tretenden erinnerungs- und geschichtslosen Vernunftkonzeption jedenfalls in dieser undifferenzierten Weise keineswegs aufrechtzuerhalten ist (s. dazu u. bes. II., 3.; II., 4.). Demnach gewinnt erst dieses in der „Tiefenstruktur der praktischen Vernunft“ verwurzelte Erinnern für den Menschen – und zwar über alle psychologisch relevanten Formen des „mechanischen, ingeniösen und judiziösen Memorierens“ als Gestalten des „Gedächtnisses“ und seiner methodischen Kultivierung hinaus – seinen spezifischen Gehalt und kritischen Richtungssinn. Näherhin wäre es wohl als ein aus dem Interesse der Vernunft geleitetes „Innerlich-Machen“ zu bestimmen, das sich demzufolge nicht darin erschöpft, „etwas im Gedächtnis zum Bewusstsein (zu) bringen“ (VI 486), sondern eher als – eben er-innerndes – „Eingedenken“ seine besondere Gestalt finden könnte und so die unauflösliche Verwurzelung jenes „Erinnerns“ in dem praktischen Vernunftinteresse noch einmal deutlicher macht. Schon dies verweist darauf, dass in diesen geschichtsphilosophischen Spuren Kants jene anthropologischen Kategorien gleichermaßen in ihrem geschichtstheoretisch unverzichtbaren Anspruch legitimiert und dabei als „Erkenntnisvermögen“ ausgewiesen werden können, die als solche freilich selbst „in der Vernunft gegründet“ sind – übrigens in einer auch bezüglich „Geschichte und Historie“ aufschlussreichen Entsprechung zu jener schon benannten Unterscheidung zwischen bloß „vernünftigem Wesen“ und „Vernunftwesen“ (IV 550).106 105 Hier wäre – und zwar durchaus im Ausgang von Kant – an die einschlägigen Ausführungen von Theunissen (2001) anzuschließen. Schon Kants Unterscheidung zwischen einer „Geschichte der Menschen“ und einer „Geschichte der Gattung“ erlaubt keine Reduktion der Erinnerung auf die bloße biographische Perspektive einer „Erlebniserinnerung“; sie führt vielmehr darauf, „geschichtliches Erinnern“ mit dem Thema der „Selbstaneignung“ zu verbinden. Dieser zu modifizierende „Erfahrungsbegriff“ ist gleichermaßen im Bezug auf jenes sich nicht mehr zu vergessende „Phänomen in der Menschengeschichte“ und ihren „Gang“ vorausgesetzt wie in der gegenläufigen „naturgeschichtlichen“ Orientierung an dem „Erlittenen“ (s. u. II., 4.1.) und zielt dabei gerade auch auf das erst freizulegende „Intelligible“ an den geschichtlichen „Erscheinungen“. 106 So wie von Kant der „Glaube“ vom Status einer epistemischen Defizienzform befreit wird und auch „Hoffnung“ nicht auf bloße „Erwartung“ reduziert werden darf, sondern erst jenseits davon für den Menschen als „Vernunftwesen“ seinen spezifischen Eigen-Sinn und Anspruch gewinnt, so wäre dies auch für die Erinnerung geltend zu machen, die als „Eingedenken“ einen moralisch-praktischen Sinn gewinnt. – Was Kant in seiner Charakterisierung des „bloß vernünftigen Wesens“ grundsätzlich vor Augen gestanden haben mag, hat der katholische Theologe J. B. Metz im Blick auf die Gegenwart eindringlich folgendermaßen beschrieben: „Unter der quasi mythischen Totalität der technischen Rationalität droht eine Intelligenz ohne Pathos, eine Intelligenz, die keiner eigensinnigen Sprache bedarf, weil sie widerspruchslos funktioniert,
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Jene auch für diesen Problemkontext sehr bedeutsame Kennzeichnung der Vernunft als „Vermögen, die Verknüpfung des Allgemeinen mit dem Besonderen einzusehen“ (VI 731), erweist sich vornehmlich im Sinne jener Bestimmung der Erinnerung (als „Eingedenken“) als einer „praktischen Vernunftkategorie“ als fruchtbar; demgemäß ist sie in diesem geschichtsphilosophischen Zusammenhang zu der Forderung zu erweitern, dass ein für vernunftgeleitetes Erinnern konstitutives „Inne-Sein“ dieser Art gleichermaßen ein Vergessen impliziert. Andernfalls fiele es selbst auf einen bloßen „Mechanism des Memorierens“ zurück, das wohl zwar einem normativ indifferent-tauben „vernünftigen Wesen“, jedoch nicht der angeführten Bestimmung des Menschen als „Vernunftwesen“ genügen könnte, d. h. diesem und seinem praktischen Anspruchsniveau adäquat wäre. Deshalb kann hierfür auch die Beschränkung darauf nicht ausreichend sein, „was historisch gelernt werden muss“, wofür sich nach Kant „die mechanisch-katechetische Methode vorzüglich“ empfiehlt (VI 737). In Anlehnung an eine Bemerkung Kants über den Freiheitsbegriff (IV 673, Anm.) und gemäß jener kantischen Unterscheidung zwischen „vernünftigem Wesen“ und „Vernunftwesen“ (sowie im Blick auf die Differenz zwischen „Verstand“ und „Vernunft“) wäre der Unterschied zwischen „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ vielleicht auch so zu bestimmen: Daraus, dass ein Wesen „Gedächtnis“ hat, folgt noch gar nicht, dass es auch zu dem an unbedingten praktischen Vernunftansprüchen orientierten „erinnernden“ Eingedenken in dem hier angezeigten Sinne befähigt ist. Wenn also jene anthropologische Unterscheidung zwischen „Vernunftwesen“ und „vernünftigem Wesen“ nunmehr auch eine geschichtsphilosophische Lesart nahelegt und ihr diejenige zwischen „Gedächtnis und Erinnerung“ recht genau entspricht, dann erweist sich jedenfalls die Unterscheidung zwischen dem als „Eingedenken“ verstandenen Erinnern und dem „daten-orientierten“ – automatisierbaren und „judiziösen“ – Memorieren auch auf diesem geschichtsphilosophischen Feld als höchst bedeutsam, die durch Kants bemerkenswerte Kennzeichnung des Gedächtnisses als „Magazin von Materialien zum Denken“ lediglich bestätigt wird. In diesem Sinne also wären Gedächtnis und Er-innerung analog zur kantischen Unterscheidung und unumgänglichen Beziehung zwischen „Verstand“ und „Vernunft“ zur Geltung zu bringen; unübersehbar steht eine solche geschichtsphilosophische Perspektive in engstem Zusammenhang mit der Bestimmung des „Weltbegriffs der Philosophie“ und fordert solcherart auch eine kritische Reflexion auf die „Beziehung aller Erkenntnis [des Verstandes] auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ (II 700 f ) und fordert solcherart auch eine kritische Bestimmung des Verhältnisses von Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie. So gewinnt aber auch Kants Mahnung erst ihr besonderes Gewicht, dass die „Kultur des Gedächtnisses sehr notwendig“ sei und sich dieses „Gedächtnis nur mit solchen Dingen beschäftigen“ solle, „an denen uns gelegen ist, dass wir sie behalten, und die auf das wirkliche Leben Beziehung haben“ (VI 732); auch dies demonstriert bzw. rechtfertigt den unauflöslichen Zusammenhang mit jener den „Weltbegriff der Philosophie“ bestimmenden Orientierung. Schon der diesem „Weltbegriff der Philosophie“ innewohnende Anspruch eine Intelligenz, die kein Gedächtnis kennt, weil sie ja von keinem Vergessen bedroht ist: der Mensch als computerisierte Intelligenz ohne Leidempfindlichkeit und ohne Moral“ (Metz 2006, 80).
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praktischer Vernunftprinzipien verweist indirekt auf den Stellenwert von „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ als „praktischen Sinnkategorien“ und präzisiert so noch einmal die kantische Mahnung, dass sich in den Umgang mit „historischen Kenntnissen“ zwar „kein Vernünfteln“ (VI 489) einmengen dürfe, wohl aber – durch die Einführung „negativer Größen in die Weltweisheit“ erweiterte – praktische Vernunftkategorien „einmischen“ müssen. Auch im Sinne der angezeigten kritischen geschichtsphilosophischen Sichtweise ist demzufolge Kants Hinweis auf die „Erfindung solcher neuer Methoden und Prinzipien“ zu korrigieren, durch die wir, „ohne das Gedächtnis zu belästigen, alles mit Hilfe derselben nach Belieben selbst finden können. Daher macht sich der um die Geschichte wie ein Genie verdient, welcher sie unter Ideen fasst, die immer bleiben können“ (III 469; Hervorhebung v. Verf.). Als gleichermaßen unverzichtbar erweist sich die an der „Gegen-Idee“ der „Leidensgeschichte“ orientierte „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ – jedenfalls dann, wenn solche vermeintliche geschichtsphilosophische „Erweiterung“ sich nicht unversehens in eine Engführung verkehren soll. Die auch für diesen geschichtsphilosophischen Kontext höchst bedeutsame Auskunft Kants, dass die „Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, … das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“ (IV 249) bestimmt, verdeutlicht so auch jenen angezeigten Sachverhalt, dass solches Erinnern selbst im Interesse-Nehmen der praktischen Vernunft (und ihren „Prinzipien“) verwurzelt ist und in diesem bestimmten Sinne wohl auch als „memoria intellectualis“ zu bezeichnen wäre.107 Ein solches „erinnerungs“-geleitetes Vernunftpotenzial tritt, ein wenig genauer besehen, auch schon in den kantischen Fortschritts- und Hoffnungsperspektiven (und in den in ihnen identifizierten „schwachen Spuren der Annäherung“: VI 46) zutage. So werden zweifellos schon in jener Bestimmung des „einzige(n), ursprüngliche(n), jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende(n) Rechts“ (IV 345) mit der darin begründeten „Idee der (politischen) Freiheit“ sowie der praktischen Vernunft-„Idee der Menschheit“ (IV 675) Spuren einer geschichtlich-konkreten Erfahrung und Erinnerung sichtbar, auf die auch Kants berühmter Hinweis auf das in der Französischen Revolution manifest werdende „Interesse der Menschheit“ abzielt. Auch dies bestätigt übrigens, dass der Begriff der „Menschheit“ durch einen normativen Sinngehalt imprägniert ist, der nur dann vor einer abstrakten Verflüchtigung bewahrt bleiben kann, wenn diese ihm immanente Tiefendimension als eine geschichtlich vermittelte erinnert wird. Entsprechend sind also jene Phänomene eines solchen Erinnerns wert, worin ein „Interesse der Menschheit“ selbst sich manifestiert, das nicht vergessen werden darf, weil dies andernfalls unweigerlich darauf hinausliefe, dass in dieser „Idee der Menschheit“ jener normative Gehalt stillschweigend abhanden kommen müsste. In jenem er-innernden „In-sich-Gehen“ ist also auch das einen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ indizierende „Geschichtszeichen“ verwurzelt,108 das sich in kritischer Absicht an jener von dem Interesse einer 107 Kant kennt (vermutlich im Anschluss an Baumgarten) eine „memoria intellectualis“, bezieht diese jedoch allein auf die „Identität der Person in ihrem Bewusstsein“ (AA XV.1, 148). 108 In gewissem Sinne bestimmte Kant dieses „Geschichtszeichen“ (obgleich sich dieses genau genommen auf die „Denkungsart der Zuschauer“ bezieht) auf dem Felde der „Geschichte des menschlichen Geschlechts“ als Pendant zu jener ästhetischen Erfahrung des „Naturschönen“, für das freilich auch der Bezug auf das eine „moralische Denkungsart“ indizierende „moralische Gefühl“ vorausgesetzt ist; dieses
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„Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ geleiteten Frage orientiert und dabei zugleich auf diejenige „Was will man hier wissen?“ geführt wird. Bezüglich des moralisch-praktischen Stellenwerts einer solchen „Erinnerung“ bleibt indes genau darauf zu achten, dass Kant mit diesem „Phänomen“ (d. i. mit jener „Begebenheit unserer Zeit“) eben die „Denkungsart der Zuschauer“ vor Augen hat, die „eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung [„dem Wunsche, aber wohl auch „dem Willen nach“] offenbart“, „die nahe an Enthusiasm grenzt“, wobei „wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann“ (VI 357 ff ).109 Diese „Denkungsart“ als „Phänomen“, d. h. selbst als „virtus phaenomenon“ (V 661), war es also, an das Kants „geschichtlicher Hoffnungsbegriff“ er-innernd anknüpfen wollte: Demnach vergisst sich „ein solches Phänomen in der Menschengeschichte“ eben deshalb nicht mehr, „weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat. […] Denn jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, und, ihrem Einflusse nach, auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet, als dass sie nicht den Völkern, bei irgend einer Veranlassung günstiger Umstände, in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte“ (VI 361). Enthält doch jene „Begebenheit“ gewissermaßen selbst – ein einzulösendes „Versprechen“ in sich bergendes – „Anzeichen“ darauf, was der „Mensch als freihandelndes Wesen aus sich selber machen kann und machen soll“ (VI 399). Dass ein „solches Phänomen in der Menschengeschichte sich nicht mehr vergisst“, verdankt sich der ihm innewohnenden besonderen „Intelligibilität“110 und beruht demzufolge vornehmlich darauf, dass sich in der besonderen historischen Begebenheit das „VernünftigAllgemeine“ ent-deckt; darin gewinnt nach Kant bekanntlich eine „Erscheinung“ von Freiheit „Realität“, d. h. wird an dieser Erscheinung selbst etwas (als „Anzeichen“) sichtbar, was dennoch ein zu er-innerndes „Mehr“ ist als bloße „Erscheinung“111 – schon desvermag nämlich erst die „wahre Auslegung der Chiffreschrift“ zu leisten, „wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht“ (V 398). 109 Vgl. dazu auch Kants späte Refl. 8077 (AA XIX, 603 ff ) und die dort erfolgte Berufung auf die „tief eindringende Teilnehmung an jenem höchsten weltbürgerlichen Gut“ als ein „Faktum“, „über dessen Wirklichkeit man alle Menschen zu Zeugen rufen kann“ (ebd. 612), worin sich ein „Enthusiasmus der Rechtsbehauptung für das menschliche Geschlecht“ manifestiert (VI 359, Anm.), der über das Widerfahrnis erlittenen Unrechts „vermittelt“ ist. 110 In Aufnahme einer Wendung, die Kant für Leibnizens Philosophie verwendet hat, wäre im Blick auf diesen kantischen Verweis auf die „sich nicht mehr vergessenden Phänomene in der Menschengeschichte“ als „Geschichtszeichen“ von einer geschichtsphilosophischen „Intellektualisierung der Phänomene“ zu reden, die also ihre recht verstandene „Ent-sinnlichung“ voraussetzt. 111 Hier wäre, natürlich in entsprechender geschichtsphilosophischer Modifikation, an Kants Bestimmung des „Intelligiblen“ anzuknüpfen – d. i. desjenigen „an der Erscheinung, was mehr ist als bloße Erscheinung“; dabei ist zu beachten, dass dies freilich ebenso eine modifizierte Lesart unumgänglich macht und dabei eben darauf ihr Augenmerk richtet, „was der Mensch aus sich selber macht“ (s. u. II., 3.1.2.). Entsprechend sind diese „Geschichtszeichen“ selbst als Verweis auf die darin zur „Erscheinung“ kommende „Idee des Rechts“ zu lesen, obgleich in ihnen die Geschichte zweifellos auch noch in einer anderen Weise „zu uns spricht“ (und ebenso Kants Hinweis auf die „Denkungsart der Zuschauer“ als das eigentliche „Geschichtszeichen“ diesbezüglich einen irritierenden und beklemmenden Charakter gewinnt). Es bliebe zu fragen, wie bzw. wo hier die Dimension eines – geschichtlichen und kommunikativen – „kulturellen
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halb, weil dies doch ein „Interesse der Menschheit“ selbst betrifft und in solcher Hinsicht in der Tat eine „Hoffnung auf eine andere Welt, aber in dieser“, legitimiert, eine „Perspektive auf ein neues Jenseits im Diesseits eröffnet“.112 Gemäß dem durch die praktischen Vernunftideen „erweiterten Vernunftgebrauch mitten in der Erfahrung“ lenkt die notwendig erinnerungs-verankerte „Erfahrung des Menschengeschlechts“ die Aufmerksamkeit diesem geschichtsphilosophischen „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ zufolge – im Sinne einer unabtrennbaren Kehrseite ihrer „weltbürgerlichen Orientierung“ – zunächst vorrangig darauf, was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich machen kann und soll“ (VI 399). Gerade für eine derartige kritische Geschichtsphilosophie ist jene Einheit von „moralischer Kultur“ und (freilich nicht privatistisch reduzierter) historischer – moralisch jedoch völlig irrelevanter – „Gedächtniskultur“ (vgl. VI 682) unentbehrlich. Ist es nicht eben diese innige Verbindung von „moralischer Kultur“ und („historischer“) „Gedächtniskultur“, die nun jenem „zweiten Auge“ auf geschichtsphilosophischem Boden erst seine besondere „Tiefenschärfe“ verleiht und so gleichermaßen auf der umgekehrten Forderung insistiert, „die Kenntnis der Menschheit mit der Moral“ zu verbinden? Es soll noch genauer erörtert werden bzw. sich dabei bestätigen: Die leitenden Motive einer dergestalt ins Blickfeld rückenden – an einer „Kultur der Erkenntnisvermögen“ maßnehmenden wie auch einer kritischen „Selbsterkenntnis“ verpflichteten – geschichtsphilosophisch akzentuierten „kopernikanischen Wende“ setzen zweifellos eine Einheit des „konstruktiven“ und „destruktiven“ Moments voraus.113 Dass „Geschichte“, einem berühmten Wort Hegels zufolge,114 die „res gestae“ und ebenso die „historia rerum gestarum“ meint und damit die unauflösliche Einheit von Geschichte und Geschichtsbewusstsein zum Ausdruck bringt, bleibt für diese gegenläufige geschichtsphilosophische Perspektive ebenso bedeutsam. Die in diesem geschichtsphilosophischen Kontext besonders aufschlussreiche Mahnung Kants, dass die „Moral … mit der Kenntnis der Menschheit verbunden werden“ müsse (s. o. II., Anm. 103), kommentiert im Grunde die angeführten Problemaspekte und expliziert so lediglich jene im „Weltbegriff der Philosophie“ ausgesprochene Forderung „der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ (II 700) für dieses besondere Gebiet; indessen fordert sein „Weltbegriff der Philosophie“ ebenso die Umkehrung jener Mahnung in dem bestimmten Sinne, dass „die Erkenntnis der Menschheit mit der Moral“ zu verknüpfen ist und allein derart einer kollektiven Selbstverständigung und Erinnerung zu entsprechen vermag. Ist darin jene Forderung einer Aufwertung von „Gedächtnis, Erinnerung und Aufmerksamkeit“ als unabdingbarer Momente Gedächtnisses“ und seine identitätsstiftende Rolle und Symbolik, wie dieses ja auch in der Lehre von den „Geschichtszeichen“ vorausgesetzt ist, ihren Ort finden könnte. 112 Habermas 1991d, 114. 113 Vgl. auch den die Einheit von ‚destruktivem‘ und ‚konstruktivem‘ Moment betreffenden Hinweis in Benjamins Passagen-Werk (Benjamin 1983 I, 593 f ). – In dieser angezeigten geschichtsphilosophischen Sicht ist auch Benjamins These aufzunehmen und eröffnet so eine entscheidende geschichtstheoretische Perspektive: „Also: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens“ (ebd. 491). 114 Hegel 10, 83.
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der „praktischen Vernunft“ begründet, so gewinnt freilich, wie sich zeigen soll, auch eine umgekehrte Lesart jener kantischen Forderung, „die Erkenntnis der Menschheit mit der Moral“ zu verbinden – also eine Verbindung der „Moral … mit der Erkenntnis der Menschheit“ –, bedeutsame neue geschichtsphilosophische Akzente. Von einer solchen Hinsicht abzusehen liefe wohl auf eine besondere geschichtsphilosophische „Einäugigkeit“ hinaus. Demnach erweist sich für die Leitideen der kantischen Geschichtsphilosophie der Rekurs auf „Gedächtnis und Erinnerung“ schon deshalb als unentbehrlich, weil für die in Kants geschichtsphilosophischen Schriften maßgebende Perspektive und die darauf gestützten – „mit dem Interesse der Menschheit verwebten“ – „geschichtlichen Hoffnungen“ diese vernunft-begründeten Erkenntnisvermögen eine konstitutive Bedeutung gewinnen. Auch deshalb (und besonders mit Blick auf jenes „Phänomen, das sich nicht mehr vergisst“) spricht vieles dafür, dass das dem „Weltbegriff der Philosophie“ verpflichtete und somit in unabweislichen praktischen Vernunftinteressen und in „praktischen Vernunft ideen“ fundierte Geschichtsdenken Kants den abstrakten Gegensatz „Vernunft versus Erinnerung“ im Grunde ohnehin immer schon überwunden hat, wie auch sein Verweis auf „Geschichtszeichen“ erkennen lässt. Die über eine bloß psychologische Verortung hinaus erforderliche Situierung von „Gedächtnis und Erinnerung“ innerhalb der „Erkenntnisvermögen“ wird auf diesem geschichtsphilosophischen Boden besonders bedeutsam und ist des Weiteren, als eine dem „Weltbegriff der Philosophie“ verpflichtete Vertiefung, auch auf die kantische Frage „Was ist der Mensch?“ zu beziehen. Dass „Gedächtnis und Erinnerung“ im Kontext der Leitfrage seiner „pragmatischen Anthropologie“ („was der Mensch … aus sich selbst machen kann und soll“) verwurzelt sind und darin als „Erkenntnisvermögen“ auch erst ihre besondere „intelligible Kraft“ zu entfalten vermögen, fügt sich so offenbar recht gut in diese geschichtsphilosophische Motivkonstellationen.115 Ob von dieser Vernunftperspektive (und dem ihr eingeschriebenen „Gedächtnis“ und der „Erinnerung“) nicht ebenso die Frage unablösbar ist, was der „Mensch, als freihandelndes Wesen, aus sich selber [und d. h. immer auch: aus – und mit – seinesgleichen] macht“ (s. u. II., 3.1.2.) – und somit auch die mit einer unverkürzten Ausmessung des Vernunfthorizontes verbundene sensible Rücksicht in der Bestimmung dessen, „was der Mensch … wissen soll“ (III 466) –, wird noch zu verfolgen sein; dabei wird freilich der Blick auch auf jene „großen Begebenheiten“ zu richten sein, die ganz andere „Anlagen“ und „Vermögen in der menschlichen Natur“ ans Licht befördern. Die Kant durchaus geläufige Einsicht, dass Geschichte immer auch ein unverzichtbares Medium kollektiver Selbstverständigung ist,116 begegnet nicht nur in jenem schon ange115 Von einem unter der „Botmäßigkeit der Intelligenz“ stehenden Gedächtnis ist ausdrücklich bei W. Benjamin die Rede: Benjamin I.2, 609. 116 Gerade weil sich in „geschichtlicher Besinnung … Menschen darüber“ verständigen, „woher sie kommen und wohin sie gehen, worum es ihnen in ihrem Tun und Wollen geht“, und weil auch moralische „Selbstbestimmung und praktisches Handeln … sich nicht im leeren Raum“ vollziehen, „sondern aus einer Geschichte heraus, die kein bloßer Geschehensverlauf, sondern immer auch ein Prozeß der Selbstverständigung und Selbstfindung ist“ (Angehrn 2004, 345), ist die durch diese gegenläufige Geschichtsperspektive bestimmte Orientierung an dem, „was er wissen kann und wissen soll“, für eine kritische Geschichtsphilosophie unverzichtbar.
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führten Hinweis auf „unsere späten Nachkommen“ und den „Gesichtspunkt dessen, was sie interessiert“ (VI 50) – nämlich „was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben“; freilich muss sich eine solche Perspektive einem Geschichtsverständnis verweigern, das sich allein an der durch die „Verkettung der Triumphe, die Stabilisierung des Erfolgs und der Siege“ gestifteten „Kontinuität“ orientiert.117 Desgleichen klingt dieses Motiv in jener kritischen Frage nach der Möglichkeit eines „Fortschritts zum Besseren“ an und begegnet nicht zuletzt in der kantischen Reflexion darauf, was man denn eigentlich in derlei Fragen erfahren und „wissen will“. Letzteres impliziert freilich die aufklärungs-orientiert geschärfte Aufmerksamkeit dafür, welchen „Abstraktionen“118 die „späten Nachkommen“ denn ihre leitenden Interessen und „Hin-Sichten“ verdanken; sie erregen dabei durchaus „gerechten Verdacht wider sich“, ob sie denn auch „freier und öffentlicher Prüfung“ standhalten können und ihre „Wahl des Standpunkts“ nicht vielmehr auf eine heimliche Preisgabe der „Idee der Menschheit“ hinausläuft, die eher „cyklopische“ Befangenheit, Borniertheit und Selbstgerechtigkeit zutage bfördert. Dies wäre doch lediglich eine Konsequenz daraus, dass in der Tat der Anspruch der Vernunft sowie ihr „Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger“ ist, „deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sein Veto, ohne Zurückhaltung muss äußern können“ (II 631), was Kant mit einer „aufgeklärten Denkungsart“ unzertrennbar verbunden sah und was sich seiner sensiblen und unbestechlichen Orientierung daran verdankt. So bestätigt sich: Auch in dieser besonderen Hinsicht vermag allein höchste „Aufmerksamkeit“ jene „späten Nachkommen“ gegen die Losung „Vorwärts, über Gräber hinweg!“ zu immunisieren.119 Deshalb enthält eine aufgeklärte Denkungsart ebenso die jene vorherrschende Perspektive der „späten Nachkommen“ unterbrechende – nunmehr geschichtsphilosophisch gewendete – Aufforderung in sich, „sich in der Mitteilung mit Menschen … in die Stelle jedes anderen zu denken“ (VI 549). Somit gewinnt auch in diesem geschichtsphilosophischen Zusammenhang jene zunächst an der Ablehnung des 117 Angehrn 1991, 170. Zwar impliziert schon diese von Kant miteingeschlossene Rücksicht darauf, „was Völker und Regierungen … geschadet haben“, eine kritische Distanz gegenüber den von einer bloßen Herrschaftsgeschichte hinterlassenen „Spuren“, den durch sie gesetzten „Monumenten“ und geprägten „Traditionen“ und führt so keineswegs einfachhin zu einer „sich dieser Eigenmacht der Geschichte“ überlassenden „Einfühlung in den Sieger“ (ebd.). Gleichwohl ist es erforderlich und mit den der kantischen Philosophie auch diesbezüglich innewohnenden Potenzialen auch möglich, noch eine ganz andere – in praktischen Vernunftansprüchen begründete – Geschichtsperspektive sichtbar zu machen. 118 Kants Hinweis, man sage „nicht, etwas abstrahieren (absondern), sondern von etwas, d. i. einer Bestimmung des Gegenstandes meiner Vorstellung abstrahieren“ (VI 412), erweist sich in diesem geschichtsphilosophischen Kontext als aufschlussreich. 119 Es ist wohl eine von Kant inspirierte Zumutung, wenn D. Henrich an verbindliche „Lebensdeutungen eines „bewussten Lebens“ die Forderung knüpft, „der Bewußtseinslage der Modernität zu entsprechen, die Tatsachen der kosmischen Randstellung des Lebens anzuerkennen und aufzunehmen und nicht in die kleine Lebensklugkeit später Söhne der Erde und der Modernität auszuweichen, welche im Abseits von den Sinnfragen der Menschheit platzgenommen hat. Für uns selbst mag sie auch dadurch als Lebensdeutung beglaubigt sein, daß es in ihr möglich ist, die Solidarität mit dem verlorenen Leben zu wahren. Ich wage zu sagen, daß kein Gedanke auch für uns eine letzte Bewährung haben kann, von dem wir nicht denken können, daß in ihm ein Opfer im anonymen Massentod und -mord noch sein Leben hätte sammeln können. Eine Lebensdeutung ist dann gewiß nicht wahr, wenn sie nur für Davongekommene Geltung hat.“ (Henrich 1982c, 40)
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„logischen“ und „moralischen Egoismus“ festgemachte Mahnung Kants, „seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen anzusehen“, besondere Bedeutung und macht – auch gegenüber jener maßgebenden Perspektive in „weltbürgerlicher Absicht“ – die Frage unumgänglich: Wovon wird denn, jedenfalls in einem unreflektiert bleibenden (und insofern „einäugigen“) Interesse der zukunfts-orientierten „späten Nachkommen“, das der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ zugrunde liegt, abstrahiert – und worauf hätte hingegen eine kritische geschichtsphilosophische Perspektive diesbezüglich ihre besondere „Aufmerksamkeit“ zu richten? Im Rahmen der von Kant geforderten „Kultur der Erkenntnisvermögen“ (und näherhin im Blick auf jene angeführten anthropologischen Sinnkategorien) gewinnt auch die von psychologischen Engführungen befreite „Aufmerksamkeit“120 eine besondere Bedeutung bezüglich einer aufklärungsorientierten Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft. Als „Erkenntnisvermögen“ ist diese „Aufmerksamkeit“ in der Doppelgestalt des „Aufmerkens“ und des „Absehens“ nämlich vor allem von dem „Bestreben“ geleitet, „sich seiner Vorstellungen [und damit auch seiner „Abstraktionen“] bewusst zu werden“ (VI 412); über ihren unmittelbar anthropologischen Status hinaus fungiert sie in geschichtsphilosophischem Kontext auch als unentbehrliche kritische Gegeninstanz zu allen mehr oder weniger subtilen Formen einer „Apperzeptionsverweigerung“ – insbesondere auch zu jener schon erwähnten „Geistesabwesenheit“ in der Gestalt „kultureller Amnesie“ sowie gegenüber der unerbittlichen Logik eines zukunftsfixierten „Über-Gräber-hinweg“. Muss bezüglich dieser Kennzeichnung der „Aufmerksamkeit“ nicht auch jener kantische Hinweis noch einmal besondere Bedeutung gewinnen (der dann auch auf jene Unterscheidung von „Gedächtnis und Erinnerung“ ein neues Licht wirft), wonach die „Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, … das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“ bestimmt (IV 249)? Derlei „Aufmerksamkeit“ wäre in dieser geschichtsphilosophischen Variation gewiss auch auf ein allzu großes „systematisierendes“ Interesse und einen allzu „zweckmäßigen Gebrauch“ der „historischen Kenntnisse“ durch unsere Vernunft in kritisch-selbstreflexiver Absicht gerichtet. Der in einer solchen „Aufmerksamkeit“ maßgebende vernunftgeleitete Zweck, „seine Vorstellungen mit Bewußtsein zu begleiten“, hat sein Augenmerk als kritische Instanz also vornehmlich darauf zu richten, dass das historische Interesse – d. h. seine „Wahrnehmung“ und seine „Narrative“ – es sich nicht allein an der „würdigste(n) Seite 120 Dieser „Aufmerksamkeit“ als „kritisches Erkenntnisvermögen“ fiele so auf diesem geschichtsphilosophischen Boden gerade jene Forderung der „Unterbrechung“ der die „Herrschaftsgeschichte“ bestimmenden „apperzeptionslogischen Gründe“ zu, gegen die W. Benjamins Geschichtsdenken ankämpft: „Das mit dem Herrschenden, dem Bestehenden konforme Geschichtsbild ist ein kontinuierliches, macht eine bruchlose Gestalt, eine regelmäßige Figur aus: es stellt eine gesetzmäßig verbundene Reihe von Ereignissen vor – die gerade Linie der Geschichte alles dessen, was erfolgt; der Erfolgsgeschichte, der Geschichte des unabgelenkten progressiven Verlaufs … Es ist die regelhafte Verlaufslinie stetiger Vervollkommnung in der Geschichte und der menschlichen Gesellschaft durch sie. Ja, sie zeichne den ehernen Gang aus Unfreiheit zur Freiheit vor, den zielsicheren Weltlauf zum Reich der Zwecke, der menschlichen Autonomie. Es ist ein verführerisches, ein glattes und in bestimmtem Sinne bequemes Geschichtsbild“ (Schweppenhäuser 1999, 101). Es wird sich noch zeigen, dass das geschichtsphilosophisch „aufgewertete“ Vermögen der „Aufmerksamkeit“ als kritische Instanz auch wichtige Aspekte jener „Freiheit der Kritik“ enthält, auf der auch in solcher Hinsicht nach Kant „sogar die Existenz [!] der Vernunft“ beruht (II 631).
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der Weltgeschichte“121 gelegen sein lassen (bzw. darauf nicht fixiert bleiben) kann, weil andernfalls von einem „Vernunft-Interesse“ und der gebotenen Rücksicht darauf, „was jedermann notwendig interessiert“, rechtens doch nicht die Rede sein könnte. Diese somit ebenfalls im Dienst jener kritischen „Oberaufsicht der Philosophie“122 (als der „Polizei im Reiche der Wissenschaften“: III 394) stehende Kultur der „Aufmerksamkeit“, ohne deren Sensibilität im Grunde auch gar nichts erfahrbar wird, hat so vor allem dafür wachsam zu bleiben, dass jener in Kants „Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ zugrunde gelegte geschichtsphilosophische „Leitfaden apriori“ mit seinen maßgebenden Prinzipien zuletzt nicht unversehens der – „cyklopischen“ – Anmaßung verfällt, auf geschichtsphilosophischem Terrain geltend zu machende Vernunftansprüche ausschließlich für sich zu reklamieren; denn dies liefe offenbar selbst auf eine „dogmatistische“ geschichtstheoretische Spielart hinaus, die so den Sinnhorizont der von der „menschlichen Vernunft selbst auferlegten Fragen“ unerlaubterweise einengte – genauer noch: dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ (V 609) solche Fragen geradezu abgewöhnen müsste. Dies wäre so gewissermaßen einer besonderen „Abstraktion“ (bzw. ihrem „Interesse“) zuzuschreiben, wogegen jene geschichtsphilosophisch aufgewertete und eingebundene „Aufmerksamkeit“ im Namen der „Selbsterhaltung der Vernunft“ ihren unbeirrbaren Einspruch erhebt. Die jenem Programm einer „Selbsterhaltung der Vernunft“ verpflichtete „Selbsterkenntnis der Vernunft“ wird sich also auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain zunächst einmal als die unumgängliche „Disziplin der Vernunft“ etablieren. Entsprechend der zu leistenden kritischen Prüfung der darin „narrativ“ maßgebenden „Leitfäden“ verfolgte dieser Gedanke einer notwendigen Selbst-„Disziplin“ auch ein unübersehbares „ideologie-kritisches“ Interesse.123 Dabei obliegt vornehmlich jenem eingesetzten „zwei121 F. Schiller 1922 VIII, 10. Schiller hat sich in seiner im Sommersemester 1789 gehaltenen Vorlesung über „Universalgeschichte“ (mit einem Abschnitt „Etwas über die erste Menschengesellschaft“) ausdrücklich auf Kant berufen – allerdings explizit auf dessen kleine Abhandlung „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“. 122 Refl. 2018, AA XVI, 197. Ohne eine solche „Aufmerksamkeit“ liefe die „praktische Vernunft“ auch hier in der Tat Gefahr, ein „fremdes Interesse“ bloß zu „administrieren“ (um diese freilich in einem anderen Kontext stehende Wendung Kants [IV 76] hier aufzunehmen). 123 So etwa auch gegenüber einer maßgebenden universalgeschichtlichen Perspektive, der „der höchste Grad des Pragmatischen die Vorstellung des allgemeinen Zusammenhanges der Dinge in der Welt (nexus rerum universalis)“ ist (J. Chr. Gatterer, Allgemeine historische Bibliothek. Halle 1767 f, I 85). „… sie wird im Grunde eine Geschichte der Menschheit: eine neue Art von Geschichte, die bisher meist von Philosophen bearbeitet worden, da sie Eigentum des Historikers ist; eine Sammlung von Begebenheiten, die nicht einzelne Nationen oder einzelne Klassen des menschlichen Geschlechts interessieren [!], sondern für den Weltbürger, den Menschen überhaupt [!] wichtig sind; eine Wissenschaft, die von ausgebreitetem Nutzen und sichtbarem Einfluß in die Psychologie, Politik Naturkunde und andere Wissenschaften ist“ (A. L. Schlözer, Vorstellung seiner Universalhistorie Göttingen und Gotha 1772, § 9f; Gatterer und Schlözer zit. n. P. Menzer 1911, 244). Und in Schlözers „Weltgeschichte nach ihren Hauptteilen im Auszug und Zusammenhang“ (Göttingen 1772, 1. Teil, 94) heißt es: „Aber die meisten Staaten sind unerheblich …, vorsätzlich bleiben sie also sämtlich aus dem System der Weltgeschichte weg, und werden nur für ihr Aggregat aufbehalten.“ – Auch Cheneval hat auf die „Ansätze zu einer kosmopolitischen Geschichtsbetrachtung“ bei Isaak Iselin, „vor allem aber bei August Ludwig Schlözer“ hingewiesen (Cheneval 2002, 507 f ). Er verweist auf Schlözers Vorstellung einer „Universal-Historie“, die dieser ausdrücklich als „Leitfaden“ verstanden wissen wollte, „welcher die ‚beständige Überschauung des Ganzen‘ der Geschichte erleichtert. Schlözer suchte in der Mannigfaltigkeit der Ereignisse eine systematische
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ten Auge“ der Philosophie die Aufdeckung und Analyse des vorherrschenden Interesses an der „Lesbarkeit“ der Geschichte und der hierfür maßgebenden „Leitfäden“,124 um daran auch die kritische Forderung der „Unterbrechung“ derselben zu knüpfen. Deren Absicht ist es, eine allzu rasch sich einstellende Gewöhnung an den symphonischen Wohlklang und den narrativ-romanhaften Fluss durchaus störungsbedacht mit „Leerzeichen“ und „Gedankenstrichen“ zu durchsetzen und nicht zuletzt auch verdeckte Leerstellen als solche zu identifizieren. Allein derartige geschichtsphilosophisch inspirierte „Eingriffe“ sind es, die so für jenes notwendige mikrologische Entziffern und Buchstabieren zu sensibilisieren vermögen, dieserart aber auch die allzu leicht ignorierten „Risse“ und „Schründe“ erst wahrnehmbar machen und gerade dabei hartnäckig auf der Klärung der Frage insistieren: „Was will man hier wissen?“ Die geschichtsphilosophische Relevanz jener kantischen These, dass die „Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, … das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“ bestimmt (IV 249), zeigt sich hier besonders deutlich. Einem solchen offenbar ideologie-kritisch inspirierten Vorhaben zufolge kann erst recht jenes „zweite Auge“ den in der von Kant „in weltbürgerlicher Absicht“ explizierten Geschichtstheorie zwar bestimmenden „Gesichtspunkt“ keinesfalls unbefragt lassen oder ihn gar als die letzt-maßgebende geschichtsphilosophische Perspektive akzeptieren. Vielmehr schärft dies den Blick für andere – wohl auch irritierende – Problemkonstellationen, die von dem Interesse an ihrer „Selbsterhaltung“ nicht ablösbar sind und auch das von Kant geltend gemachte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ nicht unberührt lassen. Damit entspricht solches Denken einer fundamentalen aufklärungsorientierten Aufgabe – nämlich der sorgsamen Aufmerksamkeit dafür, dass zwar durchaus legitime und auch unentbehrliche „Leitfäden“ und „Ideale“ nicht stillschweigend verabsolutiert werden und sich andernfalls wohl eher in bloße „Idole der Gattung“ verkehrten.125 Dagegen sind die Lichtstrahlen dieses gegenläufigen Vernunftinteresses vornehmlich darauf gerichtet, was in jener einäugigen Borniertheit und Ignoranz ausgeblendet bleibt bzw. ihr (in einem buchstäblichen Sinne) zum Opfer fällt (s. dazu u. II., 4.). Auch auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain mag sich die Aufgabe der „Selbsterkenntnis der Vernunft“ als besonders „beschwerlich“ erweisen. Einheit, die er nur dann gegeben sah, wenn die Welt als Ganzes und das menschliche Geschlecht als Gattung ihr Objekt ist. Was also die Geschichte für Schlözer von einem ‚Aggregat‘ zu einem ‚System‘ werden lässt, ist ein bestimmter kosmopolitischer Standpunkt“. Cheneval führt einen (mit Blick auf Kant) zweifellos aufschlussreichen Passus aus Schlözers „Vorstellung seiner Universal-Historie“ an: „Dieser mächtige Blick schafft das Aggregat zum System um, bringt alle Staaten des Erdkreises auf eine Einheit, das menschliche Geschlecht, zurück, und schätzet die Völker bloß nach ihrem Verhältnisse zu den grossen Revolutionen der Welt“ (Cheneval 2002, 510 f ) – eine Perspektive, die unvermeidlich Assoziationen zu Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ (näherhin deren „Neuntem Satz“) weckt. 124 In dieser kritischen geschichtsphilosophischen Transformation wäre Kants Kritik aufzunehmen, es sei „ungezweifelt gewiss, dass durch bloßes empirisches Herumtappen ohne ein leitendes Prinzip, wornach man zu suchen habe [!], nichts Zweckmäßiges [!] jemals würde gefunden werden; denn Erfahrung methodisch anstellen heißt allein beobachten“ (V 141). 125 Auch in diesen geschichtsphilosophischen Bezügen ist eben darauf zu achten, „was bei Kant eine Einheit bildet und die Größe seiner Kritik ausmacht: das Doppelprogramm von Legitimation und Limitation“ (Höffe 2003, 333).
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Wenn solcherart das „Gedächtnis, Erinnerung und Aufmerksamkeit“ innewohnende Sinn-Potenzial nicht nur bestätigt wird, sondern überdies eine sachliche Vertiefung erfährt, so schärft dies auch die „kritisch-subversive“ Kraft des „Eingedenkens“ gemäß jenem ent-sinnenden Er-innern. Dieses verdankt sich unzweifelhaft allein dem Tiefenblick jenes „zweiten Auges“ der Philosophie und seinem „Interesse-Nehmen“ und befähigt auch nur so zur er-innernden Wahrnehmung jener „Phänomene in der Menschengeschichte“ als Ereignisse, die nicht bloßes „Eräugnis“ bleiben. Schon deshalb kann sich das kritische „Auge der wahren Philosophie“ auch keineswegs mit dem bloßen Nachweis begnügen, dass „Gedächtnis, Erinnerung und Aufmerksamkeit“ als anthropologische Kategorien im Zusammenhang jener Leitfrage der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ sich als unentbehrlich erweisen für den in Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ maßgebenden „Leitfaden apriori“ und gleichermaßen für die in dieser geschichtsphilosophischen Perspektive leitende Fortschritts- und Hoffnungskonzeption.126 Jene von Kant geforderte Aufteilung der „Kultur des Erkenntnisvermögens“ in „Geschichte und Philosophie“ darf infolgedessen die unumgängliche Verortung von „Gedächtnis, Erinnerung und Aufmerksamkeit“ innerhalb dieses „Erkenntnisvermögens“ nicht vergessen lassen. Eine in kritischer Absicht unternommene geschichtsphilosophische Verortung dieser anthropologischen Kategorien „Erinnerung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit“ (und, wie sich noch zeigen wird, auch der Trauer, s. u. II., 4.1.1.) und die darin vollzogene Aufwertung derselben macht es demzufolge erforderlich, auch die Auskunft Kants: „Alle Kultur der Erkenntnisvermögen teilt sich in zwei Zweige auf: Geschichte und Philosophie“,127 auf das „geschichtliche Erinnern“ zu erweitern, das in differenzierten erkenntnisleitenden Gestalten sodann noch eine nähere Konkretisierung finden muss. In diesem Sinne impliziert eben der Hinweis auf die „Kultur der Erkenntnisvermögen“ in freilich differenzierter Weise jene vom „Weltbegriff der Philosophie“ untrennbare Aufgabe, „Moral mit der Kenntnis der Menschheit zu verbinden“. Die nachfolgenden Überlegungen sollen es noch bestätigen: Es spricht also einiges dafür, diese aus einer derartigen Selbstkritik resultierenden Forderungen ebenso gegen ein Selbstmissverständnis der „historischen Vernunft“ in Anschlag zu bringen; dies gilt jedenfalls dann, wenn diese (so wie auch „Eingedenken“ und „Trauer“) unversehens einer zunehmend perfektionierten, d. h. maschinenhaft automatisierten, unbegrenzten Abrufund Verfügbarkeit von Datenmaterial assimiliert werden und durch deren unerschöpflich reproduzierbare Kapazitäten letztendlich auch verlässlich als ersetzbar erscheinen: Manifestiert sich darin jene von Kant als „Mangel der Aufmerksamkeit auf das Gegenwärtige“ (VI 490) charakterisierte „Geistesabwesenheit“ nicht in einer besonders unauffälligen (weil „szientifisch getarnten“) Gestalt? Auch in diesem thematischen Kontext bleibt Kants Diagnose bzw. Mahnung erinnernswert, dass es „recht bequem“ sei, „Gedächtnis“, „Verstand“, „Urteilskraft“ und Gewissen an entlastende Instanzen delegieren zu können: „Ich 126 Besondere Aspekte dieser „pragmatischen Anthropologie“ und ihrer Leitfrage sind in ihrer geschichtsphilosophischen Relevanz vielleicht auch im Sinne einer kritischen Differenzierung des sogenannten Vico-Axioms „verum et factum convertuntur“ zu lesen. 127 AA XXI, 115.
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habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen“ (VI 53). Gehört doch gerade zu jener geforderten „Selbsterkenntnis der Vernunft“ die Kritik an einer „cyklopischen Gelehrsamkeit“ sowie die daran geknüpfte Forderung, dass „Moral … mit der Kenntnis der Menschheit verbunden werden“ müsse; ferner das kritische Bewusstsein davon, dass es nicht nur „rational“, sondern wohl eher „rationell“ – und d. h. gleichermaßen bequem – ist, neben „Verstand und Gewissen“ ebenso „Gedächtnis, Erinnerung“ und auch „Trauer“? – an erinnerungsund trauerverwaltende Instanzen (an „eine Art beamteter memoria“128 gewissermaßen) und deren Dienstleistungen zu delegieren; ein solches Verfahren unterstützt somit selbst stillschweigend lediglich ein „Erinnern als organisierte Amnesie“ (J. Kafka). Kants Hinweis: „Der Gemütsanteil macht den Grund der Erinnerung aus“129 darf – und muss – auch im Sinne einer umfassenden Kennzeichnung des „Gemüts“ verstanden werden, das in solcher Hinsicht als „Vernunft, Herz und Gewissen“ (IV 813) umgreifend und als menschliche „Existenz“ konstituierend gedacht werden muss. Jene von Kant als „aufklärungs-widrig“ entlarvte arbeitsteilige Bequemlichkeit wäre also noch um eine wesentliche Facette bereichert: Nicht nur wäre es bequem, ein Buch und einen Geistlichen bei der Hand zu haben, an die man getrost Verstand und Gewissen delegieren könnte; gleichermaßen wäre es entlastend (und wissenschaftlich womöglich unüberbietbar „effizient“), auch über eine für Erinnern und Trauer zuständige wissenschaftliche Historie zu verfügen, die als „Registrierapparat des Gegebenen“130 und auto128 Ich übernehme diese treffliche Bezeichnung von Hans Blumenberg (1989, 34), die bei ihm freilich in einem ganz anderen Kontext steht. 129 Refl. 375, AA XV, 149. – Goethe stand dieser Zusammenhang jedenfalls deutlich vor Augen: „Wo der Anteil [somit das Inter-esse nehmen] sich verliert, verliert sich auch das Gedächtnis“ (Goethe 1907, 34, Nr. 192). 130 Adorno hat die derartige, „historischem Bewusstsein“ immanente Tendenz klar benannt: „Das geschändete Leben wird auch noch im Triumphauto der vereinigten Statistiker mitgeschleppt, und selbst das Vergangene ist nicht mehr sicher vor der Gegenwart, die es nochmals dem Vergessen weiht, indem sie es erinnert“ (Minima Moralia Nr. 25: „Nicht gedacht soll ihrer werden“). – Hier ist auch an Adornos Wort „Über Tradition“ zu erinnern: „Inhuman aber ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die geschichtliche Spur an den Dingen, Worten und Tönen ist immer die vergangenen Leidens. Darum stellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit“ (Adorno 1977, 315). Darin manifestiert sich der drohende Rückfall in die Unkultur gerade innerhalb zunehmender „Kultivierung“, dergestalt hielte stillschweigend Unkultur in der Kultur Einzug, die den „pragmatischen Imperativ“, „den Menschen zu seinen Zwecken zu gebrauchen“, als letzten Maßstab anerkennen wollte und ihn so geschichtsphilosophisch auf subtile Weise zur Anwendung bringt. Dies zeigt sich auch darin, dass stets Sieger Geschichte schreiben – Verlierer erinnern sie nicht, sondern bleiben daran verwiesen bzw. darauf angewiesen, dass eine kritische Geschichtsphilosophie den Verstummten Gehör, Erinnerung und Stimme gibt. Dass wir durch „Kunst und Wissenschaft in hohem Maße kultiviert“ sind (VI 44), wäre in Anbetracht dieses Rückfalls gleichermaßen zu bestätigen und zu dementieren – es wäre ein gewissermaßen durch habitualisiertes „Cyklopentum“ ausgelöster Rückfall in Unkultur in (und mit den fortgeschrittensten Mitteln) der Kultur. Auch in dieser besonderen Hinsicht ist die Kritik der Vernunft und die gebotene „Selbsterkenntnis“ derselben immer auch „Kritik der Kultur“ (Cassirer) und an deren Welt- und Selbstverhältnissen. Sie entzündet sich nicht zuletzt an der zunehmend perfektionierten „larvierten, sublimierten Trauerarbeit, die selbst die nüchternste Geschichtswissenschaft noch vollzieht, wenn es stimmt, dass sie vergangenem Leben in den Archiven gleichsam ein Grab schaufelt, um es endlich ganz und gar Vergangenheit sein zu lassen“ (so Liebsch [2006, 165], mit Verweis auf Ricoeurs Werk „Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“. München 2004).
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matisierte „Erinnerungsmaschinen“131 Vergangenheit als Material verlässlich bewältigte, d. h. „inventarisierte“ und anlassfertig von austauschbaren „Subjekten“ abrufbar hielte. Demgegenüber ist es geradezu ein den „Weltbegriff der Philosophie“ belebender Anspruch, der Logik und szientistischen „Logistik“ eines derart in unüberbietbarer Exaktheit (in „Reih’ und Glied“) funktionierenden Räderwerkes gleichsam in die Speichen zu greifen und somit auf eine angemessene, d. i. nicht reduktionistische Charakterisierung der spezifischen „Erfahrungsqualität des Historischen“ abzuzielen. Nicht zuletzt dafür erweisen sich „Gedächtnis, Erinnerung“ und auch „Trauer“ als unentbehrlich und verleihen so jener geforderten Verknüpfung: „Die Moral muss mit der Kenntnis der Menschheit verbunden werden“ noch einen besonderen Akzent. 2.1.2. Die geschichtsphilosophisch akzentuierte Aufgabe, „Moral mit der Kenntnis der Menschheit“ zu verbinden und die Forderung einer „Selbsterkenntnis“ der historischen Vernunft Eine bloße Konsequenz aus dem Gesagten ist dann wohl dies: Dass man zwar „einem jeden Vermögen des Gemüts … ein Interesse beilegen“ kann und die „Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, … das Interesse aller Gemütskräfte“ bestimmt (IV 249), besagt für den in geschichtsphilosophischen Belangen gleichermaßen sensiblen „Gerichtshof der Vernunft“132 ebenso, dass eine vernünftige Bestimmung von Geschichte sich nicht in bloßer Historiographie erschöpfen kann; wohl auch in solcher (obgleich entsprechend modifizierter) Hinsicht muss diesbezüglich gelten, dass es doch die „Gesetzgebung der Vernunft“ ist, die „dem Verstand die Regel gibt“. Die von Kant – vornehmlich in seinem „Weltbegriff der Philosophie“ – eingeforderte „Selbsterkenntnis der Vernunft“ sowie die daran geknüpfte Beziehung aller Wissenschaft auf die „höchsten Zwecke“ des Menschen weisen durchaus in diese Richtung. Für eine kritische Geschichtsphilosophie ist damit zweifellos die Herausforderung verbunden, auch auf diesem geschichtsphilosophischen Gebiet den „mikrologischen Blick“ gegenüber dem schonungslosen Zugriff des „subsumierenden Oberbegriffs“133 zu schärfen und ihn, gemäß dem in „moralischen Ideen“ begründeten „Interesse der Vernunft“, unter gewandelten Vorzeichen in einem „Streit der Fakultäten“ – insbesondere mit einer positivistisch reduzierten Geschichtswissenschaft und ihrer Forschung „in Reih’ und Glied“ – zur Geltung zu bringen.134 In diesem Sinne 131 Liebsch 2006, 192. 132 Es ist dies freilich ein „Gerichtshof der Vernunft“, deren Subjekt die „societas generis humanae“ ist und in dem sich die „teleologia rationis humanae“ widerspiegelt (vgl. zu diesem kantischen „Gerichtshof“ Brandt 2007a, 271–349; der Bezug auf diese stoische Idee der „societas“: 328). Darin bestätigt sich lediglich in geschichtsphilosophischer Akzentuierung, dass das Unternehmen einer „Kritik der reinen Vernunft“ als eine eigenständige Sektion auch einen „obersten Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche“ – nicht nur derjenigen der „Spekulation“ (II 582) – verlangt. 133 Adorno 1966, 400. 134 Dies wäre gewissermaßen das unaufgebbare Pendant zu jenem von Kant kritisierten Missstand, „daß eine grobe Vernachlässigung der studierenden Jugend vornehmlich darin bestehe, daß sie frühe vernünfteln lernt, ohne gnugsame historische Kenntnisse, welche die Stelle der Erfahrenheit vertreten können, zu besitzen“ (I 915).
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wäre deshalb auch Kants Kritik an einem vernunftlosen „Barbarism der Gelehrsamkeit“ zu erweitern.135 Jene von Kant eingeforderte, auch bezüglich der Geschichtswissenschaft höchst relevante „Selbsterkenntnis der Vernunft“ bzw. die Selbstreflexion auf die leitenden Absichten und Zwecke der Wissenschaft macht wiederum seine Sensibilität für die Notwendigkeit sichtbar, das darin dargelegte historische Wissen gleicherweise auf die Idee des „Endzwecks der Vernunft“ zu beziehen, den Kant als die „ganze Bestimmung des Menschen“ ausgewiesen hat – „und die Philosophie über dieselbe heißt Moral“ (II 701). Ein geschichtsphilosophischer Zugang dieser Art und dessen leitendes Interesse an Aufklärung ist also vornehmlich in dem aufmerksamen „mikrologischen Blick“ und seiner besonderen „Tiefenwahrnehmung“ begründet. Er ist es auch, der sich als unumgängliches Korrektiv gegenüber einer quasi naturwüchsig-dominanten „Erkenntnis, die aufs Große, d. i. Ganze im Gebrauch des Verstandes [!] geht“ (III 475), und deren fataler „Einäugigkeit“ erweist, wobei dieser gegenüber jener maßgebenden „Erkenntnis, die aufs Große … geht“, eingeforderte „mikrologische Blick“ selbst einem unabweislichen praktischen Vernunftinteresse seine besondere Tiefenschärfe verdankt. Der zweifellos über seinen bloß logischen Gehalt hinausweisende Grundsatz der „Selbsterhaltung der Vernunft“, die sich ebenso wenig in dem bloßen Vermögen der „Kultivierung“ bzw. der „Zivilisierung“ erschöpft, darf deshalb auch nicht mit jener von Kant andernorts als „grüblerische Peinlichkeit und unnütze Genauigkeit in Formalien“ gekennzeichneten „Mikrologie“ (III 472) verwechselt oder als erkenntnishemmende „Subtilität im Kleinen“ (III 475), d. h. als „Kleinigkeitskrämerei“ (VI 575), abgetan werden; vielmehr erweist sie sich gerade auf diesem Felde für jene Bestimmung der Vernunft als des „Vermögen(s), die Verknüpfung des Allgemeinen mit dem Besonderen einzusehen“ (VI 731), geradezu als unentbehrlich. Für die Orientierung an der „Geschichte … der Menschengattung im Großen“ bleibt jener „mikrologische Blick“ ein unentbehrliches Instrument – und gegebenenfalls auch ein Korrektiv –, das auch noch einmal das Bewusstsein schärft für jenes „Vergessen“ als „Wegschneiden“ dessen, „was man nicht brauchen kann“ (Kierkegaard).136
135 Refl. 2018, AA XVI, 197. – Brandt (1999, 331) gibt die kritische Intention Kants wohl präzis wieder: „Der Nachteil bloßer Historie ist ihre pure Anhäufung von Material; der Nutzen ist, dass sie den Stoff für Vernunftzwecke liefert“ – nur dürfen diese an der „Idee der Menschheit“ orientierten „Vernunftzwecke“ nicht zu eng gefasst werden. 136 Es liegt in diesem Zusammenhang nahe, auch die (nicht psychologisch verkürzte) Kennzeichnung der „Aufmerksamkeit“ – bestimmt in der Doppelgestalt des „Aufmerkens“ und des „Absehens“ als das „Bestreben“, „sich seiner Vorstellungen bewusst zu werden“ – mit dieser Bemerkung Kierkegaards über das Vergessen zu verbinden: „Das Vergessen ist die Schere, mit der man wegschneidet, was man nicht brauchen kann, wohlgemerkt unter allerhöchster Aufsicht der Erinnerung“ (1960, 343). – Mag sein, dass sich der Erinnerung an diese Notiz Kierkegaards auch noch die – geschichtsphilosophisch zu akzentuierende – Bemerkung Adormos gegen die „Erbsünde der prima philosophia“ verdankt: „Um nur ja Kontinuität und Vollständigkeit durchzusetzen, muss sie an dem, worüber sie urteilt, alles wegschneiden, was nicht hineinpasst“ (GS 5, 18). Nur nebenbei sei gegen eine einseitige Lesart dieses Adorno-Diktums jedoch darauf hingewiesen, dass diese Kritik sich nur auf die Vorherrschaft des „abstrakt Allgemeinen“ bezieht, das sich am Modell der „Subsumtion“ orientiert; demgegenüber war kritische Metaphysik selbst stets Anwalt des „konkret Allgemeinen“ und des „Individuellen“, das sich selbst solcher Herrschaft des „Subsumierens“ entzieht und sich dessen Abstraktionen verweigert bzw. diese korrigiert.
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Schon daraus wird deutlich: Jenes für diese erforderliche „Selbsterkenntnis“ der Wissenschaften von Kant reklamierte „zweite Auge“ – „(d)as zweite Auge ist also das der Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft, ohne welches wir kein Augenmaas der Größe unserer Erkenntnis haben“137 – sowie sein Hinweis auf die nötige „Kultur der Erkenntnisvermögen“, die „sich in zwei Zweige auf(teilt): Geschichte und Philosophie“, müssen sich in diesen geschichtsphilosophischen Bezügen vor allem auch dafür sensibel zeigen, dass eine an einem unreflektiert bleibenden (und infolgedessen verkürzten) Wissenschaftsideal orientierte Geschichtswissenschaft den Stellenwert von „Erinnerung, Gedächtnis und Trauer“ vollends aus den Augen verlieren muss bzw. diese Kategorien „psychologisch“ unterbelichtet lässt. Damit freilich fördert sie selbst unversehens – und womöglich mit dem Anspruch höchster Wissenschaftlichkeit – genau jene naturwüchsige Tendenz, der zufolge „die Zeit im Zwielicht ihr Gedächtnis verliert“,138 und stellt sich so selbst unfreiwillig in den Dienst des „Stroms des Vergessens“, wogegen die „Pflicht des Erinnerns“ Widerstand leistet. Deshalb besteht die Aufgabe einer kritischen Geschichtsphilosophie diesen Maßstäben zufolge vorrangig auch darin, gegen deren methodisch gut eingeübte bzw. legitimierte Kunst des „Vergessens des Vergessens“ (E. Casey) anzukämpfen, wofür jene geschichtsphilosophisch sensibilisierte „Aufmerksamkeit“ unverzichtbar ist. Gerade darin weiß sie sich der kritischen Einsicht verpflichtet, dass die dem „Weltbegriff der Philosophie“ und ihrer „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft“ (II 700) zugedachte Ausmessung des menschlichen Vernunftraumes desgleichen auf „die Beurteilung und Bestimmung dessen“ abzielt, „was der Mensch wissen kann, was er wissen darf und was er wissen soll [!]“ (III 466).139 Eine kritische Absicht dieser Art ist deshalb, im Sinne jener geforderten „Selbsterkenntnis der Vernunft“, wohl auch für Kants bemerkenswerte programmatische „Kritik [!] der Vernunft, der Geschichte und historischen Schriften“ in Anschlag zu bringen,140 zumal andernfalls, d. i. in Ausblendung dieser Aspekte, der hohe Anspruch eines umfassenden Konzepts der Vernunftkritik nicht nur uneingelöst bliebe, sondern auch Gefahr liefe, von fremden Interessen überdeckt zu werden. Auch in diesem Problemfeld wird für das Programm einer Vernunftkritik die Frage unabweislich: Gibt es eine in solcher Vergessenheit wurzelnde „Vermessenheit“ nicht auch in der Geschichtsphilosophie – und impliziert dies nicht ebenso die Aufforderung, „sie zu dem schweren Geschäft der Kritik der Ver-
137 Refl. 903, AA XV, 394 f. 138 Nelly Sachs, In ihren Schlafleibern. In: Fahrt ins Staublose. Gedichte. Frankfurt/Main 1961, 368. In seinem Aufsatz „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ spricht Adorno von dem „Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung“ (Adorno 1971, 13). 139 Diese wiederum den „Weltbegriff der Philosophie“ als „Wissenschaft von den letzten Zwecken“ (III 446) voraussetzende Bestimmung impliziert jene schon erwähnte Kritik an einer bloß „gigantischen [historischen] Gelehrsamkeit“. Kants Bestimmung des „praktischen Horizonts“ erweist sich in diesem Kontext als besonders bedeutsam – sofern dieser „bestimmt wird nach dem Einflusse, den ein Erkenntnis auf unsre Sittlichkeit hat“ (III 466). 140 Freilich stellt sich hier die schwierige geschichtsphilosophische Aufgabe, die verschiedenen Ebenen der „privaten Erinnerung“, des „kulturellen Gedächtnisses“ eines politischen Gemeinwesens und der Ansprüche einer kritischen Geschichtsschreibung genau zu differenzieren und zueinander in Beziehung zu setzen.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
nunft selbst zu bewegen“ (IV 338), d. h. die „schlummernde Vernunft aufschrecken“141, sie „stutzig zu machen“ und so zur „Selbstprüfung zu nötigen“ (IV 341, Anm.)? Denn zweifellos besteht ebenso auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain die Gefahr eines „dogmatischen Schlummers“, der auch hier ohne Prüfung bzw. Legitimation der „Prinzipien“ auskommen will. Indes, auch ohne eine geschichtsphilosophische Version dieser gebotenen „Disziplin der reinen Vernunft“ wäre auf diesem Territorium die Gefahr eines „Dogmatismus“ der besonderen Art – gerade auch im Sinne eines noch maßstablosen „history tells stories“ – wohl sehr groß und müsste jenes über die gebotene „Selbsterkenntnis“ vermittelte Programm einer „Selbsterhaltung der Vernunft“ geradewegs in Frage stellen. Schon deshalb muss sich auch Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ im Sinne einer kritischen Prüfung der maßgebenden „Weltperspektiven“ daraufhin befragen lassen, ob sie – in solcher Beschränkung – ungeachtet der ausgewiesenen „Rechtfertigung ihres Leitfadens“ damit dem kritischen „quid juris?“ schon zu genügen vermag; sein Verweis auf den unverzichtbaren geschichtsphilosophischen „Gedanke(n) von dem, was ein philosophischer Kopf … noch aus einem anderen Standpunkte versuchen“ (VI 50) müsste, wäre so auch in einem gegenläufigen Sinne aufzunehmen.142 Als „polemisch“ wäre ein solcher „Gebrauch der reinen Vernunft“ vielleicht insofern zu bezeichnen, als es ihm zwar nicht um die „Verteidigung“ von Vernunftansprüchen gegen „dogmatische Verneinungen“, sondern eher darum geht, gegenüber dogmatistisch verwurzelten und methodisch verfestigten „Abstraktionen“ und darauf beruhender Ignoranz auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain erst einmal gegenläufige Vernunftansprüche selbst ins Blickfeld zu rücken und als solche gegenüber „szientistischen“ Bestreitungen einer sich selbst missverstehenden Geschichtstheorie zu verteidigen. Auch wenn sich zunächst für jene geschichtsphilosophische Version einer „Selbsterkenntnis der Vernunft“ eine Kritik an einem bloß „historisierend“-wissenschaftlichen, „erinnerungs-vergessenen“ Umgang mit der Geschichte zweifellos als eine vorrangige Aufgabe erweist, so lenkt der „negative Grundsatz“, wonach „öfter der, so an Kenntnissen überaus reich ist, im Gebrauche derselben am wenigsten aufgeklärt ist“ (III 283, Anm.), darüber hinaus den Blick sodann auf eine geschichtstheoretisch motivierte „gänz-
141 AA XX, 319. 142 S. dazu u. II., 3. Die Klärung – d. i. die Einsicht in die Rechtmäßigkeit, aber auch in die Grenzen – der je eigenen (individuellen oder auch kollektiven) Perspektive(n) bzw. ihrer Interessen wäre vor dem Hintergrund eines differenzierten „Weltbegriffs der Philosophie“ und des darin zu explizierenden „Vernunftinteresses“ vor allem auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain eine besondere Aufgabe; F. Kaulbach hat sie als die notwendige Behebung des Defizits beschrieben, „dass sich die Parteien über ihren eigenen Perspektivengebrauch nicht im klaren sind; es fehlt ihnen an der Methode der bewussten und motivierten Wahl des Standpunktes und der ihm entsprechenden Perspektive“ (Kaulbach 1981, 200). Besonders auch für eine kritische Geschichtsphilosophie und ihre Orientierung am „Weltbegriff der Philosophie“ ist Kaulbachs Feststellung aufzunehmen: „Philosophie verwaltet in der Gestalt juridischer Vernunft die Sache der Menschheit; denn sie versucht, in einer Selbstgesetzgebung und Rechtsprechungspraxis die Vielheit der philosophischen Positionen und Weltperspektiven in den Zusammenhang der Gedankenarbeit an der Erfüllung des allen Menschen gemeinsamen Bedürfnisses nach Weltorientierung und Sinngebung einzuholen“ (ebd. 236).
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liche Veränderung der Denkungsart“,143 die für einen umfassend bestimmten „Weltbegriff der Philosophie“ ebenso unverzichtbar ist. Dabei bleibt, wie erwähnt, die leitende Intention jenes „negativen Grundsatzes“ engstens mit dem „Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung“,144 verknüpft; sie ist freilich nicht auf den bloß „logischen Gebrauch der Vernunft“ zu reduzieren, sondern an eine durchaus differenzierte Idee einer „teleologia rationis humanae“ gebunden. In diesem geschichtsphilosophischen Kontext bedeutet dies zunächst, dass die (auf jenen besonderen „polemischen Gebrauch der Vernunft“ abzielende) Rücksicht darauf, wonach „die Existenz der Vernunft … kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist“ (II 631), zunächst durchaus auf jenen geschichtsphilosophischen „weltbürgerlichen“ Gesichtspunkt bzw. auf das darin leitende Interesse zu beziehen ist, „was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben“ (VI 50). Von dem hierfür in solch „weltbürgerlicher Absicht“ geltend zu machenden „VetoRecht“ bleibt indes noch ein anderes geschichtsphilosophisches Interesse und eine darin verankerte Perspektive zu unterscheiden (s. u. II., 3.). Näherhin wird sich zeigen: Darin weist jenes davon unterschiedene Interesse bzw. „ursprüngliche Rechte der menschlichen Vernunft“, „welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder [!] seine Stimme hat“ (II 640), darüber hinaus noch auf eine geschichtsphilosophische Dimension, die sich in jener „weltbürgerlichen Perspektive“ und in dem darin maßgebenden Interesse der „späten Nachkommen“ nicht nur nicht erschöpft, sondern in gewisser Weise geradezu in einer direkten „Gegenläufigkeit“ dazu steht, zumal sich in deren Aufweis ein besonderer „polemischer Vernunftgebrauch“ doch erst Gehör verschafft. Es ist gerade jene „allgemeine Menschenvernunft“, worin „ein jeder seine Stimme hat“, die über jenes bloße „Veto-Recht“ freier Bürger hinaus einen Anspruch erhebt, der noch eine andere geschichtsphilosophische Perspektive fordert, wenn doch das „ursprüngliche Recht der menschlichen Vernunft“ eine bloße Beschränkung auf diese „weltbürgerliche Absicht“ zweifellos verbieten muss. Andernfalls wäre der Rekurs auf eine „Selbsterhaltung der Vernunft“ ebenso wenig aufrechtzuerhalten wie jene auf „praktische Vernunftideen“ gestützte „Erweiterung des Vernunftgebrauchs“. Dieser Bezug auf die „Selbsterhaltung der Vernunft“ legt eine geschichtsphilosophische Lesart schon deshalb nahe, weil diese mit dem „Interesse der Menschheit“ verwobenen Fragen nicht auf diejenige nach dem möglichen „Fortschritt zum Besseren“, d. i. auf die für die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ bestimmende Perspektive des praxis-orientierenden Zukunftsbezugs, reduziert werden dürfen. Ebendies, so wird sich nämlich zeigen (s. u. II., 3.4.), liefe zuletzt auf eine Preisgabe der „Menschheitsidee“ hinaus. Letztere verdankt sich ja im Grunde der selbstbehauptungs-fixierten Verweigerung einer Rechenschaft darüber, ob denn diese maßgebende 143 Kants Brief an M. Herz v. 11.5.1781: AA X, 268 ff, hier: 269. 144 Refl. 1509, AA XV.2, 823. Dieser „Grundsatz der Vernunft“, in dem sich in der Tat ein „Vertrauen der Vernunft auf ihre Vernünftigkeit“ (Fleischer 2009, 246) zum Ausdruck bringt, resultiert aus der durch ihr „Zutrauen zu sich selbst“ gewonnenen Selbstdisziplinierung der Vernunft (II 670) und dem darin überwundenen „Misstrauen der Vernunft gegen sich selbst“; es ist dies gewissermaßen das „sich vollbringende Misstrauen der Vernunft gegen sich selbst“ in einer kantischen Lesart.
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Perspektive auch „aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt)“ aufrechterhalten werden kann, d. h. der Mensch dieserart „über sein eigenes Urteil reflektiert“ (V 391)? Dass sich die Forderung, „an der Stelle jedes andern zu denken“, d. h. einen „allgemeinen Standpunkt“ einzunehmen (im Sinne einer „erweiterten Denkungsart“) als eine nicht preiszugebende Maxime der Aufklärung erweist, verdient in diesem geschichtsphilosophischen Kontext gesteigerte Aufmerksamkeit, verlangt jedoch auch eine besondere Akzentuierung: ohne sie könnte jedenfalls weder von einem an der „Idee der Menschheit“ orientierten „Interesse der Vernunft“ die Rede sein, noch wäre so der Forderung, „mit sich einstimmig“ zu denken, zu genügen. Solch eine allein durch ihre kritische „Selbsterkenntnis“ gewährleistete „Selbsterhaltung der Vernunft“ ist es also, die, einem hinreichend differenzierten „Weltbegriff der Philosophie“ gemäß, die Einseitigkeit einer bloß zukunftsbezogenen Fixierung auf die geschichtsphilosophische „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ überwinden lässt.145 Eine Geschichtsphilosophie, die jene angezeigten Problemaspekte vernachlässigen oder gar überhaupt ignorieren wollte, bliebe in solcher „Einäugigkeit“, ungeachtet ihres universalgeschichtlichen Anspruchs, eigentümlich „unvernünftig“; infolge dieses Versäumnisses könnte sie jedenfalls genau dasjenige nicht leisten, was Kant selbst – im Sinne einer von der „Oberaufsicht der Philosophie“ gefordeten kritischen Selbstreflexion – für seine geschichtsphilosophischen Bemühungen ausdrücklich beansprucht hat und was auch für ein dahingehend akzentuiertes Programm der „Selbsterhaltung der Vernunft“ maßgebend bleiben muss: nämlich jene „Kritik der Vernunft, der Geschichte und historischen Schriften“ (III 469).
2.2. Die dem „zweiten Auge“ der „wahren Philosophie“ verdankte Legitimation und Limitation geschichtsphilosophischer „Leitfäden“ und Perspektiven Jene Forderung Kants, dass „Moral … mit der Kenntnis der Menschheit verbunden werden“ müsse, sowie die gebotene Aufwertung der Kategorien „Gedächtnis“ enthält selbst ebenso eine Kritik an einer „vernunft-losen“ „gigantische(n) Gelehrsamkeit“, „die doch oft zyklopisch ist, der nämlich ein Auge fehlt: nämlich das der wahren Philosophie, um diese Menge des historischen Wissens, die Fracht von hundert Kamelen, durch die Ver145 Brandt (2007a, 181) verweist nicht nur auf die „im Hellenismus entwickelte Universalgeschichte“, sondern stellt bezüglich der an diese Tradition anschließenden Idee der kantischen Geschichtsphilosophie als deren Absicht fest, „das Totum der Geschichte als vernünftig erschließbar“ zu behandeln: „die nicht in ihren Fakten zu erzählende, sondern in ihrer Vernunftbestimmung notwendig verlaufende und erkennbare Geschichte der Gattung Mensch ist das Thema dieser neuen Disziplin“ (ebd. 181). Freilich, gerade der Sachverhalt, dass der Mensch „in diesem Totum als Doppelwesen und als Täter und Opfer erscheinen“ wird (ebd. 182), erfordert eine gegenläufige Perspektive, zumal eine bloß einseitige Orientierung an der „Gattung Mensch“ und deren „Vernunftbestimmung“ jene „cyklopische“ Gefahr in sich birgt; darauf zielt auch eine „Kritik der historischen Schriften“ ab, wenn es doch das „zweite Auge der Philosophie“ verbietet, die Kehrseite jener „Vernunftbestimmung“ auszublenden.
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nunft zweckmäßig [!] zu benutzen“ (VI 546 f ).146 Wohlgemerkt: Nicht etwa wurde von Kant mangelnde Vollständigkeit oder Präzision der Daten beanstandet, sondern ein notwendiger Perspektivenwechsel und die dadurch erst eröffnete „Selbsterkenntnis der Vernunft“ sind es vielmehr, die er allein von dem „zweiten Auge“ der kritischen Philosophie einfordern bzw. ihm auch zutrauen wollte. Weil ohne derartige „herculische Arbeit der Selbsterkenntnis der Vernunft“ auch dem „Grundsatz der Vernunft: ihre(r) Selbsterhaltung“, auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain nicht zu genügen ist, fordert solcherlei „Selbsterkenntnis“ desgleichen eine geschichtsphilosophische Akzentuierung147 – und zwar auf eine Weise, die das sachliche Gewicht jener Unterscheidung zwischen dem gegenüber normativen Ansprüchen indifferenten „vernünftigen Wesen“ und dem moralfähigen „Vernunftwesen“ (IV 550) bzw. ihrer maßgeblichen „Zwecke“ auch für diesen Kontext sichtbar zu machen vermag. Eingebunden in diesen geschichtsphilosophischen Rahmen impliziert jene Unterscheidung zwischen „bloß vernünftige(m) Wesen und Vernunftwesen“ nunmehr auch, dass die verschiedenen Funktionen historischen Bewusstseins in einem unablöslichen Bezug zum geschichtlichen Bewusstsein als „Erinnerung“ stehen, zumal historisches Bewusstsein sich keinesfalls auf die bloße Dokumentations-, Interpretations- und Erziehungsfunktion reduzieren lässt.148 Wenn wohl auch dieser Aspekt in dem kantischen Programm einer „Kritik der Geschichte und … historischen Schriften“ und ebenso in seinem Hinweis auf die Aufgabe, „seiner Wissenschaft die Stelle im Horizont der gesamten Erkenntnis zu bestimmen“, mitzuhören bleibt,149 so lässt Kants programmatisch angezeigte „Kritik der Vernunft, der Geschichte und der historischen Schriften“ in dieser Hinsicht auch eine dreifache Stoßrichtung erkennen: Sie zielt zunächst wohl auf eine kritische Prüfung und Rechtfertigung der zugrunde liegenden „Leitfäden“ sowie auf die daran geknüpften Ansprüche ab, „Erfahrung methodisch zu machen“; die Erhellung der darin zugrunde liegenden „praktischen Vernunftprinzipien“ verbindet sich dabei mit einer besonders wachsamen „Aufmerksamkeit“ für die Art und Weise(n), wie die „Geschichte Geschichten erzählt“; und nicht zuletzt ist es die unverzichtbare kritische Besinnung auf den Wissenschafts- und Objektivitätsanspruch der Geschichtswissenschaft, die sich nicht selten von einem unreflektierten „Wissenschaftsideal“ blenden lässt und infolgedessen der Auffassung folgt, ihre Wissenschaftlichkeit ohne – und als „Verstandeserkenntnis“ womöglich geradewegs im Verzicht darauf! – Rekurs auf praktische Vernunftprinzipien (Vernunftideen) oder in einäugiger Fixierung derselben behaupten zu können.
146 Dass Kants „Weltbegriff der Philosophie“ selbst sich an der Aufgabe jenes „zweiten Auges“ orientiert, zeigt auch seine These: „Die Philosophie ist das zweite Auge und sieht, wie die gesammelten Kenntnisse des einen Auges zum gesamten [!] Zweck stimmen“ (AA XXIV, 818) – ein Anliegen, das ja auch seiner Idee einer „anthropologia transcendentalis“ zugrunde liegt; von den noch zu verfolgenden „gegenläufigen Perspektiven“ kann dieses „zweite Auge“ indes nicht „abstrahieren“. 147 Auch insofern lässt sich durchaus in differenzierter Weise geltend machen, dass Kants Geschichtsphilosophie „im Einklang mit den in seinen Kritiken entwickelten Prinzipien steht“ (Landgrebe 1968, 47 f ). 148 Vgl. dazu im Einzelnen Rüsen 1996, bes. 67 ff. 149 Beide von Kant in Refl. 1998 (AA XVI, 189) benannten Aspekte wären hier gemeinsam aufzunehmen.
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2.2.1. Die in Kants Programm einer „Kritik der Vernunft, der Geschichte und der historischen Schriften“ implizierte Distanzierung von einer positivistischen Geschichtswissenschaft Jene kantische Ansicht, dass die „Kultur des Erkenntnisvermögens … sich in zwei Zweige auf(teilt): Geschichte und Philosophie“, gewinnt nun vor allem auch hinsichtlich jenes schon erwähnten aufklärungsorientierten „negativen Grundsatz(es) im Gebrauche seines Erkenntnisvermögens“ einen präzisen Sinn, wonach „öfter der, so an Kenntnissen überaus reich ist, im Gebrauche derselben am wenigstens aufgeklärt ist“ (III 283, Anm.). In Abwehr eines drohenden „szientistischen“ Selbstmissverständnisses der Historie erhält Kants Hinweis auf den Status und den Wert „historischer Kenntnisse“ in diesem geschichtsphilosophischen Rahmen geradezu einen mahnenden Unterton: „Denn ein System ist der Zusammenhang vieler Erkenntnisse nach einer Idee. Unsere historische Kenntniße nützen dazu, dass unsere Vernunft einen zweckmäßigen Gebrauch davon machen kann. Da die Zwecke einander subordinirt sind: so muß es obere Zwecke geben, und so entsteht unter diesen Zwecken eine Einheit, oder ein System der Zwecke. Der wahre Wert unsers Vernunftgebrauches kann nur durch den Zusammenhang, den diese Kenntnis mit den letzten Zwecken hat, bestimmt werden. Es ist daher eine Wissenschaft der Weisheit.“150 Der von der „Polizei der Vernunft“ ebenso erteilte geschichtsphilosophische Auftrag erschöpft sich somit keinesfalls in der bloßen Kritik an einer „Anhäufung“ von Datenmaterial, sondern zielt ebenso auf die Prüfung einer unausgewiesen interessengesteuerten Ordnung und Gewichtung desselben bzw. auf die Aufdeckung einer bloß zyklopischen Wahrnehmung dieser „Vernunftzwecke“, die vor dem kritischen „Auge der Philosophie“ ebenso wenig Bestand haben können. Dieser Prüfung fiele also die Aufgabe zu, die „Art und Weise …, das Mannigfaltige der Erkenntnis zu einer Wissenschaft zu verknüpfen“ (III 571) – nach Kant das Geschäft der allgemeinen „Methodenlehre“ – auch für eine in methodischer Hinsicht kritische Geschichtstheorie (und auch Geschichtsphilosophie) mit dem von der Philosophie eingesetzten „zweiten Auge“ zur Geltung zu bringen. In Anknüpfung an die angezeigte Erweiterung der geschichtsphilosophischen Perspektive Kants und gemäß jenem in kritischem Geist differenzierten „Interesse der Vernunft“ lässt sich mit Rücksicht auf die der „Oberaufsicht der Philosophie“ dienstbare „Aufmerksamkeit“ nun auch jenes kritische Anliegen rekonstruieren, das in einem (in Verweis auf W. Benjamin) geäußerten Bedenken Schweppenhäusers in kaum überbietbarer Prägnanz und Schärfe Ausdruck findet – und zwar auf eine Weise, die auf die jenem „zweiten Auge der Philosophie“ geschichtsphilosophisch zugemutete „Selbsterkenntnis der Vernunft“ abzielt. Sind doch Schweppenhäusers Einwände in den Spuren W. Benjamins gegen das „lebensgefährliche Vertrauen in ein Geschichtsbild“ gerichtet, in dem „Züge der Abgeschlossenheit des Vergangenen, die ahistorische Aseität des Historischen, 150 AA XXIV.2, 799. Darin wird deutlich, dass Kant seine „Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen“ (II 13), durchaus auch in einer geschichtsphilosophischen Hinsicht verstanden wissen wollte; daraus gilt es lediglich jene Konsequenzen zu ziehen, die über diese von Kant selbst explizierten Zusammenhänge hinausweisen.
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oder die fortschritts-, die kulturidolatorischen Züge hervortreten. Warum scheint es, trotz Geschichtsphilosophie, Universalhistorie, trotz ausgebreitetster Geschichtswissenschaft ‚seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren‘ eines Geschichtsbewußtseins in Europa zu geben? Wegen ihr. Der wissenschaftliche Charakter der Geschichte schob sich an die Stelle des eigentümlichen. Damit ist die ‚gänzliche Ausmerzung alles dessen‘ vollbracht, ‚was an ihre ursprüngliche Bestimmung als Eingedenken erinnert. Die falsche Lebendigkeit der Vergegenwärtigung, die Beseitigung jedes Nachhalls der Klage aus der Geschichte, bezeichnet ihre endgültige Unterwerfung unter den modernen Begriff der Wissenschaft‘. Steht Klage für ‚Subjektivität‘ der Geschichte, ihre eigentlichen Subjekte – die Opfer – und den Schrei über ihr Sinnloses – den der Empörten –, dann Wissenschaft für ihre ‚Objektivität‘, deren verhängnisvollen Doppelsinn: den kalten Hinwegschreitens über die Subjekte, deren Verdinglichung und den der Repetition der Verdinglichung im wissenschaftlichen Objektivieren.“151 In einer derartigen thematischen Stoßrichtung hatte Benjamin einer seiner „geschichtsphilosophischen Thesen“ (XII) das Nietzsche-Wort in kritischer Absicht vorangestellt: „Wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht.“152 In Anlehnung an ein (der „revolutionierten Denkungsart“ gewidmetes) berühmtes Diktum Kants sowie in besonderer Rücksicht auf jene bestimmende Frage der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ sei die „praktische Nötigung, Geschichte philosophisch zu denken“,153 im Sinne eines jenem kantischen „Befremden“ (s. u. II., 3.2.) angemessenen unverkürzten „Interesse-Nehmens“154 so zusammengefasst: Bisher nahmen die geschichtsphilosophisch maßgebenden „Leitfäden a priori“ und die anthropologische Frage „Was ist der Mensch?“ sowie die Frage „Was will man hier wissen?“ stets davon ihren Ausgang, „was der Mensch, als freihandelndes Wesen, aus sich selber „machen kann und soll“ – ebenso von jener schon wiederholt erwähnten „weltbürgerlich“ orientierten Perspektive (VI 50); aber alle Versuche, dabei ohne zyklopische Engführung der Vernunft und der Geschichte auszukommen bzw. eine bloß auf diese „späten Nachkommen“ fixierte Perspektive zu vermeiden, mussten unter diesen Prämissen indes zwangsläufig scheitern bzw. sie wurden nicht selten der durch das „Auge der Ver-
151 Schweppenhäuser 1975, 12 (in direktem Verweis auf Benjamin: I.3, 1240). Vgl. Benjamin II, 550: Das „Neueste – daß es nicht einmal mehr die Klage gibt“. – In Kants Geschichtsdenken finden sich zweifellos Anknüpfungspunkte für eine solche Kritik an einer „positivistischen Vorstellung von Geschichte“. 152 Benjamin, Bd. i.2, 700. – Einer daran orientierten „Kritik der historischen Schriften“ bleibt eben auch Benjamins Einsicht nicht verborgen, dass „(d)ie Art, in der es [Gewesenes] als ‚Erbe‘ gewürdigt wird, … unheilvoller [ist] als seine Verschollenheit es sein könnte“ (Benjamin I.3, 1242). – Das auch darin durchklingende Benjamin’sche Plädoyer für das „Eingedenken“ fügt sich als ein wesentliches Element offenbar recht gut in den bei Kant letztendlich „aufs Moralische gestellten“ und an der Idee der Menschheit“ orientierten „Weltbegriff der Philosophie“, wenn dieser in dem erwähnten Sinn doch gleicherweise als Schutzschild gegen jene blinde „cyklopische Gelehrsamkeit“ wie auch als Anwalt einer kritischen „historischen Vernunft“ wahrgenommen werden soll. 153 Zu dieser von Schweppenhäuser entliehenen Wendung s. u. II., Anm. 265 u. Anm. 365. 154 Hutters zutreffende Beobachtung, dass der Begriff „Interesse“ „also für ein allgemeines Verfahren“ steht, „einander widerstreitende Ansprüche zu klären und auszugleichen“ (Hutter 2003, 150), erhält in diesem geschichtsphilosopischen Zusammenhang noch besonderes Gewicht.
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nunft“ verleiteten Überredung (bzw. der triumphierenden Aufforderung) zum Opfer gebracht: „(W)er die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an, beides ist in Wechselbestimmung.“155 Man versuche es daher einmal, unterstützt bzw. genötigt durch die Aufmerksamkeit und Schärfe jenes kritischen „Auges der wahren Philosophie“ und einen daraus gespeisten „Machtspruch der Vernunft“, ob wir im Ausgang davon, „was der Mensch, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht“, nicht auf einen „gegenläufigen“ Standpunkt geführt werden, nämlich auf einen solchen, der gleichermaßen dem „Widerfahrnis“ des Erlittenen, Zerstörten und Verschwundenen auf eine Weise gerecht zu werden vermag, dass jener „Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung“ sich nicht in eine bloße Gestalt sublimierter Selbstbehauptung – sei es auch unter heimlichen teleologischen Anleihen und den integrativen Tendenzen einer vorwärts-orientiert „halbierten Vernunft“ – verkehrt. Gegen jene Perspektive, die vornehmlich daran Interesse nimmt, was der „Mensch … aus sich selber macht“, bleibt dieses gegenläufige Geschichtsinteresse gerade auf die damit „eng verwebten Begebenheiten“ in kritischer Absicht bezogen, welche die „Idee der Menschheit“ partikularisieren, verstümmeln, vernichten, und eben auch die Spuren dessen, „was der Mensch aus sich selber macht“, verwischen. Jenem „zweiten Auge der Philosophie“ verdankt sich somit, ganz im Sinne des geforderten erweiterten „Vernunftgebrauchs“, ebenso die Achtsamkeit dafür, dass dem Anspruch des „Systems“ als der Idee der maßgebenden „Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse“ als einem „gegliederten und nicht gehäuften Ganzen“ nichts zum Opfer fällt, sofern, zwangsweise gleichsam, die „Idee als das Ganze … den Zweck bestimmt“156 – und sei es auch die „Idee einer Weltgeschichte“ und deren universalgeschichtliche „Leitfäden“. Es wird sich noch zeigen: Für jene maßgebende Intention einer „nicht-halbierten Aufklärung“, verborgene „Blindstellen“ sichtbar zu machen – d. h. das darin Verdeckte, Verstummt-Verstümmelte erst ans Licht zu bringen, das sich den vorwärtsgerichteten „System“-Interessen (VI 49) nicht einfach fügt –, erweist sich augenfällig das dieser geschichtsphilosophisch akzentuierten praktischen Vernunft-„Idee der Naturgeschichte“ (und ihrer „Gesetzgebung“) immanente Sinnpotenzial als unentbehrlich (s. u. II., 4.).
155 Hegel 12, 23. Indes, welche Subjekte sind es denn, die von der Welt „vernünftig angesehen“ werden? – Der gegen Hegel gerichtete Vorwurf kann freilich keineswegs darauf abzielen, dass er für die leer gebliebenen „Blätter des Glücks“ im „Buch der Geschichte“ blind gewesen wäre; vielmehr zielt ein solches Bedenken doch allein darauf, dass dieser Sachverhalt der „leer gebliebenen Blätter“ für ihn in geschichtsphilosophischer Hinsicht irrelevant blieb. Kants „Befremden“ wäre in Ansehung der „Schlachtbank der Geschichte“, „auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden“ sind, schon der Perspektive mit Skepsis begegnet, der zufolge aus derlei Erfahrung „dem Gedanken notwendig auch die Frage“ entstehe, „wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind“ (Hegel 12, 35). Daraus gewinnt auch jene Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Gattung“ und der „Geschichte der Menschen“ einen geschichtsphilosophischen Akzent (s. u. II., 3.2.1.). 156 AA XXIV.2, 530.
3. „Selbsterkenntnis der Vernunft“ in geschichtsphilosophischem Kontext: „Seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen anzusehen“ – eine an die „quaestio juris“ geknüpfte Forderung Kants 3.1. Der für die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ maßgebende „Leitfaden“ auf dem Prüfstand – eine daran geknüpfte kritische Geschichtsperspektive Die voranstehenden Überlegungen legen es nahe, Kants „Gerichtshof“-Metapher auch für diese geschichtsphilosophischen Perspektiven – d. h. im Sinne der Einsetzung eines „Gerichtshofs der historischen Vernunft“ (wiederum im Sinne der „Geschichtstheorie“ und „Geschichtsschreibung“) – fruchtbar zu machen und einer „kritischen Denkungsart“ entsprechend zu erweitern. Vieles spricht deshalb dafür, seine daran geknüpften Forderungen auch geschichtstheoretisch zu transformieren und in der bestimmten Hinsicht wahrzunehmen, dass sie auch für die Ausbildung eines geschichtsphilosophischen Leitfadens berücksichtigt werden; und zwar – so die in diesem besonderen Kontext erhellende Wendung Kants – um „Sätze und Gegensätze, so wie sie sich, durch keine Drohung geschreckt, vor Geschworenen von seinem eigenen Stande (nämlich dem Stande schwacher Menschen) verteidigen können, auftreten zu lassen“ (II 450). Damit in der „Abwiegung der Vernunftgründe … alles ehrlich“ zugehe (II 638), müssen dabei auch alle „tüchtigen Zeugen“ (II 655) gebührend Gehör finden, wobei die besonderen Kriterien solcher „Tüchtigkeit“ auf diesem geschichtsphilosophischen Boden freilich noch eigens auszuweisen sind. Gemäß jenem von der Philosophie eingesetzten „zweiten Auge“ obliegt diesem „Gerichtshof“ jedenfalls die Prüfung, Korrektur bzw. Entlarvung der angebotenen „Leitfäden der Vernunft“ und deren – sei es in methodischer Absicht ausgewiesenen, sei es bloß vorausgesetzten oder einseitig fixierten – Maßstäbe, zumal diese sich ohne solche kritische Legitimierung allzu leicht geradezu in „Fesseln der Vorurteile“ verkehren bzw. sich als Scheuklappen entpuppen. Auch auf diesem geschichtsphilosophischen Boden muss die einer „prüfenden und musternden Durchsuchung“ ausgesetzte Orientierung an einer umfassenden Vernunftverfassung das ihr immanente Prinzip der „Gewaltenteilung“ etablieren. Dies impliziert, dass eine „Kritik der Geschichte und der historischen Schriften“ sich nicht schon in dem bloßen Aufweis erschöpft, dass eine kritische „Geschichtstheorie“ bzw. „Geschichtsschreibung“ die Orientierung an einem „Leitfaden apriori“ unumgänglich macht, der es allein erlaubt, die erhobenen historischen Daten zu „buchstabieren“ und sie erst „als Erfahrung lesen zu können“; darüber hinaus wäre die kritische Sondierung und Differenzierung gegenläufiger „Leitfäden“ eine vorrangige Aufgabe einer kritischen Geschichtstheorie. In einer solchen notwendigen geschichtsphilosophischen Akzentuierung wäre eine – zunächst frei-
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lich auf die Naturforschung (II 684) abzielende – kantische Gedankenfigur dahingehend aufzunehmen, dass diese (recht verstanden: gegensinnige) Perspektive „in ihrer höchsten Ausarbeitung“ auch eine zu jener „allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ „gegenläufige“ Idee ausweisen, d. h. im Sinne eines notwendigen Korrektivs geltend machen kann. Demzufolge kann der von Kant selbst explizierte Gesichtspunkt eben nicht der einzig maßgebende für eine solche geschichtsphilosophische „Weltbetrachtung“ bleiben: „In der Historie ist Bleibendes, was eine Idee von dem Veränderlichen an die Hand geben könnte, als die Idee der Entwickelung der Menschheit, und zwar nach dem, was die größte Vereinigung ihrer Kräfte ausmacht, nämlich bürgerliche und Völker-Einheit.“157 Demnach bleibt Kants berühmte eindringliche Mahnung, allein „der kritische Weg sei noch offen“, auch auf unauffälligere „unkritische Dogmatismen“ in geschichtsphilosophischen Erscheinungsformen auszudehnen. In der Folge wäre jene Skepsis gegenüber einer geschichtsphilosophischen „Vernünftigkeit“ und ihrem leitenden „system-orientierten Einheits-Interesse“ im Sinne der geschichtsphilosophisch gelesenen kantischen „Gerichtshof-Metapher“ wohl auf die Frage zu konzentrieren, ob denn das geschichtsphilosophisch verankerte Hoffnungs- bzw. Fortschrittsmotiv und der hierfür maßgebende „Gesichtspunkt“ nicht allein dann als „wahrheitsfähig“ gelten dürfen (d. h. im Sinne der Frage „quid juris?“ legitimierbar sind), wenn das an kritischen Maßstäben orientierte unbestechliche „Auge der Philosophie“ auch die verdeckte Kehrseite dieses „Gesichtspunktes“, d. h. gleichsam den „Gedanken des Gegensatzes“ einschließend (VI 91), wahrzunehmen vermag und daran auch Interesse nimmt? Demzufolge erweist sich auch hier offensichtlich jenes „Zensoramt“ einer Vernunftkritik als unerlässlich, welches die „allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert“ (II 708 f ). Dieser geschichtsphilosophische „Gerichtshof der Vernunft“ hat demnach den Aufweis zu erbringen, dass, einer umfassenden Vernunftkritik folgend, auch diese geschichtsphilosophischen „Leitfäden“ tatsächlich von der „Natur der [praktischen] Vernunft und lediglich über ihre innere Einrichtung“ (II 600) selbst vorgelegt werden, also keineswegs bloß selbstbehauptungs-fixierte „Idole“ der menschlichen Gattung (sei es der lebenden, sei es der zukünftigen Generationen) darstellen. Andernfalls bliebe menschliche Vernunft nicht nur den natürlichen Täuschungen und Verführungen dieser auf Selbstbehauptung ausgerichteten gattungsgeschichtlichen Idole ausgesetzt, sondern reproduzierte Letztere lediglich selbst; damit verkehrte sie sich geradezu in jene zyklopische Ignoranz – „d. i. keine Notiz nehmen zu wollen“ (III 470)158 –, die sich als eine besonders heimtückische 157 Refl. 1404, AA XV, 612. Gerade auf die Einseitigkeit einer so verstandenen bzw. einäugig fixierten „Methode einer kosmopolitischen Geschichtsschreibung“ (Refl. 1468, AA XV, 648) müsste sich doch auch die „Kritik der historischen Schriften“ richten, weil ein ohne solche Rücksicht entworfenes „kosmopolitisches System der Weltgeschichte“ die darin leitende „Idee der Menschheit“ stillschweigend preisgegeben hätte. Von daher fällt auch auf Kants schon angeführte Reflexion besonderes Licht: „Die Geschichte der Gattung, nicht der Menschen. Jene setzt eine Idee voraus“ (Refl. 1467, AA XV, 646). 158 Riedels (schon zitierte: s. o. II., Anm. 87) Bemerkung: „Kants Geschichtsphilosophie betrifft die moralischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft, die Frage eines kritischen, um seine Grenze wissenden Verhältnisses des Menschen zur Geschichte“ (Riedel 1974, 20), ist deshalb in diesem Sinne wohl zu
3. Selbsterkenntnis der Vernunft in geschichtsphilosophischem Kontext
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Spielart des „Abstraktionsvermögens“ und dessen Fertigkeit des Ab- und „Wegsehens“ (VI 412 f ) erweist. In solcher Hinsicht wird die dieses „zweite Auge“ auszeichnende Aufmerksamkeit bzw. „Tiefenwahrnehmung“ und deren unbestechliches Sensorium für drohende Verdunkelungsgefahren vornehmlich dafür achtsam bleiben, ob sich jene Konzentration auf den maßgebenden geschichtsphilosophischen „Leitfaden a priori“ und daran möglicherweise geknüpfte „Systemerwartungen“ nicht doch selbst dem Ausblenden anderer – genauer: „gegenläufiger“ – Vernunftperspektiven verdanken.159 Die Diagnose einer geschichtsphilosophischen Spielart eines „Dogmatism“ und daran geknüpfter „Vorurteile“ wäre so wohl unvermeidlich: Eine Geschichtsphilosophie, die ihre „Leitfäden“ als Orientierungs-Maßstäbe lediglich einer zukunfts- und fortschrittsorientierten Perspektive entlehnte, bliebe wohl dem unwiderruflichen Schuldspruch des „Gerichtshofs der Vernunft“ ausgesetzt, dass ein derartiges geschichtsphilosophisches Konzept als ein legitimatorisches Instrument bloßer „Selbstbehauptung“ fungierte, und wäre so jedenfalls mit jener geforderten „Einstimmung freier Bürger“ (und damit der „Existenz der Vernunft“) unvereinbar.160 Die zweifellos von Kant geteilte Einsicht La Rochefoucaulds, dass man mit dem fremden Leid verhältnismäßig leicht fertig werde, verlangt unübersehbar auch eine geschichtsphilosophisch zugeschärfte Lesart. Derlei „Abstraktionen“ nicht zu durchschauen zöge unweigerlich gefährliche Illusionen nach sich, denen eine Erschleichung besonderer Art zugrunde liegt und die unvermeidlich auf den Verlust der Idee der „Menschheit“ hinauslaufen müssten. Die Ausmessung des seiner Weltstellung angemessenen Wissenshorizontes (III 466) impliziert, gegenüber einer solchen „negativen Aufmerksamkeit“, die Rücksichtnahme darauf, dass „vernünftige“ Orientierung am „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ als dem Sinn der Weltgeschichte indes nicht den Blick für den notwendigen „Fortschritt im Bewusstsein der Unfreiheit“, des Unrechts und des Erlittenen, trüben darf und somit jene in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ maßgebenden „Gesichtspunkte der Weltbetrachtung“ buchstäblich relativiert. Genauer noch wird sich zeigen: Das notwendige Bewusstsein von der Wahl eines „besonderen Gesichtspunkts der Welt- bzw. Geschichtsbetrachtung“ impliziert ebenso eine kritisch besonnene Selbstrelativierung desselben und verweist so auf eine geschichtsphilosophische Version einer ergänzen. – Demnach implizieren Kants gegenläufige Motive auch einen kritischen Vorbehalt gegenüber seiner eigenen Zuversicht, wonach es bekannt sei, „dass die neueren Gelehrten sich mehr und mehr bemühen, die historischen Erkenntnisse zu erweitern, in den empirischen Erkenntnissen hat das Neue allemal einen unstrittigen Vorzug vor dem Alten“ (AA XXIV, 184). 159 Droysens These, die Geschichte sei die Selbsterkenntnis der Menschheit, „ihr Gewissen“ (Droysen 1977, § 74, 442), ist in diesem gegenläufigen Kontext besonders erhellend, sie bedarf dabei freilich einer besonderen Akzentuierung. 160 Andernfalls wäre, ein von Adorno erwähntes Diktum Simmels variierend, das Urteil unvermeidlich, es sei in höchstem Maße nicht nur erstaunlich, sondern auch irritierend, „wie wenig man der Philosophie der Geschichte die Leiden der Menschheit anmerkt“ (vgl. Adornos Notiz: „Von Georg Simmel stammt der schöne und tief ironische Satz, es sei erstaunlich, wie wenig man der Geschichte der Philosophie die Leiden der Menschheit anmerkt“: Adorno 1974, 178) – eine Bemerkung, die zweifellos nicht weniger auf die „Philosophie der Geschichte“ zutrifft. Adornos Motiv, „Leiden beredt werden zu lassen“, wäre von daher aufzunehmen und stünde so in besonderer Nähe zum – geschichichtsphilosophisch gewendeten – kantischen Motiv der Naturgeschichte (s. II., 4.)
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
„Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“. So werden schon hier die Umrisse einer „leidensgeschichtlich“ orientierten Vernunftperspektive als ein Desiderat erkennbar, die auch in die Perspektive einer „pragmatischen Anthropologie“, nämlich den Menschen „seiner Spezies nach, als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen“ (VI 399), Eingang finden müssen. Muss jenem „Gerichtshof der Vernunft“ auch in dieser besonderen Hinsicht an der „Selbsterhaltung der Vernunft“ auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie gelegen sein, zumal hier die Gefahr bzw. Versuchung einer geschichtstheoretischen „Einäugigkeit“ durchaus gegeben zu sein scheint, so gewinnt dabei die kritische Prüfung der praktischen Bestimmung des Horizonts unserer Erkenntnis „nach dem Nutzen in Beziehung auf das Interesse des Willens“ solcherart natürlich „größte Wichtigkeit“ (III 466). Das unbestechliche gerichtliche „quid juris?“ wird sich in diesem Sinne vor allem von der gebotenen „Aufmerksamkeit“ leiten lassen, dass jene in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ leitende Perspektive der „späten Nachkommen“ (und die darin leitende Frage „Was will man hier wissen?“) jedenfalls nur dann den Verdacht bloß partikulärer Interessen und Maßstäbe zu entkräften vermag, wenn sich dies mit der kritischen Aufmerksamkeit dafür verbindet, „was jedermann notwendig interessiert“, und so, in dieser recht verstandenen Relativierung dieser Perspektive, noch einem anderen „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ erst zu seinem Rechtsanspruch verhilft.161 Die schon angeführte Bestimmung des Bestrebens der Aufmerksamkeit, „sich seiner Vorstellungen bewusst zu werden“, bzw. jener gegenläufigen „Ignoranz“, „keine Notiz“ nehmen zu wollen von dem, „was außerhalb des Horizonts“ liegt, gewinnt damit Bedeutung in „praktischer Absicht“ und fügt sich so zu einem geschichtsphilosophisch sehr bedeutsamen Motiv. Andernfalls wäre nicht nur die von Kant der Philosophie zugewiesene Rolle einer „Gesetzgebung der Vernunft“ missachtet; dass sie den an den „wesentlichen“ und „höchsten Zwecken“ orientierten „Weltbegriff der Philosophie“ nichts „angehen“ sollte, müsste dann ebenso bedeuten, dass jener nicht nur sich selbst „betrügt“, sondern damit stillschweigend auch die „Idee“ und somit das „Interesse der Menschheit“162 verraten bzw. preisgegeben hätte, während das von der Philosophie eingesetzte „zweite Auge“ in Erinnerung daran, „was jedermann notwendig interessiert“, dagegen zu besonderer Wachsamkeit mahnt. Einer derart orientierten, vom „Gerichtshof der Vernunft“ eingesetzten kritischen Geschichtsphilosophie ist somit geradezu das Wächteramt übertragen, dass bloß einseitige
161 Kant hat einschlägige Analogien zwischen Natur und Geschichte und daran geknüpfte „Ordo“-Konzepte als haltlos abgelehnt, wenn doch „der Teil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesen den Zweck enthält – die Geschichte des menschlichen Geschlechts –, ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden“ (VI 49); ob und wie dann, ohne „kosmo-theologische Krücken“, ein vernünftiger Zugang zur geschichtlichen Wirklichkeit möglich sein soll, ist eine Grundfrage in Kants Geschichtsdenken; und gerade dies fordert eine geschichtsphilosophische Lesart der These, dass allein Kritik „die Vernunft frei“ mache (Refl. 5089, AA XVIII, 84) – nicht zuletzt von einschlägigen „Idolen“. 162 Eine diesbezügliche geschichtsphilosophische Akzentuierung der so genannten „Menschheitsformel“ wäre auch in solcher Hinsicht naheliegend.
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Perspektiven und maßgebende Standpunkte der geschichtlichen „Weltbetrachtung“ vermieden werden, weil andernfalls auch das „Interesse der Vernunft an sich selbst“ geradewegs verstümmelt wäre. Liefe denn ein – gewiss notwendiges, weil praxis-bezogenes – einseitiges Interesse an der jener „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ zugrunde liegenden „Menschheits“- und „Fortschrittsidee“ nicht stillschweigend darauf hinaus, Vernunftansprüche in Wahrheit „verständig“ zu halbieren? Kants Bezug auf das „Ideal eines Ganzen aller Menschen“ (IV 754) wäre insofern auch in einer geschichtsphilosophischen Akzentuierung gegen eine einäugig zukunftsorientierte Perspektive (d. i. den bloßen Interessenshorizont „in weltbürgerlicher Absicht“) zur Geltung zu bringen; dies rückt damit noch andere notwendige Maßstäbe und Leitfäden ins Blickfeld, die allein gewährleisten, dass das Interesse unserer „späten Nachkommen“ dennoch nicht jene „allgemeine Menschenvernunft, worin jeder eine Stimme hat“, überlagert.163 Schon der weltbürgerliche Gedanke, dass die „Menschen … gleichsam dazu berufen“ sind, „ihre Vernunft gemeinschaftlich zu gebrauchen“,164 impliziert eine für eine geschichtsphilosophische Aktualisierung unentbehrliche Herausforderung – und zwar nicht nur in dem Sinne, dass die Beförderung des „höchsten Gutes“ als des „höchsten politischen Gutes“ notwendig eine gemeinschaftliche Aufgabe darstellt. Eine einseitige Fixierung auf diesen der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ zugrunde liegenden „Leitfaden a priori“ wäre hingegen, jenem einzusetzenden „Gerichtshof“ und dessen Maßstäben bzw. Kriterien zufolge, selbst als eines jener fundamentalen „Vorurteile“ zu entlarven, deren Überwindung nach Kant eine vorrangige geschichtsphilosophische Aufgabe einer über sich selbst aufgeklärten Aufklärung sein müsste. Unschwer sind daraus sodann die Richtlinien einer kritischen Geschichtsphilosophie abzuleiten, ohne die Letztere ebenso „einäugig“ bliebe bzw. einer besonderen „Vermessenheit“ verfiele. Deshalb wird jenes unbestechliche „zweite Auge“ als kritische Instanz für die Wahrung des umfassenden Vernunfthorizontes darauf insistieren, jenen programmatischen Hinweis Kants auf die „Kritik der Vernunft, der Geschichte und historischen Schriften“ auch im Lichte jener von W. Benjamin geforderten „moralische(n) Legitimation, Rechenschaft des Interesses an der Geschichte“,165 zu lesen. Demgegenüber sei schon hier darauf hingewiesen: Allein dieses von der Vernunft – um ihrer Universalität und d. h. um ihrer eigenen „Selbsterhaltung“ willen – eingeräumte „Einspruchs“-Recht vermag die Gefahr abzuwenden, dass eine in der „Idee des Rechts“ fundierte (zukunfts-orientierte) „Geschichte der Gattung“ letztendlich doch unweigerlich auf Kosten der „Geschichte der Menschen“ ginge (s. u. II., 3.2.1.) und solcherart stillschweigend zu einer „Halbierung der Vernunft“ ihr Einverständnis erklärte. Letztere hätte in einer „Halbierung der Geschichte“ zu einer bloßen Fortschrittsgeschichte ihre Entspre163 Kants Unterscheidung zwischen der maßgebenden Perspektive „politischer Bürger“ in einem „politischen gemeinen Wesen“ und derjenigen des „Ideal(s) eines Ganzen aller Menschen“ (vgl. IV 753 ff ) bliebe in diesem geschichtsphilosophischen Kontext entsprechend zu beachten. 164 Vgl. AA XXIV, 151. Auch in diesem engeren thematischen Kontext zeigt sich die Notwendigkeit, ebenso Kants Bestimmung der „Humanität“ als „allgemeines Teilnehmungsgefühl“ (V 464) zu „entpsychologisieren“, weil nur dies der praktischen Vernunftidee der „Menschheit“ genügt. 165 Benjamin I.3, 1244.
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chung und spiegelte recht genau die Logik der von Kant so genannten „pragmatischen Geschichte“ wider, die „klug macht, d. i. die Welt belehrt, wie sie ihren Vorteil besser, oder wenigstens eben so gut als die Vorwelt besorgen könne“ (IV 46, Anm.). Eine auf geschichtsphilosophischem Boden ausschließlich maßgebende „pragmatische Hinsicht“ würde sich, gemäß ihrem klugheitsorientierten Umgang mit Menschen, gerade nicht mehr an den gebotenen „moralischen Zwecken“ orientieren, sondern in Wahrheit jene kantische Vermutung der „geheimen Anlässe unserer Urteile“ lediglich noch unterstützen. In solchem „Ausgang von Kant“ soll sich noch genauer erweisen, dass sich auch bei ihm wichtige Motive dafür finden, wonach einer selbstkritischen, „aufgeklärten Denkungsart“ zufolge die in seinen geschichtsphilosophischen Schriften vorrangig leitende „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ sowie die Frage nach dem „Fortschritt zum Besseren“ keineswegs die einzig maßgebende Geschichtsperspektive bleiben darf. Demgemäß sollte gezeigt werden, dass das erkenntnisleitende Interesse der die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ bestimmenden Leitfäden im Dienste der die politische Praxis motivierenden „begründeten“ (VI 49; 170) und auch „gutmütigen Hoffnung“ (VI 230) steht; hingegen ist das die gegenläufige Vernunftperspektive inspirierende – ebenfalls mit der „Idee der Menschheit“ untrennbar verbundene – Interesse von ebenso unabweislichen Ansprüchen und Erfahrungen einer „erinnerungs-geleiteten“ Vernunft bestimmt. Indes, in letzterem Fall befinden sich der ein derartiges Interesse wahrnehmende „Gerichtshof der Vernunft“, seine „Richter“ und Geschworenen keineswegs in der vergleichsweise bequemen Lage, die – als glaubwürdig bekannten – vorgeladenen Zeugen zu nötigen, „auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt“ (II 23); vielmehr hat dieser „Gerichtshof“ auf geschichtsphilosophischem Gebiet zunächst einmal jene mühsame Spurensuche erst einzuleiten, längst verstummte und verschlossene Erinnerungen – und ungehörte Ansprüche – freizulegen, also nicht nur bekannte Zeugen und vorliegende Quellen „vorzuladen“ bzw. vorhandene „Nachrichten“ zu interpretieren, sondern solche Zeugen und Quellen erst einmal ausfindig zu machen. Weil auch und erst recht dieser gegenläufigen Vernunftperspektive“ „der Verstand nicht geschenkt werden“ kann, ist der unnachgiebigen Forderung einer geschichtsphilosophisch „revolutionierten Denkungsart“ zufolge eine derartige Spurensicherung zu besonderer methodischer und materialer Recherche verpflichtet. Sie will sich deshalb auch nicht bloß mit der Auskunft begnügen: „Die rationale Verarbeitung des Gegebenen im Bereich der Naturwissenschaft setzt sich fort in der rationalen Verarbeitung der Quellen auf historischem Gebiet, im kritischen Verhör der Zeugen und Zeugnisse der Tradition, die zu neuen, gesicherten Einsichten in das Vergangene führt.“166 Demgegenüber soll sich in den folgenden Abschnitten vielmehr dies als ein leitendes Anliegen einer kritischen Geschichtsphilosophie erweisen: Das – erst zu suchende, freizulegende und als „Erscheinung“ zu „buchstabierende“ – historische Material wäre demnach solchem Interesse zufolge am Leitfaden jener kritischen Gegen-Ideen“ zu „Erfahrungen“ zusammenzufügen bzw. zu „erweitern“, ohne die auch eine Geschichtstheorie einäugig bliebe und jener „Weltbegriff der Philosophie“ auf diesem geschichtsphilosophi166 Riedel 1989a, 132 f. Nicht um eine bloße „Fortsetzung“ geht es dabei allerdings, sondern um die allein dem „mikrologischen Blick“ jenes „zweiten Auges“ zugedachte Aufgabe.
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schen Terrain mitnichten beanspruchen könnte, sich an dem, „was jedermann notwendig interessiert“, zu orientieren (s. dazu bes. u. II., 3.4.). Näher betrachtet wird dabei jenem „Gerichtshof der Vernunft“ auf diesem geschichtsphilosophischen Boden zunächst eine bemerkenswerte Aufgabe zugemutet: Geht es doch in diesem „wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten“ der reinen Vernunft (II 639 f ) nicht um die Forderung, in den vorhandenen Streit zwischen den gegensätzlichen Parteien einzugreifen, die verschiedenen vorhandenen Standpunkte abzuwägen und ihre geäußerten Ansprüche zu schlichten. Seine vorrangige Aufgabe ist es vielmehr, für eine nicht mehr vernehmbare (verstummte) Partei erst einmal die Rolle bzw. Verantwortung eines Sachwalters zu übernehmen und ihr derart gleichsam erst Stimme und Gehör zu verschaffen, d. h. einen noch nicht artikulierten – gleichwohl für vernünftige Weltwesen unaufgebbaren – Anspruch erst unbestechlich zu artikulieren, weil doch erst so von einem „wahren Gerichtshof für alle“ die Rede sein könne. Darin findet lediglich die „Disziplinierung der Vernunft“ eine konkrete geschichtsphilosophische Einlösung, worin der „Gerichtshof der Vernunft“ sein Verfahren nunmehr eben auf die recht unterschiedlichen Spielarten eines geschichtsphilosophischen „Dogmatismus“ ausdehnen muss und dabei die darin enthaltene Mahnung ohne Abstriche zu beherzigen hat: „Die Vernunft muss sich in all ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen, und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden [heißt eben geschichtsphilosophisch: sich zu „halbieren“] und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig, in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte“ (II 630 f ). Eine Thematisierung jener Kategorien, die für die Erfüllung dieser Aufgabe das unentbehrliche Rüstzeug bereitstellen, sei ansatzweise im folgenden Abschnitt versucht. 3.1.1. Logisch-anthropologische Kategorien im Kontext einer geschichtsphilosophischen Erweiterung des Vernunfthorizontes: Ihre Unentbehrlichkeit für eine „Kritik der Vernunft, der Geschichte und der historischen Schriften“ Diese gegenüber jener „Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ in komplementärem Sinne geltend zu machenden geschichtsphilosophischen Perspektiven werden indes nicht lediglich von außen an Kants Geschichtsdenken herangetragen, sind sie diesem doch keineswegs schlechterdings fremd. Freilich ist nicht zu übersehen, dass solche in Kants Geschichtsdenken latent vorhandenen Gesichtspunkte gegenüber den von ihm explizierten – gewissermaßen „offiziellen“ (und deshalb allein „wahrgenommenen“) – Perspektiven seines Geschichtsdenkens erst einmal ans Licht gehoben werden müssen,167 um 167 Der Umstand, dass Kants „geschichtsphilosophische Schriften … nicht in methodischer Absicht verfasst“ sind (Riedel 1989a, 138), mag wenigstens teilweise erklären, dass diese hier verfolgten „gegenläufigen“ Geschichtsperspektiven bei Kant zwar nirgendwo expliziert sind, deshalb jedoch nicht dem Geist Kants widersprechen, zumal sich hierfür in seinem Denken durchaus Ansatzpunkte finden.
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den mit seinem Vorhaben, „Geschichte philosophisch zu denken“, verbundenen Anspruch einer „Kritik der Vernunft, der Geschichte und historischen Schriften“ einlösen und damit verbundene geschichtsphilosophische Sinnpotenziale auch in der erforderlichen Differenziertheit freilegen zu können. Genauer besehen sind sie von der kantischen Idee einer „Gesetzgebung der Vernunft“ unablösbar und bleiben so auch vor dem Einwand bewahrt, dass sie seinem Geschichtsdenken Gewalt antun. Insbesondere sind es von Kant selbst entwickelte logische und anthropologische Kategorien bzw. Gesichtspunkte, die in diesem geschichtsphilosophischen Kontext schon deshalb zu berücksichtigen sind, weil sie für eine derartige geschichtsphilosophische „Erweiterung des Vernunftraumes“ geradezu unentbehrlich sind und hier auch in besonderer Weise ihr kritisches Potenzial entfalten können. Sie liegen nämlich nicht nur in vielfachen Bezügen den Leitideen und Grundsätzen der kantischen Konzeption der Aufklärung zugrunde, sondern erweisen sich, obgleich in transformierter Gestalt, gleichermaßen für die Begründung wesentlicher Prinzipien der kantischen Rechtsphilosophie und politischen Philosophie als höchst bedeutsam. Auch in diesem geschichtsphilosophischen Zusammenhang ist ihre kritische Aktualisierung schon deshalb unverzichtbar, weil sie, in entsprechend modifizierter Form, sehr aufschlussreiche Problemstellungen eröffnen und dabei der Mahnung Kants besondere Nachdrücklichkeit verleihen: „Nicht die Stärke, sondern das Einäugige macht hier den Cyclop. Es ist auch nicht gnug, viel andre Wissenschaften zu wissen, sondern die Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft. Anthropologia transcendentalis.“168 Diese wichtige Bestimmung einer „anthropologia transcendentalis“ macht eine geschichtsphilosophische Akzentuierung unumgänglich und verdeutlicht ebenso, dass die von einer solchen Mahnung unabtrennbare Forderung einer „Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft“ von daher auch noch einmal eine wichtige geschichtsphilosophische Nuancierung gewinnt. Vorweg sind diesbezüglich schon die geschichtsphilosophisch applizierten bloßen „Maximen“ einer „aufgeklärten Denkungsart“ selbst miteinzubeziehen. Schon sie verbieten zweifellos eine ausschließlich zukunftsfixierte Orientierung und verweisen demgegenüber, gemäß jenem dem „zweiten Auge“ verdankten „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“, auf eine strikt gegenläufige – und allein dadurch wirklich vernunft-bestimmte – „Wahl des Standpunkts, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen“ müssen (VI 355). Eine solche „rechte Wahl des Standpunktes“ bleibt demnach diesem – solche logischen und „anthropologischen Kategorien“ schon voraussetzenden – „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ vorbehalten und schärft so den jenes „zweite Auge“ der Philosophie auszeichnenden Blick, der verdeckte – und wohl auch längst verstummte! – Ansprüche „fremder Vernunft“169 erst „ent-deckt“ und in der Folge auch „wahr“-nehmen lässt. Eine derart geschichtsphilosophisch „erweiterte Denkungsart“ bedeutet zunächst, 168 Refl. 903, AA XV, 395. – Bemerkenswerterweise verbindet er damit ausdrücklich den Hinweis auf die „Humanität der Wissenschaften“, die darauf „gründet“ [!], „d. i. die Leutseligkeit des Urteils, dadurch man es andrer Urteil mit unterwirft“, und so eben jene Forderung stützt, „seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen“ anzusehen (ebd.). 169 Zu dieser von Kant wiederholt verwendeten Wendung vgl. Simon 2003, vgl. dort auch bes. 22 Anm. 21.
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dass der von Kant geforderte Rekurs auf das „Urteil anderer“ bzw. das darin enthaltene Verbot, „gleichgültig [zu] sein, wenn andere uns nicht Beifall geben“,170 über den Status eines (im logischen Gebrauch verankerten) bloßen „votum consultativum“ hinaus zweifellos auch noch eine andere Gestalt „cyklopischen Eigendünkels“ sichtbar macht. Vor allem dagegen ist diese geschichtsphilosophisch akzentuierte Forderung eines „logischen Pluralism“ in Stellung zu bringen, der sich als unbestechlicher Gegner eines geschichtsphilosophischen „Cyklopentums“ erweist: „Wenn man seine Einsichten mit denjenigen anderer vergleicht und aus dem Verhältnis der Übereinstimmung mit anderer Vernunft die Wahrheit entscheidet, ist das der logische Pluralism.“171 Erneut bestätigt sich: Jenes von der kritischen Philosophie eingesetzte „zweite Auge“ hat deshalb insbesondere auch einen geschichtsphilosophisch eingeengten „Horizont“ im Visier und mahnt demgegenüber unbeirrbar gerade jenes vermeintlich „außer unserm Horizont“ Liegende ein, das diesem Privathorizont und seinen Überredungsversuchen zufolge eben jenes sein soll, „was wir nicht zu wissen brauchen“. Dass diese „Bestimmung des Privat-Horizonts“ nach Kant stets „von mancherlei empirischen Bedingungen und speziellen Rücksichten“ abhänge, jede „besondere Klasse von Menschen … in Beziehung auf ihre speziellen Erkenntniskräfte, Zwecke und Standpunkte ihren besondern, – jeder Kopf, nach Maßgabe der Individualität seiner Kräfte und seines Standpunktes, seinen eigenen Horizont“ (III 466 f )172 habe, muss erst recht – als Mahnung! – eine unübersehbare geschichtsphilosophische Bedeutung gewinnen und verleiht so der von Kant erhobenen Forderung der Wahl eines „gegenläufigen Standpunkts“ gerade in Ansehung jenes Programms einer „Kritik der historischen Schriften“ noch einmal besonderes Gewicht. Es wird sich noch bestätigen: Der damit verbundene Anspruch kann von solchen Perspektiven, „Geschichte philosophisch zu denken“, nicht abstrahieren. Obgleich dies einen gemeinhin vernachlässigten Prüfstein für eine „aufgeklärte Denkungsart“ darstellt, erweist sich der schon in Kants „erster Kritik“ angebotene kritische Maßstab, ob denn unsere Gesichtspunkte und Überzeugungen „auf fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung tun, als auf die unsrige“ (II 688), auch in einer geschichtsphilosophischen Lesart als unverzichtbar. In einer solchen Variation bestätigt sich Kants frühe Forderung: „(J)etzt setze ich mich in die Stelle einer fremden und äußeren Vernunft, und beobachte meine Urteile samt ihren geheimsten Anlässen aus dem Gesichtspunkte
170 AA XXIV, 390; vgl. z. B. Refl. 1482: AA XV, 672. 171 AA XXIV, 428. – Auch in einer solchen Akzentuierung ist Kants Forderung zu lesen, dass „unser eigen Urteil durch einen fremden Standpunkt muss rektifiziert werden. Selbst sich dünkende und teilnehmende [!] Vernunft. Egoist und Pluralist, im logischen Verstande“ (Refl. 2147, AA XVI, 252) (eben in dieser Hinsicht gewinnt sein Verweis auf die „allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“ [II 640] besonderes geschichtsphilosophisches Gewicht); zu diesen Aspekten von „Kants Aufklärungsprogramm“ vgl. den gleichnamigen Aufsatz v. O. R. Scholz und den Beitrag von G. Zöller: „Aufklärung über Aufklärung“, in Klemme 2009. 172 Mit besonderer Beachtung des maßgebenden Interessenshorizontes der „späten Nachkommenschaft“ (d. i. das in derlei Horizontbestimmung leitende „Interesse des Willens“: III 470) erhält dieser Hinweis Kants für eine kritische Geschichtstheorie eine ausgesprochen kritische Nuancierung, die eine Anbindung an Motive Benjamins besonders nahelegt (s. u. II., 4.2.).
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anderer“ (I 960).173 Solchen „geheimsten Anlässen“ ist auf geschichtsphilosophischem Terrain wohl auch jene „cyklopische“ Blickverengung zuzuschreiben; dies macht es unverzichtbar, die entworfenen Geschichtsperspektiven samt den darin maßgebenden Leitfäden auch dem unterstellten Urteil und Anspruch der ungehört Gebliebenen auszusetzen, zumal sie auch nur so für „wahr“ zu nehmen sind und folglich nicht stillschweigend aus dem „allgemeinen Gesichtskreis“ (II 575) entschwinden dürfen. Erst dies entspräche einer geschichtsphilosophisch akzentuierten „revolutionierten Denkungsart“, die sich als solche zweifellos nicht in der (gegenüber dem „logischen Egoism“) gebotenen Rücksicht auf „andrer Beifall“ erschöpft. Für die von jenem „Gerichtshof der Vernunft“ geforderte Aufdeckung von subtilen geschichtsphilosophischen Spielarten eines solchen „logischen“ und „moralischen Egoismus“ liefern diese logisch-anthropologischen Bestimmungen Kants jedenfalls ein unverzichtbares Instrumentarium. Der zunächst aufklärungs-orientierte Hinweis auf die „teilnehmende Vernunft“ gewinnt demzufolge auch eine geschichtsphilosophische Akzentuierung und demonstriert solcherart ebenso deren Unentbehrlichkeit gerade für die von Kant selbst intendierte „Kritik der historischen Schriften“ – was freilich nicht nur eine „logische“ Forderung, sondern gleichermaßen „moralische Pflicht“ bedeutet: „(D)ie mitteilende Neigung der Vernunft ist nur unter der Condition billig, daß sie zugleich mit der teilnehmenden verbunden sei. Andere sind nicht Lehrlinge, auch nicht [R]ichter, sondern Kollegen im großen Rate der menschlichen Vernunft“.174 Demzufolge würde sich eine vermeintlich der „Selbsterkenntnis der Vernunft“ verpflichtete Geschichtsphilosophie geradewegs selbst ins Unrecht setzen, wenn sich die in ihr maßgeblichen Gesichtspunkte diesen kritischen Ansprüchen verschließen wollten. Unvermeidlich hätte dies eine Spielart jenes „praktischen Egoism“ zur Folge, der zugleich (als ein „moralischer Eudämonist“),175 sei es auch in kollektiver Dehnung, „alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen worin sieht als in dem, was ihm nützt“ (VI 410), und so allen Grundsätzen einer „aufgeklärten Denkungsart“ widerspricht. Auch in diesem Falle behielte also wiederum „ein bloß ökonomischer Handgriff der Vernunft“ – besser müsste es hier freilich heißen: des Verstandes! –, „sich so viel als möglich Mühe zu ersparen“ (II 571), auf verhängnisvolle Weise das letzte Wort. Auch als Einspruch dagegen ist Kants Hinweis (im Sinne einer entsprechenden Differenzierung des „Vernunftinteresses“) zu vergegenwärtigen: „In Beziehung aufs Subjekt ist der Horizont entweder der allgemeine und absolute, oder ein besondrer und bedingter (Privat-Horizont)“ (III 466). Diese Bestimmung bleibt auch
173 In Kants später „Anthropologie in pragmatischer Absicht“ (im Abschnitt über den „Charakter der Gattung“) findet sich ein bemerkenswertes Gedankenexperiment, das genau in diese Richtung weist: s. VI 688. Hier wäre wohl an Benjamins Befund anzuknüpfen, wonach eine kritische (materialistische) „Geschichtsdarstellung … die Vergangenheit dazu“ führe, „die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen“ (Benjamin 1983 I, 588). 174 Refl. 2566, AA XVI, 418 f; vgl. Refl. 2564, AA XXIV, 396 f (Hervorhebung v. Verf.). Wer aber wären in diesem geschichtsphilophischen Kontext jene „Anderen“, auf deren Einbeziehung sich diese geschichtsphilosophische Forderung richtet? 175 Vgl. dazu Brandt 1999, 123 f.
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bedeutsam für die erforderliche Besinnung auf das jeweils leitende Interesse, das diesen geschichtsphilosophischen Konzeptionen zugrunde liegt. Daraus sollte deutlich geworden sein, weshalb sich diesbezügliche geschichtsphilosophische Aspekte auch für eine zureichende Explikation einer „aufgeklärten Denkungsart“ als unentbehrlich erweisen. Es wäre damit aber auch erst, unaufgebbaren praktischen Vernunftinteressen zufolge, dem umfassenden Orientierungshorizont des „Weltbegriffs der Philosophie“ (und seiner Perspektive auf die „wesentlichen und letzten Zwecke“ der menschlichen Vernunft) im Sinne einer „selbstkritischen“ Aufklärung Genüge getan. Andernfalls wäre der schwerwiegende Verdacht einer Verdunkelungsabsicht wohl nicht so ohne weiteres zu entkräften, dem ein geschichtsphilosophischer Systementwurf jedenfalls dann unweigerlich ausgesetzt wäre, wenn jene geschichtsphilosophisch gewendete Orientierung an den „Gesichtspunkten anderer Menschen“ ausgeblendet (oder auch nur vernachlässigt) bliebe. Die von jenem Gerichtshof selbst erhobene Forderung impliziert nach Kant (in Abwehr eines „moralischen“ bzw. „logischen Solipsismus“ geschichtsphilosophischen Zuschnittes) vor allem auch, den je eigenen maß-gebenden „besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ aus dem „Gesichtspunkt anderer“ zu beurteilen und daraufhin zu relativieren. Auch hier finden sich wiederum naheliegende Anknüpfungspunkte, die von Kant so bezeichnete „Maxime des gemeinen Menschenverstandes“, „an der Stelle jedes andern denken“, d. h. „aus einem allgemeinen Standpunkte … über sein eigenes Urteil“ zu reflektieren (V 390 f ), nunmehr im Kontext einer kritischen geschichtsphilosophischen Perspektive zu rezipieren bzw. entsprechend zu transformieren. Kants Forderung, „vom Standpunkt der anderen aus zu denken“, muss offenbar eine philosophische Verabsolutierung der maßgebenden Idee einer „allgemeinen Weltgeschichte“ verbieten, mithin auch gegen jene sublime „cyklopische“ Versuchung „später Nachkommen“ Stellung beziehen, wenn deren Wahrnehmungshorizont (und die darin verankerten „Idole der Gattung“) doch allein auf jenen „Gesichtspunkt“ fixiert bleibt, „was sie interessiert“ (VI 50) – und sei es auch die Orientierung an jener schon wiederholt benannten „weltbürgerlichen“ Perspektive, die Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ beschließt. Deshalb kann der Ausblick auf „unsere größesten Erwartungen [!] und Aussichten auf die letzten Zwecke, in welchen alle unsere Vernunftbemühungen sich endlich vereinigen müssen“ (II 441), weder in Ausblendung geschichtsphilosophischer Perspektiven erfolgen, noch dürfen Letztere sich einseitig auf jenen für die „Idee einer allgemeinen Geschichte …“ bestimmenden Maßstab fixieren. Waren es also zunächst, bezüglich der Frage nach einem möglichen „Fortschritt zum Besseren“, die praktischen Vernunftideen der „politischen Freiheit“ und der „vollkommen gerechte(n) bürgerlichen Verfassung“ (VI 39), die sich – und zwar dem kritischen „Vernunftgebrauch mitten in der Erfahrung“ zufolge – für jene „Erfahrung im Menschengeschlechte“ als maßgebend erweisen, so steht dem die unabweisliche Forderung entgegen, diese auf das „Interesse der Menschheit“ rekurrierende Begründungsfigur im Sinne eines gegenläufigen praktischen Vernunftinteresses umzukehren. Nur so ist dem unbestechlichen Blick des „zweiten Auges der wahren Philosophie“ standzuhalten und den Ansprüchen dieser für eine aufgeklärte Denkungsart konstitutiven logischen und an-
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thropologischen Kategorien zu genügen. Ohne eine derartige Blickwendung wäre weder der diesem Sinnpotenzial innewohnende irritierende Stachel spürbar noch jene daraus ergehende Forderung Kants einzulösen: „Die Moral muss mit der Kenntnis der Menschheit verbunden werden“. Darin zeigt sich die Unentbehrlichkeit jenes „mikrologischen Blicks“, der jenes eingesetzte „zweite Auge“ auszeichnet; erst dieser befähigt zu der „dekonstruierenden“ Perspektive und erlaubt es auch, mit ideologiekritischem Spürsinn die unausgewiesenen Voraussetzungen und Implikationen eines verkürzten geschichtsphilosophischen „Gesichtspunktes der Weltbetrachtung“ sowie die darin verwurzelten „Narrative“ ans Licht zu bringen. Andernfalls, so hat sich schon gezeigt, verfällt die dem Anspruch nach kritische – „cyklopische“ Verkürzungen überwindende – Geschichtsphilosophie erneut den nicht nur undurchschauten, sondern von ihr selbst sogar propagierten „Idolen“. Zweifellos stellt die durch den geschärften „mikrologischen Blick“ dieses „zweiten Auges“ eröffnete – jenem „negativen Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnisvermögens“ verpflichtete – gegenläufige Vernunftperspektive auch ein entscheidendes Anliegen einer über sich selbst aufgeklärten Aufklärung dar. Die voranstehenden Überlegungen wollten aufweisen, dass die im engeren Sinne der kantischen Logik und Anthropologie zugehörigen Kategorien, die sich schon für Kants Bestimmung einer „aufgeklärten Denkungsart“ als maßgeblich und als unentbehrlich erweisen, auch in diesem geschichtsphilosophischen Umfeld einen unabdingbaren Stellenwert gewinnen. In diesem Sinne sind zunächst einmal die von Kant für eine aufgeklärte Denkungsart als unerlässlich ausgewiesenen anthropologischen und logischen Kategorien auch für sein kritisches geschichtsphilosophisches Denken fruchtbar zu machen, ergeben sich doch in Anknüpfung daran höchst aufschlussreiche geschichtsphilosophische Gesichtspunkte, die sein ausdrücklich benanntes – offenbar an einer umfassenden Vernunftkritik orientiertes – programmatisches Vorhaben einer „Kritik der Geschichte, der historischen Schriften“ um sehr grundsätzliche – gegenläufige – Vernunftperspektiven erweitern. Bemerkenswerterweise haben jene anthropologischen Kategorien gerade für eine unverzichtbare gegenläufige Geschichtsperspektive und für eine geschichtsphilosophische Lesart der Forderung, „eine Sache aus dem Gesichtspunkt anderer Menschen anzusehen“ (s. u. II., 3.), einen besonderen Stellenwert – nicht zuletzt für eine von daher naheliegende Aufnahme einer geschichtsphilosophisch transformierten kritischen Idee der „Naturgeschichte“ (s. u. II., 4.). Jene für eine „aufgeklärte Denkungsart“ sowie für die Kennzeichnung der „allgemeinen Menschenvernunft“ maßgebenden logisch-anthropologischen Prinzipien erweisen sich für die kritische Intention, „Geschichte philosophisch zu denken“, also nicht zuletzt deshalb als unentbehrlich, weil erst so entscheidende gegenläufige geschichtsphilosophische Aspekte als kritische Sinnpotenziale im Denken Kants ins Blickfeld treten können. Sie erlauben es erst, sich auf jene Augenhöhe zu erheben, der auch die (nicht cyklopisch verkürzte) Wahrnehmung der „Dialektik der Aufklärung“176 nicht von vornherein verborgen bleiben 176 Auch Kants Geschichtsdenken und die hierfür konstitutiven praktischen Sinnkategorien stehen so durchaus im Zeichen der Mahnung Horkheimers/Adornos: „… die Aufklärung muss sich auf sich selbst besinnen, wenn die Menschen nicht vollends verraten werden sollen. Nicht um die Konservierung der Vergan-
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muss. Der Sachverhalt, dass eine derartige „Erweiterung des Vernunftgebrauchs“ doch erst über jene „erweiterte Denkungsart“ ermöglicht wird, führt sodann freilich zu einer auf das „zweite Auge der Philosophie“ angewiesenen Vertiefung dieses Problemzusammenhanges und unterstützt somit auch das Vorhaben, neben dem in Kants geschichtsphilosophischen Schriften allein explizierten „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ auch noch andere Problemaspekte freizulegen, die jener zunächst erhobenen Forderung einer aufgeklärt„erweiterten Denkungsart“, „sich in den Standpunkt anderer“ zu versetzen (V 391), noch eine wichtige geschichtstheoretische Zuschärfung verleihen. Dabei sollte vornehmlich der Nachweis erbracht werden, dass für die an jenen Einspruch geknüpfte geschichtsphilosophische „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ sich jene logischen und anthropologischen Kategorien in geschichtsphilosophischer Transformation bzw. Applikation als unverzichtbar erweisen und dergestalt gegen die Trugbilder und „Vorurteile des menschlichen Geschlechts“ gleichermaßen ihren unnachgiebigen Widerstand artikulieren – nicht zuletzt gegen solche mehr oder weniger verborgenen „cyklopischen“ Tendenzen, die in diversen universalgeschichtlichen Konzeptionen zutage treten. Aus einer solchen durchaus skeptischen Einstellung gegenüber „universalgeschichtlichen“ Vernunftkonzeptionen resultieren freilich bedeutsame Verbindungslinien zwischen geschichts- und religionsphilosophischen Aspekten. Gleichwohl bleibt darauf zu achten, dass die jener „teilnehmenden Vernunft“ gewiss nicht verborgen bleibenden „Abgründe“, die in diesen gegenläufigen geschichtsphilosophischen Aspekten einer „revolutionierten Denkungsart“ ins Blickfeld treten, nicht leichtfertig dem religionsphilosophisch-theologischen Zugriff ausgeliefert bzw. voreilig vereinnahmt werden. Vielmehr wird über eine solche geschichtsphilosophisch akzentuierte „revolutionierte Denkungsart“ hinaus die kritische Vermittlung von geschichts- und religionsphilosophischen Problemaspekten als Aufgabe sichtbar, die sodann erst auf die im engeren Sinne religionsphilosophischen Bezüge verweist und dergestalt auch jener im kantischen „Weltbegriff der Philosophie“ enthaltenen Differenzierung der „wesentlichen und höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ entspricht.177 Dabei wird sich zeigen: Diese „Vernünftigkeit“ der „teilnehmenden Vernunft“ wäre so geradezu an Benjamins „Wahrnehmung von dem unrettbar sich Verlierenden“ gebunden, d. h. an der „Rettung der Phänomene“ als „Gewesenem“ orientiert. Für eine solche „Weltkenntnis“ und die darin bestimmende „Kenntnis des Menschen“ genügt das von Kant empfohlene „Lesen der Reisebeschreibungen“ (VI 400) freilich nicht. genheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun“ (Adorno/Horkheimer 1969, 4). – Das Bewusstsein, dass eine solche geforderte „Einlösung der vergangenen Hoffnung“ (ebd.) nicht die „hoffenden Subjekte“ selbst absorbieren (bzw. die „Geschichte der Gattung“ nicht die „Geschichte der Menschen“ nivellieren und von den Hoffenden selbst abstrahieren) darf, gehört selbst zu einer nicht-halbierten Aufklärung und verweist auf religionsphilosophische Anknüpfungspunkte (ohne die auch diesbezüglich notwendige geschichtsphilosophische Perspektive zu nivellieren); nicht zuletzt darauf ist doch Benjamins Verbot, „Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen“ (s. u. II., Anm. 178), gerichtet und berührt so unübersehbar diese von Kant betonte Unterscheidung. Auch Adornos treffende Bemerkung über wesentliche Intentionen der kantischen Metaphysik, wonach Kants Denken „in die Dialektik der Aufklärung dort eingreifen [möchte], wo sie in der Abschaffung von Vernunft selbst terminiert“ (Adorno 1966, 377 f ), erlaubt, ja verlangt sogar eine geschichtsphilosophische Erweiterung. 177 Benjamin I.2, 682.
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In diesen angezeigten Spuren Kants soll sich eine geschichtsphilosophische Lesart jenes Benjamin’schen Hinweises als nicht unplausibel erweisen, der auf die im „Eingedenken“ erst zu machende „Erfahrung“ abzielt, „die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.“178 Gleichwohl werden sich diesbezüglich auch kritische Rückfragen Kants an Benjamin ergeben, die jenes Verbot, „Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen“,179 zunächst einmal allzu begierigen theologischen Zugriffen entziehen – und zwar gerade im Blick auf die dem „Weltbegriff der Philosophie“ aufgegebene Orientierung an den „wesentlichen Zwecken der menschlichen Vernunft“ und die daran geknüpften geschichtsphilosophischen Aspekte. 3.1.2. Die geschichtsphilosophisch akzentuierte Forderung Kants, „unseren Horizont über die Privatbestimmung zur Absicht der species [zu] erweitern“ Der bisherige Befund spricht nun wohl auch dafür, die schon in einer frühen Reflexion der 70er Jahre formulierte Aufgabe, „unseren Horizont über die Privatbestimmung zur Absicht der species [zu] erweitern“,180 in einen geschichtsphilosophisch erweiterten Kontext einzubetten. In Verbindung mit jener entsprechend akzentuierten Beurteilung und 178 So Benjamin (1983 I, 589) in seiner berühmten Antwort an M. Horkheimer. Das vollständige Zitat ist in Band I., S. 420 angeführt. 179 Daran (und an der dem „Chronisten“ zugedachten Aufgabe (s. u. II., 4.2.) orientiert sich Benjamins gewissermaßen geschichtsphilosophisch gewendete „Rettung der Phänomene“. Vgl. I.3, 1237: „Das Wort, der Historiker sei ein rückwärts gekehrter Prophet kann auf zweierlei Weise verstanden werden. Die überkommene meint, in eine entlegene Vergangenheit sich zurückversetzend, prophezeie der Historiker, was für jene noch als Zukunft zu gelten hatte, inzwischen aber ebenfalls zur Vergangenheit geworden ist. Diese Anschauung entspricht aufs genaueste der geschichtlichen Einfühlungstheorie […] Man kann das Wort aber auch ganz anders deuten und es so verstehen: der Historiker wendet der eignen Zeit den Rücken, und sein Seherblick entzündet sich an den immer tiefer ins Vergangene hinschwindenden Gipfeln der früheren Menschengeschlechter. Dieser Seherblick eben ist es, dem die eigene Zeit weit deutlicher gegenwärtig ist als den Zeitgenossen, die ‚mit ihr Schritt halten‘.“ – Benjamin betrachtet das „Eingedenken“ als „Quintessenz“ der jüdischen „theologischen Vorstellung von Geschichte“ (I.3, 1252). Siehe dazu auch die Notiz über „Das Eingedenken als der Strohhalm“ (I.3, 1244); an Benjamins Bemerkung zu erinnern ist naheliegend: „Die Elemente des Endzustandes liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenzen zutage, sondern sind als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet“ (II.1 75). – W. Benjamin wurde deshalb auch als „Philosoph einer negativen Theologie“ bezeichnet, die das Bewusstsein der „unabdingbare(n) Verpflichtung zur Hoffnung“ impliziert; vgl. Pangritz 1996, 123. 180 Refl. 1467, AA XV, 645 f. Diese Aufforderung steht bei Kant zwar zunächst im thematischen Umkreis der Bestimmung der „Pragmatische(n) Geschichte der Menschengattung aus der Anlage ihrer Natur“: „Die Naturbestimmung des Menschen zu seinem vollständigen Zwecke (nicht der Menschheit in einem Individuum, sondern der Gattung). Diese Geschichte lehrt zugleich, wie wir dem vollständigen Zwecke der Natur [!] einstimmig uns bearbeiten sollen. Also unseren Horizont über die Privatbestimmung zur Absicht der species erweitern“ (ebd.). Jedoch ist diese Reflexion über die „pragmatische Geschichte“ im Sinne jener geforderten Einheit von „moralischem“ und „kulturellem Gedächtnis“ ebenso in eine kritische geschichtsphilosophische Lesart zu transformieren und vor allem auch zu erweitern – dann nämlich, wenn diese darin primär an der „Geschichte der Gattung“ (und der darin maßgebenden Rechts idee) orientierte Perspektive sich durch das geschichtsphilosophische kritische Potenzial der „Idee der Menschheit“ korrigieren lässt, daraus einen ihr immanenten – gegenläufig ausgerichteten – kritischen
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Bestimmung dessen, „was der Mensch wissen kann, was er wissen darf, und was er wissen soll“ (III 466), führt dies auf Problemaspekte, die für eine „aufgeklärte“ Denkungsart zweifellos ebenso unaufgebbar sind. Andernfalls erwiese sich jene zwar ausdrücklich eingemahnte Erweiterung „unseres Horizonts … zur Absicht der species“ erneut als Engführung bzw. Ignoranz und müsste sich paradoxerweise geradewegs ins Gegenteil verkehren, wenn diese es sich doch lediglich an einer prospektiv-praktisch orientierten Blickrichtung gelegen sein ließe und darauf letztendlich auch stillschweigend das „Interesse der Menschheit“ reduziert wäre. Schon dies macht auch deutlich, dass sich gemäß einer solchen Forderung, den „Privathorizont zur Absicht der species zu erweitern“, eine solche Absicht nicht auf gegenwärtige und künftige Generationen beschränken kann. Gegenüber jenen „cyklopischen“ Verengungen und damit einhergehender Vermessenheit weist die unumgängliche geschichtsphilosophische Situierung jener Frage über die anthropologischen Aspekte im engeren Sinne hinaus und verleiht erst recht den angeführten Kategorien „Erinnerung, Gedächtnis und Aufmerksamkeit“ – sowie der „Trauer“ (s. dazu u. II., 4.1.1.) – einen besonderen geschichtsphilosophischen Stellenwert. Davon kann die Forderung einer hinreichenden Differenzierung des Vernunfthorizontes nicht unberührt bleiben; der mit jenem erwähnten Perspektiven-Wandel verbundene und nunmehr geschichtsphilosophisch aktualisierte anthropologische Anspruch, „unseren Horizont über die Privatbestimmung zur Absicht der species [zu] erweitern“, wird derart um einen wichtigen vernunftkritischen Aspekt bereichert. Die Ausblendung dieser Gesichtspunkte hätte hingegen unvermeidlich zur Folge, dass Geschichtsphilosophie dem heimlichen Diktat jener „einäugigen“ Leitkategorien unterworfen bliebe, d. h. Geschichte derart dem gegenwartsbezogenen „Umschreiben“ ausgesetzt und somit verstümmelt181 wäre und auch die „Idee der Menschheit“ nicht nur stillschweigend preisgegeben, sondern im Grunde schlechthin für „nichtig“ erklärt wäre (s. dazu u. II., 4.3.; 4.4.).182 Daran ist die weitere Forderung geknüpft, jene programmatische anthropologische Leitfrage, „was der Mensch … aus sich selber macht, machen kann oder machen soll“ (VI 399), noch unter dem besonderen Gesichtspunkt näher zu differenzieren, dass die ernüchternde geschichtsphilosophische Besinnung darauf, „was der Mensch aus sich selber macht“, von den beiden anderen Hinsichten, nämlich, was der „Mensch, als freihandelndes Wesen … aus sich selber machen kann und machen soll“, wohl besser getrennt werden sollte, d. h. eigens zu thematisieren ist. Jedenfalls darf dieses Moment einer „Anthropologie in pragmatischer Absicht“ (also „was der Mensch als freihandelndes Gehalt zu entfalten vermag und nur so davor bewahrt, dass diese „zur Absicht der Spezies“ erweiterten Leitfäden erneut einer Einäugigkeit zum Opfer fallen. 181 Deshalb impliziert dies auch die Kritik an einer Geschichtsauffassung, die „Gewesenes immer neu durch das Jetzt bestimmt“ (so Benjamin in seinem Resümee des Fragments N9a,8, In: I.2, 669 ff ). Auch Benjamins (in kritischer Absicht vollzogene) Rehabilitierung des „chronistischen“ Umgangs mit Geschichte verrät jenes Anliegen – gewissermaßen im Sinne einer geschichtsphilosophischen Variation des Motivs der „Rettung der Phänomene“ (ein Motiv, das bei ihm bekanntlich eine wichtige Rolle spielt: vgl. den Artikel „Rettung“, in: Histor. Wörterb. d. Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter. Bd 8. Darmstadt 1992, Abschnitt II.938 ff ). 182 Kants Satz „In der Natur ist alles, es ist von keinem Soll in ihr die Rede“ (VI 341) gewinnt gerade auch im geschichtsphilosophischen Kontext ein besonderes Gewicht.
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Wesen aus sich selber macht“) schon im Interesse einer vollständigen Ausmessung des Vernunftraumes, d. h. um eines zureichend differenzierten „Vernunftgebrauchs“ willen, nicht vernachlässigt werden bzw. überhaupt ausgeblendet bleiben. Jene in der „pragmatischen Anthropologie“ leitende Absicht ist in dem hier thematisch maßgebenden Umfeld (mit den darin enthaltenen „kulturphilosophischen Aspekten“) von Kant offensichtlich im Sinne eines explikativen „Oder“ gemeint;183 indes spricht vieles dafür, dieses „Oder“ in der angezeigten gegenläufigen geschichtsphilosophischen Konzeption auch in einem alternativen Sinne aufzunehmen. Die derart zugeschärfte Akzentuierung sprengt freilich den Rahmen einer „pragmatischen Anthropologie“ und den hierfür maßgebenden „Interessenshorizont“. Eine an solchem „alternativen Sinn“ orientierte Lesart sollte es allerdings erlauben, jenes kantische Programm der „pragmatischen Anthropologie“ dahingehend aufzunehmen, dass dabei jener kritischen „Aufmerksamkeit“ auch die der Berufung auf die „Subjekte der Geschichte“ (und die daran geknüpften Ansprüche) immanente tiefe Zweideutigkeit nicht entgeht.184 Genauer besehen hat Letztere – auch in jener Unterscheidung der Perspektiven, was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber machen kann und soll“, und „was er aus sich selber macht“ – der vorgeschlagenen Lesart zufolge hier durchaus eine Entsprechung.185 Dies lässt die jenes Geschichtsdenken beherrschende Einäugigkeit sowie die daraus resultierenden „Abstraktionen“ vermeiden und bewahrt die „Subjekte der Geschichte“ – als die in der Geschichte „Unterworfenen“ – davor, der ungeheuren Macht des Wegsehens und des Vergessens ausgeliefert zu werden.186 Jenes eingesetzte 183 Dies hat auch Firla (1981, 91 Anm. 250) zu Recht betont. 184 Die Zweideutigkeit dieses Begriffs des „Subjekts der Geschichte“ stand Benjamin offensichtlich klar vor Augen: „Das Subjekt der Geschichte: die Unterdrückten, nicht die Menschheit“ (I.3, 1244). „Grundlegende Aporie: ‚Die Tradition als das Diskontinuum des Gewesenen im Gegensatz zur Historie als dem Kontinuum der Ereignisse‘ … Grundlegende Aporie: ‚Die Geschichte der Unterdrückten ist ein Diskontinuum‘“. – „Weiteres zu diesen Aporien: ‚Das Kontinuum der Geschichte ist das der Unterdrücker. Während die Vorstellung des Kontinuums alles dem Erdboden gleichmacht, ist die Vorstellung des Diskontinuums die Grundlage echter Tradition‘“ (I.3, 1236). „Die Gegenwart aus dem Kontinuum der historischen Zeit heraussprengen: Aufgabe des Historikers“ (ebd. 1244). „Der Begriff der historischen Zeit steht im Gegensatz zu der Vorstellung von einem zeitlichen Kontinuum“ (ebd. 1245). Diese Aspekte spielen auch in der kritischen „gegensinnig“-naturgeschichtlichen Perspektive eine wichtige Rolle. 185 Vermutlich hatte Ricoeur auch dies mit seinem Hinweis darauf vor Augen: „Es sind handelnde Subjekte, die versuchen, ihre Geschichte zu machen, und die die Übel erdulden, die aus diesen Versuchen hervorgehen.“ (Ricoeur 1991, 409). 186 Nach M. Benedikt war Kant auch „der erste, der … der Geisteswissenschaft nicht nur eine bestimmte Art von Historie (jedenfalls nicht die antiquarische)“ zumutete, „vielmehr die vorausblickende nach einem progressus, zugleich der Kunst, im Sinne der Thematisierung der Spuren gerade auch der Unterlegenen … die Augen … zu öffnen“ (Benedikt 1998, 127). Kant steht hier einem wichtigen Motiv W. Benjamins wohl recht nahe: Die stärkste „Bastion des Historismus … stellt sich als die ‚Einfühlung in den Sieger‘ dar. Die jeweils Herrschenden sind die Erben aller, die je in der Geschichte gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt den jeweils Herrschenden allemal zugute. Der historische Materialist respektiert diesen Tatbestand. Er gibt sich davon Rechenschaft, dass dieser Tatbestand wohlbegründet ist. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg in den tausend Kämpfen errungen hat, von denen die Geschichte durchzogen ist, der hat seinen Anteil an Triumphen der heute Herrschenden über die heute Beherrschten. Das Inventar der Beute, welche die erstern vor den letztern zur Schau stellen, wird von dem historischen Materialisten nicht anders als sehr kritisch gemustert werden. Dieses Inventar wird Kultur genannt. Was
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„zweite Auge“ bzw. auch der installierte „Gerichtshof“ hätten deshalb auch zu prüfen, ob und inwieweit jene geschichtsphilosophisch akzentuierte Forderung, „seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen anzusehen“, nicht auch noch einer näheren Differenzierung der angezeigten gegenläufigen „Perspektiven“ bedürfen, die sich daran orientieren, den hier zu berücksichtigenden „Diversifikationen“ im Begriff des „Subjekts der Geschichte“ gerecht zu werden. So bestätigt sich eben lediglich als die Kehrseite jenes Sachverhalts, dem zufolge das Erinnern selbst in einem Interesse-Nehmen der praktischen Vernunft verwurzelt ist, dass dies ebenso für das Vergessen gilt und so für den gerade auch in diesem geschichtsphilosophischen Zusammenhang wichtigen „Unterschied, etwas nicht wissen und etwas ignorieren, d. i. keine Notiz wovon nehmen“ (III 470), sensibilisiert. Wenn ein solches „Keine-Notiz-wovon-Nehmen“ offensichtlich ein derartiges Desinteresse verrät, dann wird die Frage nach der spezifischen Eigenart dieser „Gesinnung“ („Denkungsart“) wohl unabweislich, die in solcher „Ignoranz“ bzw. in solchem „Vergessen“ sichtbar wird, genauerhin: Welche „Denkungsart der Zuschauer“ tritt denn in solcher „negativen Anteilnahme“ zutage? Dagegen wäre dann jenes vernunft-fundierte Erinnern zur Geltung zu bringen, das alle „Siegersinn“-orientierten – somit lediglich die Logik naturwüchsiger Selbstbehauptung widerspiegelnden – Einheitsstiftungen und deren „Leitfäden“ sowie die aus derlei erzählenden „Fügungen“ gewonnenen geschichtlichen Orientierungen unnachgiebig unterbricht: „Die destruktiven Momente: Abbau der Universalgeschichte, Ausschaltung des epischen Elements, keine Einfühlung in den Sieger. Die Geschichte muss gegen den Strich gebürstet werden.“187 Allein so bleiben sie gegenüber ideologischen Verzerrungen und Gewaltsamkeiten sensibel, die allzu oft gerade in dem Vorhaben erkennbar werden, „einen nach Herkunft und Zukunft durchschaubaren Zusammenhang menschlicher Geschichte zu begründen.“188 Es sind nicht zuletzt diese Perspektiven einer kritischen Geschichtsphilosophie, deren Anspruch so auf eine strikt gegenläufige Wahl jenes „Standpunkts“ als eine unumgängliche Forderung des subversiven Blicks des „zweiten Auges der Philosophie“ führt und dabei auf die Aufmerksamkeit und Tiefenschärfe dieses „zweiten Auges“ verwiesen bleibt. Dies eröffnet, eben mit Rücksicht auf Kants „Weltbegriff der Philosophie“, der historische Materialist an Kulturgütern überblickt, das ist samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen betrachten kann. Es dankt sein Dasein nicht der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Der historische Materialist wahrt Distanz davon. Er hat die Geschichte gegen den Strich zu bürsten – und müßte er die Feuerzange zu Hilfe nehmen“ (Benjamin I.3, 1241). 187 Benjamin I.3, 1240. – Die kritische „Idee einer Universalgeschichte“ charakterisiert Benjamin demgegenüber andernorts (I.3, 1238) als eine „messianische“: „Die messianische Welt ist die Welt allseitiger Aktualität. Erst in ihr gibt es eine Universalgeschichte.“ Zu Benjamins Kritik an der Idee der „Universalgeschichte“ vgl. jedoch auch die zurückhaltend-skeptische Haltung Adornos, der im Sinne einer „dialektischen Geschichtsphilosophie“ und einer darin zu denkenden „negativen Identität“ fordert, „die, gegeneinander gleichgültig auseinander weisenden, Konzeptionen von Diskontinuität und Universalgeschichte zusammen [zu] denken.“ (Adorno, Vorlesungen 135 [10. Vorlesung]) (= Adorno 2001) – Siehe dazu auch Adornos Ausführungen in der 16. Vorlesung, ebd. 201 ff. 188 Riedel 1989a, 125.
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noch jenen – durch „Erfahrung und Geschichte“ (VI 683) provozierten – anderen „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“, der unverkennbar in einem davon unterschiedenen erkenntnisleitenden Interesse verwurzelt ist. Aus dieser gleichermaßen einem „philosophischen Kopf“ (VI 49 f ) zugedachten Hinsicht resultieren auch für den „Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung“ auf diesem geschichtsphilosophischen Boden notwendigerweise neue Perspektiven. Sie waren es wohl, die W. Benjamin als die in Kants Geschichtsphilosophie verborgenen Aspekte vor Augen standen und bei ihm offensichtlich Erwartungen weckten, die auch in seiner Bemerkung anklingen, dass bezüglich der nach seiner Einschätzung „zentralen“ Probleme der „Geschichtsphilosophie … bei Kant im entscheidenden Sinne wohl erst dann etwas [zu] lernen [sei,] wenn wir sie für uns neu gestellt haben.“189 In der Tat muss sich in einer derartigen Hinsicht auch jene leitende „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ noch gegen den Einwand verteidigen, selbst allzu leicht auf eine Version jener „pragmatischen Geschichte“ zurückzufallen. Ohne kritische Selbstprüfung bzw. Einbeziehung einer gegenläufigen Perspektive bliebe sie wohl selbst dem Verdacht ausgesetzt, dass sie in Wahrheit – lediglich auf subtilere Weise – ein der Vernunft „fremdes Interesse bloß administriere“ (IV 76) (um diese von Kant – freilich zur Kennzeichnung der Heteronomie des Willens – verwendete Wendung hier aufzunehmen). Nunmehr bestätigt sich erneut, weshalb die in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ maßgebende Perspektive ebenso die Anerkennung bzw. Einbeziehung des gegenläufigen „Gesichtspunkts der Weltbetrachtung“ erfordert. Die von Kant zwar eingeräumte Rücksicht auch auf dasjenige, „was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht … geschadet haben“ (VI 50; Hervorhebung v. Verf.), fordert somit noch eine besondere – über die derart zwar erweiterte Perspektive noch hinausweisende, weil so erst opferorientierte – Akzentuierung.190 Findet die für das kantische Programm einer Vernunftkritik so charakteristische Verknüpfung von Legitimation und Limitation in einer solchen geschichtsphilosophischen Lesart nicht erneut eine eindrucksvolle Bestätigung – zumal doch nur so gewährleistet wäre, dass darin wirklich allein ein „Interesse der Vernunft“ (an sich selbst) bestimmend ist und auch diesbezüglich die Unterscheidung „quid facti?“ und „quid juris?“ unverzichtbar macht?
189 Briefe von W. Benjamin, hg. v. G. Scholem, 161; 159. Die von Benjamin daran geknüpfte (besser: von ihm angedeutete) Kritik am kantischen „Erfahrungs“-Begriff ist hier nicht zu verfolgen. 190 Fügt sich nicht auch in diesen kantischen Begründungskontext Adornos – der Sache nach ohnehin Kants Begründung des „Primats der praktischen Vernunft“ variierende – These problemlos ein: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist die Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt“? (Adorno 1966, 29).
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3.2. Eine geschichtsphilosophische Konsequenz: Tiefes „Befremden“ und unüberwindliche Irritationen Jene „gegenläufigen“ geschichtsphilosophischen Motive werden freilich schon aus dem „Befremden“ Kants vernehmbar, dass es „der Natur darum gar nicht zutun gewesen [zu] sein [scheint], dass er [der Mensch] wohl lebe. Befremdend bleibt es immer hiebei: dass die älteren Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten; und dass doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (zwar freilich ohne ihre Absicht) gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können“ (VI 37).191 Ein derartiges „Befremden“ speist sich offenbar aus dem unbeirrbaren Bewusstsein, dass hier, auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain, die Vernunft sich in „Aporien“ verstrickt bzw. auf dem ihr eigentümlichen Gebiet unweigerlich mit sich selbst in Widerspruch gerät, sofern sie sich einerseits an der „Idee der Menschheit“ orientieren muss und ebendies doch nicht zu leisten vermag, wenn sie jene „Idee der Menschheit“ im Sinne einer „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ auf den zukunftsgerichteten rechtlichpolitischen Fortschritt beschränkt.192 191 Die diesbezügliche Nähe des kantischen „Befremdens“ zu einem wichtigen Motiv Herders ist freilich nicht zu übersehen: „Alle Werke Gottes haben dieses eigen, dass, ob sie gleich alle zu Einem unübersehlichen Ganzen gehören, jedes dennoch auch für sich ein Ganzes ist und den göttlichen Charakter seiner Bestimmung in sich träget. So ists mit der Pflanze und mit dem Tier; wäre es mit dem Menschen und seiner Bestimmung anders? Dass Tausende etwa nur für Einen, dass alle vergangenen Geschlechter fürs letzte, dass endlich alle Individuen nur für die Gattung, d. i. für das Bild eines abstrakten Namens hervorgebracht wären? So spielt der Allweise nicht: er dichtet keine abgezogenen Schattenträume; in jedem seiner Kinder liebet und fühlt er sich mit dem Vatergefühl, als ob dies Geschöpf das Einzige seiner Welt wäre. Alle seine Mittel sind Zwecke; alle seine Zwecke Mittel zu größern Zwecken, in denen der Unendliche allerfüllend sich offenbaret. Was also jeder Mensch ist und sein kann, das muß Zweck des Menschengeschlechts sein; und was ist dies? Humanität und Glückseligkeit auf dieser Stelle, in diesem Grad, als dies und kein andres Glied der Kette von Bildung, die durchs ganze Geschlecht reichet. Wo und wer du geboren bist, o Mensch, da bist du, der du sein solltest; verlass die Kette nicht, noch setze dich über sie hinaus; sondern schlinge dich an sie! Nur in ihrem Zusammenhange, in dem, was du empfängest und gibst, und also in beidem Fall tätig wirst, nur da wohnt für dich Leben und Friede“ (so Herder im 9. Buch seiner „Ideen“: XIII, 350). – Dies relativiert wenigstens Kittsteiners Verweis auf das „Paradox, auf das ebenfalls als Erster Kant hingewiesen hat: Ist die Vollendung der Gattung unendlich, dann wird den früheren Generationen zugemutet, an einem Glück für die spätern zu arbeiten, das sie doch nicht mehr genießen werden“ (Kittsteiner 2003, 104). Dies besagt freilich auch, dass der Umstand, wonach „the free achievements of some are means to the freer achievements of others“ (so ein berühmt gewordener Einwand von E. Fackenheim gegen Kants Geschichtskonzeption: Fackenheim, 1956/57, 397), für den eben darob „befremdeten“ Kant keineswegs das letzte Wort bleiben konnte. Bezüge zu Kants Kritik an Mendelssohn und Herder hinsichtlich der „Vervollkommnung des Menschengeschlechts“ sind hier nicht zu verfolgen. 192 Habermas’ Irritation steht dem kantischen „Befremden“ unübersehbar nahe: „Die Diskursethik kann nicht auf eine Gewalt zurückgreifen, die die Irreversibilität der Folge geschichtlicher Ereignisse aufhebt. Wie können wir aber dem diskursethischen Grundsatz, der jeweils die Zustimmung aller fordert, genügen, wenn wir nicht in der Lage sind, das Unrecht und den Schmerz, den frühere Generationen um unseretwillen erlitten haben, wieder gutzumachen – oder wenigstens ein Äquivalent für die erlösende Kraft des Jüngsten Gerichtes in Aussicht zu stellen? Ist es nicht obszön, dass die nachgeborenen Nutznie-
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Schon ein solches „Befremden“ impliziert deshalb insofern den „Gedanken des Gegensatzes“ – „falsum est index sui et veri“193 –, als es der irritierenden Erfahrung der Diskrepanz zwischen dem praktisch aufgegebenen gattungsgeschichtlichen „Fortschritt zur Vollkommenheit“, d. i. vom „Schlechten zum Besseren“ (VI 92), und dem „befremdenden“ heillosen Schicksal der zum bloßen Werkzeug des geschichtlichen Fortschritts degradierten Individuen inne wird; Letztere wollen bzw. können sich auch nicht bei jener „tröstenden Aussicht“ beruhigen, in „ihrer Nachkommenschaft zu leben, die es vielleicht besser haben, oder auch wohl … ihre Beschwerden erleichtern könnten“ (VI 90).194 Ebendies ist freilich nicht allein „rätselhaft“ (VI 37), sondern provoziert als eine „befremdende“ Negativität den entschiedenen Einspruch „praktischer Vernunft“. Dies muss es dieser kantischen Perspektive zufolge verbieten, jene Anerkennung „fremder Vernunftansprüche“ auf eine Weise einzuschränken, die in der Tat auf eine Einschränkung der „Universalität der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft … auf die Zeitgenossen“ hinausliefe. Nur um den Preis des Rückfalls in jene „Naivitäten des Begriffs der einen Menschheit, die nur eine Solidarität nach vorn kennt“, ist Kants Forderung, „unsern Horizont … zur Absicht der Species [zu] erweitern“, auf die Perspektive zu reduzieren, „Freiheit als das zu denken, was sich in einem nach vorn gerichteten Prozess emanzipatorischen Handelns geschichtlich erst herausstellt.“195 In diesem Sinne war auch aus jenem „Befremden“ Kants das untrügliche Gespür für den Mangel erkennbar, der einer „Idee einer Gerechtigkeit“ anhaftet, „die mit dem an früheren Generationen begangenen Unrecht erkauft ist“; nicht zuletzt aus derartißer für Normen, die im Lichte ihrer erwartbaren Zukunft gerechtfertigt erscheinen mögen, posthum von den Erschlagenen und Entwürdigten eine kontrafaktische Zustimmung erwarten?“ (Habermas 1991a, 29) Ebendies ist nicht möglich, ohne jenes der Vernunft „eingeschriebene“ Veto-Recht zu verletzen. – Dass das von Habermas (unter Verweis auf Lenhardt bzw. Peukert) aufgenommene Benjamin’sche Motiv der „anamnetischen Solidarität“ dem „Befremden“ Kants motivlich offenbar sehr nahe steht, zeigen schon die eindringlichen Formulierungen in Habermas 1984, bes. 516 f. Freilich: „Anamnetische Solidarität folgt aus dem universalistischen Ansatz der Diskursethik zwingend als ein Postulat, aber die im Mitleiden hergestellte Beziehung selbst liegt jenseits moralisch-praktischer Einsichten“ (ebd.). So unzweifelhaft Habermas’ wiederholte Bezugnahme auf die motivliche Anerkennung der Anliegen einer „anamnetischen Vernunftkonzeption“ erkennen lässt, dass seine Konzeption einer Diskursethik gegenüber diesen Fragen keinesfalls unsensibel ist, so spricht gleichwohl einiges dafür, dass er diesbezüglich dem – für Kants „Befremden“ zwar durchaus sensiblen und doch unbeirrt theologie-resistenten – nüchternen und „prinzipiell trostlosen“ Befund Marcuses zustimmt: „Die Menschen können ohne Angst sterben, wenn sie wissen, dass das, was sie lieben, vor Elend und Vergessen bewahrt ist. Nach einem erfüllten Leben können sie es auf sich nehmen, zu sterben – zu einem Zeitpunkt ihrer eigenen Wahl. Aber selbst der endliche Anbruch der Freiheit kann diejenigen nicht mehr erlösen, die unter Schmerzen gestorben sind. Die Erinnerung an sie und die aufgehäufte Schuld der Menschheit gegenüber ihren Opfern verdunkeln die Aussichten einer Kultur ohne Unterdrückung.“ (Marcuse 1969, 233). 193 Vgl. zur Umkehrung des Grundsatzes: „Verum est index sui et falsi“, Adornos Gespräch mit E. Bloch, in: Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno. Gesprächsleiter: Horst Krüger. In: E. Bloch, Tendenz – Latenz – Utopie. Frankfurt/Main 1978. 194 In Kants „Befremden“ spiegelt sich etwas wider von der „Hoffnung im Zeichen der Trauer angesichts einer gegenüber den nicht Überlebenden schlechterdings ungerechten Besserung, auf die man hinzuarbeiten gedachte. Diese Hoffnung konnte den Toten keine für ihren verfrühten Tod etwa entschädigende ‚historische Gerechtigkeit‘ in Aussicht stellen. Man konnte von Anfang an nicht darauf hoffen, dass sich die Zukunft der Aufklärung wenigstens nachträglich als ein gehaltenes, versöhnendes Versprechen einer solchen Gerechtigkeit würde rechtfertigen können“ (Liebsch 2006, 126 f ). 195 Peukert 1978, 335.
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gen Erfahrungen ist auch seine Sensibilität für jenen nicht zu verschweigenden Einspruch des „es müsse anders zugehen“ gespeist (V 587).196 Das von Kant bekundete „Befremden“ war ja auch unüberhörbarer Ausdruck seiner Skepsis, mit der er einschlägigen Ansprüchen bzw. Rechtfertigungen einer gewissermaßen geschichtstheoretischen „Rettung der Phänomene“ begegnete. Dies ist nunmehr auch dahingehend aufzunehmen, dass eine in praktischen Vernunftprinzipien fundierte, gleichwohl auf die „empirisch abgefaßte Historie“ bezogene kritische Geschichtsphilosophie sich gemäß jener „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ den Widerfahrnissen in der „Geschichte als Leidensgeschichte der Welt“ nicht verschließen bzw. davon abstrahieren darf. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht muss das „Moral und Kenntnis der Menschheit“ in sich vereinende „Befremden“, das als solches sich auch nicht in bloßer Dokumentationsabsicht erschöpfen kann, offenbar eine im Grunde eben doch lediglich an der „Geschichte der Herrschaft und der Sieger“ orientierte Geschichtsschreibung kritisieren. Deshalb lässt sich ein solches „Befremden“ auch durch die auf die „conditio humana“ abzielende Auskunft nicht beruhigen, dass – während „bei allen übrigen sich selbst überlassenen Tieren jedes Individuum seine ganze Bestimmung erreicht“ – „bei den Menschen aber allenfalls nur die Gattung“ dieses Ziel erreicht, „so, dass sich das menschliche Geschlecht nur durch Fortschreiten, in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen, zu seiner Bestimmung emporarbeiten kann“ (VI 676). Jedenfalls enthält Kants „Befremden“ auch die kompromisslose Aufforderung, das propagierte „Ideal der befreiten Enkel“ (E. Bloch) als bloßes „Idol“ zu durchschauen. Vornehmlich sind es jene mehr oder weniger subtilen bzw. raffinierten Spielarten dieser eine solche „pragmatische Anthropologie“ bestimmenden Logik, gegen die Kants „Befremden“ (VI 37) gerichtet ist.197 Dies lässt auch seine Sensibilität dafür erkennen, dass die von der „Polizei der Vernunft“ ins Recht gesetzte Forderung der „allgemeinen Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“ (II 640), selbst doch allzu leicht Gefahr läuft, diesen Anspruch erneut in ein bloßes – und sei es ein „generalisiertes“ – „Privaturteil“ zu verkehren, d. h. eben in dasjenige der Davongekommenen und jeweils (Über-)Lebenden. Diese auch durch jene angezeigte „tröstende Aussicht in die Zukunft“ – „tröstend“ worüber? – nicht zu mildernde Irritation Kants bringt schließlich die – nunmehr eben geschichtsphilosophisch gewendete – Kritik an den Erscheinungsformen 196 Hier zeigt sich unzweifelhaft Kants Sensibilität gegenüber einer bestimmenden „siegersinn“-verpflichteten Logik jenes „Vorwärts, über Gräber hinweg!“ bzw. für die „Dialektik des Fortschritts“: „Ein Stück Dialektik des Fortschritts ist, dass die geschichtlichen Rückschläge, die selbst vom Fortschrittsprinzip angezettelt werden […], auch die Bedingung dafür bereitstellen, dass die Menschheit Mittel findet, sie in Zukunft zu vermeiden. Der Verblendungszusammenhang […] treibt über sich selbst hinaus. Vermittelt zu jener Ordnung, an der die Kategorie des Fortschritts erst ihr Recht gewönne, ist er darin, dass die Verwüstungen, die der Fortschritt anrichtet, allenfalls mit dessen eigenen Kräften wieder gutzumachen sind, niemals durch die Wiederherstellung des älteren Zustands, der sein Opfer ward“ (Adorno 1984, 109). 197 Jenes kantische „Befremden“ stand jedenfalls auch dem Motiv nicht fern: „Authentisches Geschichtsbewußtsein ist ohne solchen Protest, ohne Eingedenken nicht zu erlangen. Es nimmt das Recht des Gewesenen wahr, das diesem nicht wurde und das es unverjährt an die Gegenwart hat: das einer verlorenen Zukunft, die je noch zu finden bleibt. Die Kraft, die dem Eingedenken erwächst, ist von der Gegenwärtigkeit gespeist, die unerfüllt im Gewesenen liegt“ (Schweppenhäuser 1975, 8).
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
szientistischer „Cyklopen“ bzw. jenes (sei es auch kollektivistisch erweiterten) „moralischen Egoism“ zum Ausdruck, der, lediglich in einer besonderen Zuschärfung, unverkennbare Züge jener „Gleichgültigkeit usw. der Urteile anderer im Vergleich mit den meinigen“ verrät.198 Kants „Befremden“ macht deutlich, weshalb jenes unbestechliche „zweite Auge der Philosophie“ schon im Sinne dieses tiefen „Befremdens“ darauf insistieren muss, dass jene gewiss unentbehrlichen politisch-rechtlichen Vernunftperspektiven (in der Bestimmung des „höchsten politischen Gutes“) sowie ein ausschließlich daran maßnehmendes Fortschritts- und Geschichtsverständnis ihre Hoffnung offenbar allemal auf dem Rücken der Opfer und Besiegten der Geschichte hegen, d. h. sich dem damit einhergehenden Vergessen jener „Geschichte als Leidensgeschichte der Welt“ (s. u. II., Anm. 322 u. 365) verdanken. Nicht zuletzt wäre davon jene geschichtsphilosophisch zu akzentuierende bzw. „aufgehobene“ logische Forderung inspiriert, „seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen“ anzusehen (die damit eben keinesfalls lediglich einem „logischen Interesse“ entspricht). Gegenüber dem von Kant einem „philosophischen Kopf“ zugemuteten „anderen Standpunkt“ für eine bloß „empirisch abgefaßte Geschichte“ bleibt eine kritische Geschichtsphilosophie demzufolge damit zu konfrontieren, jenem gegenläufigen Standpunkt Gehör und auch Geltung zu verschaffen, den ein „philosophischer Kopf“ jedenfalls dann einnehmen muss, wenn die in der Idee einer „Anthropologie in pragmatischer Absicht“ enthaltenen kritischen Sinnpotenziale nicht aus dem Blickfeld geraten – andernfalls wäre der für jene „tröstenden Aussichten“ zu bezahlende Preis doch wohl allzu hoch und würde die Ansprüche der teilnehmend-„allgemeinen Menschenvernunft“ letztendlich verraten, d. h. liefe auf das Einverständnis damit hinaus, das „Interesse der Menschheit“ stillschweigend zu halbieren. Der Einspruch dagegen erweist sich schon deshalb als unumgänglich, weil es andernfalls vermutlich nur noch ein kleiner Schritt wäre, dass jene ideen-geleitete Aussicht auf die „Geschichte der Menschheit im Ganzen ihrer Bestimmung“ (VI 794) – durchaus insgeheim einer bestimmten Logik bzw. Lesart des „Nutzens der Historie für das Leben“ folgend – sich unversehens in eine besonders raffinierte geschichtsphilosophische Version jener Klugheits-Maxime des pragmatischen Verstandes verkehrt, „andere Menschen zu seinen Absichten geschickt zu brauchen“ (VI 674).199 198 AA XXIV, 740. Solche – über geschichtsphilosophische Aspekte gleichwohl hinausweisende – Erfahrung bringt auch folgender Passus zum Ausdruck (VI 791): „Es ist also zwischen der Stufenerhebung eben desselben Menschen, zu einer vollkommneren Organisation in einem andern Leben, und der Stufenleiter, welche man sich unter ganz verschiedenen Arten und Individuen eines Naturreichs denken mag, nicht die mindeste Ähnlichkeit. Hier lässt uns die Natur nichts anders sehen, als daß sie die Individuen der völligen Zerstörung überlasse, und nur die Art erhalte; dort aber verlangt man zu wissen, ob auch das Individuum vom Menschen seine Zerstörung hier auf Erden überleben werde, welches vielleicht aus moralischen, oder, wenn man will, metaphysischen Gründen, niemals aber nach irgend einer Analogie der sichtbaren Erzeugung geschlossen werden kann.“ 199 Der Verweis darauf, „wie man den Menschen zu unsern Absichten brauchen kann“, findet sich auch in „Immanuel Kants Anweisung zur Menschen- und Weltkenntnis“, S. 1; zit. n. Hinske 1980a, 102. Dass diese Perspektive freilich nicht als die leitende Intention der „pragmatischen Anthropologie“ missverstanden werden darf, betont besonders Firla 1981, bes. 95 f. Andernfalls würde die anthropologische Klugheitslehre einer „pragmatischen Geschichte“ die „moralischen Zwecke“ überdecken und die für den „Weltbegriff der Philosophie“ maßgebende „Ordnung der Zwecke“ geradezu auf den Kopf stellen.
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Die schon in jenem „Befremden“ Kants anklingenden Irritationen lassen wohl unübersehbare Affinitäten zu jenem denkwürdigen – von dem Neukantianer H. Lotze stammenden – Motiv einer „geheime(n) Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem“ erkennen, das bezeichnenderweise in W. Benjamins „geschichtsphilosophische Thesen“200 Eingang gefunden hat. Durchaus in diesem Sinne (obgleich in gewisser Hinsicht auch gegen Kant selbst) bleibt deshalb darauf zu insistieren, dass nicht alles „Zurücksehen aufs Vergangene (Erinnern)“ sich allein auf die zukunfts-orientierte Absicht stützt, „um das Voraussehen des Künftigen dadurch möglich zu machen“ (VI 491),201 zumal andernfalls auch das „Offenhalten des Rechtsstreits der Geschichte“, der „Einspruch gegen Endgültigkeit“ im Sinne der so erst begründbaren Konzeption einer „Gegengeschichte“,202 nicht zu denken ist (s. u. II., 3.3; 3.4.). Andernfalls bliebe im Grunde jene in seiner „pragmatischen Anthropologie“ leitende Orientierung (an dem, „was der Mensch macht, machen kann und machen soll“) nicht nur unvollständig, sondern liefe letztendlich wohl überhaupt auf eine grundsätzliche Verfehlung hinaus. Offenbar ist aus diesem „Befremden“ Kants auch etwas von dem Widerstand dagegen vernehmbar, ob bzw. dass jener in „weltbürgerlicher Absicht“ vorgenommene Blick auf das geschichtsphilosophische Projekt der Geschichte als „Material unserer Pflicht“ so ohne Weiteres als die einzig legitime – oder auch nur als vorrangige – Vernunftperspektive gelten darf (obgleich diese in Kants ausgearbeiteter Geschichtsphilosophie zweifellos die einzig maßgebende ist).203 200 „Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? … Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen“ (Benjamin I.2, 693). Indes, im Blick auf andere Bezugnahmen Benjamins auf Motive Lotzes liegt es nahe, diesen Verweis auf die uns mitgegebene „schwache messianische Kraft“ recht genau zu nehmen; denn gerade dann zeigt sich das notwendige klare Bewusstsein darüber impliziert, dass diese „schwache messianische Kraft, an welche die Vergangenheit Anspruch hat“, dennoch nicht an das Unabgegoltene der Hoffenden selbst heranreicht und deshalb auf das Motiv eines „Eingedenkens Gottes“ verweist (s. u. die Anm. 368 des II. Teils). Die Verpflichtung zum „Eingedenken“ bleibt indes „ohnmächtig“, zumal sie nicht an die Opfer heranreicht und so die uns mitgegebene „messianische Kraft“ gleichermaßen als unverzichtbar wie auch als „schwach“ erweist, weshalb Letztere auch über sich hinausweist. „Schwach“ bleibt einer kantischen Lesart zufolge diese uns „mitgegebene messianische Kraft“ nicht zuletzt eben deshalb, weil sie sich lediglich auf den „Gott in uns“, auf seine „moralische Sensibilität“ und die darauf begründete Hoffnung zu stützen vermag. Dass dem „Gedächtnis der Namenlosen … die historische Konstruktion geweiht“ ist (Benjamin I. 3., 1241), bestätigt dies lediglich. 201 Vor allem mit Blick auf Benjamin wird sich dem geschärften „Auge der Philosophie“ zufolge die Notwendigkeit zeigen, dass eben in der Tat sich nicht bloß „die Chronologie nach der Geschichte, sondern umgekehrt, [sich auch] die Geschichte nach der Chronologie richten müsse“ (VI 503). – H. Schweppenhäuser hat W. Benjamins Bemühen um ein „aufgeklärte(s) und selbstaufgeklärte(s) Bewusstsein von der Geschichte“ in den Satz konzentriert: „Es gibt kein solches aufgeklärtes Geschichtsbewußtsein ohne die Erinnerung an die großen Versuche, aus dem Stand der Unterdrückung, der geschichtlichen Kämpfe, das Bewusstsein der Geschichte zu erlangen – und damit die eigene Geschichte selber, die, welche tuam rem agit, und in welcher tu ipse rem tuam agis“ (Schweppenhäuser 1999, 99). 202 Angehrn 1991, 172 f. 203 Kants diesbezügliche Irritation ist wohl auch durch Herders Diagnose verursacht, „der Weg des Schicksals ist eisern und strenge“; „der Gang der Vorsehung geht auch über Millionen Leichname zum Ziel“ (zit.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
3.2.1. Eine frühe – in programmatischer Hinsicht wegweisende – geschichtsphilosophische Reflexion Kants: „Die Geschichte der Menschheit ist von der der Menschen unterschieden …“ Jenes von Kant geäußerte „Befremden“ und eine daran geknüpfte geschichtsphilosophische Blickwendung sind indes schon in Kants früher Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ angezeigt: „Die Geschichte der Menschheit ist von der der Menschen unterschieden. Die Menschheit gewinnt und verliert. […] Der einzelne Mensch verliert, aber gewinnt als ein Glied im Ganzen, ist jetzt im Fortschritt zur Vollkommenheit.“204 Schon diese Unterscheidung lässt sich, wie sich im Folgenden zeigen soll, ohne Zwang wohl ebenso als die Einsicht bzw. als das Motiv interpretieren, dass auch die gebotene anamnetische Sensibilität für das Unabgegoltene vergangener Hoffnungen selbst gleichwohl eine „Abstraktion von“ den hoffenden „vernunftbegabten Erdwesen“ verrät, die jener „Aufmerksamkeit“ keinesfalls verborgen bleibt – denn „unabgegolten“ im eigentlichen Sinne sind im Blick auf die „Geschichte der Menschen“ doch in Wahrheit die „menschlichen Subjekte“ selbst.205 Gehofft wird ja n. Brandt 1999, 473). Gegen dieses Schicksal, wonach der Lauf der Natur „die Individuen der völligen Zerstörung überlasse, und nur die Art erhalte“, verweist Kant auf die hierfür – auch jenem „Befremden“ zugrunde liegenden – maßgeblichen „moralischen, oder, wenn man will, metaphysischen Gründe“ (so in der kurz nach seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ erschienenen Herder-Rezension: VI 791). 204 Refl. 1499: AA XV, 781 ff. Diese (schon für die Zeit von 1773–1777 datierte) Reflexion kann geradezu als eine frühe programmatische Kurzformel der zu differenzierenden Momente des „höchsten Gutes“ bzw. der Hoffnung gelesen werden; Kant hat das darin maßgebende Motiv zeitlebens in kritischer Absicht festgehalten, wobei freilich die nahezu wörtliche Übereinstimmung mit Herders Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ auffällt. – In dieser frühen Reflexion ist die von B. Recki diagnostizierte „Antinomie des Individuums“ wohl äußertst knapp und zugeschärft zum Ausdruck gebracht. „Auf diese Weise partizipieren die vielen, die in Zeiten der Unfreiheit und Ungleichheit gelebt haben, nur symbolisch an den Errungenschaften des Fortschritts: Sie partizipieren daran vermittelt über den Begriff des Menschen – als Glieder der Menschheit. Hier zeigt sich das eigentliche Problem der unter dem Begriff des Fortschritts verstandenen Geschichte“ (Recki 2006b, 87 f ). Recki sieht hier bei Kant nicht nur „eine Gratwanderung zwischen Trost und Ideologie, sondern auch … eine veritable Antinomie. […] Es ist die Antinomie des Individuums, die sich der geschichtsbewusste Teleologe im Interesse am Fortschritt in der Geschichte und mit Blick auf das Ziel der Geschichte zuzieht“ (ebd.). Indes: Fraglich ist, ob hier von einer „Antinomie“ im strengen Sinne die Rede sein kann, zumal hier jedenfalls keinerlei aufzulösender „Schein“ zugrunde liegt; vielmehr kommt darin die gebotene Unterscheidung und Vermittlung diverser Vernunftansprüche zur Geltung – d. i. ein „Gegen-Satz“ bzw. einander „widerstreitende“ Gesichtspunkte, sowie deren vorausgesetzte „Leitfäden“ und die in nicht nivellierbaren Interessen verwurzelten „Ideen“; darin spiegelt sich auch jenes „Befremden“ Kants über die „conditio humana“ – eben eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ – wider. Die abgründige Aporie, dass „die Vielen“ – und wer wäre ihnen, letztendlich, nicht zuzurechnen? – „an den Errungenschaften des Fortschritts … vermittelt über den Begriff des Menschen – als Glieder der Menschheit“ partizipieren sollen, ist doch bei Kant ein – besser: das? – ganz entscheidendes Scharnier zwischen Kultur-, Geschichts- und Religionsphilosophie. Diese frühe kantische Einsicht zeigt sich auch in seiner späteren Differenzierung des „höchsten (politischen) Gutes“, die noch in der Notiz anklingt: „Die Bestimmung des menschlichen Geschlechts ist der Bestimmung des einzelnen Menschen entgegen“ (AA XXVII, 233); daran hat Kant stets festgehalten, weil dies noch in seinem späten Denken die Differenz und gleichermaßen ein Bindeglied zwischen Geschichts- und Religionsphilosophie darstellt. 205 Dies bleibt auch zu Schweppenhäusers Mahnung anzumerken: „Die vergebliche Hoffnung der Toten ist das, womit sie in den Lebenden leben. Historisches Bewusstsein, das nicht an solchem Leben sich nährt,
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nicht für freischwebend „Unabgegoltenes“ und darauf bezogene „Ideen“, sondern für die geschichtlichen Subjekte dieser „unabgegoltenen“ Hoffnungen selbst – ein keinesfalls belangloses Motiv, das über die bloße Unterscheidung zwischen dem „höchsten politischen Gut“ und dem „höchsten (abgeleiteten) Gut“ hinaus in dem der Idee des „höchsten Gutes“ immanenten Moment der „Natur“ (als „Glückseligkeit“) Ausdruck findet. Schon diese frühe Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“206 verweist auf das Erfordernis – und zwar auch als unaufgebbares Kriterium von „Vernünftigkeit“ –, derartige von jenem „Gerichtshof der Vernunft“ geforderte „gegenläufig“ orientierte Provokationen gemäß einer nicht nur erweiterten, sondern geschichtsphilosophisch „revolutionierten Denkungsart“ in einem radikalen Sinne wahrzunehmen; dies soll verhindern, dass das kritische „Geschäft der Vernunft“ sich selbst – und sei es in Berufung auf die Autorität der „Methode einer cosmopolitischen Geschichtsschreibung“207 – den „Geschäften der Welt“ und ihren Maßstäben ausliefert bzw. assimiliert. Solcher Appell richtet sich nicht zuletzt an die Adresse des kritischen Historikers sowie an eine kritische Geschichtsphilosophie, „an deren Grenzen“ sich unabweisliche Fragen stellen – vornehmlich im Blick auf die „moralische Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811) und somit darauf, dass eine „Geschichte der Menschen“ nicht von einer (eine Idee voraussetzenden) „Geschichte der Gattung“ absorbiert bzw. durch diese marginalisiert werden darf.208 ist schon zu Lebzeiten so tot, wie geschichtliche Vergängnis das Lebendige macht. Will es Lebendiges sein, muß es ans Bild der geschichtlichen Opfer sich halten“ (Schweppenhäuser 1975, 9). 206 Darin wäre wohl auch Kants letzte Antwort auf den von H. Arendt geäußerten Vorwurf enthalten, dass „der Gedanke des Fortschritts in der Geschichte als ganzer und für die Menschheit als ganze … die Vernachlässigung des Besonderen“ impliziere und „statt dessen die Aufmerksamkeit auf das ‚Universale‘“ lenke (Arendt 1985, 40). 207 Refl. 1468, AA XV, 648. 208 Es ist – im Blick auf den Menschen als Gattungswesen und als Individuum – durchaus ein bemerkenswerter Zug des kantischen Geschichtsdenkens (der auch einen ganz besonderen Aspekt der „teilnehmenden Vernunft“ zutage treten lässt und zugleich die notwendige Differenzierung „begründeten Hoffens“ anzeigt), der auch noch in Kants „Gemeinspruch“-Aufsatz begegnet: „Bei dem traurigen Anblick, nicht so wohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken, als vielmehr derjenigen, welche die Menschen sich unter einander selbst antun, erheitert sich doch das Gemüt durch die Aussicht, es könne künftig besser werden: und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein, und die Früchte, die wir zum Teil selbst gesäet haben, nicht einernten werden. Empirische Beweisgründe wider das Gelingen dieser auf Hoffnung genommenen Entschließungen richten hier nichts aus. Denn: daß dasjenige, was bisher noch nicht gelungen ist, darum auch nie gelingen werde, berechtigt nicht einmal, eine pragmatische oder technische Absicht … aufzugeben; noch weniger aber eine moralische, welche, wenn ihre Bewirkung nur nicht demonstrativ-unmöglich ist, Pflicht wird. Überdem lassen sich manche Beweise geben, daß das menschliche Geschlecht, im ganzen, wirklich in unserm Zeitalter, in Vergleichung mit allen vorigen, ansehnlich Moralisch- zum selbst Besseren fortgerückt sei (kurzdaurende Hemmungen können nichts dagegen beweisen); und dass das Geschrei von der unaufhaltsam zunehmenden Verunartung desselben gerade daher kommt, dass, wenn es auf einer höheren Stufe der Moralität steht, es noch weiter vor sich sieht, und sein Urteil über das, was man ist, in Vergleichung mit dem, was man sein sollte, mithin unser Selbsttadel immer desto strenger wird, je mehr Stufen der Sittlichkeit wir im Ganzen des uns bekannt gewordenen Weltlaufs schon erstiegen haben.“ Hier findet jene früh betonte Differenz zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ (und die darin zugleich indirekt angezeigte Aporie) einen besonderen Ausdruck, die zugleich erkennen lässt, dass eine geschichtsphilosophische Fixierung auf das „Unabgegoltenen vergangener Hoffnungen“
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
Damit ist auch schon ein entscheidendes Movens des kantischen „Weltbegriffs der Philosophie“ angesprochen, sofern dessen notwendige – gleichwohl nicht nivellierende – Vermittlung der „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ (als Differenzierung dessen, „was jedermann notwendig interessiert“) auch auf die Explikation der unterschiedlichen semantischen Gehalte des „höchsten Gutes“ führt209 und darin jene Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ in besonderer Weise nuanciert. Letztere darf wohl als ein früher geschichtsphilosophischer Hinweis auf unumgängliche Differenzierungen der späteren Postulatenlehre genommen werden; sie ist wohl auch noch in dem späteren Motiv wiederzuerkennen, dem zufolge mit der in geschichtsphilosophischer Perspektive eröffneten „Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung“ (VI 49) – jener utopische Fluchtpunkt entworfen ist, in „welchem sie [die „Menschengattung“ nach einem „verborgenen Plan der Natur“] alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann“ (VI 45). Obgleich diesbezüglich die Orientierung an dem im Sinne der in der „Geschichte des Menschengeschlechts“ sich entwickelnden „regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung“ (und der darüber noch hinausweisenden Vernunftideen des „Völkerrechts“, des „Völkerbundes“ sowie des „Ewigen Friedens“ als dem „höchsten politischen Gut“) maßgebend blieb, so insistierte noch der späte Kant darauf, dass auch dieser praxis-stimulierende Gesichtspunkt der Weltstellung des Menschen und der brennenden Frage nach dem Sinn der „Buchstaben der Schöpfung“ letztendlich nicht genügt:210 Vermag doch seine vorrangige Orientierung an der Idee des „höchsten politischen Gutes“ noch nicht das „Bedürfnis der praktischen“ und der „fragenden Vernunft“ zu befriedigen, weshalb das „Interesse indes die im Blick auf die „Geschichte der Menschen“ auftretenden und unabweislichen Fragen noch ganz unberührt lässt. 209 Hier zeigen sich wohl naheliegende Anknüpfungspunkte für die von B. Liebsch aufgeworfenen Fragen: „Hatte Kant überhaupt die Erfahrung von Ungerechtigkeit im Blick? Lässt sich mit ihm denken, dass das Widerfahrnis von Ungerechtigkeit auch nach einer neuartigen Gerechtigkeit verlangen lassen könnte? Dachte er die Maßstäbe, die aus geschichtlicher Erfahrung resultieren und zu deren normativer Beurteilung führen, ihrerseits als einer unvorhersehbaren Geschichte ausgesetzt?“ (Liebsch 2007, 197 Anm. 48). 210 Dies wäre nun auch schon Kants Antwort auf die nach Habermas seit der Aufklärung nicht beantwortete Frage, „ob denn von den religiösen Wahrheiten, nachdem die religiösen Weltbilder zerfallen sind, nicht mehr und nichts anderes als nur die profanen Grundsätze einer universalistischen Verantwortungsethik gerettet werden … können“ (Habermas 1985b, 52). Kant hat auf diese Weise jedoch auch indirekt auf den Vorschlag Habermas’ geantwortet, die Idee der Versöhnung von Geist und Natur zu derjenigen des „Zusammenlebens in zwangloser Kommunikation“ zu mildern, zumal diese grundlose Idee der Versöhnung doch lediglich „im Bedürfnis des Trostes und der Zuversicht angesichts des Todes, das die inständigste Kritik nicht erfüllen kann“, begründet sei. – Habermas’ Antwort auf seine theologischen Gesprächspartner war ja wohl unmissverständlich: „Nachmetaphysisches Denken unterscheidet sich von Religion dadurch, dass es den Sinn des Unbedingten rettet ohne Rekurs auf Gott oder ein Absolutes. … Der Sinn von Unbedingtheit ist nicht dasselbe wie ein unbedingter Sinn, der Trost spendet. Unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens kann die Philosophie den Trost nicht ersetzen, mit dem die Religion das unvermeidliche Leid und das nicht-gesühnte Unrecht, die Kontingenzen von Not, Einsamkeit, Krankheit und Tod in anderes Licht rückt und ertragen lehrt“ (Habermas 1991d, 125). Auch das Bewusstwerden der „Grenzen jener ins Diesseits gerichteten Transzendenz … vermag nicht, uns der Gegenbewegung einer ausgleichenden Transzendenz aus dem Jenseits zu vergewissern“ (Habermas 1991e, 142), zumal „die brennende Erfahrung eines Defizits … noch kein hinreichendes Argument für die Annahme einer ‚absoluten, im Tode rettenden Freiheit‘“ ist (ebd. 143).
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der Vernunft“ demgemäß auf einer Erweiterung der Hoffnungsperspektive insistiert, die sich, ohne „immanentistische“ Kurzschließung, letztendlich auch nicht auf eine „Verweltlichung des transzendierenden Impulses“ (J. Habermas) reduzieren lässt. Über die Frage nach dem „ganzen Endzweck der Rechtslehre“ und das diesbezügliche „begründete Hoffen“ (vgl. VI 49) hinaus käme es vielmehr auf eine hinreichende Differenzierung der Hoffnungsfrage (und damit des „höchsten Gutes“) an, die über die in diesem geschichtsphilosophischen Kontext maßgebenden „wesentlichen Zwecke“ hinaus das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ auf die „höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ verweist, „deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann“ (II 701). Erst dies macht sodann die Rückfrage nach dem Sinn der „Buchstaben der Schöpfung“ unabweislich und nötigt überdies, wie sich zeigen soll (s. u. III., 1.3.), dazu, die Frage „Warum haben Menschen existieren müssen?“ noch zuzuschärfen. Ihre Beantwortung darf die in dem „Primat des Praktischen“ begründete besondere Weltstellung des Menschen jedenfalls nicht unterbieten und lässt erst in solchem Ausgang diese Frage nach einem „objektiven obersten Zweck“ auf eine Weise stellen, „wie ihn die höchste Vernunft zu ihrer Schöpfung erfordern würde“ (V 559, Anm.). Ein Motiv, das sowohl in Kants Geschichtsdenken als auch in den späteren religionsphilosophischen Bezügen auf irritierende Weise zum Ausdruck kommt, ist dies: Während sich in der Natur gerade in der „Selbsterhaltung“ und Reproduktion ihrer Individuen die biologischen Arten erhalten, sah Kant sich durch den „befremdenden“ Umstand irritiert, den auch seine Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschengattung“ (und ihrem Fortschreiten zu ihrer „Bestimmung“) und der „Menschheit in einem Individuum“211 indiziert. Sie klingt ebenso in Kants Herder-Rezension an (IV 791) –, wonach von einer „Bestimmung der Menschheit im Ganzen“ ohne schiefe Abstraktionen wohl nicht die Rede sein kann, wenn darin vom Schicksal und Leid der Individuen gewissermaßen „abstrahiert“ bliebe bzw. dieses „absorbiert“ wäre; dies ist es doch, was Kant zur genauen Differenzierung zwischen dem „höchsten (politischen) Gut“, d. h. der „Bestimmung der menschlichen Gattung“, und der „Bestimmung des Menschen“ veranlasste und so in der Tat auf einen sehr bedeutsamen Zusammenhang von Geschichts- und Religionsphilosophie verweist.212 211 Refl. 1467, AA XV, 645. 212 In der Tat: „Durch die Erweiterung der Frage nach dem Wozu der Existenz des menschlichen Vernunftwesens vom Individuum zur Menschheit im ganzen gewinnt die Bestimmungsfrage [d. i. die nach der „Bestimmung des Menschen“] zwei Formulierungen und zwei Adressaten, jeden einzelnen und alle insgesamt“ (Brandt 2007a, 28); darauf beruht aber auch die untilgbare Wahrnehmung einer „Dissonanz“ bzw. eines „Dilemmas“, das sich in der Differenzierung des „höchsten Guts“ niederschlägt. Das Bewusstwerden dieses in der unaufhebbaren Dissonanz zwischen der „Geschichte der Gattung“ und der „Geschichte der Menschen“ sich manifestierenden „Dilemmas“ verdankt sich offenbar selbst jener durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchteten praktischen Vernunft“. – Hier wäre ein Wort Hegels über das trostlose „tragische Bewußtsein“ der Griechen aufzunehmen und als das Bewusstsein unaufhebbarer Unversöhntheit gegen dessen „Freiheit der Abstraktion“ zur Geltung zu bringen: „Diese Freiheit der Abstraktion ist nicht ohne Schmerz, aber dieser ist zum Naturschmerz [!] herabgesetzt, ohne den Schmerz der Reue, der Empörung [wegen] des Unrechts, wie ohne Trost und Hoffnung; aber sie ist des Trostes auch nicht bedürftig, denn der Trost setzt einen Anspruch voraus, der noch behalten und behauptet ist und nur, in einer Weise nicht befriedigt, auf eine andere einen Ersatz verlangt, in der Hoffnung noch ein Ver-
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In einer solchen geschichtsphilosophisch erweiterten – nunmehr „opfer-zentrierten“ – Lesart fungiert das Motiv der „Glückseligkeit“ in Kants Lehre vom „höchsten Gut“ auch als ein unaufgebbarer Platzhalter für die „untergegangenenen“, vernichteten Opfer selbst, der sich nicht zu den eingeklagten „unabgegoltenen Hoffnungen“ verflüchtigen darf. Es sind zweifellos diese in praktischen Vernunftansprüchen wurzelnden Hoffnungsperspektiven, die sich allen evolutions-(eschato)logischen Spielarten und deren Versuchungen kompromisslos verweigern und nur als solche die religionsphilosophischen Perspektiven eröffnen bzw. auf ihnen kompromisslos beharren. Daran anknüpfend sollte aber auch deutlich werden, dass, als ein unverzichtbarer Aspekt des der kantischen Idee des „höchsten Gutes“ immanenten Sinnpotenzials, Kants Frage „Was darf ich hoffen?“ sich ebenso von dem unbeirrbaren Widerstand gegen die heimliche Losung (und deren „Erwartungslogik“) stimulieren lässt, wonach „die Zeit alle Wunden heilt“ – schon deshalb, weil sie eben nicht alle Wunden heilen darf: Es ist offenbar der solchen Einspruch beseelende mächtige Impuls, in dem wichtige Motive der kantischen Geschichtsphilosophie und seiner differenzierten Lehre vom „höchsten Gut“ – desgleichen des von ihm in kritischer Absicht geltend gemachten Motivs einer „authentischen Theodizee“ – gleichsam wie in einem Brennpunkt vereinigt sind. Erst so wäre nach Kant letztendlich der systematische Ort der Frage „Was ist der Mensch?“ auf eine Weise vermittelt, die zugleich bestätigt, dass sie nicht ohne Rekurs auf eine Hoffnungsdimension zu beantworten ist, deren Impulse sich nicht in jener „Hoffnung auf eine andere Welt, in dieser Welt“ erschöpfen. Ein wesentliches Scharnier zwischen den leitenden geschichts- und religionsphilosophischen Perspektiven verdankt sich demnach insbesondere der Sensibilität Kants dafür, dass selbst eine an den nicht-realisierten, enttäuschten und „unabgegoltenen Hoffnungen“ Maß nehmende kritische Geschichtsphilosophie keineswegs an die hoffenden Subjekte (als „vernunftbegabte Erdwesen“) selbst heranreicht. War also in Abwehr einer „cyklopischen“ Verengung des geschichtsphilosophischen Horizonts zunächst das Anliegen bestimmend, „den Privathorizont zu dem der species zu erweitern“, so tritt am Schnittpunkt von geschichts- und religionsphilosophischen Fragestellungen indes die Aufgabe in den Vordergrund, die zunächst „gattungsgeschichtlich“ dimensionierte Hoffnungsperspektive auf die individuelle Sinnperspektive („Was darf ich hoffen?“) hin zu öffnen bzw. auszudehnen – das heißt gewissermaßen in umgekehrtem Richtungssinn, den „Gattungshorizont zu demjenigen der Individuen zu erweitern“.213 Demnach wird sich auch eine solche langen sich zurückbehalten hat“ (Hegel 17, 459). – Vermutlich weist K. Löwiths Befund in eine solche Richtung: „Kein griechischer Philosoph ist je auf den Gedanken verfallen, die ewige Weltordnung, den Kosmos, einer Rechtfertigung für bedürftig zu halten“ (Löwith 1966, 185). 213 In diesem Sinne verweist Nagl-Docekal auf die unübersehbare Verknüpfung von geschichts- und religionsphilosophischen Perspektiven bei Kant: „Wenn die geschichtsphilosophischen Aussagen über die Zukunft … ,allgemein‘ und ‚unbestimmt in Ansehung der Zeit‘ bleiben müssen, so heißt das, dass es auf ihrer Basis nicht möglich ist, den Einzelnen hinsichtlich ihrer individuellen Lebensspanne Zuversicht zu vermitteln – der Art, dass wir davon ausgehen könnten, selbst in den Genuss jener fairen Bedingungen zu gelangen, für die wir uns einsetzen. […] Die Zukunft der Einzelnen mit ihrer Gefährdetheit und ihrem fragmentarischen Charakter wirft Sinnfragen auf, die geschichtsphilosophisch nicht beantwortet werden können. […] Kant hat sich dieser Problemstellung ebenfalls angenommen“ – eben „jenseits des geschichtsphilosophischen Kompetenzbereichs“ (Nagl-Docekal 2006, 521).
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Sichtweise nicht mit der bloßen Erinnerung an das geschichtlich Unabgegoltene vergangener Hoffnungen und deren „Einlösung“ begnügen wollen, zumal diese an der „Geschichte der Gattung“ orientierte Perspektive in einer solchen „subjekt-losen“ Abstraktion doch wenigstens Gefahr läuft, über dem „Unabgegoltenen der Hoffnungen“ letztlich die Hoffenden (und ihr Bewusstsein erlittenen Unrechts) selbst dem Verschweigen, Vergessen und Verrat preiszugeben,214 d. h. solcherart in bemerkenswerter „Subjektvergessenheit“ von diesen zu „abstrahieren“ und so, in erneut „einäugigem“ Blick auf die „Geschichte der Menschheit“, die „Geschichte der Menschen“ aus den Augen zu verlieren. Gegen ein solches stillschweigendes Einverständnis, die geschichtlichen „Subjekte“ dieser Hoffnung, in einer denkwürdigen und gewaltsamen Gestalt eines geschichtsphilosophischen „Chorismos“, bedenkenlos einem abstrakten Gattungssubjekt und dessen (im wörtlichen Sinne) „blut“-leeren Utopien zu opfern, verschafft jenes hier verfolgte Motiv gleichsam dem erinnerungs-gespeisten Potenzial einer „negativen Utopie“ Gehör; davon lässt sich der unbeirrbare Widerstand dagegen inspirieren, das kritische utopische Potenzial des „Etwas fehlt“ bzw. der „Negativität“ mit dem Rücken zu den unabgegoltenen Hoffnungen und deren geschichtlichen Subjekten selbst zu halbieren und damit deren „Ortlosigkeit“ „stillschweigend“ zu bestätigen. Dagegen, so hat sich schon gezeigt, hätte Kant gewissermaßen an der Seite Benjamins wohl darauf insistiert – auch so darf seine Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Gattung“ und der „Geschichte der Menschen“ gelesen werden –, dass das „Unabgegoltene“ vergangener Hoffnungen jedenfalls nicht an jene „Hoffnungslosen“ selbst heranreicht,215 um deretwillen doch, so Benjamin, allein „Hoffnung gegeben“ ist. Ein solcherart radikalisiertes „Bewusstsein von dem, was fehlt“, weist also über den utopischen Sinn-Gehalt des „Unabgegoltenen jener Hoffnungen“ noch hinaus und rührt erst so ans „Metaphysisch-Theologische“ (nicht zuletzt des christlichen „Auferstehungs-Motivs“), das aus ähnlichen Gründen auch Adorno in der Spur Kants – wiederum „solidarisch mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ – nicht einfachhin preisgegeben oder positivistisch geschmäht sehen wollte.216 214 Es wird sich noch zeigen: Dass Kants Postulatenlehre darauf insistierte, über diese „unabgegoltenen Hoffnungen“ hinaus noch die „Hoffenden selbst“ hinzuzudenken, markiert ein nicht unwesentliches Motiv seiner Religionsphilosophie und berührt auch in einer solchen Hinsicht Benjamins Verbot, Geschichte prinzipiell „atheologisch zu begreifen“ (das sich eben nicht nur an unabgegoltenen Hoffnungen, sondern an den „Untergegangenen“ selbst orientiert!); auch hier ist an die Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Gattung“ und derjenigen „der Menschen“ zu erinnern. Jenes Diktum Adornos, wonach „keine innerweltliche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“ (Adorno 1966, 377 f ), impliziert die Einsicht, dass Letzteres auch nicht mit der Sensibilität für das noch „Unabgegoltene vergangener Hoffnungen“ verwechselt werden darf. 215 Deshalb hätte sich dieses nicht verrückbare kantische Grenzbewusstsein auch durch eine geschichtsphilosophische Einbeziehung des Motivs der „Naturgeschichte“ nicht dazu verführen lassen (was ja auch der späte Horkheimer korrigiert, s. II., 4.3.1.), den kritischen „Historiker als Retter“ zu etablieren. Jener Sachverhalt: „Der einzelne Mensch verliert, aber gewinnt als ein Glied im Ganzen, ist jetzt im Fortschritt zur Vollkommenheit“, hat „an den Grenzen der Vernunft“ freilich jenes „Befremden“ Kants evoziert, das sich durch kein bloßes „Scheinen“ mildern lässt: „Der Tod scheint [!] als ein harter Sieg der Gattung über das bestimmte Individuum und ihrer Einheit zu widersprechen; aber das bestimmte Individuum ist nur ein bestimmtes Gattungswesen, als solches sterblich“ (Marx 1962, 598). 216 Adorno hat klar gesehen, dass der Rekurs auf das „Unabgegoltene vergangener Hoffnungen“ nicht selbst an das „Eingedenken der Natur im Subjekte“ heranreicht (und steht damit wesentlichen Motiven der
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Einer wohl ähnlichen Orientierung an Motiven Benjamins verdankt sich vermutlich auch jene Perspektive Adornos, wonach die „kleinsten innerweltlichen Züge … Relevanz fürs Absolute“ hätten, „denn der mikrologische Blick zertrümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten und sprengt seine Identität, den Trug, es wäre bloß Exemplar.“217 Es bestätigt sich: Wichtige Anknüpfungspunkte für eine Erweiterung der geschichtsphilosophischen Konzeption, die über die verfolgte „Methode einer kosmopolitischen Geschichtsschreibung“ hinaus auch die Verbindungslinien zu religionsphilosophischen Motiven besonders deutlich sichtbar macht, liefern die von Kant schon im Vorfeld des „kritischen Geschäfts“ angestellten Reflexionen über die nicht zu nivellierende Differenz zwischen der („eine Idee voraussetzenden“) „Geschichte der Gattung“ und der „Geschichte der Menschen“218 – die auch in seinen geschichtsphilosophischen Schriften als Postulatenlehre besonders nahe); jenes nicht zu verflüchtigende „Eingedenken der Natur im Subjekt“ sieht er, ungeachtet aller damit verbundenen „Zumutungen metaphysischer Spekulation“, in dem christlichen Motiv der „erhofften“ „leibhaften Auferstehung“ wahrer zum Ausdruck gebracht: „Die christliche Dogmatik, welche die Erweckung der Seelen mit der Auferweckung des Fleisches zusammendachte, war metaphysisch folgerechter, wenn man will: aufgeklärter als die spekulative Metaphysik; so wie Hoffnung leibhafte Auferstehung meint und durch deren Vergeistigung ums Beste sich gebracht weiß“ (Adorno 1966, 393). Eine davon „abgelöste“ bzw. „abstrahierende“ Hoffnung, so darf man Adornos Motiv hier wohl auch verstehen, müsste damit die Geschöpflichkeit und „humanitas“ – eben eines „vernünftigen Erdwesens“ – geradewegs verraten und die Hoffnung um ihre „Erdenschwere“ kürzen. Noch in Habermas’ jüngster Bezugnahme auf diese Themen wird seine bleibende diesbezügliche Sensibilität und Irritation deutlich, die sich auf die „Solidarität mit den Opfern selbst“ bezieht: „Die schwache anamnetische Kraft eines kollektiven Eingedenkens kann – anders als Gottes Urteil am Jüngsten Tage – keine retroaktive Wirkung entfalten. Sie kann das an den Toten begangene Unrecht nicht sühnen [und das meint wohl anderes als das „Unabgegoltene“ vergangener Hoffnungen]. Die Gerechtigkeit, die auf Erden möglich ist, ist keine rettende Gerechtigkeit. Gleichwohl sagt uns ein unbestimmtes moralisches Gefühl, dass es um der Opfer selbst willen falsch ist, die Akten über einen solchen Vorgang zu schließen“ (Habermas 2012, 181). In einäugiger „Abstraktion“ davon, so wird sich noch zeigen, ist nach Kant die „Selbsterhaltung der Vernunft“ nicht zu denken, zumal diese dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ standhalten muss und sich folglich nicht allein am „Unabgegoltenen vergangener Hoffnungen“ orientieren kann. 217 Adorno 1966, 400. Hier ist wohl Adornos Bemerkung über Benjamin aufzunehmen: „Angegossen ist ihm der Satz, in der Erkenntnis sei das Individuellste das Allgemeinste. […] Ihn trieb es, formelhaft gesprochen, dazu, aus einer Logik auszubrechen, welche das Besondere mit dem Allgemeinen überspinnt oder das Allgemeine bloß aus dem Besonderen herausabstrahiert“ (Adorno, GS 10.1, 239). 218 Die Bedeutung dieser Differenzierung wird beispielsweise auch in E. Voegelins Rekurs auf Kant verkannt, wenn er im Verweis auf die geschichtlichen Entwicklungen der Neuzeit feststellt: „Das Endreich ist nicht mehr eine überirdische Gemeinschaft des Geistes, sondern ein irdischer Zustand vollkommener Menschheit. Kants Ideen zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht entwerfen ein Geschichtsbild, in dem die Vernunftperson als innerweltliche zu immer höheren Stufen der Vollendung steigt, um schließlich unter geeigneten Führern bis zur zwangsfreien weltbürgerlichen Gemeinschaft fortzuschreiten. Die Menschheit ist das große Kollektivum, an dessen Entwicklung jeder Mensch zu seinem Teil mitzuarbeiten hat; sie ist irdisch geschlossen, nur als Ganzes schreitet sie fort, und der Sinn der Einzelexistenz ist das instrumentale Wirken zum kollektiven Fortschritt. Die Formel ist radikal kollektivistisch, so radikal, dass Kant gegenüber seiner eigenen Konstruktion das ‚Befremden‘ darüber ausdrückte, dass der Mensch von seiner Tätigkeit und das Kollektivum keinen Gewinn habe, sondern nur die späten Geschlechter in die Vollkommenheit des irdischen Paradieses eingehen werden. Die christlichen Widerstände regen sich, und Kant findet den Ausweg in die persönliche Unsterblichkeit, wenngleich sein Leser den Eindruck hat, dass sie ihm kein zureichender Ersatz für das irdische Leben der vollkommenen Vernunftperson zu sein schien“ (Voegelin 1993, 51).
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ein Problemverweis zutage tritt. Gerade auch mit Blick auf die notwendige Differenzierung der „ganzen Bestimmung des Menschen“ bleibt die Kennzeichnung der „Gattungsnatur“ von derjenigen der Individuen als „vernünftige Erdwesen“ zu unterscheiden, obgleich Letztere nur als „Glieder der menschlichen Gattung und als Individuum“ existieren und eben aufgrund dieser „Doppelnatur“ (mit Kierkegaard gesprochen) das menschliche Individum gewissermaßen „es selbst und das ganze Geschlecht ist“. Der schon vom frühen Kant betonte (und von ihm auch stets beibehaltene) Unterschied zwischen der „Geschichte der Gattung“ (d. i. dem „allmähliche[n] Fortgang der ganzen Gattung zu ihrer Bestimmung“) und der „Geschichte der Menschen“ hat in der späten Unterscheidung zwischen dem „höchsten politischen Gut“ und dem „höchsten Gut“ eine nicht zu übersehende Entsprechung, die auch bezüglich derjenigen zwischen den „wesentlichen“ und den „höchsten Zwecken“ (in der näheren Differenzierung des „Weltbegriffs der Philosophie“) genau zu beachten bleibt.
3.3. Einige Anschlussfragen und naheliegende Folgerungen für ein kritisches „Geschichtsdenken“: Notwendige gegenläufige „Gesichtspunkte der Weltbetrachtung“? 3.3.1. Gibt es – analog zum „regulativen Gebrauch“ in der Naturforschung – auch auf geschichtsphilosophischem Boden ein notwendiges „zweifaches Interesse der Vernunft“? Vor dem Hintergrund des (in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“) von Kant geäußerten „Befremdens“ bieten die angeführten anthropologischen und logischen Kategorien unübersehbare Anhaltspunkte dafür, auch in diesem geschichtsphilosophischen Kontext eine Gedankenfigur in modifizierter Weise fruchtbar zu machen, die schon in Kants Überlegungen zur methodischen „Naturforschung“ bestimmend war. So hat er in seinen Erläuterungen zum rechtmäßigen „Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ (V 140 ff ) darauf hingewiesen, dass, einem unabweislichen Bedürfnis der „forschenden Vernunft“ zufolge, „einander widerstreitende Ansprüche der Vernunft den Gesichtspunkt zweideutig machen, aus dem man seinen Gegenstand zu betrachten hat“ (V 140). Darin zeige sich nämlich ein „doppelte(s) einander widerstreitende(s) Interesse“, wie Kant schon in seiner „ersten Kritik“ betont hat, vornehmlich „an der sehr verschiedenen Denkungsart der Naturforscher, deren einige (die vorzüglich spekulativ sind), der Ungleichartigkeit gleichsam feind, immer auf die Einheit der Gattung hinaussehen, die anderen (vorzüglich empirische Köpfe) die Natur unaufhörlich in so viel Mannigfaltigkeit zu spalten suchen“ (II 572) – d. h. „einerseits das Interesse des Umfanges (der Allgemeinheit) in Ansehung der Gattungen, andererseits des Inhaltes (der Bestimmtheit) in Absicht auf die Mannigfaltigkeit der Arten“ verfolgen, beide Standpunkte (besser nach Kant: „Maximen“: II 580) freilich „das Systematische der Erkenntnis“ vor Augen haben.
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Im Vorblick auf spätere Überlegungen zur kantischen Idee der „Naturgeschichte“ (s. u. II., 4.) sei hier auch darauf hingewiesen, dass diese in „der sehr verschiedenen Denkungsart der Naturforscher“ verankerten „widerstreitenden Ansprüche der Vernunft“ auch in der Bestimmung der kantischen Idee der „Naturgeschichte“ ihren Niederschlag findet, d. h. in jenen „gegenläufig“ orientierten Erkundungen, „welche der Natur der Vernunft, auch außer ihrem Gebrauch in der Metaphysik, so gar in den allgemeinen Prinzipien, eine Naturgeschichte überhaupt systematisch zu machen, nachspüren wollen“ (III 241). Indes, die gebotene Rücksicht auf ein darin zutage tretendes „verschiedenes Interesse der Vernunft, welches die Trennung der Denkungsart verursacht“ (ebd.), verhindert gerade den Anschein eines „Widerstreits“, zumal darin doch lediglich die ein unterschiedliches Interesse der Vernunft dokumentierenden „Maximen“, „davon dieser Teil das eine, jener das andere zu Herzen nimmt“ (II 581), buchstäblich entscheidend sind; beide „Maximen“ sind im hypothetisch-bedingten „Urteilen-Wollen“ des theoretischen Vernunftgebrauchs begründet, obgleich durchaus beide von dem „Interesse des Inhaltes“ bestimmt sind. Dabei bleibt auch zu beachten, dass dem „Verstande die durchgängige Einheit seines Gebrauchs, zum Behuf einer gesamten möglichen Erfahrung (in einem System) nur mit Beziehung auf die Vernunft zukommen könne, mithin auch Erfahrung mittelbar unter der Gesetzgebung der Vernunft stehe“ (III 241) – eine Argumentation, die freilich auch im Blick auf den „praktischen Vernunftgebrauch“ und mit Bezug auf eine erweiterte Idee der „Naturgeschichte“ in entsprechend modifizierter Form einen besonderen Stellenwert erhält (s. u. II., 4.1.). Im Blick auf dieses der „forschenden Vernunft“ immanente „widerstreitende Interesse“ bleibt nun zu fragen, ob sich denn zu diesem in der differenzierten Denkungsart der Naturforscher erkennbaren „einander widerstreitenden Interesse“ auf diesem geschichtsphilosophischen Gebiet eine gewisse – und entsprechend zu modifizierende – Analogie denken lässt? Darin wäre freilich ein „Urteilen-Müssen“ von besonderer Art bestimmend, das sich einem durch nichts relativierbaren „Machtspruch der praktischen Vernunft“ verdankte und, analog zu den „Nachforschungen in der Natur“, auch in den „Nachforschungen in der Geschichte“ ideen-orientiert, d. h. ohne „selbstsüchtige Absicht“, den „Verstand zu einem gewissen Ziele … richten“ müsste (II 565). Gewiss dürfte eine solche riskierte – und auch von Kant nahegelegte (vgl. z. B. VI 85) – Analogie den elementaren „Punkt der Ungleichartigkeit“ nicht verkennen bzw. verdecken;219 sie hätte so insbesondere dem Sachverhalt 219 Dieser genau zu beachtende „Punkt der Ungleichartigkeit“ betrifft auch den unterschiedlichen Status der Prinzipien: Sind es im Feld der „Naturforschung“ lediglich „Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft“, so sind es im Bereich der Geschichte unentbehrliche „Ideen“ zur Differenzierung des praktischen „Vernunftraumes“. – Nebenbei bemerkt: Es ist gewiss aufschlussreich, dass Kant mit dem Hinweis auf ein zweifaches „Interesse der Vernunft“ offenbar (in Anknüpfung an Ch. Wolff ) an seine frühere, noch eher psychologisch orientierte Diagnose – „Die Menschen haben einen verschiedenen Verstand, derjenige, der gerne [!] auf die Teile geht, ist subtil. Derjenige, der auf das Ganze geht, ist der große“ (so in AA XXIV.1, 100) – anschließt, dies aber nunmehr ins Grundsätzliche hebt, d. h. im Sinne eines „vollständigen Vernunftgebrauchs“ aufnimmt und gewissermaßen vernunfttheoretisch stützt (s. dazu Hinske 1991). Die zunächst noch eher „vermögenspsychologisch“ orientierte Begründung dieses Interesses gewinnt später erst ihre „vernunftorientierte“ Vertiefung und korreliert so unübersehbar mit der geforderten vernunft-theoretischen Transformation der anderen „anthropologischen“ Kategorien. So wie der von Kant gegen eine skeptizistisch-erkenntnispsychologische Aufweichung der Verstandesbegriffe und Vernunftideen geltend gemachte Aufweis ihrer „Gültigkeit“ wäre dieser auch für die angeführten praktisch-anthropologischen „Kategorien“ zu leisten.
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Rechnung zu tragen, dass im Unterschied zur heuristischen Funktion der „regulativen Prinzipien“ der Naturforschung auf geschichtsphilosophischem Boden nun eben „konstitutive“ praktische Vernunftprinzipien hierfür maßgebend sind. Vorbehaltlich dieser kritischen Einschränkungen wäre, einem unabweislichen „Interesse der praktischen Vernunft“ entsprechend, auch hier eine Gegenläufigkeit von „Maximen“ zur Geltung zu bringen, die jenen anderen, ebenfalls in der „teleologia rationis humanae“ verankerten Gesichtspunkt, „aus dem man seinen Gegenstand zu betrachten hat“, berücksichtigt und darin durchaus ein unabweisliches „Interesse der Vernunft an sich selbst“ bekundet. Mit Rücksicht darauf, was Kant bezüglich des Gebrauchs „teleologischer Prinzipien“ dem Naturforscher keinesfalls lediglich leichtfertig zubilligen, sondern gemäß jenem „zweifachen Interesse der Vernunft“ als heuristischen Grundsatz geradewegs auferlegen wollte, wäre, im Sinne einer gebotenen Differenzierung des „Vernunftraumes“ unter der „Oberaufsicht der Philosophie“, für ein kritisches Geschichtsdenken zu prüfen: Korrespondieren jenen durchaus miteinander zu vereinbarenden „Maximen“ des „Interesses der forschenden Vernunft“ auf dem Gebiet der „praktischen Vernunft“ gegenläufige geschichtsphilosophische Maximen eines „Interesses der praktischen Vernunft“ (V 609), „davon dieser Teil das eine, jener das andere zu Herzen nimmt“, die beide freilich in dem besonderen Sinne unverzichtbar sind, als sich in ihnen ein an der Vernunftidee der „Menschheit“ orientiertes „Urteilen-Müssen“ artikuliert? Auf diese Weise wäre jenem erwähnten Unterschied zwischen dem, „was der Mensch, als freihandelndes Wesen, aus sich selber machen kann und soll“, und dem, was er „aus sich selber macht“ – und darin erleidet! –, auch in seiner geschichtsphilosophischen Relevanz gebührend Rechnung zu tragen. Im Sinne des angezeigten Unterschieds zwischen „welt“- und „leidensgeschichtlicher“ Vernunftperspektive spiegelt sich darin bezeichnenderweise erneut jene der Bestimmung des „Subjekts der Geschichte“ innewohnende Zweideutigkeit wider, die nun auch in einer solchen Hinsicht ein „doppeltes Standnehmen des Subjekts“ und einen damit verbundenen Perspektivenwechsel („Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“: VI 49) auf diesem Gebiet unumgänglich macht: Orientiert sich die Erkundung dessen, „was der Mensch … aus sich selber macht, oder machen kann und soll“, in dieser geschichtsphilosophischen Perspektive an der „Geschichte der menschlichen Gattung“ in ihrem Status als „Geschichtssubjekt“, so rückt demgegenüber die an der „Idee der Menschheit“ orientierte Perspektive, „was der Mensch aus sich selber macht“, nicht allein die geschichtlichen Akteure, sondern vorrangig die geschichtlichen Subjekte als die davon Betroffenen ins Blickfeld; näherhin als die darin „Unterworfenen“ und „Aufgeriebenen“, die als solche – nicht als „betitelte Herren der Natur“ oder gar als „Endzweck der Schöpfung“, sondern als die in Natur und Geschichte „namenlos“ Gebliebenen bzw. Gewordenen – allein „den ewigen Frieden in dem weiten Grabe finden, das alle Greuel der Gewalttätigkeit samt ihren Urhebern bedeckt“ (VI 212) und sie auch nivelliert. Demzufolge bleibt eine in diesen Differenzierungen sowie in jenen anthropologischen Kategorien begründete Gegenläufigkeit einer „leidensgeschichtlichen“ Perspektive freizulegen, die so auch erst jener angezeigten Zweideutigkeit des „Subjekts der Geschichte“ gerecht zu werden vermag; allein der Aufweis des sich dergestalt manifestierenden „zweifachen Vernunftinteresses“ bewahrt den geschichtsphilosophischen Horizont vor fatalen Ver-
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engungen. Derart ist in diesem Kontext ein „Interesse der Vernunft“ zwar in einer geschichtsphilosophischen Hinsicht zur Geltung zu bringen, das dennoch nicht einfachhin dem Interesse der Vernunft „in ihrem praktischen Gebrauch“ zuzuordnen wäre, obgleich – besser: gerade weil – auch dieses an einer nicht halbierten „Idee der Menschheit“ ihr Maß nimmt.220 Wie schon erwähnt, finden sich bei Kant auch für diese geschichtsphilosophischen Perspektiven unübersehbare Anknüpfungspunkte, die näher expliziert werden müssen. Dieser kritischen Absicht zufolge beharren schon jene Vermögen „Gedächtnis, Erinnerung und Aufmerksamkeit“, die im Dienst der kritischen Wahrnehmung jenes „zweiten Auges“ sowie unter der Leitung praktischer Vernunftansprüche stehen, auf der allen raffinierten Assimilierungs- bzw. Absorptionsversuchen widerstehenden Unterscheidung zwischen den „historischen Ereignissen“ („Geschichtswahrheiten“) und den „Vernunftwahrheiten“221 – insbesondere mit Rücksicht auf die Orientierung an dem, „was jedermann notwendig interessiert“. Die „leidensgeschichtlich“ sensibilisierte Nüchternheit dieses „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“, in deren Dienst ein solches Geschichtsdenken steht, muss es geradewegs verbieten, eine Hoffnungsperspektive in Ausblendung bzw. im Vergessen der Opfer und deren Herabsetzung zu bloßen „Wasserträgern des Fortschritts“222 zu entwerfen, 220 Vgl. dazu noch einmal die begleitende kritische Selbstreflexion Benjamins (in These VII „Über den Begriff der Geschichte“). 221 Vgl. Schiller 1922, VIII, 24: „Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen [!] und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben. Das Verhältnis eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf gesehen werden muß, um Materialien für die Weltgeschichte zu sammeln“, wenngleich dabei gegenüber dem „Gang der Welt“ „in der Weltgeschichte nur hie und da eine Welle beleuchtet wird“. Kritische Aufklärung hat hier vorrangig dafür aufmerksam zu bleiben, welchen Quellen und erkenntnisleitenden Interessen derlei methodische „Beleuchtung“ ihr Licht verdankt – insofern erfährt Kants Kennzeichnung der „Aufmerksamkeit“ (s. o. II., 2.1.1.) auch hier eine besondere, über alles Psychologische hinausweisende Nuancierung. Demgegenüber, so wird sich noch zeigen, fungiert eine der Sehkraft des „zweiten Auges der Philosophie“ verdankte kritische Geschichtsphilosophie in ihren gegenläufigen Interessen geradezu als Anwalt des „Widersprechlichen“ und als Instanz des Widerstands gegen die Tendenz, die „historischen Gegebenheiten“ den „apriorischen Leitfäden“ und Vernunftwahrheiten zu assimilieren. Schon hier darf an Benjamins Bemerkung erinnert werden: Die „Einfühlung in die Sieger“ hängt aufs Engste mit der Vorstellung zusammen, „die Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse“ (I.3, 1240; 1252). 222 Nur bei völliger Ausblendung dieser Motive bzw. in seltsamer Verkennung der Argumentation lässt sich gegen die kantische Geschichtsphilosophie – ein angebliches „Vernunftevangelium des Fortschritts“ – auch behaupten: „Jedenfalls erhellt aus diesen Überlegungen eins: der einzelne Mensch ist für diese Geschichtsbetrachtung nur durch das wichtig, was er als sachlichen Ertrag seines Bemühens an die gemeinsame Arbeitsstelle abliefert; als Person verschwindet er in dem eigengesetzlichen Getriebe der sich fortentwickelnden Vernunft. Wie weit aber dieses Vernunftevangelium des Fortschritts in seiner Gleichgültigkeit gegen das Sein des Individuums tatsächlich geht, lehrt eine zweite Folgerung, die Kant ausdrücklich auf sich genommen hat, obwohl ihre ‚Befremdlichkeit‘ ihm nicht entging: Geschlechter über Geschlechter mühen sich ab in der Aufführung eines Gebäudes, ‚in dem wohnen zu dürfen nur die spätesten das Glück haben sollen‘. […] Vor dem Throne der Vernunft ist der Einzelne als Einzelner ein Nichts; er opfere sich – nicht sowohl den letzten, die als Einzelne natürlich ebenso nichtig sind, als vielmehr der Idee, deren Realisierung sich nun einmal, ‚so rätselhaft dieses auch ist‘, nur auf die letzten niederlassen kann. Eine Forderung, in deren Mitleidlosigkeit aufs Neue deutlich wird, wie durchaus die Einheit, welche die Menschheit als Ganzes zusammenhält, von diesem Denken nicht innerhalb ihrer selbst, sondern jenseits ihrer, oberhalb ihrer gesucht wird. Der Optimismus, der in der Ideologie des ‚Fortschritts‘ durch
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und bedarf demgegenüber einer weiteren kritischen Reflexion auch auf jene geschichtsphilosophischen Leitfäden und „Maximen“, die diese für eine leidensgeschichtliche Perspektive maßgebenden „Erfahrungen“ doch erst ermöglichen (II 325). Letztere insistiert vielmehr auf der jenem „mikrologisch“ geschärften Blick immanenten – geschichtsphilosophisch akzentuierten – Sensibilität; sie hat, freilich in harmloser Gestalt, in jenem von Kant erwähnten „bloß empirischen Reisenden und seine(r) Erzählung“ und dessen Antwort, „wenn man wonach frägt: ich hätte das wohl bemerken können, wenn ich gewusst hätte, dass man darnach fragen würde“ (V 141), Ausdruck gefunden:223 Eine Wendung, die gerade im Kontext dieser hier interessierenden gegenläufigen geschichtsphilosophischen „Gesichtspunkte“ besondere Aufmerksamkeit verdient. Jene sich in der „sehr verschiedenen Denkungsart der Naturforscher“ manifestierenden „einander widerstreitende(n) Ansprüche der Vernunft“, die sich gleichwohl als durchaus verträgliche „Maximen“ erweisen, fänden derart in der – ebenfalls auf einer „sehr verschiedenen Denkungsart“ beruhenden – gegenläufigen „Wahl des Standpunkts“ ein aufschlussreiches geschichtsphilosophisches Pendant: Ein solcher Standpunkt hätte mithin auch gegenüber jener regulativen Vernunftperspektive der Geschichte, „als ob“ darin ein verborgener „Naturplan“ sich vollziehe, eine kritisch-limitierende Funktion einzunehmen; in ihr verschafft sich vielmehr die leidenschaftliche Sensibilität dafür Gehör, dass die „leidensgeschichtlich“ akzentuierte Frage, „was der Mensch aus sich selber macht“, zwischen der Leitperspektive der „physiologischen Anthropologie“, „was die Natur aus dem Menschen macht“, und derjenigen der „pragmatischen Anthropologie“ nicht geschichtsphilosophisch marginalisiert bzw. gar zum Verstummen gebracht werden darf. Das hinreichend differenzierte und sensibilisierte Interesse der „historischen Vernunft“ muss es dem angezeigten Perspektivenwechsel zufolge geradewegs verbieten, dass die darin leitende Frage „Was will man hier wissen?“ sich dabei mit der im späten „Streit der Fakultäten“ geäußerten Auskunft begnügen könnte: „Man verlangt ein Stück von der Menschengeschichte, und zwar nicht das von der vergangenen, sondern der künftigen Zeit, mithin eine vorhersagende“ – d. h. eben: „ob das menschliche Geschlecht (im großen) zum Besseren beständig fortschreite“ (VI 351)? Auch der bemerkenswerte Sachverhalt, dass Kant die Beantwortung dieser zukunftsorientierten Frage indes mit einer beanspruchten Klärung der grundsätzlichen Fragen „Was will man hier wissen?“ und „Wie kann man es wissen?“ einleitet, legt nunmehr die kritische – „Maximen“ prüfende – Besinnung darauf nahe, wovon denn hier „abstrahiert“ Vernunft tatsächlich lebt, der ihre Stärke ausmacht und ihre werbende Kraft erklärt, hat zur Kehrseite den nicht eben optimistisch stimmenden Anblick ungezählter Generationen, die sich dem zum Selbstzweck emporgewachsenen Fortschritt gleich einem menschenverschlingenden Moloch dahingeben“ (so lautet das aus der Feder Th. Litts doch erstaunliche Urteil: ders., 1949, 209 f ). 223 Die Orientierung (bzw. „Erweiterung der Anthropologie im Umfange“) daran, „was der Mensch als freihandelndes Wesen … aus sich selber macht“, wird sich freilich für derlei „Weltkenntnis“ nicht mit dem von Kant empfohlenen „Lesen der Reisebeschreibungen“ (vgl. VI 400) begnügen können oder dies auch nur als eine passende Quelle ansehen dürfen. „Eine Geschichte, in der Kant sich kurz fasst: Sein Famulus, ein Theolog, der Philosophie mit Theologie nicht zu vereinbaren wußte, fragte Kant einst um Rat, was er wohl deshalb lesen müßte? – Kant: Lesen Sie Reisebeschreibungen. In der Dogmatik kommen Sachen vor, die ich nicht begreife. Kant: Lesen Sie Reisebeschreibungen“ (Benjamin, IV.2 1980, 809).
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– d. h. was dabei nicht für wahr genommen! – wurde, was also außerhalb des maßgebenden Interessenshorizontes bleibt. In Frage steht damit also zugleich, was man eben „nicht wissen will“ und was möglicherweise auch die Frage „Was man wissen soll?“ noch übertönt. In dieser unumgänglichen Rückbindung an die „Bestimmung des Horizonts unserer Erkenntnisse“ („was der Mensch wissen kann, was er wissen darf, und was er wissen soll“: III 466) gewinnt diese geschichtstheoretische Frage „Was will man hier wissen?“ (VI 351) dem Gesagten zufolge nunmehr geradezu einen gegenläufigen Sinn, worin sich nichts anderes als jenes geltend gemachte zweifache Interesse und die geforderte kritische Selbstreflexion auf das „erkenntnisleitende Interesse“ und dessen „Maximen“ widerspiegeln. Erst der solcherart sich in gebührender Weise Gehör verschaffende Anspruch könnte genauer besehen der – nunmehr eben geschichtsphilosophisch akzentuierten – unnachgiebigen Berufung Kants auf jenes „ursprüngliche Recht“ „der menschlichen Vernunft“ genügen, „welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine [!] Stimme hat“ (II 640), das sich deshalb in jener weltbürgerlichen Perspektive, was „Regierungen … genützt oder geschadet haben“, nicht nur nicht erschöpft, sondern gegen diesbezügliche Engführungen sogar ein Einspruchsrecht hat. Die Frage „Was soll man hier wissen?“ von jener bloß einseitig zukunftsorientierten Frage „Was will man hier wissen?“ abzutrennen, käme jener erwähnten Unwissenheit in der Gestalt der Ignoranz, „d. i. keine Notiz wovon [zu] nehmen“ (III 470), wiederum bedenklich nahe; wäre dies doch kaum von jener Haltung unterscheidbar, auf die jene – ganz beiläufig notierte – unbestechliche Beobachtung Kants wohl recht genau zutreffen müsste: „Aber niemand ist blinder, als der nicht sehen will, und dieses Nichtwollen hat hier ein Interesse.“224 Eine derartige Haltung würde freilich schon gegen jene angesonnene kritische Reflexion auf ein „leitendes Prinzip, wonach man zu suchen habe“ (V 141), immunisieren bzw. diese als unnütz abtun. Wenn sich also die zukunfts- und fortschritts-orientierte Frage „Was will man hier wissen?“ im Sinne eines unverkürzten „Interesse-Nehmens“ auch in dieser Hinsicht von der Frage „Was soll man wissen?“ unterbrechen bzw. korrigieren lassen muss, so hätte sich die spezifische „Vernünftigkeit“ dieser gegenläufigen Perspektive demzufolge vornehmlich in der „Aufmerksamkeit“ dafür zu bewähren, dass über der geschichtsphilosophisch in Aussicht gestellten „Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung“ (VI 49) – und deren „Bewegungsgrund“ auch die trostlose „Klage aus der Geschichte“, der „Schrei über ihr Sinnloses“, noch wahrnehmbar bleibt. Stehen doch vor allem die auf derartige „Widerfahrnisse“ gerichteten „Maulwurfsaugen“ (VI 129) im Dienst dieser kritischen Vernunftperspektive; sie fungieren gewissermaßen als deren unbestechlich-wachsames Organ gegenüber all den raffinierten und methodisch eingeübten Spielarten bzw. Übergriffen einer möglicherweise auch bezüglich dieser Frage „Was soll man hier wissen?“ geschichtsphilosophisch verführbaren allzu „zarten Empirie“, die jenem geforderten kri224 Kant AA VIII, 438. Dies ist dann wohl auch zu Kants Forderung an eine „historische Lehrart“ in Beziehung zu setzen: „Die historische Lehrart ist pragmatisch, wenn sie noch eine andere Absicht hat als die scholastische, nicht bloß vor die Schule, sondern auch vor die Welt oder die Sittlichkeit ist“ (Refl. 3376, AA XVI, 804).
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tischen „mikrologischen Blick“ keinesfalls standzuhalten vermag. Allein dadurch ist eine dieserart akzentuierte geschichtsphilosophische Konzeption auch vor dem Einwand zu bewahren, diese weltgeschichtliche Perspektive jenem „cyklopischen Zwang“ und jenen erwähnten „monumentalistischen“ Kategorien einer bloßen „Geschichte der Herrschaft und der Sieger“ preiszugeben bzw. den nivellierenden Standards einer „pragmatischen Geschichtsschreibung“ anzupassen. Ungeachtet der im geschichtsphilosophischen Kontext eröffneten „tröstenden Aussicht in die Zukunft“ bleibt in diesen vornehmlich an der Idee des „Rechtsfortschrittes“ orientierten praktisch-notwendigen Bezügen gleichwohl Kants verhaltener Protest gegen jene auf die „würdigste Seite der Weltgeschichte“225 reduzierte – und deshalb eben einäugig-kurzschlüssige – Hoffnungsperspektive vernehmbar. So mag sich dieser angezeigten kritischen Analogie zufolge erweisen: Wenn das „Bedürfnis der forschenden Vernunft“ in dem „Bedürfnis der praktischen Vernunft“ eine unverkennbare kritische geschichtsphilosophische Entsprechung im Sinne des – maximen-orientierten – „vollkommensten Vernunftgebrauchs“ findet, so liegt ebenso die Rücksicht darauf nahe, welches „erkenntnisleitende“ Interesse darin maßgebend ist bzw. welche geschichtsphilosophischen Differenzierungen daraus notwendigerweise abzuleiten sind. Der in den Vordergrund rückende Gesichtspunkt wäre nunmehr also dieser: Lässt sich, dieser aufklärungs-orientierten Perspektive zufolge und durchaus in den Spuren von Kants kritischer Geschichtskonzeption sowie der Begründung ihrer „Leitfäden“ und „Maximen“, jenes „doppelte einander widerstreitende [„sich wechselseitig einschränkende“] Interesse“ auch in einer geschichtsphilosophischen Hinsicht rekonstruieren und legitimieren? Eine solche Blickwendung würde es dann wohl auch nahelegen, Kants eigenen Hinweis auf ein „Interesse“ der „historischen Vernunft“ in entsprechender Weise aufzunehmen, und wäre so – eben gemäß den Differenzierungen der „einander widerstreitende(n) Ansprüche der Vernunft“ der Naturforschung – für eine kritische Geschichtstheorie fruchtbar zu machen. Diese Ausgangslage müsste dann durch die gebotene Rücksicht darauf noch einmal besonders bedeutsam werden, dass dabei indes nicht weniger als die „Existenz der Vernunft“ selbst auf dem Spiele steht, weshalb von diesem angezeigten „zweifachen Vernunftinteresse“, dem „Urteilen-Müssen“ dieses unbedingten Vernunftbedürfnisses zufolge, auch gar nicht zu „abstrahieren“ ist. Demzufolge wäre jene von der Methodik systematischer Naturforschung ausgehende Argumentation Kants in entsprechend modifizierter Gestalt aufzunehmen und könnte so einen für seine geplante Kritik der „historischen Schriften“ wesentlichen Aspekt derselben sichtbar machen. Mithin müsste jener maßgebende Gesichtspunkt, „seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen anzusehen“, doch bedeuten, dass erst infolge dieser „gegenläufigen“ Perspektive und entsprechend der unverkürzten „Idee der Menschheit“ sich „Vernunft“ in diesem geschichtsphilosophischen Kontext in differenzierter Weise „auswickelt“, d. h. sich derart bildet bzw. auch erhält – und sich darin in einer ganz besonderen Weise „dieser Teil das eine, jener das andere zu Herzen nimmt“ (II 581). Demnach begnügt sich die Erhellung dieser geschichtsphilosophischen Motive ja
225 Schiller 1922, VIII 10.
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keineswegs mit dem bloßen Aufweis, dass bezüglich der darin maßgebenden „Maximen“ und „Leitfäden“ nicht nur „der Naturforscher … sich im Suchen und Beobachten solle leiten lassen“ (V 141), sondern auch für den Geschichtsforscher die in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ zutage tretenden „erinnerungs“-geleiteten226 Elemente für diese geschichtsphilosophische Perspektive unentbehrlich – weil darin implizit schon vorausgesetzt – sind. Es wäre in diesem gegenläufigen geschichtsphilosophischen Kontext und der bestimmenden Absicht, „unseren Horizont über die Privatbestimmung zur Absicht der species [zu] erweitern“, darüber hinaus die darin leitende Idee einer Leidens- und Unrechts-Geschichte mit einer Differenzierung der „Idee der Menschheit“ zu verknüpfen und könnte so, an entsprechenden Maßstäben rechtlichpolitischer Vernunftideen, auch die abstrakte Fixierung auf ein „Gattungs-Subjekt“ „in weltbürgerlicher Absicht“ überwinden.227 Der Sachverhalt, dass Kant selbst eine solche gegenläufige Perspektive und einen entsprechenden „Leitfaden“ nicht explizit ausgebildet hat, besagt ja keineswegs, dass gerade einer der unverkürzten „Idee der Menschheit“ und der „teilnehmenden Vernunft“ verpflichteten Geschichtsphilosophie nicht auch daran gelegen sein muss; dadurch rückt auch erst die den maßgebenden divergierenden Vernunftinteressen genügende „Wahl des Standpunkts“ sowie die darauf gestützte „Erfahrung im Menschengeschlechte“ (VI 356) ins Blickfeld. Die Ausblendung dieser Problemaspekte liefe indes nicht nur unvermeidlich darauf hinaus, das jenem „Weltbegriff der Philosophie“ immanente Sinnpotenzial zu unterbieten. Dies käme – und sei es auch in der Gestalt der Vernachlässigung bzw. Ignorierung – in seiner Tiefenstruktur ohne Zweifel dem Unrecht der Lüge wohl bedenklich nahe – nach Kant ein „Unrecht …, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird“ (IV 638); enthält doch der „Weltbegriff der Philosophie“ das der kritischen Idee einer „Gegen-Geschichte“ immanente Sinnpotenzial in sich, deren gegenläufiges Konstruktionsprinzip nun am Verdeckt„Gewesenen“, am stimmlos Gebliebenen bzw. am Verstummten und somit an dem aus der „allgemeinen Menschenvernunft“ Ausgeschlossenen, sich „mikrologisch“ orientieren müsste. Auch hier wäre also, in einer besonderen Hinsicht, ein gewisses „Interesse“ zur Geltung zu bringen, „woran jeder Wohlgesinnte … herzlich Teil nimmt“ – freilich, ohne dass er sich dabei lediglich „auf seinen wahren Vorteil versteht …“ (II 443).
226 Die schon angeführte Bemerkung Kants in dem „Versuche einer solchen philosophischen Geschichte“ über den darin bestimmenden „besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“, wonach unser Weltteil „wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird“ (VI 48), hat zur Kehrseite nicht nur die Erinnerung an die in eben diesem „Weltteile“ erfolgte Eliminierung der grundlegenden „Menschheitsidee“ und „Subjektivität“, sondern ebenso die Vergegenwärtigung der Voraussetzungen, denen diese grundlegenden Ideen in geschichtlicher Perspektive zu verdanken sind (vgl. auch dazu Aschenberg 2003, bes. Kap. 3). 227 Auch in diesem Sinne wäre wohl jene frühe Reflexion Kants aufzunehmen: „Die Geschichte der Gattung, nicht der Menschen. Jene setzt eine Idee voraus“ (Refl. 1467, AA XV, 645 f ). – Riedels Hinweis ist zweifellos plausibel: „Das Wort ‚Gattung‘ stellt im Kontext der Geschichtsphilosophie einen historischen Grundbegriff und keinen logischen Begriff dar. Es bezeichnet also nicht die Gesamtheit der Merkmale, die den Kollektivbegriff ‚Mensch‘ bilden, sondern die Reihenfolge der Generationen …, in denen sich die Menschengeschichte in Raum und Zeit aufbaut“ (Riedel 1989b, 168 f ). In diesem Sinne äußerte sich Kant auch in den abschließenden Bemerkungen seiner Herder-Rezension: VI 805 f.
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Die daraus gewonnenen kritischen Gegen-Narrative könnten aber auch erst dem der praktischen Vernunft selbst innewohnenden „zweifachen Interesse“ genügen, das von einem geschichtsphilosophisch akzentuierten Programm der Vernunftkritik gewiss nicht abzulösen ist. In Analogie zu jenem „empiristischen“ Interesse am „Mannigfaltigen“ wird ein für dieses gegenläufige Interesse-Nehmen sensibilisiertes Geschichtsdenken demgemäß seine „Narrative“, im Sinne des in unabweislichen praktischen Vernunftansprüchen verwurzelten „Eingedenkens“, vorrangig an dem Singulären, Abgebrochenen in „mikrologischer“ Absicht ausrichten, welches sich so nicht zuletzt auch dem Bedürfnis nach „Kontinuitäten“ verweigert; sie bleiben so dem unsichtbar bzw. stumm Gebliebenen bzw. Gemachten – d. h. dem Vergessenen und Verborgenen und Vergleichgültigten – verpflichtet und folgen dabei einem regulativen Orientierungs-Prinzip, das selbst erst dieser gegenläufigen Perspektive ihr entbergendes Licht verdankt. Dass „wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht“, verlangt deshalb, entsprechend jener geschichtsphilosophischen Hoffnungsperspektive und der den „Gedanken des Gegensatzes“ (VI 91) in sich aufnehmenden „negativen Anthropologie“, wohl auch eine solcher Gegenläufigkeit angemessene „negative Lesart“ und die ihr verpflichteten „Maximen“. In diesem Sinne lässt es sich dieser „Enthusiasmus“, gleichsam in seiner Negativ-Gestalt, vornehmlich am Verstummten, Vertanen, Untergegangenen gelegen sein – und zwar auch jenseits der weithin sichtbaren „Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt“ (IV 680). So bestätigt sich noch einmal jener Sachverhalt, dem zufolge die geschichtsphilosophisch erweiterte Leitfrage, „was der Mensch … aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (VI 399), auch in dieser gegenläufigen Akzentuierung und im Sinne eines derartigen negativen „Enthusiasmus“ aufzunehmen ist – ungeachtet aller Zweideutigkeit, die einer solchen Frage unweigerlich innewohnt.228 Damit rücken die so erst ins Blickfeld tretenden Motive in Kants Geschichtsdenken offenbar in die Nähe jenes maximenkritischen Anliegens, das Adorno gegen das Denken der Tradition zur Geltung brachte: „Philosophie hat … ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte.“229 Demnach ist es wiederum jene in der besonderen Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen Naturwesens“230 begründete „praktische Nötigung, Geschichte phi228 Hier liegt es wohl nahe, an Ricoeurs Kennzeichnung des „Grauenhaften als Gegenteil zum Bewundernswerten und zum Erhabenen“ anzuknüpfen – eben in dem von Ricoeur mit Verweis auf Kant vorgenommenen analogen Sinne, dass dieses Erhabene „in Quantität und Intensität über die Schranken des Imaginären“ hinausgehe (Ricoeur 2004, 506). 229 Adorno 1966, 19 f; vgl. auch ders., 1951, Nr. 46. 230 Und dies bedeutet nach Kant gerade in diesem Zusammenhang: „nicht bloß [als] vernünftiges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte“ (IV 550)! Diese schon wiederholt erwähnte Unterscheidung ist es auch, die derjenigen zwischen der „praktischen Nötigung, Geschichte zu denken“, und der „wissenschaftlichen Historie“ zugrunde liegt und diese auch notwendig macht. – Sachlich steht dem auch Kants anthropologisch-pädagogischer Hinweis nahe, dass die „Kultur des Gedächtnisses sehr notwendig“ sei. Freilich dürfe man dieses
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losophisch zu denken“, die nunmehr, einander „widerstreitenden Vernunftansprüchen“ gemäß, im Sinne jener geschichtsphilosophischen Differenzierung der Frage „Was will und soll ich hier wissen?“ unvermeidlich auch auf diese gegenläufige geschichtsphilosophische Perspektive verweist. So bestätigt sich erneut, dass für den darin maßgebenden Erfahrungshorizont jene von anthropologisch-psychologischen Engführungen befreiten Sinnkategorien „Erinnerung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Trauer“ unabdingbar vorausgesetzt sind. Dies bedeutet aber auch, dass ein unter der „Oberaufsicht der Philosophie“ stehendes kritisches Geschichtsdenken sich der spezifischen „Vernünftigkeit“ der erst so konstituierten Wahr-Nehmung keineswegs verschließen darf, weil andernfalls von einer den „Ideen“ in geschichtsphilosophischer Hinsicht zugemuteten „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ gar nicht zu reden wäre, sondern eine neuerlich diagnostizierte „Einäugigkeit“ das letzte Wort behielte. Es spricht deshalb gerade im Sinne des hier unternommenen Versuchs einer Ent-deckung von verdeckten gegenläufigen Motiven in Kants Geschichtsphilosophie einiges dafür, jene Benjamin’sche Kennzeichnung der „Geschichte als Leidensgeschichte der Welt“ auch mit Blick auf jenen schon erwähnten Befund Adornos zu vergegenwärtigen: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist die Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.“231 Unzweifelhaft ist es das einem Vernunftbedürfnis von besonderer Art zugrunde liegende „Urteilen-Müssen“, das sich darin artikuliert. Erst aus dem diese Perspektive inspirierenden geschichtsphilosophischen „Negativismus“, der sich von den in die praktische Vernunft gleichsam eingewobenen „negativen Größen“ leiten lässt, können die Umrisse einer diesen kritischen Maßstäben verpflichteten umfassenden und radikalen „Kritik [!] der Vernunft, der Geschichte und historischen Schriften“ sichtbar werden. Sie ist es auch, die eine mit diesem Vorhaben einhergehende Etablierung einer kritischen Version einer „Idee der Naturgeschichte“ innerhalb der Geschichtsphilosophie nahelegt (s. u. II., 4.), ja dies sogar für eine „philosophische Betrachtung“, durchaus „nach der Idee“, als unumgänglich ausweist.232 Dies indiziert, wie sich noch zeigen wird, ein zugrunde liegendes spezifisches „archäologisches Interesse“, das offenbar zu jenem praktisch-utopischen Interesse einer „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ in einem komplementären Verhältnis steht. Damit ist freilich die Forderung einer besonderen Rechenschaft darüber verbunden, „was man hier wissen will und wissen soll“ – und d. h. zunächst auch: was hier erst einmal Gehör finden soll. Eine dieser gegenläufigen Geschichtsperspektive verpflichtete Vernunftidee bleibt deshalb auf die jenem „mikrologischen Blick“ zugemutete Erfahrung bzw. auf die Freilegung von Unrecht und Leid bezogen; ihre kritische Funktion im Sinne einer „Ge„Gedächtnis nur mit solchen Dingen beschäftigen, an denen uns gelegen ist, dass wir sie behalten, und die auf das wirkliche Leben Beziehung haben“ (VI 732); derlei Orientierung erfordert, dass sie „ideen-geleitet“ ist, weil erst dies ein in praktischen Vernunftansprüchen verankertes „Eingedenken“ zu fundieren vermag. 231 Adorno 1966, 29. 232 Sofern eben „im Begriff der Menschheit … die ‚Perfektibilität‘ der Gattung mit gedacht“ wird (Gerhardt 2009, 277), wäre dies in einer negativen geschichtsphilosophischen Akzentuierung auch mit dem Motiv der „Naturgeschichte“ zu verbinden.
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gen-Geschichte“ besteht freilich nicht zuletzt in der Achtsamkeit dafür, dass derartige Erfahrung sich selbst schon auf konkrete geschichtliche Wirklichkeit, d. h. hier wohl: auf die Widerfahrnisse geschichtlicher Subjekte selbst bezieht, zumal diese ja keinesfalls das gleichsam erst formbare Material darstellen und solch eine reale geschichtliche Erfahrung sich auch keiner Idee einer Kontinuität bzw. Totalität „gefügig“ machen lässt. In diesen dem Gebiet der praktischen Vernunft zugehörigen unterschiedlichen geschichtsphilosophischen Perspektiven treten demzufolge Vernunftansprüche ans Licht, in denen der menschlichen Vernunft offensichtlich in durchaus differenzierter Weise an nichts anderem als an sich selbst gelegen ist. Auch dies lädt dazu ein, die angezeigte Gegenläufigkeit und ihr spannungsvolles Selbstverhältnis nicht in einem „antinomischen“, sondern wohl eher in dem angezeigten komplementären Sinne zu begreifen. Andernfalls wäre ein „Vernunftgebrauch“ auf diesem geschichtsphilosophischen Gebiet gerade nicht als „vollständig“ auszuweisen, zumal derlei Vollständigkeit durch diese kritische Leitungsfunktion erst gewährleistet ist und nicht zuletzt Kants Bestimmung der „Vernunftidee der Menschheit“ diesen gegenläufigen Gesichtspunkt als unverzichtbar behauptet. Sofern doch beide „gegenläufigen Tendenzen“ im Sinne einer differenzierten „Einheit der Vernunft“ in einem praktischen Vernunftinteresse verankert sind, entsteht auch diesbezüglich keineswegs das Dilemma, für einen der beiden Gesichtspunkte einseitig und blind „Partei zu nehmen“ (II 442);233 ist es doch für „vernünftige, aber endliche Wesen“, die als solche bewusst ihr Leben führen und gleichermaßen als Individuen und Gattungswesen ein orientierendes Selbstverständnis suchen, offenbar unumgänglich, dass sie es sich als „handelnde und leidende“ Subjekte an beiden Perspektiven gelegen sein lassen, d. h. in der Tat an „einem dem Eingedenken verpflichteten und einem auf Handeln ausgerichteten Geschichtsdenken“ Interesse nehmen.234 Gegen den Anschein bzw. die Versicherung einer womöglich allzu harmlosen bzw. nur harmonischen Komplementarität „zwischen einer primär retrospektiv und einer primär prospektiv angelegten Geschichtsreflexion“ bleibt indes die Aufmerksamkeit dafür zu schärfen, dass diese gegenläufige retrospektive Perspektive sich doch der Widerständigkeit gegen den fraglosen Gleichschritt mit jener „prospektiven Geschichtsreflexion“, gegen die universalgeschichtlichen Versuchungen und gegen ignoranz-geleitete Abstraktionen verdankt, weil eine derart „der Vergangenheit zugewendete“ – mühsam buchstabierende und Spuren suchende – Blickrichtung das schwierige Sich-„Losreißen“ des 233 Dieser Lesart zufolge weist Kants Geschichtsdenken selbst einen gangbaren Ausweg aus der andernfalls aporetischen Disjunktion „zwischen einer primär retrospektiv und einer primär prospektiv angelegten Geschichtsreflexion, einem der Erinnerung verpflichteten und einem auf das Handeln ausgerichteten Geschichtsdenken“ (Angehrn 2004, 349). Gegen einseitige Abspannungen des Problems soll sich im Blick auf Kant bestätigen, dass gerade für seine Geschichtsphilosophie die Problemdiagnose Angehrns zutrifft, wonach „beide Orientierungen, Erinnerung wie Zukunftsbezug, unsere Geschichtlichkeit ausmachen, dass beide in unserem individuellen und kulturellen Geschichtsbezug, mit je eigener Prägnanz, gegeben sind, sowohl miteinander kommunizierend wie sich unabhängig voneinander artikulierend. Philosophische Geschichtsreflexion steht vor der Herausforderung, diese Spannweite aufzunehmen und beide Ausrichtungen in ihrem Eigensinn wie ihrer Verbundenheit zur Sprache zu bringen“ (ebd. 350). 234 Es wird sich zeigen, dass dem von Yovel in Kants Geschichtsdenken identifizierten (und an der kosmopolitischen Perspektive ausgerichteten) „historischen Imperativ“ (Yovel 1980, 7) auch ein „historischer Imperativ“ korrespondiert, der sich an gegenläufigen Gesichtspunkten orientiert.
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„Nicht-Mitgehens“ voraussetzt und nur solcherart das Gedächtnis mit dem Vergangenen verbunden ist. Jene schon erwähnte Absicht, „Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“ (III 181), wäre demzufolge keineswegs auf das Gebiet der Naturwissenschaften beschränkt; vielmehr gewinnt es in einer solchen geschichtsphilosophischen Situierung besondere Bedeutung und legt es nahe, dies mit jenen zwar latent vorhandenen – von Kant selbst nicht näher entfalteten – geschichtsphilosophischen Motiven und den darin maßgebenden gegenläufigen „Maximen“ und „Leitfäden“ zu verbinden. Im thematischen Umkreis der angezeigten gegenläufigen geschichtsphilosophischen Perspektive gewinnt der heuristische Charakter dieser regulativen – d. h. eben die Richtung weisenden – „praktischen Ideen“ somit einen eminent kritischen Sinn und erweist sich für die Bestimmung jenes erkenntnisleitenden Interesses als unentbehrlich, aus dem sich diese geschichtsphilosophische Perspektive speist und das selbst durchaus als „ein actives in der Idee eines bloß vernünftigen Wesens, welches sich selbst als moralisch-gesetzgebend betrachtet“,235 verwurzeltes erkennbar wird. Es sollte deutlich geworden sein, dass sich darin durchaus ein den Motivlagen Kants folgendes „Interesse der Menschheit“ an der „Idee der Menschheit“ widerspiegelt: Dieses ist von dem unbestechlichen Widerstand dagegen geleitet, sich seiner eigenen Identität und des unverkürzten Gehalts der „Idee der Menschheit“ zu Lasten der Opfer und deren Leidensgeschichten236 einäugig-ignorant vergewissern zu wollen und so stillschweigend sein Einverständnis dazu zu geben, in dieser – solchem gewissermaßen geschichtsphilosophischen „Solipsismus“ anhaftenden – „cyklopischen“ Befangenheit auch jene „Idee der Menschheit“ zu halbieren.237 Eine geschichtsphilosophische Perspektive muss auch in die235 AA XVIII, 725. 236 Die hier im Blick auf verborgene kantische Motive geltend gemachten geschichtsphilosophischen Aspekte – und vornehmlich das auch geschichtsphilosophisch zu akzentuierende kantische Motiv, „die Rechte der Menschheit herzustellen“ – stehen offensichtlich dem Anliegen nahe, das L. Wingert mit seiner Frage: „Haben wir moralische Verpflichtungen gegenüber früheren Generationen?“ – und vor allem mit seiner leitenden (moralphilosophisch begründeten) These – angesprochen hat: „Es liegt … nahe, nach einer solchen direkten Beziehung [„zwischen uns und den früheren Generationen von Opfern“] gegenüber diesen Mitgliedern früherer Generationen zu suchen … Die Idee dabei ist, dass die Opfer an uns als die Nachwelt den Anspruch richten, dass ihnen Recht gegeben wird. Ein solcher Anspruch wird von dem Gedanken impliziert, dass sie objektiv moralisch im Recht sind. Indem wir bestimmte moralische Verpflichtungen gegenüber den Opfern vergangener Zeiten erfüllen, restituieren wir ihren Status als Angehörige der [entgrenzten] moralischen Gemeinschaft und anerkennen somit ihren an uns gerichteten Anspruch“ (Wingert 1991, 83). Andernfalls liefe man, in Anlehnung an Kant formuliert, doch wenigstens Gefahr – oder würde dem zumindest nicht entschieden genug entgegen treten! –, diese Opfer letztendlich doch einer „Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden [!] Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist“, und würde sie so stillschweigend zu bloßen „Mitteln“ herabsetzen (IV 210). So bringt sich eine besonders denkwürdige geschichtsphilosophisch akzentuierte Version jener kantischen Forderung zur Geltung, „sein Urteil an fremder Vernunft zu prüfen“ (Jerusalem 1913, 541; vgl. XXIV 874 f ). Dass damit freilich auch die besondere Frage berührt ist, ob und an welche (speziellen) Kollektive sich diese „Verpflichtungen“ als Adressaten auch in geschichtstheoretischer Hinsicht richten bzw. Konsequenzen für eine „Kritik der historischen Schriften“ und der Geschichtsschreibung haben, führt auf noch speziellere Fragen, die hier ausgeblendet bleiben. 237 An Erfahrungen solcher Art knüpft offensichtlich in der Sache auch Habermas an: „Doch bezeugt das Risiko eines Mißlingens, ja der Vernichtung von Freiheit gerade in den Prozessen, die die Freiheit fördern und verwirklichen sollen, nur die Verfassung unserer endlichen Existenz – ich meine die Notwendigkeit
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ser Hinsicht daran aktiv ein gegenläufiges „Interesse nehmen“, dass der Mensch als „vernünftiges endliches“ – somit verletzbares – „Weltwesen“ nicht zwischen der bloß „physiologischen“ und der „pragmatischen Anthropologie“ marginalisiert, ja „aufgerieben“ wird, d. h. nicht derartigen cyklopischen Leitfäden zum Opfer fallen darf. Auch in solcher Hinsicht bestätigt sich das vorrangige negative „Geschäft der Vernunft“, nämlich: die „Quelle der Irrtümer (die Vorurteile)“ zu verstopfen, „und sichert hiemit den Verstand [richtiger: die Vernunft] durch die Allgemeinheit [!] der Prinzipen“ (VI 548) – eine Forderung, die wohl auch in dieser geschichtsphilosophischen Hinsicht gar nicht ernst genug genommen werden kann. Eine diesbezüglich aufzunehmende Version des „negativen Nutzens“ der Vernunftkritik klingt ja bezeichnenderweise im Rahmen der kantischen Kritik an Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ an, wonach ohnehin der „Philosophie … Besorgung mehr im Beschneiden als Treiben üppiger Schößlinge besteht“ (VI 793). Die voranstehenden Überlegungen zielten deshalb vornehmlich darauf ab: Das von der Philosophie eingesetzte „zweite Auge“ hat als kritische Instanz desgleichen dem keineswegs nebensächlichen Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass die Kennzeichnung des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ (welche offenbar als kantische Version des „animal rationale“ gelesen werden muss)238 den kritischen Blick auf dieses „vernünftige Naturwesen“ gleichermaßen als „handelndes“ und „leidendes“ „Erdwesen“ (VI 399) verlangt – das als ein solches auch Erfahrungen macht, das heißt hier vor allem: Widerfahrnisse erleidet. Dieses „vernünftige Weltwesen“ muss demnach in einer solchen geschichtsphilosophischen Perspektive eben auch in seiner „Leidfähigkeit“ wahrgenommen werden – und d. h. keineswegs lediglich im Sinne der leitenden Perspektive einer „physiologischen Anthropologie“, „was die Natur aus dem Menschen macht“. Mit solchen Einsichten bzw. leitenden Motiven gewinnt ebenso der Sachverhalt, dass Kants „Weltbegriff der Philosophie“ ohne Einbeziehung der angezeigten differenzierten geschichtsphilosophischen Problemdimensionen nicht zureichend zu bestimmen ist, eine bedeutsame Nuancierung und Erweiterung, die sich eben darin der Orientierung an der unverkürzten „Idee der Menschheit“ besonders verpflichtet weiß. Zweifellos hat das Schlussmotiv der Brecht’schen „Dreigroschenoper“: „Und die einen sind im Dunkel / und die andern sind im Licht / Und man siehet die im Lichte / die im Dunkeln sieht man nicht“,239 auch mancherlei geschichtsphilosophische Intonierungen gefunden; ebenso könnte eine bloß einseitige Rücksichtnahme bzw. Lesart der kantischen Geschichtsphilosophie mit Blick auf die von Kant selbst vorgelegten geschichtsphilosophischen Entwürfe dazu verführen, hier stillschweigende Einstimmung und Gleichklang zu vermuten. Dass dies freilich auf eine Verkürzung bzw. Verkennung der kritischen Vernunftpotenziale hinausliefe, die auch für seine Geschichtsphilosophie fruchtbar zu machen sind, soll vornehmlich in den nachfolgenden Ausführungen dargelegt werden. eines … selbstentäußernden, transzendierenden Vorgriffs auf eine unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft, der uns zugleich eingeräumt und zugemutet wird“ (Habermas 1991e, 142). 238 Ähnlich sprach Kant vom Menschen als dem „vernünftigen Erdwesen“, vom „vernünftigen Tier“ bzw. vom „intellektuellen Bewohner der Sinnenwelt“ (VI 185). 239 Was eben gerade jenem „geliehenen Lichte des zu Hilfe kommenden Verstandes“ verdankt sein könnte.
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3.4. Ein mit dem „Weltbegriff der Philosophie“ verknüpftes gegenläufiges geschichtsphilosophisches Vernunftinteresse – daran orientiert, „was jedermann notwendig interessiert“ 3.4.1. Kants denkwürdiger Verweis auf „Geschichtszeichen“ bzw. auf „Zeichen der Zeit“ – im Lichte dieses gegenläufigen Vernunftinteresses gelesen Die an praktischen Vernunftprinzipien Maß nehmende und zureichend differenzierte gegenläufige geschichtsphilosophische Orientierung wird auch deshalb in besonderer Weise bedeutsam, weil sie auf eine noch freizulegende „Tiefengeschichte des Menschen“ aufmerksam macht. Der für die Beantwortung der Frage nach dem „beständigen Fortschreiten zum Besseren“ nach Kant unverzichtbare Rekurs auf „Geschichtszeichen“240 wäre in der Folge nicht nur gemäß jener anthropologischen Orientierung daran aufzunehmen, „was der Mensch aus sich selber machen kann und soll“. Nicht allein die bestimmte Hinsicht ist darin maßgebend, dass sich in jener „Denkungsart“ ein „Phänomen“ manifestiert, „das sich nicht mehr vergisst“; ebenso hat sich der erinnernde Bezug darauf als notwendig erwiesen, was der Mensch „aus sich selber macht“ – ein Gesichtspunkt, der sich solcherart gewissermaßen an der Gegen-„Idee“ der Unfreiheit, des „Verbrechens wider die menschliche Natur“ (VI 58) orientiert und dieserart auch „Phänomene“ „erinnert“, die sich nicht mehr vergessen dürfen. Derart bleibt also auch der in Kants beiläufigem Rekurs auf die „traurige Erfahrung“ (VI 42) der Menschengeschichte maßgebende „Erfahrungs“-Begriff an jene Wahr-Nehmungen des Verrates, der Zerstörung, mehr noch: der „Vernicht(s)ung“ der „Menschheits-Idee“ gebunden – an „Widerfahrnisse“241 also, die in der Tat nicht weniger als die „Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung“ (VI 362) indizieren – „malum radicale“ gewissermaßen. Damit rückt auch Kants Bezugnahme auf die „mit dem Interesse der Menschheit eng verwebten Begebenheiten“ in ein besonderes Licht; vor allem im Zusammenhang mit einer angemessenen rechts- und geschichtsphilosophischen Dimensionierung des Lehrstücks über das „radikal Böse“ (die „Bösartigkeit der menschlichen Natur“: VI 196; 210; 228 f )242 legt dies neue Gesichtspunkte nahe. Dies bestätigt überdies 240 Die in Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ im Rahmen seiner Analysen „Vom Erkenntnisvermögen“ behandelten „Zeichen“ (die dort vorgestellten „signa“) erhalten, in praktische Vernunftansprüche transformiert, ihren besonderen – weil vom Interesse der „Menschheit“ unablösbaren – Sinn. Dies nötigt freilich dazu, diese dort (§ 36) angeführte Unterscheidung der „Zeichen“ (in „willkürliche, natürliche und in Wunderzeichen“) noch zu erweitern. Kants gelegentliche Bezugnahme (auch in den Vorlesungen) auf „rememorative Zeichen“, die „das Dasein der Dinge in der vergangenen Zeit anzeigen“, verdient in diesem Kontext besonderes Interesse. 241 Auch so wäre dies zu verstehen (Benjamin V, 273): „Nicht wir versetzen uns in sie, sie treten in unser Leben“. Denn dies ist in Kants geschichtsphilosophisch akzentuierter Forderung enthalten, durch die „Vernunft Anderer“ erst ein „Miteigentümer (condominus) der größeren Habe der Erkenntnisse zu sein welche sich der allgemeinen Menschenvernunft zum Besitz darbieten“ (AA XXIII, 195). 242 Zu einigen mit Kants Lehre vom „Bösen“ verbundenen grundsätzlichen Schwierigkeiten s. Brandt 2009, 504 ff. Diese im Sinne des „radikal Bösen“ verstandene ursprüngliche „Verkehrung der Triebfedern“ muss gewissermaßen um des möglichen Selbstverständnisses als eines „einheitlichen Selbst“ willen vorausgesetzt werden, weil dies erst „Persönlichkeit“ als ein der „Zurechnung fähiges Wesen“ ermöglicht,
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die Notwendigkeit einer geschichtsphilosophischen Lesart des kantischen Lehrstücks vom „radikal Bösen“243 (das Kant ausdrücklich als „Abgrund der Vernunft“244 bezeichnete), die jenen Hinweis auf die Freiheit als „das Schrecklichste, was nur sein kann“,245 sowie auf das „weite Grab“, „das alle Greuel der Gewalttätigkeit samt ihren Urhebern bedeckt“ (VI 212), unübersehbar noch zuschärft. Dass das „radikal Böse einen historischen Index“ hat (J. Habermas),246 der freilich an die Tiefengeschichte der „Idee der Menschheit“ selber rührt, bleibt sonach auf die von Kant betonten „Geschichtszeichen“ zu beziehen; derart erinnert es erneut an jene dem kantischen Begriff der „Menschheit“ innewohnende Zweideutigkeit, wobei dessen „intensionaler“ Sinngehalt nicht ohne seine anamnetisch-geschichtliche Vermittlung bzw. Dimensionierung zu denken ist, d. h. sich nicht abstrakt verflüchtigen darf. Vor dem Hintergrund der abgründigen Erfahrungen der Gräuel des 20. Jahrhunderts, die für die Zeit Kants wohl nicht einmal ein „cogitabile“ waren, hätte sich Kant gewiss d. h. „als ob“ es selbst es gewesen wäre. – Kants Lehre vom „radikal Bösen“ wird hier nicht näher verfolgt; vgl. zu diesem wichtigen Thema der „Religionsschrift“ die diesbezügliche Abhandlung von M. Forschner (Forschner 2011) und die darin angeführten bibliographischen Hinweise. – Kants Lehrstück über das „radikal Böse“ ist nicht zuletzt deshalb von besonderem Interesse, weil es (auch entgegen manchen missverständlichen kantischen Äußerungen) verdeutlicht, dass, obzwar das „moralische Gesetz“ „ratio cognoscendi“ der Freiheit ist, dennoch nicht lediglich „moralisch qualifizierte“ Handlungen als „frei“ angesehen werden dürfen, also ein „moralistischer Kurzschluss“ der Freiheit bei Kant keineswegs das letzte Wort bleibt; andernfalls müsste auch Kants Konzept der „Maxime“ unverständlich werden. 243 Einiges spricht dafür, die von Theunissen (2001, 69) erhobene (und mit einem Rekurs auf das Erbsündendogma verbundene) Forderung, „nämlich ein Allgemeines zu denken, das dem Besonderen nichts von seiner Besonderheit abhandelt, also Auschwitz auf die conditio humana hin durchsichtig zu machen und dennoch seine jeden Vergleich verbietende Ungeheuerlichkeit auszuhalten“, mit den hier verfolgten kantischen Themen zu verbinden – auch, was diesen Zusammenhang des „sich nicht mehr vergessenden Phänomens in der Menschengeschichte“, des „Geschichtszeichens“ und der Lehre vom „radikal Bösen“ betrifft. 244 „Bei der Idee der Freiheit ist der Abgrund des Bösen, zu dem wir versucht werden, und den Hang dazu haben, schreckhaft erhaben so wie die Höhen des Guten geistig erhaben“ (AA XXIII, 101). – Von einem „Abgrund“ ist bei Kant übrigens an entscheidenden Stellen seines Werkes die Rede; stets geht es dabei auch um die Erfahrung einer schlechthinnigen Grenze, eines Unausdenkbaren bzw. des unvermeidlichen Scheiterns überzogener Vernunftansprüche: So spricht Kant im Kontext theoretischer Vernunftansprüche von dem „absolut notwendigen Wesen“ als dem „Abgrund der Vernunft“, ebenso benennt er den „Abgrund“ der Freiheit, zumal der einmal gekostete „Stand der Freiheit“ den Menschen gleichsam an den „Rand eines Abgrundes“ (VI 89) führt. 245 Menzer 1924, 152 f. In einer (im geschichtsphilosophischen Rahmen) wohl mit Kants Lehre von den „Geschichtszeichen“ zu verknüpfenden Reflexion aus dieser Zeit heißt es: „Die Freiheit ist das größte Gut und das größte Übel“ (Refl. 7217, AA XIX, 288); Letzteres bezeugt – und zwar aus „erster Hand“, nicht vom sei es noch so gut belegten „Hörensagen“ – der „moralische Zeuge“, eben „die Erhellung des dunklen und unheimlichen Charakters des Menschenopfers – und ebenso der Qualen und Erniedrigungen, die ein böses Regime den Menschen zufügt“ (Margalit 2000, 76). In solchem Gegenlicht, das seine Stärke auch den in die Geschichtsphilosophie eingeführten „negativen Größen“ verdankt, ist ebenso Kants These aufzunehmen: „Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten“ (II 678). Damit fällt freilich auch auf Kants Rekurs auf die den „späten Nachkommen“ hinterlassene „Last von Geschichte“ (VI 50) ein besonderes Licht. 246 Dass jene „Geschichtszeichen“ und „Zeichen der Zeit“ dann auch im Sinne der der Geschichte eingeritzten „Male“ („Prägungen“, Charakter) zu bestimmen wären, sei hier nur beiläufig – und mit Blick auf diese Bemerkung, dass das „Böse“ einen „historischen Index“ hat – erwähnt.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
nicht mehr mit seiner – zunehmend resignativen – Bemerkung darüber begnügt, dass man „sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren“ könne, „wenn man ihr [der Menschen] Tun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht; und, bei hin und wieder anscheinender Weisheit im einzelnen, doch endlich alles im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Torheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet: wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll“ (VI 34), d. h. „nicht viel damit zu prahlen sei“ (VI 688). In Anbetracht einer solchen „Menschheit in finsteren Zeiten“ spricht vieles auch dafür, die (von im Rahmen seiner „Schilderung des Charakters der Menschengattung“ geäußerte) Diagnose Kants zu entharmlosen, die „Torheit eher als Bosheit in dem Charakterzuge unserer Gattung hervorstechend [zu] finden“ und Erstere, „mit einem Lineamente von Bosheit verbunden (da sie alsdenn Narrheit heißt), in der moralischen Physiognomik an unserer Gattung nicht zu verkennen ist“ (VI 688); auch von einem „bloßen Possenspiel“, dem das „ganze Spiel des Verkehrs unserer Gattung mit sich selbst“ gleiche (VI 354; 166), hätte Kant im Blick auf derartige abgründige „Geschichtszeichen“ und auf die „Menge schreiender Beispiele“ gewiss nicht sprechen wollen. All diese Bezüge, die auch von Kants Geschichtsdenken der Sache nach unablösbar sind, weisen darauf hin, dass darin die „Erinnerung“ jener verletzbaren, ja vergessensbedrohten „Idee der Menschheit“ – jenseits des von Kant diagnostizierten „Trauer- bzw. Possenspiels“ – eingeschlossen ist, desgleichen die stets neu vernehmbare Aufforderung zu geschärfter Sensibilität für „Verbrechen wider die menschliche Natur“ (VI 58) und für die darin zutage tretende Bedrohung der „Menschheitsidee“. Darauf ist also die geschichtsphilosophisch erweiterte „gegenläufige“ Rücksichtnahme bezogen, „was der Mensch … aus sich selber macht“. Es inkludiert so die Erfahrung der zahllosen „selbstersonnene(n) Plagen“ (V 552) und der „schrecklichsten Drangsale“ (V 555), die freilich über ein bloßes „Trauer- und Possenspiel“ hinausweisen.247 Demnach bleibt in diesen geschichtsphilosophischen Bezügen – und zwar in einer durch die maßgebenden Prinzipien der praktischen Vernunft noch zugeschärften Weise – sein gelegentlicher Hinweis auf jenen „Abgrund der Vernunft“ noch in besonderer Weise zu akzentuieren – ein Abgrund, der wenigstens die fraglose Orientierung an der „Idee der Menschheit“ als ein „Sinnkriterium historischer Selbstverständigung“ und die daran maß-nehmenden geschichtsphilosophischen Entwürfe problematisieren muss. Mithin bleibt diese erinnerungsgeprägte und darin ebenso an der „Idee der Menschheit“ maßnehmende Vernunft auch in der Gestalt der „Trauer“ auf „Geschichtszeichen“ verwiesen – Kant sprach gelegentlich auch von „Zeichen der Zeit“.248 Solche Vernunftgestalt wird in dieser Hinsicht – und möglicherweise ganz und gar „unzeitgemäß“ – auf der zu er-innernden „Tiefengeschichte“ der „Idee der Menschheit“ insistieren und somit 247 Freilich betonte Kant: „Alle Hochpreisungen, die das Ideal der Menschheit in ihrer moralischen Vollkommenheit betreffen, können durch die Beispiele des Widerspiels dessen, was die Menschen jetzt sind, gewesen sind, oder vermutlich künftig sein werden, an ihrer praktischen Realität nichts verlieren, und die Anthropologie, welche aus bloßen Erfahrungserkenntnissen hervorgeht, kann der Anthroponomie, welche von der unbedingt gesetzgebenden Vernunft aufgestellt wird, keinen Abbruch tun“ (IV 537 f ). 248 AA XXII, 622.
3. Selbsterkenntnis der Vernunft in geschichtsphilosophischem Kontext
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für die Auslöschbarkeit der „Idee der Menschheit“ – dass es damit „nichts“ ist, d. h. damit „nichts auf sich hat“ – sensibilisieren.249 Kants berühmte These verdient besonderes Interesse auch in diesem Kontext: „Es muß irgend eine Erfahrung im Menschengeschlechte vorkommen, die, als Begebenheit, auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren, und (da dieses die Tat eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein.“ Die darin für eine „Geschichte apriori“ enthaltene Forderung verweist auf die im „signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon“ (VI 356 f )250 ebenfalls zum Ausdruck kommenden Erfahrungen der Abgründigkeit menschlicher Freiheit und ist so mit der Sensibilität für die Verletzbarkeit, ja der Zerstörbarkeit der „Idee des Menschen“ untrennbar verbunden, nicht zuletzt freilich auch im Blick auf gattungsethisch relevante Herausforderungen.251 Gemäß jener „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ (II 550), die auch in diesem geschichtsphilosophischen Umfeld nicht vernachlässigt werden darf, verbinden sich die Orientierung daran, was der „Mensch … aus sich selber machen kann und soll“, und jene geschichtsphilosophische Zuversicht bezüglich des „regelmäßige(n) Gang(es) der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Weltteile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird)“ (VI 48) mit der unbestechlichen gegenläufigen Erinnerung daran, was, von „unserem Weltteile“ ausgehend, „der Mensch aus sich selber macht“. Während also jene von Kant angeführten, eine „Denkungsart eines Volkes“ erinnernden „Geschichtszeichen“ mit Blick auf das politische Handeln 249 In Ansehung der kantischen „Idee der Menschheit“ und natürlich der „zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebten“ Begebenheiten (VI 361) ist Margalits unüberhörbar zurückhaltende Beantwortung der Frage sehr bedenkenswert: „An was also soll sich die Menschheit erinnern? Die Antwort lautet, kurz: an außergewöhnliche Manifestationen des radikal Bösen und an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie etwa Sklaverei, Deportationen der Zivilbevölkerung und Massenmorde. […] Mein Begriff des radikal Bösen ist weniger radikal: Ich schlage vor, dass er all jene Handlungen umfassen sollte, welche die Fundamente der Moral selbst untergraben. Der eliminatorische Biologismus, wie ihn die Nazis bei der ‚Ausmerzung‘ von ‚Untermenschen‘, das heisst von Juden und Zigeunern, praktizierten, war ein unmittelbarer Angriff auf die Idee der Humanität als solcher, mithin auf die grundlegende Kategorie der Moral. Derartige Angriffe sollten aufgezeichnet und erinnert werden“ (Margalit 2000, 55). – R. Aschenbergs zentrale Thesen über die „Entsubjektivierung des Menschen. Lager und Shoa in philosophischer Reflexion“ (Aschenberg 2003) bieten hier einen Anknüpfungspunkt: Darin wird besonders die radikale Naturalisierung und d. h. Eliminierung der „Menschheit des Menschen, d. h. Subjektivität“, betont – als der „organisierte Versuch, unter Einsatz der Machtmittel der Moderne die Menschheit derjenigen normativen Orientierung zu berauben, die es ihr erlaubt, ihre Geschichte, statt als Naturgeschichte einer aparten biologischen Spezies, als Geschichte der Subjektivität zu begreifen“ (ebd. 268); eliminiert hat der Nationalsozialismus „die Idee überhaupt der Menschheit, die übrigens die einer gemeinsamen Menschheit in sich fasst und die keine andere ist als die Idee der Subjektivität“ (ebd. 233). In seiner Rezension dieses Buches hat G. Geismann (in Geismann 2009, 265 ff ) wohl zu Recht den „zutiefst kantische(n) Geist“ in Aschenbergs sehr lesenswertem Buch gewürdigt. 250 Fordert jene berühmte „enthusiastische“ Feststellung Kants (im Blick auf die Französische Revolution): „Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergisst sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Bessern aufgedeckt hat“, nicht in der Tat eine entsprechende Erinnerung an das der „menschlichen Freiheit“ immanente (potentiell) „Schreckliche“? 251 Dies hat auch der katholische Theologe J. B. Metz immer wieder als ein zentrales Motiv der von ihm so genannten „Neuen politischen Theologie“ geltend gemacht. Die von ihm gelegentlich angeführten „Vermissungserfahrungen“ dürfen wohl im Sinne jener der „praktischen Vernunft“ eingeschriebenen „negativen Größen“ verstanden werden; s. dazu ders. 2006.
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Hoffnung begründen und ermutigen sollen, bedarf es gleichermaßen der Erinnerung an diejenigen „Geschichtszeichen“, die als „große Verbrechen … Paroxysmen“ sind, „deren Anblick den an Seele gesunden Menschen schaudern macht“ (IV 513). Obgleich solche „signa“ ebenso die Irritation darüber anzeigt, „wozu Menschen fähig sind“, erschöpfen sie sich darin keinesfalls; so sehr sie das die „zivilisatorische Selbstgewissheit“ irritierende „Bewusstsein von der Fragilität unserer Zivilisation“ wachhalten, so sehr bleibt auch darauf zu achten, dass eine derartige Erinnerung „fremden Leides“ und das Bemühen des „Denkens mit den Opfern“ sich selbst zur bequemen Botschaft eines „Nie wieder“ verkehrt, d. h. selbst unversehens einer „Funktionalisierung“ ausgesetzt ist.252 Die von Kant erhobene Forderung, die „Moral“ müsse „mit der Erkenntnis der Menschheit verbunden werden“, steht mit seiner Lehre von dem „Geschichtszeichen“ als „Denkzeichen“ („signum rememorativum“: VI 501, Anm.) in einem engen sachlichen Zusammenhang. Als „sprechendes Denkzeichen“ von besonderer Art lässt es sich auch nicht zu bloß „traurigen Merkmalen vom Wechsel aller Dinge“ (ebd.) neutralisieren. Dies bleibt demzufolge gerade mit Rücksicht auf Kants Geschichtsdenken und die angeführte Charakterisierung des „Geschichtszeichens“ als „signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon“ als ein besonderes geschichtsphilosophisches Motiv zu erinnern. Ganz ähnlich verhält es sich dann wohl auch mit seiner Bemerkung, dass der „Charakter der Gattung … nicht historisch durch Geschichte allein [!] ausgemacht werden“ kann (VI 685, Anm.).253 Dass die „Ideen … den Verstandesgebrauch im Ganzen der gesamten Erfahrung nach Prinzipien bestimmen werden“ (II 327), lässt dieser geschichtsphilosophischen Rezeption zufolge eine „negative“ Lesart als dringlich erscheinen, die allein so der Orientierung an der Negativ-Gestalt der Menschheit – d. h. dem „Verbrechen gegen die Menschheit“ – entspricht. Im Erfahrungshorizont des zwanzigsten Jahrhunderts und seines „Zivilisationsbruches“ (Dan Diner) – und in Rücksicht darauf natürlich, was Kant als Katastrophe von „vorsätzlicher wechselseitiger Verletzung der heiligsten Menschenrechte“ (VI 165) und „schreienden Beispielen“ von „härtesten Übeln“ (VI 44) vor Augen haben und beklagen konnte – muss sich zweifellos auch der Stellenwert jenes kantischen 252 In derlei Geschichtsperspektive ist, im Sinne der vom Charakter dieses „Geschichtszeichens“ unablöslichen „Selbstverständigung“, in entsprechender Weise der „opferzentrierte“ Sinn des Andenkens geltend zu machen, der gerade auch durch jenes „Nie wieder“ der „mithaftenden Nachfahren“ nicht überlagert werden darf, sondern darauf verweist, dass „das Gedenken an die Opfer für diese Selbstreferenz nicht einfach funktionalisiert werden“ darf, weil eine „ausschließliche Konzentration auf das, was die Tat und die Täter für uns bedeuten, … den moralischen Kern des Mitleidens mit den Opfern aushöhlen [müsste]. Der unbedingte moralische Impuls zum Erinnern darf nicht durch den Kontext der Selbstvergewisserung relativiert werden. Der Opfer – und dieser erst recht – können wir ernsthaft nur um ihrer selbst willen gedenken“ (Habermas 2001b, 49 ff ). 253 Dies gilt in einem solchen Kontext, gleicherweise in „negativer Wendung“, auch für jene „mit dem Interesse der Menschheit verwebten Begebenheiten“ (VI 361), ebenso für jenen „Anwachs großer, wie Berge sich auftürmenden Greueltaten und ihnen angemessenen Übel(n)“ (VI 353). – Kant selbst hat sich an die von Friedrich II. an J. G. Sulzer gerichtete Polemik: „Sie kennen diese verwünschte Rasse nicht genügend, zu der wir gehören“, und die darin beklagte „Verderbtheit der schlimmen Rasse, welche Menschengattung heißt“ (VI 689 f ), offenbar mit viel Zustimmung erinnert (s. dazu allerdings Brandt 1999, 507 f ). Gleichwohl findet sich auch in der späten „Religionsschrift“ der Bezug auf die „ursprüngliche Anlage zum Guten“ und ihre „Wiederherstellung“ (IV 694 ff ).
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Rekurses auf die „Erfahrung im Menschengeschlechte“ radikal verändern; dies gilt dann auch für den geschichtsphilosophischen Status bzw. Gehalt jenes daraus erdeuteten „Geschichtszeichens“254 als „signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon“. Es ist lediglich die Kehrseite jener „Freiheit“ bzw. des „Phänomens, das sich nicht mehr vergisst“, sowie des daran orientierten „Geschichtszeichens“, das die Auslöschung und Vernichtung der „Idee des Menschen“ – d. h. eben ihrer Nichtig-Erklärung, dass es damit nichts sei, eben „nichts auf sich habe“ – als ein „Verbrechen gegen die Menschheit“ er-innert und entsprechend auch den Sinn-Status eines derartigen „Geschichtszeichens“ und seine nähere Differenzierung in veränderter Form zur Geltung bringt – nämlich im Sinne der darin angezeigten radikalen Bedrohung eines „aufgesperrten Schlundes“ des „Nichts der Immoralität“ (IV 585). Die daraus resultierende – prinzipientheoretisch verankerte – geschichtsphilosophische Hinsicht erweist sich als höchst bedeutsam: So wie der orientierende Anspruch der Vernunft-Idee der „Menschheit“ und des „Rechts“ (auf den verschiedenen Ebenen) als „unentbehrliches Richtmaß der Vernunft“ (II 514) der rechtlich-politischen Implementierung vorausgesetzt ist, so geht die Vernicht(s)ung der „Idee der Menschheit“ und des „Rechts“ der realen Vernichtung der Menschen voraus. Es sind wohl eher die dieses „Unsägliche“ indizierenden „signa“, deren „rememorativer“ und „demonstrativer“ Gehalt sich für eine solche „gegenläufige“ Lesart radikal verwandeln muss und deshalb mit Rücksicht auf das „Interesse der Menschheit“ neu zu bestimmen ist: Eben als „Geschichtszeichen“ (und „sprechendes Denkzeichen“) für die jenen „eliminatorischen Biologismus“ ermöglichende „Denkungsart“, für die darin demonstrierte Nichtig-Erklärung der „Idee der Menschheit“ und die darauf folgende „VerNicht(s)ung“. Darin artikuliert sich aber auch die abgründige Irritation darüber, „wozu Menschen fähig sind“, ebenso eine darin mitschwingende Skepsis gegenüber einer in mancher Hinsicht vielleicht doch allzu sorglosen Sicherheit, dass es „schwer“ sei, „den Menschen ganz abzulegen“ (VI 777).255 Indes, dies verweist auf das an eine „Begebenheit“ anknüpfende „Geschichtszeichen“, das wohl eher die bleibende „Fragilität unserer Zivilisation“ vor Augen führt und so – auch in diesem Kontext der Geschichte und ihrer Orientierung an dem „Zweckwidrigen, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen gibt“ (VI 114) – einen „Abgrund für die Vernunft“ anzeigt, der Kants berühmte Bemer-
254 Lyotards „Widerstreit“-Motive und davon ausgehende Fragen sind hier zweifellos nicht zu umgehen, denn freilich bleibt zu beachten: „Heute gehören andere Namen zu unserer Geschichte. […] Die vorgängige Frage aber lautete: Können ‚wir‘ den Begriff des Geschichtszeichens heute noch beglaubigen?“ (Lyotard 1989, 295). Für Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie (und deren Rekurs auf „Geschichtszeichen“) bedeutet Lyotard eine besondere Herausforderung, die noch eine vermeintlich kritische und gut-gemeinte („fakten-orientierte“) Geschichtsschreibung des Revisionismus und einer „konformistische(n) Rechtsprechung“ überführt (vgl. ebd. 106 f ). 255 Kant verwendete diese (offenbar von Montaigne bzw. Pyrrhon übernommene) Wendung allerdings in einem ganz anderen Sinn; und in dem hier bestimmenden Kontext erhält sie erneut eine andere Akzentuierung. – Die Mehrdimensionalität dieses „Geschichtszeichens“ als „signum rememorativum, demonstrativum und prognosticon“ enthält eben immer auch die Anzeige dieser Menschheitsverbrechen als „verübte, unterstützte und geduldete“ (s. dazu Habermas 2001b, 49). Entsprechend wäre Kants Hinweis auf die sich verratende „Denkungsart der Zuschauer“ wohl auch mit der Frage nach einer möglichen Selbstvergewisserung der eigenen Identität zu verbinden.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
kung, wonach „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, … nichts ganz Gerades gezimmert werden“ könne (VI 41), in einem neuen Licht erscheinen lässt. Jener Frage, „ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht [zum „beständigen Fortschreiten zum Besseren“] entdecke“ (VI 45), stehen jedoch „Erfahrungen“ gegenüber, die in den „Erzählungen dieser Erscheinungen“ „Intelligibles“ von ganz anderer Art vernehmbar machen (d. i. „er-innern“). Wäre jene „Aufmerksamkeit“ in diesem Kontext nicht auch als das die „zivilisatorische Selbstgewissheit“ störende negativitäts-sensible „Bewusstsein von der Fragilität unserer Zivilisation“ zu verstehen bzw. als solches auszubilden – und bestätigt dies nicht erneut die Notwendigkeit, den zunächst bloß anthropologisch-psychologischen Status dieser „Aufmerksamkeit“ zu einem unentbehrlichen Moment praktischer Vernunft aufzuwerten?256 Allein diese einem solchen „gegenläufigen Vernunftinteresse“ verpflichtete „Aufmerksamkeit“ vermag die jenes „Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im großen“ (VI 33) betrachtenden „Erzählungen dieser Erscheinungen“ vor gefährlicher „Mythologie“ und den darin leitenden „Interessen“ zu bewahren. Unter solchen geschichtlichen Vorzeichen – Kant sprach, wie erwähnt, auch von den „Zeichen der Zeit“ und von „sprechenden Denkzeichen“ – wäre seine denkwürdige Reaktion auf die von Moses Mendelssohn geäußerten Zweifel betreffend die „Hoffnung besserer Zeiten“ bzw. seine Zuversicht, dass das „Fortrücken in Ansehung der Kultur … auch im Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins begriffen sei, und dass dieses zwar bisweilen unterbrochen, aber nie abgebrochen sein werde“ (VI 167 f ), wohl zurückhaltender ausgefallen, ohne dass dies bei ihm – im Unterschied zu W. Benjamin?257 – auf eine Ausblendung bzw. Vernachlässigung der möglichen und realen „profanen Fortschritte“ hinausgelaufen wäre. Dann muss freilich auch sein Rekurs auf „jene Begebenheit“, die „zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, und, ihrem Einflusse nach, auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet“ sei, „als dass sie nicht den Völkern … in Erinnerung gebracht … werden sollte“ (VI 361), in einer solchen gegenläufigen Hinsicht wahrgenommen werden. Demzufolge bedarf Kants bekannte „enthusiastische“ Feststellung: „Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergisst sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein
256 Näherhin als das „Bewusstsein einer Gefährdung, von der man weiß, seit man von ihr weiß, seit man weiß, dass es eine Illusion war, zu meinen, der Zivilisationsprozess sei unumkehrbar“ (J. Ph. Reemtsma, Wozu Gedenkstätten? In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 13. Jg., April/Mai 2004, Heft 2, 62). – In der Tat erscheint von daher auch Kants Hinweis auf die „schreienden Beispiele“ in einem seltsamen Licht: Will man, so Kant, Beispiele „aus demjenigen Zustande haben, in welchem manche Philosophen die natürliche Gutartigkeit der menschlichen Natur vorzüglich anzutreffen hofften, nämlich aus dem sogenannten Naturzustande: so darf man nur die Auftritte von ungereizter [!] Grausamkeit in den Mordscenen auf Tofoa, Neuseeland, den Navigatorinseln und die nie aufhörende in den weiten Wüsten des nordwestlichen Amerika … mit jener Hypothese vergleichen, und man hat Laster der Rohigkeit, mehr als nötig ist, um von dieser Meinung abzugehen. Ist man aber für die Meinung gestimmt, dass sich die menschliche Natur im gesitteten Zustand … besser erkennen lasse, so wird man eine lange melancholische Litanei von Anklagen der Menschheit anhören müssen“ (IV 681). 257 Siehe dazu jedoch auch Habermas’ kritische Bedenken gegen „Benjamins antievolutionistische Geschichtskonzeption“ und deren „manichäischen Blick“ (Habermas 1978, 60 f; 76; 86 f ).
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Vermögen in der menschlichen Natur zum Bessern aufgedeckt hat“, gleichermaßen einer im kritischen Gegenlicht vollzogenen Erinnerung daran, wonach „menschliche Freiheit“ auch „das Schrecklichste [sei], was nur sein kann“… Solcherart bestätigt sich die Unverzichtbarkeit einer negativen Akzentuierung jenes „Phänomen(s) in der Menschengeschichte, das sich nicht mehr vergisst“, die so auf die jenem „mikrologischen Blick“ verdankte „intelligible Kraft“ des Er-Innerns sowie auf eine entsprechende Konzeption des „Geschichtszeichens“ (als „signa rememorativa“ und „demonstrativa“) verweist, die „Schuld“ mit „Erinnerung“ verknüpft und überdies das „Schuld noch Übersteigende“, das „das Kollektiv durchherrscht“, auf die „menschliche Gattung“ bezieht – „und es kettet infolgedessen die Generationen aneinander, auch die nachgeborenen Generationen an die einst direkt betroffenen.“258 Auch eine solche „Begebenheit“ ließe in der ihr eigentümlichen „Intelligibilität“ eine „Denkungsart“ – gewissermaßen einen negativen „Enthusiasmus“ der „teilnehmenden Vernunft“ – offenbar werden („in der Erfahrung gegeben“ und doch „nicht von der Erfahrung“ entlehnt)259, die sodann als bzw. in der „Teilnehmung der Trauer nach“, sofern Letztere „auf Ideen beruht“, besondere Gestalt gewinnt und jenem „Geschichtszeichen“ als „signum rememorativum“ auch besonderen Ausdruck verleiht. In diesem Sinne bleibt daran zu erinnern: So wie die zukunftsorientierte politische Praxis in dem moralischen Interesse des Subjekts verwurzelt ist und demgemäß auch an der Frage nach dem möglichen „Fortschreiten des Menschengeschlechts zum Besseren“ an der „Idee der Menschheit“ ihr Maß nimmt, so wäre, im Sinne des gegenläufigen Vernunftinteresses in Ansehung der Geschichte dieses „vernünftigen Weltwesens“, die Orientierung an einer „Hoffnung besserer Zeiten“ (VI 168; s. o. II., 1.1.) nun auch für jene „zu sehr mit dem Interesse der Menschheit“ verwebten „Begebenheiten“ einzufordern, in denen sich die „Verletzung“, „Auslöschung“, „Zernichtung“ – die „Enthumanisierung“ – dieser „Menschheits-Idee“ manifestiert.260 Darin verschafft sich vielmehr jenes wachsame „Interesse der Vernunft“ Gehör, das auch die Rücksicht auf die Weltstellung des „vernünftigen Weltwesens“ als eines rechtlosen, verletzbaren, leidenden Wesens enthalten muss, deren Ausblendung auf den Verlust der Menschheitsidee hinausliefe und die deshalb auch nicht der praktisch-prospektiven Orientierung der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen geopfert werden darf; dies hätte nicht weniger als einen Verrat bzw. eine Preisgabe des „Doppelsinns des Wortes Menschheit, als der Idee des Mensch258 Theunissen 2001, 63. – Auch in solchem Bezug auf das so akzentuierte „Geschichtszeichen“ bleibt Hegels Kennzeichnung der „Erinnerung“ als „Insichgehen“ bedenkenswert und gegenüber einseitigen Inanspruchnahmen geltend zu machen: „… ein Insichgehen, dass wir das, was zunächst in äußerlicher Weise sich zeigt, bestimmt ist als ein Mannigfaltiges, – dass wir dies zu einem Innerlichen machen, zu einem [eben nicht bloß zu historisierenden und damit relativierenden] Allgemeinen dadurch, dass wir in uns selbst gehen, so unser Inneres zum Bewusstsein bringen“ (Hegel 19, 44 f ). 259 Ich übernehme diese Unterscheidung von Lyotard 1988, 55. 260 In diesem radikalisierten Sinn wäre demnach Baumgartners These aufzunehmen: „Der geschichtliche Gegenstand ist ein letztlich an der fundamental-anthropologischen Norm der Menschheit als Selbstzweck orientiertes, immer partikulares und retrospektives, durch eine ursprüngliche narrative Synthesis ermöglichtes Erzählkonstrukt über der in den Dimensionen von Natur und Gesellschaft transzendental konstituierten Lebenswelt“ (Baumgartner 1976, 283).
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
seins und des Inbegriffs aller Menschen“261, der auch Kant nicht verborgen geblieben ist, zur Folge. Jedenfalls in einer solchen Hinsicht hätte er Nietzsches Befund entschieden widersprochen: „Es gibt im Geistigen keine Vernichtung.“262 Auch wenn Kant selbst offenkundig diesbezüglich durchaus naheliegende Problemlinien nicht weiter verfolgt hat, so sind die darin maßgebenden Motive in vielerlei Hinsicht in der Sache mit seinem kritischen Anliegen unzertrennlich verbunden, ja erscheinen weithin geradezu als eine Folgerung – bzw. sogar als Forderung – aus seiner eigenen Konzeption. Demzufolge dürfen diese verdeckten Sinnpotenziale seines Geschichtsdenkens nicht übersehen werden, die eben noch andere geschichtsphilosophische Perspektiven ans Licht befördern und ohne die auch ein umfassender „Weltbegriff der Philosophie“ (und die darin vorrangig zu explizierenden „wesentlichen Zwecke“) nicht zureichend bestimmt werden kann. Eine hinreichende Explikation der diesem „Weltbegriff der Philosophie“ entsprechenden Frage „Was ist der Mensch?“ muss gerade auch in einem geschichtsphilosophischen Kontext verdeutlichen, wie mit der „Extensivierung“ der „Menschheits“-Idee in eigentümlicher Weise deren „Intensivierung“ („Verinwendigung“, „Individualisierung“ der „Idee des Menschen“) korreliert – durchaus auch im Blick auf die Hegel’sche Wendung vom „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, die sich auf beides bezieht. Jene Korrelation kommt auch in jener kantischen Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ zum Ausdruck und hat sodann in der Differenzierung der Idee des „höchsten (politischen) Gutes“ eine direkte Entsprechung, die wiederum eine Entfaltung unterschiedlicher Perspektiven der Hoffnungsfrage – des „Hoffen-Sollens“ und des „Hoffen-Dürfens“ – verlangt. Das folgende Kapitel soll einige diesbezügliche Aspekte sichtbar machen, die auf geschichtsphilosophischem Boden nicht ausgeblendet werden dürfen und in der Folge selbst als unverzichtbares Verbindungsglied zwischen geschichts- und religionsphilosophischen Perspektiven fungieren.
261 Dass dieser Begriff der „Menschheit“ bei Kant (wie Adorno hier anmerkt: 1966, 255) einen „Doppelsinn“ enthält, findet gerade auch hier eine Bestätigung; geht es ihm darin doch nicht lediglich („extensiv“) um den „Inbegriff aller Menschen“, sondern um die spezifische „Intensität“ als die besondere „Tiefendimension“, die dieser „Idee der Menschheit“ (etwa als normatives „Urbild seiner Handlungen“: II 325) innewohnt. – Auch hinsichtlich dieses Verweises auf das „Unrecht, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird“, sowie im Blick auf die „Geschichte der Menschheit im Ganzen ihrer Bestimmung“ ist Adornos Hinweis auf diesen „Doppelsinn des Wortes Menschheit“ aufzunehmen; dass Kant, so Adorno, „die Idee der Menschheit weder an die bestehende Gesellschaft zedieren noch zum Phantasma verflüchtigen“ möchte (Adorno 1966, 256), erweist sich so als besonders bedeutsam. 262 Nietzsche 1980 12, 312. – Das haben viele, die sich im 20. Jahrhundert auf Nietzsche beriefen, zweifellos viel besser gewusst. In diesem engeren Kontext weckt Kants Reflexion 1439 (AA XV 629) wohl besondere Assoziationen: „Im Weltganzen hinterlässt ein Monarch keine Spur, wenn er nicht zu dem System desselben etwas beigetragen hat; oder gar ist seine Spur ein verhasstes Überbleibsel, jenen Fortschritt zum System aufzuhalten“.
4. Eine geschichtsphilosophische Einbindung der kantischen Idee der „Naturgeschichte“ und die darin maßgebende Frage Kants: „Was will [und soll!] man hier wissen?“
Die nachfolgenden Überlegungen nehmen die kantischen Reflexionen „über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ auf und verknüpfen diese mit einer geschichtsphilosophisch gewendeten bzw. akzentuierten Idee der „moralischen Teleologie“. Dabei soll gerade auch für diesen geschichtsphilosophischen Kontext der kantische Gedanke in einer analogen Hinsicht und in Orientierung an „praktischen Vernunftprinzipien“ als fruchtbar ausgewiesen werden, dass die Vernunft nicht „ohne Not [!]… von zwei Prinzipien ausgehen“ wird, „wenn sie mit einem auslangen kann“ (V 146). Eben aus einer solchen Einsicht gewinnt die Idee der „Naturgeschichte“ ihren kritischen geschichtsphilosophischen Anspruch, weil das darin maßgebende besondere Interesse nicht nivelliert bzw. einem anderen Interesse subsumiert werden darf. Solche „Not“ ist freilich nicht in einem logischen Bedürfnis verankert, sondern wird durch eine andere „Vernehmbarkeit“ der Geschichte selbst dazu geradewegs „genötigt“,263 die sich damit keineswegs dem Verdacht eines geschichtsphilosophischen „Terrorismus“ der besonderen Art aussetzt. Überdies wird sich zeigen: Wenn es denn so ist, dass die „Moral … mit der Erkenntnis der Menschheit verbunden werden“ muss (s. o. II., 2.1.2.), dann kommt dabei, gerade in Abwehr einer Verkürzung der Menschheitsidee, der Idee der „Naturgeschichte“ eine besondere Aufgabe zu.
4.1. Die geschichtsphilosophisch transformierte Idee einer „Naturgeschichte“ im Spiegel jener „einander widerstreitenden Ansprüche der Vernunft“. Ein „archäologisches“ Interesse von besonderer Art Der im letzten Kapitel unternommene Versuch, latente gegenläufige geschichtsphilosophische Aspekte in Kants Geschichtsdenken zu erkunden, findet nun in seiner beiläufigen Unterscheidung zwischen „Naturbeschreibung und Naturgeschichte“ eine aufschlussreiche Bestätigung, die freilich zugleich eine geschichtsphilosophische Adaptierung derselben erfordert. Darin spiegelt sich bemerkenswerterweise jenes gegenläufige geschichtsphilosophische Vernunftinteresse in einer besonderen Akzentuierung wider: „Na263 Insofern artikuliert das daraus gespeiste kritische naturgeschichtliche Motiv genau ein Gegengewicht zu jener Sichtweise von E. Troeltsch, wonach in einer Geschichtsphilosophie die Geschichte „als Ganzes auf ihre Angemessenheit zu dem in der praktischen Vernunft offenbaren sittlichen Endzweck beurteilt“ wird (Troeltsch 1904, 54).
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
turbeschreibung“ zielt bloß auf „die Kenntnis der Naturdinge“ ab, „wie sie jetzt sind“, nimmt also stets am fertigen Produkt der Natur und somit an der (an naturale zeitliche Kontinuitäten gebundenen) Erfahrung des vorhandenen Erscheinungsbildes ihr Maß und führt so, in „rubrizierender“ Absicht, lediglich auf ein „Schulsystem für das Gedächtnis“; indes lässt dies „immer noch die Erkenntnis von demjenigen wünschen“, „was sie [die Naturdinge] ehedem gewesen sind, und durch welche Reihe von Veränderungen sie durchgegangen, um an jedem Orte in ihren gegenwärtigen Zustand zu gelangen“ (VI 18, Anm.).264 Davon sei jedoch das spezifische Interesse einer (im engeren Sinne so zu nennenden) „Naturgeschichte“265 abzugrenzen, deren aufklärungs-orientierte Perspektive einer „Gedächtniskultur“ von ganz anderer Art verpflichtet ist und so erst zu einer kritischen Spurensuche anzuregen vermag, d. h. das Interesse für das darin schon (bzw. noch) Verdeckte, für das Verlorene, Entschwundene weckt.266 Näherhin legt es auf einem gleichsam im Rückwärtsgang gebahnten Weg erst das in jenen Widerfahrnissen „Erlittene“ und doch stumm-„spurenlos“ Gebliebene frei und weiß sich in einem solchen besonderen „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ demjenigen verpflichtet, das, an praktisch-politischen Maßstäben orientiert, leben und auch Gestalt gewinnen wollte.267 Kants Bestimmung der 264 Vgl. dazu die im Sinne einer geschichtsphilosophischen Lesart zu modifizierende Auskunft Kants (V 142): „Allein nur den Zusammenhang gewisser jetziger Beschaffenheiten der Naturdinge mit ihren Ursachen in der ältern Zeit nach Wirkungsgesetzen, die wir nicht erdichten, sondern aus den Kräften der Natur, wie sie sich uns jetzt darbietet, ableiten, nur bloß so weit zurück verfolgen, als es die Analogie erlaubt, das wäre Naturgeschichte …“. „Ich würde für die Naturbeschreibung das Wort Physiographie, für die Naturgeschichte aber Physiogonie in Vorschlag bringen“ (V 144, Anm.). Ein solcher naturgeschichtlicher Rekurs impliziert freilich jene teleologische Vorstellung: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“ (VI 35). Eine derartige geschichtsphilosophische Rezeption der naturgeschichtlichen Perspektive wäre deshalb offenbar nicht so sehr an dem Grundsatz orientiert: „Etwas verstehen heißt verstehen, wie es geworden ist“, sondern eher wohl an einem „Verstehen“, wie bzw. warum etwas nicht geworden ist – und zwar an Maßstäben der Ungerechtigkeit bzw. des Unrechts orientiert. Der von Kant (nicht zuletzt in der Erörterung des Gebrauchs „teleologischer Prinzipien“: vgl. V 139 ff ) weiter gefasste Begriff der „Naturgeschichte“ wird in diesem geschichtsphilosophischen Kontext freilich in einem engeren Sinne bestimmt (s. u. II., Anm. 273 – 278). 265 Schweppenhäuser hat auf das kantische Motiv der „Naturgeschichte“ im Kontext der Benjamin’schen „Nötigung, die Geschichte philosophisch zu denken“, ausdrücklich hingewiesen (vgl. Schweppenhäuser 1975, 10 f ). Zu der nachfolgend angezeigten geschichtsphilosophischen Verknüpfung der kantischen Idee der „Naturgeschichte“ mit Motiven Benjamins vgl. auch Schweppenhäusers aufschlussreiche Ausführungen „Über die praktische Nötigung, die Geschichte philosophisch zu denken“, auf die im Folgenden wiederholt Bezug genommen wird (1993, bes. 98 ff ). Es wird sich zeigen, dass eine dieses Motiv der „Naturgeschichte“ integrierende kritische Geschichtstheorie sich noch nicht damit begnügen wird, eine „Deutung vergangener (durch Geschichtsforschung bereits gesicherter) Zustände, Geschehnisse und Handlungen am Leitfaden praktischer (durch Philosophie bereits gerechtfertigter) Absichten“ zu leisten (Riedel 1989a, 129). 266 Gerade für dieses „naturgeschichtliche“ Motiv und die darin bestimmende Erfahrung bestätigt sich: Auch Kant wusste darum, dass „Sich-Erinnern“ nicht nur bedeutet, „ein Bild des Vergangenen aufzeichnen, zu empfangen, sondern auch, es zu suchen, etwas zu tun“ (Ricoeur 2004, 94). Dieses Motiv insistiert so aber auch auf der Differenz zwischen dem „Gewesenen und dem, was hätte werden können“ (Liebsch 2001, 30), und zeigt so, wie eng dieses geschichtsphilosophisch situierte Motiv der „Naturgeschichte“ mit der geschichtsphilosophisch akzentuierten Kategorie der Trauer verbunden ist, denn: „Die Seele der moralischen Trauer ist … der Protest – im Zeichen der niemals ganz zu tilgenden Differenz zwischen dem Gewesenen und dem, was hätte anders werden können oder nicht hätte geschehen dürfen“ (Liebsch 2001, 52). 267 Es wird sich noch zeigen: Dies enthält die Hoffnung des „moralischen Zeugen“, „dass es an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit eine moralische Gemeinschaft geben wird, die seinem Zeugnis ihr
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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„eigentliche(n) Naturgeschichte“268 bleibt also in dieser nunmehrigen geschichtsphilosophischen Gestalt aufzunehmen und gewinnt in einer solchen Situierung einen eminent kritischen Sinn, der so auch erst seiner denkwürdigen Forderung genügt: „Wahre Philosophie aber ist es, die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit einer Sache durch alle Zeiten zu verfolgen. […] Ginge man demnach den Zustand der Natur in der Art durch, da man bemerkte, welche Veränderungen sie durch alle Zeiten erlitten [!] habe: so würde dieses Verfahren eine eigentliche Naturgeschichte geben.“269 Dass die Vernunft es erst am Leitfaden ihrer „praktischen Ideen“ erlaubt und gleichermaßen dazu nötigt, „Erfahrungen zu machen“, muss sich für diese naturgeschichtliche Perspektive als besonders bedeutsam erweisen. Jener berühmte kantische Grundsatz, wonach die „Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“ (II 23), verweist, in das Gebiet praktischer Vernunftansprüche transferiert, nunmehr auf ein besonderes Vernunftinteresse, d. i. auf „ein Prinzip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung“ des „Vernunftvermögens“ „befördert wird“ (IV 249), und führt dergestalt vor allem auch seine geschichtstheoretische Relevanz vor Augen. Angesichts der von Subjekten „gemachten Erfahrungen“ gilt es, gemäß diesem kritischen geschichtsphilosophischen Motiv der „Naturgeschichte“ entsprechende Erfahrungen anzustellen. Kants Hinweis: „(D)enn Erfahrung methodisch anstellen heißt allein beobachten“ (V 141), gewinnt gerade in diesem „naturgeschichtlichen“ Kontext eine besondere – nun geschichtsphiloOhr leiht“ (Margalit 2000, 65). Das kantische Motiv, dass „ohne den Menschen“ die „ganze Schöpfung eine bloße Wüste“ (V 567) wäre, weil ohne ihn „von keinem Soll in der Welt die Rede ist“ (vgl. dazu u. III., 4.2.1.), wäre mit diesem Motiv der „Naturgeschichte“ so zu verbinden, dass Letzteres an der Diskrepanz zwischen dem, was „geschehen ist“, und dem, „was hätte geschehen können, bzw. dem, was nicht geschehen ist“, festhält. 268 So in Kants „Physische(r) Geographie“: AA IX, 162. Von der mit dieser Idee einer „Naturgeschichte“ verbundenen kritischen Intention bleibt freilich eine andere Perspektive einer „Naturgeschichte des Menschen (ob etwa künftig neue Rassen derselben entstehen möchten)“ (VI 351) zu unterscheiden; sie setzt aber auch gegenüber der von Kant mit der Frage „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?“ intendierten „Sittengeschichte“ (ebd.) einen ganz anderen Akzent. Dass der in Kants Geschichtsphilosophie ausgebildete „Leitfaden“ sich als vernunft-geleitetes Korrektiv gegenüber dem penetranten Anschein des „widersinnigen Gange menschlicher Dinge“ und des bedrohlichen bzw. lähmenden „trostlosen Ungefähr“ einer „zwecklos spielenden Natur“ (VI 35) versteht, berührt in keiner Weise die Berechtigung und Unverzichtbarkeit dieser hier maßgebenden gegenläufigen „naturgeschichtlichen“ Perspektive. 269 AA IX, 162. – Kants Kennzeichnung der Idee der „Naturgeschichte“: „Die Naturgeschichte … würde uns die Veränderungen der Erdgestalt, ingleichen die der Erdgeschöpfe (Pflanzen und Tiere), die sie durch natürliche Wanderungen erlitten [!] haben, … lehren“ (VI 18, Anm.), wäre so eben im engeren Sinne jener angezeigten gegenläufigen Perspektive für eine kritische Geschichtsphilosophie fruchtbar zu machen. Auf diese Weise wäre auch jener von Riedel bei Kant zwar zu Recht festgestellte „Schnitt“ „zwischen Natur- und Freiheitsgeschichte“ einzuholen, besser vielleicht: „innerhalb“ der geschichtsphilosophischen Perspektive selbst zu verorten, zumal die „Menschengeschichte“ doch „zugleich“ als „Natur- und Freiheitsgeschichte“ zu verstehen sein soll: „Die Naturgeschichte des Menschen ist an der Menschengattung als einem Produkt der Natur orientiert; sie muss notwendig retrospektiv verfahren. Davon unterscheidet sich die Menschengeschichte, die sich am ‚Zweck der Freiheit‘ orientiert, – an jenem apriorischen Vernunftzweck des höchsten Gutes als einer vom Menschen selbst entworfenen Idee, die zu realisieren ihm aufgegeben ist; sie verfährt retrospektiv und prospektiv zugleich“ (Riedel 1989b, 162; s. auch ders. 1984). Gerade darin spiegelt sich jenes doppelte „Vernunftinteresse“ auf geschichtsphilosophischem Boden wider.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
sophisch gewendete – Bedeutung. Ebenso erweist sich der geforderte Rekurs auf ein festzusetzendes „Prinzip“, von welchem sich der Forscher „im Suchen und Beobachten solle leiten lassen“ (V 141), für diese kritische Konzeption der „Naturgeschichte“ als grundlegend. Die geschichtsphilosophisch „übersetzte“ Perspektive der „Naturgeschichte“ wäre so, dem Feld der „Naturforschung“ analog, die auf diesem Terrain korrespondierende „sehr verschiedene Denkungsart“, in der auch hier jenes „doppelte einander widerstreitende Interesse“ zutage tritt. Im Sinne eines solchen gegenläufigen Interesses und dessen Erfahrungsbegriffs, der jenem „mikrologischen Blick“ doch erst die notwendige Tiefenschärfe verleiht, hätte sich diese „Denkungsart“ in ihrem – erst „ent-deckenden“ – „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ an dem „Erlittenen“ zu orientieren, d. h. sich gegenüber jener „Betrachtung im Großen und Ganzen“ zur Geltung zu bringen, die Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ einleitet: „Die Geschichte, welche sich mit der Erzählung dieser Erscheinungen [d. i. der „menschlichen Handlungen“ als „Erscheinungen“ der „Freiheit des Willens“] desselben beschäftigt, so tief auch deren Ursachen verborgen sein mögen, lässt dennoch von sich hoffen: dass, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im großen betrachtet, sie einen regelmäßigen Gang derselben entdecken [!] könne; und dass auf die Art, was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können“ (VI 33). Wenn sich in der Tat „Kants Geschichtsphilosophie nicht als philosophischer Ersatz der Geschichtsschreibung, sondern primär als deren Kritik, … als Kritik der historischen Unvernunft“ versteht und somit als der „methodische Versuch, Vernunft in die Geschichtsschreibung zu bringen“270, so kommt dabei dem geschichtsphilosophisch fruchtbar gemachten Motiv der „Naturgeschichte“271 eine unverzichtbare Aufgabe zu. In ihrer maßgebenden Orientierung an solchem Gewordensein und dem darin Entschwundenen nimmt solch eine gegenläufige Idee der „Naturgeschichte“ in der schon angezeigten Weise (in Einbeziehung jener anthropologischen Kategorien) gerade daran Interesse, was „vernünftigem Begreifen“ dabei verborgen bleibt bzw. sich diesem nicht fügt. Sie muss mithin gerade erst recht wachsam bleiben gegenüber einer als „Generalerkenntnis“ auftretenden „Anthropologie“ und deren Ordnungsbegriffen und „Leitfäden“, die freilich auf ihrem Anspruch insistieren, dass ohne sie „alles erworbene Erkenntnis nichts als 270 Riedel 1974, 18 f. Eine umfassende sowie „empiriologische Intention“ verfolgende Geschichtsphilosophie (als eine solche versteht W. Flach [Flach 2005, 169] Kants Konzeption) kann auch von diesen Perspektiven nicht absehen. 271 Eine mögliche Verknüpfung des im Kontext der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ verorteten Motivs der „Naturgeschichte“ mit der frühen Schrift „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels …“ ist hier nicht zu verfolgen. Dass in dem in dieser frühen „Allgemeinen Naturgeschichte …“ unternommenen „Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes …“ die Grundkräfte der „Anziehungs- und Zurückstoßungskraft“ eine entscheidende Rolle spielen, die wiederum, in verwandelter Form, in dem geschichtsphilosophischen Verweis auf den in der „Anlage der menschlichen Natur“ verwurzelten „Antagonism“ der „ungeselligen Geselligkeit“ (vgl. den vierten und fünften Satz der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“) wiederzufinden ist, ist nicht zu übersehen.
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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fragmentarisches Herumtappen und keine Wissenschaft abgeben kann“ (VI 400; V 141). Ebendies lädt einer solchen Sichtweise zufolge dazu ein, dieses geschichtsphilosophisch transformierte Naturgeschichts-Motiv in kritischer Absicht als eine „negative Vernunft idee“ zu konzipieren, die sich nicht mit jener maßgebenden Geschichtsdeutung „nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müsste, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte“ (VI 48), schon begnügen will, ohne indes deren Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit damit prinzipiell in Frage zu stellen. Der aufschlussreiche kantische Hinweis, wonach „Naturgeschichte“ auch als „Erzählung von Naturbegebenheiten, wohin keine menschliche Vernunft reicht“, ausgewiesen werden kann, erhält, in diesen geschichtsphilosophischen Kontext übersetzt, einen besonders kritischen Akzent. Wenn jene „naturgeschichtliche“ Aufmerksamkeit sich vornehmlich auf die unbeleuchteten Stellen sowie auf die Prüfung der maßgeblichen Lichtquellen richtet, so betrifft das darin leitende Interesse – das eben nicht beschränkt auf den „Zustand der Natur in der jetzigen Zeit“ (V 142) bleibt – gleichermaßen die in ihrer physischen Existenz sowie „ihrem Namen nach“ Ausgelöschten, Vernichteten, d. h. für „nichtig“ Erklärten. Dieses geschichtsphilosophisch akzentuierte Motiv der „Naturgeschichte“ formuliert so wohl einen unentbehrlichen Aspekt einer „Kritik der Vernunft“ (gen. subjektivus und objektivus), ohne den Letztere sich schon deshalb nicht selbst zu erhalten vermag, weil die von ihr selbst entworfenen anderen „Leitfäden apriori“ in „Abstraktion“ von (bzw. Ignoranz gegenüber) jenem „naturgeschichtlichen“ Motiv sich unversehens in bloße „Idole der Gattung“ verkehren müssten. Mag sich also das Interesse der „späten Nachkommen“ auch an jener „weltbürgerlichen“ Perspektive orientieren, was „Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht … geschadet haben“ (VI 50) und solcherart eine zwar erweiterte geschichtsphilosophische „Denkungsart“ indizieren, so führt doch erst dieses Motiv der „Naturgeschichte“ auf jenen „Gesichtspunkt“ der „Menschengeschichte“, der die Engführung einer einäugig fixierten „weltbürgerlichen Absicht“ zu überwinden vermag. Sie bringt demgegenüber eine „revolutionierte Denkungsart“ geschichtsphilosophisch zur Geltung, die auch jener „gegenläufigen“ Perspektive der „Subjekte der Geschichte“ in buchstäblichem Sinne in einer geschichtsphilosophischen Hinsicht „gerecht“ werden will. Hier – und auch nur so – werden nicht eigentlich gemachte, sondern eher erlittene „Widerfahrnisse“ von „Subjekten“ allererst zur Sprache gebracht, deren abgründiger Negativitäts-Charakter an die „Idee der Menschheit“ selbst rührt und sich deshalb auch nicht in der Irritation über das, „was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt“ (VI 33), erschöpft. Es soll sich zeigen: In diesem Motiv der „Naturgeschichte“ spiegelt sich gewissermaßen ein „Bathos der Erfahrung“, das nicht nur für eine kritische Geschichtsphilosophie fruchtbar zu machen ist, sondern das sich für eine solche vielmehr als ganz und gar unverzichtbar erweist. Indes, wäre das in den „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ leitende Interesse der „späten Nachkommen“ der einzig maßgebende „Gesichtspunkt“ des vernünftigen Umgangs mit der „Last von Geschichte“, so wäre auch gar nicht zu sehen, wie jenes schon benannte kantische „Befremden“ über das Los der „älteren Generationen“, welche „nur … um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben“
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
scheinen (VI 37), dabei noch angemessen Interesse und Aufmerksamkeit finden sollte.272 Um jenes für die umfassende Naturforschung konstitutive „widerstreitende Vernunftinteresse“ auch auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie in analoger Weise fruchtbar zu machen bzw. auszudehnen, bleibt vor diesem Hintergrund, an Gesagtes anknüpfend, doch zu fragen: Ist denn diese Gedankenfigur in diesem geschichtsphilosophischen Zusammenhang nicht in dem analogen Sinne in kritischer Absicht zur Geltung zu bringen, dass ohne diese naturgeschichtliche Vernunftperspektive und ihr spezifisches „Interesse“ auch die Möglichkeit eines vollständigen „Gebrauchs der Menschenvernunft“ nicht zu denken wäre? Dass die „Vernunft“ es sich an sich selbst gelegen sein lässt (IV 249), müsste damit eine besonders kritische Bedeutung gewinnen, weil andernfalls eine lediglich subtilere einäugig-dogmatistische Spielart eines blinden „Egoismus“ das letzte Wort behielte, „sich … als die ganze Welt in seinem Selbst befassend … zu betrachten“ (VI 411). Gegenüber dem die Idee der „Weltgeschichte“ leitenden prospektiven „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ und dem darin maßgebenden Interesse daran, „was der Mensch … aus sich selber machen kann und machen soll“, wäre mit einer solchen naturgeschichtlichen Perspektive demzufolge ein Akzent gesetzt, der aus den angeführten Gründen keinesfalls durch den Interessenhorizont jener „späten Nachkommen“ absorbiert werden darf. Ohnedies bliebe auch jene darin implizierte – aufklärungsverpflichtete – geschichtsphilosophische Forderung uneingelöst, „unseren Horizont über die Privatbestimmung zur Absicht der species [zu] erweitern“, der auch die in „weltgeschichtlicher Perspektive“ maßgebende Idee: „Die Geschichte der Staaten muss so geschrieben werden, dass man sieht, was die Welt von einer Regierung vor Nutzen gehabt hat“,273 für sich genommen keineswegs genügt; ist es doch deren drohende Einäugigkeit (und dadurch bedingte Einseitigkeit), wogegen sich auf geschichtsphilosophischem Boden diese Idee der „Naturgeschichte“ als widerständiges Potenzial artikuliert. Dieses einer kritischen Geschichtsphilosophie immanente Motiv der „Naturgeschichte“ bringt demnach erneut und in besonderer Akzentuierung die Maximen des „Selbstdenkens“, des „Jederzeit-mit-sichselbst-einstimmig-Denkens“ und somit auch das „An-der-Stelle-jedes-andern-Denken“ zur Geltung und vermag nur so die „vorurteilsfreie“, die „erweiterte“ und die „konsequente Denkungsart“ auch auf geschichtsphilosophischem Terrain einzulösen.
272 Vornehmlich im Blick auf das kritische Motiv der „Naturgeschichte“ wäre deshalb Kants Bemerkung zu modifizieren bzw. programmatisch zu ergänzen: „Alle diejenigen Wissenschaften, welche ein ausgebreitetes, historisches und richtiges Erkenntnis voraussetzen, werden in neueren Zeiten immer vollkommener, denn es ist bekannt, dass die neueren Gelehrten sich mehr und mehr bemühen, die historischen Erkenntnisse zu erweitern“ (AA XXIV, 184). 273 Refl. 1438, AA XV, 628. Eben diese „Welt“-Perspektive (und ihre narrative Fundierung) wird sich durch eine umfassende Orientierung an der „Idee der Menschheit“ bzw. an der „allgemeinen Menschenvernunft“ als korrekturbedürftig erweisen. – Es ist interessant, dass Kant (gegenüber dieser Reflexion aus den 70er-Jahren) in der Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte …“ diese Perspektive erweitert hat, sofern darin nun auch einbezogen ist, was „Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben“ (VI 50); indes weist die hier vorgeschlagene Erweiterung – d. h. die geschichtsphilosophische Einbindung dieser angezeigten „naturgeschichtlichen Momente“ – bzw. gegenläufige Perspektive auch darüber noch einmal hinaus.
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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In diesem Motiv der „Naturgeschichte“ verdichtet sich also gewissermaßen die Einsicht, dass die an den späten Nachkommen orientierte Blickrichtung, „was sie interessiert“, in einem solchen – nicht zuletzt als Gespräch und Konfrontation zwischen den Generationen gedachten – Verständnis der Geschichte keineswegs als die einzig maßgebende behauptet, d. h. legitimiert werden kann. Nicht zuletzt dies betrifft jene „grenzbegriffliche“ Einsicht Benjamins „Über den Begriff der Geschichte“, die auch seinem schon erwähnten Motiv einer „geheime(n) Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem“ zugrunde liegt. Wohl auch in diesem genauen Sinne wäre, in entsprechend modifizierter Weise, der in einem ästhetischen Kontext stehende beiläufige Rekurs Kants auf einen aus „moralischem Interesse“ gespeisten „gleichsam … ursprünglichen Vertrage“ aufzunehmen, „der durch die Menschheit selbst diktiert ist“ (V 394) und sich in dieser „naturgeschichtlichen Perspektive“ widerspiegelt. Diese selbst dem differenzierten „Weltbegriff der Philosophie“ zugehörige naturgeschichtliche Perspektive ist wesentlich durch das Motiv eines „Denken(s) mit den Opfern“ inspiriert und bringt dies nunmehr auch in solcher Zuschärfung zur Geltung274; sie zeigt gewissermaßen eine der „praktischen Vernunft“ eingeschriebene „Verbundenheit“ an, ohne welche auch die in ihr verankerte „Idee der Menschheit“ preisgegeben wäre. Das sich darin manifestierende eigentümliche „Interesse der Vernunft“ vereint so die zukunftsorientierte Ausrichtung an der „Bestimmung seiner Gattung, die in nichts als im Fortschreiten zur Vollkommenheit besteht“ (VI 92), mit jenem „Bedenken“ Kants, dem zufolge jene vorherrschende „einäugige“ Orientierung am „Fortschritt der Gattung“ die „Geschichte der Menschen“ überlagert bzw. absorbiert. Dem von Kant geforderten „höhere(n) Standpunkt der anthropologischen Beobachtung“, um „den Menschen, und was aus ihm gemacht werden kann“ (VI 235), tritt so ein komplementärer Standpunkt gegenüber, der eben an dieser Frage jedoch in einer ganz anderen Hinsicht ein unbeirrbares Interesse nimmt. Dass die an einer teleologischen Perspektive methodisch orientierte bzw. Interesse nehmende Naturforschung bzw. der darauf gestützte, „das Studium der Natur“ belebende Rekurs allererst Perspektiven eröffnet, „wo sie unsere Beobachtung nicht von selbst entdeckt hätte“ (II 550 f ), wäre somit dahingehend zu modifizieren: So wie jenes „Studium der Natur“ erst durch die maßgebende Vernunftperspektive „belebt“ wird, so erhält in dieser geschichtsphilosophisch situierten naturgeschichtlichen Perspektive gleichermaßen das Studium der Geschichte eine gegenläufige Sensibilisierung eben für jene Zusammenhänge, „wo sie unsere Beobachtung nicht von selbst entdeckt hätte“; dabei bleibt freilich jener Sachverhalt zu beachten, dass in Absehung davon auch die „Idee der Menschheit“ im Grunde preisgegeben wäre. Ohne diese naturgeschichtlich inspirierten „Unterbrechungen“ könnte menschliche Vernunft gerade nicht „zur völligen Befriedigung“ gelangen, was freilich, analog zur Erfahrung des „Naturschönen“, einen moralischen Standpunkt schon vo274 In diesem Sinne wäre das in einen geschichtsphilosophischen Kontext transferierte Motiv der „Naturgeschichte“ auch davon geleitet, das von Henrich (im Verweis auf die Gräuel des Nationalsozialismus) benannte „Denken mit den Opfern“ fruchtbar zu machen; solche Absicht durchbricht eine lediglich zukunftsgerichtete Perspektive und überwindet ebenso eine – subtile „cyklopische“ – Funktionalisierung der Erinnerung an die Opfer als „Mahnung zum Frieden“ (s. u. II., Anm. 315); dies ist schon in Kants geschichtsphilosophisch akzentuiertem Motiv einer „teilnehmenden Vernunft“ enthalten.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
raussetzt. Mehr noch: Jener aufklärungs-verpflichtete Grundsatz, „seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen anzusehen“ (s. o. II., 3.), bleibt doch nur dann auch über sich selbst aufgeklärt und genügt nur so einem „Interesse der Menschheit“,275 wenn er sich durch den Stachel all jener verstummten bzw. ungehört gebliebenen Stimmen irritieren lässt, die selbst einen solchen „Gesichtspunkt“ in Wahrheit doch niemals hatten bzw. nicht haben konnten. Dem „naturgeschichtlich“ inspirierten Interesse und dem daraus geschärften „mikrologischen Blick“ wird sonach, in seiner Skepsis gegenüber aller selbstvergessenen „intentio recta“, vorrangig daran gelegen sein, den zur „Lesbarkeit der Geschichte“ verfestigten „Aggregatzustand“ wieder zu verflüssigen bzw. zu unterbrechen; dieser Absicht folgend muss es darauf insistieren, auch den Blick „wenigstens im Kleinen“ zu riskieren, ohne den die Orientierung an der Idee eines geschichtsphilosophischen Systems und die daran geknüpfte Erwartung, „mit Grund hoffen“ (VI 49) zu können, unweigerlich auf eine – eben einäugige – Halbierung der Geschichte hinauslaufen müssten.276 Die auf das Feld der Geschichtsphilosophie transferierte Idee der „Naturgeschichte“ fungiert so als kritische Gegeninstanz gegenüber einem allzu dominanten einseitigen Interesse am „Systematischen der Erkenntnis“ und der Bereitschaft, das ihm Widerstrebende, nicht zu integrierende Fremde zu opfern. Die „objektive Gültigkeit“ dieser Idee der „Naturgeschichte“ bemisst sich geradezu daran, wie weit sie (bzw. ihre „heuristische“ Intention) diese Aufgabe einzulösen vermag, d. h. in einer solchen kritischen Absicht den Forschungsmaximen Anleitung gibt und, dem „Weltbegriff der Philosophie“ gemäß, diese Erkenntnisse auf die „wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)“ (II 700) bezieht. Dergestalt wäre also diese kritische Idee der „Naturgeschichte“ unauflöslich mit der praktischen Vernunftidee der „Menschheit“ und der „moralisch“ verankerten Kategorie des „Eingedenkens“ verbunden. Ebenso klingt in diesem geschichtsphilosophisch situierten Motiv der „Naturgeschichte“ ein besonderer Aspekt jener anthropologischen Fragestellung in gattungsgeschichtlicher Perspektive nach, „was der Mensch … aus sich selber macht“ – jedenfalls weist die darin leitende Intention auch über jenes „Befremden“ Kants noch hinaus. Die so akzentuierte „naturgeschichtliche“ Perspektive bringt die Frage „Was soll man hier wissen?“ auf eine Weise zur Geltung, die eine Orientierung an der Frage „Was will man 275 Erst recht bleibt in dieser naturgeschichtlichen Perspektive – obgleich in einer negativen Akzentuierung – jener Doppelsinn der „Idee Menschheit“ – die eine Menschheit in der Vielfalt ihrer Ausprägungen und ihr „normativer“ Sinngehalt – bestimmend. – Es ist dieses Motiv der „Naturgeschichte“, das jene von Kant benannte „Bedenklichkeit …: wie es unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen möchten, zu fassen“ (VI 50), noch einmal in ein besonderes Licht rückt. 276 Das geschichtsphilosophisch gewendete Motiv der „Naturgeschichte“ könnte in diesem erweiterten Kontext kantischen Geschichtsdenkens auch den Motiven Benjamins in gebührender Weise Rechnung tragen; dennoch wäre eine solcherart erweiterte Konzeption, die eine „Einäugigkeit“ vermeidet, nicht dem gewiss plausiblen – an die Adresse Benjamins gerichteten – Bedenken Habermas’ ausgesetzt: „In der Melancholie der Erinnerung an das Versagte und in der Beschwörung der verlöschenden Momente des Glücks droht der historische Sinn für die profanen Fortschritte zu verkümmern. Wohl erzeugen diese Fortschritte ihre Regressionen, aber an diesen setzt ja das politische Handeln ein. […] Ich meine freilich, dass ein differenzierter Begriff des Fortschritts eine Perspektive schafft, die nicht einfach den Mut hemmt, sondern das politische Handeln treffsicherer machen kann“ (Habermas 1978, 87 f ).
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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hier wissen?“ „unterbricht“, sofern Letztere daran lediglich ein „weltbürgerliches“ Interesse nimmt; dieses war vornehmlich von einer zukunfts-gerichteten, das politische Engagement orientierenden und auch ermutigenden Einstellung geleitet, das die politischen Akteure und „Weltbürger“ in der Zuversicht bestärkt, das heißt auch dazu ermutigt, dass „ein Fortschritt zum Besseren“ möglich ist. Demgegenüber schärft jene „naturgeschichtliche“ Perspektive gemäß jener gesteigerten „Aufmerksamkeit“ auch den Blick für die dem Rekurs auf die „Subjekte der Geschichte“ innewohnende Zweideutigkeit und rückt demgemäß eine opfer-zentrierte Perspektive ins Blickfeld, die das leitende Interesse dieser Frage: „Was will man hier wissen?“, entscheidend erweitert und so auch vor Engführungen bewahrt.277 Wiederum ist es jenes der kritischen Philosophie eingesetzte „zweite Auge“, das demgegenüber noch andere Interessen und Hin-Sichten als diejenige „in weltbürgerlicher Absicht“ fordert bzw. diese eröffnet. Anders könnte von einem „Interesse der Menschheit“ bzw. von einer Orientierung an der „Idee der Menschheit“ auch nicht die Rede sein, vielmehr würde bloß Zukünftiges über das Vergangene triumphieren und mithin auch auf diesem Feld der Geschichte die Losung „faktisch Recht behalten“: Auch in der Geschichte „ist alles; es ist von keinem Soll in ihr die Rede“ (VI 341). Paradoxerweise wäre es gerade dieses „innerhalb“ der Geschichte geltend gemachte „naturgeschichtliche Motiv“,278 das gegen drohende Indifferenz darauf insistiert, dass „Geschichte und Gleichgültigkeit“ sich nicht vertragen, weil andernfalls ein Rückfall
277 Diese „opfer-zentrierte“ Wendung und die daraus gewonnene Perspektive tun demnach den leitenden Motiven der kantischen Ethikotheologie keinesfalls Gewalt an, sondern explizieren lediglich besondere ihr innewohnende Potenziale. Im Blick auf die Vernunftidee der „Menschheit“ wäre ein berühmter Passus Kants dahingehend abzuwandeln, dass es „umsonst“ sei, „Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein“ darf (vgl. II, 12). Hier sei lediglich im Vorblick auf die Thematik der „authetischen Theodizee“ die Vermutung geäußert, ob der dort vorgenommene erweiterte teleologische Rekurs auf das „schlechthin Zweckwidrige in der Erfahrung“, das der ethikotheologischen Perspektive hinzugefügt wird, eine geschichtsphilosophische Entsprechung in dieser gegenläufigen Perspektive der „Naturgeschichte“ hätte. 278 Die hier angeregte Einbindung dieser „naturgeschichtlichen“ Aspekte in einen geschichtsphilosophischen Kontext will natürlich nicht ausblenden, dass die kantische Idee der „Naturgeschichte“ ihr Fundament und ihren genuinen Ort in der Frage nach der Entwicklung und Abwandlung der biologischen Gattungen und Arten hat. Interessant ist diesbezüglich, dass Kant innerhalb des „theoretischen Vernunftgebrauchs“ die Idee einer „Naturgeschichte“ benennt, nämlich unter Maßgabe der „durchgängigen Einheit“ des Verstandesgebrauchs „zum Behuf einer gesamten möglichen Erfahrung“ unter der „Gesetzgebung der Vernunft“: Kant sieht darin eine Aufgabe bzw. Perspektive, die „von denen, welche der Natur der Vernunft, auch außer ihrem Gebrauch in der Metaphysik, sogar in den allgemeinen Prinzipien, eine Naturgeschichte überhaupt systematisch zu machen [!], nachspüren wollen, weiter erwogen werden“ mag (III 241); auf dem Gebiet der „praktischen Vernunft“ stellt die hier verortete Idee der „Naturgeschichte“ hingegen geradezu eine vernunft-verankerte „Gegen-Idee“ innerhalb der „Weltgeschichte“ dar, die in kritischer Absicht an ganz anderen „Nachspürungen“ notwendig Interesse nimmt und hierfür freilich ebenso „einen durch Vernunft an Erfahrung geknüpften Leitfaden“ (VI 86) verlangt. Eine kritische Geschichtsphilosophie wird hier zuletzt die Frage nicht umgehen können, ob und wie weit sich denn auch geschichstheoretische (bzw. -philosophische) Konzeptionen an dem Denkmuster orientieren, „eine Naturgeschichte überhaupt systematisch zu machen“ und welche „Abstraktionen“ und „Absonderungen“ hierbei unumgänglich sind. Die Besinnung darauf ist jedenfalls für eine an Kant orientierte Geschichtsphilosophie unverzichtbar, die sich auch als eine „auf Erfahrungsregulation zielende Etablierung des Begriffes der Geschichte und der historischen Begriffsbildung“ bezieht (Flach 2005, 169).
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
in eine „Naturgeschichte“ von ganz anderer Art doch unvermeidlich wäre.279 Jenes prospektive Geschichtsinteresse – „(i)ndessen bringt es die menschliche Natur so mit sich: selbst in Ansehung der allerentferntesten Epoche, die unsere Gattung treffen soll, nicht gleichgültig zu sein“ (VI 46) – hätte so in diesem gleichermaßen geschuldeten naturgeschichtlichen Interesse eine denkwürdige genaue Entsprechung gefunden.280 Unter solchem Gesichtspunkt hätte dieses kritische Motiv der „Naturgeschichte“ bemerkenswerterweise nicht zuletzt jene leitenden „Interessen“ und die ihnen verdankten „Abstraktionen“ aufzudecken, denen sich beispielsweise auch der von Kant selbst benannte „Standpunkt“ verdankt: „Diese an die Philosophen ergangene … wichtige Anfrage enthält eine vierfache Aufgabe (nach den vier Classen der Kategorien), 1. das Menschliche Geschlecht im Ganzen betrachtet (Quantität) nicht etwa, ob … Menschen von einer gewissen Rasse, z. B. die der Weißen … mit Ausschließung der Neger oder Amerikaner, dieses Vorteils teilhaftig sind, … mithin nicht, ob alle Menschen, sondern ob das Ganze derselben fortschreite, es mögen nun einige zurück bleiben.“281 Ein solcher geschichtsphilosophischer Rekurs auf diese „erfahrungs“-konstitutiven Kategorien ist höchst bemerkenswert; hätte eine kritische (eben auch von dem kritischen Motiv der „Naturgeschichte“ inspirierte bzw. von ihrer „Gegen-Idee“ geleitete) Geschichtsphilosophie doch vor allem genau jenen interesse-geleiteten „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ aufzuweisen, dem sich ein solcher „Erfahrungsbegriff“ allein verdankt, und 279 Solche „Indifferenz“ hat offensichtlich auch Liebschs Kritik vor Augen: „Menschliche Geschichte kann es nur im Zeichen der Nicht-Indifferenz angesichts gewaltsamen Todes der Anderen geben. Geschichte ist darüber hinaus ein der Zukunft zugewandtes Versprechen der Nicht-Indifferenz, das sich mit einer gleichgültigen Wiederholung desselben nicht einfach abfinden kann und dadurch praktisch herausgefordert wird. Wird sie diesem Versprechen nicht gerecht, so droht sie in den Stand der Evolution, in eine Zoologie der Gattungen (H. Arendt) zurückzufallen“ (Liebsch 2006, 153). 280 Eine Anknüpfung an Ricoeurs „gerechtigkeits“-orientierte Feststellung liegt auch im Kontext der kantischen Geschichtsphilosophie besonders nahe: „Die Pflicht zur Erinnerung ist die Pflicht, einem anderen als man selbst durch Erinnerung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. […] Die Idee der Schuld ist von der des Erbes untrennbar. Wir sind jenen gegenüber schuldig, die uns mit einem Teil dessen, was wir sind, vorangegangen sind. Die Pflicht zur Erinnerung beschränkt sich nicht darauf, die materielle – schriftlich oder anderweitige – Spur vergangener Begebenheiten zu bewahren, sondern beinhaltet das Gefühl, diesen anderen gegenüber verpflichtet zu sein, von denen wir im weiteren sagen werden, dass sie zwar nicht mehr sind, aber gewesen sind. […] Unter diesen anderen, denen wir etwas schuldig sind, besitzen die Opfer moralische Priorität“ (Ricoeur 2004, 142 f ). Von einer solchen „Pflicht“ ist nicht zuletzt das geschichtsphilosophisch rezipierte kantische Motiv der „Naturgeschichte“ inspiriert. 281 Refl. 1471, AA XV, 650. Es ist nicht zu übersehen, dass diese kritischen Gegen-Perspektiven sich doch auch – und zwar ganz im Sinne seines Anliegens, „die Rechte der Menschen [nicht zuletzt gegenüber einem abstrakten „Gattungsbezug“] wiederherzustellen“ – gegen erstaunlicherweise von Kant selbst bisweilen begünstigte Missverständnisse richten. Und dennoch wäre auch für diese durch die kritische Gegen-Idee der „Naturgeschichte“ eröffnete bzw. geleitete gegenläufige Perspektive selbst auf geschichtsphilosophischem Terrain – und zwar im Sinne des zu wählenden „besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ (VI 48) – genau dasjenige notwendigerweise auch erfahrungs-orientiert fruchtbar zu machen, was Kant als seinen „immerwährenden Vorsatz durch die Kritik“ geltend gemacht hat, nämlich: „(N)ichts zu versäumen, was die Nachforschungen der Natur der reinen Vernunft zur Vollständigkeit bringen könnte, ob es gleich noch so tief verborgen liegen möchte“ (III 241); indes, im „Gebiet des praktischen Vernunftgebrauchs“ und seinem „unbedingten Interesse“ (gemäß der unverkürzten „Menschheits-Idee“) steht es gerade nicht „in jedermanns Belieben, wie weit er seine Untersuchungen treiben will“ (ebd.).
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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dergestalt, in entsprechender Rücksicht auf die genannten „logisch-anthropologischen“ Kategorien, gerade dadurch einen eminent kritischen Sinn gewinnt. Dann stellt sich wohl die Frage: Verhält es sich, dem kritischen Impuls dieser „naturgeschichtlichen“ Perspektive folgend, im Grunde nicht ohnehin so, dass sich auf diesem geschichtsphilosophischen Feld die gesuchte „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ erst in jener Inversion konstituiert, die das solcherart durch Vernunftideen lesbar Gemachte auflöst, unterbricht? Dann wäre solche „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ paradoxerweise gerade darin zu erkennen, dass sie sich eben durchaus als „inversiv“ erweist – nämlich gegenüber jenen geschichtsphilosophischen Tendenzen und Lesarten, in denen sich die „cognitio historica“ gleichsam reibungslos der vernünftigen „cognitio philosophica“ fügt bzw. darin aufgesogen wird. Nicht zuletzt von der „Aufmerksamkeit“ darauf, dass solcherart die „Geschichte der Menschen“ sich allzu leicht in der ideen-geleiteten „Geschichte der Gattung“ gleichsam verflüchtigt (s. u. II., 4.3.1.), wäre wohl das vorrangige Bestreben jenes kritischen „Historikers“ gerichtet, der sich deshalb auch nicht „einäugig“ mit jenem in Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ maßgebenden „Leitfaden apriori“ begnügen darf. Vielmehr hat er die – mangels kritischer Selbstreflexion drohende – Gefahr des jenen universalgeschichtlichen Perspektiven innewohnenden „dogmatischen Schlummers“ sichtbar zu machen und muss dieserart wenigstens indirekt an dieser geschichtsphilosophischen Version der „Naturgeschichte“ Interesse nehmen. Das „Cyklopische“ (auch) in allem „Enzyklopädischen“ sowie in den in geschichtsphilosophischen Konzeptionen maßgebenden Interessen zu erhellen – nicht zuletzt darin artikuliert sich das Spezifische seiner Kritik der „Geschichte und historischen Schriften“ und in besonderer Weise die mit seiner Idee der „Naturgeschichte“ verbundene kritische Intention. Ein solches kritisches Vorhaben darf demzufolge (in natürlich modifizierter Weise) auch im Sinne der Forderung aufgenommen werden, den „Gerichtshof der Vernunft“ und die Frage „quid juris?“ auf dieses geschichtsphilosophische Territorium auszudehnen; es enthält in dieser Hinsicht auch das Verbot, den Geschworenenstand dieses Gerichtshofes ohne Einbeziehung der Verstummten und stumm Gebliebenen zu besetzen. Dies läuft jener „erweiterten Denkungsart“ und ihrem „allgemeinen Standpunkt“ zuwider, der jene „Privatbedingungen des Urteils“ verbietet bzw. überwindet, „wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind“ (V 391) – ein gerade auch in der hier verfolgten geschichtsphilosophischen Hinsicht bedeutsames Motiv. Entsprechend der gebotenen Perspektive einer „Verantwortung für künftige Generationen“ und der „Rücksichtnahme darauf, „was diese wollen können“, stellt sich wohl in einer solchen opfer-orientierten Perspektive in Rücksicht auf die zu wahrende „Menschheits“-Idee ebenso unausweichlich die Frage, ob diese denn „wollen können“, dass die zukunftsorientierte Perspektive der gegenwärtigen und künftigen Generationen die einzig maßgebende ist. Die von Kant in diesem „naturgeschichtlichen“ Kontext ausdrücklich erhobene Forderung, sich „notwendig fremder Erfahrungen [zu] bedienen“,282 muss – in entsprechend 282 AA IX, 159. Es ist der auch dem Anspruch dieser „Naturgeschichte“ verpflichtete „Gerichtshof der Vernunft“, der den universalgeschichtlich orientierten „Richterstuhl der Menschheit“ noch einmal der Frage „quid juris?“ aussetzt.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
modifizierter Weise und vereint mit der geschichtsphilosophisch akzentuierten „erweiterten Denkungsart“, der zufolge man „sich in den Standpunkt anderer versetzt“ (V 391) – in dem solcherart erweiterten geschichtsphilosophischen Kontext einen radikal gewandelten Sinn gewinnen. Als entscheidend erweist sich hierfür der zweifache Umstand, dass sich zum einen jene Forderung, „sich notwendig fremder Erfahrung zu bedienen“, dabei ja gerade nicht auf die Einholung vorhandener „fremder Zeugen“ stützen bzw. sich darauf beschränken kann; vor allem aber ist es nach Benjamin (s. u. II., Anm. 365) doch die Gegenwart selbst, die so vor diese Vergangenheit und ihre längst entschwundenen Zeugen zitiert werden soll. Schon deshalb verlangt Adornos treffende Einschätzung der kantischen Philosophie: „Kants System ist eines von Haltesignalen“283 wohl auch eine geschichtsphilosophische Lesart; jedenfalls darf dies, wie noch näher auszuführen sein wird, nunmehr auch im Lichte der von Benjamin dem Historiker zugedachten Aufgabe gelesen werden: „Die jeweils Lebenden erblicken sich im Mittag der Geschichte. Sie sind gehalten, der Vergangenheit ein Mahl zu rüsten. Der Historiker ist der Herold, welcher die Abgeschiedenen zu Tische lädt.“284 Die „naturgeschichtlich“ inspirierte Aufforderung Kants, sich „auch notwendig fremder Erfahrungen zu bedienen“, erhält dadurch – und zwar durchaus im Sinn einer geschichtsphilosophisch zu modifizierenden besonderen „Erweiterung des Vernunftgebrauchs inmitten der Erfahrung“ – noch besonderes Gewicht, dass sie sich nicht zuletzt auch auf die abgebrochenen Erinnerungen jener „Abgeschiedenen“ selbst erstreckt. Dies lässt vielleicht daran denken, jenes berühmte Bild, wonach die Vernunft die „Natur“ nötige, „auf ihre Fragen zu antworten“, auch geschichtsphilosophisch – näherhin eben in diesem „naturgeschichtlichen“ Kontext – zu akzentuieren, wobei dieses „naturgeschichtliche“ Interesse insbesondere davon bewegt wäre bzw. darin sein Maß hätte: „Die gesamte Geschichte des Leidens schreit nach Vergeltung und ruft die Erzählung herbei.“285 Es wäre dieses Motiv der „Naturgeschichte“, das so die Rücksicht auf die unendlichen Gräuel der „zweiten Natur“ (des „radikal Bösen“) mit der Ent-Deckung der Katastrophen der „ersten Natur“ (der „Übel“) notwendigerweise in sich vereint. Es ist also diese maßgebende „naturgeschichtliche Perspektive“, welche die Geschichte auf andere Weise nötigt, „auf ihre Fragen zu antworten“, und sich dabei nicht von anderen Interessen reglementieren bzw. übertönen lässt, gleichermaßen aber auch der Geschichtsschreibung (ihren häufig unbedachten „Leitfäden“ und Maßstäben) unbe283 Adorno 1966, 380. Jedenfalls impliziert dies auch eine geschichtsphilosophische Rücksicht auf Kants Mahnung: „Mein Horizont ist nicht das Maß mit anderer ihrem“ (Refl. 1979, AA XVI, 182) – und damit, auch im Hinblick auf die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, die Bereitschaft, sich durch eine provokante geschichtsphilosophische Lesart jener schon erwähnten kantischen Mahnung irritieren zu lassen: „Also muß man seine Urteile gerne andern zu sichten übergeben“ (AA XXIV.1, 391). Erst recht in dieser geschichtsphilosophisch-„naturgeschichtlichen“ Lesart muss jene schon erwähnte Mahnung gelten: „Wir müssen nicht gleichgültig sein, wenn andere uns nicht Beifall geben“ (AA XXIV.1, 390). 284 Benjamin V.1, 603. Das ernst genommene Verbot, „Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen“, weiß freilich, mit Benjamin gegen Benjamin, um die Unmöglichkeit bzw. Vergeblichkeit dieses Versuches und weist auf das davon noch zu unterscheidende Motiv der „restitutio ad integrum“ (s. dazu u. II., 4.3.). 285 Ricoeur 1988, 119.
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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stechlich den Spiegel vorhält. In Folge dieser hier angezeigten geschichtsphilosophischen Wendung sind die Idee der „Naturgeschichte“ und der darauf gestützte „Erfahrungsbegriff“ nunmehr „zum Behuf einer gesamten möglichen Erfahrung“ zu transformieren, wenn doch auch diese „Erfahrung mittelbar unter der Gesetzgebung der Vernunft“ stehen muss (VI 241). Zeigt dies nicht erneut, weshalb diese naturgeschichtlich akzentuierte geschichtsphilosophische Perspektive selbst ebenso darauf insistieren muss, dass Kants Programm einer „Kritik der Vernunft, der Geschichte und historischen Schriften“ sich nicht mit der jener „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ verdankten Geschichtsperspektive begnügen darf, weil die geforderte „Selbsterkenntnis der Vernunft“ noch auf andere unabweisliche Fragen führt? Auch im engeren Umkreis einer geschichtsphilosophischen Rezeption der „Naturgeschichte“ bestätigt sich: „Erinnerung, Gedächtnis und Aufmerksamkeit“ erfüllen, von jenem „zweiten Auge der Philosophie“ als praktische Sinnkategorien in den Dienst genommen, als Anwalt der „widerständigen Erfahrungen“ gegenüber den durch „universalgeschichtliche Einäugigkeiten“ bedingten „Abstraktionen“ ihre unerlässlichen Aufgaben. Sie gewähren damit erst demjenigen gleichermaßen Gehör und Stimme, was andernfalls wohl dazu verurteilt bliebe, übertönt bzw. überhört zu werden; sie setzen sich demzufolge aufmerksam dagegen zur Wehr, dass die sinn-störenden Spalten und Risse einer allzu „lesbarkeits“-bedachten geschichtsphilosophischen Glättung zum Opfer fallen und widerstehen so vor allem der Neigung, auch die geschichtliche Welt möge „im Aggregatzustand“ der „Lesbarkeit als ein Ganzes … sinnspendend sich erschließen.“286 Demgegenüber wäre diese geschichtsphilosophisch gewendete Idee einer „Naturgeschichte“ zufolge dieser Lesart erst recht von jenem „Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen“, beseelt, welches, jenem (schon zitierten) denkwürdigen Wort Adornos287 gemäß, als „Bedingung aller Wahrheit“ gelten muss und dies nunmehr auch geschichtsphilosophisch unbeirrbar zur Geltung bringt. Solche Lesart des „Bedürfnisses“, „Leiden beredt werden zu lassen“, variiert in dieser Hinsicht auch das Motiv Kants, dass „alles Interesse zuletzt praktisch ist“ (IV 252). Gleichermaßen bleibt dies in der angezeigten Weise als der an jener gegenläufigen Perspektive orientierte Protest gegenüber einer über sich selbst nicht aufgeklärten Aufklärung wie auch gegen all diejenigen Versuche zu verstehen, Geschichtswahrheiten und deren „Unversöhnlichkeit“ und Sinnwidrigkeiten durch universalistisch orientierte Vernunftwahrheiten zu absorbieren bzw. erstere subsumptiv einem „Abstrakt-Allgemeinen“ zu opfern. Dagegen hätte in diesem geschichtsphilosophischen Kontext eine sensibilisierte, sich selbst ihr Gesetz vorschreibende Urteilskraft ihre kritische Funktion wahrzunehmen. Zur Erinnerung: So wenig die leitende „Denkungsart“ jenes Naturforschers in dem in ihr zutage tretenden „zweifachen Interesse“ als ein bloß willkürlicher Einfall abzutun war, sondern ein dem „Bedürfnis der forschenden Vernunft“ korrespondierendes, d. h. 286 Blumenberg 1981, 10. 287 Adorno 1966, 29. Und zwar gilt dies auch gegenüber allen geschichts-evolutiv inspirierten Überredungsversuchen: „Die unversöhnliche Kraft des Negativen, die Geschichte in Bewegung setzt, ist die dessen, was Ausbeuter den Opfern antun … Die systematische Einheit der Geschichte, die den individuellen Leiden Sinn geben oder erhaben zum Zufälligen es degradieren soll, ist die philosophische Zueignung des Labyrinths, in dem die Menschen bis heute gefront haben, der Inbegriff des Leidens“ (Adorno GS 8, 375).
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
an der regulativen Idee des „vollständigen Vernunftgebrauchs“ methodisch orientiertes Problem anzeigt, so wäre nun, jener Analogie folgend, auch diese hier geschichtsphilosophisch akzentuierte Vernunft-Idee der „Naturgeschichte“ als eine von den konstitutiven praktischen Vernunftprinzipien eröffnete Perspektive zu legitimieren. Ihre zweifache Gestalt ist in einem unabweislichen, weil vom „Weltbegriff der Philosophie“ unabtrennbaren „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ verwurzelt (d. h. im Sinne der Frage: „Was soll man hier wissen?“) und akzentuiert dementsprechend, freilich auf besondere Weise, das regulative Prinzip als „Grundsatz der größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung …, also ein Prinzipium der Vernunft“ (II 472). Daraus sollte erkennbar sein, inwieweit eine solche geschichtsphilosophische Rezeption und Einbindung der „Idee der Naturgeschichte“ als eine unverzichtbare komplementäre (und wohl auch korrektivische) Perspektive zu jenem weltgeschichtlichen Gesichtspunkt in kritischer Absicht fruchtbar zu machen ist;288 indes, dieser nicht zu nivellierende widerständige „Gesichtspunkt“ bleibt als ein durchaus kritisch-skeptisches Motiv ebenso gegen Kants beiläufige Berufung auf die Vorstellung einer „Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge“ sowie gegen die bei ihm daran geknüpfte Orientierung an der Idee einer „Quasi-Naturgesetzlichkeit“289 anzuführen. 4.1.1. Eine Konsequenz daraus: Die geschichtsphilosophische Aufwertung der „Trauer“ als „praktische Sinnkategorie“ und ihr Ort im Kontext der „Naturgeschichte“ In Anknüpfung an Kants Auskunft, dass man einem „jeden Vermögen des Gemüts … ein Interesse beilegen“ könne und die „Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, … das Interesse aller Gemütskräfte“ bestimmt (IV 249), wird in diesem „naturgeschichtlichen“ Kontext auch eine bemerkenswerte geschichtsphilosophische Korrelation zwischen „Hoffnung und Trauer“ erkennbar. Denn so wenig wie die Hoffnung (vgl. dazu VI 579 ff; ebd. 357 ff ) ist „Trauer“ auf einen bloßen „Affekt“ herabzustufen290 – obwohl „Trauer“ (genauer: „Traurigkeit“) auch unter den „verschiedenen Affekten selbst“ (VI 584 ff ) an288 Gleichwohl bedeutet dieses geschichtsphilosophisch rezipierte Motiv der „Naturgeschichte“ keineswegs eine Distanzierung von jener Idee der „Geschichte“ als eines „generation[en]übergreifenden Lernprozesses“ (Honneth 2004, 97 f ). 289 Primär gegen diese von Kant erwogene Vorstellung (vgl. VI 33 f ) richtet sich offenbar Benjamins ausdrückliche Kritik: „(D)as Vorhaben, ‚Gesetze‘ für den Ablauf der Ereignisse in der Geschichte ausfindig zu machen, ist nicht die einzige und noch weniger die subtilste Art, die Historiographie der Naturwissenschaft anzugleichen“ (I.3, 1231). Vermutlich geht diese Vorstellung auf eine Bemerkung Herders zurück, wonach die Geschichte „hohen und schönen Naturgesetzen“ folgt (Herder 1967, Band XIV, 207). 290 Ein näherer Vergleich mit Spinozas Bestimmung von Hoffnung und Trauer als („privaten“) Affekten (im dritten Teil seiner „Ethik“) ist hier nicht zu leisten; beide „Affekte“ sind bei Kant der Sache nach (über bloß „sinnliche Triebfedern“ hinaus) bemerkenswerterweise in den Rang praktischer Vernunftansprüche erhoben. – Grundsätzlich sei angemerkt: Diese hier vorgenommenen Bezüge auf einen geschichtsphilosophisch relevanten „Trauer“-Begriff können freilich nicht mehr als einige – eben an Kant orientierte – erwägenswerte Anknüpfungspunkte für die Klärung der Möglichkeit einer solchen „Trauer“-Konzeption anzeigen.
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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geführt wird –, sondern verdient gleichermaßen die Aufwertung zu einer in „praktischer Vernunft“ verankerten Kategorie, der in diesen geschichtsphilosophischen Bezügen sogar ein besonderer Stellenwert einzuräumen ist. Wenn „Trauer“ dem Gesagten zufolge keinesfalls in bloßer Sympathie und „schmelzender Teilnehmung“, sondern in „moralischen Ideen“ verankert ist291 und insofern durchaus eine „menschheitliche Dimension“ in mehrfacher Hinsicht enthält, dann stellt sich doch die weitere Frage: Welches ist das aus „teilnehmender Vernunft“ gespeiste Interesse der „Trauer“ – wäre denn ihr gleichermaßen „vernunftleitendes“ Interesse nicht auch in diesem durch das Motiv der „Naturgeschichte“ erweiterten geschichtsphilosophischen Kontext zu verorten? Dass Kant sich nicht mit einer geschichtsphilosophisch begründeten, besonnen-abwägenden und somit auch jenem Leitfaden zu einer „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ entsprechenden Antwort darauf begnügen wollte, was es heißt, „mit Grunde [zu] hoffen“ (VI 49), findet so eine denkwürdige Entsprechung: Dem durchaus nüchternen „geschichtlichen Hoffnungsbegriff“ korrespondiert nun, mit Rücksicht auf die angeführten gegenläufigen „leidensgeschichtlichen“ Aspekte, konsequenterweise eine ebenso vernunft-orientierte Beantwortung der Frage, was es im Sinne eines „geschichtlichen Trauerbegriffs“ denn bedeuten mag, „historisch zu trauern“.292 Die Entsprechung ist wohl nicht zu übersehen: So wie Kants geschichts- und religionsphilosophische Vermittlung der Hoffnung aus dem praktischen Vernunfthorizont (gemäß der darin begründeten und beantworteten Frage „Was darf ich hoffen?“) zweifellos eine „anthropologische“ Reduktion der Hoffnung auf den „Affekt, durch die unerwartete Eröff291 Solches Trauern ist deshalb auch nicht mit jener im „Anblick von den Ruinen einer vormaligen Herrlichkeit“ aufkommenden „Trauer über ein ehemaliges, kraftvolles und reiches Leben“, der „Trauer über Vergangenheit“, der „uninteressierte(n) Trauer über den Untergang glänzenden und gebildeten Menschenlebens“ (so Hegel 12, 97 f ) zu verwechseln – auch nicht mit einer „Empörung des guten Geistes“, die uns angesichts dessen überkommt, dass wir „unter Trümmern des Vortrefflichen“ wandeln, bzw. einer bloß melancholisch getönten allgemeinen Trauer über die „Herrschaft der Zeit“; vgl. dazu auch die kritischen Anmerkungen bei Liebsch 2001, 48 ff. 292 Hier wäre an einschlägige Überlegungen von J. Rüsen anzuknüpfen: Rüsen 1996; 2001. – Gerade dies schärft die von Liebsch geforderte Sensibilität dafür: „Formen der Gewalt wie Krieg, Genozid und Folter gehen auch dadurch nicht nur ‚Betroffene‘ etwas an, dass sie Anlass geben zur Trauer um den Verlust jeder Hoffnung auf eine eindeutig fortschrittliche Geschichte. Was in moralisch-rechtlicher Form in der Zukunft erreicht werden mag, mindert nicht im Geringsten den Schrecken angesichts einer gerade im Zeichen der Moderne unerhört gewaltsamen Geschichte, mit der keine Versöhnung mehr denkbar scheint. Vermag überhaupt noch eine in die Zukunft weisende, maßgebende Idee wie etwa die der Gerechtigkeit zu überzeugen, die sich nicht der Gegenprobe dieser Trauer unterzogen hat? Lehrt nicht allein diese Trauer, was auch eine künftige, zu realisierende Gerechtigkeit nicht mehr versprechen kann?“ (Liebsch 2006, 43 f ); obgleich sich nach Liebsch die „Trauer als Gewissen der Geschichte“ als „das Gewissen einer Trauer“ erweist, „die sich in ihrer Endlichkeit ihr Versagen eingestehen muss“ (ebd. 59). – Dass sich gerade die der Trauer zugedachte Rolle des „Gewissen(s) der Geschichte“ und damit die „Funktion kritischer Erinnerung“ für eine durchaus kantische Sichtweise als naheliegend (und auch als unentbehrlich) ausweisen lassen, wird sich noch bestätigen, obgleich in solchem Blick auf Kant die von Liebsch aufgeworfene Frage des „Versagens“ damit keineswegs ausgeräumt ist. Das hier angezeigte kantische Motiv der „Naturgeschichte“ kommt jedenfalls der von ihm betonten „Trauer um Andere als Andere“ nahe, „um [heißt wohl: über] das, was ihnen widerfahren ist und um den Verlust, den das Widerfahrnis dieser Gewalt selber bedeutet“ (ebd. 62). Das Eingeständnis der damit verbundenen Aporien und empfundenen Ratlosigkeiten zum Status einer solchen „Trauer“ ist wohl eine Vorbedingung und vielleicht auch ein erster Schritt zu einem geschichtlichen „Eingedenken“, das als ein solches bezeichnet werden dürfte.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
nung der Aussicht in ein nicht auszumessendes Glück“ (VI 584), überholt, so bleibt dies desgleichen für die als praktisch-historische Sinnkategorie aufzuwertende Trauer geltend zu machen. Somit müsste der geschichtsphilosophisch legitimierten Aussicht, „mit Grunde [zu] hoffen“, eine ebensolche geschichtsphilosophische Rücksicht, „mit Grunde zu trauern“, korrespondieren – auch darin noch einer Verantwortung verpflichtet, die nur auf das „von Verderbnis und Verfall Bedrohte, kurz auf Vergängliches in seiner Vergänglichkeit“ gerichtet sein könne.293 In der vorgeschlagenen geschichtsphilosophischen Lesart der „Idee der Naturgeschichte“ gewinnt die von psychologischer Verengung befreite „Trauer“ ihren Ort als eine der „praktischen Weltweisheit“ eingeschriebene unentbehrliche Dimension der „praktischen Vernunft“ – eben als Pendant zu dem „geschichtlichen Hoffnungsbegriff“. Jener dem Anspruch der „teilnehmenden Vernunft“ verpflichteten „Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt“ (und dieserart „eine moralische Anlage im Menschengeschlecht“ offenbart), entspricht die Trauer als eine „Teilnehmung“ von ganz anderer Art. Als Negativ-Gestalt jener geschichtsphilosophischen Hoffnungs- und Fortschrittskonzeption steht sie jenem „wahren Enthusiasm“ (als „Teilnehmung am Guten mit Affekt“: VI 359) gegenüber, der „immer aufs Idealische und zwar rein Moralische“ geht, „dergleichen der Rechtsbegriff ist“ (VI 359); ohne solche „Negativ-Gestalt“ wäre auch die „moralische Anlage in uns“ nicht zureichend zu bestimmen. Darin hat also jener „geschichtliche Hoffnungsbegriff“ (und die Realisierung des „Endzwecks der Rechtslehre“), der als in den Prinzipien der praktischen Vernunft fundiert ausgewiesen wurde, eine unverkennbare Entsprechung; so wie dieser hat auch die in praktischen Vernunftprinzipien verwurzelte Trauer innerhalb eines differenzierten „Weltbegriffs der Philosophie“ ihren Ort. Ist die praxis-orientierende Hoffnung gemäß der Leitfrage, „was der Mensch [als „Gattungswesen“] aus sich selber machen kann und machen soll“, auf die Realisierung der utopischen Gehalte der „praktischen Vernunftideen“ gerichtet, so erwächst die „Trauer“ nicht allein aus der damit verbundenen penetranten Erfahrung der Diskrepanz zu dem, „was der Mensch aus sich selber macht“; als geschichtsphilosophische Kategorie folgt sie noch einem anderen Anspruch bewusst gewordener „Negativität“, die als solche „aufmerksam“ zu vergegenwärtigen bleibt: Einer „Geschichte im Zeichen der Hoffnung“ unter dem Vorzeichen der leitenden Frage, „was der Mensch, als freihandelndes Wesen aus sich selber machen kann und soll“, stünde so eine „(Natur-)Geschichte im Zeichen der Trauer“ gegenüber; sie orientiert sich an der Frage, was zwar auch „die Natur“, vornehmlich jedoch die Menschen selbst „aus dem Menschen machen“ und derart – vor dem maßgebenden Hintergrund der Idee der „Menschheit“ und der Idee des „Rechts“ – als „Subjekte“ in der Geschichte „erleiden“. Nur so ist jene kantische Forderung: „Die Moral muss mit der Kenntnis der Menschheit verbunden werden“ (s. o. II., Anm. 103) (und ihre notwendige Umkehrung!) in diesem geschichtsphilosophischen Kontext einzulösen, ohne erneut eine geschichtsphilosophische „Einäugigkeit“ bzw. eine Verstümmelung der „Idee der Menschheit“ zu begünstigen. 293 Jonas 1979, 226. – Dem will Liebsch noch eine ausdrückliche „potenzierende“ Akzentuierung verleihen (vgl. die eindringlichen Analysen: Liebsch 2006, 155 f ).
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Auch in einer solchen Hinsicht findet die Notwendigkeit einer „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ eine Bestätigung, indem sie nun, in der Gestalt des „Vermissens“, des „Übel(s) der Beraubung“ und der Perversion auf eine Weise inne wird (I 796),294 die zweifellos auch Kants geschichtsphilosophischen Rekurs auf die „Idee der Menschheit“ nicht unberührt lassen kann. Gemäß dem nach Maßgabe des praktischen Vernunfthorizonts transformierten (und der Sache nach vertieften) Status von „Gedächtnis und Erinnerung“ sowie in Beachtung der Differenzierung der Frage „Was kann und soll man hier wissen?“, erweist sich nunmehr: Einer durch jenes „zweite Auge der Philosophie“ geschärften Problemsicht folgend, erweist sich das in der „praktischen Weltweisheit“ verwurzelte „Bedürfnis der praktischen“ und der „fragenden Vernunft“ in diesen geschichtstheoretischen Bezügen nicht nur von dem in praktischen Vernunftansprüchen begründeten Erinnern und Gedächtnis, sondern in seinem Kern gleichermaßen von Vermissen und Trauer geprägt.295 Die ebenfalls schon angeführte Beobachtung: „Aber niemand ist blinder, als der nicht sehen will, und dieses Nichtwollen hat hier ein Interesse“ (s. o. II., Anm. 224), gewinnt in diesem Problemkontext unübersehbar neue Nuancen und auch besondere Aktualität. Allein dieser von „Erinnerung“ und „Gedächtnis“ unablösbare „geschichtliche Trauerbegriff“ ließe es auch vermeiden, dass eine dem versöhnend-milden Licht verdankte „tröstende Aussicht in die Zukunft“, in welcher „die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird“ (VI 49), zugleich jene „im Dunkel“ verbliebenen Abgründe verdeckt, deren Ausleuchtung jenes schon hinreichend gewürdigte – besonders in den Dienst dieser Idee der „Naturgeschichte“ gestellte – „zweite Auge der Philosophie“ sich zur besonderen Aufgabe macht.296 Ihre Vernachlässigung bzw. Preisgabe hätte sich nämlich stillschweigend von jener auch geschichtsphilosophisch maßgebenden Verpflichtung verabschiedet, „die Rechte der Menschheit herzustellen“, und müsste letztendlich ebenso die schon wiederholt erwähnte kantische Forderung ignorieren: „Die Moral muss mit der Erkenntnis der Menschheit verbunden werden.“297 Darin ist jedenfalls auch mitenthalten, 294 Vgl. Kants Aufsatz „Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“: I 779 ff, bes. 792 ff. – Kants ethikotheologische Auskunft, „daß, ohne den Menschen, die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde“ (V 567), müsste in einer geschichtsphilosophischen Lesart jener „negativen (praktischen) Weltweisheit“ und unter den Vorzeichen des kantischen Hinweises, wonach die menschliche Freiheit das „Schrecklichste, was nur sein kann“, ist, noch einen besonderen Sinn gewinnen. 295 Analoge Differenzierungen legen sich auch für Kants Unterscheidung zwischen der in „moralischen Grundsätzen“ verwurzelten Liebe und bloßer „Sympathie“ nahe. 296 Auch hier finden sich bei Kant „naturgeschichtliche“ Anknüpfungspunkte für Benjamin’sche Motive: „Letztes Motiv ist nicht die Zukunftsgestaltung sondern der gegen alle Logik von Zeit und Geschichte angehende Versuch, das Vergangene zurechtzurücken, die Endgültigkeit seines Festgeschriebenseins zu durchschlagen. Der Ausgriff auf Befreiung geschieht als Widerstand gegen das Scheitern: Nicht das Versprechen des Kommenden, das Unerledigtsein des Gewesenen treibt in die Zukunft“ (so Angehrn in seiner knappen, aber präzisen Skizze der Benjamin’schen Motive einer „Geschichtsphilosophie jenseits des Historismus“: Angehrn 1991, 169–174, ebd. 170 f ). 297 Auch in diesem Sinne ist Benjamins Wort in einer kantischen Perspektive aufzunehmen: „Wir beanspruchen von den Nachgeborenen nicht Dank für unsere Siege sondern das Eingedenken unserer Niederlagen. Das ist Trost: der Trost, den es ja einzig für die geben kann, welche keine Hoffnung auf Trost mehr
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
dass jene Leitperspektive der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ indes das „Unerledigtsein des Gewesenen“ in der „Geschichte der Menschen“ nicht überdecken bzw. absorbieren darf. So erhält „Trauer“ in einer kritischen, in einem komplementären wie auch strikt „gegenläufigen“ Verhältnis zur dort maßgebenden Perspektive stehenden Geschichtskonzeption ihre eminente Bedeutung – durchaus als ein unerlässlicher „Modus geschichtlichen Erinnerns“, der sich aus der Tiefendimension der praktischen Vernunft speist und darin erst in „bestimmter Negation“ Gehalt und konkrete Gestalt gewinnt. Jene geschichtsphilosophisch „übersetzte“ (sowohl gegen den „logischen“ wie auch gegen den „moralischen Egoism“ erhobene) Forderung, „unsere Urteile an fremder Vernunft zu prüfen“, fände so wohl einen besonderen Sinngehalt und wäre somit gewiss auch mehr als ein lediglich „äußerer Probierstein“ der Wahrheit. Mit Rücksicht auf jenes „Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen“, als „Bedingung aller Wahrheit“ müsste dies noch einen ungleich radikaleren Sinn gewinnen: Die Forderung, sein Urteil in der angezeigten Weise „an fremder Vernunft zu prüfen“, entspräche eher dem Kriterium einer auch geschichtsphilosophisch „erweiterten Denkungsart“ und ihrer spezifischen „Vernünftigkeit“. Als Kehrseite jener „geschichtlichen Hoffnungsperspektive“ und ihrer „tröstenden Aussicht“ lässt sich deshalb Kants unverkennbare Sensibilität für die „Verbrechen wider die menschliche Natur“, d. h. gegen die „Idee des Menschen“ rekonstruieren,298 die nunmehr gemäß dem diese Idee der „Naturgeschichte“ auszeichnenden kritischen Sinnpotenzial als „negativer Enthusiasm“ konkrete Gestalt gewinnt.299 Wäre dies im Verbund mit dem durchaus vernunftkritisch aufgewerteten Status von „Gedächtnis, Erinnerung und Trauer“ nicht dahingehend aufzunehmen, dass jenes durch die gebotene Rücksicht auf die Geschichte ausgelöste „Befremden“ gleichermaßen den abgründigen geschichtlichen Erfahrungen standhalten will und eben dafür – in Abwehr jenes „Vergessens des Vergessens“ – auch die „Nachkommenschaft“ (VI 166 f ) in die Pflicht „erinnernd-trauernder“ Zeugenschaft genommen weiß? Es ist diese – wiederum jenem „zweiten Auge der Philosophie“ verdankte – Einsicht, die darin das zur Unsichtbarkeit und Bedeutungslosigkeit Verurteilte überhaupt erst „eingedenkend“ für wahr zu nehmen bzw. als solches zu deuten vermag. Ebenso mahnt sie die Trauer über das Zerstörte und Vertane, über haben“ (I.3, 1240). Dies ist nur ein Widerhall jenes „kantischen“ Anspruchs der „allgemeinen Menschenvernunft, worin jeder seine Stimme hat“. 298 Auch in dieser Hinsicht wären diese der „praktischen Weltweisheit“ eingeschriebenen „negativen Größen“ näher zu differenzieren. Hier berühren sich diese im Ausgang von Kant verfolgten Motive noch einmal mit dem von B. Liebsch formulierten Anliegen einer „politischen Dimension“ der Trauer, wonach Trauer „in ihren politisch-öffentlichen Erscheinungsformen den Sinn für das schlechterdings Nichtwiedergutzumachende“ schärfe, „wofür keine zukünftige Geschichte Entschädigung oder Kompensation in Aussicht stellen kann“ (Liebsch 2006/2007, 113 f ). 299 Das kritische Motiv der „Naturgeschichte“ bringt sich so als entschiedenster Einspruch gegen die „weltgeschichtliche“ Perspektive zur Geltung, die Hegels „Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte“ beschließt: „Dass die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichten – dies ist die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Nur die Einsicht kann den Geist mit Geschichte versöhnen, dass das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist“ (Hegel 12, 540).
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das, „was hinab mußte oder verurteilt ist“,300 gleichermaßen gegenüber bloßer Ignoranz, „d. i. keine Notiz wovon nehmen“ zu wollen, ein und bewahrt letztendlich nicht weniger energisch auch vor dem Hohngelächter, man sei eben doch ein bloß weltfremder „Melancholicus“, d. h. „ein Phantast in Ansehung der Übel des Lebens“ (I 896). Es ist demnach die jenem „geschichtlichen Hoffnungsbegriff“ korrespondierende Negativ-Gestalt der Trauer (ein „geschichtlicher Trauerbegriff“), in welcher leidsensible Hoffnung in ihrer gebrochenen Gestalt als Klage und „Vermissen“ sich Ausdruck verschafft, sich also gleichsam als „negative Hoffnung“ artikuliert. Sie macht die aus solchem Vermissen gespeiste Klage als das Innewerden eines „Übels“ vernehmbar, dessen Gewahrwerden von „Negativität“ zweifellos „nicht bloß auf Verneinungen“ reduziert werden kann, sondern aufmerksam auch dafür bleibt, dass die „privatio boni“ von der „perversio boni“ noch unterschieden bleibt. Eine solche Kennzeichnung der Trauer als einer in praktischen Vernunftansprüchen verwurzelten „Negativ-Gestalt der Hoffnung“ lässt sich, so hat sich gezeigt, gleichsam von der Absicht leiten, auch auf diesem Gebiet der praktischen Vernunft für diese unabweislichen Vernunftansprüche den „Begriff der negativen Größen“ in „die praktische Weltweisheit“ einzuführen. Letztere spricht sich, genauer besehen, ohnehin schon in jener in uns wahrgenommenen „Stimme …, es müsse anders zugehen“, sowie in jenem „Befremden“ Kants aus und liegt nicht zuletzt ebenso seiner „radikalen“ Unterscheidung zwischen dem „Sittlichguten“ und dem „Sittlichbösen“ zugrunde, die derart eine verkürzende Auffassung des „Bösen“ (als bloße „privatio boni“) entschieden verwerfen muss.301 Um eine einseitige Akzentuierung der „Erfahrung im Menschengeschlechte“ zu vermeiden, spricht wohl auch vieles dafür, diese Trauer – ihr Vermissen und Klagen – als ein unentbehrliches Komplement zu jener Hoffnung zu situieren und gleichermaßen „gegenläufig-quer“ dazu zu buchstabieren: „Geschichts-geladen“ und „geschichts-beladen“ – beides kennzeichnet wohl die Intentionalität der geschichtlichen Hoffnung wie auch diejenige der Trauer als einer „historisch-praktischen Sinnkategorie“ entsprechend jener „anamnetischen Tiefenstruktur der Vernunft“, die deshalb auch für den umfassend gedachten Interessenhorizont des „Weltbegriffs der Philosophie“ maßgebend bleiben muss.302 Dass ohne eine derartige – selbst im Freiheits- und ebenso im Leidensgedächtnis der Menschheit wurzelnde – Vernunftperspektive aber auch die für eine solche „Gesetzgebung der Vernunft“ reklamierte – wohlgemerkt: als „Weisheit“ bestimmte! – „Idee vom gesetzmäßig vollkommenen praktischen Gebrauch der Vernunft“ (VI 511) nicht in einer für Kants „Weltbegriff der Philosophie“ zureichenden Weise bestimmt werden kann, findet in der vorgestellten Kennzeichnung der Trauer als einer „praktischen Sinnkategorie“ lediglich eine Bestätigung; dieses Motiv spiegelt sich unverkennbar auch noch in jenem kritischen Vorhaben Benjamins wider, das selbst in einem nicht stillzulegenden Anspruch der „praktischen“ – und letztendlich auch der „fragenden“ – Vernunft verankert ist. 300 Adorno 1966, 370. 301 Vgl. auch IV 709 ff, bes. IV 711 f, Anm., wo Kant der Sache nach die „perversio boni“ von der bloßen „privatio boni“ unterscheidet, d. h. auf dem besonderen Charakter dieser „Negativität“ insistiert. 302 Historie ist „die Geschichte desjenigen, was zu verschiedenen Zeiten geschieht“ (AA IX, 161).
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Erinnernswert ist diesbezüglich nicht zuletzt der ganz beiläufige Hinweis Kants auf jene an einen „Enthusiasmus“ grenzende „Teilnehmung am Guten mit Affekt“, die sich in den „Gemütern aller Zuschauer“ findet, die freilich „nicht selbst in diesem Spiele mit ver wickelt sind“ (VI 358), weil offenbar allein dies den „moralischen“ Charakter dieser „Teilnehmung dem Wunsche nach“ gewährleistet, d. h. einem recht verstanden „parteilosen“ Vernunftinteresse genügt. Indes, wäre nicht auch für diese gegenläufige „naturgeschichtliche“ Perspektive um des darin maßgebenden reinen moralischen Interesses willen zu fordern, dass die daran in einem „negativen Enthusiasmus“ Anteilnehmenden sich als Anwalt einer moralisch-„teilnehmenden Vernunft“ verstehen, d. h. keinem „parteiischen Interesse“ folgen und insofern „nicht selbst in diesem Spiele [!] verwickelt sind“?303 Kants „Übersetzung“ des dem Terenz’schen Diktum „Homo sum. Nihil humani a me alienum puto“ immanenten Anspruchs, in der sich eben „teilnehmende Vernunft“ (deren ganz „uneigennützige Anteilnahme“) zur Geltung bringt, steht damit in einem engen Zusammenhang und rückt vor diesem Hintergrund auch den Status und die besondere Sinnintention der davon zehrenden „Trauer“ als einer „praktisch-historischen Sinnkategorie“ in ein neues Licht. 4.1.2. „Homo sum. Nihil humani a me alienum puto“ – in einer kritischen geschichtsphilosophischen Lesart Es ist nicht zu übersehen, dass die moralische Tiefendimension jenes Terenz-Diktums Kant immer wieder beschäftigt und ihn deshalb offensichtlich auch zu aufschlussreichen Nuancierungen inspiriert hat. Noch der späte Kant hat sich, wie erwähnt, dazu veranlasst gesehen, eine frühe triviale Lesart desselben aufzugeben und durch einen ungleich anspruchsvolleren – und geradezu inversen! – Sinngehalt zu ersetzen: „Ich bin ein Mensch. Alles, was Menschen widerfährt, das trifft auch mich“ (IV 598) – eine Variation, die sich in dem 303 Kant betont, dass bezüglich der „ganz uneigennützigen Anteilnahme“ und „um einen solchen Enthusiasm allgemein zu erwecken“ dem „Zuschauer „ein wahres oder wenigstens gutmütig gemeintes Interesse des ganzen Menschengeschlechts vorschweben“ müsse (AA XIX 604). – Hinzuweisen ist hier auf eine gewiss bemerkenswerte Analogie: Ist es hier die Sorge um die „moralische Reinheit“ dieser an „Enthusiasm“ grenzenden „Teilnehmung“, so besagte bezüglich der Erfahrung des „Dynamisch-Erhabenen der Natur“ der Befund Kants bekanntlich dies: „Wer sich fürchtet, kann über das Erhabene der Natur gar nicht urteilen“, weshalb für die Reinheit des ästhetischen Urteils auch vorausgesetzt ist, dass „wir uns in Sicherheit befinden“ (V 349): Eine beiläufig angezeigte Analogie, die wohl ebenso „viel zu denken gibt“, jedoch auch nicht den bedeutsamen elementaren Unterschied zwischen dieser „ästhetischen“ und der „moralischen“ Perspektive verwischen darf, den J.-M. Muglioni (2011) zu Recht gegen H. Arendt u. J. Lyotard geltend macht. Obgleich Kants einschlägige Argumentation „über eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt“, als „Teilnehmung am Guten mit Affekt“ (weil „wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht“: VI 358 f ), von einer bloß „ästhetischen Perspektive“ genau zu unterscheiden bleibt („Das Urteil der Zuschauer der Revolution ist praktisch und nicht ästhetisch“: Muglioni 2011, 201), so ist doch die diesbezügliche „Analogie“ unübersehbar, die auch nach Muglioni „eine Verwandtschaft zwischen moralischem Gefühl und Geschmack“ anzeigt und „viel zu denken“ gibt; gleichwohl ist seinem Resümee zuzustimmen: „Wenn es also wahr ist, daß das Verständnis des Enthusiasmus sowie der Achtung eine Kritik des Geschmacks erfordert, dann ist es ebenso absurd, daraus zu schließen, dass die Französische Revolution Gegenstand des Geschmacksurteils ist bzw. die Achtung auf das am Schönen und Guten erfahrene Vergnügen zu reduzieren“ (Muglioni 2011, Anm. 15).
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hier interessierenden Problemzusammenhang offenkundig als besonders bedenkenswert erweist. Zwischen der darin zunächst bemerkbaren Verstörung darüber, dass, „was [anderen] Menschen widerfährt, auch mich treffen kann“ (d. h. solch ein „Anderer“ bedauerlicherweise eben stets auch „unser“- bzw. „meinereins“ selbst sein könnte), und dem in dessen späterer Version zutage tretenden Bewusstsein dieser Vergleichgültigung von „Ich“ – dass nämlich diese Anderen zugleich Andere und doch unterschieds- und ausnahmslos „Ich“ sind –, liegt ja nicht nur die von Kant explizierte Ethik,304 sondern, in anderer Hinsicht, ebenso das seiner Geschichtsphilosophie innewohnende kritische Potenzial. Diesbezüglich findet sich bei ihm übrigens auch eine sehr bemerkenswerte späte „weltbürger-rechtliche“ Entsprechung: „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde [!] einmal durchgängig überhand genommenen … Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird; so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung … des Staats- (und) Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf“ (VI 216 f ).305 Erst in Verbindung mit solchem „Weltbürgerrecht“ erhält jenes „Ich bin ein Mensch. Alles, was Menschen widerfährt, das trifft auch mich“, einen über ein blasses philanthropisches Bekenntnis hinausreichenden „kosmopolitischen“ Anspruch. Demzufolge wäre es ein Missverständnis bzw. eine Verkennung des diesem Diktum immanenten Anspruchs, wollte man es lediglich auf eine teilnehmend-sympathische Gemütsstimmung bzw. auf ein bloß philanthropisch-einfühlsames Verständnis fürs „Menschlich-Allzumenschliche“ zurückstufen oder etwa als „heidnisches Pendant“ zur christlichen Nächstenliebe verstehen. Kants denkwürdige späte Interpretation dieses „Homo sum …“ impliziert wohl die kritische Absicht, dass die Orientierung an der Fortschritts-Frage keinesfalls mit dem „historischen Vernunftinteresse“ schlechthin gleichgesetzt werden darf. Vielmehr wird deutlich: Die oben (s. II., 3.4.) erwähnte „gegenläufige“ Perspektive als ein unumgängliches „historisches Vernunftinteresse“ verlangt, dass andernfalls von einem „Vernunft-Interesse“ im eigentlichen Sinne rechtens wohl nicht zu reden sei, und fordert folglich noch andere „Ideen“ als diejenigen, die in seiner Geschichtsphilosophie maßgebend sind.306 Gewinnt doch Kants aufschlussreiche Ver304 Mögliche (kritische) Bezüge zu Th. Nagels (an Kant orientierter) Schrift „Die Möglichkeit des Altruismus“ (Nagel 1998) sind hier nicht zu verfolgen; s. dazu Stolzenberg 2007, 247–265. 305 Eben diese kantischen kosmopolitischen Bezüge auf ein „Weltbürgerrecht“ machen wohl Modifikationen und Korrekturen seiner Erwägungen zum „Recht der Hospitalität“ als einem „Recht jedes Menschen“ notwendig, das sich nicht in einem „Besuchsrecht“ erschöpfen kann. Zu den damit verbundenen kritischen Rückfragen an Kant vgl. Liebsch 2008; für diese rechtsphilosophischen Themen s. die erhellenden Analysen von G. Cavallar 1999 u. 1992; vgl. dazu auch Cheneval 2002, 563–621. Hier wird besonders deutlich, dass die späte vertiefte Version jenes „Homo sum. Nihil humani …“ mit jenem Sachverhalt, „dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“ (d. h. das angezeigte „Weltbürgerrecht“) in engem sachlichen Zusammenhang steht. 306 Eine psychologisch-anthropologische Reduktion von Mitleid und Trauer auf bloße „Affekte“ wird so durchbrochen, geht es dabei doch nicht um ein Affiziertwerden von empirischen Subjekten als Naturwesen, das in seinem „Geltungssinn“ und -anspruch indes völlig irrelevant bleiben müsste. Eben solches Affiziert-
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sion jenes Diktums in dem voranstehend differenzierten geschichtstheoretischen Kontext eine besondere Bedeutung, die vor allem die spezifische Intentionalität wie auch die ‚Tiefenstruktur‘ der Trauer als einer praktisch-„historischen Kategorie“ vor Augen führt: „Alles, was Menschen widerfährt, trifft auch mich“ – bestätigt dies nicht erneut das dem kantischen Geschichtsdenken keineswegs fremde Anliegen, jede cyklopisch-„leidvergessene Fortschrittsgeschichte“ (bzw. ein daran orientiertes Geschichtsverständnis) zu problematisieren? Wiederum ist es evidenterweise der in dem „praktischen Vernunft interesse“ fundierte „Weltbegriff der Philosophie“, dessen Anspruch sich in dieser Lesart jenes „Homo sum …“ als kritische Instanz zur Geltung bringt und ohne den auch dieser „Weltbegriff der Philosophie“ nicht als solcher bezeichnet zu werden verdiente. Was Kant als zukunftsgerichtete Perspektive geschichtsphilosophisch nahelegt, bleibt hingegen in bzw. als gegenläufige („naturgeschichtliche“) Sinnintention erst im Sinne praktischer Vernunftansprüche einzufordern und freizulegen.307 Auch hier bleibt noch einmal an jenes von Kant im Kontext des „Erinnerns“ erwähnte „Ent-sinnen“308 – in der zweifachen Gestalt des „In-sich-Gehens“ und des „Sich-innerlichMachens“ – anzuknüpfen, das nicht nur alles bloß „mechanische“ und „judiziöse Memorieren“, sondern ebenso alle erlebnis-fixierte Erinnerung zu überwinden vermag und so gemäß der Aufgabe der praktischen Vernunft des „Homo sum. Nihil humani a me alienum puto“ wohl eine besondere Bedeutung gewinnt.309 Erneut stellt sich die Frage: Wäre denn werden und das darin maßgebende Selbstgefühl muss deshalb – und zwar um des Anderen selbst willen – in einen grundsatz-orientierten Status aufgehoben werden: Ein bloßes „Affiziertwerden“ durch das „Leid der Anderen“ ist in das prinzipien-orientierte moralische Bewusstsein der Negativität aufzuheben, dem zufolge nicht sein darf, dass der Selbstzweck-Status des Menschen negiert wird. Allein dies ist begründet im kategorischen Imperativ: Das darin verwurzelte prinzipielle Bewusstsein der Negativität – des „Nicht-seinDürfens“ – ist geltungstheoretisch die alleinige Grundlage für das „Eingedenken“ fremden Leids. Freilich, auch solches aus „teilnehmender Vernunft“ gespeiste „Eingedenken“ vermag die abgründige Differenz zum erduldeten Leid nicht zu überbrücken; es überwindet lediglich jenes „Wohlwollen“, „welches uns nichts kostet“ (IV 589), das doch erst als „Wohltun“ im eigentlichen Sinne für „wahr“ genommen wird. 307 Insofern finden sich hier durchaus Anknüpfungspunkte, um dem von Liebsch erhobenen Einwand zu begegnen, dass „jene Nicht-Gleichgültigkeit als eine Anlage der Natur, die uns mit einem kosmopolitischen Interesse der Gattung verbände, … von Kant nur postuliert, nicht ausgewiesen“ werde. „Es mag ja sein, dass in dieser Hinsicht völlig Gleichgültige ‚sittlich tot‘ scheinen; doch das Problem, wie weit der Horizont der Nicht-Gleichgültigkeit geschichtlich reicht, ist eine ganz andere Frage, die sich kaum unter Hinweis auf die menschliche Natur erledigen lässt“ (Liebsch 2007 215, Anm. 104). Dies führt mit Rücksicht auf die besonderen Anliegen Liebschs auf die Frage, wie weit der in praktischen Vernunftansprüchen begründeten gebotenen Hoffnung eine ebenso in praktischen Vernunftansprüchen verankerte Trauer zu entsprechen vermag? 308 So scheint sich zu bestätigen: Für das im Sinne dieser naturgeschichtlichen Perspektive verstandene „Erinnern“ dürfte geradezu konstitutiv sein, was Theunissen mit Bezug auf Hegel geltend macht; dass dieses Erinnern damit nicht nur „ins Vergangene, sondern nach Innen“ weist, „in dem etwas des Menschen selbst offenbar wird“, und so auf etwas hin transparent macht, was über die historische Forschung hinausweist – weil Letztere darin auch ihr eigentliches Fundament hat (s. Theunissen 2001, bes. 29–49). 309 In diesem geschichtsphilosophischen Rahmen wird wohl auch die von A. Margalit aufgeworfene Frage unabweislich: „Gibt es nicht auch im Kontext der Moral, und nicht etwa nur im Ethischen, eine minimale Verpflichtung zur Erinnerung?“ (Margalit 2000, 30). Dies gilt dann natürlich erst recht für seinen Hinweis: „Ebenso besteht die Verantwortlichkeit für eine geteilte Erinnerung darin, dass jeder innerhalb einer Erinnerungsgemeinschaft dafür zu sorgen hat, dass jene Erinnerung bewahrt wird. Doch keineswegs ist jeder Einzelne dazu verpflichtet, sich zu erinnern. Die Pflicht, darauf zu achten, dass die Erinnerung
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anders von einer „teilnehmenden Vernunft“ (ihrem „uneigennützigen Interesse“) noch zu reden, wenn diese doch darum gänzlich unbekümmert bliebe, den gegenläufigen Standpunkt dieser geschichtsphilosophischen Perspektive zur Geltung zu bringen, d. h. ihm in gebührender Weise Gehör zu verschaffen? Es ist die „mitteilende Vernunft“ des „vernünftigen Weltwesens“, die sich stets auch als „teilnehmende Vernunft“ artikuliert, sofern Menschen sich darin, als „vernünftige Erdwesen“, auch als „verletzliche“ und „sterbliche“ verbunden wissen – ein Bewusstsein, das unübersehbar in jenem „Ich bin ein Mensch, alles, was Menschen widerfährt, trifft auch mich“, ihren Ausdruck findet. Darin spiegelt sich nunmehr in denkwürdiger Weise auch jenes die menschliche Weltstellung auszeichnende „Grundverhältnis“ in der Gegenläufigkeit von „Person- und Subjektperspektive“ wider,310 wonach es in dieser Subjekt-Perspektive eben zufällig – und in diesem recht verstandenen Sinne auch gleich-gültig – ist, dass damit kontingenterweise das Bewusstsein eben dieser einzelnen Person verbunden ist, ebenso aber die bedrückende Erfahrung solcher Kontingenz. Freilich gilt auch diesbezüglich Kants Feststellung: „So [d. h. hier: eben in dieser unauflöslichen Einheit von Subjekt- und Person-Sinn] stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor“,311 ebenso dies: „So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor“ (IV 61). In der Tat verweist Kants denkwürdige – und von ihm zunehmend philosophisch vertiefte – Übersetzung jenes „Homo sum …“ begründungstheoretisch auf die innere Verfasstheit des Menschen als unauflösliche Einheit von „Subjekt“ und „Person“ und bleibt wohl auch nur so vor Trivialisierung bzw. ihrer Reduktion auf eine pathologisch „teilnehmende Gestimmtheit“ bewahrt, die nicht einmal an jenes „wenigstens gutmütig gemeinte Interesse des ganzen Menschengeschlechts“ heranreicht – von einem „wahren Interesse“ desselben gar nicht zu reden … (vgl. o. II., Anm. 303). lebendig gehalten wird, bedarf vielleicht eines Mindestmaßes an Erinnerung bei jedem Einzelnen, mehr aber nicht“ (ebd. 40). 310 Diese Unterscheidung spielt bekanntlich in Henrichs Analysen von „Subjektivität“ eine zentrale Rolle; sie gewinnt aber auch in diesem Kontext als ein Fundament jener kantischen Wiedergabe des „Homo sum …“ als „Ich bin ein Mensch. Alles was Menschen widerfährt, trifft auch mich“ eine besondere Bedeutung und bewahrt übrigens dieses Diktum vor einer bloß philanthropischen Banalisierung: „Ein Wesen, das Selbstbewusstsein hat, muss sich aber von der Struktur dieses Bewusstseins her immer in einer doppelten Relation verstehen: als einer unter vielen und als einer gegenüber allem. Insofern der selbstbewußte Mensch einer unter anderen ist, ist er ‚Person‘. Er weiß sich zu unterscheiden von allen anderen, weiß aber auch, dass er wie sie in die gemeinsame Welt gehört, – dass er als Person ein Lebewesen ist und einen Platz unter allen Weltdingen hat. In einer anderen Hinsicht ist aber jedes selbstbewusste Wesen radikaler und von allem unterschieden, von dem es weiß. Es greift über die Welt als ganze aus und findet, was immer es in ihr denkt oder antrifft, in derselben Korrelation zu dem Einen, das es ist, insofern es von sich weiß. Die Welt ist ihm der Inbegriff dessen, was es überhaupt denken und antreffen kann. In diesem Sinn ist jeder Mensch nicht nur Person, sondern ebenso ‚Subjekt‘. Dass er gerade diese Person ist, muss von ihm aus der Perspektive seiner Subjektivität heraus als zufällig erfahren werden“ (Henrich 1982c, 20 f ). Diese Aspekte sind auch hinsichtlich der Begründung des sittlichen Verpflichtungscharakters und näherhin der Differenzierung desselben von besonderer Relevanz. 311 Diese „Notwendigkeit“ besagt eben keinesfalls die bloß faktische praktische „Selbstbezüglichkeit“, sondern die Unmöglichkeit bzw. Widersprüchlichkeit, die daraus resultiert, wenn jemand wollte, nicht wollen zu können – d. h. jemand wollte, als „bloßes Mittel“ „instrumentalisiert“, also als bloßes „Objekt“ behandelt zu werden.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
Dass Kant die „subjekt-theoretische“ Verankerung dieses Diktums offenbar erst später bewusst geworden ist, wird durch jene frühe Version desselben wenigstens nahegelegt; möglicherweise ist ihm erst mit der Ausbildung seiner kritischen „subjekt-theoretischen“ Begründungsversuche auch die erforderliche Modifikation und Vertiefung dieses Terenz’schen Diktums bewusst geworden. Indes wird einer unsentimentalen kritischen Rezeption dieses „Ich bin ein Mensch. Alles was Menschen widerfährt, das trifft auch mich“, auch die Beunruhigung darüber nicht verborgen bleiben, dass bzw. inwiefern sich der Anspruch auf eine solche „teilnehmende“ Vorstellung geradewegs verbieten muss, zumal jede hierfür doch vorausgesetzte Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit aufgelöst ist – d. h. also: dies nicht nur Grenzen des Vorstellbaren berührt, sondern jedes nur irgend gemeinsame Maß der Erfahrung zerbrochen ist. Ohne die gebotene Sensibilität dafür verkommt dieses „Homo sum …“ zur bloß sentimental-gedankenlosen Floskel und verkehrt, infolge solcher Abstraktionen, seinen vermeintlich kritischen Anspruch geradewegs ins Gegenteil. Vor dem Hintergrund der maßgebenden Orientierung des „Weltbegriffs der Philosophie“ an dem, „was jedermann notwendig interessiert“, sowie der darin verankerten „Trauer“ als einer „praktischen Sinnkategorie“ bleibt mithin in besonderer Weise darauf zu achten, dass doch gerade in diesem geschichtsphilosophischen Kontext die jene „teilnehmende Vernunft“ auszeichnende „Sensibilität“ ebenso um ihre Unverzichtbarkeit und gleichermaßen um ihre Vergeblichkeit nicht nur weiß, sondern für einen solchen Anspruch „teilnehmender Vernunft“ – und zwar in durchaus „anerkennungstheoretischer“ Absicht – doch auch authentisch zur Geltung bringt, in jenen Opfern gerade nicht sich selbst „wiedererkennen“ zu können. Nur in einer derartigen „Brechung“, d. h. zugleich um die eigene Vergeblichkeit wissend, behält auch jenes „Homo sum …“ seinen kritischen Stachel und vermag die Sensibilität jener „teilnehmenden Vernunft“ vor einer besonderen Form eines geschichtsphilosophischen „Solipsismus“ bzw. vor bloß gedankenloser Erbaulichkeit zu bewahren. Nicht zuletzt darauf muss jene kritische Instanz der „Aufmerksamkeit“ als das „Bestreben, sich seiner Vorstellungen bewusst zu werden“ (VI 412), in besonderer Weise insistieren. In diesem erweiterten geschichtsphilosophischen Kontext fordert bzw. eröffnet Kants Version des „Homo sum …“ somit eine Neuakzentuierung, die in Aufnahme jener Idee der „Solidarität“ die „mitteilende“ und „teilnehmende Vernunft“ nun ebenso als erinnerungsgeleitete ausweist.312 Einer solchen Lesart des „Homo sum. Nihil humani a me alienum puto“ zufolge wird darin von Kant selbst offenbar nicht nur das Prinzip der „Solidarität“ als „der zur individuellen Gleichbehandlung komplementäre Gesichtspunkt“ angesprochen – verwurzelt „in der Erfahrung, dass einer für den Anderen einstehen muss, weil alle als Genossen an der Integrität ihres gemeinsamen Lebenszusammenhangs in derselben Weise interessiert sein müssen.“313 Indes, die aus jenem „Homo sum …“ gespeiste Sensibilität 312 Es wird sich noch zeigen: Dieses in dem „Alles, was Menschen widerfährt, trifft auch mich“ geforderte Interesse hat eine denkwürdige Entsprechung darin, dass allein dies auch jenes Interesse erlaubt, dem zufolge die „eigene Glückseligkeit“ als in dem „Hauptzwecke: der allgemeinen Glückseligkeit“ (II 709) „mitenthalten“ erhofft werden darf. 313 Habermas 1991b, 70. Dies wird durch Habermas’ Hinweis darauf im Grunde noch einmal bestätigt, dass die diskursethische Thematisierung der „auf das Wohl der in einer intersubjektiv geteilten Lebensform verschwisterten Genossen“ bezogenen „Solidarität“ als „Kehrseite von Gerechtigkeit“ (d. i. „ihrem Anderen“)
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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sowie die Irritation und Trauer über die „Irreversibilität vergangenen Leidens – jenes Unrecht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht“314 – weist auch noch über jenes von Kant geäußerte „Befremden“ hinaus und nötigt – gemäß der „system-sprengend“-korrigierenden „naturgeschichtlichen“ Absicht – dazu, das diesem Diktum innewohnende kritische Sinnpotenzial nun auch für diese geschichtsphilosophischen Bezüge einzuholen. Daraus wird erneut die kompromisslose Absage an alle „fortschritts-optimistischen“ cyklopischen Versuchungen vernehmbar – ungeachtet der in einer geschichtsphilosophischen Perspektive bezüglich der Idee des „Rechtsfortschrittes“ eröffneten und auch praktisch-notwendigen „tröstenden“ Perspektiven für ein auf das bloße Prinzip der „Selbsterhaltung“ und ihrer Selbstvergewisserung fixiertes abstraktes „Gattungssubjekt“.315 Unter diesen geschichtsphilosophischen Vorzeichen und mit Rücksicht auf das in jenem „Weltbegriff der Philosophie“ differenzierte „Interesse der Menschheit“ spricht deshalb vieles dafür, Kants Rekurs auf die „mit dem Interesse der Menschheit verwebten Begebenheiten“ (vgl. VI 361) mit seiner Version des „Homo sum …“ eng zu verknüpfen. So wird gleichwohl die Frage unabweislich, ob denn jenes (nicht gedankenlose) „Alles, was Menschen widerfährt, das trifft auch mich“ nicht auch als eine keineswegs periphere geschichtsphilosophische Akzentuierung dessen, „was jedermann notwendig interessiert“ (II 701), gelesen werden darf. Es wäre lediglich folgerichtig, wenn dies in einer geschichtsphilosophischen Zuschärfung auch noch einmal die unnachgiebige Forderung
(Habermas 1991b, 70; 73) doch „nicht das ganze Bedeutungspotenzial dessen einholen“ kann, „was die klassischen Ethiken einmal als heilsgeschichtliche oder kosmologische Gerechtigkeit gedacht haben. Die Solidarität, auf die sie baut, bleibt in die Grenzen irdischer Gerechtigkeit gebannt“ (Habermas 1991b, 73). 314 Habermas’ Hinweis (in seiner Bezugnahme auf die zwischen Benjamin und Horkheimer ausgetragene theologische Kontroverse), „Horkheimers berechtigte Skepsis“ gegen Benjamin dementiere „ja nicht den ohnmächtigen Impuls, am Unabänderlichen doch noch etwas zu ändern“ (Habermas 2001c, 25), lässt sich im Sinne des von ihm darin erkannten „wahre(n) Impuls(es) und dessen Ohnmacht“ ja auch mit einer geschichtsphilosophischen Akzentuierung seiner Idee der „Solidarität“ verbinden und steht so der hier vorgeschlagenen Lesart des kantischen Motivs des „Ich bin ein Mensch …“ – freilich in „religiös unmusikalischer“ Brechung – vermutlich gar nicht so fern. 315 Es sind diese an einer ungekürzten Idee der „Menschheit“ und an einem unverkürzten Verständnis dessen, „was jedermann notwendig interessiert“, orientierten Perspektiven, die auch eine behutsame geschichtsphilosophische Lesart des von Henrich eingemahnten Motivs eines „Denken(s) mit den Opfern“ nahelegen – gerade im Blick auf Kants Verweis auf die zu leistende „Kritik der Vernunft, der Geschichte und der historischen Schriften“: „Nun ist es wohl wahr, dass wir uns den Toten auch mit der Scheu des Respektes nähern müssen, die es uns verbietet, letzte Gedanken für sie nachzuholen oder ihnen zu imputieren. Aber diese Scheu ist doch kein Grund dafür, uns von ihnen abzukehren. … Erst indem wir unser Denken in einen besonnenen, aber auch bewegten Anschluss zu dem ihren bringen, gehen wir mit ihnen und mit ihrem Leben und Enden wirklich um. Und erst daraus verlöre die Rede von der Mahnung, die sie für uns und zum Frieden unserer Welt sind, ihre Leere, und man muss es wohl sagen, ihren Charakter, eine selbstbezogene Ausbeutung ihres Todes zu sein, die aus unserem eigenen Lebenswillen hervorgeht. Es sei nochmals auf andere Weise unterstrichen, dass dies alles sich aus dem Wesen der Philosophie selbst versteht. Sie geht auf Universalität und zugleich auf das, worin ein Leben, das immer einander widerstrebende Möglichkeiten und Tendenzen in sich hat, zu einer Klarheit von Bestand kommen kann. Seit Menschen eine Geschichte haben, schließt diese Universalität auch ein die Gemeinsamkeit und die Solidarität über die Zeiten hinweg. So haben wir Einsicht in die Bewegung und den möglichen Abschluss unseres eigenen Lebens im Blick auf alles zu suchen, was Menschen möglich war und wesentlich wurde“ (Henrich 1987, 92).
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
enthielte, „unsere Urteile an fremder Vernunft zu prüfen“, und sich dabei auch nicht mit jener „Einstimmung freier Bürger“ begnügen wollte (II 631), weil darüber hinaus doch erst die Orientierung an jener „allgemeinen Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“, dem „Interesse der Menschheit“ letztendlich genügt. Ebenso wenig ist freilich die in jenem „Homo sum …“ anklingende Ohnmacht dieses erinnerungs-geleiteten moralischen Impulses zu überhören bzw. zu überspielen, die so dazu führt, an dieser Schnittstelle von unabweislichen geschichtsphilosophisch Themen und religionsphilosophischen Anknüpfungspunkten noch einmal Kant und Benjamin miteinander ins Gespräch zu bringen. Dabei wird sich erneut bestätigen: Ist die in Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ im Vordergrund stehende geschichtsphilosophische Konzeption engstens mit maßgeblichen Perspektiven seiner späten Politischen Philosophie und Rechtsphilosophie verknüpft, so verweisen unübersehbare – gegenläufige – geschichtsphilosophische Perspektiven auf daran anschließende religionsphilosophische Themen.
4.2. W. Benjamins Forderung „Was nie geschrieben wurde, lesen“316 – im Blick auf den in der kantischen Idee der „Naturgeschichte“ maßgebenden kritischen „Leitfaden“ Demnach führt auch diese geschichtsphilosophisch situierte „naturgeschichtliche“ Perspektive vor Augen, dass die den „Weltbegriff der Philosophie“ auszeichnende Orientierung daran, „was jedermann notwendig interessiert“ (d. h. an den „wesentlichen und höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft“), durch jenes maßgebende Interesse der „späten Nachkommen“, „was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben“ (VI 50), ohne Verlust nicht abgedeckt werden kann, weil sich jene Forderung, „die Rechte der Menschheit herzustellen“, in dieser „weltbürgerlichen Perspektive“ auch auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain noch nicht erschöpft. Es hat sich schon gezeigt: Es ist ein dieses Motiv der „Naturgeschichte“ auszeichnendes „archäologisches Interesse“ der besonderen Art, dessen „Ent-Deckungen“ keineswegs auf bloße theoretische Neugier317 reduzierbar sind, sondern im Sinne jener 316 Benjamin zitiert Hofmannsthal: „Was nie geschrieben wurde, lesen“ – und bestimmt dies als die eigentliche Aufgabe des kritischen Historikers: „Der Leser, an den hier zu denken ist, ist der wahre Historiker“ (I.3., 1238; vgl. V.1., 524). Es wird sich zeigen: Eine an diesen Aufgaben orientierte kritische Geschichtskonzeption bzw. Geschichtsphilosophie käme so jenen Ansprüchen nahe, die Angehrn als Leitmotiv W. Benjamins versteht – nämlich die von ihm geforderte „Erinnerung an die Leiden der Unterdrückten und Gescheiterten, das Gedächtnis all dessen, was in der Geschichte ohne Spur geblieben und von ihr verdrängt worden ist. Nur von dieser Tiefenschicht her wird das erfasst, worum es in der Geschichte in Wahrheit geht: die Erinnerung an das vergessene Unrecht und unterdrückte Leiden hat subversive Kraft gegen die Verfestigung der Herrschaft und Repression. Leidenserinnerung und anamnetische Solidarität sind Weisen, Sinnloses in den Horizont sinnhafter Verständigung einzufügen und es weder nur abzuwehren oder zu rationalisieren noch in seiner Bild- und Sprachlosigkeit stehen zu lassen“ (Angehrn 2010, 326). 317 Vgl. VI 460: Die „Erwerbung einer Kenntnis, bloß ihrer Neuigkeit, Seltenheit und Verborgenheit halber, wird die Kuriosität genannt“, die sich als solche von „teilnehmender Vernunft“ und ihrem Interesse-Neh-
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Forderung, „die Erkenntnis der Menschheit mit der Moral“ zu verbinden, durchaus auf ein aus praktischer Vernunft gespeistes „Bedürfnis“ verweisen. Hier ist eine Nähe zu Benjamins Motiv „Was nie geschrieben wurde, lesen“ wohl besonders deutlich. Dieses „naturgeschichtliche“ Interesse lässt sich also nicht von einer „archäologischen“ Wissbegierde von der Art leiten, die für die „Archäologie der Natur“ maßgebend ist und „zu der die Natur selbst uns einladet und auffordert“ (V 549, Anm.); vielmehr beruht es allein auf dem in einem differenzierten Weltbegriff der Philosophie verankerten spezifischen „Interesse-Nehmen“ – einem „archäologischen Interesse“, demzufolge auch „Trauer“ in diesem geschichtsphilosophischen Kontext nicht preisgegeben werden darf, ohne sich jener Forderung, „die Erkenntnis der Menschheit mit der Moral zu verbinden“, zu verweigern. Dies impliziert jedenfalls nicht nur die geforderte Aufmerksamkeit dafür, dass andernfalls die maßgebende Perspektive („Leitfaden“) jener „späten Nachkommen“ allzu leicht auf eine Komplizenschaft mit jener „Geschichte der Sieger“ hinausläuft, d. h. sich unfreiwillig zu einem Handlanger jenes „Feindes“ macht, vor dem, einem berühmten Diktum Benjamins zufolge, „auch die Toten nicht sicher sein werden“.318 Denn, so hat sich erwiesen, auch der in jener Perspektive der „späten Nachkommen“ enthaltene erweiterte Gesichtspunkt, was „Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Rücksicht“ durchaus auch „geschadet“ haben, wird dieser gegenläufigen Perspektive Benjamins keinesfalls schon gerecht und verweist so erst auf den jene „naturgeschichtliche“ Perspektive leitenden Wahrnehmungs- und Entdeckungs-Sinn. Diese Überlegungen dürften in ihrer angezeigten kritisch-gegenläufigen Absicht noch einmal bestätigen, dass der von Kant unternommene Versuch, „Geschichte philosophisch zu denken“, auch der von H. Schweppenhäuser bei W. Benjamin diagnostizierten Perspektive in grundsätzlicher Hinsicht vermutlich gar nicht so fernsteht: „Das Wahrbild ist men grundsätzlich unterscheidet; jener „Erwerbung“ steht die von Kant dem „Weltbegriff der Philosophie“ zugedachte Beziehung aller „Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ (II 700) entgegen. 318 „Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört“ (Benjamin I.2., 695). – Zur Kritik Benjamins an der alle „Spielarten des Historismus“ kennzeichnenden Ausblendung der entscheidenden „Dimension des Gewesenseins“ und der damit einhergehenden Fixierung auf das „je Bestehende“, das „Triumphierende“ und damit „herrschend Gewordene“ vgl. Schweppenhäuser 1999. Vor dem Hintergrund der kantischen Idee der „Naturgeschichte“ verdient der pointierte Kommentar von H. Schweppenhäuser besondere Beachtung: „In allen [Spielarten des Historismus] wird, was Geschichte ist, um die entscheidende Dimension: das Gewesensein, verfehlt. Wenn der Historist sich vergegenwärtigen will, ‚wie es gewesen ist‘, tut er es nie anders als an dem, was blieb von dem, was einmal war; was sich erhielt und was erhalten ward. Er hält sich an das, was in der Geschichte nicht verschwand, also, entgegen ihrem Sinn, der Vergänglichkeit, gerade nicht verging; an das, was sich durchsetzte, überlebte, von Chronos nicht wie die eigenen Kinder verzehrt, sondern wie Chronos durch diese ewigen Opfer verewigt ist und gemästet. Woran er sich hält, ist, wie der darwinische ‚fittest in the struggle for life‘, der in diesem Kampf Sieger gebliebene; ist alles, was triumphierte – Inbegriff dessen, was je zuletzt und am Ende herrscht: das je Bestehende. Geschichtliches Verstehen ist das des herrschend Gewordenen und ist durch dieses selber herrschend geworden. Geschichte hat sich als ihr eigener schwer auf den geschichtlichen Menschen lastender Mythos erzeugt, erscheint als das kontinuierliche Band, die Kette des Immergleichen, des immer Herrschenden, und die Antwort auf die Frage, in was und in wen sich ‚der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt … lautet unweigerlich: in den Sieger‘“ (Schweppenhäuser 1999, 100 f ).
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
das durch keinen Schein mehr betrogene Innesein des ‚so ist es‘ in der unauflöslichen Verschränkung mit dem ‚das darf nicht sein‘: dem Impuls der Rettung. Sie sind so verschränkt, wie beim Untergehenden das Versinken mit der verzweifelten Kraft, die das Versinken mobilisiert. Dass aber das historische Opfer, ohne Rettung, unterging; dass zu seinem Untergang das geschichtliche Verdikt hinzukommt: das grausam automatische des ‚es geht weiter‘ – über Leichen hinweg –, und das absichtsvolle des siegenden Feinds, der noch das Andenken der Toten entstellt, schmäht und auslöscht – dies wirft die ganze Last der wirklichen Wahrheit, des ungeretteten Untergangs, auf den, der unter dieser Last sie artikulieren muss, sie anders nicht artikulieren kann. […] Im aufleuchtenden Feuer, das die Ungeretteten sichtbar macht und daran die Aufgabe der Rettung; im Feuer, das den historischen Schleier ihm wegzehrt, kann er die Instrumente formen, die aus einem vorüberhuschenden Bild eine gehärtete Konstruktion machen lassen.“319 Indes, ganz anders – ja geradezu gegensätzlich dazu – als die Natur selbst den „Archäologen der Natur“ und dessen leitende Interessen gleichsam zu einer „naturgeschichtlichen“ Perspektive im „Reich der Natur“ „einladet und auffordert“ (V 549, Anm.), wäre eine solche, nun geradezu unabweisbare „Aufforderung“ – von einer „Einladung“ wäre hier wohl nicht zu reden – auch von einer kritischer Geschichtsforschung immanenten „naturgeschichtlichen“ Perspektive zu erwarten. Dabei hätte freilich die kritische Besinnung darauf, „was man hier eigentlich wissen will und wissen soll“, erst den Nachweis zu erbringen, weshalb das darin maßgebende „erkenntnisleitende Interesse“ der „Archäologie der Geschichte“ auch nicht annähernd mit demjenigen einer „Archäologie der Natur“ (vgl. auch VI 501) vergleichbar wäre;320 infolgedessen könnte sich dieses auch nicht mit der Freilegung der „sprechenden Denkzeichen des Kunstzustandes aller Staaten“ und der Erhellung der „traurige(n) Merkmale vom Wechsel aller Dinge“ (VI 501) begnügen. Eine derartige, jenem „mikrologischen Blick“ zugemutete naturgeschichtliche „Nachforschungsgabe“ und „Wahrnehmung“ ist wohl auch eher mit einem „Auf-dieSpur-Kommen“ und „Auswittern“ von „gewissen Anzeigen“ (VI 542 f ) befasst, das sich freilich nicht einer „Naturgabe“, sondern dem „naturgeschichtlich“ inspirierten Interesse-Nehmen und dem Widerstand gegen einschlägige cyklopische Ignoranz verdankt.
319 Schweppenhäuser 1975, 10 f. Schweppenhäuser bezieht sich auf das in der vorigen Anmerkung angeführte berühmte Diktum Benjamins (in der VI. geschichtsphilosophischen These). Benjamins These: „So stark wie der destruktive Impuls, so stark ist in der echten Geschichtsschreibung der Impuls der Rettung“ (Benjamin I.3., 1241), indiziert die Leitideen einer solchen gegenläufigen „Geschichtsschreibung“ besonders deutlich und lässt sich wohl auch, wie hier versucht wird, als ein latentes Motiv Kants rekonstruieren. Seine in Refl. 1400 (AA XV, 610) geäußerte Frage bleibt in diesem Kontext jedenfalls sehr bedenkenswert und verlangt eine geschichtsphilosophische Explikation – nicht zuletzt im Sinne einer Kritik des leitenden „Geschichtsinteresses“: „Sind unsere Zeiten nicht ebenso mit Barbarei angesteckt. Die Ehre der Fürsten wird in ihrem Heldengeist gepriesen, und die Geschichtsschreiber sind immer noch lieber im Lager als dem Cabinett“; dies wäre freilich im Sinne Benjamins noch zu radikalisieren. 320 Es ist sehr aufschlussreich, dass in einer jüngst entdeckten Vorlesungsnachschrift offenbar „das Vorbild“ für Kants Rekurs auf die „Archäologie der Natur“ eruiert werden konnte, in der ausdrücklich von einer „archiologia physica und auch historica“ die Rede ist (Stark 2012, 109), wonach die „Archäologie … Zeugnisse aus der Vergangenheit der Menschen-Geschichte zu Tage“ befördert, d. h. erst „ans Licht bringt“.
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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Einer solchen kritischen „Archäologie der Geschichte“ fügt sich freilich nichts mehr zu einem lesbaren Text; gemäß ihrer in methodischer Hinsicht geradezu anti-teleologisch orientierten Erfahrung und einer ihr korrespondierenden kritischen „Erweiterung des Vernunftgebrauchs“ wird ihr vor allem daran gelegen sein, alle „evolutiv“ getönten Sinnstiftungen eben als solche zu entlarven. Jener „naturgeschichtlich“ inspirierte „Archäo loge“ wäre so wohl vornehmlich Sachwalter des Unabgegoltenen, Verstummten und Verschwiegenen und hätte als solcher eben dasjenige „Intelligible“ erst ans Licht zu bringen, was weder an den toten Ruinen der Vergangenheit noch an den Jahreszahlen selbst abzulesen ist. Benjamins Forderung, diesen „Jahreszahlen eine Physiognomik zu geben“, wäre dann wohl auch so zu verstehen und bliebe gerade in einer solchen geschichtsphilosophischen Akzentuierung noch jenem Anliegen Kants verpflichtet, „die Rechte der Menschheit herzustellen“ – und sei es auch gegenüber einer bloß „einäugigen“ Perspektive einer „allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. Auch darauf ist die in einer geschichtsphilosophischen Hinsicht provozierende Forderung Kants nunmehr auszudehnen, den je eigenen maß-gebenden „besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ und die darauf beruhenden „Ideen“ aus dem „Gesichtspunkt anderer“, mit „den Augen anderer“ zu beurteilen – das heißt aber: gegenüber „cyklopischer Bornierung und Ignoranz“321 sich wahr-nehmend nicht nur an dem unentfaltet Gebliebenen, an den nichtrealisierten Möglichkeiten, an den uneingelösten – gescheiterten und zunichte gemachten – Ansprüchen vergangener, stumm gebliebener und stumm gemachter „Gesichtspunkte der Weltbetrachtung“ zu orientieren,322 wobei jene beiläufige kantische Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ in diesem Kontext erneut besonderes Interesse verdient (s. u. II., 4.3.1.). Jedoch wäre das Interesse-Nehmen dieser „Idee der Naturgeschichte“ nicht nur auf das noch Unabgegoltene, das nicht zur Entfaltung Gekommene gerichtet, sondern da 321 Hier darf auch daran erinnert werden, dass Kant als „borniert, das Gegenteil von erweitert“, jenes Erkenntnisdefizit bzw. jene Denkungsart bezeichnet, die unfähig bzw. nicht willens ist, von den „subjektiven Privatbedingungen des Urteils“ abzusehen, d. h. „über sein eigenes Urteil“ zu reflektieren und solcherart auch „sich in den Standpunkt anderer“ zu versetzen, d. h. an „der Stelle jedes andern [zu] denken“ (V 390 f ). 322 Bemerkenswerterweise findet sich in Adornos geschichtsphilosophischen Vorlesungen ein (von Benjamin inspirierter) Passus über die „Negativität der Naturgeschichte“, die dort als Leitbild einer kritischen Geschichtsphilosophie fungiert und dieser kantischen Intention einer „eigentlichen Naturgeschichte“ – allerdings ohne Bezugnahme auf Kant – gleichwohl verblüffend nahe kommt: „Das Tiefste, was vielleicht Deutung dem Geist überhaupt verspricht, ist, dass sie uns dessen versichert, dass das, was ist, nicht das letzte ist, – oder vielmehr das ist, was nicht nur das ist, als was es sich gibt. Man könnte also sagen, dass die Negativität der Naturgeschichte – indem sie immer an den Phänomenen das aufdeckt, was sie gewesen sind, was sie geworden sind und in eins damit auch, was sie hätten werden können – die Möglichkeit der Phänomene festhält gegenüber dem bloßen Sein, das sie vertreten. Insofern ist in der Philosophie das deutende Verhalten eigentlich das Urbild eines utopischen Verhaltens zum Denken.“ (Adorno 2001, 194) Auch die Nähe dieser Motive zu Adornos Bezugnahme auf W. Benjamin in den „Minima Moralia“ (Nr. 98) ist unübersehbar. Adornos frühe Abhandlung über „Die Idee der Naturgeschichte“ (GS I, 345–365) ist hier nicht näher zu verfolgen. Auch wenn der vorliegende (von Kant ausgehende) Versuch mit Adornos Absicht übereinstimmt, „aus der geschichtsphilosophischen Problematik heraus den Begriff der Naturgeschichte zu entwickeln“ (ebd. 346), so weist dies zuletzt doch eindeutig in eine andere Richtung, wenngleich sie sich in dem zu der Idee einer „Weltgeschichte“ gegensinnigen Rekurs auf die „Geschichte als Leidensgeschichte der Welt“ (W. Benjamin) zweifellos berühren.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
rüber noch hinaus auf die Entrechteten, Marginalisierten, für „nichtig“ Erklärten selbst.323 Auch dies bestätigt die unverzichtbare Orientierung an jenen der praktischen Vernunft eingeschriebenen kritischen Instanzen „Gedächtnis, Erinnerung und Aufmerksamkeit“ sowie an den angeführten logisch-anthropologischen Bestimmungen für die in diesem geschichtsphilosophischen Problemkontext unabweisliche Aufgabe, vernunft-geleitet „Erscheinungen [die freilich selbst „Widerfahrnisse“ sind!] zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“. Dass diese Idee der „Naturgeschichte“ als Vernunftperspektive Erfahrungen erst ermöglicht, d. h. diese „lesbar“ macht, bedeutet hier vornehmlich doch gerade dies, das Dunkle, das Nicht-Lesbare als solches erst sichtbar zu machen. Auch jene Forderung Kants, „Moral … mit der Kenntnis der Menschheit“ (und umgekehrt ebenso unsere „Kenntnis der Menschheit mit Moral“) zu verbinden, fügt sich in Ansehung der von Kant betonten „zwei Zweige“ der „Kultur der Erkenntnisvermögen … Geschichte und Philosophie“ in eine bedeutsame geschichtsphilosophische Motivkonstellation; sie darf jedenfalls in einer kritischen Geschichtstheorie nicht ignoriert werden und verbindet darin das Motiv der „Naturgeschichte“ aufs Engste mit der geschichtsphilosophischen Kategorie des Erinnerns (als „Entbergen“ bzw. Widerstand gegen „Verbergen und Vergessen“). Dass die „Moral mit der Kenntnis der Menschheit verbunden werden“ muss, hätte so noch einmal eine besondere Gestalt bzw. Zielrichtung gefunden;324 nicht zuletzt zielte das sich darin artikulierende naturgeschichtliche Interesse in der Folge darauf ab, alles historisch-positive bloße „Wie-es-ist“ seiner Unwahrheit zu überführen. Dies gibt erst – vornehmlich jenem Motiv der „Rettung“ verpflichtet – dem praktischen Sinn der Geschichte als „Eingedenken“ seine besondere Gestalt und dient so der von der „Polizei der Vernunft“ geltend gemachten Perspektive, „zu retten, was gescheitert ist“ (W. Benjamin). In gebotener Beachtung des auch in manchen geschichtsphilosophischen Versionen auftretenden metaphysischen Motivs der „zweiten Fahrt“ und der darin maßgebenden Losung „Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an, beides ist in Wechselbestimmung“,325 wäre jene geschichtsphilosophisch gewendete „revolutionierte 323 Dies würde die leitende „Naturteleologie“-analoge gattungsgeschichtliche Perspektive der „Ideen …“ in kritischer Absicht durchbrechen und demgegenüber noch einmal einen besonderen gegenläufigen Aspekt zur Geltung bringen: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“ (VI 35). Nicht allein (oder auch nur primär) um diesbezügliche faktische Hindernisse und das Scheitern ist es in solcher geschichtsphilosophisch akzentuierten „naturgeschichtlichen“ Perspektive zu tun, sondern um die gewaltförmige, unrecht-geleitete Eliminierung der darin artikulierten Freiheitsansprüche; Fragen einer „authentischen Theodizee“ zielen über diese „naturgeschichtlich“ inspirierten Perspektiven zweifellos noch einmal hinaus (s. dazu u. Teil VI.). 324 Damit stünde diese Forderung aber auch in bemerkenswerter Nähe zu dem Benjamin’schen Anliegen, das St. Moses folgendermaßen charakterisiert: „Die ‚theologische‘ Bedeutung der späten Geschichtsphilosophie bei Benjamin ist gerade darin zu suchen, dass die Allmacht der historischen Wirklichkeit im Namen einer ethischen Forderung in Frage gestellt wird … Es sei die Aufgabe des Eingedenkens, schreibt Benjamin, ‚zu retten, was gescheitert ist‘, so wie die Erlösung für ihn nicht ein tangentiales Verhältnis zur Zukunft bezeichnet, sondern die gegenwärtige Möglichkeit, ‚zu vollenden, was uns vorenthalten worden ist‘“ (Moses 391 f ). 325 Es ist gerade die von Benjamin geforderte kritische Reflexion auf die von der Geschichtsschreibung „mitgebrachten“ Kategorien, die der von Hegel (in offensichtlicher Anlehnung an das platonische Motiv der „zweitbesten Fahrt“) angeführten Mahnung, dass „die Vernunft nicht schlafen“ dürfe, weil das „Wahrhafte … nicht auf der sinnlichen Oberfläche“ liege, und es dazu des „Auge(s) des Begriffs, der
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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Denkungsart“ in ihrem kritischen Orientierungs-Interesse ebenso gegenüber einseitigen Berufungen auf die „Vernünftigkeit des Wirklichen“ zur Geltung zu bringen. Näherhin bliebe solche „Denkungsart“ derart als jenes auch auf das geschichtsphilosophische Gebiet auszudehnende Verfahren zu legitimieren, das die im Strom der geschichtlichen Erscheinungen gesetzten Weichenstellungen bzw. die hierfür beanspruchten „logoi“ als solche relativiert bzw. das darin leitende Interesse erst ans Licht bringt – nicht zuletzt dann, wenn Letzteres doch durch ganz besondere „Abstraktionen“ bedingt ist und sich etwa allein auf die maßgebende Perspektive der „späten Nachkommen“ verpflichtet weiß. Demgemäß orientiert sich die in jener „revolutionierten „Denkungsart“ leitende Wahrnehmung unbeirrbar nicht zuletzt an der „inversen“ Ausschau nach denjenigen,326 die solchem verheißenen Ausblick geopfert oder als versunkene Opfer, gewissermaßen als unvermeidliches geschichtliches „Strandgut“, angeschwemmt und als solches „entsorgt“ wurden. Indes, gerade der hartnäckigen Aufmerksamkeit und der Sehschärfe jenes von der Philosophie eingesetzten „zweiten Auges“ ist es zuzuschreiben, dass diese Idee der „Naturgeschichte“ sich auch nicht bloß an dem „Zweckwidrigen“, „was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen gibt“ (VI 114), orientiert, sondern ein solches versunkenes „System“- und „Zweckwidriges“ doch erst wahrnehmbar macht und es sodann auch als „wahr“ nehmen lässt. Dass das Schwergewicht dieses geschichtlichen „mundus sensibilis“ nicht in den „universalgeschichtlichen“ bzw. gattungsgeschichtlichen Schatten des „mundus intelligibilis“ der menschlichen Gattung abgedrängt bzw. davon „sys tematisch“ restlos aufgezehrt wird, erweist sich mithin als ein unabweisliches Interesse einer solchen gegenläufigen geschichtsphilosophischen Perspektive. Jenes „zweite Auge der Philosophie“ muss geradezu auf der geschichtsphilosophischen Forderung einer „naturgeschichtlich“-gegenläufigen Lesart jener kantischen Kennzeichnung des „Intelligiblen“ insistieren – auf einer „Nötigung, Geschichte zu denken“ gewissermaßen, die gerade nicht nur „praktisch“ – d. h. „was durch Freiheit möglich“ (II 673) – ist, gleichwohl in „praktischer Vernunft“ verwurzelt bleibt. Dieses Motiv der „Naturgeschichte“ wäre demnach als die der geschichtsphilosophisch revolutionierten Denkungsart gemäße Umkehrung jener „zweiten Fahrt“ zu buchstabieren, das sich so freilich gewissermaßen an einem „umgekehrten“ Transzendieren der Erscheinungswelt orientiert und so wohl jener „Archäologie der Geschichte“ ihre besondere Blickrichtung und damit auch ihr spezifisches Profil gibt, sofern für diese geVernunft“ bedürfe, „das die Oberfläche durchdringt und sich durch die Mannigfaltigkeit des bunten Gewühls der Begebenheiten hindurchdringt“, geradezu eine Inversion abverlangt; dass, um „das Substanzielle zu erkennen, … man selber mit der Vernunft daran gehen“ müsse und eben dabei nicht „mit einseitigen [!] Reflexionen kommen“ dürfe, „denn die verunstalten [!] die Geschichte und entstehen aus falschen subjektiven Ansichten“, während für eine vernünftige Perspektive sich „das Geschehene … dem Begriff einfügen wird“ (Hegel 1955, 32), provoziert Benjamins Einspruch, aus dem sich das kritische Motiv der „Naturgeschichte“ speist. Hier wäre wohl die Notwendigkeit einer weiteren „Fahrt“ angezeigt, die den Weg zurück zu den „sinnlichen Erscheinungen“ antritt und deren Ansprüche gleichsam „rehabilitiert“. 326 Vielleicht darf man Benjamins Hinweis auf den „Dialektiker“ auch in diesem Sinne verstehen: „Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende“ (Benjamin 1983 I, 592; vgl. auch 591).
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
wissermaßen die Gegen-Idee einer „verkehrten [moralischen] Welt“ maßgebend wird. Infolgedessen stellt sich das aus diesem kritischen Bewusstsein gespeiste Sinnpotenzial gemeinsam mit jener den Prinzipien der praktischen Vernunft verpflichteten „Aufmerksamkeit“ auch allen schon erwähnten „einäugigen Versuchungen“ in den Weg, die diese Vernunftperspektive einer „moralischen Welt“ auf die Zukunftsperspektive und die ihr gemäße Zuversicht, „mit Grunde [zu] hoffen“ (VI 49), „in weltbürgerlicher Absicht“ einschränken wollen.327 Dies lässt es erneut als unumgänglich erscheinen, die Orientierung an jener der „pragmatischen Anthropologie“ zugehörigen Frage, „was der Mensch aus sich selber macht“, zu erweitern und sie solcherart auch geschichtsphilosophisch fruchtbar zu machen – denn nur auf diesem Weg ist die unverzichtbare Anbindung an die in der Idee einer „pragmatischen Anthropologie“ leitenden Fragen vollständig zu leisten.328 So bestätigt sich: Dass eine vernunftgeleitete Geschichtsperspektive die Idee der „Weltgeschichte“ als „Leitfaden apriori“ voraussetzt und so, gegenüber einem bloßen methodisch ungesicherten „Herumtappen“, „allein Erfahrung erst möglich macht“, kann dem Gesagten zufolge lediglich als eine erste, d. h. noch vorläufige Stufe einer geschichtsphilosophisch „revolutionierten Denkungsart“ gelten. Darüber hinaus bliebe gemäß jener angezeigten gegenläufigen Perspektive nunmehr eine zweite – im eigentlichen Sinne so zu nennende – „revolutionierte Denkungsart“ gebührend zu beachten bzw. erst zu etablieren. Offensichtlich käme dies durchaus – eben dem „mikrologischen Blick“ des „zweiten Auges der Philosophie“ und erst recht einer geschichtsphilosophischen Rezeption der Idee der „Naturgeschichte“ gemäß – jener Aufgabe bzw. Absicht entgegen, die Droysen bezüglich der „historischen Frage“ der „Historik“ zugeschrieben hat: „Die Heuristik schafft uns die Materialien zur historischen Arbeit herbei; sie ist die Bergmannskunst, zu finden und ans Licht zu holen, ‚die Arbeit unter der Erde‘“.329 Eine Geschichtsphilosophie hingegen, die auf das von dieser „naturgeschichtlichen“ Perspektive in kritischer Absicht dargebotene Gegenlicht und die daraus gespeiste „Kritik der historischen Vernunft“ verzichten wollte, würde damit geradewegs ihre eigenen aufklärungs-orientierten Impulse dementieren und wäre so wohl auch nicht dazu befähigt, jenes „im Ausgang von Kant“ angezeigte Programm einer „geschichtsphilosophisch“ akzentuierten Vernunftkritik zureichend einzulösen. Beharrt doch jener „naturgeschichtlich“ geschärfte „mikrologische Blick“ in seinem gegenläufigen Interesse an Aufklärung gewis327 Kant steht so dem nüchternen Befund des Predigers Salomo durchaus nahe: „Man gedenkt derer nicht, die zuvor gewesen sind; also auch derer, so hernach kommen, wird man nicht gedenken bei denen, die darnach sein werden“ (Kohelet 1, 11). Genau darauf zielt ja auch das von M. Brumlik artikulierte religionsphilosophische Motiv einer „Gerechtigkeit jenseits der Gräber“ ab (Brumlik 2001, 199). 328 Auf die innere Einheit von „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ und „Geschichte“ hat Kant selbst ausdrücklich hingewiesen: „Aber die Anthropologie wird auch wieder durch die Geschichte erweitert und mit neuen Bemerkungen erläutert. Denn aus der Geschichte kann ich die Beispiele nehmen und so sind beide Wissenschaften wechselweise miteinander verbunden“ (Vorlesung Mrongovius 4, zit. n. Brandt 1999, 85). 329 Droysen 1977, § 20, 426. Auch für Droysens Forderung finden sich in diesem Kapitel durchaus Anhaltspunkte: „Uns täte ein Kant not, der … das theoretische und praktische Verhalten zu und in der Geschichte kritisch durchmusterte“ (ebd. 378). Kants Kennzeichnung des „Praktischen“ als dasjenige, „was durch Freiheit möglich ist“, müsste in diesem Kontext einen erweiterten Sinn gewinnen.
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sermaßen auf seiner Tiefenwahrnehmung, die sich als notwendiges Korrektiv gegenüber einer methodisch dominanten „Erkenntnis, die aufs Große, d. i. Ganze im Gebrauch des Verstandes [!] geht“ (III 475), zur Geltung bringt; andernfalls wäre freilich auch nicht weniger als das „Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist“ (II 672), verraten. Ganz im Sinne dieser gegenläufigen Geschichtsperspektiven und des hierfür maßgebenden Interesses und Leitfadens wäre nunmehr zu sagen: Ohne dieses geschichtsphilosophisch gewendete Motiv der „Naturgeschichte“ blieben auf der von Kant selbst in Aussicht gestellten „große(n) Karte des menschlichen Geschlechts“330 unausbleiblich weit ausgedehnte „weiße Flecken“. Dieser besondere anthropologische Aspekt, was „die Natur aus dem Menschen“ und dieser „aus sich selber macht“, markiert demnach auch den geschichtsphilosophischen Ort der „Naturgeschichte“ innerhalb der unverkürzten Idee der „Welt“-Geschichte und muss so einen bemerkenswerten Stellenwert für dieses „naturgeschichtliche“ Motiv der „durch alle Zeiten erlittenen“ Veränderungen gewinnen. Sie widersetzt sich damit unnachgiebig der von Schiller empfohlenen universalgeschichtlichen Perspektive und dem ihr „zu Hilfe kommenden Verstand“: „So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand [!] zu Hülfe, und, indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen“.331 Genau ein solches „Zu-Hilfe-kommen-Wollen“ entlarvt jenes „zweite Auge der Philosophie“ gegebenenfalls als willfähriges Instrument geschichtsphilosophischer Ideologie. Grundsätzlich recht ähnlich bzw. durchaus im Sinne jener von W. Benjamin dem kritischen Historiker zugedachten Aufgabe, „was nie geschrieben wurde, lesen“, fiele diesem geschichtsphilosophischen Motiv der „Naturgeschichte“ mithin die Wahrnehmung und Verantwortung dafür zu, was mit dem „Geschehenen“ geschieht, und somit auch dies, gegenüber jenem allzu bereitwillig „zu Hilfe kommenden [ordnenden] Verstand“ auch die kritische „Gesetzgebung“ der „historischen Vernunft“ zur Geltung zu bringen. Demgemäß hätte ein solches „naturgeschichtliches Interesse“ auch dem der „reinen Vernunft“ „tief Verborgenen“ nachzuspüren (VI 241); ebenso hätte sie die „durch künstliche Bindungsglieder verketteten“, zum geschichtlichen Text gewaltsam zusammengefügten Aggregate – mit Hilfe der unentbehrlichen Aufmerksamkeit als das „Bestreben“, „sich 330 In geschichtsphilosophischer Modifikation liegt hier eine Anknüpfung an die vom frühen Kant erwähnte Disziplin der „moralischen Geographie“ nahe, wird diese doch in ihrer Zielsetzung selbst ein integraler Teil einer Geschichtsphilosophie: Sie betrachtet „den Menschen nach der Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Eigenschaften und dem Unterschiede desjenigen, was an ihm moralisch ist, auf der ganzen Erde; eine sehr wichtige und eben so reizende Betrachtung, ohne welche man schwerlich allgemeine Urteile vom Menschen fällen kann, und wo die unter einander und mit dem moralischen Zustande älterer Zeiten geschehene Vergleichung uns eine große Karte des menschlichen Geschlechts vor Augen legt“ (I 916). 331 Schiller 1922, Bd. VIII, 25 f. Dieser Rekurs auf einen „zu Hilfe kommenden philosophischen [!] Verstand“ ist überaus bezeichnend (besser wohl: auch verräterisch): Wogegen kommt denn da der „Verstand zu Hilfe“, und was ist eigentlich das „Philosophische“ an ihm – und provoziert nicht eben dies den Einspruch „kritischer Vernunft“ in der „Kritik der historischen Schriften“? Es ist kritische Vernunft, die diesen „zu Hilfe kommenden Verstand“ unterbricht und gleichsam „zur Rede stellt“.
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seiner Vorstellungen bewußt zu werden“ (VI 412; s. o. II., 2.1.1.) – in dekonstruierender Absicht auch wiederum in jene „petites perceptions“ buchstabierend aufzulösen, auf die, in denkwürdiger Weise, vermutlich auch Benjamins Absicht verweist, „das Bild der Geschichte in den unscheinbarsten Fixierungen des Daseins, seinen Abfällen gleichsam, festzuhalten“332: Eine kritische (im buchstäblichen Sinne) „Errungenschaft“, die im Widerstand gegen die fortschrittsfixierten naturwüchsigen Tendenzen und Idole der Gattung in der Tat erst „abgerungen“ und in naturgeschichtlicher Sensibilität „er-innert“ werden muss. Keinesfalls wären, so hatte sich schon gezeigt, also bloß die im geschichtlichen Gedächtnis vorhandenen Daten nach den maßgebenden Kriterien zu komponieren; vielmehr wären am Leitfaden der – durch die der „Weltweisheit“ eingeschriebenen „negativen Größen“ erweiterten – Maßstäbe praktischer Vernunft erst einmal die angezeigten gegenläufigen Suchbewegungen zu initiieren. Jene kritische Idee der „Naturgeschichte“ verdankte sich demzufolge ebenso wenig einem „glücklichen Einfall“, sondern hätte wohl eher die kritisch-methodische Aufgabe, ein Geschichtsdenken vor dem allzu „sicheren Gang einer Wissenschaft“ zu bewahren bzw. diese zu unterbrechen; nicht zuletzt bedeutet dies auch: das hierfür „geliehene Licht des Verstandes“ auf seine Quellen und Reichweite hin zu prüfen und damit auch einen subtilen geschichtsphilosophischen „Dogmatismus“ zu vermeiden. Das einer solchen geschichtsphilosophischen Applikation jener Idee der „Naturgeschichte“ innewohnende kritische Potenzial verdankt sich geradezu dem skeptischen Misstrauen und dem unbeirrbaren Einspruch gegen jenen in Aussicht gestellten „weitreichenden Blick“ des Universalhistorikers und dessen Vorhaben, „das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ zu fügen und „alles um sich herum seiner eigenen [sic!] vernünftigen Natur zu assimilieren und jede ihm vorkommende Erscheinung zu der höchsten Wirkung, die er erkannt, zum Gedanken zu erheben“. Vor allem bedarf dieser für die Idee der „Naturgeschichte“ konstitutive „mikrologische Blick“ jener besonderen „Aufmerksamkeit“ dafür, dass all jenes derart „um sich herum seiner eigenen vernünftigen Natur“ Assimilierte durch die erwähnte Rücksicht auf „notwendige fremde Erfahrung“ stets schon gebrochen sein muss. Dieser einer „aufgeklärten“ Orientierung am „Gesichtspunkte anderer Menschen“ verpflichtete „mikrologische Blick“ jenes „zweiten Auges der Philosophie“ wird deshalb ebenso unnachgiebig auch noch den Überredungsversuch jener „wohltätigen Begeisterung“ verbieten, sich einer bloß „gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge [zu] entwöhnen [!]“. Gerade das Ansinnen, solche „Entwöhnung“ zugunsten einer angeblich „dem Verstande höhere Befriedigung und dem Herzen größere Glückseligkeit“ verheißenden, weil „das große Gemälde der Zeiten und Völker auseinander“ breitenden („durchwandernden“) Einfühlung zu leisten, ist in besonderer Weise jener kritischen „Aufmerksamkeit“ aus332 So Benjamin in seinem Brief an G. Scholem: Benjamin 1983 II, 1137. – Vgl. Benjamins Bild: „Will man die Geschichte als einen Text betrachten, dann gilt von ihr, was ein neuerer Autor von literarischen sagt: die Vergangenheit habe in ihnen Bilder niedergelegt, die man denen vergleichen könne, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden. ‚Nur die Zukunft hat Entwickler zur Verfügung, die stark genug sind, um das Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu lassen‘“ (Benjamin I.3, 1238).
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gesetzt. Der unbeirrbare Widerstand derselben richtet sich wohl vor allem – ungeachtet des darin zutage tretenden zukunfts- und fortschrittsorientierten Freiheitspathos – auf die gegen jene „gemeine und kleinliche Ansicht“ aufgebotene bzw. in Aussicht gestellte Gewöhnung daran, „sich mit der ganzen Vergangenheit zusammenzufassen“, die so dieselbe „unter dem geliehenen Lichte des [zu Hilfe [!] kommenden] Verstandes … eine so heitre Gestalt … gewinnen“ lässt333. Gegen eine hierfür „aus sich herausgenommene [!] Harmonie“ und ein daraus der „Weltgeschichte“ eingeschriebenes „teleologisches Prinzip“ (ebd.) entlarvt jener „mikrologische Blick“ selbst das für solche Gewöhnung – aus welchen Quellen? – „geliehene Licht des Verstandes“ als ein solches, dessen fragwürdiger „Schein“ sich stillschweigend einem subsumierenden „Bewältigen“ der Vielzahl der Phänomene dienstbar macht – offenbar einem (sei es auch kollektiven) „partikulären“ Interesse folgend, für dessen Orientierungshorizont bzw. Bezugsgröße bei Schiller die „bürgerliche Gesellschaft“334 maßgebend ist. Es ist wiederum jenes unbestechliche „zweite Auge“ der Philosophie, das sich von jenem „geliehenen Lichte des zu Hilfe kommenden Verstandes“ weder blenden noch sich von dem darin bestimmenden Interesse überwältigen lässt; es löst damit auch jene – ohnehin nicht ohne Gewaltsamkeit und List „künstlich“ geschmiedete – „lange Kette von Begebenheiten“ auf, die sich unverkennbar – und in geradezu überwältigender Weise – gerade auch in Schillers universalgeschichtlicher Perspektive (in der berühmten Antrittsrede „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“)335 als bestimmend erweist. Dies rückt demzufolge die unnachgiebige geschichtsphilosophische Forderung ins Blickfeld, jener maßgebenden Orientierung an der „Rechtsidee“ als „Augapfel Gottes“, an dem „höchsten Gut auf Erden“ und dem „Rechtsfortschritt“, auch eine gegenläufige Lesart an die Seite zu stellen. Dass derlei Prüfung wohl auch manch fragwürdige Beantwortung der Frage „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ wie auch andere bedenkliche Reflexionen „über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ und die darin maßgebenden „erkenntnisleitenden Interessen“ erst ans Licht bringt, entspräche so lediglich einer über sich selbst aufgeklärten Geschichtsphilosophie. Dem universalgeschichtlichen Interesse und seinem idol-geleiteten „Assimilierungsbedarf“ und Erfahrungsbegriff entgegenzuwirken, jene darin „zum Gedanken“ erhobenen „vorkommenden Erscheinungen“ noch einmal mit den unsichtbar gebliebenen bzw. gemachten bloßen „phaenomena“ (als jenen „notwendigen fremden Erfahrungen“) zu konfrontieren und die „langen Ketten von Begebenheiten“ sowie die daraus universalgeschichtlich erwachsenen „heitren Gestalten“ aufzubrechen: Vornehmlich darauf wäre 333 Schiller 1922, VIII 27 f (hier alle zuletzt angeführten Zitate). 334 Vgl. Rüsen 1993, 139 ff. „Nach Schiller nimmt der Historiker diese Harmonie [eines Sinnzusammenhanges] aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d. i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte … Das bürgerliche Ich prägt die univeralgeschichtliche Signatur der historischen Erfahrung und empfängt zugleich von ihr eine zeitliche Konsistenz, seinen Rückhalt in der Vergangenheit beim weltbemächtigenden Ausgriff in die Zukunft“ (ebd. 143 f ). 335 Schiller 1922, VIII 9 ff.
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wohl das besondere Augenmerk dieser in einer geschichtsphilosophischen Perspektive rezipierten Idee der „Naturgeschichte“ gerichtet. Sie ist gleichermaßen in dem der „Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft“ verpflichteten „zweiten Auge“ der Philosophie begründet und bewahrt die menschliche Vernunft solcherart auch auf diesem geschichtsphilosophischen Boden vor „Idolen der Gattung“ und ihren (Selbst-)Täuschungen, die sich sowohl in jenen Verlockungen einer „pragmatischen Geschichte“ und ihren bequemen Maßstäben als auch in universalgeschichtlichen Konzeptionen widerspiegeln. Für diese an Maßstäben praktischer Vernunft orientierten Suchbewegungen erweist sich ein (in näher zu differenzierenden „moralischen Ideen“ begründetes) „Interesse der Vernunft“ (V 368) und dessen Leuchtkraft als erkenntnisleitend,336 das so erst den zu jener „heitren Gestalt“ geronnenen ruhig-gleichförmigen Fluss glückseligkeitsbedachter Narrative in unbeirrbarer Widerständigkeit zu unterbrechen vermag. Auch darin bleibt also die kritische Einsicht leitend, dass Gegenwärtiges, „wie es ist“, sich doch allein aus der Freilegung seines „Gewordenseins“ – und d. h. allemal: der damit verbundenen Aufmerksamkeit des „mikrologischen Blicks“ für das Unterdrückte, Marginalisierte – erschließt; nur so ist auch das Gedächtnis mit dem Vergangenen nicht durch „künstliche Bindungsglieder verkettet“, sondern in dem aufmerksamkeits-geleiteten „Eingedenken“ verbunden. Es ist also, dem Gesagten zufolge, vornehmlich dieses kritische Motiv der „Naturgeschichte“ selbst, das die kontinuitätsstiftend-„organisierenden“ Tendenzen der universalgeschichtlichen Konstruktionen und das in die „Weltgeschichte“ eingebrachte „teleologische Schema“ (dessen eng gewobene Fäden) auflöst. Gewiss muss dies erst recht jene gemüts-erhebende Perspektive bzw. den allzu harmonischen Ausblick auf das „ebenso lehrreiche als unterhaltende Schauspiel“ irritieren, wonach die „Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel … in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist“.337 Einer 336 In eine solche Richtung weist offenbar Horkheimers (vermutlich von Benjamin inspirierte) Notiz „Mit offenen Augen“ (Horkheimer 1974, 193) zu dem dort erwähnten unlöslichen Zusammenhang von „Glück und Wahrheit“ und „Wahrheit und Trauer“; vgl. dazu den „religionsphilosophischen Ausblick“ (s. u. II., 4.3.). Sie steht damit unverkennbar einem zentralen Motiv der „Trauer-Arbeit“ von Liebsch besonders nahe: „Am Gedanken der Rettung verzweifelt die exzessive Trauer gewiss nicht aufgrund einer melancholischen Trägheit des Herzens, sondern angesichts der Evidenz des Nichtwiedergutzumachenden. Es scheint zweifelhaft, ob sich die oft beschworene Zukunft der Geschichte überhaupt schon der Kraft dieser Trauer gestellt hat. Tragisch wäre es allerdings, würde sie nicht mehr kraft der Trauer zu einer kritischen Wendung gegen eine indifferent weitergehende Geschichte inspiriert, die über jeden noch so einschneidenden Verlust gleichgültig hinweggeht. So gesehen könnte der Versuch, die Trauer bzw. die ihr vorausliegende Affizierbarkeit durch maßlosen Verlust (selbst wenn er Andere heimsucht) in der vorgeschlagenen Weise zu bejahen, um ihr Einspruchspotenzial zu retten, beidem: der Trauer und der Geschichte zugute kommen“ (Liebsch 2006, 18 f ). Es sind die von Liebsch eigens ausgewiesenen „Ansatzpunkte einer Philosophie der Trauer“ (ebd. 101 ff ) und seine Forderung eines „psychologisch unreduzierbaren Begriff(s) des Sinns der Trauer“ (ebd. 107), die Suche nach einer „Ethik der Trauer“, ferner eine Bestimmung derselben „als Gewissen der Geschichte“ (109–160, bes. 120 ff, 147 ff ), die eine Anknüpfung an die in Kants „Weltbegriff der Philosophie“ leitende Rücksicht darauf, „was jedermann notwendig interessiert“, in mehrfacher Hinsicht besonders nahelegen. 337 Schiller, 1922, VIII 15.
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solchen universalgeschichtlichen Strategie macht dieses naturgeschichtliche Interesse – in geradezu buchstäblichem Sinne – einen Strich durch die „Rechnung“;338 es ist dessen Wahrnehmung, die jenes „künstliche verkettete“ Vergangene in der angezeigten Weise (im Sinne Benjamins) vor die Gegenwart „zitiert“. Im entschiedenen Widerstand gegen jene maßgebende „universalgeschichtliche“ Logik und historische „Logistik“, Vergangenes zur gewissermaßen „zuwachsenden“ Vorgeschichte zu organisieren, insistiert dieser hier geschichtsphilosophisch orientierte „naturgeschichtliche“ Blick eben darauf, diese „universalgeschichtlichen“ Leitperspektiven und „Organisationsformen“ dem unbestechlichen Urteil jenes „Gerichtshofs der Vernunft“ auszusetzen und so mit der Zumutung eines gegenläufigen „Gesichtspunktes“ zu konfrontieren. Regt sich der kritische naturgeschichtliche Widerstand doch nicht zuletzt gegen die gewaltsame Verdeckung von Bruchstellen in dem bestimmten Sinne, dass Vergangenes nicht in und durch das Gegenwärtige verblassen darf. So bestätigt sich erneut, dass bzw. weshalb auch die erweiterte Orientierung jener „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, was „Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geschadet haben“, angesichts der „Last der Geschichte“, mitnichten an die in dieser „naturgeschichtlichen Perspektive“ maßgebende opferzentrierte Perspektive und an das in deren „Entdeckungen“ leitende Interesse heranzureichen vermag. Anknüpfend an die früheren Überlegungen zu einer geschichtsphilosophisch „revolutionierten Denkungsart“ erweist sich nunmehr, dass dieses geschichtsphilosophisch eingebundene Motiv der „Naturgeschichte“ der Sache nach in engem Zusammenhang mit einem geschichtsphilosophisch erweiterten „Gerichtshof der Vernunft“ steht, ja darin eine unentbehrliche Funktion übernimmt: Denn, so hat sich schon gezeigt, die wohl radikalste Kritik der historischen Schriften speist sich ebenso aus dem wachsamen Misstrauen und dem unbezwingbaren Widerstand gegen jene besondere Art von Vor-Urteilen, die sich von den verführerischen Trugbildern einer „Zweckmäßigkeit der Geschichte für unser Erkenntnisvermögen“ und gleichermaßen von einer „systematischen Ordnung (wie sie unser Denken postuliert)“, blenden lassen. Wenn die Orientierung an der Vernunft-„Idee der Menschheit“ selbst jenem Interesse der Vernunft an sich selbst – d. i. an ihrer „Selbsterhaltung“ – geschuldet ist, so zielt dieses Motiv der „Naturgeschichte“ selbst auf die Entlarvung all jener mehr oder weniger heimlichen Versuche, die, sei es auch in Berufung auf die Vernunft selbst, geschichtsphilosophische Vernunftperspektiven in partikuläre Verstandesperspektiven verkehren und sich dabei heimlich jener – offenbar tief in den „idola des Stammes“ verwurzelten und auf eine Halbierung der Geschichte hinauslaufenden – Losung des „Vorwärts, über Gräber hinweg!“ unterwerfen. Allein so vermag es – in Ab-
338 Für ein solches, näherhin gleichsam an der mathematischen Operation des Kürzens von Brüchen orientiertes Geschichtsdenken steht Kant gewiss nicht zur Verfügung. Schon sein „Befremden“ und jene nicht zu nivellierende Differenz zwischen der „Geschichte der Gattung“ und der „Geschichte der Menschen“ machen deutlich, dass es dieser Vernunftperspektive zufolge keine „Amortisierung des Sterbens“ bzw. der „Opfer“ durch eine in Aussicht gestellte „strahlende kollektive Zukunft“ geben darf (Liebsch 2006, 120; 125). Die Ansprüche der „allgemeinen Menschenvernunft, worin jeder seine [sic!] Stimme hat“ (II 640), leisten dagegen unbeirrbaren Widerstand.
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wehr einer „Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung“ (VI 362)339 – die geschichtlichen Akteure dieses Kampfes für das „Vernünftigerwerden“ der Verhältnisse und deren Leid vor ihrer gewissermaßen „evolutions-(eschato)logisch“ legitimierten Instrumentalisierung zu bewahren, die den Menschen als „Zweck an sich selbst“ zum geschichtlichen Material, zum bloßen „Mittel für andere Zwecke“, verkehrt und entwürdigt.340 Gegenüber den auf diese maßgebende Logik eingeschworenen Interessenlagen und einschlägigen Versuchungen hat eben schon jener von Kant eingesetzte – nunmehr freilich geschichtsphilosophisch akzentuierte – „Gerichtshof der Vernunft“ seinen unnachgiebigen Einspruch erhoben – und zwar im unbeugsamen Widerstand gegen einäugigutopische, sich „monumentalistisch“ gebärdende Verstandesperspektiven und die daraus resultierende naturwüchsige Kontinuität jenes „Vorwärts, über Gräber hinweg!“. Umso weniger wird sich der auf das geschichtsphilosophische Gebiet ausgedehnte „Gerichtshof der Vernunft“, mit Unterstützung dieses „naturgeschichtlichen“ Motivs, durch die in Aussicht gestellte tröstende Auskunft besänftigen lassen, dass „eine kosmopolitische Anlage in der Menschengattung selbst unter allen Kriegen sei [,] welche der selbstsüchtigen [Anlage] der Völker allmählich im Lauf politischer Angelegenheiten den Lauf abgewinnt“ (VI 680, Anm.). Vorrangig im Blick darauf sollte sich die hier empfohlene Blickwendung auf diese (bei Kant nur beiläufig eingeführte bzw. ganz untergeordnete) Idee der „Naturgeschichte“ und das ihr gleichwohl innewohnende kritische geschichtsphilosophische Potenzial für diesen „Gerichtshof der Vernunft“ als unverzichtbar erweisen; auch dies bestätigt, dass die Idee einer „Naturgeschichte“ jedenfalls auch auf diesem geschichtsphilosophischen Terrain eine besondere heuristische Herausforderung für eine von praktischen Vernunftprinzipien geleitete Urteilskraft darstellt. Der kritisch-gegenläufige Sinn dieser „Gegen-Idee“ der „Naturgeschichte“ und die daran geknüpfte nochmalige Erinnerung an Kants Auffassung: „Alle Kultur der Erkenntnisvermögen teilt sich in zwei Zweige auf: Geschichte und Philosophie“,341 provozieren in diesem geschichtsphilosophischen Kontext freilich auch den Einspruch gegen Wittgensteins These: „Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts. – Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären. Denn, was etwa verborgen ist, interessiert uns nicht.“ Ganz im Gegenteil – denn insbesondere an diesem „Verborgenen“ 339 Diese „Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung“ nötigt zu einer geschichtsphilosophischen Lesart: „Für die Allgewalt der Natur, oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit. Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen und als eine solche behandeln, indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegeneinander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, – das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst“ (VI 362). 340 Nun ist freilich nicht zu übersehen, dass der späte Kant (AA XXI, 346) einen Gedanken erwog, der grundsätzlich in diese Richtung weist und deshalb bemerkenswerterweise auch dem von ihm selbst geäußerten „Befremden“ ausgesetzt bliebe: „Es ist ein Leben des Menschen nach dem Tode. Denn die Natur hat als organisiert ein Gesetz der Beharrlichkeit der menschlichen Species so daß diese bleibt obgleich die Individuen durch Zeugungen wechseln, so daß sie sich einander auch ihre Geschichte mitteilen zum Teil in Vollkommenheit weiter fortrücken (der Species nach) und so auch nach jedes seinem Tode dennoch das Bewusstsein [!] der Species übrig bleibt.“ 341 AA XXI, 115.
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nimmt jene ins Spiel gebrachte gegenläufige geschichtsphilosophische Perspektive vielmehr ein vorrangiges Interesse, ist ihrer kritischen Absicht (um noch ein weiteres Diktum Wittgensteins in diesen geschichtsphilosophischen Bezügen zu variieren) doch ganz besonders an dem „Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck“342 gelegen. Solch eine der Aufklärung verpflichtete „Disziplin der Vernunft“ wird ihre Zustimmung343 diesbezüglich wohl entschieden verweigern müssen; gemäß der dieser gegenläufigen geschichtsphilosophischen Perspektive verdankten Sinnintention muss eine so orientierte kritische Geschichtsphilosophie bzw. das ihr eingewobene „naturgeschichtliche Motiv“ sich erst recht weigern, alles zu lassen, „wie es ist“. Vor dem Hintergrund dieser „universalgeschichtlichen“ Perspektiven bestätigt sich eine besondere Affinität von Kants geschichtsphilosophisch eingebundenem Motiv der „Naturgeschichte“ zu einschlägigen Erwägungen W. Benjamins über die „Nötigung, Geschichte philosophisch zu denken“ – auch im Blick auf die kantische Forderung, „Moral mit der Kenntnis der Menschheit zu verbinden“, und die darin implizierte Weigerung, „alles zu lassen, wie es ist“. Nicht zuletzt im Einspruch dagegen stimmt Kants Motiv der „Naturgeschichte“ mit Benjamins Vorhaben, „Geschichte aus dem Abfall von Geschichte“ zu machen, überein. 4.2.1. Das geschichtsphilosophisch situierte kantische Motiv der „Naturgeschichte“ und W. Benjamins Programm, „Geschichte aus dem Abfall von Geschichte“ zu machen In der Tat: Die Stoßrichtung einer solchen geschichtsphilosophisch akzentuierten „naturgeschichtlichen“ Perspektive hätte in Benjamins subversiv-revolutionärer geschichtsphilosophischer These wohl eine prägnante Formel gefunden, die jenes von Kant geäußerte „Befremden“ freilich noch unüberhörbar verschärft: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten … Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“344 Es spricht wohl vieles dafür, in der in einer ge342 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 126; § 127. 343 Im Sinne einer solchen geschichtstheoretisch ‚revolutionierten Denkungsart‘ ist Schweppenhäusers Anliegen auch als ein latentes Sinnpotenzial des kantischen Geschichtsdenkens zu rekonstruieren, das verdeutlichen soll: „Der mächtigste Verbündete historischer Vergegenwärtigung ist die geschichtsmordende mechanische Naturzeit: der säkulare Erbe des Kronos, der die eigenen Kinder vertilgt. Willfährigkeit gegen diesen Verbündeten, nicht Empörung über das Bündnis zeichnet die Geschichtserkenntnis aus, seit memoria eine Instanz im Erkenntnisapparat bildet und ihren Stoff nach seinen Erfordernissen modelt. Gegen memoria richtet Benjamin sein memento auf; dagegen, daß sie mit dem Namen der Geschichte sich legitimiert, an den doch das Eingedenken Anspruch hat, und mit ihm der Protest wider die Gewalt des Verschwindens, die bloßes Gedächtnis mit der zusammengebrachten Masse des Verschwundenen besiegelt“ (Schweppenhäuser 1975, 7). 344 Benjamin I.3., 1241. Damit geht Benjamin über die von Horkheimer dem „Historiker als Retter“ zugedachte Aufgabe, „das Entschwundene im Gedächtnis zu bewahren“, offenbar noch hinaus. – Die zwischen Benjamin und Horkheimer ausgetragene Kontroverse um die „Unabgeschlossenheit des Vergangenen“ ist hier nicht zu verfolgen; es sei lediglich darauf hingewiesen, dass noch der späte Horkheimer von den diese Diskussion mit Benjamin bestimmenden Themen beeinflusst war und un-
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schichtsphilosophischen Hinsicht rezipierten Unterscheidung zwischen „Naturbeschreibung“ und „Naturgeschichte“ auch Benjamins kritischen Hinweis auf das „Verhältnis von historischer Kontemplation und historischer Konstruktion“345 wiederzuerkennen und unter einem solchen Gesichtspunkt sodann seine Forderung aufzunehmen: „Geschichte hat nicht nur die Aufgabe, der Tradition der Unterdrückten habhaft zu werden, sondern auch sie zu stiften.“346 Eine geschichtsphilosophische Rezeption der kantischen Idee der „Naturgeschichte“ und deren Orientierung an „unwesentlichen phaenomena“ (an „bloßen Erscheinungen“ gleichsam) kommt deshalb zweifellos erst recht der programmaverkennbar auch zu einer affirmative Einschätzung derselben gelangte. – Als Alternative bzw. Ausweg zu dem (vom frühen Horkheimer verworfenen) theologischen Motiv Benjamins von der „messianischen Kraft“ sieht bzw. empfiehlt Honneth bemerkenswerterweise eine Lesart, die Benjamins Motiv in bemerkenswerte Nähe zu jenem naturgeschichtlichen Motiv Kants rückt: „Der zweite Weg hingegen führt zu dem Versuch, den Gedanken einer ‚messianischen Kraft‘ so zu verstehen, dass er mit den Voraussetzungen nachreligiösen Denkens vereinbar bleibt; hier muss die Idee der nachträglichen Begleichung einer Schuld, die wir gegenüber den Opfern vergangener Verbrechen haben, den Charakter einer symbolischen Restitution ihrer moralischen Integrität annehmen. Eine solche Deutung verlangt, den moralischen Zusammenhang klarzumachen, der zwischen dem Leiden vergangener Generationen und der Erinnerung von Geschichte bestehen kann. Mit jedem Verbrechen von der Art, wie Benjamin es vor Augen hat, wenn er von der ‚Barbarei‘ der menschlichen Geschichte spricht, wird eine Gruppe von Personen aus der moralischen Gemeinschaft aller Menschenwesen ausgeschlossen; dass nämlich die Hilferufe dieser Opfer, ihr stilles Aufbegehren oder ihr lauter Protest, bei den Zeitgenossen kein Gehör gefunden haben, dass sie also zu namenlosen Verlierern der Geschichte wurden, heißt andererseits nur, dass sie zu ihrer Zeit in ihren moralischen Ansprüchen keine Anerkennung haben erfahren können. Bleibt ein Akt des Verbrechens zu Lebzeiten der Opfer ungesühnt, so sterben sie mithin als anonyme Wesen, denen die moralische Gemeinschaft der Menschen die Aufnahme verweigert hat. Weil jede neue Generation naturwüchsig zu einem Teil dieser moralischen Gemeinschaft wird, sie also von Epoche zu Epoche erweitert, übernimmt sie auch deren in der Vergangenheit liegende Ausgrenzungen, solange sie sie nicht von sich aus willentlich der Korrektur unterwirft; mit den ungesühnten Opfern der Geschichte ist daher die Gegenwart erneut durch ein moralisches Band verknüpft, das in der stummen Aufforderung besteht, ihnen nachträglich die persönliche Integrität dadurch zurückzuerstatten, dass sie in die moralische Gemeinschaft der Menschen aufgenommen werden. Wenn es das ist, was Benjamin mit dem ‚Anspruch‘ der Vergangenheit gemeint hat, dann kann der Akt seiner Einlösung freilich nur symbolischen Charakter tragen: Die ‚messianische Kraft‘, die jeder Gegenwart stets wieder zufällt, bedeutet das nie versiegende Vermögen, die Opfer der Geschichte retrospektiv zu Mitgliedern einer sich ständig erweiternden Moralgemeinschaft zu machen. Es ist nun meine These, dass Benjamin dieses Vermögen als die Leistung einer Geschichtsschreibung hat begreifen wollen, die die Vergangenheit so zu erschließen vermag, dass die toten Opfer erneut die Gestalt von beseelten Wesen annehmen: Eine ‚messianische Kraft‘ kommt uns heute in dem Maße zu, indem wir den historischen Prozess in einer Weise vergegenwärtigen, dass dessen Verlierer noch einmal als Interaktionspartner unserer gegenwärtigen Erfahrungen erscheinen und damit also zu Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft werden“ (Honneth 1999, 108 ff ). Es ist der dieses Motiv tragende moralische Impuls und gleichermaßen die darin zutage tretende Irritation und Hilflosigkeit, die den späten Horkheimer zu einer Annäherung an das theologische Motiv des jungen Benjamin inspirierte, das sich gleichwohl selbst einem Motiv des Kantianers Lotze verdankt. 345 Benjamin VI, 97. Gegenüber dem „additiven“ Verfahren einer historistischen Geschichtsschreibung – „sie bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene und leere Zeit auszufüllen“ – betont Benjamin (auch) in der siebzehnten „geschichtsphilosophischen These“ das der „materialistischen Geschichtsschreibung“ zugrunde liegende „konstruktive Prinzip“. Eben gegen diese maßgebenden regulativen universalgeschichtlichen Leitbilder der „Homogenität, Kontinuität und Totalität“ hätte Benjamin in einer geschichtsphilosophisch transformierten kantischen Idee der „Naturgeschichte“ und deren „gegenläufigem“ Interesse einen Verbündeten gefunden. 346 Benjamin I.3., 1246.
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tischen Absicht Benjamins entgegen, „Geschichte aus dem Abfall von Geschichte“ zu machen,347 orientiert sie sich doch selbst gewissermaßen an dem einer „Gegen-Idee“ verpflichteten „Gedächtnis der Namenlosen“.348 Allein infolge einer solchen geschichtsphilosophisch „revolutionierten Denkungsart“ und der dem Leitfaden der „Naturgeschichte“ gemäßen „Inversion der Intentionalität“ kommt nunmehr – und zwar sowohl in Rücksicht auf jene „Kultur der Erkenntnisvermögen“ als auch auf die zu bewahrende Einheit der „Idee der Weltgeschichte“ und der „empirischen Geschichte“ – durch das eingesetzte „zweite Auge der Philosophie“ allererst auch dasjenige an den „Phaenomena“ ans Licht, was selbst eben „bloß Erscheinung“ ist – vornehmlich eben mit gebotener Rücksicht auf die Bedrohtheit und Verletzbarkeit jener Vernunft-„Idee des Menschen“. Erst recht findet Kants These dieserart erneut eine – gleichermaßen auf „Erinnerung“, „Gedächtnis“, Aufmerksamkeit und auch die „Trauer“ zu beziehende – geschichtsphilosophische Bestätigung, wonach die „Vernunft als das Vermögen der Prinzipien … das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“ bestimmt (IV 249); und allein in dieser eigenen Bestimmung ihres Interesses lässt sie es sich reflexiv auch an sich selbst gelegen sein. „Erinnerung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit“ und auch „Trauer“ als in praktischen Vernunftansprüchen verwurzelte „Erkenntnisvermögen“, als Möglichkeitsbedingungen der „historischen Vernunft“: Ihnen verdankt der dieser Idee der „Naturgeschichte“ eingesetzte „mikrologische Blick“ erst seine besondere „Tiefenschärfe“. Sie sind es aber auch, welche die kantische Kennzeichnung des „Intelligiblen“ – „Ich nenne dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel“ (II 492) – im Kontext dieser „praktischen Vernunftansprüche“ auch geschichtsphilosophisch zu akzentuieren erlauben und so erst jene kantische Forderung als einlösbar ausweisen, dass „historische Kenntnis sich mit Moral verbinde“. Gegen einschlägige geschichtsphilosophische Kurzschlüsse und Problemverengungen war demzufolge auch Benjamins Kritik der Idee der „Universalgeschichte“ gerichtet. Ge347 Benjamin V.2, 825. Vgl. Benjamins Verständnis der „Montage“ als der „intensivste(n) Verwertung des Abfalls“ (V.2, 1030) sowie den (bezeichnenderweise in Bezugnahme auf Benjamins „Vermächtnis“) in eine ähnliche Richtung zielenden Hinweis Adornos in den „Minima Moralia“, Nr. 98. – Adornos Votum: „Stringenz und Totalität, die bürgerlichen Denkideale von Notwendigkeit und Allgemeinheit, umschreiben in der Tat die Formel der Geschichte, aber eben darum schlägt in den festgehaltenen herrschaftlich großen Begriffen die Verfassung der Gesellschaft sich nieder, gegen welche dialektische Kritik und Praxis sich richten. Wenn Benjamin davon sprach, die Geschichte sei bislang vom Standpunkt des Siegers geschrieben worden und müsse von dem der Besiegten aus geschrieben werden, so wäre dem hinzuzufügen, daß zwar Erkenntnis die unselige Geradlinigkeit der Folge von Sieg und Niederlage darzustellen hat, zugleich aber dem sich zuwenden muß, was in solche Dynamik nicht einging, am Wege liegen blieb – gewissermaßen den Abfallstoffen und blinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind. Es ist das Wesen des Besiegten, in seiner Ohnmacht unwesentlich, abseitig, skurril zu scheinen. Was die herrschende Gesellschaft transzendiert, ist nicht nur die von dieser entwickelte Potenzialität, sondern ebensowohl das, was nicht recht in die historischen Bewegungsgesetze hineinpaßte. Die Theorie sieht sich aufs Quere, Undurchsichtige, Unerfaßte verwiesen, das als solches zwar vorweg ein Anachronistisches an sich trägt, aber nicht aufgeht im Veralteten, weil es der historischen Dynamik ein Schnippchen schlug“ (Adorno GS 4, 170). 348 Benjamins Programm, „Geschichte aus dem Abfall von Geschichte zu machen“, stellt gewissermaßen die Kehrseite des „historischen Imperativs“ (Yovel 1980, 7) dar, der eine praktisch-politische Orientierung am Prozess des Rechtsfortschritts verlangt; er fände so in einem „naturgeschichtlich“ akzentuierten „historischen Imperativ“ eine „kantische“ Entsprechung.
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genüber jenen Verdunkelungstendenzen, die freilich gerade jenem „universalhistorisch“ „geliehenen Lichte des Verstandes“ zuzurechnen sind, verfolgt also das aufklärungsorientierte „Licht der Vernunft“ in der angezeigten Weise die geschichtsphilosophische „Rettung der Phänomene“,349 wobei diese kritische Geschichtsphilosophie sich vornehmlich der Herausforderung einer ent-deckenden Rehabilitierung und „Rettung“ jener „bloßen phaenomena“ in der Geschichte verpflichtet wissen muss.350 Dies verleiht einer solchen naturgeschichtlichen Orientierung freilich unverkennbare Züge jener Gestalt der „Erinnerung“ als „Interpolation im Gewesenen“,351 die Benjamin ausdrücklich für eine kritische Historie als unumgänglich reklamierte; sie wäre gewissermaßen lediglich das geschichtsphilosophisch gewendete Korrektiv zu dem unbefragt leitenden Interesse, „Erscheinungen unter Regeln zu bringen“ – freilich nicht, um sich dieserart des „chaotisch Blinden, Aggregathaften“ zu bemächtigen, vielmehr um diesem gegen universalgeschichtlich-geschichts teleologische „Zurichtungen“ aller Art in einem wörtlichen Sinne „gerecht“ zu werden, „Recht zu verschaffen“.352 Solches Vorhaben ist dabei wiederum von der kritischen Aufmerksamkeit begleitet, dass sich dem naturgeschichtlich geschärften „mikrologischen Blick“ „Gegenwärtiges“ doch allein aus dem damit einhergehenden Bewusstsein des Unterdrückten, „Erlittenen“ und Verhüllten erhellt. Auch jener Verweis auf die „traurige Erfahrung“ (VI 42) der Menschengeschichte muss in diesem Sinne wohl an solche Widerfahrnisse erlittenen Unrechts anknüpfen; ein solcher „Widerfahrnis“-Charakter unterbricht somit auch die bloße anthropologische Orientierung an einer „Generalkenntnis“ (VI 349 Siehe dazu auch die treffliche Charakterisierung der Benjamin’schen Intentionen bei Angehrn (1996, 324 f ): „Ist Historie ihrem Grundzug nach Kultur der Erinnerung, so ist sie dies weder als Rückgang in einen absoluten Anfang noch als Festschreibung vergangener Geschehnisse und ihrer Wirkungen. Historie ist weder nur Konservierung noch kritische Zersetzung, sondern, wie Walter Benjamin exemplarisch dargelegt hat, Rettung: Sie interessiert sich für das im Gewesenen enthaltene Mögliche und Unentfaltbare, für das Unerledigte und Unfertige, dessen Anspruch auf Erfüllung noch offen ist; in Applikation auf Menschheitsgeschichte bedeutet dies nach Benjamin die Forderung, sich freizumachen von der Reminiszenz dessen, was gleichsam von sich aus die Macht hat, Spuren zu hinterlassen und Geschichte zu stiften, und gegen die Einfühlung in die Sieger die Erinnerung des Leidens, der uneingelösten Hoffnungen und Versprechen wachzuhalten. Historisches Gedenken ist der revolutionären Tat verschwistert im Widerstand gegen das Bestehende. Zur Pointe des so revidierten Geschichtsverständnisses gehört, daß es die Gegenwendung zur ursprungsmythischen Versenkung nicht im Zukunftsentwurf, sondern innerhalb der Erinnerung, in der Freilegung ihres eigenen emanzipatorischen Potenzials vollzieht.“ Indes, weist solche Orientierung nicht in der Tat über ein „historisches Gedenken“ noch hinaus – so wie jenes Verbot, „Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen“? Hat nicht der späte Horkheimer eben diese Konsequenzen gezogen, dessen späte Rehabilitierung Benjamin’scher Motive diese gleichwohl auf eine andere – explizit theologische – Ebene hebt? 350 Dahin weist offenbar Adornos Bezugnahme auf Benjamins „Rettungs“-Motiv: „Der Preis für die Hoffnung ist das Leben: ‚messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis‘ und Glück, nach einem alles einsetzenden Fragment der Spätzeit, deren eigener ‚Rhythmus‘. Darum ist die Mitte von Benjamins Philosophie die Idee der Rettung der Toten als der Restitution des entstellten Lebens durch die Vollendung seiner eigenen Verdinglichung bis hinab ins Anorganische. ‚Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben‘, schließt die Abhandlung über die ‚Wahlverwandtschaften‘. Im Paradoxon der Möglichkeit des Unmöglichen hat bei ihm ein letztes Mal Mystik und Aufklärung sich zusammengefunden“ (GS 10.1, 252). 351 Benjamin IV.2, 964. 352 Unter solchen Vorzeichen darf dann auch die Rücksicht auf die „physiologische Hinsicht“, „was die Natur aus dem Menschen macht“ (VI 399), nicht fehlen.
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400), die einseitig an den Leitbildern der Perfektionierung der „Charaktere der Gattung“ ihr Maß nimmt, und setzt sich in direkten Widerspruch dazu.353 „Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht“: Ein derartiges von Benjamin inspiriertes Vorhaben hat augenfällig in dieser naturgeschichtlichen Perspektive gleichsam seinen „natürlichen Ort“. Das darin leitende Interesse, auch diesbezüglich jenem „Chronisten“ Benjamins nicht unähnlich,354 wäre wohl selbst als der Versuch zu verstehen, dass dieserart „metaphysische Spekulation [sich] vereint [mit] der geschichtsphilosophischen“355 – das heißt letztendlich eben, Erinnerungsspuren in und gegenüber der „empirisch abgefaßten Historie“ zu „erdeuten“, woraus bzw. wie (und vor allem aber auch: um welchen Preis!) „Gegenwärtiges“ geworden ist. Da bleibt vieles aufklärungsbedürftig: Dort hinein erst Licht zu bringen – und zwar ohne dass sich dabei das Dunkel verflüchtigt oder sich dem deutenden geschichtsphilosophischen Zugriff auch nur „gefügiger“, „kohärenter“ macht –, dies wäre wohl die vornehmliche Absicht jener in diese „Idee der Naturgeschichte“ eingebundenen gegenläufigen Perspektive. Jedenfalls stellt dies eine besondere Herausforderung für eine nicht einäugig fortschritts- und zukunftsfixierte, d. h. über sich selbst aufgeklärte Aufklärung dar, der so freilich auch jener „Herzensanteil“ keineswegs fehlt, „den der aufgeklärte Mensch am Guten, das er vollkommen begreift, zu nehmen nicht vermeiden kann“ (VI 46) – ein „Herzensanteil“, der notwendigerweise auch als jener „negative Enthusiasmus“ in diesem geschichtsphilosophischen Kontext konkrete Gestalt gewinnt (andernfalls indes selbst „einäugig“ bliebe). Die der kantischen „Ideenlehre“ (der „ersten Kritik“) entlehnte These, wonach „die Ideen Erfahrung selbst … allererst möglich machen“ (II 325), gewinnt im Umkreis bzw. infolge einer solchen geschichtsphilosophisch „revolutionierten“ Denkungsart einen besonderen Status. Auch Kants Bild von der geforderten vernunftkritischen Freilegung des „durch Sinnlichkeit verwachsene(n) Fußsteig(s)“ (II 700) bietet sich hier wohl für eine entsprechende geschichtsphilosophische Anbindung an, wobei sein diesbezüglicher Verweis auf „verwachsene Fußsteige“ wohl durch den Bezug auf Hindernisse und „Lichtquellen“ von ganz anderer Art zu ersetzen wäre. Diese geschichtsphilosophische Rezeption der Idee der Naturgeschichte und die hierfür besonders geschärfte „Aufmerksamkeit“ lassen sich in diesem geschichtsphilosophischen Interesse an einer „Rettung der Phänomene“ und der daran orientierten Wahrnehmung von „Geschichtszeichen“ offenkundig von einem besonderen Erfahrungs-Begriff leiten, der auch für jenen im Sinne einer kritischen Geschichtsphilosophie erweiterten 353 Die motivliche Nähe zu dieser geschichtsphilosophisch akzentuierten Idee der „Naturgeschichte“ wird aus Adornos Hinweis auf Benjamin besonders deutlich: „Ihn [Benjamin] sprachen die versteinerten, erfrorenen oder obsoleten Bestandstücke der Kultur, alles an ihr, was der anheimelnden Lebendigkeit sich entäußerte, so an, wie den Sammler das Petrefakt oder die Pflanze im Herbarium“ (GS 10.1., 242 f ). „Die Utopie der Erkenntnis aber hat die Utopie zum Inhalt. Benjamin nannte sie die ‚Unwirklichkeit der Verzweiflung‘. Philosophie verdichtet sich zur Erfahrung, daß ihr die Hoffnung zuteil werde. Diese jedoch erscheint einzig als gebrochene“ (Adorno, GS 10.1, 252). 354 Diesem „Chronisten“ käme so gewissermaßen die Rolle eines „Geisterfahrers des Weltgeistes“ (O. Marquard) zu und befähigt auch nur mit diesem „methodischen Prinzip“ zu der Aufgabe, die „Geschichte gegen den Strich zu bürsten“. 355 Adorno 1966, 390.
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„Gerichtshof der Vernunft“ vonnöten ist: „Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, dass nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation a l’ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.“356 Jene von Kant in kritischer Absicht geforderte Aufteilung der „Kultur der Erkenntnisvermögen“ in „Geschichte und Philosophie“ wäre dieser Forderung eines gewissermaßen protokollarischen Insistierens „auf der Wahrnehmung von dem unrettbar sich Verlierenden“357 dieses Benjamin’schen „Chronisten“ gewiss verständnisvoll begegnet und hätte hier auch eine besondere Rolle auszufüllen. Dass alle „Kultur der Erkenntnisvermögen … sich in zwei Zweige auf(teilt): Geschichte und Philosophie“, wäre dann wohl, in diesem erweiterten geschichtsphilosophischen Rahmen, dahingehend aufzunehmen, dass das für diese „Kultur des Erkenntnisvermögens“ konstitutive Interesse am „Mikrologischen“ offenbar selbst als ein „in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem moralischen“ (V 354), gegründetes und jener „naturgeschichtlichen“ Perspektive eingewobenes ausgewiesen werden muss. Jenes geschichtsphilosophisch situierte „naturgeschichtliche“ Moment ist es auch, das im Kontext der geschichtsphilosophischen Frage „Was sollen wir hoffen?“ und ihrer „Leitfäden“ numehr erst den unabweislichen Fragen Gehör verschafft: Was war es, was erhofft werden durfte, was war es, was erhofft wurde, und was war es letztendlich, was diese Hoffnungen enttäuschte und schließlich die Hoffenden selbst an ihnen auch verzweifeln und zugrunde gehen ließ? Es sind diese einer kritischen – d. h. nicht cyklopisch gekürzten – Geschichtsphilosophie aufgegebenen „letzten Gedanken“, die so wie von selbst in der Spur Kants den Zusammenhang mit religionsphilosophischen Motiven herstellen.358 In einer solchen Radikalisierung weist dies in der angezeigten Weise über das eingemahnte Unabgegoltene der vergangenen Hoffnungen noch hinaus auf die „Exis tenz“ der Hoffenden selbst, zumal der Rekurs auf subjekt-vergessen-„hypostasierte“ Hoffnungen – an diesem Maßstab bemessen – selbst noch auf bloß „partikuläre“ Maßstäbe fixiert bleibt. Es ist die Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“, der jene angezeigten gegenläufigen Geschichtsperspektiven korrespondieren, die nunmehr auch als eine „opfer-zentrierte“ Perspektive ins Blickfeld rückt. In einer solchen Akzentuierung erweist sie sich als besonders bedeutsames Bindeglied zu religionsphilosophisch relevanten Themen, die so auch eine Differenzierung der Idee der Ethikotheologie unumgänglich macht und derart gleichermaßen dieser angezeigten „opfer-orientierten“ Wendung gerecht zu werden vermag. 356 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, These III, I.2, 694. Auch hier gehen offenbar geschichtsphilosophische und theologische Motive bei Benjamin (allzu?) nahtlos (besser: „unvermittelt“) ineinander über. 357 Benjamin I.2, 682. 358 Es sind diese darin zutage tretenden Aporien und Vergeblichkeiten, die in der Sache auch Honneth an Benjamins Motiv der „messianischen Kraft“ bei aller kritischen Würdigung des Anliegens zweifeln lassen (vgl. Honneth 1999, bes. 113).
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Damit sollte aber noch einmal deutlicher geworden sein, dass die Freilegung jener verborgenen geschichtsphilosophischen Motive Kants auch aufschlussreiche motivliche Bezüge zu Benjamins Thesen zum „Begriff der Geschichte“ sichtbar macht.359 So bietet das im Sinne jener gegenläufigen Perspektive aufzunehmende Motiv einer geschichtsphilosophisch erweiterten, ja „revolutionierten Denkungsart“ auch unübersehbare Anknüpfungspunkte für die von Benjamin dem „historischen Materialisten“ gestellte Aufgabe, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“,360 ebenso für das daran geknüpfte Motiv der „Rettung“361 – zumal als eine geschichtsphilosophische Version der „Rettung der Phänomene“ wohl auch Benjamins Motiv der „Rettung des Hoffnungslosen“ gelesen werden darf und deshalb gerade nicht mit der Erinnerung des „Unabgegoltenen“ vergangener Hoffnungen gleichzusetzen ist.362 Dem verdankt „memoria“ eingedenk jener „Rettung der Phänomene“ also ihren eigentümlichen kritisch-subversiven Impuls (gegenüber bloß historisierender Reduktion), und eben darauf zielte offenkundig Benjamins Ansinnen ab, dass die auf solchem „Eingedenken“ basierende „Konstruktion“ freilich die kontinuitätssprengende „Destruktion“363 schon voraussetzt. Darin ist impliziert, die kantische These: „Durch Erfahrung unmittelbar [!] ist die Aufgabe des Fortschreitens nicht aufzulösen“ (VI 355), auch im Sinne einer geforderten behutsamen Sondierung, mithin auch in diesem kritischen Gegenlicht, zu lesen und entsprechend jenen notwendigen Bezug auf „Geschichtszeichen“ zu erweitern, um so auch noch in einer anderen Hinsicht für eine möglicherweise „unrecht genommene Wahl des Standpunkts“ zu sensibilisieren, und damit einen „Vernunft-Standpunkt“ von ganz anderer Art erst zur Geltung zu bringen. 359 In mehrfacher Hinsicht bestätigt sich die Vermutung Nagl-Docekals, dass „Kants Konzeption einer alternativen Historiographie … in wesentlichen Elementen übereinstimmt mit Benjamins Kritik an einer Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Sieger sowie mit der von Benjamin erhobenen Forderung, die Erinnerung wachzuhalten an Vorstellungen von Freiheit, die sich in der Vergangenheit nicht durchsetzen konnten“ (Nagl-Docekal 1996, 33). Dies wäre mit Kant zwar als ein nicht zu vernachlässigendes Motiv jener intendierten „Kritik der Geschichte und der historischen Schriften“ geltend zu machen, gleichwohl bliebe es – im Unterschied zu Benjamin – von den genuin religionsphilosophisch-theologischen Problemaspekten noch genau zu unterscheiden. 360 Treffend hat Angehrn auch dieses Motiv Benjamins kommentiert: „Der unerbittliche Gang der Zeit, der kein Gewesenes widerrufen läßt, wird zur Perpetuierung geschehenen Unrechts, er verfestigt die Endgültigkeit erfahrener Ohnmacht, sanktioniert Geschichte durch ihre Nichtrevidierbarkeit. Dagegen ist eine Historie auf den Plan gerufen, die dem von Herodot bis Nietzsche gepflegten Kult des Großen und Ruhmvollen die Erinnerung des Leidens entgegenstellt und im Eingedenken an die ‚namenlose Fron‘ derer, die den Fortschritt mithervorgebracht haben, ihre Aufgabe darin sieht, ‚Geschichte gegen den Strich zu bürsten‘“ (Angehrn 1991, 170). 361 Benjamin I.2., 696 f. 362 Es entspricht durchaus kantischen Intentionen, wenn Benjamin eine besondere Version der „Rettung der Phänomene“ in den Vordergrund rückt: „Wovor werden die Phänomene gerettet? Nicht nur, und nicht sowohl vor dem Verruf und der Mißachtung, in die sie geraten sind, als vor der Katastrophe wie eine bestimmte Art ihrer Überlieferung, ihre ‚Würdigung als Erbe‘ sie sehr oft darstellt. – Sie werden durch die Aufweisung des Sprungs in ihnen gerettet. – Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe ist“ (Benjamin 1983 I, 591). Mit Recht betonte Adorno: „In all seinen Phasen hat Benjamin den Untergang des Subjekts und die Rettung des Menschen zusammengedacht“ (Adorno, GS 10.1, 240); „… so ist ihm das Urbild aller Hoffnung der Name der Dinge und Menschen, und ihn sucht seine Besinnung zu rekonstruieren“ (ebd.). Ist es nicht geradewegs jener „zu Hilfe kommende philosophische Verstand“ (Schillers) (s. o. II., Anm. 331), vor dem jene „Phänomene gerettet werden“ müssen? 363 Vgl. Benjamin 1983 I, 587.
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Diese Einsicht weist im Grunde – durchaus dem Anspruch jenes kantischen Gerichtshofes gemäß – freilich über jenes erwähnte „Befremden“ noch einmal hinaus und indiziert bzw. bestätigt erneut die Unentbehrlichkeit einer anthropologisch-geschichtsphilosophischen Variante der (logischen) Horizont-Bestimmung: „Horizont ist der Begriff unserer Kenntnisse, die zusammen genommen mit den Zwecken, die wir haben, adaequat sind.“364 Gegen jenes auch geschichtsphilosophisch zu akzentuierende „Unrecht …, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird“ (IV 638), steht bei Kant auch seine in einer kritischen Absicht nahegelegte Orientierung an der „Geschichte der Menschheit im Ganzen ihrer Bestimmung“ (VI 794), die allein auf diese Weise auch das dem „Weltbegriff der Philosophie“ innewohnende Sinnpotenzial vor einer heimlichen Preisgabe der „Menschheits-Idee“ bewahrt. In solchem „Ausgang“ von Kant bleibt sein (zwar zunächst gegen die „ideen-vergessene“ zeitgenössische Geschichtsschreibung gerichtetes) Programm einer „Kritik der Vernunft, der Geschichte und der historischen Schriften“ gemäß jener „naturgeschichtlichen“ Perspektive noch zu ergänzen und auch auf jene Forderung zu beziehen, wonach „die Moral mit der Kenntnis der Menschheit verbunden werden“ müsse. Dies läuft zuletzt auf die Umkehrung dieser Forderung hinaus, dass die „Kenntnis der Menschheit mit der Moral verbunden werden muss“ und ebendies eine (geschichtsphilosophische) Verkürzung der „Idee der Menschheit“ verbietet. Gemäß jener geschichtsphilosophisch „revolutionierten Denkungsart“ und der darin maßgebenden bzw. unentbehrlichen naturgeschichtlichen Perspektive ist es wohl zu verstehen, wenn H. Schweppenhäuser – in den Spuren Benjamins und in eindringlicher Erinnerung an dessen Impuls, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ – so eindringlich die Forderung nach einer „kritisch … zurechtgebrachten philosophischen Geschichte“ erhebt, d. i. nach „jener negativen Geschichtsphilosophie und Anthropologie, die mit dem Eingedenken ins Vergangene der Geschichte selber die Fatalität nähme, Vergegenwärtigung des Vergangenen, ja seine Futurisierung nach Modalitäten des perfekten (nämlich im präsentisch Vollbrachten angelangten) Vergangenen zu sein und darin gerade die Denaturierung, ja Auslöschung des Vergangenen. Etwas also wie der Untergang des Untergegangenen in der Geschichte. Daraus es zu erretten: die Gegenwart vor es zu zitieren, um die Schuld zu ermessen, die sie an dem Vergangenen nahm, und nicht das Vergangene ins Gegenwärtige zu zitieren, damit es in diesem zu diesem verblasse und sich entwese; dies wäre die Nötigung, die Geschichte philosophisch zu denken.“365 Solche „Nötigung“ ist 364 AA XXIV, 815. – Auch für diese Bezüge ist es nicht uninteressant, dass Kants Verständnis von „Kritik“ ausdrücklich auf die „Bestimmung des ‚Rational‘-Horizonts der menschlichen Erkenntnis“ abzielt (Kowalewski 1924, 414). Dies indiziert freilich auch, dass eben nicht bloß Neugier („curiositas“) und „Befriedigung der Wissbegierden“ in diesem „Vernunftinteresse“ maßgebend sind. In diesem Sinne ist jedenfalls auch Kants Refl. 4970 (AA XVIII, 45) zu verstehen: „Geschichte und Beschreibung [also die beiden Aspekte von „historia“] müssen zuvorderst der Vernunft angemessen behandelt werden (nachdem sie vorher bloß der Wissbegierde adaequat waren). Nachher ihr Zusammenhang nach Maximen der Vernunft; denn ihr System nach der gesetzgebenden Idee der Vernunft“, die deshalb auf eine „Prüfung der Principien verweist“ und eben deshalb auch Widerstand gegen den „zu Hilfe kommenden Verstand“ leisten muss (s. o. II., Anm. 331). 365 Schweppenhäuser 1993, 94 f. In diesem Sinne betont Schweppenhäuser: „Es ist das entschiedene, das abschlusshafte Wissen, wie es durch die Vergegenständlichung des Gewussten möglich wird, durch dessen
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nicht zuletzt von dem Einspruch dagegen beseelt, dass das „de facto“ sich Durchsetzende und im Effekt „Erfolgreiche“ auch das normativ Maßgebende wird, d. h. stillschweigend dessen Stelle einnimmt und so der Verweis darauf, „dass etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeitverhältnissen in der Tat ist, ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, … ganz und gar keine Bedeutung“ hat (II 498). Für eine derartige „Nötigung, Geschichte philosophisch zu denken“, vermag eine geschichtsphilosophische Rezeption des der kantischen Idee der „Naturgeschichte“ immanenten kritischen Sinnpotenzials gemäß einem erweiterten geschichtsphilosophischen Zugang wohl wichtige Aspekte beizusteuern, die auch auf diesem Gebiet tatsächlich eine „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ zu leisten vermag und den „Weltbegriff der Philosophie“ und die ihm immanente Idee einer „moralischen Teleologie“ in kritischer Absicht um wichtige geschichtsphilosophische Aspekte bereichert. Gerade für eine solche „naturgeschichtliche“ Geschichtsperspektive wäre die geschichtsphilosophische Orientierung an der Aufgabe, „die Rechte der Menschheit [die eben nicht einäugig der vorwärts gerichteten „Gattungs-Perspektive“ geopfert werden dürfen] herzustellen“, im eigentlichen Sinne maßgebend. Deshalb muss die aus der praktischen „Welt-Idee“ abgeleitete „Idee einer Weltgeschichte“ (VI 49) diese naturgeschichtliche Perspektive, analog zu jenen gegenläufigen Vernunftperspektiven, gleichermaßen in sich aufbewahren. Dass diese geschichtsphilosophisch akzentuierte – somit selbst dem „Weltbegriff der Philosophie“ zugehörige – naturgeschichtliche Perspektive zudem aufschlussreiche religionsphilosophische Bezüge eröffnet, wurde schon erwähnt. Nicht zuletzt ist es die kantische Frage nach der Möglichkeit „begründeten Hoffens“, die an dieser Schnittstelle von Geschichts- und Religionsphilosophie geradezu dazu nötigt, die durchaus mehrschichtige Frage nach dem „Hoffen-Sollen“ bzw. dem „Hoffen-Dürfen“ zu differenzieren und miteinander zu vermitteln. Offenkundig ist es die auf eine kritische Ausmessung des „Vernunftraumes“ abzielende (und darin lediglich die „Selbsterkenntnis der Vernunft“ vollziehende) „Oberaufsicht der Philosophie“, der auch die Aufgabe gestellt ist, die maßgebenden Gesichtspunkte der praktischen Philosophie mit seiner Geschichts- und Religionsphilosophie zu verknüpfen, und somit, zufolge der für Kants „Weltbegriff der Philosophie“ bestimmenden Fragen, auch noch einmal vergegenwärtigt, woran denn dieses „vernünftige Weltwesen“ um seiner „Vernünftigkeit“ willen ein notwendiges „Interesse nehmen“ muss, wenn es denn als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ – „Vernunft, Herz und Gewissen“ folgend – als Gattungswesen und Individuum denkend, handelnd und hoffend Orientierung sucht. Ebenso spricht, nicht zuletzt in Vergegenwärtigung jener Unterscheidung Stillgestellt-, Objektivgeworden-Sein; und das heißt auf Geschichte bezogen: das Wissen, das gar nicht Wissen von dem ist, was nicht ist, sondern geschah oder unterblieb; nicht Wissen von dem, was in processu ist, dem es als ‚das historische Wissen vom Vergangenen‘, nämlich Fertigen, Gegenständlichen, Toten und so erst Studierbaren, Wissbaren gar nicht gerecht wird. Geschichte dieses Sinnes ist gerade nicht Geschichte: das Geschehende, auch in der Weise des als unerledigt im Vergangenen Geschehenden; des Unabgegoltenen also, das untergründig weiter gilt und im Weitergelten heraufdringt, und das dort anders west denn als bloßer Spuk. Es west in der Weise des juridisch vielleicht, moralisch nie verjährenden Anspruchs der um ihr Leben Betrogenen oder um es Gebrachten. Es west als das ‚Unzeitige‘, das endlich in die Zeit sich betten will. … Diesen Ausdruck am Vergangenen verfehlen heißt, die Geschichte verfehlen – ‚die Geschichte als Leidensgeschichte der Welt‘, der Menschen, der Kreatur, der Dinge in ihrer Naturverfallenheit“ (ebd. 97 f ).
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zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“, in der Folge einiges dafür, dass in einer derartigen Zuschärfung auch Anknüpfungspunkte zu finden sind, um wichtige Motive der kantischen Geschichts- und Religionsphilosophie mit Droysens – eben auf diese Verknüpfung abzielender – These zu verbinden: „Ethik und Historik sind gleichsam Koordinaten. Denn die Geschichte gibt die Genesis des ‚Postulats der praktischen Vernunft‘, das der ‚reinen Vernunft‘ unfindbar blieb.“366 Aus diesem Abschnitt über das kritische Motiv der „Naturgeschichte“ im Kontext einer erweiterten geschichtsphilosophischen Konzeption mag auch deutlich geworden sein, dass jene in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ erwogene „Theodizee“ diesbezüglich jedenfalls nicht ausreichen kann.367 Selbst noch in einer „cyklopischen“ Verengung verhaftet, bliebe sie gleichermaßen jenem unbestechlichen „Befremden“ Kants ausgeliefert. Desgleichen wäre es jedoch voreilig, die besondere Intention des im Sinne einer kritischen Geschichtskonzeption angeeigneten kantischen Motivs der „Naturgeschichte“ unvermittelt auf jenes berühmte Benjamin’sche Motiv zu beziehen, „dass die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft ‚festgestellt‘ hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar [!] theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.“368 Was aber bedeutet dieses – wohlgemerkt: zweifache! – „Verbot“, genauerhin: Was ist hier mit „grundsätzlich“ und „unmittelbar“ genau gemeint, welche „Grundsätze“ werden hier von 366 Droysen 1977, § 82, 444. 367 Erst recht in einem theodizee-sensiblen Kontext muss der von Kant (in den Überlegungen zum „letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems“: § 83 der „Kritik der Urteilskraft“) erwogene Gedanke irritieren, wonach der Krieg „ungeachtet der schrecklichsten Drangsale, womit er das menschliche Geschlecht belegt“, ein „tief verborgener, vielleicht [!] absichtlicher [Versuch] der obersten Weisheit ist“ (V 555); das später (gegenüber der ersten Auflage) eingefügte „vielleicht“ mag sein verständliches Zögern verraten, wird jedoch grundsätzlich an derartiger Irritation nur wenig ändern. Schon in der Schluss anmerkung zu seinem Aufsatz über den „Mutmaßliche(n) Anfang der Menschengeschichte“ (VI 99 f ) bezeichnete Kant – freilich auf „der Stufe der Kultur …, worauf das menschliche Geschlecht noch steht“ – den Krieg als „ein unentbehrliches Mittel, diese [Kultur] noch weiter zu bringen“. Vgl. dazu auch die einschlägigen Bedenken v. Fackenheim (1956/57), bes. 394 ff. 368 Benjamin 1983 I, 589. Dieser abgelehnte Rekurs auf „unmittelbar theologische Begriffe“ verweist so gesehen freilich lediglich auf eine unbewältigte Schwierigkeit, die, besonders akzentuiert, wohl auch Habermas in seiner Kritik an den von Benjamin und Adorno vorgenommenen „theologisierenden Anleihen“ vor Augen steht. – In jenem Benjamin’schen Motiv der „Unabgeschlossenheit des Vergangenen“ wird wohl tatsächlich eine gewisse Zweideutigkeit sichtbar: Einerseits orientiert es sich offenbar tatsächlich zunächst an den nicht-realisierten Möglichkeiten, uneingelösten Ansprüchen, unabgegoltenen Hoffnungen und den gescheiterten Ideen von Freiheit und Befreiung – dies legt auch Benjamins Rekurs auf das unabgeschlossene „Werk der Vergangenheit“ nahe; andererseits geht der „theologisierende“ Verweis auf ein „Eingedenken Gottes“, die „Gewesenen“, der Blick auf „die Toten“, das Motiv der „restitutio ad integrum“ darüber noch hinaus; Adornos Zentralmotiv der „Rettung der Hoffnungslosen“ ist offenbar auf diese zweite Perspektive konzentriert, und nicht zufällig sucht er in solchem Ausgang einen – „opferorientierten“ – Anschluss an Kants Postulatenlehre. Hier tritt ein „Erinnern“ ins Blickfeld, das alle geschichtsphilosophischen Kategorien bzw. Verortungen sprengt.
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Benjamin verworfen, welche „Vermittlungen“ werden von ihm hingegen als unverzichtbar geltend gemacht und wie wären diese einzulösen?369 Enthält dieses Benjamin’sche Verbot, „Geschichte in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben“, nicht auch den indirekten Hinweis auf eine eben auch geschichtsphilosophisch „geschuldete“, d. h. auf eine notwendige Orientierung an den „Opfern“, die deshalb nicht voreilig „theologisch“ besetzt, d. h. vereinnahmt bzw. absorbiert werden darf? Es spricht gerade im Sinne eines hinreichend differenzierten „Weltbegriffs der Philosophie“ vieles dafür, die kritische Sinnintention dieses nicht selten verkürzt aufgenommenen – gleichsam „einäugig“ gelesenen – „Verbots“ als eine eigenständige Herausforderung wahrzunehmen – d. h. eben: noch vor allen daran zu knüpfenden (in der Tat naheliegenden) religionsphilosophischen Problemaspekten, zumal diese „naturgeschichtliche“ Dimension einer kritischen Geschichtsphilosophie nicht voreilig „theologisch“ vereinnahmt werden darf. Genauer besehen verweist dieses Benjamin’sche „Verbot“ ohnehin lediglich auf die erst einzulösende Aufgabe, die Vermittlung der in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ artikulierten Motive zu leisten und das von ihm als „theologisch“ bezeichnete Anliegen zu realisieren. Die erforderliche differenzierte Vermittlung der geschichts- und religionsphilosophischen Problemaspekte sollte es jedenfalls vermeiden lassen, das unverzichtbare geschichtsphilosophische Potenzial dieser gegenläufig orientierten „naturgeschichtlichen“ Perspektive zu hastig – und so eben doch zu unvermittelt – „theologisch“ zu besetzen, ohne jedoch wiederum die in der Tat daran anzuknüpfenden religionsphilosophisch-theologischen Aspekte einfachhin zu eliminieren bzw. sie aus dem Auge zu verlieren. Der unstrittige Sachverhalt, dass die Geschichtsphilosophie – auch im Sinne der diesbezüglich gebotenen „Selbstbegrenzung der Vernunft“ und gemäß der unverzichtbaren Unterscheidung der „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ – von bzw. mit „letzten Sinnfragen“ überfordert ist, dispensiert freilich umso weniger von der Aufgabe, das Bewusstsein für die Unumgänglichkeit „vorletzter Sinnfragen“ zu schärfen und hierfür auch vernünftige – d. h. zureichend differenzierte – Maßstäbe zu explizieren.370 Es zeigt sich: In einer „im Ausgang von Kant“ vorgezeichneten Problemsicht resultiert dieser369 Dieses zweifache Verbot, nämlich die „Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen“ und sie ebenso „wenig … in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen (zu) dürfen“, bleibt freilich eher die bloße Formulierung eines Problems, es ist aber nicht schon eine philosophisch zureichende Auflösung desselben. Vornehmlich das kantische Motiv der „Naturgeschichte“ könnte diesbezüglich als ein Scharnier fungieren, das so als Vermittlungsglied zwischen einer kritischen geschichts- und religionsphilosophischen Konzeption fruchtbar zu machen wäre. 370 Im Sinne dieser erforderlichen Differenzierungen bleibt beispielsweise auch mit Kant – gegen Kant? – geltend zu machen, dass die von ihm im Kontext des Motivs des „jüngsten Gerichts“ erwogene „Zwecklosigkeit der Schöpfung“ (vgl. VI 177) nicht den – auch geschichtsphilosophisch zu akzentuierenden und erinnerungs-gestützten – „Widerstreit gegen die Moralität“ in Anbetracht der Opfer überdecken darf. Von dem Verbot Benjamins, die „Geschichte grundsätzlich atheologisch“ zu begreifen, ist das geschichtsphilosophisch wahrzunehmende Problem des „moralischen Universalismus und erinnernder Solidarität“ genau zu unterscheiden (wie auch Honneth geltend gemacht hat). Für diesbezügliche kritische Hinweise danke ich Lutz Wingert. – Vgl. dazu aber auch Liebschs Kritik an Benjamins „Gedanke(n) eines trauernden Eingedenkens“ (Liebsch 2001, 54 f ), die hier nicht weiter verfolgt werden kann – so wenig wie sein schon erwähntes Motiv der „Trauer über die Unmöglichkeit einer Trauer, die jeden [als ‚einzigen‘
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
art, im Sinne einer kritischen Differenzierung von Geschichts- und Religionsphilosophie, die kritische Rückfrage, ob denn hier nicht primär ein „Eingedenken“ geltend zu machen bleibt, dessen „Erfahrungen“ und Impulse selbst gerade noch nicht als „theologisch“ zu bezeichnen sind bzw. als solche „vereinnahmt“ werden dürfen. Dieser kritische Anspruch wäre so selbst innerhalb einer erweiterten geschichtsphilosophischen Konzeption zu verorten und vorrangig wohl in jenem geschichtsphilosophischen Motiv der „Naturgeschichte“ angezeigt. An einer von einer kritischen Geschichtsphilosophie selbst zu erwartenden Wahrnehmung der angezeigten gegenläufigen Gesichtspunkte sowie der geschichtsphilosophisch situierten „naturgeschichtlichen“ Perspektive“ muss es demzufolge gerade auch einer kritischen Religionsphilosophie und Theologie gelegen sein – jedenfalls dann, wenn sie nicht, in einer (leicht durchschaubaren) Art „Begierde des Rettens“, den Verdacht einer heimlichen theologischen „Sekundärausbeutung der Opfer“ auf sich ziehen will.371 In nochmaliger Anknüpfung an jenes von Kant benannte Vorhaben einer „Kritik der Vernunft, der Geschichte und der historischen Schriften“ scheint sich, noch präziser, zu bestätigen: Die in einem solchen Programm implizierte „Nötigung, die Geschichte philosophisch zu denken“ bedarf gemäß jener Idee der „Kritik“ ebenso der Reflexion auf die in den geschichtsphilosophischen Konzeptionen und den darin maßgebenden „Leitfäden“ leitenden Interessen und nötigt so infolge jener „Kritik“ selbst dazu, die Einbeziehung der Perspektive der „Opfer der Geschichte“ – eben im Sinne des geschichtsphilosophischen Motivs der „Naturgeschichte“ – als einen auch geschichtsphilosophisch unentbehrlichen „Gesichtspunkt“ zu legitimieren, wenn die in geschichtsphilosophischem Kontext maßgebende Idee der „Menschheit“ nicht wiederum stillschweigend preisgegeben werden soll. Dies bedeutet, eine solche derart ins geschichtsphilosophische Blickfeld eingerückte „Opfer“-Perspektive vor allzu eilfertiger, ja begieriger theologischer Vereinnahmung zu bewahren und ebenso darauf zu verzichten, diese daran geknüpfte theologische Perspektive von vornherein zu verwerfen. Jenes Verbot Benjamins, „die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen“, indiziert bzw. erhält vermutlich eben genau diese Spannung. In diesem Sinne markiert jenes Benjamin’sche Verbot zweifellos auch eine unüberschreitbare Grenzlinie, die jedenfalls genau zu beachten bleibt, wenn sich nicht auch diesbezüglich das von Habermas geäußerte Bedenken als allzu berechtigt erweisen soll, dass der „Versuch, sich um der vermeintlichen Authentizität willen aus dem religiösen Anderen] einschließen könnte“, wobei der Verweis auf die „Endlichkeit der Trauer“ als eine „Beruhigungsformel“ gleichwohl versagen müsse (ebd.) (vgl. o. II., Anm. 292). 371 Theologische Zugriffe auf dieses Benjamin’sche Motiv ziehen freilich bisweilen geradezu den Verdacht einer theologisch motivierten Ausbeutung der Opfer der Geschichte auf sich; deren „Begierde des Rettens“ ist es dabei mitunter möglicherweise nicht so sehr um die er-innerten Opfer bzw. um die mögliche „Selbsterhaltung der Vernunft“ zu tun. Jedenfalls ist die drohende Gefahr einer „Sekundärausbeutung“ der „Opfer“ nicht zu unterschätzen, die dabei, nicht selten eben in theologischer Gestalt, auch vor mehr oder weniger subtilen „Selbstbehauptungs“-Strategien nicht zurückscheut, um auf dem Rücken der Opfer die Gottesthematik noch „besprechbar“ zu halten.
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Wortschatz verheißungsvolle Konnotationen auszuleihen“, auf eine „Aufweichung diskursiven Denkens“ hinauslaufen soll372 und unumgängliche Grenzziehungen verschwimmen lässt. Es sind wohl solcherart zutage tretende Vermittlungsaufgaben, die auch bei Kant selbst als unverzichtbares Bindeglied zwischen den geschichts- und religionsphilosophischen Problemstellungen fungieren und des Weiteren auch wichtige Aspekte der von Kant geltend gemachten Idee einer „authentischen Theodizee“ berühren. Davon soll, an dieses Motiv der „Naturgeschichte“ anknüpfend, schon im Abschnitt II., 4.3. und sodann im VI. Teil genauer die Rede sein. Hier sei, vor dem Hintergrund der von Benjamin diagnostizierten „Nötigung, Geschichte philosophisch zu denken“, noch einmal resümierend festgehalten: Die auch in diesem Abschnitt über die Idee der „Naturgeschichte“ versuchte Freilegung von gegenläufigen geschichtsphilosophischen Motiven im Denken Kants müsste demzufolge wohl das kritische Urteil Benjamins bestätigen und es gleichermaßen relativieren, „dass in dieser Beziehung Kants Philosophie noch sehr unentwickelt wäre.“373 Indes vermag auch dies daran nichts zu ändern: Eines ist es, diese geschichtsphilosophische Sichtweise als ein bei Kant zwar tatsächlich noch unentfaltetes (d. h. explikationsbedürftiges) Problem anzusehen, ohne jedoch die in diese Richtung weisenden fragmentarischen und verstreuten Motive (und deren unabweisliches Sinnpotenzial) zu ignorieren bzw. ihre Rechtmäßigkeit (als „ein der Vernunft an sich selbst“ anhängendes Bedürfnis: III 271) in Frage zu stellen; etwas anderes ist es wiederum, die daraus resultierenden Problemperspektiven von vornherein ausschließen zu wollen, d. h. sie als mit Kants kritischer Geschichtstheorie grundsätzlich unvereinbar abzutun oder als hierfür irrelevant zu ignorieren.374 Im Vorblick auf die nachfolgenden Überlegungen legt sich schon hier auch die Frage nahe: Lässt sich jene Benjamin’sche These, „dass die Geschichte nicht allein [!] eine 372 J. Habermas, Einleitung zu: Habermas 2009, 32. 373 Vgl. Benjamins Brief an G. Scholem v. 22. Oktober 1917. In: Benjamin 1978, 152. – Bekanntlich wollte Benjamin sein ursprünglich geplantes Dissertations-Projekt der kantischen Geschichtsphilosophie widmen; er hat dieses zunächst von hohen Erwartungen begleitete Vorhaben jedoch schon bald (und zunehmend) skeptisch beurteilt und schließlich überhaupt fallen gelassen. Möglicherweise darf aber, trotz der Enttäuschung seiner „hochgespannten Erwartung“, als eine späte Frucht dieser Auseinandersetzung mit Kant und der daraus gereiften Einsicht, dass bezüglich der für ihn zentralen Probleme der „Geschichtsphilosophie … bei Kant im entscheidenden Sinne wohl erst dann etwas [zu] lernen [sei,] wenn wir sie für uns neu gestellt haben“ (ebd. 161; 159), jene strikt gegenläufige Perspektive einer „historischen Konstruktion“ angesehen werden, die sich vielleicht noch einer Erinnerung an den von ihm (obgleich schon eher zurückhaltend) erwogenen neuen Zugang zur kantischen Geschichtsphilosophie „von der Ethik aus“ (ebd. 176) verdankt. Einschlägige motivliche Spuren sind wohl auch noch in seinen Bezügen auf Lotze zu identifizieren. Die von Benjamin vornehmlich angemerkte geschichtsphilosophische Notwendigkeit einer Kritik des kantischen „Erfahrungsbegriffs“ ist hier nicht zu verfolgen. 374 Darauf zielt auch Habermas’ Hinweis im „Philosophischen Diskurs der Moderne“: „Nicht mehr nur die zukünftigen, auch die vergangenen Generationen erhalten einen Anspruch an die schwache messianische Kraft der gegenwärtigen. Die anamnetische Wiedergutmachung eines Unrechts, das sich zwar nicht ungeschehen machen, aber durch Eingedenken wenigstens virtuell versöhnen läßt, bindet die Gegenwart in den kommunikativen Zusammenhang einer universalen geschichtlichen Solidarität ein. Diese Anamnese bildet das dezentrierende Gegengewicht gegen die gefährliche Konzentration der Verantwortung, die das moderne, allein in die Zukunft gerichtete Zeitbewusstsein einer problematischen, gleichsam zum Knoten geschürzten Gegenwart aufgebürdet hat“ (Habermas 1985a, 25 f ).
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Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist“, genauer besehen nicht ohnehin als eine geschichtsphilosophische Anwendung jener dem kantischen „Weltbegriff der Philosophie“ immanenten Forderung der „Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ (II 700) verstehen? Dies verweist überdies auf weitere geschichtsphilosophische Problemaspekte, die, besonders akzentuiert, in der Verbindung zwischen den „wesentlichen“ und den „höchsten Zwecken“ der Vernunft, auf später noch zu behandelnde religionsphilosophische Problemstellungen vorausweisen. Auch hier, an dieser Schnittstelle von Geschichts- und Religionsphilosophie, treten bemerkenswerte motivliche Berührungspunkte und Konvergenzen zwischen Kant und Benjamin zutage, wie sich im folgenden letzten Abschnitt dieses II. Teils noch genauer zeigen soll.
4.3. Ein geschichts- und religionsphilosophischer Ausblick mit Kant und W. Benjamin Im Ausgang von den mit jener geschichtsphilosophisch „revolutionierten Denkungsart“ verbundenen Motiven und dem ihnen immanenten, strikt gegenläufigen „Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ ergibt sich nun ein interessanter Bezug auf das auch diesbezüglich der kantischen Postulatenlehre immanente Sinnpotenzial und dessen notwendige Differenzierungen. Vornehmlich lässt dies daran denken, Kants zentrales religionsphilosophisches Motiv, wonach die sich aus dem Anspruch des Sittengesetzes verstehende menschliche Existenz darin „absolut zu Gott“ sei, dahingehend aufzunehmen, dass das durch nichts relativierbare (bzw. rationalisierbare) individuelle Leid des Menschen als des „vernünftigen Erdwesens“ (VI 688) als gewissermaßen „absolut zu Gott“ anzuerkennen bleibt und in solcher Hinsicht auch auf Themen seiner späten Theodizee-Abhandlung verweist. 4.3.1. Benjamins Verbot, „Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen“, im Kontext der kantischen Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ Schon die dem Motiv der „Naturgeschichte“ gewidmeten Überlegungen wollten verdeutlichen, dass das von Kant artikulierte „Befremden“ und der von ihm (schon in jenem Unterschied der „Geschichte der Menschheit“ von der „Geschichte der Menschen“) erhobene Protest gegen geschichtstheologische Sinngebungen bzw. geschichtsteleologische Glättungen offensichtlich eine bemerkenswerte Nähe zu Benjamins (und Adornos) Motiv der „Rettung der Hoffnungslosen“375 und des „Namens“ erkennen lassen. Dass Kants Hoffnungskonzeption in der Tat eine paradoxe Bezugnahme auf die „Irreversibilität ver-
375 Siehe Adornos Brief an Horkheimer v. 25. Februar 1935 (zit. n. Gumnior/Ringguth 1973, 84 f ).
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gangenen Leidens“376 impliziert, wird im Blick auf die von ihm verfolgte postulatorische Vermittlung von Moral und Religion – wie also „Moral unumgänglich auf Religion führt“ (IV 651) – noch näher zu verfolgen sein (s. u. IV. Teil). Gewiss lässt auch das von Adorno aufgenommene Benjamin’sche Hoffnungsmotiv – jene „Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen“377 – Züge einer geschichtsphilosophisch vermittelten und motivlich erweiterten Postulatenlehre erkennen, die, einer von Horkheimer favorisierten Lesart gemäß, zweifelsohne auch so verstanden werden darf, dass sie die (ebenso in jenem „Befremden“ Kants anklingende) Undenkbarkeit dessen, „dass das Unrecht, das die Geschichte beherrscht, endgültig sei“,378 zum Ausdruck bringt. Damit treten nunmehr auch religionsphilosophische Motive in den Vordergrund, die nicht nur eine Anknüpfung an die erwähnte Lesart jenes Benjamin’schen Verbots, „die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen“,379 als plausibel erscheinen lassen. 376 Habermas 2001c, 24. 377 In geschichtsphilosophischer Situierung führt dies in der Tat noch einmal auf neue Aspekte; in besonderer Weise gilt dies natürlich bezüglich Benjamins denkwürdiger Notiz, „daß die letzte Hoffnung niemals dem eine ist, der sie hegt, sondern jenen allein, für die sie gehegt wird. […] So rechtfertigt am Ende die Hoffnung den Schein der Versöhnung, und der Satz Platons, widersinnig sei es, den Schein des Guten zu wollen, erleidet seine einzige Ausnahme. Denn der Schein der Versöhnung darf, ja er soll gewollt werden; er allein ist das Haus der äußersten Hoffnung. […] Elpis bleibt das letzte der Urworte: die Gewißheit des Segens, den in der Novelle die Liebenden heimtragen, erwidert die Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen. Sie ist das einzige Recht des Unsterblichkeitsglaubens, der sich nie am eigenen Dasein entzünden [!] darf“ (Benjamin 1972, 332 f ). Entsprechendes gilt für den Anspruch einer „authentischen Theodizee“ (s. VI. Teil). 378 Horkheimer 1985, 212. Es scheint genau diesen Intentionen Kants (wie auch ihrer angesprochenen „Umkehrung“) zu entsprechen, wenn Horkheimer bemerkt: Durch „das absichtliche Ordnen und Bewahren“ mache „die Historie sich selbst nicht bloß zum Werkzeug für bessere gesellschaftliche Verhältnisse, sondern auch zum Spiegel der vergangenen Ungerechtigkeit. Was den Menschen, die untergegangen sind, geschehen ist, heilt keine Zukunft mehr. Sie werden niemals aufgerufen, um in der Ewigkeit beglückt zu werden … Inmitten dieser unermesslichen Gleichgültigkeit kann allein das menschliche Bewußtsein die Stätte bilden, bei der erduldetes Unrecht aufgehoben ist, die einzige Instanz, die sich nicht zufrieden gibt. … Jetzt, wo das Vertrauen auf das Ewige zerfallen muß, bildet die Historie das einzige Gehör, das die gegenwärtige und selbst vergängliche Menschheit den Anklagen der vergangenen noch schenken kann“ (Horkheimer 1934, 321 ff, hier 341). Genau diese frühe – gegen Benjamins „theologisierende“ Motive geltend gemachte – Konzeption hat der späte Horkheimer in eindrucksvollen Sätzen relativiert und auch problematisiert: „‚Wenn es keinen Gott gibt, braucht es mir nichts ernst zu sein‘, argumentiert der Theologe. Die Schreckenstat, die ich verübe, das Leiden, das ich bestehen lasse, leben nach dem Augenblick, in dem sie geschehen, nur noch im erinnernden menschlichen Bewußtsein fort und erlöschen mit ihm. Es hat gar keinen Sinn zu sagen, daß sie dann noch wahr seien. Sie sind nicht mehr, sie sind nicht mehr wahr: beides ist dasselbe. Es sei denn, daß sie bewahrt blieben – in Gott. – Kann man dies zugestehen und doch im Ernst ein gottloses Leben führen? Das ist die Frage der Philosophie“ (Horkheimer 1974, 11). Solche Irritationen setzen offenbar doch andere Akzente als Horkheimers frühere Bezugnahme auf einschlägige Motive (vgl. dazu ders. 1988, 95 f, 99 f ); sie werfen aber auch auf seine frühe Auffassung ein besonderes Licht: „Das vergangene Unrecht ist nicht wiedergutzumachen. Die Leiden der verflossenen Geschlechter finden keinen Ausgleich.“ (Horkheimer 1988, 86) 379 Dabei darf allerdings, auch gegen alle theologischen Vereinnahmungsversuche, jene kurz davor stehende Notiz nicht ausgeblendet bleiben: „Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben“ (Benjamin 1983 I, 588). Schon für Adorno stand fest, dass „nichts an theologischem Gehalt unverwandelt fortbestehen [wird]; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern“ (Adorno 1969, 20). In diesem Anspruch hat Habermas, mit Blick auf die
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Die daraus erwachsende Forderung des „Eingedenkens“ und das darin enthaltene Motiv der „Rettung des Hoffnungslosen“ bedeuten ebenso das Insistieren auf dem, „was gewesen sein wird“, und somit auch die kompromisslose Weigerung, Letzteres dem, was bloß „der Fall war“, auszuliefern; vielmehr sei es, weil nichts eben bloß „der Fall war“, als beim „Namen“ genannt und gerufen, d. i. als das, „das gewesen sein wird“, aufzubewahren. Darin sind wohl nicht nur Benjamins „Namen“-Motiv wiederzuerkennen, sondern überdies all jene strittigen theologischen Bezüge, für die insbesondere jene schon zitierte berühmte These über die „Geschichte als Eingedenken“ bestimmend war, die zunächst für die daran anschließenden Diskussionen mit Adorno und Horkheimer den maßgebenden Hintergrund darstellten.380 Jenem auf das „Was-gewesen-sein-wird“ gerichteten theologischen Interesse und dem daran orientierten Rettungsmotiv wäre so vornehmlich an dem Verstummten und dem „unwiderruflich“ Vergangenen gelegen, welches so – gegenüber allen einäugig-zukunftsfixierten Aussichten auf das Möglichkeits-Potenzial eines bloßen „Noch-nicht“ – das, „was es gewesen sein wird“, erinnernd zur Geltung bringt. So soll wohl jenes schon wiederholt benannte geschichtsphilosophische Defizit vermieden werden, dass noch ein insistierendes Festhalten am „Unabgegoltenen vergangener Hoffnungen“ stillschweigend die konkreten geschichtlichen „Subjekte der Hoffnung“ selbst preisgibt – ein gewiss anstößiger Gedanke, der sodann wohl auch mit dem am „moralischen Lauf der Dinge in der Welt“ ausgerichteten kantischen Motiv des „Endes aller Dinge“ und des „Herzenskündigers“ eng zusammenhängt (s. dazu u. IV., 1.3.1.). In dem solcherart geschichtsphilosophisch erweiterten Kontext gewinnen jene schon angeführten Rückfragen die Gestalt des Postulates einer vor der Annihilierung rettenden „memoria“, die auch die gleichsam „begrifflos Einzelnen“ vor der drohenden Vernicht(s) ung und dem Vergessen bewahrt. Das solchem Hoffnungslogos innewohnende (besser: ihn auszeichnende) „Kontrafaktische“ ist freilich nicht Kennzeichen seiner „Absurdität“, sondern ist selbst geradezu „moralisch geboten“.
junghegelianische Religionskritik, auch bei Adorno noch das „Pathos einer entsublimierenden Verwirklichung von Gottes Reich auf Erden“ identifiziert (Habermas 2001c, 27), obgleich „sich die Vernunft mit einem solchen Projekt überfordert“ und doch in dem untrüglichen Bewusstsein davon, dass die „verlorene Hoffnung auf Resurrektion … eine spürbare Leere“ hinterlässt (ebd. 24 f ); weshalb bei Adorno „die derart überanstrengte Vernunft an sich selbst verzweifelt“ und nur auf die „Hilfe des messianischen Standpunktes“ zu rekurrieren weiß. – Jenes schon angeführte (Kant-nahe) Diktum Adornos, wonach „keine innerweltliche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“ (Adorno 1966, 377 f ), korrigiert offenbar in gewisser Weise jenes frühe „Löschblatt“-Motiv; denn (um im Bild zu bleiben) noch das beste „vollgesogene“ Löschblatt „tropft“ und darf diese „Tropfmasse“ und seine Spuren doch auch nicht anderswie heimlich „entsorgen“; nicht zuletzt daraus speist sich jenes angeführte spätere (kant-nahe) Motiv aus Adornos „Negativer Dialektik“. 380 Religion ist „konkrete Totalität der Erfahrung“ (Benjamin: „Über das Programm der kommenden Philosophie (Nachtrag)“: II.1, 157–171, bes. 168 ff ). „Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt“ (Benjamin, Theologisch-Politisches Fragment, II.1, 203 f ). „Es schwingt, mit anderen Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit“ (I.2, 693). „Die ewige Lampe ist ein Bild echter historischer Existenz. Sie ist das Bild der erlösten Menschheit – der Flamme, die am jüngsten Tage entzündet wird und ihre Nahrung an allem findet, was sich jemals unter Menschen begeben hat“ (I.3, 1239).
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Auch folgende Notiz Benjamins scheint auf eine denkwürdige Weise einen Grundgedanken der kantischen Postulatenlehre abzuwandeln und Kants religionsphilosophisches Motiv eines „Endes aller Dinge“ mit dem Theologumenon „restitutio ad integrum“ zu verbinden, in dem in der angezeigten Weise das imperfektische „Es war“ in das „Was-esgewesen-sein-wird“ aufgehoben wird: „[D]ass gewisse Relationsbegriffe ihren guten, ja vielleicht besten Sinn behalten, wenn sie nicht von vorne herein ausschließlich auf den Menschen bezogen werden. So dürfte von einem unvergesslichen Leben oder Augenblick gesprochen werden, auch wenn alle Menschen sie vergessen hätten. Wenn nämlich deren Wesen es forderte, nicht vergessen zu werden, so würde jenes Prädikat nichts Falsches, sondern nur eine Forderung, der Menschen nicht entsprechen, und zugleich auch wohl den Verweis auf einen Bereich enthalten, in dem ihr entsprochen wäre: auf ein Gedenken Gottes.“381 Vor allem aber sind es die in Benjamins Entwürfen zum Passagen-Werk – insbesondere in seinem (zustimmenden) Rekurs auf H. Lotzes Schrift „Mikrokosmos“382 – zutage tretenden aufschlussreichen Motive, die an dieser Nahtstelle von Geschichts- und Religionsphilosophie zentrale kantische Fragestellungen berühren und nicht zuletzt jenem „Befremden“ Kants (s. o. II., 3.2.) besonders nahestehen.383 Dies verdeutlicht Benjamins ausdrücklicher Hinweis auf die „Verbindung des Gedankens des Fortschritts mit dem der Erlösung bei Lotze: ‚Weil der Sinn der Welt sich in Widersinn verkehren würde, weisen wir den Gedanken zurück, dass ins Endlose die Arbeit vergehender Geschlechter nur denen zu Gut komme, die ihnen folgen, für sie selbst aber unwiederbringlich verloren 381 Benjamin IV.1, 10. „Der Gedanke des Opfers kann sich nicht ohne den der Erlösung durchsetzen“ (W. Benjamin I.3, 1244 f ). Ob Benjamins Notiz „Die Erlösung ist der limes des Fortschritts“ (I.3, 1235) nicht doch irreführend ist, sei lediglich als Frage angemerkt. 382 An diese Überlegungen des Neukantianers Lotze (Lotze1909) knüpft auch Benjamins Gedanke an, wonach doch der höhere Zusammenhang gedacht werden müsse, „in welchem das Vergangene nicht bloß nicht ist, in welchem vielmehr alles, was der zeitliche Verlauf der Geschichte unerreichbar füreinander trennt, in einer unzeitlichen Gemeinschaft miteinander und nebeneinander ist“ (ebd. 50). Dass im Titel des Lotze-Werkes von „Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit“ die Rede ist, gewinnt in diesem Kontext ebenso besondere Bedeutung wie der Sachverhalt, dass Lotze in diesem Werk ausdrücklich den „Sinn der Geschichte“ thematisiert und gegen verkürzte Bestimmungen desselben auftritt. 383 Dass Lotze hier in aufschlussreicher Weise für Benjamin als Brückenschlag zu geschichtsphilosophischen Motiven Kants fungiert, verdeutlicht sein Hinweis auf „Lotze als Kritiker des Fortschrittsbegriffs: ‚Es ist kein … klarer Gedanke, sich die Erziehung auf die Reihenfolge der menschlichen Geschlechter verteilt zu denken und spätere die Früchte genießen zu lassen, die aus der unbelohnten Anstrengung, oft aus dem Elend der frühern hervorwachsen. Von edlen Gefühlen eingegeben ist es dennoch eine unbesonnene Begeisterung, die Ansprüche der einzelnen Zeiten und der einzelnen Menschen gering zu achten, und über all ihr Mißgeschick hinwegzusehn, wenn nur die Menschheit im Allgemeinen fortschreite … Es kann keinen Fortschritt … geben, der nicht ein Zuwachs an Glück und Vollkommenheit in denselben Gemütern wäre, welche vorher unter einem unvollkommenen Zustande litten‘“ (Benjamin 1983 I, 599). Die Nähe zu jenem kantischen „Befremden“ (VI 27) über das Los der „verlierenden Menschen“ ist nicht zu übersehen. Zu Benjamins geschichts-kritischen Bezügen auf Lotze, die sich offensichtlich geradezu an Kants Programm einer Kritik der Geschichte und der historischen Schriften orientieren, s. Benjamin 1983 I, 599 ff. – Dass diese Lotze/Benjamin’schen Motive ein wichtiges Scharnier zwischen Geschichtsund Religionsphilosophie darstellen, ist nicht zu übersehen; gleichwohl dürfen sie nicht sogleich nur religionsphilosophisch-theologisch „besetzt“ werden, weil der darin auch enthaltene Stachel für eine kritische Geschichtsphilosophie andernfalls unkenntlich wäre.
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gehe.‘ … Das darf nicht sein ‚wenn nicht die Welt selbst mit dem ganzen Aufgebot ihrer geschichtlichen Entwicklung als ein unverständlicher und vergeblicher Lärm erscheinen soll. … Dass, in welcher geheimnisvollen Weise es auch sein mag, der Fortschritt der Geschichte doch auch für sie geschieht: dieser Glaube erst gestattet uns, von einer Menschheit so zu sprechen, wie wir es tun‘ … Lotze nennt das ‚den Gedanken einer … Aufbewahrung und Wiederbringung‘.“384 Dennoch bleibt es dabei – und eben deshalb verknüpfte der Neukantianer Lotze die geschichtsphilosophischen Thesen Benjamins mit Motiven der kantischen „Postulatenlehre“: Mag auch das noch „Unabgegoltene“ vergangener Hoffnungen, das „Unerledigtsein des Gewesenen“ dasjenige sein, das „in die Zukunft treibt“, so bleiben darin die hoffenden Subjekte selbst auf der Strecke, zumal auch ein solches „in die Zukunft treibende Unerledigte des Gewesenen“ selbst noch von deren individuellem Los „abstrahiert“. An diese nicht preiszugebenden Aspekte von „Unabgegoltenem“ knüpft die im IV. Teil in den Vordergrund tretende subjekt-zentrierte Perspektive im Blick auf zentrale Motive der kantischen Lehre vom „höchsten Gut“ an; im VI. Teil finden sie eine besondere theodizee-orientierte Zuschärfung. In einem geschichtsphilosophischen Kontext wäre deshalb Kants Aufweis, dass und wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“ (VI 652), erneut als indirekter Verweis darauf zu vergegenwärtigen, dass eine an diese geschichtsphilosophischen Überlegungen anknüpfende religionsphilosophische Perspektive – auch im Sinne einer Differenzierung der „wesentlichen“ und der „höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ – darauf insistieren muss, dass eine am „Unabgegoltenen“, „Uneingelösten“, „Unerledigten“ ori-
384 Benjamin 1983 I, 600. – Als ob Lotze damit jene an einer „Ontologie“ des „Noch-nicht“ orientierte Hoffnungsphilosophie in ihrer „Halbierung der Vernunft“ vor Augen gehabt hätte: „Kraftlos ist jede Berufung auf Nichtseiendes, mächtig nur die, die lebendig von diesem Gedanken einer solchen Aufbewahrung und Wiederbringung aller Dinge durchdrungen ist“ (Lotze 51 f ). Unschwer ist die motivliche Nähe zu jenem geschichtsphilosophischen „Befremden“ Kants, aber auch zu dessen Version des „Homo sum …“ und dem „Ende aller Dinge“ zu erkennen. In diesen Lotze’schen Kategorien sah Benjamin offenbar noch am ehesten jenem Verbot Rechnung getragen, die Geschichte „unmittelbar in theologischen Begriffen zu schreiben“. „Die Ahnung, dass wir nicht verloren sein werden für die Zukunft, dass die, welche vor uns gewesen sind, zwar ausgeschieden sind aus dieser irdischen, aber nicht aus aller Wirklichkeit, und daß, in welcher geheimnisvollen Weise es auch sein mag, der Fortschritt der Geschichte doch auch für sie geschieht: dieser Glaube erst gestattet uns, von einer Menschheit und von ihrer Geschichte so zu sprechen, wie wir es tun“ (Lotze, a. a. O. 51). „Und so weiter in infinitum, bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegenwart eingebracht ist“ (Benjamin 1983 I, 573). Freilich, Lotzes (Kant-naher) Hinweis auf eine „notwendig vorsichtigere Überlegung“, dass der „Gesamteindruck der Geschichte kein ungemischt erhebender, sondern überwiegend ein wehmütiger ist“ (Benjamin 1983 I, 599), hat bei Benjamin noch eine unverkennbare Verschärfung erfahren. Der in „ästhetischem“ Kontext von Kant vorgenommene Rekurs auf einen „ursprünglichen Vertrag, der durch die Menschheit selbst diktiert ist“ (V 394), wäre hier in modifizierter Weise aufzunehmen, zumal der sich darin zur Geltung bringende „Gemeinsinn“ in dieser Verbindung von Geschichts- und Religionsphilosophie eine besondere Bedeutung erhielte und dergestalt jene angeführten Motive Lotzes und Benjamins besonders eng verbunden wären. Das religionsphilosophisch akzentuierte Motiv dieses „Gemeinsinns“ gemäß jenem „ursprünglichen Vertrag, der durch die Menschheit selbst diktiert ist“, müsste so in einer entsprechend modifizierten Postulatenlehre nicht zuletzt für den Status der Hoffnungsthematik besondere Relevanz gewinnen. Und es liegt in diesem religionsphilosophischen Kontext besonders nahe, dieses „Gemeinsinn“Motiv mit Kants später Übersetzung jenes Terenz-Motivs zu verknüpfen: „Ich bin ein Mensch. Alles, was Menschen widerfährt, trifft auch mich.“ (IV 598)
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entierte kritische Historie indes von den geschichtlichen „untergegangenen“ Subjekten selbst abstrahiert und so Gefahr läuft, den Anspruch einer erinnerungs-orientierten, leidsensiblen praktischen Vernunft zu verkürzen. Die angeführten (an Lotze anknüpfenden) Anliegen Benjamins lassen eben dafür ein besonderes Gespür erkennen, das sich vor allem in seinem Motiv der „Rettung“ zur Sprache bringt und wohl auch jenes im Anschluss an Lotze aufgegriffene Theologumenon der „Wiederbringung“ inspiriert. Wären die darin artikulierten uneingelösten Vernunftansprüche in diesem Sinne – und im Blick auf Kant – gerade daraufhin auszudehnen, dass es doch die hoffenden und verzweifelnden Subjekte (ihre „quälbaren Leiber“: B. Brecht) selbst sind, deren Erinnerung in den Motiven einer radikalisierten Postulatenlehre integriert sein müsste (und im „Glückseligkeits-Motiv“ „symbolisch dargestellt“ wäre)? Dies sollte auch noch eine Radikalisierung jenes intendierten Aufweises, „wie Moral … unumgänglich zur Religion“ führt, erlauben, der näherhin auch auf jenes „Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen“, abzielt, das indes auch eine „gegen den Strich gebürstete Geschichte“ prinzipiell und heillos überfordern muss. Zielt Benjamins Einspruch offenbar doch darauf ab, dass in solch schwachem Licht nicht nur das „Unabgegoltene“ vergangener Hoffnungen erscheint, sondern vielmehr die Ansprüche der Hoffenden als „vernünftiger, aber endlicher Wesen“ selbst. Ein derartiger Einspruch verbindet jenes Verbot, „Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen“, mit dem theologischen Motiv der „restitutio ad integrum“ – einer „restitutio“ als Heil, das sich freilich gerade nicht an dem bemisst, „was keinen Schaden“ hat, sondern vielmehr daran, das „allen Schaden genommen hat“.385 Auch hier ist also die enge motivliche Verbindung zu jenem Benjamin’schen Verbot, „Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen“, ebenso wenig zu übersehen wie der Umstand, dass dieserart das geschichtsphilosophische Terrain schon überschritten ist.386 So bestätigt sich erneut, dass es deshalb wohl am angemessensten ist, auch jenes geschichtsphilosophische Motiv der „Naturgeschichte“ selbst nicht schon theologisch zu vereinnahmen, sondern es eher als unumgängliches Grenzmotiv und Scharnier zwischen Geschichts- und Religionsphilosophie auszuweisen. Diesbezüglich ist jene frühe Unterscheidung zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ noch einmal in besonderer Weise erinnernswert, die auch in jenem lapidaren Befund Kants zum Ausdruck kommt: „Der einzelne Mensch verliert, aber gewinnt als
385 Deshalb kann sich das Benjamin’sche Motiv der „Rettung der Hoffnungslosen“ nicht in der Erinnerung des „Unabgegoltenen vergangener Hoffnungen“ erschöpfen. Möglicherweise ist Benjamins Anknüpfung an Lotze zugleich als eine indirekte Kritik an jener Forderung Adornos/Horkheimers zu lesen, es sei „um die Einlösung der vergangenen Hoffnung … zu tun“ (Adorno/Horkheimer 1969, 5), wenn diese doch, wie schon erwähnt, keineswegs an „die Hoffenden“ selbst heranreicht. Ebendies impliziert gewissermaßen das Eingeschriebensein einer „memoria“, die das „Imperfekte“, das Abgebrochene, vor seiner Entwichtigung und Verflüchtigung bewahrt, d. h. „erretten“ will. Jene Hoffnung speist sich insofern geradezu aus dem Widerstand dagegen, dass zuletzt auch solches „Eingedenken“ dem Ausstand des noch Unabgegoltenen der Hoffnungen geopfert wird. 386 Die in diesen „naturgeschichtlichen“ Bezügen naheliegenden Anknüpfungspunkte an das Thema der „authentischen Theodizee“ sind gewiss nicht zu übersehen; gleichwohl weist Letzteres darüber noch einmal hinaus.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
ein Glied im Ganzen, ist jetzt im Fortschritt zur Vollkommenheit.“387 Einschlägige Motive aus Kants Geschichtsphilosophie geben hier selbst einen Wink, dass die Frage der Sinnhaftigkeit („Geschichte der Menschen“) über die geschichtsphilosophische Sinndimension noch hinausführt; damit ist auch eine geschichtsphilosophische „Selbstbegrenzung“ angezeigt, die indes in der Thematisierung dieser gegenläufigen Aspekte innerhalb der kantischen Geschichtsphilosophie selbst ihren Ort findet. In den Spuren jenes geschichtsphilosophisch situierten kantischen Motivs der „Naturgeschichte“ so wie in den angeführten frühen Reflexionen Kants über die tiefe Diskrepanz zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ ergaben sich jedoch nicht nur naheliegende Anknüpfungspunkte für die von W. Benjamin festgestellte und in verschiedenen Motiven angezeigte „Nötigung, Geschichte philosophisch zu denken“. Genauso treten im Kontext der zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit Benjamins „geschichtsphilosophischen Thesen“ unübersehbar Themen zutage, die ihre Affinität zu Kants Postulatenlehre bzw. Ethikotheologie nicht verleugnen können bzw. auch eine ausdrückliche diesbezügliche „wirkungsgeschichtliche“ Referenz erkennen lassen. An solche Leitgedanken der kantischen Postulatenlehre erinnert zweifellos auch noch einmal jener von Benjamin erhobene Protest, den er in einer berühmt gewordenen Diskussion über die „Unabgeschlossenheit der Geschichte“ gegen Horkheimers Anspruch gerichtet hat, wonach allein das „menschliche Bewußtsein“ „die Stätte“ sei, „bei der erduldetes Unrecht aufgehoben ist“.388 Auch das dagegen aufgebotene kritische Motiv Benjamins verdankt sich offenkundig der Intuition, dass eine „schlechte Zukünftigkeit“, die das Vergangen-„Gewesene“ so „außer sich“ lässt, eben auch keine wirkliche Zukunft wäre: Eine Zukunft, die lediglich diejenige der Gegenwärtigen und zukünftig Lebenden wäre, müsste – so wie alle „Ontologien des Noch-nicht“ – in dieser Scheinhaftigkeit den Sinnanspruch wahrer Zukunft geradewegs verraten, zumal jenes täuschend-verheißungsvolle „Noch-nicht“ sich doch stets neu als trügerisch erweist, d. h. eine derartige „schlechte Zukünftigkeit“ sich fortwährend als ein ent-täuschtes „Nicht-mehr“ – kaum „real“, schon wieder „schal“ und unwahr geworden – entpuppt und somit nicht nur alles „Hören und Sehen“, sondern letztlich auch alles „vernünftige Erinnern“ vergehen müsste. Deshalb, so Benjamin, vermag die Forderung, das unabgegoltene „Zukünftige im Vergangenen“ zu erinnern und zu retten, nur dann jene schon wiederholt angezeigte subjekt-vergessene Geschichtslogik zu durchbrechen, wenn sie zugleich auf deren Inversion insistiert, das heißt gleichermaßen das „Vergangene im Zukünftigen“ geltend macht, also an dem, „was gewesen sein wird“, festhält. Andernfalls liefe auch jener erbarmungslos abstrakt-subjektlos bleibende Rekurs auf die „unabgegoltenen“ Hoffnungen, wie gezeigt, in Wahrheit auf eine Vergötzung des Augenblicks und dessen vergeblich-trostloses 387 Refl. 1499, AA XV, 783. – Der von Marx betonte „Schein“ eines „harten Sieges der Gattung über das bestimmte Individuum“ (s. o. II, Anm. 215) ist in der kantischen Diagnose freilich zum schonungslosen Bewusstsein des unentrinnbaren „Faktums“ verschärft. 388 Horkheimer 1934, 321–342, hier 341 (s. o. II., Anm. 378). Zu den teilweise in diesen kantischen Spuren verlaufenden Kontroversen zwischen Benjamin, Horkheimer, Adorno vgl. v. Verf. (2011).
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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„Bleibe!“ hinaus.389 Eben dies markiert freilich auch einen entscheidenden Unterschied zwischen geschichts- und religionsphilosophischen Intentionen. Und ist es nicht dieses Motiv, das auch in dem von Benjamin aufgenommenen Diktum Lotzes anklingt: „Es schwingt … in der Vorstellung vom Glück … die der Erlösung mit“390 – und offenbar impliziert, dass dies nur in jenem – auch dem Anspruch des „Augenblicks“ gerecht werdenden – Modus des „Gewesen-sein-wird“ zu denken ist? Von diesen die kantische Postulatenlehre kreuzenden Motivlinien her betrachtet, ist auch eine schon früh von Habermas (in Verweis auf Ch. Lenhardts Benjamin-Interpretation) diagnostizierte aporetische Problemlage zu erwähnen, deren Nähe zu jener geschichtsphilosophisch gewendeten Unterscheidung von „Naturgeschichte und Naturbeschreibung“, ebenso zum Anspruch jener „Trauer“ als einer „praktischen Sinnkategorie“ und jenem von Kant in diesen geschichtsphilosophischen Bezügen geäußerten „Befremden“ nicht zu übersehen ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt in Habermas’ Hinweis auf die auftretenden „Verlegenheiten“ eines gerade in Ansehung der Gerechtigkeitsaspekte nicht zu kurz greifenden „ethischen Aspekts“, der auch noch den Intentionen eines differenzierten „Weltbegriffs der Philosophie“ zu genügen vermag: „Wenn man die Ethik nicht nur als eine Explikation der Frage nach der Begründung normativer Aussagen begreift, sondern als eine Theorie, die Fragen der historischen Verwirklichung moralisch-praktischer Rationalität einbezieht, stellt sich ein Problem, dem Ch. Lenhardt im Anschluß an Walter Benjamin die folgende Form gegeben hat. Gesetzt den Fall, dass die Nachgeborenen nur dank der Leiden und Opfer vergangener Generationen in den Genuss einer institutionalisierten Freiheit, in den Genuss wenn nicht geradezu einer gerechten Ordnung, so doch von Prozeduren gelangt sind, die Unrecht minimieren – dürfen sie eine Welt, die eine solche Entstehungsgeschichte hat, eine ‚gerechte‘ nennen?“391 Mit solcher Frage bestätigt Habermas ein Grundmotiv Benjamins, das offenkundig auch noch für seine späteren Überlegungen zur „Solidarität“ als der „Kehrseite von Gerechtigkeit“ bestimmend blieb und – ungeachtet des Bemühens um eine „kritische Anverwandlung“ 389 In Horkheimers Aphorismus „Der Trug des Glücks“ (Horkheimer 1974, 127 f ) wird – vielleicht als späte Reminiszenz an seine Kontroverse mit Benjamin – eine bemerkenswerte Nähe zu diesem „Was gewesen sein wird“ vernehmbar: „Zwei alte Leute, zwei junge Freunde, zwei Liebende oder wer sonst immer mit Worten und Gesten gegenseitig sich erhöht und gegen den dunklen Hintergrund der Wirklichkeit das Leben schöner macht, lebt in selbsterzeugter Scheinwelt. Die Sprache ist wahr oder unwahr. Der Ausdruck, der den anderen im Überschwang erhöht, ist ein Urteil, und wenn es nicht den nackten Tatbestand bezeichnet, ein falsches Urteil. Noch das Bekenntnis ‚Du bist gut‘, ‚Du bist die Schönheit selbst‘ ist Schein, auch wenn der Liebende die Schönheit wahrnimmt, die dem Gleichgültigen entgeht, denn die hellsichtigeren Augen vermögen jenes ‚Bist‘ nicht einzulösen, nicht zu erweisen, das im glücklichen Moment gesetzt ist und mehr meint als den Moment. Die Replik, die Wahrheit sei nur im Moment, sie leuchte auf wie nur ein flüchtiger Schein und schwinde, ohne zunichte zu werden, ohne sich zu leugnen, das eben ist der Glaube der Glücklichen, der trügerisch ist. So trügerisch wie der Schrei des Gefolterten, der die Welt anklagt. Mit seinem Ersterben verhallt seine Wahrheit. Ausdruck ist Schein, weil kein Gott ist, der ihn vernimmt. Nur solange einer die Macht hat, zu hören und wahrzunehmen, nur solange die Realität einem recht gibt, hat der Widerstand gegen die Realität die Wahrheit, die seine Substanz ausmacht. Er ist seinem Sinn nach zur Ohnmacht verdammt, es ist kein Absolutes, das ihn in sich hereinnimmt und bewahrt. Der Schmerz und das Negative bleiben abstrakt, selbst im Hegelschen Mythos von der Totalität.“ 390 Benjamin 1983 I, 600; vgl. ders., Über den Begriff der Geschichte: I.2, 693. 391 Habermas 1984, 515 f.
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II. Teil: Geschichtsphilosophie – „Weltbegriff der Philosophie“
– wohl auch seinem Verständnis dafür zugrunde liegt, dass die „ungläubigen Söhne und Töchter der Moderne … in solchen Augenblicken zu glauben“ scheinen, „einander mehr schuldig zu sein und selbst mehr nötig zu haben, als ihnen von der religiösen Tradition in Übersetzung zugänglich ist – so, als seien deren semantische Potenziale noch nicht ausgeschöpft.“392 Die voranstehend verfolgten Themen, in denen sich – bei Kant wie auch bei Benjamin – geschichtsphilosophische und religionsphilosopische Motive berühren, gehören zweifellos selbst zu dem auf die „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ der menschlichen Vernunft abzielenden kantischen „Weltbegriff der Philosophie“, in denen sich ein unstillbares „Bedürfnis der Vernunft“ artikuliert und auch zur Geltung bringt. Die in diesem Kapitel sichtbar gewordenen Verbindungslinien zwischen leitenden geschichts- und religionsphilosophischen Fragen – worin auch Differenz und Einheit dieser Perspektiven sichtbar werden – spiegeln sich natürlich bei Kant schon in der unterschiedlichen Intention und Beantwortung der Fragen „Was (soll und) darf ich hoffen?“ sowie in der Bestimmung des „höchsten politischen Gutes“ als den „ganzen Endzweck der Rechtslehre“ bzw. der Kennzeichnung des „höchsten Gutes“ als den „Endzweck der praktischen Vernunft“ wider. Als ein unübersehbares Verbindungsglied zwischen Geschichts- und Religionsphilosophie darf dabei zweifellos die demgemäß zu differenzierende Hoffnungsfrage und die von Kant entsprechend entworfene Konzeption des „höchsten (politischen) Gutes“ angesehen werden, sofern darin in unterschiedlicher Akzentuierung die spezifische Weltstellung des Menschen als Gattungswesen und Individuum thematisch wird. Dabei war Kant vornehmlich um den Aufweis bemüht, dass sich die „ganze Bestimmung des Menschen“ weder in der von ihm angebotenen geschichtsphilosophischen Perspektive erschöpft noch der (gewiss elementare und unumgängliche) Status als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ seiner „ganzen Bestimmung“ genügt, ohne dass dies lediglich als eine eudämonistische Inkonsequenz bzw. als ein Rückfall interpretiert werden dürfte (s. u. IV., 2.; 3.). So wie in vielen anderen Bezügen ist die Einbindung der kantischen Geschichtsphilosophie in den umfassenderen anthropologischen Kontext unübersehbar; darin stellt, wie Kant bemerkenswerterweise notiert, die „Geschichte der Gattung, nicht der Menschen“,393 den maßgebenden Gesichtspunkt dar – auch hier wiederum auf eine Weise, die jenen programmatischen Gesichtspunkt „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ in einem besonderen Licht erscheinen lässt.
392 Habermas 2001c, 25. Denn freilich dementiere Horkheimers berechtigte Skepsis gegen „Benjamins überschwängliche Hoffnung … nicht den ohnmächtigen Impuls, am Unabänderlichen doch noch etwas zu ändern“ (ebd.). – Diese Hinweise auf ein mögliches „Mehr“, als „von der religiösen Tradition in Übersetzung zugänglich ist“ sowie auf das noch „Unausgeschöpfte“ der „semantischen Potenziale“ implizieren dann aber auch bezüglich des Verhältnisses von „Religion und Philosophie“, dass Philosophie sich nicht darin erschöpft, gegenüber der Religion wenigstens partiell als eine Art „Nachlass“-Verwalterin „eines guten Namens nach dem Tode“ der inzwischen abgestorbenen Religion zu fungieren. Sie kann sich dann aber auch nicht dazu verstehen, wenigstens teilweise gleichsam die „Rolle des Apologeten für den Verstorbenen“ (d. i. die Religion) zu übernehmen. (Diese Anknüpfung bezieht sich auf kantische Überlegungen in seiner „Rechtslehre“ zur „idealen Erwerbung“: IV 410). 393 Refl. 1467, AA XV, 646.
4. Die Idee der „Naturgeschichte“ in einer kritischen Geschichtsphilosophie
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Bezüglich der geschichts- und religionsphilosophischen Verortung der Frage des „begründeten Hoffens“ sei hier noch auf eine genau zu beachtende immanente Begründungslogik hingewiesen: War es nicht zuletzt jenes im geschichtsphilosophischen Kontext geäußerte „Befremden“, das auf eine geschichtsphilosophisch nicht zu nivellierende, aber auch nicht einholbare Hoffnungsdimension der „vernünftigen Weltwesen“ verweist, die sich in der zukunftsorientierten Gattungsperspektive nicht erschöpft, so darf diese derart eröffnete religionsphilosophisch zu explizierende Hoffnungsperspektive indes die geschichtsphilosophisch zu bewahrende Dimension des Erinnerns und „Eingedenkens“ wiederum nicht verdecken bzw. selbst absorbieren. Letztere stellt eben selbst eine bleibende, geschichtsphilosophisch einzulösende Herausforderung dar – und dies wäre dann wohl der eigentliche geschichtsphilosophische Ort jener Idee der „Naturgeschichte“. Diese naturgeschichtliche Perspektive orientiert sich so auch geschichtsphilosophisch an den – nicht zuletzt in einer entsprechenden Geschichtsschreibung – „Veranderten“. Diese geschichtsphilosophischen Themen sind, wie erwähnt, in systematischer Hinsicht selbst dem „Weltbegriff der Philosophie“ zugehörig, der sich die Differenzierung der „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ zur Aufgabe macht. Die Geschichtsphilosophie stellt dabei eine eigentümliche Verbindung der „wesentlichen“ und der „höchsten Zwecke“ dar, nicht zuletzt in der angezeigten notwendigen Differenzierung des „höchsten Gutes“ und jener im letzten Abschnitt dieses Kapitels berührten Fragen an der Schnittstelle von Geschichts- und Religionsphilosophie, die auch in jener kantischen Bezugnahme auf die „Geschichte der Gattung, nicht der Menschen“, angesprochen ist. Die im engeren Sinne religionsphilosophischen Themen bzw. Begründungsfragen schließen hier an – zunächst am Leitfaden der kantischen Idee der „moralischen Teleologie“ gemäß der umfassenden Orientierung am „Endzweck der Metaphysik“.
III. Teil: Die dem „Weltbegriff der Philosophie“ aufgegebene Explikation der „höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“
1. „Praktisch-dogmatische Metaphysik“ als „Ethikotheologie“: Kants Beantwortung der – nach-kantischen – Frage „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“
Für eine systematisch orientierte Problemsicht ist es höchst bemerkenswert und auch folgenreich, dass der von Kant im Blick auf die Frage „Was darf ich hoffen?“ vorgenommene Aufweis des Sinngehalts der „Idee des höchsten Gutes“ zunächst, d. i. im „zweiten Abschnitt“ des „Kanons der reinen Vernunft“, ausdrücklich in direkter Analogie zur Frage „Was kann ich wissen?“ erfolgte.1 Die nachfolgenden Überlegungen nehmen deshalb davon ihren Ausgang.
1.1. Kants – systematisch weitreichende – Analogisierung der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“: Ein vom „Kanon der reinen Vernunft“ der „ersten Kritik“ bis zur „Ethikotheologie“ gespannter Bogen Für die angemessene Beurteilung des systematischen Stellenwerts dieser hier von Kant geltend gemachten Analogie zwischen der „Wissens“- und „Hoffnungs“-Frage ist die hierfür maßgebende „teleologische“ Struktur genau zu beachten. Seine diesbezügliche Argumentation ist jedenfalls höchst aufschlussreich: „Die dritte Frage, nämlich: wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen? ist praktisch und theoretisch zugleich, so, daß das Praktische nur als ein Leitfaden zu Beantwortung der theoretischen, und, wenn diese hoch geht, spekulativen Frage führet. Denn alles Hoffen geht auf Glückseligkeit, und ist in Absicht auf das Praktische und das Sittengesetz eben dasselbe [!], was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Dinge ist. Jenes läuft zuletzt auf den Schluß hinaus, daß etwas sei (was den letzten möglichen Zweck bestimmt), weil etwas geschehen soll; dieses, dass etwas sei (was als oberste 1
Mit Blick auf die Frage „Was soll ich tun?“ wäre zu erwägen, ob hier in analoger Weise ein Voraussetzungsproblem freizulegen ist. Auch diese Frage „Was soll ich tun?“ enthält von Kant selbst angezeigte transzendentale Implikationen – so wenn er mit dem Aufweis des „Vermögens“ der „reinen praktischen Vernunft“ auch den Nachweis der „transzendentalen Freiheit“ als Voraussetzung derselben erbracht sieht. – Es ist bemerkenswert, dass Kant in der „zweiten Kritik“ (d. h. vor dem nunmehr bestimmenden Hintergrund der neuen „Freiheitslehre“) die „Freiheit, positiv betrachtet (als … Kausalität eines Wesens, so fern es zur intelligiblen Welt gehört)“, nunmehr als „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ behauptet (und hier neben die „Unsterblichkeit der Seele“ und das „Dasein Gottes“ stellt: IV 264) und ihr somit doch einen „transzendentalen“ Status zuspricht; diese „Idee der Freiheit, deren Realität als einer besonderen Art von Kausalität … sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und, diesen gemäß, in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung, dartun lässt“, wird später von Kant sogar ausdrücklich „unter die Scibilia mit gerechnet“ (V 599).
438 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Ursache wirkt), weil etwas geschieht“ (II 677). Offensichtlich hatte Kant mit diesem erstaunlichen Befund einen zweifachen vollständigen, d. h. „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ vor Augen, der gleichwohl eine durchaus analoge Sinn-Logik sichtbar machen soll, die nicht zuletzt in der (bzw. als) Explikation von „notwendigen Voraussetzungen in Ansehung des theoretischen“ sowie des „praktischen Vernunftgebrauchs“ zutage tritt. Die bemerkenswerte Analogisierung der „Wissens“- und der „Hoffnungsfrage“ in der ers ten Kritik findet jedoch erst in der späten Explikation der „moralischen Teleologie“ ihre Einlösung – und gewinnt darin auch ihre systematische Legitimation. Es ist offenbar ein besonderes „teleologisches“ Band, das hier „theoretische“ und „praktische Vernunft“ miteinander verbindet und so schon auf die systematisch maßgebenden Perspektiven der „dritten Kritik“ vorausweist. Maßgebend wird dabei folgender Zusammenhang sein: So wenig nach Kant ein „vollständiger“ und „mit sich einstimmiger“, d. h. „zweckmäßiger Vernunftgebrauch“ ohne diese regulativen Vernunftprinzipien bzw. ohne das „regulative Prinzip der systematischen Einheit der Natur“ (II 599) möglich und infolgedessen auch (bedingt-„hypothetisch“) geboten ist (dem freilich der „Verstandesgebrauch“ zugrunde liegt), so wenig ist ohne die Idee des „praktischen Endzwecks“ und des hierfür vorausgesetzten „Endzwecks der Schöpfung“ ein „vollständiger“ und „mit sich einstimmiger praktischer Vernunftgebrauch“ zu denken, dem die in der „reinen praktischen Vernunft“ verankerte „Moralität“ zugrunde liegt; davon zu „abstrahieren“ liefe unvermeidlich darauf hinaus, die (praktische) Vernunft „in Widerspruch mit sich selbst zu versetzen“. Diese teleologische Perspektive wird ebenso ein wesentliches Fundament dafür darstellen, dass bzw. weshalb Kant die „Beförderung des höchsten Guts“ auch als praktisch (unbedingt) „geboten“ geltend machte (s. dazu u. IV., 2.2.3.), zumal andernfalls die als Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und der „Zwecke“ mit sich selbst in Widerspruch geratende (praktische) Vernunft sich selbst nicht „erhalten könnte“ und ein „Vernunftunglaube“ die unvermeidliche Folge daraus wäre (s. u. IV., 3.1.3.). Der Beförderung des „Verstandesgebrauchs“ und des „Zwecks“ der „Naturerkenntnis“ korrespondiert die freiheits-verankerte „Beförderung“ des „idealischen Endzwecks“, d. i. des „höchsten durch Freiheit mögliche(n) Gut(s) in der Welt“ (V 576). 1.1.1. Das Motiv der „transzendentalen Steigerung“ hinsichtlich des „vollständigen theoretischen“ und „praktischen Vernunftgebrauchs“ – zunächst in der „Kritik der reinen Vernunft“ Jene von Kant geltend gemachte – systematisch weitreichende – Analogie zwischen dem „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ orientiert sich zunächst „in Ansehung der theoretischen Erkenntnis“ gleichsam an der Beantwortung der Frage, wie die Welt für an epistemischer Welterklärung- und -orientierung interessierte „endliche Vernunftwesen“ beschaffen sein muss. Dies führt demgemäß auch auf unverzichtbare „Pos tulate“ als „Voraussetzungen in notwendig theoretischer Absicht“, ohne die menschliche Vernunft keine „Schule“ hätte und sich infolgedessen in ihren Anlagen als „beobachtende Vernunft“ nicht ausbilden könnte: „Was können wir für einen Gebrauch von unserem Verstande machen, selbst in Ansehung der Erfahrung, wenn wir uns nicht Zwecke vorset-
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zen? Die höchsten Zwecke aber sind die der Moralität, und diese kann uns nur reine Vernunft zu erkennen geben. Mit diesen nun versehen, und an dem Leitfaden derselben, können wir von der Kenntnis der Natur selbst keinen zweckmäßigen Gebrauch in Ansehung der Erkenntnis machen, wo die Natur nicht selbst zweckmäßige Einheit hingelegt hat; denn ohne diese hätten wir sogar selbst keine Vernunft, weil wir keine Schule für dieselbe haben würden, und keine Kultur durch Gegenstände, welche den Stoff zu solchen Begriffen darböten. Jene zweckmäßige Einheit ist aber notwendig, und in dem Wesen der Willkür selbst gegründet, diese also, welche die Bedingung der Anwendung derselben in concreto enthält, muss es auch sein, und so würde die transzendentale Steigerung unserer Vernunfterkenntnis nicht die Ursache, sondern bloß die Wirkung von der praktischen Zweckmäßigkeit sein, die uns die reine Vernunft auferlegt“ (II 685). Ohne dieses vom „theoretischen Vernunftgebrauch“ selbst nicht nur legitimierte, sondern gewissermaßen sogar „diktierte Vertrauen“ in die Rechtmäßigkeit dieser „postulatorischen“ Voraussetzung wäre nach Kant also gar kein angemessener und vollständiger Vernunftgebrauch möglich. Ebenso ist es jedoch in einer systematischen Hinsicht sehr aufschlussreich, dass Kant an der zuvor angeführten Stelle (aus dem „zweiten Abschnitt des Kanons der reinen Vernunft“) den „Verstandesgebrauch“ noch an vorgesetzte „Zwecke“ bindet, während er Letztere wiederum in den in „reiner Vernunft“ verankerten „höchsten Zwecken“, d. h. diejenigen der „Moralität“, begründet. Bekanntlich hat Kant solche Rückbindung in der späteren systematischen Vertiefung und Explikation aufgehoben, d. h. in der „Kritik der Urteilskraft“ mit dem kritischen Prinzip der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ verselbständigt und differenziert. Die in der von Kant geltend gemachten Analogisierung der Wissens- und Hoffnungsfrage bestimmende Leitidee ist nicht zu übersehen: Der Ausschau nach der „Möglichkeit des größten Gebrauchs der Menschenvernunft“, für welche die Idee eines „mit sich einstimmigen“ und „vollständigen [theoretischen] Vernunftgebrauchs“ maßgebend ist, korrespondiert also dem angeführten Passus zufolge der Ausblick auf die „höchsten Zwecke der Menschenvernunft“, die indes nur „die der Moralität“ sein können „und diese kann uns nur reine Vernunft zu erkennen geben“ (II 685). Nur so schien Kant, wie sich noch genauer zeigen soll, die von ihm gleichsam antizipierte nach-kantische Frage: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“2 beantwortbar zu sein – und al2
Diese offensichtlich von einer kantischen Problemperspektive (in systematischer Hinsicht wohl primär von der „Kritik der Urteilskraft“) inspirierte berühmte Frage hat bekanntlich der Verfasser des „Ältes ten Systemfragments des Deutschen Idealismus“ gestellt (Hegel 1, 234); darin sind offenbar jene drei „in dem Interesse meiner Vernunft“ vereinten Fragen (in einer offensichtlich durchaus teleologischen Perspektive) in ihrer unauflöslichen Einheit zusammengefasst, auf deren nähere Entfaltung und Vertiefung bekanntlich grundlegende Motive der „dritten Kritik“ Kants abzielen. – Bezüglich der in dieser ausdrücklichen Analogie vorgenommenen Zuordnung dieser Fragen nach dem „Wissen-Können“ und dem „Hoffen-Dürfen“ liegt freilich die Rücksicht darauf nahe, ob – bzw. worin – auch die zweite Frage: „Was soll ich tun?“ eine solche „Voraussetzungs“- bzw. transzendentale „Zweckmäßigkeits“-Entsprechung wie die beiden anderen Fragen hat; abgesehen davon natürlich, dass Freiheit die unumgängliche „ratio essendi“ des „moralischen Gesetzes“ (und insofern „postuliert“) ist. Darauf scheint auch die schon zitierte Reflexion 5008 (AA XVIII, 58) abzuzielen: „Die theoretische(n) Bedingungen alles Praktischen sind Freiheit, Ursprung und Zukunft, oder das innere und die äußere(n) Prinzipien aller unsrer Zwecke zusammen. Diese sind auch die crux philosophorum.“ Es ist zu vermuten, dass diese Frage in dem Ver-
440 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ lein daraus mag auch einsichtig werden, dass und wie dem „theoretischen Weltbegriff“ unübersehbar ein der „Hoffnungsfrage“ gemäßer, d. h. ebenso totalitäts-bezogener „ethischer Weltbegriff“, die Idee einer „moralischen Welt“, entspricht. Letztere zielt nunmehr auf die „höchsten Zwecke“ ab, die „nach der Natur der Vernunft, wiederum Einheit haben müssen, um dasjenige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist, vereinigt zu befördern“ (II 672). Während also die transzendentale Idee der „Welt“ auf die vollständige, d. i. „absolute Totalität der Bedingungen“, in „aufsteigender Reihe“, also „Totalität der regressiven Synthesis zielt und „in antecedentia“ gehen, ist die „praktische Weltidee“ als „Totalität des Gegenstandes der praktischen Vernunft“ und seiner Bedingungen an der „progressiven Synthesis“ orientiert und „in consequentibus“ ausgerichtet, indem sie „von der nächsten Folge zu den entfernteren fortgeht“ (II 402 f ), also von den „Bedingungen zum Bedingten“ (des „Künftigen“). Diese „progressive Synthesis“ liegt sodann der Unterscheidung des „obersten“ und des „ganzen (vollendeten) Gutes“ sowie der damit verbundenen Idee der „Unsterblichkeit der Seele“ zugrunde. Demnach erfolgt in der „transzendentalen Methodenlehre“ der „ersten Kritik“ Kants Bestimmung der „Idee des höchsten Gutes“ in unmittelbarem Zusammenhang mit der von Leibniz inspirierten Vernunft-Idee der „moralischen Welt“ und ist überdies engstens mit dem schon früh ausgezeichneten „sehr fruchtbaren Begriff … eines Reichs der Zwecke“ (IV 66)3 verbunden: „Ich nenne die Welt, so fern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre (wie sie es denn, nach der Freiheit der vernünftigen Wesen, sein kann, und, nach den notwendigen Gesetzen der Sittlichkeit, sein soll), eine moralische Welt. Diese wird sofern bloß als intelligibele Welt gedacht, weil darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben … abstrahiert wird. So fern ist sie also eine bloße, aber doch praktische Idee, die wirklich ihren Einfluss auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen“ (II 679). Als maßgebend erweist sich dabei zunächst jene aus dem Sittengesetz erfolgende Orientierung an dem zu „befördernden“ „Weltbesten an uns und anderen“ (II 687),4 das sich zunächst am konkreten Anspruch der sogenannten „engen“
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weis auf den „Begriff einer Kausalität durch Freiheit …, deren Wirkung diesen ihren formalen Gesetzen gemäß in der Welt geschehen soll“ (V 271), zum Ausdruck kommt, denn: „Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe ist der Endzweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existieren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des Subjekts als Sinnenwesens, nämlich als Mensch) vorausgesetzt wird“ (ebd.). In diesen systematisch höchst bedeutsamen Partien der „Einleitung“ in die „Kritik der Urteilskraft“ wird jene von Kant zunächst nur beiläufig angeführte „transzendentale Steigerung“ recht deutlich in gestufter Weise nachvollziehbar. Es ist nicht zu übersehen, dass die Explikation dieser „transzendentalen Steigerung“ im „theoretischen“ wie auch „praktischen Vernunftgebrauch“ sowie der darin begründeten Analogien vor dem Hintergrund der Entfaltung der umfassenden Idee des „Reichs der Zwecke“ geschieht: „Die Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der Zwecke, die Moral ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur. Dort ist das Reich der Zwecke eine theoretische Idee, zu Erklärung dessen, was da ist. Hier ist es eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß, zu Stande zu bringen“ (IV 70, Anm.). Gleichwohl weist, wie sich zeigen soll, der Sinngehalt der Idee der „moralischen Welt“ über die „praktische Idee“ eines „Reichs der Zwecke“ noch hinaus (s. u. III., 2.2.2.). Es wird sich zeigen, dass diese zwar schon im „Kanon der reinen Vernunft“ angesprochenen Themen – nach Kants „Kehre“ in seiner „Freiheitslehre“ – sodann erst in der „Dialektik der reinen praktischen
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und „weiten Pflichten“ (als dem „moralisch Guten“) orientiert. Allein in der Befolgung derselben erfüllt der Mensch als „vernünftiges Weltwesen“ seine „Bestimmung hier in der Welt“ und passt, als vernünftig-moralisches Wesen, auch nur so „in ein System aller Zwecke“ (ebd.). Diese zunächst maßgebende moralphilosophische Perspektive, unter welchen Bedingungen der „Mensch in ein System aller Zwecke passe“, wird sodann in der Ethikotheologie der „dritten Kritik“ anhand der Idee der „moralischen Teleologie“ näher entfaltet – schon dies enthält einen indirekten Verweis auf die sich an der Idee der „Zweckmäßigkeit“ orientierende Analogie der Wissens- und Hoffnungsfrage, die Kant im „Kanon“ ausdrücklich geltend gemacht hat. Jene Idee der „moralischen Welt“ erweise dergestalt also durchaus ihre „objektive Realität“ und ziele auf „ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen“ ab, „so fern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat“ (II 679).5 Darin ist die Vorstellung einer „Gemäßheit“ von „Sittlichkeit und Glückseligkeit“ mit derjenigen eines „corpus mysticum der vernünftigen Wesen“6 engstens verbunden und verweist so in dieser zweifachen Hinsicht auf den „Hauptzweck der allgemeinen Glückseligkeit“ (II 709) – eine „Vereinigung und [!] Zusammenstimmung“ (VI 132) wohlgemerkt, die in der näheren Kennzeichnung der Idee des „höchsten Gut(es) einer Welt“ als der „Glückseligkeit … in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch sie derselben würdig“ sind (II 683),7 aufgenommen ist und insbesondere für das Verständnis des Stellenwerts der gebotenen „Beförderung des höchsten möglichen Guts in der Welt“ bedeutsam bleibt. Der hier anklingende Sachverhalt wird noch genauer zu verfolgen sein: Die moralisch inspirierte Befolgung der Pflichten orientiert sich zugleich – weil alles Handeln auch „zweckbezogen“ ist – aus moralischen Gründen an der Idee der „moralischen Welt“, worin nach Kant die Pflicht der „Beförderung des höchsten Gutes“ begründet ist, obgleich diese keine „zusätzliche Pflicht“ besagt und doch zugleich die Moralität in einen umgreifenderen Sinnhorizont einrückt, der so erst die spezifisch ethikotheologische Dimension eröffnet. Dies entspricht freilich lediglich dem Sachverhalt, dass Kant – mit Bezug auf die Unterscheidung des „theoretischen“ und „praktischen Vernunftgebrauchs“ – schon im „Kanon der reinen Vernunft“ in der „transzendentalen Methodenlehre“ der „ersten Kritik“ auf die ideen-geleitete Vernunftperspektive hingewiesen hat, der zufolge der „praktische Gebrauch der Vernunft“ vornehmlich darauf abzielt, „was dasein soll“ (II 557). Dies darf deshalb
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Vernunft“ in transformierter Gestalt ihren systematischen Ort finden; hier erscheint die Perspektive einer „moralischen Teleologie“ (vgl. dazu schon die Endpartien seines Aufsatzes „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“: V 139 ff, bes. 167 ff ) in einer „existenzialanthropologisch“ orientierten Perspektive (s. dazu u. IV., 1.). Zu den wichtigen Differenzierungen vor allem des teleologischen „Welt“-Begriffs bei Kant siehe die grundlegende Studie von K. Düsing 1968. Auf die Abhängigkeit dieser einschlägigen Lehren Kants über diesen „corpus mysticum“ sowie der Idee eines „ursprünglichen Vertrages“ (V 394) von Ch. Wolff hat besonders F. Cheneval (2002, s. bes. 1. Teil, B. und den dem „Kosmopolitismus Kants“ gewidmeten dritten Teil seiner Studie) hingewiesen. Dieser „subjektive Endzweck“ ist von der noch vor-moralischen Orientierung an der „eigenen Glückseligkeit“ (als dem bloß „physischen Gut“) (in diesem Sinne auch bei Kant: IV 653) genau zu unterscheiden; s. dazu u. IV., 1.2.; 1.3.
442 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ nicht von vornherein auf die im engeren Sinne moralphilosophische Bestimmung des „moralischen Sollens“ eingeengt werden, das sich darauf bezieht, was nach „objektiven Gesetzen der Freiheit“ „geschehen soll“ (IV 675; IV 58): Während sich also die „Moral“ im engeren Sinne an dem, „was getan werden soll“, orientiert – d. i. an dem „moralisch Richtigen“ sowie daran, dass dieses auch „pflichtgemäß, aus Pflicht“ erfüllt wird –, zielen die auf die „praktische Erkenntnis“ gerichtete „Metaphysik der Sitten“ und die darin entfalteten „Zwecke der Freiheit“ – entsprechend der „praktischen Vernunft“ als dem „Vermögen der Zwecke“ – darüber hinaus eben darauf, „was dasein soll“; das Absehen davon liefe auf eine Abstraktion der bloßen Gesinnung hinaus, die das „Wie“ vom „Wohin“ des gebotenen Wirkens einfach abtrennen wollte. Die analoge Begründungsstruktur ist nicht zu übersehen: So wie der vollständige „theoretische Vernunftgebrauch“ auf die unvermischte Einheit von „Verstand und Vernunft“ verwiesen bleibt, so sind auch in der Idee der „moralischen Welt“ und dem darin maßgebenden „unentbehrlichen Richtmaß der Vernunft“ (als dem „Vermögen der Prinzipien“ und der „Zwecke“) diese beiden zwar zu unterscheidenden Aspekte notwendigerweise vereint. Schon hier wird deutlich: Von der „Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen“ (IV 146) bleibt mithin diese „Stimme der Vernunft“ in Bezug auf ihren „ganzen Gegenstand“ noch einmal zu unterscheiden – und diese Spannung ist es auch, welche die „moralisch konsequente Denkungsart“ und die sich darin manifestierende „Willensbestimmung von besonderer Art“ (s. u. III., 1.3.) konstituiert und gleichermaßen legitimiert. Derart wird jene denkwürdige kantische – „teleologische“ – Analogisierung der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ noch einmal deutlich – freilich, wie sich zeigen soll, auch in ihren durchaus problematischen Seiten. Die in Kants „Preisschrift“ vorgenommene Explikation des auf „moralische Gesinnung“ „moralischteleologisch“ begründeten „Endzwecks der Metaphysik“, die darin wichtige Motive der Streitschrift gegen Eberhard aufnimmt, setzt bezeichnenderweise eben hier ein.8 Schon in der „ersten Kritik“ ist mit jener Idee der „moralischen Welt“ demnach offenkundig ein Sein-Sollendes (was „dasein soll“) angezeigt, welches zwar in dem „moralischen Sollen“ fundiert und intendiert wird, gleichwohl dieses noch transzendiert. Schon 8
Es ist besonders bemerkenswert, dass Kant in dieser „Streitschrift“ gegen Eberhard in expliziter Bezugnahme auf das Leibniz’sche Lehrstück von der „prästabilierten Harmonie“ diese Analogie noch einmal bestätigt: Über die „Erfahrungserkenntnisse“ konstituierende Korrespondenz von Sinnlichkeit und Verstand hinaus verweist Kant (mit Blick auf die Kritik der Urteilskraft) auf die „Möglichkeit einer Erfahrung von der Natur, unter ihren mannigfaltigen besonderen und bloß empirischen Gesetzen, von denen uns der Verstand apriori nichts lehrt, doch so gut immer zusammenstimmen, als wenn die Natur für unsere Fassungskraft absichtlich eingerichtet wäre“ (III 372). Diesem der Frage „Was kann ich wissen?“ gemäßen Motiv einer „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ entspricht sodann Kants Rekurs auf die über die „Übereinstimmung zwischen Seele und Körper“ noch hinausgehende Harmonie „zwischen dem Reich der Natur und dem Reiche der Gnaden (dem Reiche der Zwecke in Beziehung auf den Endzweck, d. i. den Menschen unter moralischen Gesetzen)“, „die aber wie die Kritik lehrt, schlechterdings nicht aus der Beschaffenheit der Weltwesen, sondern als eine für uns wenigstens zufällige Übereinstimmung, nur durch eine intelligente Weltursache kann begriffen werden“ (III 373). Dass der späte Kant genau in diesen – seinen! – in der Kritik der reinen Vernunft verankerten ethikotheologischen Motiven „die eigentliche Apologie für Leibniz“ (ebd.) erkennen wollte und dies selbst dem „dritten Stadium der Metaphysik“ zuordnet, ist jedenfalls sehr aufschlussreich und wäre in einer Interpretation der Schlusspartien der „Monadologie“ im Lichte der „Ethikotheologie“ der „dritten Kritik“ Kants im Detail aufzuweisen.
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darin ist das Motiv maßgebend, dass die „Sittlichkeit, die selbst ein System ausmacht“, mit der „Glückseligkeit“ verbunden in der angemessenen „Ordnung der Zwecke“ ein System ausmacht. So wird auch der „ganze Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft apriori bestimmt und notwendig ist“ (II 682), ausgewiesen und ermöglicht solcherart erst eine umfassende „systematische Einheit der Zwecke“, die letztendlich, in Abgrenzung von anderen ethischen Konzeptionen, auch eine angemessene Bestimmung der Idee des „höchsten Gutes“ im Blick auf das „Ganze aller Zwecke“ erlaubt – das nicht moralphilosophisch zu verkürzende „herrliche Ideal des Reichs der Zwecke“, auf das „Vernunft hinaussieht“. Freilich, um dies begründeterweise denken zu können, bleibt es schon in Kants „erster Kritik“ der von ihm benannten Bedingung unterstellt: „Und so hat am Ende doch immer nur reine Vernunft, aber nur in ihrem praktischen Gebrauche, das Verdienst, ein Erkenntnis, das die bloße Spekulation nur wähnen, aber nicht geltend machen kann, an unser höchstes Interesse zu knüpfen, und dadurch zwar nicht zu einem demonstrierten Dogma, aber doch zu einer schlechterdingsnotwendigen Voraussetzung [d. i. des „höchsten ursprünglichen Gutes“] bei ihren wesentlichsten Zwecken zu machen“ (II 686). Schon daraus spricht die – später noch näher explizierte – programmatische Absicht Kants, ein im Sinne eines „dogmatischen Wissens“ verstandenes („überschwängliches“) „objektivistisches“ Missverständnis des Gottesglaubens zu überwinden, d. h. Letzteren vielmehr „existenz“-bezogen und als „sinn-erschließend“ zu vermitteln, ohne damit freilich einer lediglich anderen Schwärmerei, dem Aberglauben und „illuminatistischen“ Irrwegen zu verfallen. Diese von Leibniz inspirierten Ideen9 der „moralischen Welt“ und des „Reichs der Zwecke“ sowie die daraus gleichermaßen resultierenden „kritisch“ modifizierten Problemperspektiven sind auch noch in Kants spätem Verweis auf eine „Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen“ (VI 133, Anm.), wiederzufinden, die wiederum an seine ausdrücklich beanspruchte „transzendentale Deduktion“ der Idee des „höchsten Gutes“ anknüpfen: „Weil aber diese Verbindung als a priori, mithin praktisch notwendig, folglich nicht aus der Erfahrung abgeleitet, erkannt wird, und die Möglichkeit des höchsten Guts also auf keinen empirischen Prinzipien beruht, so wird die Deduktion dieses Begriffs transzendental sein müssen. Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen; es muß also auch die Bedingung der Möglichkeit desselben lediglich auf Erkenntnisgründen a priori beruhen“ (IV 241).10 Es 9
In offensichtlichem Rekurs auf die Schlusspartien der „Monadologie“ betonte Kant: „Leibniz nannte die Welt, so fern man darin nur auf die vernünftigen Wesen und ihren Zusammenhang nach moralischen Gesetzen und der Regierung des höchsten Guts Acht hat, das Reich der Gnaden, und unterschied es vom Reiche der Natur, da sie zwar unter moralischen Gesetzen stehen, aber keine andere Erfolge ihres Verhaltens erwarten, als nach dem Laufe der Natur unserer Sinnenwelt. Sich also im Reiche der Gnaden zu sehen, wo alle Glückseligkeit auf uns wartet, außer so fern wir unsern Anteil an derselben durch die Unwürdigkeit, glücklich zu sein, nicht selbst einschränken, ist eine praktisch notwendige Idee der Vernunft“ (II 682). 10 Schon hier ist darauf hinzuweisen, dass die Einheit von „Tugend“ und „eigener Glückseligkeit“ (vgl. die auf Kants „Deduktion“ des Begriffs des „höchsten Gutes“ hinführende Argumentation: IV 241) einer „existenzialanthropologisch“ orientierten Postulatenlehre zufolge in der Idee der „moralischen Welt“ (einer „Welt, sofern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre“: II 679) aufgehoben ist, weil letztere („allen sittlichen Gesetzen gemäß“) andernfalls nicht als ein „Ganzes“ gedacht werden könnte.
444 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ ist nicht zu übersehen, dass die später vorgenommene („moralisch-teleologische“) Differenzierung der Idee des „Endzwecks“ und die daraus erst gewonnene Bestimmung der Gottesidee diese aus einer Verbindung des Motivs einer „transzendentalen Steigerung“ und der „transzendentalen Deduktion“ der Idee des „höchsten Gutes“ resultierende Gedankenfigur nicht unwesentlich vertieft. Indes, hier ist zunächst dies von vorrangigem Interesse, dass sich in der Einlösung dieses Vorhabens bei Kant die Begründungsfigur einer „transzendentalen Steigerung“ als bestimmend erweist, die zuletzt auf die zu denkende Einheit von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ abzielt, dabei jedoch einer näheren Differenzierung der damit verbundenen Ansprüche bedarf. Sie kann erst darin ihren systematischen Abschluss finden und konvergiert insofern selbst mit dem „Endzweck der Metaphysik“. 1.1.2. Der durch das „Prinzip der transzendentalen Zweckmäßigkeit“ in der „dritten Kritik“ veränderte Status dieser „Steigerung“. Die entsprechend modifizierte Analogie der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ Nun ist nicht zu übersehen, dass jene „teleologisch“ angelegte Begründungsfigur der „ersten Kritik“ zu dem beanspruchten „zweckmäßigen Gebrauch in Ansehung der Erkenntnis“ durch die dort bestimmende Konzeption der „transzendentalen Ideen“ (die auf die „Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten“ abzielen: II 328) selbst keineswegs schon abgedeckt ist. Vielmehr verdankt sie sich einem noch unausgewiesenen Rekurs auf eine „Ideen“-Konzeption, die jedoch in der „ersten Kritik“, genauer besehen, nicht nur „ortlos“, sondern geradezu ein „Fremdkörper“ bleiben muss11; erst in der in Kants „dritter Kritik“ maßgebend gewordenen Konzeption wird diese ausgeführt und
11 Die von Kant für die Fundierung der leitenden Idee einer „Schule für die Vernunft“ beanspruchten „Ideen“ (als Prinzipien der „systematischen Einheit“: „Gleichartigkeit, Varietät und Affinität“), von denen im „Anhang zur transzendentalen Dialektik“ (II 563 ff ) die Rede ist, bleiben hier in der Tat ein „Fremdkörper“ – somit auch die darauf bezogenen Lehrstücke der „ersten Kritik“, die von der Lehre von den „transzendentalen Ideen“ „Seele, Welt, Gott“ genau zu unterscheiden sind. (Vgl. auch Kants Bezugnahme auf den Status der „transzendentalen Ideen“ sowie auf die „gewissen Vernunftprinzipien …, die die Naturordnung oder vielmehr den Verstand … apriori bestimmen“, im § 60 der „Prolegomena“: III 238 ff; hier: 241). – R. Zocher hat auf die ganz verschiedenen Arten einer „Ideendreiheit“ bzw. auf deren „Doppelsinn“ hingewiesen, ebenso auf die entscheidende thematische Beziehung dieser „Ideendreiheit“ (als den von Kant erwogenen „transzendentalen Voraussetzungen“) zur späteren Konzeption der „reflektierenden Urteilskraft“ (Zocher 1966). – Auch hier sei daran erinnert, dass Kant (wie er in einem Brief an Reinhold betonte: AA X, 514) erst später „eine neue Art von Principien a priori entdeckt“ hat „als die bisherigen“. Erst sie vermögen (im Sinne des „Prinzips der formalen Zweckmäßigkeit der Natur“) nunmehr jene „transzendentale Steigerung“ auch zu begründen, von der schon in der „ersten Kritik“ die Rede ist. Es soll sich noch zeigen: Daraus gewinnt das Motiv der „transzendentalen Steigerung“ (nunmehr freilich im Sinne der „apriorischen Prinzipien der Urteilskraft“) eine Fundierung, die so – in der „Kritik der Urteilskraft“ expliziert – auch erst die angezeigte Analogisierung der „Wissens“- und „Hoffnungs“-Frage zu stützen und die gesuchte Vollständigkeit des „theoretischen“ und des „praktischen Vernunftgebrauchs“ neu zu begründen vermag.
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findet (in den darin bestimmenden „Prinzipien apriori“) auch ihre Legitimation,12 indem sie derart jene in der „ersten Kritik“ angeführte Begründung ausdrücklich korrigiert bzw. auf ein neues Fundament gestellt hat. Denn in der „dritten Kritik“ wird mit der „transzendentalen Deduktion der Zweckmäßigkeit“ als „Prinzip der reflektierenden Urteilskraft“ auch jene „transzendentale Steigerung“ in dieses nunmehr bestimmende „Prinzip“ eingebunden; als „transzendentales Prinzip der Zweckmäßigkeit“ verändert sich freilich auch der Status desselben, zumal dies offenkundig eine kritische Zurückstufung des damit verbundenen Begründungsanspruches bedeutet. Dementsprechend wird auch der in dem angeführten Passus der „ersten Kritik“ unternommene Rekurs auf die von der „Natur selbst hingelegte zweckmäßige Einheit“ als „Schule für die Vernunft“ im Sinne dieses „Prinzips der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ als ein „Prinzip der reflektierenden Urteilskraft“ revidiert; der darin erhobene Anspruch wird so im Sinne der als ein solches „Prinzip der reflektierenden Urteilskraft“ „relativiert“ bzw. überhaupt korrigiert. Nunmehr wird dieses „transzendentale Prinzip der Zweckmäßigkeit“, wodurch die reflektierende Urteilskraft „sich nur selbst, und nicht der Natur, ein Gesetz“ gibt (V 253), als ein „eigenständiges“ behauptet und gegenüber jener „Reflexion“ (der „bestimmenden Urteilskraft“) ausgewiesen, wo „die Reflexion über die Gesetze der Natur sich nach der Natur und diese sich nicht nach den Bedingungen richtet, nach welchen wir einen in Ansehung dieser ganz zufälligen Begriff von ihr zu erwerben trachten“ (V 252). Nunmehr ist es also allein dieses „transzendentale Prinzip der Urteilskraft“, das auch jene schon in der „ersten Kritik“ beanspruchte „transzendentale Steigerung“ und jenen „hypothetischen Vernunftgebrauch“ als „Prinzip der systematischen und zweckmäßigen Einheit nach allgemeinen Gesetzen“ erst systematisch zu begründen13 und ebendies nur 12 Die dem „hypothetischen Vernunftgebrauch“ zugrunde gelegten Ideen als die Prinzipien der „Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität“ haben erst innerhalb des „transzendentalen Gebrauchs der reflektierenden Urteilskraft“ ihren Ort und ihre kritische Begründung gefunden und werden so als (zunächst beanspruchte) „Vernunftideen“ depotenziert. Ebendies liegt nun auch der Deduktion bzw. der Differenzierung des Prinzips der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ der „Urteilskraft“ zugrunde, innerhalb derer jener „hypothetische Vernunftgebrauch“ nunmehr im Sinne des „Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“ als „transzendentales Prinzip der Urteilskraft“ (freilich lediglich „in Beziehung auf das Erkenntnisvermögen des Subjekts“) verortet wird. Schon in der „ersten Kritik“ betonte Kant ja die Zuständigkeit jener Prinzipien, „bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit [zu] buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“, im Unterschied von einem „weit höheren Bedürfnis“ der Vernunft – ohne jedoch diesem Unterschied hier schon explizit Rechnung zu tragen. – Freilich ist diesbezüglich der Hinweis Kants in der Vorrede der „Kritik der Urteilskraft“ zum Status der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ von besonderem Interesse: Denn, so Kant, wäre es lediglich um die „logische Beurteilung der Natur“ zu tun, so verlangt dies „ein solches Prinzip apriori zwar zum Erkenntnis der Weltwesen“; gleichwohl hätte die „logische Beurteilung nach Begriffen … allenfalls dem theoretischen Teile der Philosophie, samt einer kritischen Einschränkung derselben, … [bloß] angehängt werden können“, während doch allein die „Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust nach irgend einem Prinzip apriori“ (V 239) in der „dritten Kritik“ für die Bestimmung des eigenständigen Status dieses Prinzips maßgeblich sei. 13 So bedeutet die hier maßgebende Vernunft-Perspektive selbst schon eine „Steigerung“ gegenüber der fundierend vorausgesetzten Verstandesperspektive, insofern in allem Urteilen einerseits stets – selbstrelativierend – von sich „abgesehen“ wird, als der Urteilende darin „ist“-sagend dem Anspruch nach „aus sich herausgetreten“ ist, d. h. sich solcherart zustimmungs-orientiert in einer „gemeinsam geteilten Welt“ begreift, derart eine „objektive Welt“ als gemeinsamen Bezugspunkt gleichsam „unterstellt“ und auch nur im relativierenden Bezug auf beide hypothetisches Wissen in einem prinzipiell unabschließbaren Lernprozess
446 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ durch eine damit einhergehende Relativierung des dort geäußerten Anspruchs einzulösen vermag (s. o. III., Anm. 12).14 Die entsprechende Annahme bzw. Voraussetzung „der sys tematischen Einheit der Natur“ (ihrer „zweckmäßigen Einheit“: II 685; V 259) sowie die daraus resultierende Perspektive, „als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige)“ diese Einheit „zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte“, führen gemäß diesem „transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur“ sodann darauf, dass „die Natur … durch diesen Begriff so vorgestellt“ wird, „als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte“ (V 253).15 Zunächst ist festzuhalten: Diese Leitperspektive des „vollständigen Vernunftgebrauchs“ kann somit erst in dem (in der „dritten Kritik“ vorgenommenen) Rekurs auf das „System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen“ ihre Einlösung finden, sofern sie in Anbetracht der „empirischen Gesetze“ über die „in unserem Verstande“ begründeten „allgemeine(n) Naturgesetze“ hinaus auf jene der „reflektierenden Urteilskraft“ zuzuschreibende Idee einer „Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“ führt. Damit wollte Kant offenbar lediglich verdeutlichen, dass die in der empirischen Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen auffindbare (besondere) „Ordnung der Natur“ eben nicht schon aus den „allgemeinen Gesetzen des Verstandes“ verständlich zu machen ist; ist es doch „die Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“ selbst, die diesbezüglich zuletzt auf das „Prinzip der Urteilskraft“ verweist: „Diese Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird von der Urteilskraft, zum Behuf ihrer Reflexion über dieselbe, nach ihren empirischen Gesetzen, a priori vorausgesetzt; indem sie der Verstand zugleich fortwährend geprüft, verworfen und verbessert wird. Ebendies ist der an den regulativen Prinzipien orientierten „Buchstabierung der Erscheinungen, um Erfahrungen zu machen“, also immer schon vorausgesetzt. 14 Vgl. dazu die Kennzeichnung der „Urteilskraft als ein apriori gesetzgebendes Vermögen“ (vgl. V 251 ff ): „Nun kann dieses Prinzip kein anderes sein, als: daß, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur (ob zwar nur nach dem allgemeinen Begriffe von ihr als Natur) vorschreibt, die besondern empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte. Nicht, als wenn auf diese Art wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müßte (denn es ist nur die reflektierende Urteilskraft, der diese Idee zum Prinzip dient, zum Reflektieren, nicht zum Bestimmen); sondern dieses Vermögen gibt sich dadurch nur selbst, und nicht der Natur, ein Gesetz“ (V 252 f ). – Wohl zu Recht betont Bojanowski (2008), dass Kant erst „durch die transzendentale Deduktion“ der „apriorischen Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft“ (in der „dritten Kritik“), die Fundierung des „hypothetischen Vernunftgebrauchs“ (des „Prinzips der systematischen und zweckmäßigen Einheit nach allgemeinen Naturgesetzen“) gelinge. Eine detaillierte Entfaltung dieser bedeutsamen Problemperspektiven – im Ausgang von dieser in der „ersten Kritik“ beanspruchten „transzendentalen Steigerung unserer Vernunfterkenntnis“ (II 685) bis hin zu den (restringierenden) Bestimmungen „der Urteilskraft als einem apriori gesetzgebenden Vermögen“ und von dem „ein System der Erfahrung nach besonderen Gesetzen“ ermöglichenden „transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit“ (V 251 ff ) – ist hier nicht zu leisten. 15 Die interessante Frage, ob und wie Kant im „opus postumum“ diese Lehre vom „transzendentalen Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur“ (und somit die „Maxime der reflektierenden Urteilskraft“) selbst noch einmal überwinden wollte, ist hier nicht zu verfolgen. B. Tuschling hat diese – ihm zufolge in der Kantforschung weitgehend ignorierte – späte Entwicklung Kants wiederholt geltend gemacht (so jüngst wiederum in Tuschling 2011, 154 f; vgl. dazu die dort [Anm. 86] angegebenen Literaturhinweise).
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objektiv als zufällig anerkennt, und bloß die Urteilskraft sie der Natur als transzendentale Zweckmäßigkeit (in Beziehung auf das Erkenntnisvermögen des Subjekts) beilegt: weil wir, ohne diese vorauszusetzen, keine Ordnung der Natur nach empirischen Gesetzen, mithin keinen Leitfaden für eine mit diesen nach aller ihrer Mannigfaltigkeit anzustellende Erfahrung und Nachforschung derselben haben würden“ (V 259).16 Zufolge dieser so benannten „subjektiv-notwendige(n) transzendentalen Voraussetzung“ sieht sich die Vernunft auf etwas verwiesen, das zwar die „transzendentale“ Verstandeskonstitution voraussetzt, gleichwohl darüber hinaus eine besondere „formale Zweckmäßigkeit“ anzeigt bzw. beansprucht, die jedoch in der allgemeinen „transzendentalen Gesetzmäßigkeit der Naturerscheinungen“ noch unberücksichtigt bleibt, d. h. nicht „eingeholt“ zu werden vermag. Anknüpfend an jene Argumentation aus der „ersten Kritik“ über „das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Dinge“ (II 677) und dies nunmehr im Sinne der „reflektierenden Urteilskraft“ spezifizierend, hat Kant dieses Prinzip einer „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ demnach näher expliziert und als ein regulatives Prinzip für die Naturforschung – eben ein „Prinzip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisvermögen“ – geltend gemacht, sofern die besonderen Gesetze und Diversifikationen (im Sinne eines „Begriffs der Natur“ als dem „einer Erfahrung als Systems nach empirischen Gesetzen“: V 180) nicht aus den bloß „allgemeinen Verstandesgesetzen“ abzuleiten sind; es ist eben diese „Affinität der besonderen Gesetze unter allgemeinere“ (V 186), in der sich gleichwohl eine bemerkenswerte Adäquanz zum „Erkenntnisvermögen“ manifestiert: „Denn es lässt sich wohl denken: dass, ungeachtet aller der Gleichförmigkeit der Naturdinge nach den allgemeinen Gesetzen, ohne welche die Form eines Erfahrungserkenntnisses überhaupt gar nicht Statt finden würde, die spezifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur, samt ihren Wirkungen, dennoch so groß sein könnte, dass es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine fassliche Ordnung zu entdecken, ihre Produkte in Gattungen und Arten einzuteilen, um die Prinzipien der Erklärung und des Verständnisses des einen auch zur Erklärung und Begreifung des andern zu gebrauchen, und aus einem für uns so verworrenen (eigentlich nur unendlich mannigfaltigen, unserer Fassungskraft nicht angemessenen) Stoffe eine zusammenhängende Erfahrung zu machen“ (V 259). Derart können sich die Prinzipien der „beobachtenden Vernunft“ (bzw. der „Urteilskraft“) also erst „realisieren“, weil bzw. so weit endliche Vernunft erst in solcher „Heautonomie der Urteilskraft“ (V 259)17 über die derart beurteilte 16 In diesem Sinne betont H. Barth: „In diesem Zustande liegt eine Steigerung des Seins des erkennenden Subjektes; es sieht sich gesteigert in einer eminenten Möglichkeit, in der des Erkennens. Es ist also ein menschlich wertvoller Zustand, der ein Gefühl der Lust erweckt. Das Subjekt darf sich in dieser Erfüllung seiner Existenz bejahen. Dieser Zustand ist wert, erhalten zu werden. Indem sich die Lust auf eine erhaltenswerte Erfüllung der Existenz bezieht, wird ihre persönlich-menschliche Bedeutung erkennbar. Diese Lust setzt ein humanes Anliegen, dem Genüge getan wird, voraus. Es kann darum nicht eine bloße Tendenz zur Beharrung sein, wenn das Subjekt diesen Stand seiner Erkenntnis bewahren will. Solche ‚Erhaltung‘ hat nicht naturhaften Charakter“ (H. Barth 1959 II, 470). In Kants „Ethikotheologie“ gewinnt dieser Gedanke einer „Existenz-Bejahung“ noch einen besonderen Akzent. 17 Zu Recht bemerkt Zöller: „Statt wie der Verstand oder die Vernunft anderes – die Naturordnung und die Freiheitsordnung – legislativ zu konstituieren, begründet die Urteilskraft in ihrem selbstgesetzlichen oder autonomen Gebrauch, insofern dieser ein strikter Selbstbezug ist, nur sich selbst und beschränkt
448 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Besonderheit der lebendigen Erscheinungen in deren „Spezifikation“ gleichsam erst „zu sich selbst kommt“ und darin in differenzierter Weise sich selbst „erhält“ – eine „Selbsterhaltung der Vernunft“ von besonderer Art, die freilich das „vernünftige Weltwesen“ zu einer eigentümlichen Genugtuung darüber einlädt und ihm so gleichsam eine daran geknüpfte „Selbstaffirmation“ gewährt. Dies sah Kant allein durch den „transzendentale(n) Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur“ (V 258) ermöglicht, der „lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat“ und auch allein jene Begründung des „vollständigen Vernunftgebrauchs“ in kritischer Weise gewährleisten soll. Auf einer weiteren Stufe bezieht sich jene von Kant angeführte „transzendentale Steigerung“18 über die „besonderen Gesetze der Naturerscheinungen“ hinaus auf die vielfältigsten Besonderungen und deren Gesetze (im Sinne der Prinzipien der „Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen“), um so erst „Erfahrung als ein System für die Urteilskraft“ (V 185 ff ) zu fundieren: „Also denkt sich die Urteilskraft durch ihr [!] Prinzip eine Zweckmäßigkeit der Natur, in der Spezifikation ihrer Formen durch empirische Gesetze“ (V 193). Es ist näherhin also deren Prinzip der „Heautonomie“, die auf den „Begriff von Dingen der Natur“ führt, „so fern diese sich nach unserer Urteilskraft richtet“ (V 179 f ). Weil Letztere „darin sich selbst die Regel“ geben solle, folgt daraus nunmehr, dass eben keineswegs direkt die „Natur … selbst [„größte systematische“] zweckmäßige Einheit hingelegt“ habe (II 685) und diese somit auch nicht mehr einfachhin als „Schule und selbst [als] die Grundlage der Möglichkeit des größten Gebrauchs der Menschenvernunft“ (II 599) fungiert. Derart wird der Begriff der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ von Kant im Sinne jener „transzendentalen Steigerung“, gegenüber der in der „ersten Kritik“ maßgebenden Perspektive des „theoretischen Vernunftgebrauchs“, nunmehr noch näher differenziert und im Grunde auch erst legitimiert. Dersich so auf den sichselbstgesetzlichen oder heautonomen Gebrauch der Urteilskraft“ (Zöller 2012, 36). – H. Barth erörtert diese „Heautonomie der Urteilskraft“ treffend folgendermaßen: „Sie wird ihrer selbst als einer sinn- und gehaltvollen Form der Erkenntnis bewusst, in der das erkennende Subjekt eine Bedeutung gewinnt, die ihm auf dem Gebiete der Verstandeserkenntnis fremd bleiben muss. In dieser Eigenständigkeit wird die Urteilskraft zum maß- und gesetzgebenden Prinzip für alle Erkenntnis der Besonderungen der Natur. Für Erkenntnisse dieser Ordnung hat sie nicht nur normative Bedeutung; sie bedeutet auch deren Legitimation gegenüber dem Verstande und seinem Anspruch auf einzig vollgültige Naturerkenntnis. Eine solche Heautonomie der Urteilskraft setzt aber voraus, dass sie nicht als ein subjektives geistiges Moment in sich selbst schwingt, sondern dass sie in ihrem besondern Sinne als legitimer Faktor an der Naturerkenntnis beteiligt ist“ (H. Barth 1959 II, 466). Im Ausgang von dieser Perspektive muss nicht nur Kants spätere Vermittlung des „subjektiven“ und „objektiven Endzwecks“ in besonderem Licht erscheinen, sondern vor allem auch seine frühere Analogisierung der „Wissens“- und der „Hoffnungs“Frage und das darin jeweils gedachte „Zusammenstimmen“. 18 Was diese „transzendentale Steigerung“ (die „transzendentale Zweckmäßigkeit“ bezüglich „Verstand“ und „Vernunft“) betrifft, so bleibt, noch vor den in der „Kritik der Urteilskraft“ vorgenommenen Differenzierungen, freilich auch an Kants denkwürdige These zu erinnern, dass die „transzendentalen Ideen eigentlich nichts … als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien“ seien (II 402). Überdies wird sich zeigen: Dieser bemerkenswerte Begriff einer „transzendentalen Steigerung“ enthält selbst eine darüber hinausgehende „Steigerung“, sofern dies jedenfalls über die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis („Anschauung“, „Verstand“ und „Vernunft“ und die bei ihnen maßgebende „transzendentale Affinität“) noch hinausweist. Mit dieser „transzendentalen Steigerung“ knüpfte Kant offensichtlich an das in Refl. 5008 (AA XVIII, 58) formulierte Motiv an (s. o. I., Anm. 16); die spätere Idee einer „moralischen Teleologie“ bringt sie sodann zur Entfaltung.
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art wollte Kant also durchaus der Eigenart bzw. Besonderheit der „natürlichen Erscheinungen“ Rechnung tragen – und ebendies veranlasste ihn zu dieser in der „dritten Kritik“ noch erweiterten bzw. vertieften Konzeption einer „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ als „Prinzip der Urteilskraft“; denn erst sie macht auch „vernehmend“ für die besonderen Gesetzmäßigkeiten der Natur, aber eben auch für die Besonderheit ihrer „Gattungen und Arten“.19 Demnach zielte Kants Rekurs auf die Unverzichtbarkeit der Idee der „zweckmäßigen Einheit“ als „Grundlage der Möglichkeit des größten Gebrauchs der Menschenvernunft“ hier vorrangig auf die Beantwortung der Frage ab, wie für ein „vernünftiges Weltwesen“ ein „mit sich einstimmiger Gebrauch der Vernunft“ möglich sein soll. Diese „zufällig angemessene“ „Fasslichkeit der Natur, und ihrer Einheit der Abteilung in Gattungen und Arten“ (V 261),20 wird demgemäß also mit „Genugtuung“, ja sogar als „intellektuell lustvoll“ wahr-genommen,21 sofern die „Welt“ dergestalt gewissermaßen im „theoretischen Vernunftgebrauch gefällt“ und die in solcher Adäquanz sich manifestierende Zweckmäßigkeit „für unser Erkenntnisvermögen“ „vernünftige Weltwesen“ auch „erfreuet“ – so der möglicherweise Newtons diesbezügliches, d. i. „epistemisch“ vermitteltes, lustvolles Staunen nachfühlende Kant.22 Gleichwohl müsse die konkrete Wirklichkeit die19 Kant nahm in dieser transzendentalphilosophischen Brechung und „transzendentalen Steigerung“ indirekt ein platonisches Motiv auf, dem zufolge Sokrates im Phaidros zwei Verfahren unterscheiden lässt, nämlich „durch umspannenden Blick das vielfach Zerstreute in eine einzige Idee zusammenzufassen, damit, wer immer Belehrung erteilen will, seinen Gegenstand im einzelnen Falle durch Definition deutlich mache“, und dass „man umgekehrt imstande sei, beim Einteilen nach den Ideen den Schnitt nach den Gelenken zu führen, der Natur entsprechend, und nicht versuche, nach der Weise eines schlechten Kochs, irgendein Glied zu zerbrechen …“ (Phaidros 265 c). Platon zielt auf die gleichsam als „regulative Idee“ maßgebende Vollständigkeit dieser an der eigenständigen „Ordnung der Natur“ orientierten Einteilungen ab: „Wenn man zuerst eine gattungsgemäße Zusammengehörigkeit des Vielen wahrgenommen hat, so soll man nicht eher ablassen, als bis man sich alle Unterschiede in ihr klar gemacht hat, die sich in den Arten ausgeprägt finden, und anderseits soll man angesichts der mannigfaltigen Unähnlichkeiten in der Menge der Objekte unverdrossen unter allen Umständen nicht eher ruhen, als bis man alles Verwandte innerhalb der Grenzen eines einzigen Ähnlichkeitsverhältnisses eingeschlossen und im Wesen einer Gattung zusammengefasst hat“ (Politikos 284e). Es ist ein unterschiedliches „Interesse der Vernunft“, das darin Kant zufolge bestimmend ist. 20 Besonders Schelling hat dieses „Zutrauen“, das wir als Erkennende in der „Übereinstimmung der Natur mit den Maximen unserer reflektierenden Vernunft“, apriori voraus-setzen – nämlich dass sie zum vollständigen „theoretischen Vernunftgebrauch“ zusammenstimme – ausdrücklich bekräftigt (Schelling, SW I, 55): Gewissermaßen ein „Vertrauen“ in das „Versprechen der Vernünftigkeit der Natur“ und eine daran geknüpfte „intellektuelle Lust“. Nach Kant ist entsprechend der Vorstellung einer „Zweckmäßigkeit der Natur“ auch dieses „ästhetische“ bzw. „intellektuelle“ Gefühl der „Lust“ zu differenzieren. 21 Es ist interessant, dass Kant in diesem Kontext ausdrücklich von einem „Verstandesbedürfnis“ sprach: „Die gedachte Übereinstimmung der Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer besonderen Gesetze zu unserem Bedürfnisse, Allgemeinheit der Prinzipien für sie aufzufinden, muss, nach aller unserer Einsicht, als zufällig beurteilt werden, gleichwohl aber doch, für unser Verstandesbedürfnis, als unentbehrlich, mithin als Zweckmäßigkeit, wodurch die Natur mit unserer, aber nur auf Erkenntnis gerichteten, Absicht übereinstimmt“ (V 260). Ein solches (sich derart auch „entledigendes“, s. nächste Anm.) „Verstandesbedürfnis“ und sein „Suchen“ würde freilich lediglich der „Anlage zur Menschheit“ genügen, während „reine praktische Vernunft“ darüber hinausweist und hier eine „transzendentale Steigerung“ sichtbar macht, die der Analogie der „Wissens“- und „Hoffnungsfrage“ zugrunde liegt. Das hierin geltende gemachte „Vernunftbedürfnis“ ist eben nicht (nur) auf „Erkenntnis gerichtet“ und nötigt somit, wie sich zeigen soll, zu einer Differenzierung der Idee des „Endzwecks“. 22 Vgl. V 257: „Dieser transzendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objekte (der Natur) beilegt, sondern nur die
450 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ ser mannigfaltigen zweckmäßigen „Besonderungen“ dem Verstand ebenso „unbegreiflich“ bleiben23 wie das „Zusammentreffen der Wahrnehmungen mit den Gesetzen nach allgemeinen Naturbegriffen (den Kategorien) nicht die mindeste Wirkung auf das Gefühl der Lust in uns“ (V 261) ausüben würde.24 Erst die entsprechende Voraussetzung einer der „theoretisch konsequenten Denkungsart“ gewissermaßen „entgegenkommenden“ Natur und deren „besonderen Gesetze“ erlauben es der Vernunft demgemäß, im Sinne jenes gesuchten vollständigen „theoretischen Vernunftgebrauchs“ „mit sich einstimmig“ werden zu können, zumal gerade in solchem „Entgegenkommen“ eine „Affinität“25 der besonderen Art erfahrbar wird, weil in solcher systematischen Einheit der empirischen Naturerkenntnis sich die „Möglichkeit der Anwendung der Logik auf die Natur“ (V 188 Anm.) erweist, wobei sich in diesem „Prinzip der Vorstellung der Natur, als eines Systems für unsere Urteilskraft“ und ihrem „Auffinden“ gewissermaßen ein besonderes „Bedürfnis der suchenden Vernunft“ einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft; daher wir auch, gleich als ob es ein glücklicher unsre Absicht begünstigender Zufall wäre, erfreuet (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt [!]) werden, wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen antreffen: ob wir gleich notwendig annehmen mußten, es sei eine solche Einheit, ohne dass wir sie doch einzusehen und zu beweisen vermochten“. Obgleich dies „eines Bedürfnisses entledigt“, so darf auch dies – denkwürdige Analogie zu Kants Hinweis auf das „gefühlte Bedürfnis der Vernunft“ – nicht mit „Erkenntnis“ verwechselt werden (vgl. III 274), ungeachtet der darin wahrgenommenen „Einstimmigkeit mit sich selbst“, die sich dieser erfahrenen Passung bzw. „Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen“ verdankt. 23 „Wenn der Verstand apriori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur ist, ohne die sie kein Gegenstand einer Erfahrung sein könnte, dann ist doch über diesen Bereich hinaus mit einer ‚Ordnung‘ der Natur zu rechnen. Sie bezieht sich auf deren besondere Regeln, die dem Verstande nur empirisch bekannt werden können und den Charakter des Zufälligen haben. Aller Reflexion über jene empirischen Gesetze muss das Prinzip apriori zugrunde gelegt werden, dass es in der Natur eine solche Ordnung gibt. In ihr gibt es eine für uns fassliche Unterordnung der Gattungen und Arten. Von einer zur andern und zu einer höhern Gattung muss ein Übergang möglich sein. […] Der hier im Blickpunkte stehende Bereich einer Gesetzmäßigkeit der Natur kann zusammengefasst werden im Begriffe eines ‚Gesetzes der Spezifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze‘“ (H. Barth 1959 II, 461). Denn, so Kant, Letztere stehen zwar „unter“ den „allgemeinen Gesetzen“, können jedoch aufgrund der Besonderheit der „empirisch bestimmte(n) Erscheinungen“ „nicht vollständig daraus abgeleitet werden“ (II 157), erweisen sich also insofern als „kontingent“ und in ihrer Erforschung jeweils als relativ auf den Forschungsstand. Auf Barths eindringliche – systematisch orientierte – Analysen zur Idee der „Zweckmäßigkeit“ bei Kant in seinem leider viel zu wenig bekannten Werk „Philosophie der Erscheinung. Zweiter Teil: Neuzeit“ (420–505) sei ausdrücklich hingewiesen. 24 Auch die systematisch sehr bedeutsame Thematik der „ästhetischen Zweckmäßigkeit“ (des „Schönen“ und des „Erhabenen“) muss hier unberücksichtigt bleiben; s. dazu die auch diesbezüglich erhellenden Analysen von H. Barth 1959 II, 420–505. 25 Es sei darauf hingewiesen, dass zunächst schon das Problem der „transzendentalen Affinität“ von „Sinnlichkeit und Verstand“ wohl das ursprüngliche Problem darstellt, das so auch der „transzendentalen Affinität“ von „Verstand und Vernunft“ noch vorausliegt (das in der Sache auf den Zusammenhang zwischen der „transzendentalen Deduktion der Verstandesbegriffe“ und derjenigen der „Vernunftideen“ verweist). – Zu den sehr schwierigen und vielschichtigen Fragen, die mit diesem Thema der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ in diesem Kontext des „theoretischen Vernunftgebrauchs“ verbunden sind und deren Bezügen zur „transzendentalen Deduktion der Zweckmäßigkeit“ als „Prinzip der reflektierenden Urteilskraft“ vgl. die knappen, aber als Problemskizze sehr erhellenden Überlegungen von Wohlfart 1981. Es bestätigt sich, dass die „Lehre von der Affinität … einen entscheidenden Hinweis darauf“ gibt, „dass der kritische Weg über die KrV hinaus durch die KU verläuft“ (Wohlfart 320).
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widerspiegelt.26 Derart hat Kant also seinen schon in der „ersten Kritik“ vorgenommenen – auch in der Sache denkwürdigen – Rekurs auf eine „transzendentale Steigerung“ in der Bestimmung des zweckmäßigen „theoretischen Vernunftgebrauches“ gemäß der in den Vordergrund tretenden Idee einer „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ transformiert und, im Sinne einer entscheidenden Problemvertiefung, in der „dritten Kritik“ in gestufter Form näher expliziert; sie vermag diese „formale Zweckmäßigkeit der Natur“ nun erst (nach den maßgebenden Differenzierungen „Verstand“, „Vernunft“, „bestimmende und reflektierende Urteilskraft“) als ein „selbständiges Prinzip der Urteilskraft“ auszuweisen. Jene angezeigte „transzendentale Steigerung“ findet näherhin am Leitfaden dieses „Prinzips“ erst in der Differenzierung (und unauflöslichen Verbindung!) der „theoretischen“, „ästhetischen“ und „moralischen Teleologie“ ihre systematische Einlösung. Dergestalt, d. h. im Sinne der „Erfahrung als System der Urteilskraft“, hat jene zunächst bestimmende Idee eines „größten Gebrauchs der Menschenvernunft“ noch eine teleologisch ausgerichtete „transzendentale Steigerung“ erfahren, die freilich erst gemäß diesen in der „dritten Kritik“ gewonnenen Differenzierungen im Sinne einer „zweckmäßigen Einheit“ als „Schule für den umfassenden Vernunftgebrauch“ eingelöst zu werden vermag. Diese „transzendentale Steigerung unserer Vernunfterkenntnis“ wird nunmehr „als eine bloße Voraussetzung der Urteilskraft“ (V 187) ausgewiesen und im Sinne einer lediglich von der „Urteilskraft beigelegten“ „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ näher bestimmt, das heißt aber: zurückgestuft und zugleich jedoch auch weiter differenziert. Bezüglich der theoretischen Vernunftansprüche wollte Kant damit offensichtlich den Nachweis erbringen, dass das „Bedürfnis der forschenden Vernunft“ bzw. die es beflügelnde Neugierde sich nur darin „wiederzufinden“ vermag und solcherart auf diesem Gebiet eine ursprünglich zugrunde liegende Affinität von Natur- und Vernunftbegriff im Sinne dieser „transzendentalen Steigerung“ postuliert. Wohlgemerkt, diese im Sinne einer „transzendentalen Steigerung“ zu verstehende Voraussetzung sah Kant insofern „mit dem Wesen unserer Vernunft unzertrennlich verbunden“ (II 600); 27 sie ist jedenfalls in der leitenden Frage begründet, wie „die Welt für ein vernünftiges Wesen“ bzw. für die Orientierungsansprüche der „Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen“ (vgl. IV 550) beschaffen sein müsse, um die gesuchte „Selbsterhaltung der Vernunft“ zunächst in ihrem „theoretischen Gebrauche“ – eben im Sinne „der Erfahrung als einem System für die Urteilskraft“ (V 185 f ) – zu gewährleisten. 26 In der Tat: „Reflektierende Urteilskraft enthält Responsivität auf den Inhalt der Welt; ihr transzendentales Prinzip betrifft die Spezifikation und die systematische Organisation der Natur im ganzen“ (Makkreel 1997, 9). Es wird sich im Sinne der von Kant geltend gemachten Analogie nachfolgend zeigen: „Praktische Vernunftansprüche“ verlangen (besser: „bedürfen“) indes einer anderen „Responsivität“, die zuletzt noch in Kants „fides“-Bestimmung deutlich wird und auch in seiner Unterscheidung von „promissum“, „Promittent“ und „Promissarius“ begegnet (s. u. IV., 3.1.). – Die oben gebrauchte Wendung „Bedürfnis der suchenden Vernunft“ (und ihr „Auffinden“) verdankt sich einer Anlehnung an das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“, von dem bei Kant im Kontext der späten „Ethikotheologie“ die Rede ist, und will so auf eine denkwürdige Analogie verweisen; in der „Ethikotheologie“ ist freilich von einem not-wendigen „Wiederfinden“ bzw. „Entsprechen“ ganz anderer Art die Rede. 27 Analog dazu ist es die „mit der reinen moralischen Gesinnung unzertrennlich verbundene Idee des höchsten Gutes“ (IV 806), die „unzertrennlich“ mit der Gottesidee verknüpft ist.
452 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Systematisch besonders aufschlussreich ist freilich die resultierende Leitperspektive: Jene frühe „Analogie“ der Wissens- und Hoffnungsfrage wird dahingehend aufgenommen und gemäß jenem „Prinzip der transzendentalen Zweckmäßigkeit“ noch weitergeführt, dass dem „Bedürfnis der forschenden Vernunft“ (und ihrem in jener „Adäquanz“ verankerten Mit-sich-einstimmig-Sein „in Ansehung der theoretischen Erkenntnis“) nunmehr das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ korrespondiert, das sich in seiner Ausschau nach dem „allgemeinen höchsten Zwecke“ (V 572) freilich an einer „Affinität“ von ganz anderer Art orientiert, das den unbeirrbaren Vernunftansprüchen der „fragenden Vernunft“ genügt und erst so die „Selbsterhaltung der Vernunft“ zu begründen vermag. 1.1.3. Anmerkung: Ein von jener „transzendentalen Steigerung“ ausgehender – ethikotheologisch inspirierter – teleologischer „Ausblick“ Davon ausgehend mag deutlich werden, dass eben erst unter der Voraussetzung jenes „Prinzips der transzendentalen Zweckmäßigkeit“ (als einem „Prinzip der reflektierenden Urteilskraft“) und seiner systematischen Entfaltung sowie einer erforderlichen Erweiterung die auf jene frühe Analogisierung der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ gestützten Gedankenfiguren und somit auch jenes Motiv einer „transzendentalen Steigerung“ in Kants „dritter Kritik“ ihre Entfaltung finden.28 Durch die darauf abzielende Ausbildung unterschiedlicher „teleologischer Konzeptionen“, verändert sich jene geltend gemachte „Analogisierung“ im Rahmen dieser „transzendentalen Steigerung“ auf entscheidende Weise und gewinnt in der „Kritik der Urteilskraft“ nunmehr einen neuen Begründungsstatus.29 28 Der entsprechenden Neubestimmung des „Prinzip(s) der systematischen und zweckmäßigen Einheit nach allgemeinen Naturgesetzen“ im Sinne des Prinzips der „reflektierenden Urteilskraft“ korrespondiert eine Modifikation der Hoffnungsfrage, von der Kant, zufolge jener Analogie, ja ausdrücklich beansprucht hat, sie sei „in Absicht auf das Praktische und das Sittengesetz eben dasselbe, was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Dinge ist“ (II 677). Diesbezüglich sei noch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die – zuletzt – auf die „systematische Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung“ (II 601) ausgerichtete Frage „Was kann ich wissen?“ eben der Analogisierung zu der auf eine „Totalität“ ganz anderer Art abzielenden Hoffnungsfrage zugrunde liegt. Im Blick auf diese Analogisierung der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ in Kants „erster Kritik“ bleibt gleichwohl anzumerken, dass (gegenüber der „methodologisch“ am „regulativen Vernunftgebrauch“ orientierten Konzeption“) der „physikotheologische“ Ausgang von den „Zwecken der Natur“ in der „dritten Kritik“ einen unverkennbar anderen Begriff des „teleologischen Prinzips“, d. i. der „Zweckmäßigkeit, voraussetzt; insofern verschiebt sich hier, ungeachtet jener „Analogie“, auch das Verhältnis zwischen „Physikotheologie“ und „Ethikotheologie“. 29 „Auch ist dieser Begriff [einer „Zweckmäßigkeit der Natur“, der in der „reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat“] von der praktischen Zweckmäßigkeit (der menschlichen Kunst oder auch der Sitten) ganz unterschieden, ob er zwar nach einer Analogie mit derselben gedacht wird“ (V 253); und noch die späte „Preisschrift“ fordert dazu auf, „die Welt nach der Analogie mit der physischen Teleologie … apriori als bestimmt, mit dem Gegenstande der moralischen Teleologie, nämlich dem Endzweck aller Dinge … an[zu]nehmen“ (III 647). Die im zweiten Teil der „Kritik der Urteilskraft“ bestimmende Thematik einer „objektiven Zweckmäßigkeit der Natur“ (in Anbetracht der das Organische auszeichnenden „inneren Naturzweckhaftigkeit“) und die im Sinne der „reflektierenden Urteilskraft“ darauf bezogene „transzendentale Steigerung“ bleiben hier ausgeblendet.
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Der daran von Kant geknüpfte Anspruch führt nun jedoch, vornehmlich im Ausblick auf zentrale Motive der kantischen „Ethikotheologie“, auf schwierige – und auch in systematischer Hinsicht weitreichende – Fragen bezüglich der darin zu differenzierenden Endzweck-Bestimmungen und der zutage tretenden „transzendentalen Affinität“. Dabei soll sich zeigen: Die zunächst in der „Nachforschung der Natur“ (der „zweckmäßigen Einheit ihrer Erscheinungen“) betriebene totalitäts-bezogene „Vernunft-Orientierung“, die sich an der Frage: „Wie muss eine Welt für ein (bloß) des theoretischen Vernunftgebrauchs fähiges Wesen beschaffen sein?“ orientiert, findet nun in derjenigen: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“30 eine genaue Entsprechung – freilich mit dem Unterschied, dass diese in einem „unbedingten Vernunftbedürfnis“ (einem „UrteilenMüssen“) verankert ist. Schon im Abschnitt über den „regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernnft“ hatte Kant die Notwendigkeit betont, für den „zusammenhängenden Verstandesgebrauch
die systematische Einheit der Natur durchaus als objektiv-gültig und notwendig voraussetzen [zu] müssen“ (II 570). Auch in dem späteren Abschnitt „Vom Meinen, Wissen, Glauben“ war davon die Rede, dass die „zweckmäßige Einheit [der „Erscheinungen in der Natur“] eine so große Bedingung der Anwendung der Vernunft auf Natur“ sei, dass dafür wiederum „keine andere Bedingung“ zu denken sei als dass „eine höchste Intelligenz alles nach weisesten Zwecken so geordnet habe“ (II 691 f ). Den Anspruch dieser unter dem Vorbehalt des „regulativen Als-ob“ stehenden Begründungsfigur hat Kant später (in der „dritten Kritik“) jedoch nicht nur noch einmal eingeschränkt (s. o. III., 1.1.2.); vielmehr hat er dieses angezeigte Bedingungsverhältnis (in „der Anwendung der Vernunft auf Natur“) auf dem Felde „praktischer Teleologie“ zugleich als ein gestuftes System der „Endzweck“-Bestimmungen entscheidend modifiziert, wobei nunmehr, gemäß jener frühen Analogie zwischen der Wissens- und der Hoffnungsfrage, gegenüber der Frage „Wie muss die Welt für ein des theoretischen Vernunftgebrauchs fähiges Wesen beschaffen sein?“, die Erkundung, „wie die Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein“, müsse, in den Vordergrund rückt. Nunmehr wird freilich der kantische Anspruch unverkennbar relativiert, selbst in „diesem theoretischen Verhältnisse“ könne „gesagt werden“, „dass ich festiglich einen Gott glaube; aber alsdenn ist dieser Glaube in strenger Bedeutung dennoch nicht praktisch, sondern muss ein doktrinaler Glaube genannt werden“, der freilich stets „etwas Wankendes in sich“ hat (II 692). Dass dies im Sinne jenes Rekurses auf eine „höchste Intelligenz“ (als Bedingung der Denkbarkeit der „zweckmäßigen Einheit der Natur“) ein legitimer Anspruch sei, wollte Kant später offensichtlich nicht mehr einräumen; seine ausdrückliche Mahnung, „den Begriff von einer Gottheit [nicht] an jedes von uns gedachte verständige Wesen“ zu verschwenden (V 562), weist somit auch noch über den eingeräumten „lebendigen Gott“ des „Theismus“ (II 557) hinaus auf einen „theismus moralis“ als Grundthema der „theologia moralis“. Die nachfolgenden Kapitel dieses III. Teils sind vornehmlich dem Nachweis gewidmet: Allein aus den voranstehend nachgezeichneten gestuften Differenzierungen kann zuletzt diejenige „ethikotheologische“ Perspektive der „moralischen Teleologie“ – zufolge einer
30 Diese Frage findet sich bekanntlich im „ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“: Hegel 1, 234.
454 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ „transzendentalen Steigerung“ von besonderer Art – bestimmend werden, die Kant seinem späten Aufweis des „moralischen Beweises des Daseins Gottes“ (V 573 ff ) und der daran geknüpften „Beschränkung seiner Gültigkeit“ (V 580 f ) zugrunde gelegt hat. Der Letzteren zufolge soll der Rekurs auf ein „verständiges“ und „zugleich moralisches Wesen, als Welturheber, lediglich in einem „zweite(n) Schluss“ verankert sein, „welcher so beschaffen ist, dass man sieht, er sei bloß für die Urteilkraft, nach Begriffen der praktischen Vernunft“ (V 583). Diesbezüglich wird sich noch zeigen: Sowohl die Begründung des besonderen Status dieser „transzendentalen Steigerung“ wie auch die Einschränkung ihres Anspruches (im Sinne von notwendigen und doch „bloßen Glaubenssachen“) ist Aufgabe einer transzendentalphilosophischen Kritik, ohne die eine kritische Transzendentalphilosophie jedenfalls noch unvollständig bliebe. Damit verweist sie selbst, freilich in einer solchen kritischen Brechung, auf den „Endzweck der Metaphysik“. Die darin zu leistende Entfaltung der Endzweck-Idee sowie der hierfür maßgebenden Voraussetzungen sollte bestätigen, dass in Kants Begründung des „Endzwecks der Schöpfung“ sich jene „transzendentale Zweckmäßigkeit“ widerspiegelt und darin eine „transzendentale Steigerung“ der besonderen Art zutage tritt.31 Die in dieser „Gedankenfolge“ hervortretenden Differenzierungen explizieren dergestalt selbst die vernunft-orientierte Idee einer „Ordnung der Zwecke“ und führen so, jener „transzendentalen Steigerung“ gemäß, auf die systematische Vermittlung verschiedener „Endzweck-Bestimmungen“, die erst in der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ am Leitfaden einer „moralischen Teleologie“ geleistet wird; sie kann, wie sich sogleich zeigen soll, allein in der über den „praktischen Endzweck“ (den der „moralische Mensch hat, und haben soll“: III 645; vgl. V 580), vermittelten Idee des umfassenden „Endzwecks der Schöpfung“ ihren Abschluss und auch ihre Vollendung finden; zugleich weist sie in mehrfacher Hinsicht über sich hinaus (s. u. III., 2.).32 Im Vorblick auf spätere Ausführungen dieses III. Teiles wollten diese einleitenden Überlegungen in einigen grundsätzlichen Aspekten verdeutlichen, dass Kant jene auf das Voraussetzungsproblem einer „theoretisch konsequenten Denkungsart“ und ihres „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“ abzielende Argumentation in analogem Sinne auch hinsichtlich der notwendigen Beschaffenheit der Welt „für ein moralisches Wesen“ für die Hoffnungsfrage geltend gemacht hat: Darin erweist sich eine (in entsprechender Weise so zu nennende) „moralisch konsequente Denkungsart“ und ein damit konvergierendes Interesse an einem „Mit-sich-einstimmig-Sein“ für ein „vernünftiges, endliches Wesen“ (so z. B. IV 133) als maßgebend und orientiert sich demgemäß an der Möglichkeit eines umfassenden praktischen Vernunftgebrauchs.33 31 Mit Recht merkt H. Barth an: „In der Einbeziehung der Zweckmäßigkeit in ihre transzendentale Systematik vollzieht die Vernunftkritik einen entscheidenden Schritt im Aufstieg von der mathematisch-physikalisch begriffenen Natur zum vernunftvollen ‚Endzweck aller Dinge‘“ (H. Barth 1959, 458); in solchem „Aufstieg“ findet zugleich jene schon in der „ersten Kritik“ benannte „transzendentale Steigerung“ ihre Entfaltung. 32 Ob Hegels berühmte Bestimmung „Das Wahre ist das Ganze“ indirekt an Kants „Endzweck“-Bestimmungen anknüpft, ist hier nicht zu verfolgen. 33 Auch dies bestätigt, dass Einheit und Differenz von „Verstand und Vernunft“ im „theoretischen Vernunftgebrauch“ in der Unterscheidung zwischen „moralischer“ und „moralisch konsequenter Denkungsart“ offensichtlich eine Entsprechung haben. Gemäß jener schon wiederholt erwähnten kantischen Unter-
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Mithin wird in solcher „Absicht auf das Praktische“ die Frage unabweislich, wie denn jene von Kant beanspruchte Analogie in einem strengen Sinne zu denken sein soll: Wenn, wie schon angezeigt, „alle systematische Einheit der Natur, als dem Gegenstande unserer Vernunft“ auf die Idee „eine(r) ihr korrespondierende(n) gesetzgebende(n) Vernunft (intellectus archetypus)“ verweist, die derart als Voraussetzung des umfassenden theoretischen Vernunftgebrauchs fungiert, so schließt sich der weitere Nachweis an, wie eine solche „Idee der Zweckmäßigkeit“ ebenso „unzertrennlich“ – freilich der rechten „Ordnung der Vernunft“ folgend – mit unserem praktischen Vernunftgebrauch verbunden ist und darin sich ein entsprechendes „Vertrauen der Vernunft in sich selbst“ manifestiert. Die demgemäß in analogem Sinne auszuweisenden „notwendige(n) Voraussetzungen in praktischer Rücksicht“ (IV 264) finden denn auch als System der „Ideen der reinen praktischen Vernunft“ eine präzise Entsprechung, das in einer „moralisch konsequenten Denkungsart“ begründet ist. In solcher Hinsicht verweist Kant in der Tat auf eine vernunft-verankerte „praktische Zweckmäßigkeit“, die von dem unmittelbaren „Glauben an die Tugend“ ausgeht, d. h. darin verankert ist. Darin tritt nunmehr bezüglich der Frage nach ihrem Ermöglichungsgrund eine „transzendentale Steigerung“ von besonderer Art zutage; sie akzentuiert das Motiv einer „Selbsterhaltung der Vernunft“ nunmehr auf eine Weise, die darin jene von Kant betonte Analogie zwischen den Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“, aber auch die als unentbehrliches Bindeglied zwischen beiden fungierende Frage „Was soll ich tun?“ noch in anderer Akzentuierung ins Blickfeld rückt.
1.2. „Moralische“ und moralisch „konsequente Denkungsart“: Der ethikotheologisch begründete „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ Zunächst soll sich zeigen: Ganz anders als bei jenem „Bedürfnis der forschenden Vernunft“ und dem hierfür maßgeblichen Interesse verhält es sich bezüglich dieser Fragen mit Blick auf jene „Denkungsart“, die Kant in ethikotheologischem Kontext als eine „moralisch konsequente“ (und zuletzt als eine „Willensbestimmung von besonderer Art“, s. u. III., 1.3.) ausweisen wollte, zumal darin doch eine „Einstimmigkeit“ und „Selbsterhaltung der Vernunft“ von ganz anderer Art auf dem Spiele steht. Zielt dieser „mit sich einstimmige Vernunftgebrauch“ doch auf eine „Zusammenstimmung“ ab, in der sich eine besondere „Selbstaffirmation“ der Vernunft zur Geltung bringt und in jener Frage „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ auch zum Ausdruck kommt. Darin geht es also nicht um jene – in dem bloß bedingten „Bedürfnis des theoretischen Vernunftgebrauchs“ verankerte – „Grundlage der Möglichkeit des größten Gebrauchs der Menschenvernunft“, sondern um den im unbedingten „praktischen Vernunftbedürfscheidung zwischen dem „bloß vernünftigen Wesen“ (und dessen „theoretischem Vermögen“) und dem „Vernunftwesen“ (dessen unbedingt „praktischem Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein“: IV 318), stellt sich, diesen recht unterschiedlichen Ansprüchen zufolge, die Frage: „Wie muss die Welt für bloß vernünftige Wesen“ bzw. eben für „Vernunftwesen“ beschaffen sein?
456 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ nis“ fundierten umfassenden Vernunftgebrauch, der auch allein der Weltstellung eines vernünftig-moralischen „Weltwesens“ angemessen ist, d. h. damit „zusammenstimmt“. Dies verweist auf eine „Selbsterhaltung der Vernunft“ (bzw. auf einen ihr abverlangten Bildungsprozess) besonderer Art, die auch schon in jenem von Kant unterschiedenen „relativen“ und „unbedingten Vernunftbedürfnis“ (III 274) anklingt. Mit Blick auf das entsprechend zu differenzierende „Prinzip der transzendentalen Zweckmäßigkeit“ sowie auf die unabweislichen Ansprüche des „vernünftigen Weltwesens“ erweisen sich demgemäß teleologische Aspekte von ganz anderer Art als unverzichtbar. Damit ist folglich auch eine entsprechende Modifikation der „Selbsterhaltung der Vernunft“ verbunden, die in der Idee einer „moralischen Teleologie“ ihre nähere Entfaltung findet. Dabei soll sich zeigen, dass die Frage nach einem „Endzweck der Schöpfung“ einerseits auf die Weltstellung des Menschen als des existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ verweist, während der „praktische Endzweck“ dieses existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ einen Bezug auf die Frage nach dem „letzten [!] Endzweck, warum die Welt und der Mensch selbst da ist“ (V 610), voraussetzt, der in seiner „Unbedingtheit“ nach Kant freilich kein anderer sein kann als dies, „dass eine moralische Welt sein soll“.34 Für die in diesem „dass“ sich manifestierende Sinnaffirmation wird der Rekurs auf die Idee eines letzt-begründenden „Endzwecks der Schöpfung“ unumgänglich, der, aus moralischen Gründen, auf die Idee eines „moralischen Welturhebers“ als Ermöglichungsgrund desselben verweist (und näherhin als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein(en) Endzweck“ bestimmbar wird: III 636);35 erst in einem weiteren Schritt bleibt das „Dasein“ desselben als eine der Vernunft „abgenötigte Voraussetzung“ auszuweisen und als (der Gottesidee nichts hinzufügende) „absolute Position“ postulatorisch zu legitimieren. Damit sind die maßgebenden Themen der in der später sogenannten „Ethikotheologie“ entfalteten (moralisch) „konsequenten Denkungsart“ und der Idee der „moralischen Teleologie“ benannt, worin die Idee einer „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ über die hierfür maßgeblichen „Endzweck“-Bestimmungen nunmehr im Kontext praktischer Vernunftansprüche zur Entfaltung kommt. Es ist die gemäß der „moralischen Welt“ notwendig gedachte „Idee des höchsten Gutes“ und die auf dessen „Dasein-Sollen“ gerichtete Hoffnung, die allein die daran geknüpfte „transzendentale Begründungsfigur“ zu rechtfertigen vermögen, dabei freilich auch die Unterschiedlichkeit der jeweils maßgebenden Geltungsansprüche berücksichtigen. 34 Hier sei noch einmal vergegenwärtigt, dass Kant zufolge die „praktische Erkenntnis“ darauf abzielt, „was dasein soll“ (II 557), und die entsprechenden Objekte der „praktischen Vernunft … also die vom Guten und Bösen“ sind (IV 174); die „reine praktische Vernunft“ zielt demgegenüber auf das „unbedingte“ moralische Sollen, wie es sich im Anspruch des „moralischen Gesetzes“ manifestiert. Der „Endzweck der Schöpfung“ ist offenbar darauf gerichtet, dass (und wozu) eine Welt sein soll, die dem, „was dasein soll“, entspricht; insofern ist er diesem „was dasein soll“, als Bedingung der Möglichkeit desselben noch „vorgeordnet“ im Sinne des unbedingten „dass eine solche Welt sein soll“. Sein bemerkenswerter Rekurs auf den „letzten Endzweck“ lässt vermuten, dass Kant hier durchaus eine Stufung verschiedener „Endzweck“-Bestimmungen vor Augen hatte. 35 Diese späte Charakterisierung ist unschwer zu verstehen als eine symbolische Transformation jenes ethikotheologischen Rekurses auf eine „erste Ursache, als obersten Grund (…) im Reiche der Zwecke“, der dabei von der Idee der Welt, „als ein(em) nach Zwecken zusammenhängende(n) Ganze(n)“ als einem „System von Endursachen“ ausgeht (V 569).
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1.2.1. Die in der Idee der „moralischen Teleologie“ zutage tretende „transzendentale Steigerung“ von besonderer Art. Ein nochmaliger Blick auf die Frage: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ Die für die Entfaltung der Ethikotheologie maßgebend gewordene frühe Analogie zwischen den Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ hat es bestätigt:36 So wie der an der Vollständigkeit des „systematischen Zusammenhanges der Erscheinungen“ orientierte „theoretische Vernunftgebrauch“ dem erfahrungskonstitutiven Verstandesgebrauch eine Vernunftperspektive und somit erst eine „systematische Erfahrung“ eröffnet37 (und sich dabei in diesen „Vernunfthandlungen“ am Geltungsanspruch der „Wahrheit“ orientiert), so ist es die über die Moralität auf die Hoffnungsfrage führende „moralisch konsequente Denkungsart“, die sich hierfür, gemäß dem vollständigen „praktischen Vernunftgebrauch“ und einer „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ der besonderen Art, auf die Erkundung spezifischer Sinn-Voraussetzungen verwiesen sieht (worin sich ein Geltungsanspruch als praktischer Sinn-Anspruch artikuliert): Es sind dies gewiss recht unterschiedliche Vernunftperspektiven, die freilich erst in der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ ihre endgültige Verknüpfung finden können. In unübersehbarer Analogie zu jener notwendigen Voraussetzung einer „Schule für den umfassenden Vernunftgebrauch“ erweist sich dabei vorrangig der Gedanke als bestimmend: „Zur objektiven theoretischen Realität also des Begriffs von dem Endzwecke vernünftiger Weltwesen wird erfordert, dass nicht allein wir einen uns apriori vorgesetzten Endzweck haben, sondern dass auch die Schöpfung, d. i. die Welt selbst, ihrer Existenz nach einen Endzweck habe: welches, wenn es apriori bewiesen werden könnte, zur subjektiven Realität des Endzwecks die objektive hinzutun würde. Denn, hat die Schöpfung überall einen Endzweck, so können wir ihn nicht anders denken, als so, dass er mit dem moralischen (der allein den Begriff von einem Zwecke möglich macht) übereinstimmen müsse“ (V 581; vgl. 587; 168). Damit ist also zunächst gesagt, dass die subjektiv-praktische Realität der „Idee eines Endzwecks im Gebrauche der Freiheit nach moralischen Gesetzen“ (V 580) „ratio cognoscendi“ des „Endzwecks der Schöpfung“ ist, während Letzterer als unumgängliche 36 In der Folge bleibt festzustellen: So wenig das „Radikalvermögen aller unsrer Erkenntnis, nämlich d[ie] transzendentale Apperzeption“ (II 172) als apriorischer Ermöglichungsgrund der Erfahrung jedoch über die „systematische Einheit“ und „Totalität“ der Erfahrung verfügt und so eine der Urteilskraft gemäße „Ordnung der Zwecke“ voraussetzt, so wenig „vermag“ das „Radikalvermögen all unseres Wollens“, nämlich die „innere Freiheit“, den „ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft“, und bleibt so auf den ermöglichenden „Endzweck der Schöpfung“ verwiesen; beide zeigen darüber hinaus einen notwendigen „Beziehungspunkt“ an – sei es auf einen „nichtmenschlichen Verstand“ („intellectus archetypus“), sei es auf einen „Beziehungspunkt der Einheit aller Zwecke“ (IV 651) überhaupt, der auf jenes – alle unkritische „suppositio absoluta“ vermeidende – grenzbegriffliche „Etwas überhaupt“ eingeschränkt, als solcher aber auch behauptet wird. 37 Diese Analogie wäre vielleicht auch so zu formulieren: Bieten die „Verstandeskategorien“ zwar den „Schlüssel zu möglichen Erfahrungen“ (II 322), während erst die regulativen Vernunftideen die „vollständige Einheit des Erfahrungsgebrauchs“ ermöglichen, so ist die „Moralität“ zwar der unentbehrliche „Schlüssel“ zum „höchsten Gut“, verbleibt jedoch selbst in einer unaufhebbaren Spannung zum erhofften „ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft“; dem entspricht ein differenzierter „Welt“-Begriff.
458 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ „ratio essendi“ des „praktischen Endzwecks“ fungiert.38 Zuletzt zielt dies – in Anlehnung an eine bekannte Bemerkung Kants über die Aufeinanderbezogenheit von „Verstand und Anschauung“ formuliert – auf den Nachweis ab, dass eben allein unter der Voraus-Setzung der zu jenem „subjektiv-praktischen Endzweck“ (dem „ganzen Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“) affinen Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ die gebotene Orientierung an der Idee eines „praktischen Endzwecks“ nicht nur moralisch sinn-haft ist, sondern darüber hinaus auch „Sinn und Bedeutung hat“. Derart wird eine Sinn-Voraussetzung thematisch, welche – selbst zwar keineswegs moralisch neutral – einerseits dem Anspruch der „reinen praktischen Vernunft“ noch vorausliegt und dennoch darüber hinausweist. Im Blick auf späte – obgleich von ihm weithin nicht mehr systematisch entfaltete – Motive Kants soll sich in den folgenden Differenzierungsschritten zeigen: Beide Aspekte sind in Kants Konzeption des „Endzwecks der Schöpfung“ als des „Zwecks aller Zwecke“ aufgehoben39 und stehen so in grenzbegrifflichem Verweis auf die Idee eines ihn selbst ermöglichenden „Sinngrundes“, von dem in kritischer Absicht, d. h. wiederum in analoger Weise (s. zu dieser kantischen Begründungsfigur o. I., 2.1.2, Anm. 104 u. 105), zu sagen bliebe, dass allein „dieser den Grund alles dessen enthält“, was Menschen als „unbedingten Sinn“ zu denken nötig haben – und somit auch als Grund jenes im „Endzweck“ gedachten unbedingten „Sein-Sollen“, „dass eine Welt überhaupt existiere“.40 Jene von Kant verfolgte Analogie wird hier besonders deutlich: Dass die Möglichkeit des „forschenden Vernunftgebrauchs“ (im Sinne der „zweckmäßigen Einheit der Erscheinungen“ und eines „Leitfadens“ der Einheit der „Mannigfaltigkeit der empirischen Naturgesetze“) in jener „transzendentalen Steigerung“ auf die Voraussetzung einer „Ordnung der Natur“ selbst führt und derart zur Annahme einer „Zusammenstimmung der
38 Es scheint so zu sein, dass sich das Voraussetzungsverhältnis von „ratio cognoscendi“ und „ratio essendi“ (zunächst bestimmend für das Verhältnis „Freiheit“ und „moralisches Gesetz“: IV 108) auf dieser Ebene in modifizierter Gestalt wiederholt. In einer Analogie zu dieser bekannten kantischen Begründungsfigur wäre also zu fragen, ob das im „höchsten Gut“ Erhoffte nicht als „ratio cognoscendi“ jenes grenzbegrifflich gedachten „Ideals der Vernunft“ fungiert, das so auch erst als „höchstes ursprüngliches Gut“ bestimmbar wird; Letzteres ist die vorausgesetzte „ratio essendi“ des Erhofften. 39 Ausgehend von der Bestimmung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ zielen die in der daran anknüpfenden „moralischen Teleologie“ entfalteten „ethikotheologischen“ „Endzweck“-Bestimmungen in einer „metaphysischen Perspektive“ allesamt darauf ab, wie das Dasein dieses existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ als ein auch insgesamt „bewandtnis-haftes“ und eine auf solche „Bewandtnis“ abzielende „Hoffnung“ ausgewiesen werden können. Die (subjekt-zentrierte) Frage: „Was darf ich hoffen?“ geht hingegen von einem anderen „Standpunkt“ aus (s. u. IV. Teil). In der Tat: „Im Hinblick auf natürliche und menschliche Sinnzusammenhänge teleologischer Ordnung ist mit dem ‚Endzweck‘ ein Prinzip unüberholbaren Sinnes gemeint, das die Rückfrage nach einer weiteren Sinngebung nicht erlaubt“ (H. Barth 1959 II, 502). Eben dies nötigt zu einer Differenzierung dieser Idee des „Endzwecks“. 40 Freilich, Kants grenzbegriffliche Behutsamkeit will hier genau dasjenige ausdrücklich in kritischer Absicht vermeiden, was M. Müller indes als ein Versäumnis Kants beklagt, – nämlich dass Kants „Versuch moralischer Rechtfertigung menschlicher Existenz [von der bei Kant auch nicht die Rede ist] … dieser Welt den ihr verlorenen absoluten Sinn nicht zurückgeben“ könne (zit. n. Konhardt 2004, 423 f ); genau dies muss sich nach Kant „innerhalb der“ und auch an den „Grenzen der bloßen Vernunft“ aus philosophischen Gründen geradewegs verbieten. Der gegen Kant gerichtete Vorwurf einer „transzendentalen Sinn-Verfehlung“ (ebd.) fällt insofern auf Müller selbst zurück und wird auch den von Kant bezüglich der „Endzweck“-Thematik geleisteten Differenzierungen nicht gerecht.
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Natur zu unserem Erkenntnisvermögen“ gewissermaßen (obgleich nur bedingterweise) „nötigt“, findet gemäß der Frage, „wie die Welt für ein moralisches Wesen gedacht werden muss“, über den „praktischen Vernunftgebrauch“ (das „Vernunftbedürfnis aus einem objektiven Bestimmungsgrund des Willens“: IV 278) eine direkte Entsprechung. So wenig jene theoretische Nötigung als ein bloß „ökonomischer Handgriff der Vernunft“ relativiert werden darf (obgleich es doch lediglich eine Art „subjektiver Zweckmäßigkeit“ indiziert), so wenig ist für das im letzteren Falle maßgebende und unabweisliche „praktisch“ begründete Vernunftbedürfnis der Status einer „Einsicht“ zu beanspruchen. Die nachfolgenden Überlegungen sollen es zeigen: Mit jenem Hinweis auf diese Adäquanz bzw. „Affinität“ von „subjektivem“ und „objektivem Endzweck“ hat Kant eine besonders akzentuierte teleologische Aussicht eröffnet, die zuletzt auch eine Vertiefung des philosophischen Gottesbegriffs zur Folge hat. Ihr zufolge wäre, einer naheliegenden analogen Argumentationsfigur zufolge, Gott – zunächst – als „Ermöglichungsgrund“ des „Endzwecks der Schöpfung“ zu denken – näherhin als jenes „Wesen, welches den Grund alles dessen enthält, wozu wir Menschen einen ‚Endzweck der Schöpfung‘ anzunehmen nötig haben“, ohne dass sich dessen Wirklichkeit in diesem „Ermöglichungsgrund“ indes einfachhin schon erschöpfte, zumal sie gleichermaßen „ganz außer der Sphäre aller uns möglichen theoretischen Erkenntnis“ (III 390, Anm.) bleiben muss. Demgemäß hätte Kant die Differenz zwischen „Endzweck der Schöpfung“ und seinem Ermöglichungsgrund keineswegs aufgegeben. Gleichwohl macht es die „Abgründigkeit“ des „Abgrunds der Vernunft“ aus, dass sich der unverzichtbare Gottesbegriff der „transzendentalen Theologie“ auch in solchem „Ermöglichungsgrund“ des „Endzwecks der Schöpfung“ noch nicht erschöpfen kann. In dem als „Sinn“-Anspruch auftretenden Geltungsanspruch klingt bemerkenswerterweise eine „Affinität“ zwischen „Moralität“ (und dem darin artikulierten „Sinn des Unbedingten“) und dem „Endzweck der Schöpfung“ (als dem „unbedingten Sinn“, als „Sinn aus sich selber“, s. u. III., 1.3.2.) an, die in dem der Weltstellung des Menschen gemäßen „praktischen Endzweck“ ein unentbehrliches Bindeglied hat. Weiß sich der Mensch als „moralische Persönlichkeit“ zwar in einer „höhere(n), unveränderliche(n) Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind“ (IV 235), so ist für ihn, als „vernünftiges Weltwesen“, mit dieser „höchsten Vernunftbestimmung“ die Hoffnung auf eine vorausgesetzte „moralische Weltordnung“ als „Endzweck der Schöpfung“ verbunden, die allein auch den ihm aufgegebenen, d. h. moralisch verankerten „praktischen Endzweck“ zu fundieren vermag.41 In solcher Konvergenz tritt jene „transzendentale Zweckmäßigkeit“ 41 Auch daraus wird deutlich, dass „praktischer Endzweck“ und „Endzweck der Schöpfung“ nicht einfach gleichgesetzt bzw. verwechselt werden dürfen. Es spricht einiges dafür, das „Bedürfnis der praktischen Vernunft“ auf den „praktischen Endzweck“ zu beziehen, dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ hingegen die umgreifendere Sinnperspektive des „Endzwecks der Schöpfung“ zuzuordnen. – Es scheint so, dass diese kantische Differenzierung des „praktischen Endzwecks“, des „Endzwecks der Schöpfung“ (als „Endzweck aller Dinge“) und dessen Ermöglichungsgrund als „Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (als „terminus ad quem“ des „Hoffnungsglaubens“) in gewisser Weise eine bemerkenswerte gestufte Entsprechung bei Wittgenstein findet: „An einen Gott glauben heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. – An einen Gott glauben, heißt sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt [was bloß „der Fall ist“, als einer bloßen „Wüste“ im Sinne Kants] noch nicht abgetan ist. – An Gott glauben heißt sehen, dass
460 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ in besonderer Gestalt in Erscheinung und zeigt so eine „transzendentale Steigerung“ der besonderen Art an, von der noch genauer die Rede sein soll.42 Dabei wird sich noch zeigen: Nur unter dieser Voraussetzung der Affinität zwischen dem „praktischen Endzweck“ und dem „Endzweck der Schöpfung“ lässt sich denken, dass der Mensch als „Endzweck der Schöpfung“ (und zwar als „vernünftiges, aber endliches Wesen“) „in die Welt passe“. Solche Argumentation43 darf freilich die erforderlichen Differenzierungsschritte nicht verdecken: Dafür, „dass nicht allein wir einen uns apriori vorgesetzten Endzweck haben“, sondern diese „subjektive Realität des Endzwecks“ zugleich als „objektive theoretische Realität … des Begriffs von dem Endzwecke vernünftiger Weltwesen“ (V 581) überhaupt gelten darf, ist eben ein „Endzweck der Schöpfung“ unumgänglich vorausgesetzt; keineswegs ist jedoch die „objektive Realität des Begriffs von dem [„praktischen“!] Endzwecke vernünftiger Weltwesen“ mit dem „Endzweck der Schöpfung“ einfachhin identisch – obgleich Letzterer wiederum nur als mit dem „praktischen Endzweck“ (welcher der „moralischen Welt“ gemäß sein muss) konvergierend gedacht werden kann. Die Voraus-Setzung der Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ wäre demnach (als „mitgesetzt“) immer schon anerkannt, sofern der – als „geboten“ aufgegebene – „praktische Endzweck“ intendiert wird.44 Indes, erst die Reflexion auf ein derart gestuftes Begründungsverhältnis macht diedas Leben einen Sinn hat“ (L. Wittgenstein 1969, 168; Hervorhebungen v. Verf.); die erstgenannte Frage Wittgensteins wäre mithin der kantischen Idee des „praktischen Endzwecks“ (bzw. der Hoffnung darauf ) zuzuordnen, die zweite These würde wohl der Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ entsprechen, während erst die dritte dem „Hoffnungsglauben“ korrespondiert; indes wäre es nach Kant unstatthaft, den „Sinn der Welt“ mit Gott einfachhin zu identifizieren, weil dies, in kantischer Perspektive, auf eine Identifikation des „Endzwecks der Schöpfung“ mit dem Gottesgedanken selbst hinausliefe. 42 Entsprechend dieser besonderen Gestalt einer „transzendentalen Affinität“ bleibt eine kantische Bestimmung der „Verwandtschaft“ („Affinität“) zu variieren: „Ich verstehe unter der Verwandtschaft die Vereinigung aus der Abstammung des Mannigfaltigen von einem Grunde […] Das Wort Verwandtschaft (affinitas) erinnert hier an eine aus der Chemie genommene, jener Verstandesverbindung analogische, Wechselwirkung zweier spezifisch verschiedenen, körperlichen, innigst aufeinander wirkenden und zur Einheit strebenden Stoffe erzeugt werden können“ (VI 479). 43 Es ist hier nicht zu prüfen, ob Kant darin nicht auch indirekt bzw. in modifizierender Weise an die stoische – „Welt und Moral“ umgreifende – „Logos“-Konzeption anknüpft. 44 Diese von Kant gedachte „Übereinstimmung“ von „subjektivem und objektivem Endzweck“ ist aber wesentlich an die Idee der Gerechtigkeit geknüpft, weshalb hierfür die Idee eines allmächtigen „Herzenskündigers“ – einem moralischen „Vernunftbedürfnis“ gemäß – als „zureichender Grund“ unumgänglich und dies keinesfalls der bloß „reflektierenden Urteilskraft“ anheimzustellen ist. Dies gilt auch bezüglich der späteren Argumentation Henrichs, die in der Sache offensichtlich ebenfalls auf diese postulierte bzw. vorausgesetzte Übereinstimmung von „subjektivem“ und „objektivem Endzweck“ – die ja doch ein zweckmäßiges „Zusammenstimmen“ meint – rekurriert: Denn die in dem Bedürfnis, sich denkend, handelnd und hoffend auf ein Ganzes hin zu orientieren, begründete und zuletzt auch eine „Lebensbilanz“ eröffnende „Selbstverständigung“ steht nach Henrich von „Beginn … in dem Widerstreit zwischen der Aussicht, das eigene Leben als metaphysisch belanglos ansehen zu müssen, und der Möglichkeit, es unter einer Sinnaffirmation, die es weder sich noch anderen verdanken kann, stehen zu sehen. In singulären Momenten der Erfahrung … können solche Perspektiven beglaubigt, aber auch dementiert werden. Der Zusammenbruch einer Identitätsbildung und das Bedürfnis des sittlichen Bewusstseins, die sittliche Welt nicht ohne Deckung durch ein allgemeineres Weltprinzip zu sehen, intensivieren gleichfalls die Tendenz, eine stabile Lebensbilanz zu gewinnen“ (Henrich 2007, 360); Kant hat im Sinne eines „theismus moralis“ stets daran festgehalten, dass dieser „Deckung durch ein allgemeineres Weltprinzip“ – eben im Sinne eines vorauszusetzenden „objektiven Endzwecks“ – aus moralischen Gründen nur ein „weiser Welturheber“ als „ratio sufficiens“ genügt, d. h. „kommensurabel“ ist.
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se „transzendentale Steigerung“ der besonderen Art sichtbar; und erst die darin begründete bzw. differenzierte Einheit der „subjektiven Realität des Endzwecks“, der „objektiven Realität des Begriffs von dem Endzwecke vernünftiger Weltwesen“ und des „Endzwecks der Schöpfung“ lässt nun auch erkennen, dass sie offenkundig in analoger Weise jene Begründungsfigur der „ersten Kritik“ aufgreift, der zufolge „die Ordnung der Zwecke
doch zugleich eine Ordnung der Natur“ sein und hier auch ihr „eigentümliches Gebiet“ haben soll (II 357).45 Daran schließt sodann jenes erwähnte Motiv an, wonach „wir von der Kenntnis der Natur selbst keinen zweckmäßigen Gebrauch in Ansehung der Erkenntnis machen, wo die Natur nicht selbst zweckmäßige Einheit hingelegt hat“ (II 685). Im Blick auf Kants „dritte Kritik“ wird aber auch deutlich, dass jene „Endzweck“Argumentation dem schon angeführten Verweis auf die Idee der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ im Sinne der vorausgesetzten „Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen“ (V 258) in analoger Weise entspricht, der jedoch im Sinne des unterschiedenen Geltungsanspruches (als theoretischer Wahrheits- und praktischer Sinnanspruch) unverkennbar ein veränderter Stellenwert zukommt.46 Jene auf die Konvergenz des „subjektiven Endzwecks“ und der „objektiven theoretischen Realität
des Begriffs von dem Endzwecke vernünftiger Weltwesen“ abzielende Begründungsfigur lässt eine besondere „transzendentale Steigerung“ schon insofern erkennen, als darin die Zusammenstimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ zum „praktischen Vernunftvermögen“ und seinem „Objekt“, d. i. dem „praktischen Endzweck“, im Kontext der in seiner „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ eigens verorteten „Idee einer moralischen Teleologie“ thematisch wird, die sich vom Teleologie-Status im Kontext des „theoretischen Vernunftvermögens“ unterscheidet.47 Die darin aufgenommene – in systematischer Hinsicht (d. i. im Blick auf die „Einheit der Vernunft“) höchst bedeutsame – Analogie zwischen dem die denkbare „Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen“ (und zwar in ihrem systematischen Zusammenhang und ihrer Totalität) ermöglichenden „transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit“ und der für jene Übereinstimmung von „subjektivem“ und „objektivem Endzweck“ bestimmenden Konzeption der „moralischen Teleologie“ wird nunmehr zum Fundament jener moraltranszendierenden Sinndimension. Ihr zufolge korrespondiert der moralisch verankerten „subjektiven Realität des Endzwecks“ auch eine „objektive“, besser: liegt Letztere als
45 Diese eher beiläufige (wohl das Leibniz’sche „nihil est sine ratione“ in regulativem Sinne aufnehmende) frühe Bemerkung gewinnt in solcher ethikotheologischen Akzentuierung erst besonderes Gewicht (vgl. dazu V 559, Anm.); denn allein die begründete Hoffnung auf den „Endzweck der Schöpfung“ zielt darauf ab, dass das intendierte „höchste Gut“ als „Endzweck“ nicht nur „subjektive“, sondern auch „objektive Realität“ hat. 46 Zu Recht betont deshalb K. Düsing im Sinne dieser Stufung bzw. Vertiefung: „Kant hatte in der Kritik der reinen Vernunft die Naturzweckmäßigkeit noch in die praktisch begründete Idee einer teleologischen Einheit der sinnlichen und übersinnlichen Welt eingeordnet und ihr nicht die Bedeutung eines selbständigen Prinzips verliehen. Dies geschieht erst in der Kritik der Urteilskraft mit der Aufstellung eines transzendentalen Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur“ (K. Düsing 1971, 37). 47 Die Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ betreffenden „teleologischen“ Aspekte bleiben hier völlig ausgeblendet.
462 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ „ratio essendi“ zugrunde – eine Gedankenfigur, die in dieser ethikotheologischen Figur in der Tat als eine „transzendentale Steigerung“ von besonderer Art erscheint.48 Dieserart wird die Frage nach der „Bedingung der Möglichkeit“ eines – über das „Praktische“ hinausweisenden – vollständigen Gebrauchs der praktischen Vernunft und nach dem dieser Hoffnung gemäßen „Sein-Sollenden“ analog zu derjenigen nach der Bedingung der Möglichkeit der umfassenden „Welt“-Erfahrung bestimmt,49 in dem sich in unterschiedlichen Hinsichten ein „Vertrauen der Vernunft in sich selbst“ und ein daraus gespeister Geltungsanspruch manifestiert. So wie der eine „zusammenhängende Erfahrung“ ermöglichende „regulative Vernunftgebrauch“ (und seine einheits-stiftenden Prinzipien) auf die konstitutiven „Verstandeshandlungen“ rückverwiesen ist,50 so bleibt dabei, analog dazu, Moralität die „oberste Bedingung“ des „praktischen Endzwecks“ und gleichermaßen des „Endzwecks der Schöpfung“, der, wie Kant eindringlich betonte, ohne die vorausgesetzte Moralität auch gar nicht einmal als möglich gedacht werden kann. Bezüglich der angezeigten Analogie bleibt freilich darauf zu achten, dass solche Zuversicht (bzw. das darin bestimmende „Fürwahrhalten“) unter den Vorzeichen des „Primats der praktischen Vernunft“ steht, weshalb sich solche „moralische Zweckmäßigkeit“ (im engeren Sinne) von jener „formalen Zweckmäßigkeit“ (gemäß dem „theoretischen Vernunftgebrauch“) doch – in einer „prinzipiellen“ Hinsicht – unterscheidet und sich natürlich auch nicht in der vordergründigen Rücksicht auf den „moralischen Nutzen“ erschöpft. Vor allem in der späten „Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft“ hat Kant die geforderte ethikotheologische Vermittlung der „subjektiven“ und „objektiven Realität des Endzwecks vernünftiger Wesen“ – in unübersehbarer Korrelation zu jenen notwendigen Voraussetzungen hinsichtlich des „zweckmäßigen Gebrauch(s) in Ansehung der Erkenntnis“ der „systematischen Einheit der Naturerscheinungen“ – näherhin als eine 48 Schon für diese Überlegungen der Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft ist der Gedanke maßgebend, „dass der Ordnungssinn der moralischen Welt den Subjekten, die ihre Glieder sind, vorzuordnen ist“ und die „moralischen Subjekte“ „sich als diese Subjekte im Ganzen der Welt konstituieren, die nun in einem die intelligible und die moralische Welt ist“ (Henrich 2004 II, 1517). 49 Darauf verweist wohl auch H. Wagners Bemerkung: „Es ist überhaupt für den Abschluss der Transzendentalphilosophie Kants, darum auch für die Schlußparagraphen … der ‚Kr. d. U.‘ charakteristisch, dass sich zuletzt die Überlegungen zum Teleologieproblem (über einen Endzweck der Welt) und die zum Problem moralischer Pflichten (über ein gebotenes höchstes Gut in der Welt) so weit treffen (und auf diese Weise miteinander den das gewaltige Gebäude wahrhaft krönenden Abschlussstein bilden)“ (Wagner 2008b, 147). – Sofern freilich die Idee der „moralischen Teleologie“ über das Motiv der „transzendentalen Steigerung“ engstens mit dem Thema der „Selbsterhaltung der Vernunft“ verbunden ist (s. u. IV., 3.) und auch so zweifellos bedeutsame „Geltungsaspekte“ berührt, wäre (im Blick auf H. Wagners Frage: „Wie weit reicht die klassische Transzendentalphilosophie?“: Wagner 2008b) wohl noch einmal zu erörtern, wo genau diese kantische Konzeption transzendentalphilosophisch zu verorten ist und ob Wagners Einschätzung insofern das letzte Wort behält: „Halten wir also fest, dass sie [die kantischen „Glaubenssachen“, s. § 91 der „Kritik der Urteilskraft“], ihm nicht als Gegenstände des Wissens gelten; was wir nach ihm vielmehr bezüglich dieser Gegenstände wissen, ist unser Wissen vom bloßen Glaubenscharakter einer Überzeugtheit von ihnen; transzendentalphilosophische Kritik ist also auch die abschließende … Behandlung der großen Abschlußdinge; ein Stück transzendentalphilosophisches System ist sie nicht“ (Wagner 2008b, 136). 50 Als regulative Prinzipien orientieren sich die Vernunftideen bekanntlich grundsätzlich an der „größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung“ (II 472).
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„moralisch konsequente Denkungsart“ charakterisiert, die als solche von der im engeren Sinne „moralischen Denkungsart“ zwar unterschieden bleibt, obgleich sie notwendigerweise, ganz im Sinne jenes unauflöslichen Zusammenhanges der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“, auf diese zurückverweist.51 Eben gemäß dem darin sich artikulierenden unabweislichen „Interesse der Vernunft“ an der „objektiven Realität“ dieser – ihrer! – Ideen wäre dies auch dahin zu akzentuieren, dass die ethikotheologische Begründungsfigur – in Anknüpfung an jene frühe Perspektive, ob wir „in diese Welt“ bzw. in das „System aller Zwecke passen?“ (II 687) – als eine nunmehr explizit kantische Version jener Frage: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ noch an Plausibilität gewinnt. Verbleibt doch die – keinesfalls mit dem bloß faktisch-„subjektiven Zweck“ der „eigenen Glückseligkeit“ zu verwechselnde (vgl. IV 653, Anm.)!52 – „subjektive Realität des Endzwecks“ für den Menschen, ungeachtet seiner moralischen Bemühungen um das zu befördernde „Weltbeste an uns und anderen“, in einer unaufhebbaren Spannung zu der eben deshalb postulierten „objektiven Realität“ desselben (V 581) und erfährt sich dieserart mit dem die „Selbsterhaltung der Vernunft“ bedrohenden abgründigen Gedanken konfrontiert, dass „da nichts ist“. In moralischer Hinsicht von höchster Bedeutung, gleichwohl letztendlich ohne Belang – dahin hätte sich jenes drohende „Auseinanderklaffen“ zwischen dem „Natur“- und dem „Freiheitsbegriff“ innerhalb der „moralischen Teleologie“ nunmehr selbst verschärft. Dies fordert nun den wichtigen nächsten Schritt in dieser Entfaltung der Idee der „moralischen Teleologie“ gemäß jenem „transzendentalen Prinzips der Zweckmäßigkeit“, das darin in der schon angezeigten Weise eine unübersehbare „Steigerung“ erfährt, die auch in jener angeführten bündigen Charakterisierung des „Endzwecks“ zutage tritt; freilich erfordert diese eine noch genauere Differenzierung. In der Tat wird sich im Folgenden noch erweisen, dass eben diese „Endzweck“-Bestimmungen eine gestufte Differenzierung dieser Idee (und der darin angesprochenen „Bedingung seiner Möglichkeit“) unumgänglich machen.53 Die in der Ethikotheologie näher entfalteten und miteinander verknüpften „Endzweck“-Bestimmungen nehmen insofern in systematischer Hinsicht jene im „Kanon der reinen Vernunft“ zunächst programmatisch angezeigte Analogie der Wissens- und Hoffnungsfrage (II 677) sowie das 51 Es wird sich noch näher zeigen (IV., 1.): Die „Ausschau“ nach dem Zweck des „höchsten Guts“ ist dem Menschen als „vernünftigem, endlichem Wesen“ aus moralischen Gründen angemessen, setzt also „schon sittliche Grundsätze voraus“ (IV 651); dass dies auch die Berücksichtigung jener Aspekte miteinschließt, die seine „Kreatürlichkeit“ betreffen, ist ein damit verbundener unverzichtbarer Aspekt in Anbetracht „seines ganzen Zustandes“. 52 Nur wenn beide „Glückseligkeits“-Begriffe (was Kant mitunter selbst begünstigt) verwechselt bzw. gleichgesetzt werden, resultiert der vermeintliche Widerspruch, dass die „Beförderung des höchsten Gutes“ nicht geboten sein kann, weil sie ohnehin einem „natürlichen Verlangen“ entspricht. 53 Es trifft wohl zu: „Die Schwierigkeit bestand für ihn [Kant] offenbar darin, die … verschiedenen Aspekte letzter Zweckhaftigkeit, also den ‚letzten Zweck der Natur‘ … und den für einen ‚höchsten Verstand‘ geltenden ‚Endzweck des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst‘, nämlich den Menschen als ‚moralisches Wesen‘, dessen Dasein ‚den höchsten Zweck selbst in sich hat‘, allerdings ‚nur als Subjekt der Moralität‘ oder ‚als moralisches Wesen‘, mit dem zu setzenden und zu bewirkenden Endzweck des ‚höchsten abgeleiteten Guts‘ vor dem Hintergrund ‚eines höchsten ursprünglichen Guts‘ … und der ‚Ehre Gottes‘ als dem ‚letzten Zweck der Schöpfung‘ terminologisch zu trennen“ (Winter 2000b, 371).
464 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ sodann in der „Architektonik der reinen Vernunft“ benannte Vorhaben auf, „ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen“ (II 697). Die in der daran anschließenden Bestimmung des „Weltbegriffs der Philosophie“ als „Gesetzgebung der Vernunft“ formulierte Aufgabe der Differenzierung und Vermittlung der „wesentlichen“ und der „höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“, deren zuletzt „(bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann“ (II 701), findet freilich erst in der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ ihre systematische Durchführung; sie nimmt dabei – anknüpfend an die Idee eines „teleologischen Systems der Natur“ – von der differenzierten Bestimmung der Weltstellung des Menschen als dem „letzten Zweck der Natur“ und als „Endzweck der Schöpfung“ ihren Ausgang (§ 82 bzw. §§ 83 der KU) und bringt jene „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft“ (II 701) „ethikotheologisch“ am Leitfaden der „teleologia rationis humanae“ zur systematischen Entfaltung. Erst dergestalt findet die gesuchte „Darstellung desjenigen, was ein System reiner philosophischer Erkenntnisse dieser Art ausmacht“ (II 702), gleichsam als „Vernunftwissenschaft“ ihre Einlösung. Zunächst sollte lediglich dies verdeutlicht werden: In der von Kant im Sinne einer solchen „transzendentalen Steigerung“ als notwendig ausgewiesenen Unterscheidung der „subjektiven Realität des Endzwecks“ (als einen von „uns apriori vorgesetzten“54) von der „objektiven Realität“ desselben und deren Vermittlung hat jene schon in der „ersten Kritik“ aufgewiesene Analogie der Ansprüche „in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Dinge“ und „in Absicht auf das Praktische“ eine gewiss denkwürdige Fundierungsgestalt gefunden, die erst in der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ ihre nähere Entfaltung und auch ihre kritische Legitimation erhält.55 Dass im Ausgang von der „Wirklichkeit“ der Idee der Freiheit die Verknüpfung aller drei „Vernunftideen“ „unter einander zu einer Religion möglich wird“, hat Kant ausdrücklich am Ende seiner Ethikotheologie betont: „Es bleibt hiebei immer sehr merkwürdig: dass unter den drei reinen Vernunftideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die der Freiheit der einzige Begriff des Übersinnlichen ist, welcher seine objektive Realität (vermittelst der Kausalität, 54 „Apriori vorgesetzt“ ist dieser „Endzweck“ also zunächst als aufgegebener „praktischer Endzweck“; hierfür ist, als Ermöglichungsgrund desselben, jedoch der „Endzweck der Schöpfung“ „apriori vorausgesetzt“, der wiederum auf andere „abgenötigte Voraussetzungen“ verweist. 55 Nochmals sei hier auf den in der Einleitung zur „dritten Kritik“ von Kant ausdrücklich betonten „analogen“ Charakter dieser „Zweckmäßigkeit“ hingewiesen, wonach der Begriff der „Zweckmäßigkeit der Natur“ als ein „besonderer Begriff apriori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat“ (V 253), „von der praktischen Zweckmäßigkeit (der menschlichen Kunst oder auch der Sitten) ganz unterschieden“ sei, „ob er zwar nach einer Analogie mit derselben gedacht wird“ (V 253). Denn die gemäß der „moralischen Teleologie“ gedachte notwendige Vermittlung des „subjektiven“ und des „objektiven Endzwecks“ „vernünftiger Weltwesen“ erfolgt umgekehrt offensichtlich ganz analog zu jener Gedankenfigur, wonach „die größte systematische, folglich auch die zweckmäßige Einheit“ der Naturerscheinungen „die Schule und selbst die Grundlage der Möglichkeit des größten Gebrauchs der Menschenvernunft“ ist (II 599 f ), ja sie wurde selbst zunächst als eine teleologisch orientierte „transzendentale Steigerung“ derselben ausgewiesen, die sodann im Sinne der „Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft“ neu begründet wird. Eben dieser praktisch akzentuierte Gedanke des „größten Gebrauchs der Menschenvernunft“ (und die darin gedachte „Totalität“) ist es, der auf die Unverzichtbarkeit der Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ führt.
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die in ihm gedacht wird) an der Natur, durch ihre in derselben mögliche Wirkung, beweiset, und eben dadurch die Verknüpfung der beiden andern [Gott und Unsterblichkeit] mit der Natur, aller dreien aber unter einander zu einer Religion möglich macht; und dass wir also in uns ein Prinzip haben, welches die Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns, zu einer, obgleich nur in praktischer Absicht möglichen, Erkenntnis zu bestimmen vermögend ist, woran die bloß spekulative Philosophie (die auch von der Freiheit einen bloß negativen Begriff geben konnte) verzweifeln mußte: mithin der Freiheitsbegriff (als Grundbegriff aller unbedingt-praktischen Gesetze) die Vernunft über diejenigen Grenzen erweitern kann, innerhalb deren jeder Naturbegriff (theoretischer) ohne Hoffnung eingeschränkt bleiben müßte“ (V 606).56 Auf dem Fundament jenes sich „durch die Tat“ als wirklich erweisende „Übersinnlichen in uns“ wird demnach die Verknüpfung der drei Vernunftideen „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ „untereinander zu einer Religion“57 auf eine Weise ermöglicht, die über die kritische Selbstbescheidung der „spekulativen Vernunft“ (auf bloß „negative Begriffe“) hinaus einen Weg zu eröffnen vermag, worin endliche Vernunft sich auch „auf dem praktischen Gebiet“ als solche „erhält“ und – in diesem bloßen „Interesse an sich selbst“ – zur ihrem „Endzweck“ in gesichertem „Überschritt“ fortschreitet. Erst damit wäre der gesuchte Nachweis erbracht, dass jener Rekurs auf eine „systematische, folglich auch zweckmäßige Einheit“ als „Schule für den größten Gebrauch der Menschenvernunft“ und die darin vorausgesetzte Verknüpfung von „Verstandes“- und „Vernunftgebrauch“ – d. i. die Frage: „Wie muss die Welt für ein an einem vollständigen theoretischen Vernunftgebrauch orientiertes vernünftiges Wesen beschaffen sein?“ – in dem „ethischen Weltbegriff“ eine unübersehbare – und auch unverzichtbare – Entsprechung hat. Näherhin hat Kant in den ethikotheologischen Begründungen seiner „dritten Kritik“ diese (nunmehr so zu bestimmende) „moralisch konsequente Denkungsart“ folgendermaßen charakterisiert: Es ist nach Kant, freilich der rechten „Ordnung der Zwecke“ gemäß, das „moralische Gesetz“ selbst, das „uns doch auch und zwar a priori [!] einen Endzweck“ bestimmt, „welchem nachzustreben es uns verbindlich macht: und dieser ist das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“ (V 576; V 599). Dabei sah er sich, gemäß dem in diesem gestuften Verhältnis von „moralischer“ und „moralisch konsequenter Denkungsart“ angezeigten differenzierten Sinnhorizont58, im Sinne jenes Maßstabs einer „moralischen Welt“ und auch in Abwehr eudämonistischer Missverständnisse zu der nochmaligen Klarstellung veranlasst: „Es soll damit auch nicht gesagt werden: es 56 Vgl. auch Refl. 6343, AA XVIII, 667 f. Die „Sonderstellung“ dieser „Idee der Freiheit“ zeigt sich darin, dass in ihr die „durch die Tat“ erwiesene „objektive Realität“ sich mit der Orientierung derselben als einer „Vernunftidee“ verbindet. Allein dies sichert ihre Stellung als „archimedischer Punkt“, der so auch den anderen Ideen „Halt“ zu geben vermag. Damit ist freilich die Frage nach dem genauen Status dieser – eben besonderen – „Idee“ verknüpft. 57 In seiner „zweiten Kritik“ hat Kant, wohl eher missverständlich, betont, dass die Begriffe der „Unsterblichkeit, der Freiheit und des Daseins Gottes“ als „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ „im praktischen Begriffe des höchsten Guts“ vereinigt“ sind (IV 265 f ). 58 Dieser ist übrigens auch in jener Bestimmung der Moral als „Glückswürdigkeit“ schon vorausgesetzt, weil diese Kennzeichnung doch den erweiterten Horizont indiziert, wonach schon diese „Glückswürdigkeit“ gleichsam „unumgänglich auf Religion“ verweist!
466 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ ist zur Sittlichkeit notwendig, die Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität anzunehmen; sondern es ist durch sie notwendig. Mithin ist es ein subjektiv, für moralische Wesen, hinreichendes Argument“ (V 577, Anm.).59 In diesem Sinne ist auch seine sogleich angefügte Erläuterung zum Anspruch des „moralischen Beweises“ zu verstehen, dass es zwar keinesfalls ebenso „notwendig“ sei, „das Dasein Gottes anzunehmen, als die Gültigkeit des moralischen Gesetzes anzuerkennen“; auf jene genannte „Sinnaffirmation“ zielt jedoch offenbar der daran geknüpfte Hinweis ab, dass „nur die Beabsichtigung [!] des durch die Befolgung des letztern [d. i. des „moralischen Gesetzes“] zu bewirkenden Endzwecks in der Welt (einer mit der Befolgung moralischer Gesetze harmonisch zusammentreffenden Glückseligkeit vernünftiger Wesen, als das höchste Weltbeste)
alsdann aufgegeben [!] werden“ müsste (V 577 f ). Daraus wird noch einmal deutlich, dass die moralische Verbindlichkeit jenes („durch Freiheit“) praktischen „Nachstrebens“ von dieser darüber noch hinauszielenden – obgleich moralisch inspirierten – „Sinnaffirmation“ selbst noch unterscheiden bleibt. Diese Argumentation mündet sodann in seine Bestimmung der besonderen „Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben“ ein und führt zuletzt auf die denkwürdige Bestimmung der „fides“ (V 597 ff ) (s. dazu u. IV., 3.1.). Derart wird sich die für Kants Religionsphilosophie bestimmende „Inversion“ als entscheidend erwiesen, dass der grenzbegriffliche Gedanke eines „letzten Horizonts von Sinngegebenheit, der nicht bloß ‚gemacht‘ ist“60, d. h. eines „unbedingten Sinnes“, die moralisch-praktische Dimension eines „Sinns des Unbedingten“ (als „ratio cognoscendi“) zur unverzichtbaren Voraussetzung hat. Allein der freigesetzte und in moralischer Hinsicht differenzierte „Sinn des Unbedingten“ vermag auch den Horizont eines „unbedingten Sinns“ auf eine Weise zu eröffnen, die damit jedoch keinesfalls in die schlechte Metaphysik eines „theoretisch-dogmatischen Überschritts“ zurückfällt; sie vermag sich innerhalb des „dritten Stadiums“ nicht nur zu behaupten, sondern verleiht überdies deren Kennzeichnung als „Theologie“ (III 615) einen besonderen Sinn. Dass eben nicht eine Theorie über die „Dinge der Natur“ (d. h. ein „theoretischer Geltungsanspruch“), sondern zuletzt allein die Frage nach dem „Endzweck der Schöpfung“ und dessen Sinngrund nach Kant diesen theologischen Sinnhorizont eröffnet, erweist sich so lediglich als eine Bestätigung hierfür; während die Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ die Idee der „moralischen Teleologie“ „abschließt und krönt“, weist die „theologische Idee“ darüber noch hinaus. Freilich bleibt es dabei: Der in der Spur Kants wohl zu leistende Aufweis des Anspruchs eines „Sinns des Unbedingten“ und dessen Zusammenhang mit der grenz59 Daran hätte Kant wohl auch eine Antwort auf Habermas’ These geknüpft: „Nachmetaphysisches Denken unterscheidet sich von der Religion dadurch, dass es den Sinn des Unbedingten rettet ohne Rekurs auf Gott oder ein Absolutes“ (Habermas 1991d, 125). So wenig der Aufweis der Dimension eines „Sinns des Unbedingten“ theologischer Anleihen bedarf, so ist es jedoch der Ausgang von dem (moralisch begründeten) „Sinn des Unbedingten“, der für ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“ allererst den Horizont eines „unbedingten Sinnes“ grenzbegrifflich zu eröffnen vermag – woran er, als „vernünftiges Weltwesen“ in dieser Spannung existierend, ein notwendiges Interesse nimmt und ebendies das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ konstituiert. 60 Düsing 2010, 71; s. dazu u. IV., Anm. 190.
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begrifflichen Idee eines „unbedingten Sinnes“ und dessen Ermöglichungsgrundes bleibt von einer darüber hinausgehenden stillschweigenden Erschleichung der Wirklichkeit eines „unbedingten Sinnes“ genau abzugrenzen; andernfalls wäre der Anspruch eines auf festem Boden und behutsam vollzogenen „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ zuletzt doch der Versuchung eines heimlichen „Übersprunges“ erlegen. Jener von Kant für die Fragen nach dem „Wissen-Können“ und dem „Hoffen-Dürfen“ geltend gemachte analoge „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ wäre nunmehr folgendermaßen zu resümieren: So wie die Vernunft sich zunächst auf die vorausgesetzten konstituierenden Funktionen des Verstandes verwiesen sieht, um die „Erscheinungen der Natur“ buchstabierbar zu machen, und erst dieserart einen einheitlichen und zuletzt auch „zweckmäßigen theoretischen Vernunftgebrauch“ im Sinne eines umgreifenden „Erfahrungszusammenhanges“ ermöglicht, so bleibt auch die moralisch-praktische Beförderung des „Weltbesten an uns und anderen“ dem „zweckmäßigen praktischen Vernunftgebrauch“ und dem Rekurs auf einen entsprechenden – ihn fundierenden – „Endzweck der Schöpfung“ vorausgesetzt, wobei diese Idee eines (als nicht-„gesetzt“ gesetzten) „Endzwecks der Schöpfung“ praktische Vernunftansprüche gleichermaßen begrenzt. Ebenso hat sich gezeigt: Der kantischen Frage „Wie muss die Welt für den umfassenden ‚theoretischen Vernunftgebrauch‘ beschaffen sein?“ (und der darin vorausgesetzten „Ordnung der Natur“) korrespondiert jene Frage „Wie muss die Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ und die dementsprechende Voraussetzung eines „Endzwecks der Schöpfung“. Beide zugrunde liegenden „Weltbegriffe“ (in „theoretischer“ und „praktischer Absicht“) wären zuletzt als in dem sie noch umgreifenden „teleologischen Weltbegriff“ vereint anzusehen,61 der so auch erst dem „größtmöglichen Vernunftgebrauch“ genügt. So mag deutlich werden, dass jene – analog zur Frage „Was kann ich wissen?“ verstandene – „transzendentale Steigerung“, die als der „Hoffnungsfrage“ immanent geltend gemacht wurde, erst in der Idee der „moralischen Teleologie“ ihre ethikotheologische Einlösung findet. Genauer besehen verdankt sich jene Analogisierung der „Wissens“- und „Hoffnungsfrage“ einer solchen zwischen „theoretisch-regulativer“ und „praktisch-regulativer Urteilskraft“, wobei Letztere – obgleich stillschweigend als „Urteilskraft, nach Begriffen 61 In diesem Sinne betonen E. und K. Düsing: „Erst der Mensch oder das endliche vernünftige Wesen, das sich dem Sittengesetz unterstellt weiß, führt über die Natur hinaus und kann als Endzweck angesehen werden. Er ist der unbedingte Zweck, der eine von uns angenommene Reihe einander subordinierter Zwecke in der Welt insgesamt abzuschließen vermag. Endzweck bedeutet für Kant inhaltlich zum einen solches Dasein unter moralischen Gesetzen, zum anderen das höchste Gut als unbedingten, zu erwirkenden Zweck der praktischen Vernunft; und wenn dieses als Weltbegriff gedacht wird, so ergibt es sich als das moralisch konzipierte Weltbeste oder als ‚Ideal der Weltvollkommenheit.‘ Beide Deutungen von Endzweck werden im Begriff eines Endzwecks der Schöpfung folgendermaßen vereinigt: Das universale teleologische System der Welt kulminiert im Endzweck als Dasein moralisch-vernünftiger Wesen; diese haben selbst einen praktisch zu befördernden Endzweck, das höchste Gut. Beides zusammengedacht, ergibt den Gedanken, dass vernünftige sittliche Wesen in der Welt existieren, die das Weltbeste ernsthaft zu befördern sich bemühen. Dies darf nicht ein bloßer Gedanke bleiben; vielmehr muss angenommen werden, dass dieses Weltbeste tatsächlich zustande kommen kann, nämlich als Endzweck der Schöpfung“ (E. u. K. Düsing 2002, 114). Es soll sich zeigen: Unter den besonderen Vorzeichen des Anspruchsniveaus des „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“, und der dadurch qualifizierten Hoffnungsfrage gewinnt dies freilich noch einmal besonderes Gewicht. S. dazu u. IV., 4.
468 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ der praktischen Vernunft“ eingeführt (V 583) – erst in der „Ethikotheologie“ (näherhin in den darin begründeten „Glaubenssachen“: V 597 ff ) ihre Stelle gewinnt,62 deren besonderer Anspruch durch jenes unbedingte „Urteilen-Müssen“ ausgewiesen ist. Aus den in den voranstehenden Überlegungen vorgestellten analogen Begründungsfiguren wird, vornehmlich im Blick auf die angezeigte gestufte „transzendentale Steigerung“, in diesem ethikotheologischen Kontext eine recht eigentümliche „Stellung des Gedankens zur Objektivität“ bei Kant sichtbar:63 Seine Bestimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ nimmt sich vor diesem Hintergrund wie eine Antwort darauf aus (die eben auch jene Differenz und unauflösliche Einheit von „praktischem Endzweck“ und „Endzweck der Schöpfung“ indiziert), denn – und hier wird die angezeigte Analogie zu jener Voraussetzung des „vollständigen Gebrauchs der Vernunft in theoretischer Absicht“ wie62 Diese hier leitenden Motive stehen einschlägigen Erwägungen von H. Wagner nahe; so wenn er sich, vornehmlich eben im Blick auf die Endpartien der „Kritik der Urteilskraft“, nachdrücklich um die Prüfung bzw. um den Aufweis bemüht, dass dort, „wo das mögliche Wissen an sein Ende kommt, ein Komplex wohlbestimmten Glaubens stehe, rationalen, philosophischen Glaubens, versteht sich. Eines ist sicher: Falls wir etwa diese Kantische Auskunft … übernehmen können, hätten wir die Transzendentalphilosophie zu ihrer denkbar größten Reichweite ausgedehnt, bis zu ihrer absoluten Grenze, wo sie nämlich kritische Theorie gar nicht mehr des Wissens, sondern nur noch des Glaubens ist: der transzendentalen Grundlagen seiner etwaigen Berechtigung, seiner spezifischen Geltungsmodalität, seiner Berechtigungsgrenzen. Da hätten wir also zu guter letzt nochmals eine Kritik, eine Kritik des (rationalen, philosophischen) Glaubens. Eine Kritik ohne Zweifel; auch ein obzwar vielleicht karges, kritisches System? Als transzendentalphilosophische Lehre von Gegenständen, die Kant dann Glaubenssachen nennt …? Ich fürchte, wir kommen aus Gründen philosophischer Konsequenz nicht darum herum, das, was Kant da im Auge hat, ernsthaft durchzudenken und sachgerecht zu überprüfen. Metaphysik, in aller Form TranszendenzMetaphysik, wäre diese Abschlusslehre sicherlich, im Geltungsmodus freilich des Glaubens, rationalen Glaubens“ (Wagner 2008b, 133). Es wird sich zeigen, dass diese (im Blick auf den Schluss der „dritten Kritik“ formulierte) Problemsicht Wagners der hier verfolgten Verknüpfung der „Ethikotheologie“ mit einer „existenzialanthropologischen“ Wendung derselben (s. u. IV.) in der Sache sehr nahe steht. 63 Sie wäre auch mit den einschlägigen kritischen Bemerkungen Hegels ausführlich zu konfrontieren. Dabei könnte sich zeigen, dass Hegel die Intention Kants hier vermutlich insofern verfehlt, als er verkennt, worauf die „moralische Teleologie“ (bzw. der darin maßgebende – nach Kant nicht leichtfertig zu verschwendende (V 562) – Gottesbegriff, im Unterschied zu demjenigen der „Physikotheologie“) abzielt; die eigentliche Pointe der kantischen Kritik an der „Physikotheologie“ ist freilich, dass dies, „so weit sie auch getrieben werden mag, … uns doch nichts von einem Endzwecke der Schöpfung eröffnen (kann); denn sie reicht nicht einmal bis zur Frage nach demselben“ (V 560). Dieses von ihm diagnostizierte prinzipielle Ungenügen hat aber nichts mit jener Kritik Hegels (ungeachtet seiner Berufung auf Kants „eigene Worte“) an einer angeblichen „subjektivistischen“ Engführung Kants zu tun, die Hegel in der „Enzyklopädie“ (§ 60), vermutlich irreführend, in die Worte fasst: „Allein das Gute, – worin der Endzweck der Welt gesetzt wird, ist von vornherein [!] nur als unser Gutes, als das moralische Gesetz unserer praktischen Vernunft bestimmt; so dass die Einheit weiter nicht geht als auf die Übereinstimmung des Weltzustands und der Weltereignisse mit unserer Moralität. Außerdem, dass selbst mit dieser Beschränkung der Endzweck, das Gute, ein bestimmungsloses Abstraktum ist … Näher wird gegen diese Harmonie der Gegensatz, der in ihrem Inhalte als unwahr gesetzt ist, wieder erweckt, und behauptet, so dass die Harmonie als ein nur Subjektives bestimmt wird, – als ein solches, das nur sein soll, d. i. das zugleich nicht Realität hat, – als ein Geglaubtes, dem nur subjektive Gewissheit, nicht Wahrheit, d. i. nicht jene der Idee entsprechende Objektivität zukomme.“ Kants Bestimmung des Verhältnisses von „subjektiver“ und „objektiver Realität des Endzwecks“ (V 580) ist damit wohl nicht zureichend wiedergegeben; dass es Kant allein um eine der Weltstellung des Menschen angemessene – das Bedürfnis der fragenden Vernunft befriedigende – Bestimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ zu tun ist, scheint in Hegels „Subjektivismus“-Vorwurf jedenfalls zu kurz zu geraten.
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derum besonders deutlich: „… der Endzweck der Schöpfung ist diejenige Beschaffenheit der Welt, die zu dem, was wir [!] allein nach Gesetzen bestimmt angeben können, nämlich dem Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft, und zwar so fern sie praktisch sein soll, übereinstimmt“ (V 582; vgl. IV 652). Anknüpfend an seine These, dass „ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde“ (V 567),64 wäre Kants mehrstufiger diesbezüglicher Begründungszusammenhang auch dahingehend zu rekonstruieren: Unter der Voraussetzung, dass allein „die Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen … also allein als Endzweck vom Dasein einer Welt gedacht werden kann“ (V 576), ist ein solcher „Endzweck vom Dasein einer Welt“ seinerseits nur so ausweisbar, dass er mit dem „praktischen Endzweck“ des Menschen – der „existierender Endzweck der Schöpfung“ ist (V 567) – auch „zusammenstimmt“. Deshalb kann ein „Endzweck der Schöpfung“ auch nur in „Übereinstimmung“ mit dem „praktischen Endzweck“ gedacht werden, während dieser allein dann als ein solcher beansprucht werden kann, wenn er in der Weltstellung des Menschen als des „existierenden Endzwecks“ (d. h. eben der „Exis tenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen“) begründet ist. Demnach gehört es zur eigentümlichen „Beschaffenheit“ dieses „vernünftigen Naturwesens“ – das zwar als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ selbst existierender „Endzweck der Schöpfung“ ist –, dass es, in ihr „existierend“, nach einem umfassenden „Endzweck der Schöpfung“ gleichwohl erst fragen muss, der seiner Weltstellung und seinem „persönlichen Wert“ gerecht zu werden vermag. Es ist das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“, das ihn selbst unnachgiebig zu der Frage nach dem zureichenden Grund dafür drängt, „warum die Welt und der Mensch selbst da ist“ (V 609). Dieser Sinnintention entspricht sodann auch der Hinweis aus der „Preisschrift“, dass, weil dieser „Endzweck … nicht völlig in unserer Gewalt“ ist, „wir uns einen theoretischen Begriff von der Quelle, woraus er entspringen [!] kann, machen“ (III 632)65, der so auch als der allein zureichende „Grund“ der Hoffnung – eben als „Weisheit, für einen Endzweck“ (V 565) – in Frage kommt. Derart sind die verschiedenen „Endzweck“-Bestimmungen selbst in einem systematischen Begründungsgefüge zusammengeschlossen: In ihrer eigentümlich differenzierten „Verkettung“ spiegeln sich die verschiedenen Stufen des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ und somit auch die Etappen zum „End64 So beantwortete der späte Kant auch die Frage: „Warum erwarten aber die Menschen überhaupt ein Ende der Welt?“ (eine Frage, die nach Kant eben nicht auf den „physischen, sondern … den moralischen Lauf der Dinge in der Welt“ abziele: VI 176); in seiner Radikalität geht dies offenbar noch über die Bemerkung Kants hinaus, dass, „wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben“ (IV 453). Wohlgemerkt: Für die Auszeichnung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ ist der von Kant zwar erwogene Status als „bloß vernünftiges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte“ (IV 550; ähnlich IV 672 f ) (und somit auch das Vermögen potenziell unbegrenzter Lernfähigkeit) noch nicht ausreichend. 65 Im Lichte dieser späten „Endzweck“-Bezüge im Kontext der Idee der „moralischen Teleologie“ wird Kants frühe These, dass wir „die Freiheit selbst nicht in unserer Gewalt haben“, in besonderer Weise relevant; durch sie wird auch die Thematik der in der „Wirklichkeit der Freiheit“ verankerten „moralischen Teleologie“ noch zugespitzt.
470 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ zweck der Metaphysik“. Die mit dieser stufenförmig angelegten „transzendentalen Steigerung“ bzw. der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ eng verknüpften Themen sind in den folgenden Abschnitten dieses III. Teiles noch genauer zu verfolgen – nicht zuletzt im Ausblick auf die daraus resultierenden weitreichenden systematischen Konsequenzen für die Bestimmung des „Endzwecks der Metaphysik“ sowie mit gebotener Rücksicht auf die Differenzierung und Vermittlung der darin vorausgesetzten unterschiedlichen „Endzweck“-Bestimmungen. Zuvor sei aber auch darauf hingewiesen, dass bzw. weshalb jene in der Frage: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ zwar zutage tretende unverkennbare Analogie doch auch die bedeutsamen Differenzen nicht übersehen lassen darf: Denn jenes Bedürfnis der „Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen“ ist doch ein bloß relatives und könnte überdies, wie schon erwähnt, als ein solches „wohl auch [lediglich] die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein“ (IV 550). Deshalb bleibt die Charakterisierung dieses „vernünftigen Wesens“ bzw. dessen Vernunft (und somit auch deren „größter Gebrauch“), die der Wahrnehmung einer solchen „zweckmäßigen Einheit“ – auch im Sinne jener umfassenden „Erfahrung als ein(es) System(s) der Urteilskraft“ – fähig ist bzw. einer solchen bedarf, in normativer Hinsicht dennoch ganz „neutral“: Daraus, „dass ein Wesen Vernunft hat“, folge noch keineswegs, „dass diese ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt … zu bestimmen, und also für sich selbst praktisch zu sein“ (ebd., vgl. auch noch einmal IV 673, Anm.);66 folglich ist auch einem solchen zwar durch potenziell unbegrenzte Lernfähigkeit ausgezeichneten „allervernünftigsten Weltwesen“ (ebd.) noch nicht der Status eines „Endzwecks der Schöpfung“ zuzuerkennen. Dass, entsprechend der Differenzierung des „Vernunftgebrauchs“, dem der „Wissens“Frage zugeordneten „theoretischen Weltbegriff“ ein der „Hoffnungsfrage“ gemäßer „ethischer Weltbegriff“ korrespondiert, darf demzufolge über den entscheidenden Unterschied in dem, „worauf Vernunft hinaussieht“, nicht hinwegsehen lassen: Während Ersterem der im regulativen „Als-ob“ fundierte Rekurs auf die Idee einer „obersten Intelligenz“ schon genügt, orientiert sich der „ethikotheologisch“ in einem unbedingten praktischen Vernunftbedürfnis verankerte „ethische Weltbegriff“ hingegen an der Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“; hierfür erweist sich das „der Vernunft abgenötigte“ Postulat des Daseins eines „moralischen Welturhebers“ als allein „zureichender Grund“ desselben als unverzichtbar. In der späten „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ ließ sich Kant, nicht zuletzt durch Humes Theismus-Kritik irritiert, vornehmlich von dem Gedanken leiten, dass erst die vernunftnotwendige, weil das „System der Zwecke“ abschließende 66 Dass diese Argumentation in der Anmerkung der „Religionsschrift“ mit der Kennzeichnung der Vernunft als „Vermögen der Prinzipien“ nicht so ohne Weiteres vereinbar ist, sei hier nur anmerkungsweise festgestellt; ebenso dies, dass die hier angeführte Bestimmung der „Menschheit“ anderen Kennzeichnungen der Idee der „Menschheit“ und deren normativen Gehalt widerspricht (nicht zuletzt natürlich, aber nicht nur, im Kontext der sogenannten „Menschheitsformel“). Bemerkenswerterweise charakterisierte Kant in der „Religionsschrift“ auch die „Persönlichkeit selbst“ als „Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet“ (IV 675). Es sind auch offensichtliche terminologische Unschärfen, die hier Missverständnisse wohl begünstigen: So bestimmte Kant den „Verstand“ in „praktischer Absicht“ gelegentlich auch als das „Vermögen der Willkür“ (vgl. V 553); dies würde offenbar auch eher dem entsprechen, was er in der angeführten Anmerkung der „Religionsschrift“ indes schon mit „Vernunft“ bezeichnet hat.
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Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ (als „letzter und vollständiger Zweck“: IV 250) einen „praktisch-dogmatischen Überschritt der Metaphysik“ zu eröffnen vermag und so letztendlich auf die Idee der „höchsten Weisheit des Welturhebers“ (V 582 ff ) und die „vernunft-immanent“ nicht einholbare Voraus-Setzung seines „Daseins“ führt. Als eine maßgeblich gewordene Perspektive in diesem „dritten Stadium der Metaphysik“ und dem darin intendierten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ ist somit dies festzuhalten: Die in Kants „dritter Kritik“ in den Vordergrund tretende Konzeption des „Endzwecks der Schöpfung“ und deren „transzendentaler“ Status nimmt in denkwürdiger Weise das in der „ersten Kritik“ angesprochene Motiv der „transzendentale(n) Steigerung unserer Vernunfterkenntnis“ (II 685) auf und verknüpft es offenbar in der Sache mit dem in der „Dialektik der reinen Vernunft“ der „zweiten Kritik“ geäußerten Vorhaben einer zu leistenden „transzendentalen Deduktion“ des Begriffs des „höchsten Gutes“ und seiner Bedingungen. Aber auch der „Punkt der Ungleichartigkeit“, der in dieser von Kant beanspruchten analogen Begründungsfigur genau zu beachten bleibt, mag so noch deutlicher werden: War die „größte systematische, folglich auch die zweckmäßige Einheit … die Schule und selbst die Grundlage der Möglichkeit des größten Gebrauchs der Menschenvernunft“ (II 599 f ),67 worin sich das auf ein „systematisches Ganzes“ gerichtetes „Bedürfnis der forschenden Vernunft“ in ihrem „Urteilen-Wollen“ durchaus wiederfindet und so erst einen „mit sich einstimmigen Vernunftgebrauch“ in theoretischer Hinsicht eröffnet, so zielt das in dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ verankerte „Urteilen-Müssen“ indes auf eine ganz andere Art der „Möglichkeit des größten Gebrauchs der Menschenvernunft“ ab; der in praktischen Vernunftansprüchen begründete Totalitätsbezug – wiederum streng analog betonte Kant den gebotenen „Gebrauch zur bestmöglichen Bewirkung jenes Zwecks“ (V 600) – bleibt mithin an der Idee des „höchsten Guts“ bzw. eines umfassenden „Endzwecks der Schöpfung“ orientiert. Weil davon, im Unterschied zum „theoretischen Vernunftbedürfnis“, das „Interesse … nichts nachlassen darf“ (vgl. IV 278), wird jener gesuchte „mit sich einstimmige“, d. h. „moralisch konsequente“ Vernunftgebrauch in der hier maßgebenden Perspektive der „Möglichkeit des größten Gebrauchs der Vernunft“ nunmehr zu der unnachgiebigen Frage einer möglichen Zustimmung dazu „gesteigert“, ob bzw. dass eine solche („der Idee der moralischen Welt“ entsprechende) Welt „sein soll“. Eben diesem „Sein-Sollen“ als „praktisch-regulativem Prinzip“ legte Kant freilich eine das „moralisches Sollen“ transzendierende „Willensbestimmung von besonderer Art“ zugrunde (s. u. III., 1.3.),68 insofern diese nicht allein das „moralische Wollen“ be67 Dieses hier angezeigte Motiv hat Kant erst in der Einleitung zur „dritten Kritik“ in jener Kennzeichnung der „Urteilskraft, als einem apriori gesetzgebenden Vermögen“ (vgl. V 251 ff ) näher expliziert (s. o. III., Anm. 11, 12 u. bes. 14). 68 In dieser unterstellten „Zustimmung“ ist ein „moralischer Solipsismus“ von vornherein distanziert, wie dies im Erfahrungsurteil hinsichtlich eines „logischen Solipsismus“ der Fall ist, sofern in diesem ja ausdrücklich gewollt wird, „dass es auch vor uns jederzeit und eben so vor jedermann gültig sein solle“ (III 163). Während diese im Erfahrungsurteil als „gesollt“ unterstellte Zustimmung auf „den Lauf der Natur“ abzielt, d. h. auf das, „was da ist, oder gewesen ist, oder sein wird“, geht es im erstgenannten Fall um eine gesollte Zustimmung von ganz anderer Art, die durchaus auf ein „Sollen“ und auf ein „Sein-Sollen“
472 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ stimmt und unvermeidlich auch über dasjenige hinausweist, was „als durch einen Willen möglich (oder notwendig) vorgestellt wird“ (V 243); allein dies genügt auch der „ganzen Bestimmung des Menschen“, an der sich der kantische „Weltbegriff der Philosophie“ zuletzt orientiert. Diese in der „Methodenlehre der Kritik der teleologischen Urteilskraft“ maßgebenden (aber auch in Kants späteren kleineren Schriften zutage tretenden) Bezüge auf die Idee der „moralischen Teleologie“ stellen so, vor dem Hintergrund der ebenfalls von Leibniz aufgenommenen (und erweiterten) Idee des „Reichs der Zwecke“ sowie einer daran anknüpfenden Kritik an zentralen Motiven Leibnizens,69 eine unverkennbare Weiterführung jenes schon in der „transzendentalen Methodenlehre“ der „ersten Kritik“ angezeigten religionsphilosophischen Begründungszusammenhangs dar. Darin erfährt jene selbst teleologisch konzipierte praktische Idee der „moralischen Welt“, der von Kant auch ausdrücklich „objektive Realität“ (II 679) beigemessen wird, bemerkenswerterweise ebenso eine systematische Präzisierung und Aufwertung wie die Idee eines „Reichs der Zwecke“. Dabei kommt der Differenzierung der Idee des „höchsten Gutes“ noch einmal eine besondere Bedeutung zu – vornehmlich im Sinne des „subjektiven“ und „objektiven Endzwecks“ und somit auch der (erst hier aufgenommenen) Bestimmung eines „Endzwecks der Schöpfung“ als dem „Endzweck aller Dinge“ (der „zweckmäßigen Einheit aller Dinge“). Dies gilt nicht zuletzt für die – den eigentlichen Kernpunkt seiner Leibniz-Kritik markierende – Einsicht, dass ohne den Menschen als den „existierenden Endzweck“ das allein als „moralisches Produkt“ (III 648) zu denkende „höchste Gut“ nicht einmal als möglich zu denken sei – denn, so Kants entscheidende (gegen Leibnizens „Endzweck“Konzeption gerichtete) Argumentation (s. u. III., 1.3.3.), „dessen [des „höchsten Gutes“] Möglichkeit weder durch die Schöpfung, welche einen äußeren Urheber zum Grunde legt, noch durch Einsicht in das Vermögen der menschlichen Natur, einem solchen Zwecke angemessen zu sein, in theoretischer Rücksicht, … ein haltbarer … Begriff ist“ (III 648). Mit dieser grundlegenden Modifikation der Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ bzw. der „Ehre Gottes“ hängt dann noch eine entsprechende Zuschärfung der Theodizee-Frage zusammen, die Kant gegenüber dem von ihm – freilich erst zuletzt – diagnostizierten Scheitern („Misslingen“) aller Versuche einer „doktrinalen Theodizee“ jedenfalls mit der beanspruchten Konzeption einer „authentischen Theodizee“ zur Geltung bringt, gleichwohl manche kritische Rückfragen verlangt (s. dazu u. VI. Teil).
abzielt, das eine „Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen“ ausdrückt, die ebenfalls „in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“ (II 498). 69 Vgl. dazu die in Kants später Begründung des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ (in der späten „Preisschrift“ über die „wirklichen Fortschritte in der Metaphysik …“) enthaltene Leibniz-Kritik (III 646 f ).
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1.3. Die sich in jener moralisch „konsequenten Denkungsart“ manifestierende „Willensbestimmung von besonderer Art“ Nahezu zeitgleich mit der Abfassung jener späten „Preisschrift“ über „Fortschritte der Metaphysik in neuerer Zeit“ hat Kant in seinem „Gemeinspruch“-Aufsatz religionsphilosophisch höchst bedeutsame Motive, obgleich eher beiläufig, angesprochen, die nunmehr jedoch in besonderem Licht erscheinen. In diesen Überlegungen hat Kant auch – auf zeitgenössische Missverständnisse seiner Lehre vom „höchsten Gut“ reagierend – die spezifische Intentionalität jener moralisch-„konsequenten Denkungsart“ als eine „Willensbestimmung von besonderer Art“ noch einmal ausdrücklich charakterisiert, die als solche weder von einem die Willkür affizierenden Objekt bzw. einem Gefühl abhängt noch mit den „Prinzipien der reinen praktischen Vernunft“ einfachhin identifiziert werden darf. Vor allem der Umstand, dass der „praktisch notwendige Zweck des reinen Vernunftwillens“ weder einfachhin als „eigennütziger Wunsch“ abgetan werden kann noch in der Verfügbarkeit des Menschen steht, hat Kant offenbar auch zu einer auf den besonderen Verbindlichkeitsanspruch dieses „Zwecks“ abzielenden terminologischen Zuschärfung veranlasst; sie hat ihn, eben in solcher Absicht, in diesem „Gemeinspruch“-Aufsatz sodann zu der Kennzeichnung jener „Willensbestimmung von besonderer Art“ geführt: „Das Bedürfnis, ein höchstes auch durch unsere Mitwirkung [also nicht Bewirkung, sondern Beförderung als bloße „Mitwirkung“] mögliches Gut in der Welt, als den Endzweck aller Dinge, anzunehmen, ist nicht ein Bedürfnis aus Mangel an moralischen Triebfedern, sondern an äußeren Verhältnissen, in denen allein, diesen Triebfedern gemäß, ein Objekt, als Zweck an sich selbst (als moralischer Endzweck) hervorgebracht werden kann [70]. Denn ohne allen Zweck kann kein Wille sein, obgleich man, wenn es bloß auf gesetzliche Nötigung der Handlungen ankommt, von ihm abstrahieren muss und das Gesetz allein den Bestimmungsgrund desselben ausmacht. Aber nicht jeder Zweck ist moralisch (z. B. nicht der der eigenen Glückseligkeit), sondern dieser muss uneigennützig sein; und das Bedürfnis eines durch reine Vernunft aufgegebenen, das Ganze aller Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzwecks (eine Welt als das höchste auch durch unsere Mitwirkung mögliche Gut) ist ein Bedürfnis des sich noch über die Beobachtung der formalen Gesetze zur Hervorbringung eines Objekts (das höchste Gut) erweiternden uneigennützigen Willens. – Dieses ist eine Willensbestimmung von besonderer Art, nämlich durch die Idee des Ganzen aller Zwecke, wo zum Grunde gelegt wird: Dass, wenn wir zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen stehen, wir allerwärts dem moralischen Gesetz gehorchen müssen: und über das doch die Pflicht hinzukommt, nach allem 70 Dieser Satz enthält auch eine unübersehbare Korrektur an der „moraltheologischen“ Begründungsfigur der „ersten Kritik“ (im „Kanon der reinen Vernunft“); darin ist (gegenüber der „ersten Kritik“) freilich auch der entscheidende Rekurs auf „das Gefühl der Achtung fürs moralische Gesetz“ als alleiniger „Triebfeder“ schon vorausgesetzt. Überdies ist daraus zu erkennen, dass sich Kant offensichtlich von dem in der Tradition des jüdisch-christlichen Denkens geläufigen Motiv des um die Glückseligkeit der Menschen besorgten – selbst jedoch „unbedürftigen“ – Gottes inspirieren ließ, das in Augustins Wendung (Confessiones 13,5) in knapper Form zum Ausdruck kommt: „non ex indigentia fecisti, sed ex plenitudine bonitatis tuae“.
474 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Vermögen es zu bewirken, dass ein solches Verhältnis (eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen) existiere. Hiebei denkt sich der Mensch nach der Analogie mit der Gottheit, welche, ob zwar subjektiv keines äußeren Dinges bedürftig, gleichwohl nicht gedacht werden kann, dass sie sich in sich selbst verschlösse, sondern das höchste Gut außer sich hervorzubringen, selbst durch das Bewusstsein ihrer Allgenugsamkeit, bestimmt sei; welche Notwendigkeit (die beim Menschen Pflicht ist) am höchsten Wesen von uns nicht anders als moralisches Bedürfnis vorgestellt werden kann. Beim Menschen ist daher die Triebfeder, welche in der Idee des höchsten durch seine Mitwirkung in der Welt möglichen Guts liegt, auch nicht die eigene dabei beabsichtigte Glückseligkeit, sondern nur diese Idee als Zweck an sich selbst, mithin ihre Verfolgung als Pflicht. Denn sie enthält nicht Aussicht in Glückseligkeit schlechthin, sondern nur einer Proportion zwischen ihr und der Würdigkeit des Subjekts, welches es auch sei. Eine Willensbestimmung aber, die sich selbst und ihre Absicht, zu einem solchen Ganzen zu gehören,[71] auf diese Bedingung einschränkt, ist nicht eigennützig“ (VI 132 f, Anm.). Diese von Kant offensichtlich als notwendige Klärung gedachte späte Feststellung im „Gemeinspruch“Aufsatz macht jedenfalls noch einmal deutlich, dass die Hoffnung sich zuletzt an einem (die Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ voraussetzenden) „moralischen Weltlauf“ orientiert, d. h. die Idee der „moralischen Welt“ und nicht „Wunschdenken“ darin maßgebend ist.72 Es wird sich erweisen, dass die oben angezeigte Verbindung einer „Willensbestimmung von besonderer Art“ und der „Idee des Ganzen aller Zwecke“ ein bedeutsames Scharnier zwischen dem III. und dem IV. Teil darstellt. In dieser konzentrierten Antwort des „Gemeinspruch“-Aufsatzes auf Garves Einwände gegen seine Konzeption des „höchsten Guts“, die ihn offensichtlich selbst zu einer erneuten Besinnung auf die von ihm verfolgte Begründungsstruktur veranlassten, machte Kant noch einmal besonders deutlich: Das „höchste Gut“ darf als „Endzweck für den Menschen“ doch nur unter der Bedingung gelten, dass es dabei nicht einfachhin um die „Vereinigung“ von „Moralität“ und „Glückseligkeit“, sondern eben um deren „Vereinigung und Zusammenstimmung“ (die auch in der von Kant betonten „Proportionalität“ anklingt) geht – denn allein dies vermag dem in der Idee des „höchsten abgeleiteten Gutes“ enthaltenen Aspekt der „Vollkommenheit“ zu genügen und liegt deshalb auch der Idee der „moralischen Teleologie“ zugrunde, während diese „Zweckmäßigkeit“ anders noch nicht zureichend bestimmt wäre. Weil es also um diese (allein „zweckmäßige“!) „Zusammenstimmung“ zu tun ist, vermag dem auch nur ein „moralischer Welturheber“ als „zureichender Grund“ zu ent71 Kant rekurrierte in dieser denkwürdigen Anmerkung des „Gemeinspruch“-Aufsatzes in der Sache offenbar auf jene angeführte Idee eines „durch gemeinschaftliche Gesetze“ verbundenen „Reichs der Zwecke“ als „systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen“ und verbindet dies mit der Idee eines „Ganze(n) aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag)“ (IV 66); dessen Momente fügen sich erst später zu jener Formation, die für die „Willensbestimmung von besonderer Art“ zuletzt maßgebend wird. – Schon die „Prolegomena“ (III 223 f ) charakterisieren den „höchsten Zweck“ als denjenigen, „der immer nur das System aller Zwecke ist“; vgl. zu diesen Themen auch Kants Aufsatz „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ (III 267 ff ). 72 Auch dies widerspricht übrigens der von Cheneval vertretenen Leitthese, dass „der späte Kant nach 1793 den universalen und immanenten Begriff des höchsten Guts als regulatives Ideal der Geschichte von der Moral auf das Recht transponiert“ habe (Cheneval 2002, 454).
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sprechen; denn allein in solcher (über bloße „Vereinigung“ hinausweisenden) „Zweckmäßigkeit“ kann sich das Vernunftbedürfnis eines „vernünftigen Weltwesens“ wiederfinden73 – und derart „offenbart“ sich die „Weisheit“ des „moralischen Welturhebers“. Offensichtlich vor allem in dem Bestreben, reduktionistische Bestimmungen der Idee des „Endzwecks der Vernunft“ – der also selbst den „Endzweck der Schöpfung“ und den daraus „abgeleiteten“ „praktischen Endzweck“ umgreift – zu vermeiden, kennzeichnet der späte „Gemeinspruch“-Aufsatz diesen „Endzweck der Vernunft“ ausdrücklich als das „höchste in der Welt mögliche Gut, welches in der Vereinigung und [!] Zusammenstimmung“ von Moralität und Glückseligkeit besteht. Näherhin ist es „die im Weltganzen mit der reinsten Sittlichkeit auch verbundene, allgemeine [!], jener gemäße, Glückseligkeit“, was „der Vernunft den Glauben an einen moralischen Weltherrscher und an ein künftiges Leben in praktischer Absicht abnötigt“ (VI 132). Darin, so hat sich gezeigt, enthüllt sich „das Bedürfnis eines durch reine Vernunft aufgegebenen, das Ganze aller [!] Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzwecks“, das sich nunmehr als ein solches des sich „noch über die Beobachtung der formalen Gesetze zu Hervorbringung eines Objekts (das höchste Gut) erweiternden uneigennützigen Willens“ erweist. Wohlgemerkt: Maßgebend ist hierfür freilich die jedes „privatistische“ und „eudämonistische“ Missverständnis von vornherein abwehrende Idee des „höchsten Guts“, die allein deshalb auch als „Zweck an sich selbst“ bezeichnet zu werden verdient. Darin bringt sich eben nicht ein relativer, d. h. bloß „subjektiver Zweck“ („für ihn“) zur Geltung, vielmehr wird darin von dem „Subjekt, welches es auch sei“, gänzlich abstrahiert, zumal auch hier „die eigene dabei beabsichtigte Glückseligkeit“ unter den entsprechenden Bedingungen lediglich als in jenem „Ganzen aller Zwecke“ (VI 133, Anm.) „mitenthalten“ gedacht wird. Vor allem macht jene denkwürdige lange Anmerkung des „Gemeinspruch“-Aufsatzes genauer besehen jedoch dies deutlich: In der darin geltend gemachten „Willensbestimmung von besonderer Art“ verschafft sich lediglich die „strengste Forderung der praktischen Vernunft“ in der Weise Gehör, dass sich darin nicht bloß ein (in der engeren Bedeutung) moralischer, sondern überdies ein moral-transzendierender postulatorischer Anspruch in Gestalt einer Sinnaffirmation artikuliert; dieser ist von der „Selbsterhaltung der Vernunft“ – derjenigen eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ – freilich nicht ablösbar, sofern Letztere sich an der Vernunftidee der „moralischen Welt“ orientiert und bloße Indifferenz ihr gegenüber verbietet.74 Jene von Kant eingeschärfte Mahnung, „Be73 In diesem genauen – das Moment der „Zusammenstimmung“ besonders akzentuierenden – Sinne ist wohl auch schon Kants frühere Bemerkung zu nehmen: „Stelle ich mir das ens originarium als summum bonum vor, so ist das der Begriff von Gott, der in der Moraltheologie zum Grunde liegt. – Da ist Gott der oberste Grund des Systems aller moralischen Zwecke, d. i. das höchste Gut“ (AA XXVIII, 1241). 74 Im Ausgang von der Kennzeichnung der Freiheit als der unumgänglichen Bedingung, um sich selbst verstehen zu können, wäre dies zu explizieren und entsprechend auf die Gottesthematik zu beziehen – und mündet so in den Hinweis auf den unauflöslichen Zusammenhang von „Vernunftglauben“ und „Selbsterhaltung der Vernunft“: Von der bloßen „Selbsterhaltung der Natur“ (d. i. der „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ des Organischen: V 545) und der „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ (d. h. der „moralischen“) unterschied Kant demnach (im Blick auf die „Existenz“ des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ und auf das Ganze einer „moralischen Lebensgeschichte“) noch eine „Selbsterhaltung der Vernunft von ganz anderer Art“, die nunmehr auf das „Fundament des Vernunftglaubens“ abzielt. Dem entspricht in gewisser
476 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ dürfnis“ nicht mit „Einsicht“ zu verwechseln (III 272, Anm.), ist wohl das eine; ebenso wenig ist jedoch dieses von ihm ausdrücklich als „moralisch“ gekennzeichnete „Bedürfnis“ auf eudämonistisches Wunschdenken herabzustufen, sondern als ein moralisch verankerter Vernunftanspruch „jenseits des Machens und des moralischen Gebietens“ anzusehen. Überdies soll sich noch zeigen, dass sich im Ausgang von jenem zitierten Passus des „Gemeinspruch“-Aufsatzes nicht nur motivliche Verbindungslinien zu zentralen Lehrstücken der nahezu zeitgleich erschienenen „Religionsschrift“ finden lassen. Dergestalt resultieren, nicht zuletzt im Verbund mit zentralen Motiven seiner späten „Tugendlehre“, bemerkenswerte religionsphilosophische Konstellationen, die in solchem „Ausgang von Kant“ noch näher verfolgt werden sollen (s. u. IV., 4.; V., 3.). 1.3.1. Die in dem sinn-affirmativen „Dass-eine-Welt-überhaupt-existiere“ vorausgesetzte Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“75 Jenes im „Gemeinspruch“-Aufsatz geltend gemachte Motiv, demzufolge sich „hiebei … der Mensch nach der Analogie mit der Gottheit“76 denke, ist wohl nur so zu verstehen, dass dieses darin beanspruchte „hiebei“ sich offensichtlich ausschließlich auf die Weise auch die Unterscheidung des Lebens als „Vermögen eines Wesens, seinen Vorstellungen gemäß zu handeln“ (IV 315) von der in der genannten Weise zu charakterisierenden „menschlichen Existenz“. Diese „Selbsterhaltungs“-Thematik lässt bei Kant eine gestufte Form erkennen, wofür die Ideen der „Zweckmäßigkeit“ und der „systematischen Einheit“ („Organisation“) besonders bedeutsam sind – auch im Blick auf die im „Weltbegriff der Philosophie“ explizierte „teleologia rationis humanae“, der so als „Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft“ (III 447) bestimmt wurde. 75 Die nachfolgenden Überlegungen nehmen jene „Endzweck“-Differenzierungen in noch vertiefender Absicht auf, von denen (o. III., 1.3.) die Rede war; derart bestätigt sich die von Kant gerade auch in der Idee eines „Reichs der Zwecke“ angezeigte erforderliche Diversifizierung und Vermittlung verschiedener „Teleologie“-Ebenen, die zuletzt allesamt in der Weltstellung des Menschen verknüpft sind. 76 Kants wiederholte – und wohl nicht unproblematische – Bezugnahme auf Platon (vornehmlich hinsichtlich dessen, „was praktisch ist“) erlaubt sodann, in Verbindung mit jenem Motiv des „von der Realität“ nur am „weitesten entfernt scheinenden Ideal der Vernunft“, die weitere Frage, ob auch der Bezug auf den „sich nach der Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen vielleicht sogar als eine Erinnerung an Platons Motiv der „möglichsten Verähnlichung mit Gott“ (Theaitetos 176b) gelesen werden darf – was freilich eine „Umkehrung“ verlangt, zumal Platon „das, was nur ein unendliches Ziel sein kann, nämlich die Anschauung Gottes, für einen Ausgangspunkt des sittlichen Lebens“ ansah (Düsing 1971, 7). Auch jener späte „platonisierende“ Hinweis Kants auf die „Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden praktischen Vernunft)“ (III 388) legt diese umgekehrte Verbindung nahe, in der die (inhaltlich bestimmte) Idee einer „perfectio moralis“ durch den Unbedingtheitscharakter der „moralischen Verbindlichkeit“ ersetzt ist. – Dieses kantische Motiv steht übrigens in einer bemerkenswerten motivlichen Nähe zu dem Hinweis des Hl. Thomas auf die in der Gottheit begründete „caritas“, weil diese freilich „keine Fähigkeit des Menschen“ sei, „insofern er Mensch ist, sondern insofern er durch Teilhabe Kind Gottes und [!] Gott wird“ (Thomas v. Aquin, de caritate 2, 15). – Nicht zuletzt bietet Kants Notiz aus der frühen Ethik, Gott wolle „die Glückseligkeit der Menschen, und zwar durch Menschen“ (Menzer 1924, 66), hier noch einmal einen besonders aufschlussreichen Anknüpfungspunkt. Wäre in diesem Sinne sodann, in Bezugnahme auf das „vernünftige, endliche Wesen“, nicht auch das „Verzeihen“ als besondere Form der „Anerkennung“ im Rahmen der Tugendpflicht zu reflektieren, weil anders auch das „Wohl und Heil des Anderen“ nicht zureichend bestimmt werden könnte? In diesen kantischen Motiven wäre also jenes platonische Motiv der „Verähnlichung mit Gott“ indirekt mit dem christlichen Liebesmotiv verknüpft.
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für den Menschen noch hinzukommende Pflicht bezieht, „nach allem Vermögen es zu bewirken“, dass eine solche „den sittlichen höchsten Zwecken angemessene“ Welt auch existiere. Mit dieser „Willensbestimmung von besonderer Art“ knüpft Kant unverkennbar an seine Begründung des Unterschiedes und der Einheit des „subjektiven“ und „objektiven Endzwecks“ in der „dritten Kritik“ an77 – und modifiziert sie zugleich. Damit kommt, über das „letzte [und ganze] Objekt der praktischen Vernunft, die Realisierung der Idee des moralischen Endzwecks“ (IV 805) noch hinaus, die nicht nivellierbare Differenz zwischen dem moralisch-praktischen Sollen und der in jenem Vernunftbedürfnis angezeigten Sinndimension der Hoffnung (und deren „Sein-Sollen“) zur Geltung, wobei Letztere selbst wiederum unterschiedliche Akzentuierungen verlangt. In der Sache scheint Kant hier seine in der Exposition der „Antinomie der praktischen Vernunft“ dargelegte Argumentation aber doch auf eine Weise zu modifizieren, die auf eine unübersehbare Präzisierung der andernfalls tatsächlich missverständlichen These hinausläuft: „Da nun die Beförderung des höchsten Guts, welches diese Verknüpfung in seinem Begriffe enthält, ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muss die Unmöglichkeit des ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen. Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muss auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein“ (IV 242 f ). Hier werden – das legt wenigstens der behauptete Bezug des moralischen Gesetzes auf diese Zwecke nahe – die „moralische“ und die „moralisch konsequente Denkungsart“ offensichtlich noch nicht ausdrücklich unterschieden; dies steht insofern wohl in einer nicht zu übersehenden Spannung zur späteren religionsbegründenden Argumentationsfiguren.78 Die angeführte Stelle stützt sich offenbar darauf, dass ja auch das „höchste Gut“ selbst einen moralischen Zweck darstellt (der „dasein soll“), 77 Dass diese „Willensbestimmung von besonderer Art“ auf das „Ganze aller Zwecke“ gerichtet ist, besagt demzufolge, dass sie nicht nur auf zu affirmierenden „Sinn im Leben“, sondern auf den umfassenden „Sinn des Lebens“ (gemäß dem „gelingenden Ganzen“ desselben) geht (zu dieser Unterscheidung Thies 2008, 11 u. 84 ff ). Dass Kants „Endzweck“-Thematik mit dieser „Sinn-Thematik“ engstens verbunden ist, hat sich gezeigt. 78 Bambauer (20111, 360 f ) erblickt in dieser kantischen Argumentation eher „eine wechselseitige Bestimmungsrelation zwischen Sittengesetz und höchstem Gut“ in folgendem Sinne: „Die hier angesprochene Bedingungsrelation ist implizit wechselseitig, da die zu Beginn des Zitats angesprochene apriorische Notwendigkeit der Beförderung des höchsten Guts von der unbedingten Geltung des Sittengesetzes abhängt. Daher ist die hervorgehobene Bedingung der praktischen Wahrheit des Sittengesetzes durch die Möglichkeit des höchsten Guts als Explikation des praktisch-teleologischen Verwirklichungskorizonts selbst zu rekonstruieren: Die moralisch (nach praktischen Regeln) gebotenen Handlungsweisen und -zwecke können nach Kant apriori nicht unmöglich sein, da sie andernfalls schlichtweg praktisch sinnlos wären. Die Möglichkeit einer Sinnlosigkeit des sittengesetzlich Geforderten ist jedoch immer schon durch die in der Faktumslehre dargelegte Selbstevidenz der Verbindlichkeit des Moralgesetzes für den rationalen Akteur ausgeschlossen. Bei diesem Zitat handelt es sich streng genommen nicht um eine Argumentation für eine spezifische These, sondern Kants Ausführung stellt vielmehr einen generellen Kontext für seine moralphilosophischen Argumentationen dar, die ohne die Verwirklichungsmöglichkeit des Moralgesetzes keine Überzeugungskraft besäße. Abgesehen von der Frage, ob die soeben thematisierte Relation von Sittengesetz und höchstem Gut überhaupt als Ausdruck einer spezifischen Argumentationsstrategie verstanden werden sollte, handelt es sich nicht um eine konsequentialistische Beziehung beider Elemente zueinander und daher genauso wenig um eine Relativierung sittengesetzlicher Verbindlichkeit.“
478 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ so dass Kant offenbar mit dieser ja durchaus selbst moralisch begründeten Sinndimension auch deren moralisches Fundament in Frage gestellt sah. Die dieserart geltend gemachte „Willensbestimmung von besonderer Art“ könnte dabei, unter dem hierfür maßgebenden Vorzeichen einer Differenzierung der Geltungsansprüche praktischer Vernunft und dereren „Selbstbegrenzung“, das Programm einer „Vernunftkritik“ wenigstens in zweifacher Hinsicht verständlich machen: Die Vernunft „setzt“ bzw. begreift in diesen von ihr selbst „realisierten“ Ideen und in deren inneren telologischen Zusammenhang zugleich sich selbst als vorausgesetzt; ebenso wäre sodann die Idee eines „Ganzen aller Zwecke“ – als eines „Zwecks an sich selbst“ (und nicht nur „für uns“) – als Grenzbestimmung praktischer Vernunftansprüche, d. h. einer genau darauf abzielenden „Kritik einer praktischen Vernunft“, zu verstehen: „Ethikotheologie“ als eine Grenzbestimmung praktischer Vernunft im Rahmen einer umfassenden „Kritik der praktischen Vernunft“?79 Eine solche weiter ausgreifende „Kritik der praktischen Vernunft“ hätte demnach sowohl einen praktischen Überschwang und „Schwärmerei“ zu verhindern, desgleichen vor einer Überforderung der Ansprüche der „reinen praktischen Vernunft“ zu warnen und nicht zuletzt auch drohenden Nivellierungen bezüglich des „ganzen Gegenstandes der praktischen Vernunft“ entschieden entgegenzutreten. So impliziert sie den Nachweis bzw. die Legitimation dafür, dass auch jene „Willensbestimmung von besonderer Art“ sich „problematisch weiter erstreckt“80 als auf die „Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft“, und weshalb sie insofern über das, „was durch Freiheit möglich ist“, noch hinausgeht. Diesen der „Kritik der praktischen Vernunft“ aufgegebenen Aufweis eines solchen moralisch legitimierten „problematisch erweiterten“ Vernunftgebrauchs betonte Kant selbst ausdrücklich (und wohl durchaus im Bewusstsein einer Analogie zum „Phänomena-Noumena“-Kapitel und im Blick auf die Unterscheidung von „Verstand und Vernunft“): Obgleich die Ansprüche der praktischen Vernunft zwar allesamt dem „moralischen Gesetz“ (als „Bestimmungsgrund“) unterstehen, ist es aber doch so, dass „gleichwohl die praktische Vernunft sich über das letztere erweitert“ (IV 655, Anm.),81 zumal 79 In dieser Hinsicht wird sich bestätigen: „Die philosophisch-theologische Dimension, die Kant eröffnet, geht mitnichten auf in praktischer Vernunft. Vielmehr wurde klar, dass diese Dimension von ihm eindeutig auf der Ebene der im Kern protologischen, schöpfungstheologischen, transrationalen und unverfügbaren, dennoch existierenden Sinnbedingungen von Vernunft, Praxis und humanem Leben überhaupt angesetzt wird“ (Rentsch 2005, 135; s. dazu auch ders. 2011, 42–51). 80 Diese Wendung ist in analogem Sinne aus Kants Begründung der Unterscheidung zwischen „Phänomena“ und „Noumena“ übernommen; dort betonte Kant bekanntlich, dass sich „unser Verstand … problematisch weiter erstreckt“ als auf die „Phaenomena“ und ebendies, in kritischer Behutsamkeit, lediglich das „Noumenon“ als bloßen „Grenzbegriff“ erlaube (II 282). 81 Vielleicht wäre es richtiger zu sagen, dass die „praktische Vernunft“ eben schon immer über die „Moralität“ hinaus ist, obgleich sie in ihren Zweckbezügen unter der einschränkenden Bedingung der „reinen praktischen Vernunft“ steht, das heißt auch: dass das „moralische Gesetz“ selbst davon ganz unabhängig ist. – Kant nannte jenes „höchste Gut“ in solcher Hinsicht bezeichnenderweise auch „das Objekt der erweiterten [!] moralischen Gesinnung“ (Refl. 6451: AA XVIII, 724), die er sodann, wohl um Missverständnissen vorzubeugen, als „moralisch konsequente Denkungsart“ bzw. als „Willensbestimmung von besonderer Art“ charakterisiert hat. In dieser Refl. 6451 betonte Kant ausdrücklich: „Die Annahme von Gott ist nicht notwendig, um eine Pflicht zu erfüllen in einzelnen Handlungen, aber um auf das Objekt der erweiterten moralischen Gesinnung, das höchste Gut, hinzuwirken, ohne welches die moralische Gesinnung zwar Triebfedern der Handlung hat (aus der Form der Sittlichkeit), aber keinen Endzweck (in
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erst solche „Erweiterung“ mit dem Anspruch einer „unparteiischen Vernunft“ zusammenstimmt und dieserart auf den „Endzweck, den der moralische Mensch hat, und haben soll“ (III 645), führt, der deshalb „als ein moralisches Produkt“ (III 648) anzusehen ist. Auch dies bestätigt zugleich, dass der Bezug auf den ihn fundierenden „Endzweck der Schöpfung“ keineswegs „moralisch neutral“, sondern im Sinne des darin maßgebenden Motivs geradezu „moralisch-praktisch“ legitimiert ist; allein in einer solchen Hinsicht kann er sodann auch „geboten“ sein, sofern er sich an jener Vernunftidee einer „moralischen Welt“ orientiert (II 679). Der von Kant gelegentlich geltend gemachte – gewiss nicht unmissverständliche – Rekurs auf die Gottesidee als erforderliche „Triebfeder“ zur Ausübung der Moralität verweist auf den selbst „moralischen Charakter“ des „Gewollten“ (des „gesollten“ Endzwecks); ungeachtet der „unbedingten Verbindlichkeit“ des Moralischen stünde der „Effekt“ (d. h. dem kantischen Sprachgebrauch zufolge auch: der „Erfolg“) im Widerspruch dazu, „was sein soll“, d. h. keineswegs lediglich dazu, woran es selbst-fixiertem „Wunschdenken“ gelegen ist. Angesichts der aller nach-denkenden Reflexion vorausgehenden „Faktizität“, „dass eine Welt ist“ und mit den in ihr existierenden „vernünftigen Weltwesen“ auch „von einem Soll in ihr die Rede“ ist (VI 341), ist auch der Sachverhalt, „dass eine Welt überhaupt sei“, explizit zu bejahen, weil eben das in seinem Anspruch an den Menschen reale „moralische Gesetz“ will, „dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (IV 652). Die darin artikulierte Sinnaffirmation erweist sich als in einem unabweislichen, gleichwohl moral-transzendierenden „Interesse“ verankert – einem „Interesse der Vernunft an sich selbst“, worin diese (praktische) Vernunft „ihr eigener letzter Zweck ist“82 – sonach eine umfassende teleologische „Welt“-Idee ins Blickfeld rückt, die eben nicht nur „Schöpfung“ als „Ursache vom Dasein einer Welt, oder der Dinge in ihr“ (V 576, Anm.) meint, sondern sich immer schon an der Vernunftidee einer „moralischen Welt“ und somit an der „Voraussetzung einer freiwirkenden, folglich verständigen Ursache“ orientiert (ebd.). Daraus scheint lediglich zu folgen: Wenn nur „aufgrund“ jener Idee der „sich nicht verschließenden“ Gottheit (VI 133, Anm.) die „Schöpfung“ im Sinne der „Voraussetzung einer freiwirkenden, folglich verständigen Ursache (deren Dasein wir allererst beweisen wollen) bei sich führet“ (V 576, Anm.), zu verstehen ist – dann ist solches „Heraustreten“ der „Gottheit“ wohl allein als ein eröffnendes Raum-Geben für ein „vernünftiges Weltwesen“ zu verstehen, das dem Anspruch eines „moralischen Sollens“ und einer „sein-sollenden“ Welt gemäß „moralischen Gesetzen“ auch zu genügen vermag – d. h. sich durch solche schöpferische „Einräumung“ ebenso beansprucht weiß, das „höchste durch uns mögliche Gut zu befördern“. Kants frühes Diktum: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“83 hätte so wohl eine strinAnsehung der Materie, d. i. der Objekte der vernünftigen Willkür). Die Kunstweisheit sehen wir an den körperlichen Dingen, die moralische Weisheit finden wir in uns als Regel“ (AA XVIII, 723 f ). Dies und auch die Rücksicht darauf, was „sein soll“, ist im „endlichen Vernunftwesen“ begründet. 82 So heißt es im sogenannten Jachmann-Prospekt: Henrich 1966, 42. 83 Menzer 1924, 66. Frühe Reflexionen Kants sowie Passagen aus früheren Vorlesungen gewinnen im Lichte seiner späteren systematischen Erörterungen – vor allem in religionsphilosophischem Kontext – wiederholt besondere Bedeutung.
480 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ gente Begründung erfahren – ein Motiv, das in eigentümlicher Weise die mögliche Idee der „Glückseligkeit der vernünftigen Wesen“ an die Stellung des Menschen als des „exis tierenden Endzwecks der Schöpfung“ zurückbindet und mit der notwendigen Orientierung an dem zu befördernden „Weltbesten an uns und anderen“ verknüpft (s. u. IV., 4.). In gebotener Rücksicht darauf, dass jene „Willensbestimmung von besonderer Art“ in engster Nähe zu dem von Kant wiederholt aufgenommenen theologischen Motiv der „Ehre Gottes“ steht (s. u. III., 1.3.3.), bleibt vor allem auch bedenkenswert bzw. findet eine nochmalige Bestätigung: Diese „Willensbestimmung“ zielt auf ein nachvollziehend-wiederholendes – sinn-affirmatives – „Ja“ zu einer Welt (als „Schöpfung“) in der zweifachen Hin-Sicht ab, dass „ein moralisches Sollen“ – ein „Sollen“, das „in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“ (II 498), denn „das Natürliche ist nur, es ist nicht Geistiges“ (Hegel) – und überdies eine dem gemäße „moralische Welt“ sein soll. Nach Kant ist es offenbar ebensolche wieder-holende „Affirmation“, worin dieses „vernünftige Weltwesen“ sich selbst „nach der Analogie mit der Gottheit“ (VI 133, Anm.) denkt84 und allein durch solche „Beförderung des Weltbesten an uns und anderen“ auch dem „weisen Welturheber“ die Ehre zu erweisen vermag. Mithin scheint sich als ein diesbezüglicher Grundgedanke zu bestätigen: Ein (als „Endzweck der Schöpfung“ in der Welt existierendes) „moralisches Wesen“ muss daran Interesse nehmen, d. h. eben auch: Es kann nur wollen (also „mit Zustimmung denken“), „dass eine Welt sei“, in der ein „unbedingtes Sollen“ und ein „moralisch Gutes“ wirklich ist. Insofern ist ihm eine zwar moralisch begründete, obgleich moral-transzendierende Sinnintention und -affirmation zugemutet, welche die philosophische Reflexion auf die Freilegung und Begründung der darin enthaltenen Sinnimplikationen verweist – Aufgabe bzw. eigentliches Thema der Ethikotheologie und einer daran geknüpften „existenzialanthropologisch“ akzentuierten Postulatenlehre (s. u. IV. Teil). Von den dieser „Willensbestimmung von besonderer Art“ immanenten Sinnimplikationen ausgehend wird somit deutlich: Jener bemerkenswerte kantische Rekurs auf das zu affirmierende – moralisch verankerte und gleichermaßen moral-transzendierende – „dass eine Welt überhaupt existiere“ bringt, weil in einem „ganz parteilosen Urteil“ des zugrunde liegenden „Vernunftbedürfnisses“ verankert, eine „Zustimmung“ zum Ausdruck, in der von einem „Soll“ in der zweifachen Hinsicht des „moralischen Sollens“ sowie des „Sein-Sollens“ des darauf begründeten „moralischen Endzwecks“ die Rede ist. Darin bringt sich jenes „Interesse der Vernunft an sich selbst“ zur Geltung, in dem sie, sich selbst und die ihr immanenten Ansprüche voraussetzend, als Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“ im Grunde lediglich sich selbst (und ihr „Interesse“) affirmiert. Wenn sich eben darauf letztendlich auch die an der Idee des „Ganzen aller Zwecke“ orientierte „Willensbestimmung von besonderer Art“ bezieht, 84 Hier ist die angeführte (s. vorige Anm.) frühe Bemerkung Kants: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ offenbar in modifizierter Weise aufgenommen. Diese „AnalogieFigur“ (s. dazu näher u. IV., 2.) ist freilich vor dem Hintergrund der späten Bestimmung des Gottesgedankens und des „Endzwecks“ zu lesen: „Ich glaube an einen einigen Gott, als den Urquell alles Guten, als seinen Endzweck; ich glaube an die Möglichkeit, zu diesem Endzweck, … so fern es am Menschen liegt, zusammenzustimmen“ (III 636).
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dann wäre der Aufweis ihres Anspruches zugleich als eine späte und vertiefte Legitimation jener frühen Kennzeichnung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ anzusehen (s. dazu IV., 3.). Gleichwohl bleibt die Frage, ob Kant eben diese Intuition, nämlich die „notwendigen Voraussetzungen“ der „Selbsterhaltung der Vernunft“ – derjenigen eines „vernünftigen, endlichen Wesens“ – zu thematisieren, nicht selbst bisweilen wiederum verzerrt; dies scheint jedenfalls insofern der Fall zu sein, als er die Forderung, dass „jedermann sich das höchste, in der Welt mögliche Gut zum Endzwecke machen solle“, lediglich durch den wohl irreführenden (und hinsichtlich der Verbindlichkeit auch irrelevanten) psychologisierenden Rekurs auf eine auch diesbezüglich „unvermeidliche Einschränkung des Menschen“ (IV 654, Anm.) stützen will. Indes spricht auch einiges dafür, dass ihm solches Begründungsdefizit nicht verborgen geblieben ist und dieses wohl auch durch den ausdrücklichen Rekurs auf eine – freilich keinesfalls bloß wunsch-geleitete – „Willensbestimmung von besonderer Art“, d. h. eben auf einen nicht bloß psychischen Befund, sondern einen auf einen geltungsrelevaten Sinnanspruch, beheben wollte. Auch so bestätigt sich: Jene Mahnung Kants, (Vernunft-)„Bedürfnis“ nicht einfachhin für „Einsicht“ (III 272) zu nehmen, ist das eine; indes, dieses „Vernunftbedürfnis“ nicht voreilig als bloßes Wunschdenken abzutun, ist die andere Forderung, die ebenso einer auf die „wesentlichen Zwecke des Menschen“ abzielenden Vernunftkritik im Sinne einer über sich selbst „aufgeklärten Denkungsart“ als bleibende Aufgabe vor Augen stehen muss.85 Auch hier ist daran zu erinnern, dass die Hoffnung auf die „Glückseligkeit aller [!] vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität“ von Kant als „durch Sittlichkeit notwendig“ beansprucht wird, weil anders die der „Willensbestimmung von besonderer Art“ verdankte Idee des „Ganzen aller Zwecke“ als das umfassende „Ideal des höchsten Gutes“ und als „Endzweck der Schöpfung“ offenbar nicht zu legitimieren ist, die ausschließlich in dem „Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (IV 651) ihr tragfähiges Fundament finden kann. Wie schon gezeigt, sah sich Kant durch verschiedentliche Einwürfe dazu veranlasst, auch von ihm selbst zum Teil begünstigte diesbezügliche Missverständnisse klarzustellen bzw. zu korrigieren. Auch dies, dass er den in dieser „Willensbestimmung von besonderer Art“ zum Ausdruck gebrachten erweiternden – obgleich in der Sache nicht ganz neuen – Sinn-Aspekt ausdrücklich erst im späten „Gemeinspruch“-Aufsatz thematisierte, könnte ein ihm offensichtlich erst zunehmend bewusst gewordenes Begründungsdefizit vermuten lassen. Und schon die Kennzeichnung dieser „Willensbestimmung von besonderer Art“ verweist vermutlich auf einen vom späten Kant offenbar selbst empfundenen Klärungsbedarf darüber, inwiefern bzw. in welchem genauen Sinne dieser Ausblick auf das „höchste Gut“ denn tatsächlich als „geboten“ gelten darf; ebenso ist diese „Willens85 Dass Kant die „Hoffnung“ ausdrücklich von einem „Affekt“ (und damit auch von einem bloß „leeren Wunsch“ und „Sehnsucht“: VI 579), aber auch das darin sich manifestierende „Bedürfnis der Vernunft“ von „Einsicht“ unterscheidet, bestätigt es: So wenig ihm zufolge Hoffnung eine solche wäre, wenn sie um die Unmöglichkeit des Erhofften wüsste, so wenig bliebe sie (und die sie belebende Zuversicht) eine solche, wenn sie ihre Ent-Täuschbarkeit und Gefährdung bestreiten wollte.
482 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ bestimmung“ offensichtlich vor allem von dem Anliegen geleitet, eudämonistische Missverständnisse abzuwehren (bzw. diese, sofern er sie selbst biswielen begünstigt hat, wiederum zu korrigieren).86 Einschlägige falsche Kalküle zu durchbrechen gebietet freilich schon der ethikotheologisch begründete „Hoffnungslogos“ selbst und führt solcherart auf die alle bloße Selbstbezüglichkeit distanzierende Begründung der spezifischen Intentionalität dieser „Willensbestimmung von besonderer Art“. Sie konnte, auch durch kritische zeitgenössische Einwände veranlasst, zunehmend klarere – ethikotheologisch bestimmte – Konturen gewinnen und im „Gemeinspruch“-Aufsatz eine endgültige Gestalt finden (s. dazu u. IV., 4.2.) – mit weitreichenden religionsphilosophischen Perspektiven und auch Konsequenzen. So bestätigt sich: Jene „Willensbestimmung von besonderer Art“ ist zwar in dem „absolut Guten“ der „moralischen Willensbestimmung“ verankert, gleichwohl erstreckt sich die „Totalität“ ihres Objekts auf ein solches „Sein-Sollendes“, das sich in jenem „absolut Guten“ nicht erschöpft und in solcher Hinsicht die Ebene des „Praktischen“, d. h. „was durch Freiheit möglich ist“ (II 673), transzendiert.87 In solchem moral-transzendierenden SinnÜberschuss tritt nun das „Besondere“ dieser (auf das, was „dasein soll“, gerichteten) „Willensbestimmung“ zutage, die unübersehbar jene Differenz und Einheit des Verstandes- und Vernunftgebrauchs widerspiegelt: Zwar in dem moralisch verstandenen „Sinn des Unbedingten“ begründet, weist sie über das „moralische Sollen“ hinaus und verdeutlicht mithin, dass die ethikotheologische Begründung des Gottesgedankens sich an der Idee eines seinsollenden „unbedingten Sinnes“ orientiert – was sonst sollte der Bezug auf das als „Zweck an sich selbst“ gedachte „Ganze aller Zwecke“ besagen, der über den in der Idee einer „moralischen Welt“ angesprochenen Totalitätsbezug hinaus auf den „Endzweck der Schöpfung“ – als den von Kant sogenannten eigentlichen „Zweck an sich selbst“ – verweist? Derart wir noch einmal an jene Gedankenfigur angeknüpft, dass und wie begründetermaßen zu hoffen sein soll, dass „nicht allein wir einen uns apriori vorgesetzten Endzweck haben“ (V 581); erhofft wird demgemäß, wie erwähnt, dieser „Endzweck der Schöpfung“ selbst – und zwar als der zu diesem von uns erstrebten „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ affine Ermöglichungsgrund, der dieser ethikotheologischen Begründung zufolge selbst wiederum auf einen „zureichenden Grund“ derselben verweist, ohne dass dies schon dem von Kant angezeigten „Abgrund der Vernunft“ entspricht. Obwohl solche „endzweck“-orientierte „Willensbestimmung“ im Sinne der „reinen praktischen Vernunft“ nicht als Pflicht geboten sein kann, so bleibt sie doch auf in der Vernunft selbst liegende Gründe bezogen und expliziert dieserart, eben als ein dieses endliche Vernunftwesen auszeichnendes „Vernunftbedürfnis“, eine „Willensbestimmung von besonderer Art“: Weder ein moralisches Sollen im Sinne des unbedingten Anspruchs der reinen praktischen Vernunft noch ein bloß neigungs-bestimmtes Wünschen bzw. 86 Andernfalls liefe dies unweigerlich darauf hinaus, die in der „moralischen Teleologie“ leitende Vernunft idee zu einer bloß moral-psychologischen Angelegenheit zu nivellieren. 87 Dies gilt, jedenfalls streng genommen, freilich auch für das „praktisch“ Mögliche und Notwendige: Alles, „was als durch einen Willen möglich (oder notwendig) vorgestellt wird, heißt praktisch möglich (oder notwendig)“ (V 243).
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Gefühl, aber auch kein in moralischer Hinsicht lediglich legitimierbarer Zweck; diese „besondere Willensbestimmung“ steht vielmehr in einem denkwürdigen – zwar aus moralischen Quellen gespeisten – Bezug zu einer gleichwohl nur grenzbegrifflich intendierbaren „Totalität“ als der „Idee des Ganzen aller Zwecke“ (VI 132, Anm.), an dem die an einem derartigen Unbedingtheits-Anspruch orientierte praktische Vernunft es sich notwendigerweise gelegen sein lässt; sie hat daran also nicht einfach ein „natürliches“ Interesse, sondern muss im Sinne eines „vollständigen Vernunftgebrauchs“ daran, als einem notwendigen, weil „letzten und vollständigen Zweck“, ein Interesse nehmen, weil andernfalls auch die „auf das Ganze aller Zwecke“ gerichtete Vernunftidee eines „Reichs der Zwecke“ noch unvollständig bliebe. Indes sei weder jenes „Bedürfnis der Vernunft“ „für Einsicht“ zu nehmen (III 272, Anm.), noch sei geltend zu machen, dass die darin artikulierte „moralische Notwendigkeit“ im strengen Sinne „selbst Pflicht sei“: Beide Aspekte sah Kant in dieser „moralisch konsequenten Denkungsart“ zum Ausdruck gebracht bzw. als das „Besondere“ dieser „Willensbestimmung“ charakterisiert, dem zufolge ein dem moralisch bestimmten „Sinn des Unbedingten“ korrespondierender „unbedingter Sinn“ erhofft werden muss und allein dies auch der Idee des „Weltbesten“ genügt. Vor allem mit Rücksicht auf jene in der „Geschichte der reinen Vernunft“ freigelegten Dimensionen der Vernunftidee des „Unbedingten“ (I., 1.1.) ist es erwägenswert, ob die Analyse und Vermittlung der einzelnen – in ihren immanenten Tendenzen gegenläufigen – Aspekte des „Sinns des Unbedingten“ den Blick auf diese umgreifende bzw. abschließende – gleichwohl nur grenzbegrifflich thematisierbare – Idee eines „unbedingten Sinnes“88 lenkt. Letztere setzt jene Differenzierungen des „Schul“- und „Weltbegriffs der Philosophie“ voraus und bringt so die Idee der „teleologia rationis humanae“ in kritischgrenzbegrifflicher Weise zu einem Abschluss, welche die besondere Nähe dieses „Grenzbegriffs“ zur kantischen Idee eines „Endzwecks des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst“ (V 557 f ) in systematischer Hinsicht vor Augen führt. War es zunächst jener der Moralität eingeschriebene „Sollens-Anspruch“, von dem in der bloßen Natur gar nicht die Rede sein kann und der deshalb darüber hinausweist, so ist es nun das moral-transzendierende „Sein-Sollen“ des Erhofften, das überdies noch auf ein „Ganzes aller Zwecke“ als den eigentlichen „Zweck an sich“ gerichtet ist. Es ist dieser letzte „Beziehungspunkt“, der so als das letzte „Worumwillen“ dieser „Willensbestimmung von besonderer Art“ fungiert: der „Endzweck aller Dinge“ als praktisches „Ideal der reinen Vernunft“. Ersichtlich steht jene besondere „Willensbestimmung“ somit in unauflöslichem Zusammenhang mit der noch vom späten Kant angezeigten leitenden Perspektive: „Der letzte Zweck ist die 88 J. Habermas scheint dieser – freilich allein kritisch-grenzbegrifflich legitimierbaren – Idee eines „unbedingten Sinnes“ zuletzt, zwar unübersehbar behutsam, nicht ohne jedes Verständnis zu begegnen (ohne damit indes überdehnte Ansprüche zu legitimieren), wenn er beiläufig anmerkt, dass „der Theologe oder der Metaphysiker … in dieser Unbedingtheit [„eines faktisch unvermeidlichen Vernunftanspruchs“, der sich in den in aller diskursiven Rede kontrafaktisch anerkannten „idealisierenden Unterstellungen“ manifestiert] einen Anknüpfungspunkt für den Gedanken Gottes oder eines absoluten Ursprungs sehen“ werde, obgleich solche Ansprüche der „Agnostiker auf sich beruhen lassen“ könne und müsse (Habermas 2008, 106); diese Auskunft ist zurückhaltender als einschlägige Äußerungen in früheren Texten (vgl. Habermas 1991d, 1991e).
484 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Bestimmung des Menschen zu finden.“89 Ihre teleologische Entfaltung findet diese Perspektive, wie sich zeigen soll, in dem gestuften Aufweis, dass die Möglichkeit des „praktischen Endzwecks“ des Menschen in der Wirklichkeit der Dimension eines „unbedingten Sinns aus sich selber“90, also gleichsam „von sich her“, begründet ist, die wiederum auf die Notwendigkeit von der „Vernunft abgenötigten Voraussetzungen“ verweist. 1.3.2. Die in einer transzendentalen Sinn-Reflexion resultierende Perspektive: Die Idee des „Ganzen aller Zwecke“ – als vorausgesetzter „Sinn aus sich selber“ Hier sei noch einmal ein schon erwähntes Motiv aufgenommen und näher expliziert: Gemäß einer solchen nunmehr ethikotheologisch akzentuierten „transzendentalen Steigerung“ wäre nämlich die Idee der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ vor diesem Hintergrund noch folgendermaßen zu differenzieren bzw. zu erweitern: Der in den moralischen Ansprüchen der reinen praktischen Vernunft manifeste „Sinn des Unbedingten“ (des „absolut Guten“) und die darin verankerte praktische Idee des „vollendeten Guten“ (des „ganzen Gegenstandes der praktischen Vernunft“) stehen in unaufhebbarer Differenz zum „Endzweck der Schöpfung“ als der vorausgesetzten Dimension eines „unbedingten Sinns aus sich selber“ und zu dessen Ermöglichungsgrund, der so nicht nur als „moralisch-weiser Welturheber“ (im Sinne Kants), sondern als ein solcher gedacht werden müsste, der den Sinn-Grund der Idee einer „moralischen Welt“ in sich enthält.91 In die89 AA XX, 175. 90 Diese Wendung ist dem Buch „Philosophie des Sinnes von Sinn“ von F. Fischer (1980) entlehnt; sie wird bei ihm zwar nicht in Bezug auf Kant thematisch, legt aber wohl diesbezügliche sachliche Verknüpfungen nahe, besonders im Blick auf Kants Bestimmung der Idee des „höchsten Guts“ als des „Zwecks an sich selbst“ (als „Noumenon“) – in unübersehbarer Entsprechung zum „Ding an sich selbst“ als „Noumenon im positiven Verstande“. Es liegt in der Sache nahe, diesen angezeigten „Sinn aus sich selber“ gemäß jener schon angeführten Wendung Düsings zu verstehen im Sinne „eines letzten Horizonts von Sinngegebenheit, der nicht bloß ‚gemacht‘ ist“ (K. Düsing 2010, 71), die Düsing freilich zu Kants Ethikotheologie in Beziehung setzt und wohl auf die Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ abzielt. – Dass in diesem „Horizont“ die Perspektive eines „Lebenssinnes“ angezeigt ist, den menschliche Existenz sich gerade nicht selbst zu geben bzw. zu „machen“ vermag, ist wohl auch in den motivlich ähnlich gelagerten Gedanken Henrichs ausgesprochen, „dass das, was zuletzt wirklich ist, kommensurabel sein müsste zu dem, worauf hin sich die Subjektivität selbst orientiert. […] Unser Leben hat einen anderen ‚Sinn‘ als den, den es sich selbst zu geben vermag. Für Subjekte, die von sich wissen, dass sie nicht selbst Grund ihrer Subjektivität sind, würde selbstgegebener Sinn auch wohl kaum ein letztes Lebensgewicht haben, das sich nicht im Selbstzweifel auflösen könnte“ (Henrich 2007, 91). Es ist dies ein Motiv, das unschwer mit Kants Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ (und den darin gedachten „Entsprechungen“) zu verknüpfen ist, die als eine solche vorausgesetzte „Sinn-Notwendigkeit“ (F. Kaulbach) zu verstehen wäre und als solche der Begründung des Gottesgedankens zugrunde liegt. 91 Diese Stufung wird auch in der die Differenzierungen der „Ethikotheologie“ voraussetzenden These Kants erkennbar: „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (IV 652). Sie hat freilich erst in der Überführung der „Ethikotheologie“ in „Religion“ (vgl. V 614 f ) ihren eigentlichen Ort und setzt die im IV. Teil zu verfolgende „existenzialanthropologische“ Wendung voraus.
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sem die praktische Idee eines „Sinns des Unbedingten“, die metapraktische grenzbegriffliche Idee eines „unbedingten Sinnes“ sowie dessen Ermöglichungsgrund umgreifenden Begründungsverhältnis wäre nicht nur die „moralisch-teleologische Verknüpfung“ (III 647) der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ (III 632; s. u. III., 2.) vorgezeichnet; sie erlaubt es folglich auch, die kantische Idee der „moralischen Teleologie“ noch zu konkretisieren bzw. zu vertiefen. Infolge jener Unterscheidung zwischen „subjektiver“ und „objektiver Realität des Endzwecks“ wäre der Bezug auf den „Endzweck der Schöpfung“ als der Idee des „Ganzen aller Zwecke“ (als eines „Zwecks an sich selbst“: vgl. VI 133, Anm.)92 nunmehr dadurch ausweisbar, dass in diesem „Zweck an sich selbst“ zwar ein „praktisch“ uneinholbarer „Sinn für uns“ als „moralische Weltwesen“ auf dem Spiel steht, der dennoch nicht als ein „Sinn durch uns“ zu bestimmen wäre – obgleich er als „durch Sittlichkeit“ (als „ratio cognoscendi“) notwendig gedacht werden muss. In Wahrung dieser prinzipiell unverfügbaren Differenz sollte, freilich in gebotener grenzbegrifflicher Behutsamkeit, die Voraus-Setzung eines „Sinns an“ bzw. „aus sich selber“ ausweisbar sein, der wohl auch schon in Kants „ethischem Weltbegriff“ indirekt thematisch war und als ein solcher kritischer „Grenzbegriff“ einen ganz besonderen Aspekt der „Endlichkeit“ der menschlichen Vernunft anzeigt. Erst in einem weiteren Schritt wäre eine solche Dimension eines „Sinns aus sich selber“ in diesem ethikotheologischen Kontext noch dahingehend zu erweitern, dass dies, in der Frage nach der „ratio essendi“ derselben, nicht einfachhin auf die symbolisierende Idee eines „moralischen Welturhebers“ führte, sondern, im Sinne der Idee einer „moralischen Welt“ als des „Ganzen aller Zwecke“, auf diejenige eines Urhebers jener „moralischen Welt“ bezogen bliebe. Kants „Preisschrift“ wird gerade dafür Anknüpfungspunkte bieten (s. dazu u. III., 2.). Schon hier sei darauf hingewiesen: Dabei wird sich auch bezüglich dieses hier thematisierten „Sinns aus sich selber“ die Unverzichtbarkeit einer analogen Begründung erweisen, der zufolge „Gott“ als ein solcher Grund des „Endzwecks der Schöpfung“ zu denken wäre, der sich auch in solchem „Gründen“ nicht erschöpft, gleichwohl den „Grund alles dessen hält, wozu wir Menschen einen ‚Endzweck der Schöpfung‘ denken müssen“ (vgl. III 390 Anm.) – ein „Abgrund“ der und für die „Vernunft“, der jedenfalls, wie sich zeigen soll, auch noch in der späten Kennzeichnung Gottes als „Urquell [lies: Ur-Quell] alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (III 636) mitzuberücksichtigen bleibt. Jenes mit einer derartigen Differenzierung des Vernunftgebrauchs verknüpfte Motiv der „transzendentalen Steigerung“ wäre solcherart nicht nur, entsprechend jener Analogie zwischen der Wissens- und der Hoffnungsfrage, auf die unumgängliche Unterscheidung praktischer Sinnansprüche ausgedehnt; darüber hinaus fände sie als die den „apriori vorgesetzten Endzweck der Schöpfung“ thematisierende transzendentale „Sinn-Reflexion“ nunmehr auf eine besondere Weise Gestalt, worin so auch erst der den „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ umgreifende „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ (in „theoretischer“ und „praktischer Hinsicht“) seinen Abschluss finden könnte: Vollendung des 92 Vgl. Refl. 6159 (AA XVIII, 471): „Die Welt ist ein Ganzes der Zwecke“ und als solches ein entsprechend zu differenzierendes „Reich der Zwecke“.
486 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ gesuchten „Endzwecks der Metaphysik? Die ethikotheologisch zu explizierende Idee einer „moralischen Teleologie“ ist gemäß der schon wiederholt angeführten Frage, „wie die Welt für ein vernünftiges Wesen beschaffen sein muss“, im Blick auf diesen „Endzweck der Metaphysik“ nun noch folgendermaßen zu vertiefen: Der darin differenzierte Vernunftgebrauch ist selbst als ein solcher auszuweisen, der unter der Voraus-Setzung eines innerhalb dieses „praktischen Vernunftgebrauchs“ selbst nicht thematisierbaren, gleichwohl implizit bejahten „Sinn-Apriori“ steht, worin sich die Vernunft, in Analogie zu Kants Bestimmung des „Noumenon im negativen Verstande“ als „Grenzbegriff“ (II 279 ff ), „problematisch weiter erstreckt“ als auf das „Praktische“. Ein solches über „praktische Vernunftansprüche“ vermitteltes, gleichwohl grenzbegrifflich gedachtes „Sinnapriori“ ist so, in seinem Voraussetzungscharakter, als die ursprünglich affirmierte „objektive Realität“ jenes „Dass-eine-moralische-Welt-existiere“ zu explizieren, worin nicht nur der Mensch als „Endzweck der Schöpfung“ wirklich, sondern auch der in dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ begründete (und darin zu differenzierende) „Endzweck der praktischen Vernunft“ als das „Ganze aller Zwecke“ – Kants „ethischer Weltbegriff“ – möglich sein kann und allein so auch davor bewahrt, dass jene Idee einer „moralischen Welt“ sich letztendlich als bloße „Chimäre“ erweist. Freilich: Nur in der nunmehr vernunftkritisch „gebrochenen“ Gestalt klingt jener aus den frühen Betrachtungen über den „Optimismus“ stammende Ausspruch nach: „Ich rufe allem Geschöpfe zu, welches sich nicht selbst unwürdig macht, so zu heißen: Heil uns, wir sind! Und der Schöpfer hat an uns Wohlgefallen“ (I 594).93 Kants ethikotheologisches Leitmotiv, dass jener in dem „Endzweck der Schöpfung“ gedachte „Sinn aus sich selber“ durch die moralischen Subjekte als existierende „Endzwecke“ – ohne welche „die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde“ (V 567)94 – selbst nicht gestiftet sein kann, sondern als ein „überschießendes“ Mo93 Ein solches affirmatives „Heil uns, wir sind!“ zielt offenbar über das als Ausgang des kosmologischen Beweises fungierende bloße „Wir sind“ in Wolffs „Deutscher Metaphysik“ (Wolff 1965, Bd. I 2, § 928, 574) noch hinaus und indiziert so gewissermaßen indirekt die semantische Differenz von „Welt“ und „Schöpfung“; spätere ethikotheologische Motive Kants lassen sich geradezu als Explikation jener „Bedingungen der Möglichkeit“ buchstabieren, unter denen für ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“ jenes zustimmende „Heil uns, wir sind! …“ auch begründetermaßen eingelöst werden kann. Das vom späten Kant als „Kreis“ beschriebene „dritte Stadium der Metaphysik in den Fortschritten der reinen Vernunft zu ihrem Endzweck“ nimmt sich in solcher Hinsicht wie eine transzendentalphilosophische Einlösung jenes Zurufs aus, mit dem der frühe Kant (in der Spur Leibnizens), noch ganz in der Überzeugung des „Bürger(s) in einer Welt …, die nicht besser möglich war“, seinen „Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus“ (I 593 f ) zum Abschluss gebracht hat. Freilich treten beim späten Kant (und im „Ausgang“ von ihm) noch ganz andere Perspektiven und Rückfragen in den Vordergrund, die jenes „Heil uns, wir sind! Und der Schöpfer hat an uns Wohlgefallen“, auch noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lassen (s. dazu u. VI. Teil). 94 Auf diesbezügliche stoische Vorlagen verweist Brandt 2007a, 161. – Eine knappe und doch sehr präzise Interpretation dieser kantischen Bemerkung, dass „ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste“ wäre (V 567), bietet das schon angeführte Diktum des (von Kant zitierten) jungen Kantianers Willmans: „In der Natur ist alles; es ist von keinem Soll in ihr die Rede“ (VI 341), auch nicht von einem „Sein-Sollen“ – mit den denkbar weitreichendsten Folgen für die Stellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ und die von ihm als „existierendem Endzweck“ gestellte Frage nach dem „Endzweck der Schöpfung“, die hier eine besondere Zuschärfung gewinnt. Der junge Kantianer hat dabei freilich
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ment vorausgesetzt (d. h. „gesetzt“ als nicht-gesetzt) werden muss und insofern aller menschlichen „Sinngebung“ uneinholbar vorausliegt, entwickelt diesen Begründungszusammenhang sodann in den der Idee einer „moralischen Teleologie“ immanenten Differenzierungen. Demgemäß weiß sich dieses „vernünftige Weltwesen“, das als solches im „Reich der Zwecke“ zwar als „Endzweck der Schöpfung“ existiert, hinsichtlich der „Ordnung der Zwecke“ vor die unabweisliche – im „Weltbegriff der Philosophie“ und deren Orientierung an jenen „wesentlichen“ und „höchsten Zwecken“ (II 701) zu entfaltende – Frage gestellt, was denn zuletzt als „Endzweck des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst“ (V 557 ff ), überhaupt gelten darf? Indes, es ist das mannigfaltige „Zweckwidrige in der Welt“ (VI 106), „wie sie sich in der Erfahrung zu erkennen gibt“ (VI 114) – Erfahrungen von „Negativität“ (des „Nicht-Sein-Sollenden“, des „es müsse anders zugehen“: V 587)95 in den verschiedenen Formen des erfahrenen Mangels, der Unerfülltheit und auch der schlechthinnigen „Sinnwidrigkeit“ –, das die Vorstellung eines „Endzwecks der Schöpfung“ geradewegs zu verbieten scheint. Darin bringt sich, obgleich in negativer Gestalt, ein entscheidendes Moment der zu erweiternden Idee einer „moralischen Teleologie“ zur Geltung, das für die unabweislichen Orientierungsansprüche von „Vernunftwesen, nicht bloß vernünftige Wesen“ (IV 550)96, sodann noch eine besondere Herausforderung und Erschütterung darstellt – zumal dann, „wenn sie den Weltlauf einmal als die einzige Ordnung der Dinge ansahen, sie wiederum jene innere Zweckbestimmung ihres Gemüts [in der unauflöslichen Einheit von „Vernunft, Herz und Gewissen“] nicht zu vereinigen wussten“ (V 587). Die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ näher differenzierten Aspekte der Idee des „Unbedingten“, die in Kants später Begründung des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ übernommen und näher entfaltet wurden, begegnen sodann, im Sinne des als „vernunft-notwendig“ behaupteten Motivs, auch in dem in ethikotheologischem Begründungskontext geäußerten Argument, „dass wir, nach einem allgemeinen [!] höchsten Zwecke zu streben, uns durch das moralische Gesetz gedrungen, uns aber doch und die gesamte Natur ihn zu erreichen unvermögend fühlen“. Demzufolge kann, aufgrund der „inneren moralischen Zweckbestimmung“ unseres Daseins, „die Zweckbeziehung in uns selbst apriori, samt dem Gesetze derselben, bestimmt, mithin als notwendig erkannt werden“ (V 572 f ). Als existierender „Endzweck der Schöpfung“ zwar dazu befähigt, „allein sich selbst“ in moralischer Bewährung einen absoluten Wert noch die Worte des verehrten Meisters im Ohr: „Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen [!] aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“ (II 498). – Schon die Refl. 5444 (in: AA XVIII, 183 f ) nimmt dieses späte „Endzweck“-Motiv vorweg: „Schlechthin (unbedingt in aller Absicht) ist nichts gut als das Dasein freihandelnder Wesen, und in diesen nicht Verstand, Glückseligkeit etc. etc., sondern die Gesinnung, sich alles dessen, was mittelbar gut ist, wohl zu bedienen. Also die praktische Gesinnung guter Absichten. Diese ist also die Gutartigkeit des Willens.“ 95 Dem Anspruch der „reinen praktischen Vernunft“ ist sonach „eingeschrieben“, was Hegel mit den Worten geltend gemacht hat: „Schmerz ist nur vorhanden im Gegensatz gegen ein Sollen, ein Affirmatives. Was nicht ein Affirmatives mehr in sich ist, hat auch keinen Widerspruch, keinen Schmerz. Schmerz ist eben die Negativität im Affirmativen, dass das Affirmative in sich selbst dies sich Widersprechende, Verletzte ist“ (Hegel 17, 263). 96 Diese Unterscheidung Kants (vgl. auch IV 673, Anm.) gewinnt in diesem Kontext offensichtlich noch besonderes Gewicht.
488 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ geben zu können (V 568) und einen „praktischen Endzweck“ sowie den ihn fundierenden „Endzweck der Schöpfung“ zu erhoffen, vermag er sich dennoch dessen Wirklichkeit nicht im Sinne einer „Einsicht“ zu vergewissern: Ebendies definiert nach Kant geradezu die „conditio humana“. Freilich, der (praktischen) Vernunft als dem „Vermögen der Zwecke“, die sich dieserart selbst „ihr eigener letzter Zweck ist“ (s. o. III., Anm. 82), müsste es geradewegs widersprechen, wenn diese Idee des „Ganzen aller Zwecke“97 als deren „Vereinigungspunkt“ dabei ausgeblendet bliebe: Davon abzusehen wäre schlechthin vernunftwidrig, zumal Vernunft (und deren praktisch verankerter „Endzweck“) sich eben weiter erstreckt als auf ihren „praktischen Gebrauch“ im engeren Sinne, d. h. eben nicht lediglich auf das, „was durch Freiheit möglich ist“ – und doch „dasein soll“. So wird – innerhalb der Vernunft als dem „Vermögen des Unbedingten“ – die Differenz des „Sinns des Unbedingten“ und eines „unbedingten Sinnes“ gemäß einer „transzendentalen Steigerung“ der besonderen Art, zwar postuliert, gleichwohl selbst in kritischem Grenzbewusstsein notwendigerweise offen gehalten. Im Rückblick auf jene von Kant geltend gemachte Analogie zwischen den Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ wäre mithin zu sagen: So wie allein der Anschauungsbezug den Verstandesbegriffen „Sinn und Bedeutung“ verleihen und Letztere andernfalls „leere Begriffe von Objekten“, „bloße Gedankenformen ohne objektive Realität“ blieben (II 146 f ), so bliebe auch der zwar sinnhafte Bezug auf den „praktischen Endzweck“ (als den „ganzen Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“) ohne den „Endzweck der Schöpfung“ ohne „Bedeutung“, d. h. bloß „eingebildet“ – in solcher Hinsicht also zuletzt „bewandtnislos“. Solche Bewandtnis stellt eine unentbehrliche Voraussetzung dar, die jedoch nur „in praktischer Absicht“ als unentbehrlich auszuweisen, d. h. in ihrem „postulatorischen“ Anspruch zu legitimieren ist; nur dies kann davor – als einer besonderen Form von „Vermessenheit“ – bewahren, ein zwar unabweisliches „Vernunftbedürfnis“ mit „Einsicht“ zu verwechseln bzw. dessen Anspruch als ein bloß „auf Neigung gegründetes Bedürfnis“ (vgl. IV 278 f ) abzutun bzw. misszuverstehen. Kants 97 Hier nimmt Kant unübersehbar die „Idee“ einer „moralischen Welt“ aus dem Abschnitt über das „Ideal des höchsten Guts“ (II 676 ff ) auf. – Henrichs Plädoyer einer Beschränkung auf den „Kern des Glaubens an die Realität des Endzwecks … – den Gedanken von einer Weltordnung, die dafür steht, dass die Handlungen, die aus gutem Willen hervorgehen, nicht dazu verurteilt sind, zu scheitern“, jedoch ohne die Vorstellung von einem „Endzweck als einem Maximum“ im Sinne der „Proportion zwischen Verdienst und Glück in einem finalen Weltzustand“ (Henrich 2004, 1491), liefe letztendlich, infolge solcher „Ausgliederung“ (ebd. 1492), auf eine Preisgabe der Idee einer „moralischen Welt“, der moralischen Idee des „Ganzen aller Zwecke“, hinaus; das „höchste Gut“ im Sinne jener (als „Vereinigung und Zusammenstimmung“ gedachten: VI 132) „Proportion“ ist, wie sich im IV. Teil zeigen soll, nichts anderes als eben die existenz-orientiert gewendete und so gleichsam „in individuo“ gedachte Idee der „moralischen Welt“ (s. u. IV., 1.2.). Es wird sich noch erweisen, weshalb der Vorschlag Henrichs, schon beim späten Kant den „Schritt vom Glauben an die Realität einer moralischen Weltordnung zur Moraltheologie“ tendenziell revidiert zu sehen und infolgedessen auch der Rekurs auf einen „Herzenskündiger“ entfalle (Henrich 2004, 1493), nicht überzeugend ist. Schon in der „Anmerkung“ zu diesem „moralischen Beweis“ betonte Kant die notwendige Verankerung des „höchsten Gutes“ in einer „nach moralischen Gesetzen die Welt beherrschende(n) oberste(n) Ursache“ – ein Gedanke, der, so Kants interessante Anmerkung, freilich auch für „die unangebauteste Vernunft, sofern sie sich als praktisch betrachtet, allgemein fasslich ist, mit welcher hingegen die spekulative bei weitem nicht gleichen Schritt halten kann“ (V 587). Indes, genau auf diesen letzten Punkt zielt auch seine „Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises“ (§ 88: V 580 ff ).
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Ethikotheologie wäre demzufolge als der Versuch zu verstehen, den „Vernunft-Ideen“ – denen als solchen zwar „kein Gegenstand, mithin auch keine Bedeutung gegeben wird“ und denen man folglich „die objektive Realität theoretisch nicht sichern kann“ (V 600) – dennoch über den Aufweis des besonderen Status der „Idee der Freiheit“ (V 599), ihre „Bedeutung in praktischer Absicht“, d. h. ihre „objektive Realität“, zu sichern. Die angezeigte gestufte Affirmation wäre demnach gemäß dieser kantischen „Endzweck“- d. h. „Sinn“-Reflexion zu explizieren, worin das in diesem Abschnitt weiter verfolgte Motiv einer „transzendentalen Steigerung“ noch eine besondere Nuancierung erfährt. Dass das „Wort Schöpfung“ nicht nur auf die „Ursache vom Dasein einer Welt“, auch nicht bloß auf die Idee einer „freigewirkte(n) Ursache“ derselben (V 576) abziele, sondern auf eine mögliche „moralische Welt“ als deren „Endzweck“ – all dies lässt, wie erwähnt, ein mehrstufiges Voraussetzungs-Verhältnis zutage treten, dem zufolge jene vollzogene Sinn-Affirmation gleichermaßen eine theoretisch und praktisch uneinholbare Sinn-VorausSetzung impliziert. Demgemäß erweist sich jener „Endzweck“ als letztes „Worumwillen“ – d. i. als derjenige, „der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“ (V 557) – als jene Sinn-Voraussetzung eines ursprünglichen „Sein-Sollens“, das auch das „Sollen“ in praktisch-moralischer Bewährung gewissermaßen trägt, obgleich diese ursprüngliche „vormoralische“ Voraussetzung erst in der nachträglichen Reflexion als „ratio essendi“ des „moralischen Endzwecks“ thematisch werden kann.98 In dieser ethikotheologisch modifizierten „transzendentalen Steigerung“ ist es demnach um die „Bedingung der Möglichkeit“ des „praktischen Endzwecks“ zu tun, der ohne diesen hierfür vorauszusetzenden „Endzweck der Schöpfung“ nicht gedacht werden kann; dieser Endzweck“ muss selbst in der „Gottesidee“ als der Idee eines „weisen Welturhebers“ begründet sein, der so als Einheitsgrund, als „übersinnliches Substrat“ der „Gesetzgebungen nach dem Natur- und dem Freiheitsbegriff“ zu denken wäre im Sinne einer „suppositio relativa“, d. i. als „Gegenstand in der Idee“: Als „Schöpfer“ des „Reichs der Natur“ und als „Oberhaupt im Reich der Zwecke“ hätte dieser sonach schon eine „symbolische Darstellung“ gefunden. Im Ausgang von dem im Sinne der kantischen Ethikotheologie erweiterten unbedingten „Vernunftbedürfnis“ erscheint nun auch der regulative Status jener „respektiv auf den Weltgebrauch unserer Vernunft“ (II 602) gegründeten Idee einer „obersten Intelligenz, die nach weisen Absichten Urheber derselben“ (d. i. der „systematischen Einheit der Welt“) ist, in einem besonderen Licht. Entsprechend jener Idee einer „größte(n) systematische(n), folglich auch … zweckmäßige(n) Einheit [der Naturerscheinungen nach „allgemeinen Gesetzen“]99 und der darin verankerten größtmöglichen Einheit des 98 Hier berühren diese Überlegungen die von Makkreel vertretenen These: „Tatsächlich ist es möglich, die Gesamtstruktur der Kritik der Urteilskraft als eine zu interpretieren, in der die Idee des oder der Sinn für das Leben schrittweise expliziert wird“ (Makkreel 1997, 118 f ). 99 Diese Idee einer „zweckmäßigen Einheit“ der Naturerscheinungen nach „allgemeinen Gesetzen“ hat Kant bekanntlich (wie erwähnt) in der Kritik der Urteilskraft korrigiert und zugleich im Sinne der unverzichtbaren „Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft“ vertieft, weil darin noch ein ganz anderer Gesichtspunkt einer „zweckmäßigen Einheit“ im Sinne der Differenzierungen der Urteilskraft in Erscheinung tritt, der deshalb auch den Hinweis auf die „Schule für unsere Vernunft“ gemäß dem „Prinzip der Zweckmäßigkeit“ noch wesentlich erweitert.
490 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ „theoretischen Vernunftgebrauchs“, wird auf diesem „Gebiet der praktischen Vernunft“ gleichermaßen die Voraus-Setzung der „objektiven Realität“ des „Endzwecks der Schöpfung“ ein unabweisliches Thema, weil anders, gemäß jener „Analogie“, auch die „Möglichkeit des größten [d. h. vollständigen] Gebrauchs der Menschenvernunft“ nicht zu denken ist: Allein unter der Voraussetzung, dass jenem „subjektiven Endzweck“ (wohlgemerkt: als einem „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“, der doch „Endzweck vernünftiger Weltwesen“ ist) letztendlich auch eine (in dem „Endzweck der Schöpfung“ verankerte) „objektive Realität des Endzwecks“ korrespondiert, sei rechtens zu behaupten, dass diese „vernünftigen Weltwesen“ nicht nur, gemäß dem unbedingten moralischen Anspruch, als „Zweck an sich selbst“ „praktisch-moralisch“ anzuerkennen sind. Nur so lässt sich nämlich auch „begründet hoffen“100, selbst „Endzweck der Schöpfung“ zu sein – also keineswegs einem bloßen Eigendünkel zufolge, sondern durchaus entsprechend der „Idee des höchsten durch seine Mitwirkung in der Welt möglichen Guts“ als einem „Zweck an sich selbst“ (und nicht nur einem „Zweck für uns“),101 weil es sich selbst an der Idee des Menschen als des existierenden „Zwecks an sich selbst“ orientiert. Demgemäß muss jener sehr „fruchtbare Begriff eines Reichs der Zwecke“ (in Vermeidung einer „moralphilosophischen Engführung“ desselben) auch diesen immanenten Begründungszusammenhang der „Endzweck“-Bestimmungen mitumfassen, wäre er andernfalls doch gerade nicht als die Idee des „Ganzen aller Zwecke“ zu bestimmen, der sich einer „Willensbestimmung von besonderer Art“ verdankt. Hier sei noch einmal die denkwürdige Grundlage dieser im „Gemeinspruch“-Aufsatz von Kant betonten Grundlage jener „Willensbestimmung von besonderer Art“ vergegenwärtigt, die offenbar ein genau zu beachtendes Voraussetzungsverhältnis anzeigt: „Dieses ist eine Willensbestimmung von besonderer Art, nämlich durch die Idee des Ganzen aller Zwecke, wo zum Grunde gelegt [d. h. vorausgesetzt] wird: Dass, wenn wir zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen stehen, [dann] wir allerwärts dem moralischen Gesetz gehorchen müssen: und über das doch die Pflicht hinzukommt, nach allem Vermögen es zu bewirken, dass ein solches Verhältnis (eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen) existiere“ (VI 133 Anm.; Hervorhebungen v. Verf.). Aufschlussreich ist das in dieser Argumentation Kants bestimmende – gestufte – Begründungsverhältnis, das sich vielleicht folgendermaßen rekonstruieren lässt: Unter der Voraussetzung, dass eine Welt faktisch ist und in ihr ein Wesen existiert, das nicht bloßen Imperativen der „animalischen Selbsterhaltung“ und „Lebenssteigerung“ folgt, sondern um die unbedingten Ansprüche einer „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ weiß, d. h. in „moralischen Verhältnissen“ steht, ist diese „Schöpfung“ zwar nicht bloß „leer“ (VI 38) bzw. eine „bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck“ (V 567); indes, als existie100 Zur Logik der kantischen Hoffnungskonzeption und ihren Nuancierungen in Kants verschiedenen Werken vgl. auch Conradt 1999; auf die Differenzierungen des kantischen Hoffnungsbegriffs verweist auch O’Neill 2003, 104 ff. 101 Gewiss könnte andernfalls erst recht nicht davon die Rede sein, dass es in diesem kantischen „Prinzip Hoffnung“ um eine Hoffnung zu tun sei, „durch sein Handeln der Glückseligkeit, des Ja-sagen-Könnens zu dem Leben, das der Mensch führt, würdig werden zu können – eine Hoffnung, ohne die der Mensch, als der er ist, nicht menschlich leben kann“ (Landgrebe 1969, 157).
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render „Endzweck der Schöpfung“ untersteht dieses „vernünftige Weltwesen“ nicht lediglich dem Anspruch des „moralischen Gesetzes“, sondern auch der Leitidee der „moralischen Welt“ und somit der in diesem moralischen Gesetz begründeten Aufforderung, „dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (IV 652), obgleich die „Erreichung“ desselben unverfügbar bleibt. Die derart begründete (daraus „abgeleitete“) Idee des „höchsten Gutes“ ist als selbst moralisch „begründeter“ Zweck“ (ein „Endzweck, den er hat, und haben soll“ (!: III 645) zu bejahen (der aus moralischen Gründen nicht einmal diesbezügliche Gleichgültigkeit erlaubt), wofür wiederum die Voraussetzung eines „Endzwecks der Schöpfung“ als Ermöglichungsgrund unumgänglich ist: Auf ihn, als „die Idee des Ganzen aller Zwecke“, ist zuletzt jene „Willensbestimmung“ gerichtet; „von besonderer Art“ ist sie eben deshalb, weil sich darin offenbar eine praktisch-moralisch überschießende Sinnintention als bestimmend und auch als „belebend“ erweist. Jene „Willensbestimmung von besonderer Art“ bezieht sich demnach – unter der Voraussetzung der Faktiziät der Schöpfung und eines darin nach deren „Endzweck“ fragenden vernünftigen Wesens –, vornehmlich darauf, dass eine „Welt sein soll“, die nicht „bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck“ (V 567), ist. Darüber hinaus zielt solche „Willensbestimmung“ (einer durchaus „unparteiischen Vernunft“ zufolge)102 darauf ab, dass eine derart sollens-bestimmte „Welt“ auch dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ eines „vernünftigen Weltwesens“ genügt, weshalb sie ohnehin zuletzt auf die Frage nach dem „Endzweck der Schöpfung“ verweist, ohne den die „ganze Schöpfung“, aufgrund des in ihr als „Endzweck“ existierenden Menschen, zwar keinesfalls „eine bloße Wüste“ wäre, gleichwohl unbewohnbar bliebe – also eine sinn-leere, normativ taube und bewandtnislose „Faktenaußenwelt“, ein faktisch-sinnloses „Was-der-Fall-ist“, worin auch weder „von einem Soll“ noch von einem „Sein-Sollen“ die Rede sein könnte.103 Demgegenüber ist in jener „Willensbestimmung“ ein ursprüngliches Sinn-Interesse „jenseits allen Machens“ und doch als ein „Sein-Sollen“ angesprochen, das auch jenen „moralischen Verhältnissen“ als „ratio essendi“ noch vorausgesetzt ist, obgleich Moralität wiederum als die unverzichtbare „ratio cognoscendi“ derselben fungiert. Diese Begründungszusammenhänge dürften nicht kurzsichtige bzw. einäugige „Geographen der menschlichen Vernunft“ (als solchen hat Kant namentlich D. Hume bezeichnet: II 645) nicht überse102 Demgemäß kommentierte Heimsoeth das leitende Motiv Kants auf plausible Weise: „Die ‚systematische Einheit‘ der Daseinszwecke von so unterschiedener und doch einander zuzuordnender Art muss, da von der ‚Natur der Dinge‘ nicht vorgegeben und nicht zu erwarten – erhofft werden können; so urteilt die Vernunft in jedem von uns. Und dies nicht etwa nur, sofern der Einzelne (was darf ‚ich‘ hoffen?) für sich denkt, sondern sofern er sich, über alle ‚Privatabsicht‘ hinaus, in ein ursprüngliches und seinerseits schlechthin unabhängiges (‚selbständiges‘) Vernunftwesen hineindenkt, welches alle Glückseligkeit an Freiheitswesen auszuteilen hätte: in jener unbedingten Vorordnung der jeweiligen sittlichen ‚Gesinnung‘, die ihrerseits nicht schon die ‚Aussicht‘ auf Glückseligkeit voraussetzt“ (Heimsoeth IV 1966 ff, 768). 103 Dass „ohne den Menschen [als „vernünftiges Weltwesen“] die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde“ – also buchstäblich „sinn-los“ wäre –, verschärft noch einmal seinen früheren Hinweis auf die auszufüllende „Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur“ (VI 38). In beiden Fällen wird freilich deutlich, dass „Schöpfung“ mehr besagt als das bloß faktische „Dasein einer Welt, oder der Dinge in ihr“ (V 576 Anm.); über den bloß „teleologischen Aspekt“ hinaus enthält der Terminus „Schöpfung“ bei Kant offensichtlich eine besondere teleologische, d. h. „Sinn“-Konnotation.
492 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ hen, wenn sie in Berufung auf eine „aufgeklärte Denkungsart“ ihre „Vermessungen“ und vernunft-bestimmten Orientierungen nicht auf unangemessene, ja geradezu vermessene Weise vornehmen wollen (s. dazu o. I., 2.2.2.). Es verdient besondere Beachtung, dass Kants „Gemeinspruch“-Aufsatz diese Motive dadurch noch einmal zuschärft. Allein unter jener – moral-vorgängigen – sinn-affirmierenden „Voraus-Setzung“ wird nicht nur die Frage nach einem „Endzweck der Schöpfung“ möglich, sondern ebenso die als „Achtung und Liebe“ gebotene praktisch-moralische Bewährung in ihr (s. u. IV., 4.2.1.). Diesbezüglich desinteressiert-teilnahmslose Gleichgültigkeit wäre mit jenem Interesse der „Selbsterhaltung der Vernunft“ – derjenigen eines endlichen „Vernunftwesens“ – gerade nach den Maßstäben einer zwar „unparteiischen“, obgleich „moralisch gesinneten Vernunft“104 schlechthin unvereinbar. Vornehmlich dagegen richtet sich jene gewissermaßen in sich gestufte Intentionalität jener „Willensbestimmung von besonderer Art“, die damit in der Sache jene schon angeführte These der „Religionsschrift“ aufnimmt, der zufolge es „also der Moral [!] nicht gleichgültig sein“ könne, „ob sie sich den Begriff von einem Endzweck aller Dinge (wozu zusammen zu stimmen zwar die Zahl ihrer Pflichten nicht vermehrt, aber doch ihnen einen besondern Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke verschafft) mache, oder nicht; weil dadurch allein der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können [schon sofern wir denn überhaupt handeln!], objektiv praktische Realität verschafft werden kann“ (IV 650 f ).105 Auch hier ist offenbar von jenem notwendigerweise moralisch verankerten „Sein-Sollen“ die 104 Kant hat dies auch in der für die frühen 1790er-Jahre datierten Refl. 6317a (AA XVIII, 632) deutlich ausgesprochen, in der auch das „von der Sittlichkeit selbst diktierte Vertrauen zur Erreichung dieser Absicht“ [III 638] und der darin gesteigerte Anspruch noch einmal recht deutlich vernehmbar werden: „Die Vernunft kann uns nicht die oberste Bedingung unserer Zwecke (im sittlichen Gesetze) auferlegen, ohne uns zugleich den Endzweck unseres Daseins zu bestimmen als einen solchen, der zugleich unser Zweck sein kann. Nun ist dieser jederzeit Glückseligkeit; aber die Moral gebietet, dass er nur unter der Bedingung der Würdigkeit glücklich zu sein unser Endzweck und überhaupt der vernünftigen Wesen in der Welt sein kann. So wie nun die … moralisch gesinnete Vernunft Glückseligkeit nicht ohne Wohlverhalten, so kann sie auch nicht Wohlverhalten ohne Glückseligkeit denken, wenn sie als gesetzgebend [!] selbst für die Natur sich betrachtete. Also muss sie, wenn sie die Notwendigkeit der moralischen Gesetze im übersinnlichen Substrat der vernünftigen Weltwesen sucht, in demselben auch das Prinzip der Glückseligkeit derselben, mithin eine diese beide Elemente des Endzwecks verbindende Gottheit denken.“ – Dies scheint freilich auch schon die Antwort auf die von M. Kühn gestellte Frage zu enthalten, ob Kants „Ethik ‚apriori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft‘ gründet oder nicht zumindest in Teilen auf einer fragwürdigen Vereinnahmung von nicht-kognitiven Inhalten als rationalen Voraussetzungen beruht“ (Kühn 2004, XXXIII). 105 Auch dieser Passus bzw. der kantische Hinweis auf den „gesollten [!] Endzweck“ des „moralischen Menschen“ impliziert wohl eine Antwort Kants auf Habermas’ Einwand: „die Postulatenlehre verwischt die Grenze zwischen den Zuständigkeiten von praktischer Vernunft und teleologischer Urteilskraft“ (Habermas 2007, 377; der angeführte Passus mag auch nochmals verdeutlichen, dass es darin nach Kant vermutlich nicht darum geht (wie Habermas’ Einwand nahelegt), „im Lichte dieses Moralprinzips nach einem weitergehenden Zweck für die Befolgung moralisch verpflichtender Normen zu fragen“ (ebd. 374), sondern darum, „was da sein soll“ (II 701), dem gegenüber als „höchstem Zweck“ Moral jedoch nicht indifferent bleiben kann (so wie auch gegenüber dem, „was zum Himmel schreit“, obgleich es alle moralische Anstrengung und Verfügbarkeit übersteigt). Das „Dasein Gottes“ ist freilich eine Voraussetzung der „theoretischen Vernunft“, ohne die der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“ nicht als möglich gedacht werden kann.
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Rede, das gleichwohl über dieses Gebiet des „Praktisch-Moralischen“ (und dessen „Gebieten“) hinausweist und dennoch dessen Beziehungspunkt bleibt; eben darauf zielt auch jene kantische Kennzeichnung der Vernunftidee einer „moralischen Welt“ und der darin implizierte besondere Anspruch des „Sein-Sollens“ ab. Lediglich eine Folgerung aus den voranstehenden Überlegungen ist dies: Kants Bestimmung des „Endzwecks der Metaphysik“ ist vor dem Hintergrund seiner Ethikotheologie so zu buchstabieren, dass in dem eröffneten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ jene angezeigte Sinn-Affirmation nunmehr in einer stufenförmigen Entfaltung ins Blickfeld rückt. Dabei sollte es sich – auch mit Blick auf Kants Selbstverortung innerhalb der „Geschichte der reinen Vernunft“ – als bedeutsam erweisen, dass seine Ethikotheologie als die das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ entfaltende Frage nach der mehrstufigen „Endzweck“-Thematik106 zu verstehen ist, der bezeichnenderweise die im „dritten Stadium der Metaphysik“ zu leistende Explikation der „theologischen Idee“ genau entspricht. Nur so sah Kant, über das bloß „negative Geschäft der Vernunftkritik“ hinaus, auch das religionsphilosophisch unverzichtbare Motiv der „kritischen Transzendenz“ gemäß dem „Endzweck der Metaphysik“ in zureichend differenzierter Weise – und somit auch der „ganzen Bestimmung des Menschen“ angemessen – eingelöst. Die systematische Explikation der „Endzweck“-Thematik und die Entfaltung der „theologischen Idee“ wären so im „dritten Stadium der Metaphysik“ auf eine Weise verknüpft, die den darin intendierten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ auch erst als durchführbar erscheinen lässt. Noch einmal sei betont: Von „besonderer Art“ ist diese Willensbestimmung nicht zuletzt eben deshalb, weil ihre Sinn-Intention eine zwar moralisch begründete und zugleich eine moraltranszendierende vernunft-orientierte „Nötigung“ in sich enthält, worin das vernunft-begründete „Urteilen-Müssen“ – darin eben lediglich „moralisch konsequent“ – auf eine „Not-Wendigkeit“ der besonderen Art „hinaussieht“, die in diesem erweiterten Horizont unter dem Vorzeichen bzw. dem Anspruch der „Selbsterhaltung der Vernunft“ 106 Entsprechend zur „Unbegreiflichkeit“ der Wirklichkeit des kategorischen Imperativs, dessen „Unbegreiflichkeit“ jedoch zu begreifen ist, wäre die „Unbegreiflichkeit“ der „Zweckmäßigkeit der Natur“ (vgl. V § 62), aber auch die „teleologia rationis humanae“ in ihrer „Selbsterhaltung“ zu thematisieren. Dass, analog, auch hier auf keine empirische „Bedingung“ rekurriert werden kann und in diesem Sinne die Unbegreiflichkeit von „Sinn“ doch zu begreifen sei, legt nicht nur Bezüge zu Wittgensteins Kennzeichnung des „Daseins der Welt“ als „mystisch“ nahe (s. u. IV., Anm. 359); möglicherweise wäre mit jener „Unbegreiflichkeit von Sinn“ ja auch der Gedanke zu verbinden, dass im Bedenken des „Sinns des Sinns“ – gleichsam als „absolute Position“ – „Idee und Realität“ ursprünglich und unzertrennlich „eins“ sind. In einer Analogie zur Freiheits-Idee wäre vielleicht zu sagen, dass „Sinn nicht ohne das Bewusstsein von Sinn“ gedacht werden kann und doch Letzterem vorgelagert bleibt, eben in solchem grenzbegrifflichen „an sich“ indes ein überschießendes Moment indiziert. – In motivlicher Hinsicht (obgleich modifiziert) nimmt Henrich das Thema des „Endzwecks der Schöpfung“ auf, wenn er im Bezug auf unabweisliche Fragen des Menschen betont: „Sie fragen also, ob ihrem Leben eine Bewandtnis eignet, die nicht aus dem hervorgeht und in dem erschöpft ist, was sie leisten und was sie sich selbst und anderen bedeuten – ein Sinn also, der sowohl ihrer eigenen Einschätzung und Erfahrung als auch dem, was faktisch von ihnen bewirkt wird, noch vorausgeht. Diese Frage greift über das bewusste Leben und alle in ihm allein begründeten Bezüge hinaus. […] Solcher Sinn wäre, obwohl er nur ihm zu eigen ist, dann doch nicht aus dem bewussten Leben heraus gestiftet“ (Henrich 2007, 263). Henrich hat dieses Motiv freilich im Sinne einer „All-Einheits-Konzeption“ modifiziert.
494 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ zu verstehen ist und diese sich auch so an die „Ordnung der Begriffe von der Willensbestimmung“ gebunden weiß. Als „moralisch konsequent“ war die diese „Willensbestimmung von besonderer Art“ auszeichnende „Denkungsart“ vor allem deshalb zu charakterisieren, weil sie sich an einem differenzierten zweckmäßigen Vernunftgebrauch orientiert – und zwar in ausdrücklicher Analogie zu dem sich zur „zweckmäßigen Einheit der Natur“ erweiternden – insofern eben „konsequenten“, „systematisch-vollständigen“ – Gebrauch der Vernunft und dem davon unablösbaren Interesse. Denn „in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks“ ist der „vollständige praktische Gebrauch der praktischen Vernunft unzertrennlich“ mit der Idee des „höchsten Gutes“ (IV 278, Anm.) verbunden – und allein in der darauf bezogenen „Willensbestimmung von besonderer Art“ und ihrem Interesse erhält Vernunft sich selbst. Dass jene Idee der „moralischen Teleologie“ ebenso auf die im Kontext der „authentischen Theodizee“ angesprochenen „Abgründe“ der Vernunft verweist und so das „Interesse der Vernunft an sich selbst“ und ihrer „Selbsterhaltung“ noch auf weitere – „durch die Natur der Vernunft“ selbst aufgegebene unabweisliche und irritierende – Fragen führt und überdies mit Ideen und Widerfahrnissen von ganz anderer Art konfrontiert, wird noch zu verfolgen sein (s. u. VI. Teil). Die in jener aufschlussreichen Anmerkung des „Gemeinspruch“-Aufsatzes angeführte richtungsweisende Gedankenfigur, der zufolge sich „der Mensch aus der Analogie mit der Gottheit“ denkt, gewinnt indes in diesem Kontext noch eine bedeutsame Ergänzung – und zwar im Sinne einer erforderlichen Umkehrung dieser „Analogie“, die bemerkenswerterweise durch einen Passus aus der ersten Vorrede zur (nahezu zeitgleich erschienenen) „Religionsschrift“ nahegelegt wird. Demzufolge sind in der dieses AnalogieMotiv explizierenden Gedankenfigur gewissermaßen zwei „gegenläufige“ Bewegungen im Dasein des Menschen (als „copula von Endlichem und Unendlichem“) vereint zu denken. Darauf zielt offensichtlich auch die schon angeführte (wohl nicht leicht zu verstehende) Auskunft Kants über die Erwägung jenes „Rechtschaffenen“ ab, die jedenfalls auch in dem Motiv des „sich nach der Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen mitzuhören bleibt: „Setzt einen Menschen, der das moralische Gesetz verehrt und sich den Gedanken beifallen lässt (welches er schwerlich vermeiden kann), welche Welt er wohl durch die praktische Vernunft geleitet erschaffen würde, wenn es in seinem Vermögen wäre, und zwar so, dass er sich selbst als Glied in dieselbe hineinsetzte, so würde er sie nicht allein gerade so wählen, als es jene moralische Idee vom höchsten Gut mit sich bringt, wenn ihm bloß die Wahl überlassen wäre, sondern er würde auch wollen [!], dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde, ob er sich gleich nach dieser Idee selbst in Gefahr sieht, für seine Persönlichkeit sehr einzubüßen, weil es möglich ist, dass er vielleicht der Forderung der letztern, welche die Vernunft zur Bedingung macht, nicht adäquat sein dürfte; mithin würde es dieses Urteil ganz parteilos, gleich als von einem Fremden gefället, doch zugleich für das seine anzuerkennen sich durch die Vernunft genötigt fühlen, wodurch der Mensch das in ihm moralisch gewirkte Bedürfnis beweist, zu seinen Pflichten sich noch einen Endzweck, als den Erfolg desselben, zu denken“ (IV 651 f ). Zunächst nimmt diese Argumentationsfigur offenbar den schon geläufigen Gedanken auf, dass ohne den Aufweis der Weltstellung des Menschen als des existierenden „End-
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zweck der Schöpfung“ von einem „Endzweck“ des „Daseins der Welt“ (V 568) – also „warum die Welt und der Mensch selbst da ist“ (V 610) – grundsätzlich nicht die Rede sein könnte. An dieses schon aus der „Endzweck“-Analyse der „Methodenlehre der reflektierenden Urteilskraft“ geläufige Motiv knüpfte Kant in der „Religionsschrift“ sodann den Hinweis darauf, dass dieser rechtschaffene Mensch als existierender „Endzweck der Schöpfung“ vorweg schon aus moralischen Gründen jenes „Dass-eine-Welt-sei“, bejaht, in der nicht alles bloß „ist“, sondern worin auch „von einem Soll die Rede ist“ (vgl. II 498; VI 341), d. h. „Moralität“ (als „oberstes Gut“) wirklich und somit die Beförderung des „höchsten Guts“ möglich ist. Erst an dieses „moralische Bedürfnis“ (vgl. VI 133, Anm.) schließt sich die (daraus vermittelte) Aussicht auf die „moralische Idee vom höchsten Gut“ (IV 652) an; Letzteres erweist sich auch aufgrund dieser Begründungsfigur der „Religionsschrift“, die offensichtlich jedweden „Eudämonismus“-Verdacht abwehren will, als ein in dem dargelegten Sinne „abgeleitetes Gut“ und verweist so auf eine zwar moral-begründete und doch darüber hinausweisende vernunft-fundierte Affirmation, die deshalb auch eine „Willensbestimmung von besonderer Art“ erkennen lässt. Nun ist in jenem moralisch begründeten „Wollen“, dass das „Dasein einer Welt“ sein soll, worin „eine [moralische] Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen“ (VI 133, Anm.), möglich ist107 – d. h. dass „eine Welt überhaupt existiere“, in der diese praktische Idee einer „moralischen Welt“ auch motivierende Kraft habe –, unschwer das Motiv der „sich nach Analogie“ mit der in der Schöpfung aus sich heraustretenden „Gottheit“ wiederzuerkennen. Das von solchen „moralischen“ Impulsen geleitete „Wollen“ muss sich freilich in der praktischen Orientierung an der Aufgabe, „das Weltbeste an uns und anderen zu befördern“, konkretisieren und bewähren, weil es sich doch nur so als ein „Interesse der Vernunft an sich selbst“ (IV 249) legitimiert. Darin ist jedenfalls auch dies enthalten: Dass eine jener Idee der „moralischen Welt“ gemäße Welt sein soll, ist aus moralischen Gründen zu bejahen und „praktisch“ zu befördern, d. h. dies erlaubt auch keine neutrale Indifferenz bzw. Enthaltung; an dieser Idee selbst teilzuhaben, darf dann allein unter dieser Voraussetzung auch gehofft werden und verfällt so auch nicht dem „Eudämonismus“-Verdacht. Wichtige Themen und Begründungsfiguren des IV. Teiles berührend, ist schon hier darauf hinzuweisen: In gestufter Vermittlung bringt sich demzufolge in diesem bejahten „Dass-eine-Welt-überhaupt-existiere“ vornehmlich eine ursprüngliche Sinnaffirmation zur Geltung: Sie ist in der „absoluten Position“ der „Gewissheit“ eines „moralischen Glaubens“ verankert (s. dazu u. IV., 3.), worin in der Tat ein – moralisch fundierter und doch darüber hinausweisender – „Sollens-Sinn“ von besonderer Art zur Geltung kommt, der in der „moralischen Denkungsart“ und den darin begründeten „Vernunftansprüchen“ selbst gewissermaßen schon voraus- bzw. mitgesetzt ist und in dem somit auch das „Urteilen-Müssen“ des unbedingten „praktischen Vernunftbedürfnisses“ seine Basis hat. Nichts anderes als die „moralische Freiheit“ selbst und die darin begründete „Beförde107 Es ist zweifellos immer noch eine kantische Perspektive, wenn der spätere Fichte in seinem „System der Sittenlehre“ anmerkt: „Das Ich soll wollen nach dem vorausgesetzten Begriffe. Dieses Soll ist das Innere Wesen, und der Sinn seines Daseins“ (Fichte XI, 23 [zit. n. Thies 2008, 71]) – gleichwohl ist es nach Kant nicht sein „ganzer Zweck“.
496 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ rung des höchsten Gutes“ (als „moralischer Zweck“) kann „ratio sufficiens“ jenes „dass eine Welt überhaupt existiere“ sein, weil doch nur dies dem Unbedingtheitscharakter des „Moralischen“ genügt, das kein weiteres „Worumwillen“ erlaubt. Es ist dieses faktische, „durch keine Vernunft herauszuklügelnde“ (IV 673, Anm.) „Wunder“, dass die andernfalls eine bloß normativ stumme „Wüste“ bleibende Wirklichkeit, d. i. als bloße „Faktenaußenwelt“, allein in diesem „unbedingten Sollen“ „sinn-sensibel“ aufgebrochen ist. Eben auf diese ursprüngliche Dimension des „Sein-Sollens“ zielt die in jener „Willensbestimmung von besonderer Art“ enthaltene „Sinnaffirmation“, „dass eine Welt sei“, die, dem „Sollen“ der „moralischen Bewährung“ gemäß, einer solchen „moralischen Welt“ gewissermaßen als „absolute Position“ noch voraus bzw. zugrunde liegt – eine Voraussetzung, die sodann den Blick auf eine „allen sittlichen Gesetzen“ angemessene „moralische Welt“ eröffnet, in der bzw. durch die Vernunft erst „sich selbst erhält“. Jene die Ethikotheologie fundierende These, dass ohne den „Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde“ (V 567), weil so in ihr „von keinem Soll die Rede“ wäre, impliziert Kants – auch in dem „Mutmaßliche(n) Anfang der Menschengeschichte“ begegnendes – Erstaunen über das Dasein eines „Weltwesens“, das in Ansprüchen „unbedingter Zwecke“ steht, die mit der dadurch eröffneten „Ordnung der Zwecke“ alle anderen Selbsterhaltungs-Aspekte überschreiten und solche „Faktizität“ des Auftreten eines solchen „Weltwesens“ (sein unbedingtes „Urteilen-Müssen“ und daran geknüpfte Ansprüche) unter keinen anderen evolutionären Hinsichten verständlich werden lässt. Die unabweisliche Frage ist nach Kant also dies: Warum sollte es unter den leitenden Gesichtspunkten bzw. Maßstäben eines „teleologischen Systems in den äußeren Verhältnissen organisierter Wesen“ (V 545 ff ) ein solches „unbedingtes Sollen“ und ein „endzweck“-fähiges Wesen in der Natur selbst geben? Hier sei noch darauf hingewiesen: Das „Besondere“ dieser an der Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ orientierten „Willensbestimmung“ artikuliert sich nicht zuletzt in ihrer moralisch inspirierten unbeirrbaren Insistenz, dass widerfahrenes und end-gültig gewordenes Unrecht von „unparteiischer Vernunft“ weder „mit Zustimmung“ gedacht noch auch nur gleichgültig hingenommen werden darf, weil dies jenem unaufgebbaren „Interesse der Vernunft“ an sich selbst widerstreitet108 (und keineswegs bloß eine „nicht ganz unparteiische Verstandeswaage“ hier den Ausschlag gibt: vgl. I 961), weshalb ein bloß „mechanischer Vorteil“ der „Verstandeswaage“ notwendigerweise durch das „Überwiegen“ praktischer Vernunftansprüche ersetzt wird (s. dazu III., 2.1.1.; IV., 2.2.3.; IV., 3.4.1.; VI., 1.1.2.). Dass Kant selbst sich in diesem Begründungskontext („dass eine Welt überhaupt existiere“) ausdrücklich auf die „unparteiische Vernunft“ beruft, bedeutet ja lediglich dies, dass Vernunft von solcher Orientierung an einem „Sein-Sollenden“ gerade nicht abstrahieren kann. Es ist dies eine Perspektive, die von Kant im Theodizee-Kontext bezeichnenderweise als ein besonderer Aspekt einer „moralischen Zweckmäßigkeit“ angezeigt wird (s. u. VI. Teil). 108 Darauf zielt jene schon erwähnte (s. o. III, Anm. 104) Bemerkung aus einer Reflexion 6317a (aus den frühen 1790er-Jahren) über die „moralisch gesinnete Vernunft“. Deshalb kann nur die in der Religion als „Oberhaupt“ im „Reich der Zwecke“ und als „Urheber der Natur“ gedachte „Gottheit“ zureichender Grund des „höchsten Gutes“ sein.
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Diesen Abschnitt beschließend sei noch kurz auf eine Problemperspektive hingewiesen, die aus der Verbindung jener Kennzeichnung der „Willensbestimmung von besonderer Art“ mit einem besonderen Aspekt der „Endlichkeit der Vernunft“ resultiert und auf auch systematisch bedeutsame Fragen beim späteren Kant vorausweist (s. dazu u. III., 2.1.). Anknüpfend an jene gestufte ethikotheologische Explikation der „transzendentalen Steigerung“ sowie an den von Kant wiederholt betonten Sachverhalt, dass in ihren Ideen die Vernunft „sich selbst schafft“, obgleich diese sich „unumgänglich [!] der Vernunft darbieten“ (vgl. IV 579 f ), ist schon hier bedenkenswert: Wenn dies doch wohl ebenso für jene praktische Idee der „moralischen Welt“ und zuletzt für die „Idee des Ganzen aller Zwecke“ gelten muss – unterstützt nicht auch dies jene Auffassung, dass in dieser gleichermaßen „unumgänglich der Vernunft dargebotenen“ Idee der „moralischen Welt“ die „Willensbestimmung von besonderer Art“ sich an einer ursprünglichen „Sinnaffirmation“ orientiert,109 die auch das „moralische Sollen“ und den darin vorausgesetzten „Glauben an die Tugend“110 gleichsam trägt, ohne damit in eine lediglich subtilere „Heteronomisierung“ der Moral zurückzufallen? Demnach wäre mit jener Besonderheit dieser „Willensbestimmung“ die Reflexion geknüpft, dass dieses „vernunftbegabte Erdwesen“ sich in unabweislichen praktischen Vernunftansprüchen stehend erfährt, d. h. diese „Vernünftigkeit“ zwar „in actu vollzieht“ („realisiert“), gleichwohl sie selbst nicht im eigentlichen Sinne „schafft“. Vielmehr „untersteht“ solchen Ansprüchen dieses „endliche Vernunftwesen“ – das, wohlgemerkt, auch nur in diesem bestimmten Sinne „Subjekt“ des „moralischen Gesetzes“ ist – als ein schon „im Voraus“ Gesetztes; insofern weist solche Reflexion jenes „Sein-Sollen“ als in dem ursprünglichen „Sollens-Sein“ verankert aus, woraus sich auch jener „Glaube an die Tugend, als das Prinzip in uns“ (III 632), speist und jenes „Dasseine-Welt-sein-Soll“ als lebenstragendes und -orientierendes Fundament begreifen lässt. Erneut bestätigt sich so der nicht zuletzt für diese Idee der „moralischen Teleologie“ maßgebliche Zusammenhang der differenzierten „Endzweck“-Bestimmungen: Der als „Endzweck der Schöpfung“ existierende Mensch hat einen vernunft-bestimmten „praktischen Endzweck“, der jedoch nur unter der (sinn-affirmierenden) Voraus-Setzung der Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ möglich ist, wodurch Letzterer mit dem Dasein des Menschen (d. h. des „existierenden Endzwecks“) „zusammengeschlossen“ ist. Dies liegt somit der darauf begründeten „Theologie“ selbst noch voraus (vgl. § 88 der „Kritik der Urteilskraft“) und führt erst im Ausgang davon auf den „theoretischen Begriff von der Quelle, woraus er entspringen kann“ (III 632). Das von Kant aufgenommene traditionelle „Theologumenon“ der „Ehre Gottes“ hängt mit diesen Themen wenigstens indirekt zusammen. 109 So bedenkenswert diese mit der „Willensbestimmung von besonderer Art“ verknüpfte „Sinnaffirmation“ auch sein mag, so ist damit der mögliche Verdacht einer „Sinn“-bezogenen „suppositio absoluta“ indes noch nicht ausgeräumt; vermutlich legt sich auch diesbezüglich eine kritische Besinnung auf den von Kant dem „reflektierenden Glauben“ (s. dazu u. V., 3.) zugedachten Stellenwert nahe. 110 Dieser kommt offenbar auch noch in jener schon zitierten späten Anmerkung Kants zum Ausdruck: „Dass die Welt im ganzen immer zum Besseren fortschreite, dies anzunehmen berechtigt ihn keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet“ (III 647). Dieser „Glaube an die Tugend“ besagt eben ein „natürliches Interesse an der Moralität“ (II 694 Anm.).
498 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ 1.3.3. Die vom späten Kant angezeigte notwendige Vertiefung des Motivs der „Ehre Gottes“ als „Endzweck der Schöpfung“ Ein anderer Aspekt einer Vertiefung der Gottesthematik in diesem „dritten Stadium der Metaphysik“, der ebenfalls in dieser „Preisschrift“ zutage tritt, betrifft nun auch das von Kant thematisierte Motiv der „Ehre Gottes“, auf das er schon im Kontext seiner Begründung des Postulats des „Daseins Gottes“ Bezug genommen hat: „Daher diejenigen, welche den Zweck der Schöpfung in die Ehre Gottes … setzten, wohl den besten Ausdruck getroffen haben. Denn nichts ehrt Gott mehr, als das, was das Schätzbarste in der Welt ist, die Achtung für sein Gebot, die Beobachtung der heiligen Pflicht, die uns sein Gesetz auferlegt, wenn seine herrliche Anstalt dazu [!] kommt, eine solche schöne Ordnung mit angemessener Glückseligkeit zu krönen“ (IV 262 f ). In dieser Charakterisierung der „Ehre Gottes“ als „Endzweck der Schöpfung“ bleibt freilich auch eine Kritik an Leibniz/ Wolff mitzuhören; impliziert doch jene schon wiederholt erwähnte Auffassung Kants, dass ohne den Menschen als moralisches Wesen die „Schöpfung eine bloße Wüste“ bliebe (V 567), ebenso seine Kritik an den gleichsam „endzweck-vergessenen“ Konzeptionen Leibniz/Wolff’scher Prägung; sie richtet sich somit gegen den darin intendierten „theoretisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“, der folglich auch an der Einlösung des „Endzwecks der Metaphysik“ scheitern muss und überdies dem theologischen Motiv der „Ehre Gottes“ nicht gerecht zu werden vermag. Dies wird auch in der schon angeführten Abgrenzung des „ethikotheologischen“ Anspruchs von einer „Physikotheologie“ sowie in der daran geknüpften Mahnung besonders deutlich, den „Begriff von einer Gottheit“ nicht leichtfertig „an jedes von uns gedachte verständige Wesen“ zu verschwenden (vgl. V 562). Zu fragen wäre freilich (auch im Sinne von zu vermeidenden Missverständnissen), ob es denn nicht auf eine andere Verschwendung dieses „Begriffs von einer Gottheit“ hinausläuft, wenn man in ihm die geltend gemachte Unterscheidung der „moralisch-praktischen Vernunft von der technischpraktischen“ (V 583) lediglich als eine illegitime (weil doch allein für Menschen als „endliche Vernunftwesen“ notwendige) Anmaßung der endlichen Vernunft ansehen bzw. verwerfen wollte. Derart hätte wohl Kant selbst weder das Motiv einer „moralischen Weisheit des Welturhebers“ noch dasjenige der „Ehre Gottes“ (in welcher Form auch immer) legitimieren können, zumal eine solche vermeintliche „epistemische“ Rücksicht unvermeidlich die Unterbietung moralischer Sinnansprüche zur Folge hätte und auch der späte Verweis auf den „Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (III 637), als den angemessenen „theoretischen Begriff Gottes“ als im Grunde unverständlich bzw. hinfällig geworden wäre. Mit jenem Motiv der „Ehre Gottes“ – das sich allein in dem sich „nach der Analogie mit der [aus sich heraustretenden] Gottheit“ verstehenden Menschen zu konkretisieren vermag, der sich an der praktischen Beförderung des „Weltbesten an uns und anderen“ orientiert – durchbrach Kant den in den genannten metaphysischen Konzeptionen der „neueren Zeit“ maßgebenden Gedanken einer „unendlichen Liebe Gottes“, in der bzw. durch die dieser auf sich selbst bezogen bleibt und die Vernunftbegabung des Menschen darin lediglich als probates „Mittel“ einer solchen göttlichen Selbstbezüglichkeit dient.
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Denn, so Kants Urteil, der konstitutive „moralisch-teleologische“ Aspekt gerate unweigerlich zu kurz, wenn es etwa in Leibnizens Kennzeichnung des „Reichs der Zwecke“ heißt: „Dieses Reich Gottes, diese wahrhafte Universal-Monarchie, ist eine moralische Welt in der natürlichen Welt und das erhabenste und himmlischste unter den Werken Gottes. In ihr besteht die wahre Ehre Gottes, die er ja nicht haben würde, wenn seine Größe und seine Güte nicht von den Geistern erkannt [!] und bewundert [!] wären. Auch übt er seine Güte ganz eigentlich in bezug auf diesen Gottes-Staat, während sich seine Weisheit und seine Macht allenthalben zeigen.“111 Auch Wolff hatte die Hauptabsicht und den „Endzweck“ aller Wirklichkeit noch darin gesehen, die Herrlichkeit Gottes in der Schöpfung zu offenbaren und diese im erkennenden Geist des Menschen sodann auch „lobpreisend“ bewusst werden zu lassen.112 Diese von Leibniz/Wolff vertretene Auffassung, die Frage nach dem „Wozu“ der Welt sei schon hinreichend beantwortbar im Verweis auf die Notwendigkeit des Erkenntnisvermögens des Menschen, „in Beziehung auf welches das Dasein alles übrigen in der Welt erst allererst seinen Wert bekommt, etwa damit irgend jemand da sei, welcher die Welt betrachten könne“, erweist sich nach Kant in mehrfacher Hinsicht als unzureichend113: „Denn“, so betont er zunächst, „wenn diese Betrachtung der Welt ihm doch 111 Leibniz, Monadologie § 86. Dem setzt Kant eben das Motiv entgegen, dass allein der sich dem Anspruch des moralischen Gesetzes unterstellende und damit „das Weltbeste an uns und anderen“ befördernde Mensch Gott „die Ehre erweist“, weil das dieserart aus sich heraustretende „vernünftige Weltwesen“ eben darin sich „nach der Analogie mit der Gottheit“ denkt (VI 133, Anm.) und das „Dass-eine-moralische-Welt-sein-soll“ in moralischer Bewährung in ihr affirmiert. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Kant dem ersten Teil des zitierten § 86 der Leibniz’schen „Monadologie“ wohl durchaus zugestimmt hätte, wonach „die wahre Ehre Gottes“ in der Verwirklichung der „moralische(n) Welt in der natürlichen Welt“ besteht. 112 Kant hatte diesbezüglich vornehmlich die Begründung der Weltstellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ bei Ch. Wolff vor Augen: „Die Hauptabsicht der Welt sei die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes, das ist, das Gott die Welt deswegen hervorzubringen beschlossen, auch nach seinem Ratschluss wirklich hervorgebracht, damit man seine Vollkommenheiten daraus erkennen möge [….] Unter allen lebenden Geschöpfen ist allein der Mensch der Gott aus sich und den übrigen Geschöpfen erkennen kann. Derowegen ist er auch die einzige sichtbare Creatur auf dem Erdboden dadurch Gott seine HauptAbsicht erreichen kann, warum er die Welt gemacht … Nämlich ihn zu erkennen und als einen Gott ehren … Soweit kann man sagen, dass alles um des Menschen willen ist, der Mensch aber dazu da ist, Gott zu ehren“ (Wolff 1726, 2, 490–492); vgl. ebd. § 242. Vor allem gegen diese Wolffsche Begründung ist auch Kants Refl. 6153 (AA XVIII, 469) gerichtet: „Gott hat die Welt zu seiner Ehre, nicht um seiner Ehre willen erschaffen, d. i. der objektive, nicht der subjektive Zweck; die Ehre ist objektiv, was an sich selbst das vernünftige Urteil über allen Wert der Person bestimmt. Gott hat also die Welt um der vernünftigen Wesen willen erschaffen, und zwar sofern sie der Schätzung ihrer selbst und ihres wahren Werts fähig sein sollten“. Und in der Reflexion 6453 (AA XVIII, 724) heißt es eben in diesem Sinne: „Also hat Gott die Welt zu seiner Ehre, nicht um geliebt zu werden, geschaffen.“ 113 Schon hier sei darauf hingewiesen, dass Kants Bestimmung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ (ohne den die Schöpfung bloße „Wüste“ wäre) bzw. die Kennzeichnung dieses „Endzwecks“ als „Ehre Gottes“ insofern stets auch gegen Leibnizens Gleichsetzung der „universalen Harmonie“ mit der „Ehre Gottes“ gerichtet ist; Letztere sei allein im Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ begründet, und diese Stellung wiederum im „Unbedingten der Freiheit“ fundiert, die auch erst eine „moralisch-praktische Verknüpfung“ ermögliche; deshalb sei die Bestimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ allein in der „moralischen Teleologie“ zu verankern bzw. in dem diese Idee explizierenden „praktisch-dogmatischen Überschritt“ angemessen zu leisten; der „Endzweck der Schöpfung“ als „Ehre Gottes“ bleibe hingegen in dem „theoretisch-praktischen Überschritt zum Übersinnlichen“ noch ganz unbegründet.
500 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ nichts als Dinge ohne Endzweck vorstellig machte, so kann daraus, dass sie erkannt wird, dem Dasein derselben kein Wert erwachsen; und man muss schon einen Endzweck derselben voraussetzen, in Beziehung auf welchen die Weltbetrachtung selbst einen Wert habe“ (V 567). Abgesehen davon, dass das Motiv eines „Endzwecks der Schöpfung“ auf diese Weise nicht hinreichend ausgewiesen werden kann, liefe eine solche Begründung des „Endzwecks der Schöpfung“ als „Ehre Gottes“ genauer besehen sogar unvermeidlich auf eine Degradierung des Menschen zu einem bloßen „Mittel“ bzw. auf pure Fremdbestimmung hinaus. Erst recht wäre mit einer solchen problematischen Verankerung des „Endzwecks“ in der „ästhetischen Weltbetrachtung“ die bloße „Kulturfähigkeit“ des Menschen keineswegs überschritten, wäre also lediglich von relativem Wert114 und verbliebe somit „endzweck-vergessen“ innerhalb der bloßen „Kultur“, d. i. des noch ganz untergeordneten „letzten Zwecks der Natur“115. Im Sinne dieser kritischen Zielrichtung darf dann wohl auch die Bemerkung aus dieser „Preisschrift“ verstanden werden116, dass für eine angemessene Bestimmung bzw. Beantwortung der Frage nach der „Ehre Gottes“ das Dasein des Menschen als (in seiner moralischen Bestimmung begründeter) „existierender Endzweck“ vorausgesetzt ist, weil die in jenem „Endzweck“-Gedanken gedachte „moralisch-teleologische“ Vollkommenheit „auf den Menschen selbst ursprünglich gegründet sein muss“ und „nicht die Wirkung, also auch nicht der Zweck sein kann, den ein anderer zu bewirken sich anmaßen könne“ (III 646). Ausschließlich das „Unbedingte der Freiheit“ und der darin fundierte „moralische Zweck“ sei als zureichender Grund für das theologische Motiv der „Ehre Gottes“ anzusehen,117 weil ein lediglich in „theoretisch-praktischer“ Absicht unternommener „Überschritt zum Übersinnlichen“ dem damit verbundenen „unbedingten“ An114 Ein „allervernünftigstes Wesen“ mag vermöge seiner „Anlage für die Menschheit“ (IV 672 f, Anm.) (also der „Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen“: IV 550) zwar durchaus der regulativen Vernunftidee des „inneren Naturzwecks“ bzw. eines „Ganzen dieser Zwecke“ – also ganz ohne Rekurs auf die Idee einer „moralisch-praktischen Zweckmäßigkeit“ – fähig sein; gleichwohl ist es die „praktisch reflektierende Urteilkraft“, die diese Perspektive notwendig erweitert, sofern sie ein umgreifenderes Selbstverständnis und eine entsprechende „Selbstverortung“ des Menschen im „System der Zwecke“ eröffnet. 115 Erst recht ist natürlich die auf „Wohlbefinden“ reduzierte „Glückseligkeit“ kein „zureichender Grund“ für die Bestimmung des „Endzwecks der Schöpfung“: „Wären dagegen auch vernünftige Wesen, deren Vernunft aber den Wert des Daseins der Dinge nur im Verhältnisse der Natur zu ihnen (ihrem Wohlbefinden) zu setzen, nicht aber sich einen solchen ursprünglich (in der Freiheit) selbst zu verschaffen im Stande wäre: so wären zwar (relative) Zwecke in der Welt, aber kein (absoluter) Endzweck, weil das Dasein solcher vernünftigen Wesen doch immer zwecklos sein würde“ (V 575 f ). 116 Auch die späteren religionsphilosophischen Aufsätze Kants widersprechen der Auffassung Dierksmeiers, „dass die Postulatenlehre recht eigentlich einen Atavismus darstellt, d. h. einen verkümmerten Fortbestand einer auf der Höhe des entfalteten Kantischen Systems nicht mehr erforderlichen Theoriekonstruktion, deren Sinn und Zweck sich allein daraus ergibt, dass zum Zeitpunkt der Niederschrift jenes Theorems, also 1787, das System Kants eben noch nicht vollständig entfaltet war und jener Hilfskonstruktion noch bedurfte“ (Dierksmeier 2005, 76). 117 In solcher Hinsicht wäre nunmehr zu sagen: Der Mensch bzw. die Moralität sind so gesehen nicht selbst „Endzweck der Schöpfung“, sondern jene Voraussetzung, ohne die von einem „Endzweck der Schöpfung“ nicht die Rede sein könnte. – So wie die Schöpfung ohne den Menschen als „Endzweck“ eine „Wüste“ bliebe, so ist nach Kant auch die „Ehre Gottes“ nicht ohne die „Tugend des Menschen“ zu denken; beide Aspekte sind im „Endzweck der Schöpfung“ vereint.
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spruch nicht gerecht werden kann. Es ist infolgedessen eben auch nicht die Bewunderung für die göttliche Schöpfung durch den erkenntnis-begabten Menschen, die nach Kant der „wahren Ehre“ und Herrlichkeit Gottes noch fehlt, sondern allein dessen Affirmation, „dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (IV 652) – eine Forderung, die in Verbindung mit dem frühen Hinweis: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ und im Blick auf jenes „Analogie“-Motiv des „Gemeinspruch“-Aufsatzes noch eine besondere Zuschärfung gewinnt. Die Verpflichtung des als „Endzweck“ exis tierenden Menschen ist es allein, in dieser Schöpfung „das Weltbeste an uns und anderen zu befördern“ und in solchem Aus-sich-Heraustreten des „wahren Gottesdienstes“ (s. u. IV., 4.3.) gewissermaßen jenes ursprüngliche Heraustreten der nicht in sich verschlossen gebliebenen Gottheit (VI 133, Anm.) zu wiederholen und zu vollenden, ohne das dieses Motiv der „Ehre Gottes“ nicht unverkürzt wahrgenommen werden kann.118 Jenes moral-transzendierend affirmierte „Dass-eine-Welt-sein-soll“ (gemäß der Idee der „moralischen Welt“) „realisiert“ sich allein im „praktischen“ Widerstand – „(p)raktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist“ (II 673) – gegen bestehendes „Nicht-sein-Sollendes“ und erweist sich auch nur so als jenes „überschießenden“ Sinnaspekts nicht „unwürdig“, der diese „Hoffnung“ in besonderer Weise auszeichnet. Dieses Motiv der „Ehre Gottes“ erfährt indes durch die Kennzeichnung des „Zwecks der Schöpfung“, die ausschließlich als „Liebe des Welturhebers“ gedacht werden könne (IV 632), noch eine weitere Zuspitzung. Im Blick darauf sowie auf jene für das „dritte Stadium“ der Metaphysik geltend gemachte teleologisch-ethikotheologische Entfaltung der „Gottesidee“ ist so auch hier daran zu erinnern, dass jener frühe kantische Anspruch, wonach das „in individuo“ gedachte „Ideal der Vernunft“ lediglich weit „von der objektiven Realität entfernt zu sein“ scheint, doch erst in jenem Bezug auf den sich „nach der Analogie mit der [aus sich herausgetretenen] Gottheit denkenden Menschen“ eine angemessene Einlösung findet. Und es spricht wohl vieles dafür, das in jenem „Sonnengleichnis“ implizierte eigentümliche Teilhaftigwerden des Sonnen-Reflexes (in „der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft“: III 388)119 auch im Sinne einer späten Verknüpfung dieser Motive aufzunehmen, wofür die kantische Version des „Sonnengleichnisses“ gleichsam lediglich eine Formel gefunden hat (s. dazu u. III., 3.1.1).120 118 In diesem – Autonomie voraus- bzw. freisetzenden – Sinne steht das thomistische Motiv der „Ehre Gottes“ der kantischen Kennzeichnung derselben näher als jene Leibniz’-Wolff’sche Bestimmung: „ein jedes Ding [ist] deshalb geschaffen, weil es gut ist, selbst zu sein. [quia bonum est ipsum esse] […] Darüber hinaus ist das ganze Weltall … hingeordnet auf Gott als auf sein Ziel, sofern in ihnen durch eine gewisse Nachbildung die göttliche Gutheit dargestellt wird zur Ehre Gottes. Freilich haben die vernunftbegabten Geschöpfe darüber hinaus noch in ganz besonderer Weise Gott zum Ziel, den sie erreichen können durch ihre Tätigkeit, durch Erkennen und Liebe.“ (Thomas v. Aquin, Sth, qu. 65, art. 2) 119 Die in Fichtes „Bestimmung des Menschen“ vorgenommene Charakterisierung der „Stimme des Gewissens in meinem Innern“ als das „durch mein Vernehmen in meine Sprache übersetztes Orakel aus der ewigen Welt“ (SW II, 298), ist unschwer mit Kants „Reflexe“-Motiv in Beziehung zu bringen. 120 Nur angemerkt sei, dass auch Kants „kritisch gebrochene“ Rezeption des platonischen „Sonnengleichnisses“ indirekt eine Kritik an einer „endzweck“-vergessenen Bestimmung des Motivs der „Ehre Gottes“ enthält, sofern dieser „Reflex“ das „Übersinnliche in uns ist“. Dass Kant andererseits das „moralische
502 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Von daher betrachtet erscheint Kants Notiz121: In „der transcendentalen Theologie gibts keinen Anthropomorphismus, und es ist also nicht nötig, etwas per analogiam Gott beizulegen“, sowohl im Blick auf jenes späte Motiv der „Liebe des Welturhebers“ (als „Endzweck der Schöpfung“) als auch mit Rücksicht darauf höchst bemerkenswert, dass der „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen, … in der Philosophie nicht umgangen werden [kann], so abstrakt er auch ist“ (III 389, Anm.). Im Sinne einer inneren „Zusammenstimmung“ sind diese differenzierten Bestimmungen erst in der Einheit von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ vereinigt, die so auch erst – über eine notwendige Differenzierung der Ansprüche der „transzendentalen“, der „natürlichen“ und der „moralischen Theologie“ – den „Endzweck der Metaphysik“ zu thematisieren vermag. In dieser kritischen Vermittlung des „Schul“- und „Weltbegriffs der Philosophie“ und im Ausblick auf diesen „Endzweck der Metaphysik“ spielt Kants Konzeption eines auch kritischen Ansprüchen standhaltenden „symbolischen Anthropomorphismus“ bekanntlich eine bedeutsame Rolle, von der deshalb im übernächsten Kapitel (III., 3.) noch ausführlich die Rede sein soll. Eine naheliegende interessante Schlussfolgerung daraus sei im Blick auf spätere Überlegungen schon hier angeführt: Dass allein der Ausgang von der Weltstellung des Menschen (d. i. des existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ und von dessen moralisch begründetem „Endzweck“) eine solche Begründung der „Ehre Gottes“ als „Endzweck der Schöpfung“ ermöglicht, erlaubt doch wohl auch den Umkehrschluss, dass diesem Endzweck-Status des Menschen und der daran geknüpften „Bestimmung des Menschen“ nur ein „moralischer Welturheber“ als „ratio essendi“ bzw. als „terminus ad quem“ menschlicher Hoffnung genügt. Allein ein „moralischer Welturheber“ als ein der „Weltordnung vorstehender Regierer“ (IV 277) vermag deshalb, so ist Kant wohl auch hier zu verstehen, „terminus ad quem“ und „zureichender Grund“ der Hoffnung eines „vernünftigen Weltwesens“ zu sein, das als „leiblich“ daseiende und doch geistig „individuierte“ Existenz, in seiner „Einzig(artig)keit“ gewissermaßen, wirklich ist; die darin leitende Absicht Kants, dieser Individualität und „personalen Existenz“ auch wirklich „gerecht“ zu werden, liegt sodann vermutlich jener (späten) Bestimmung von „fides“ (s. dazu u. IV., 3.1.) und dem dieser Hoffnung entsprechenden „terminus ad quem“ als „Urquell alles Guten, als seinem Endzweck“ (III 636) zugrunde. Wohl nichts anderes besagt dann auch Kants aufschlussreicher Hinweis im opus postumum: „Da nun Weisheit, in strikter Bedeutung, nur Gott beigelegt werden kann und ein solches Wesen zugleich mit aller Macht begabt sein muss, weil ohne diese der Endzweck (das höchste Gut) eine Idee ohne Realität sein würde, so wird der Satz: es ist ein Gott, ein Existenzialsatz.“122 In gebotener Beachtung einschlägiger Bemerkungen des späten Kant Gesetz“ als den von der Vernunft vorgehaltenen „Spiegel“ ansieht, in dem die „moralische Persönlichkeit“ sich selbst erkennt, erweist auch in solchem Zusammenschluss die unauflösliche Verbindung von Gottesidee und der Freiheitsthematik bei Kant. 121 Refl. 6283, AA XIX, 549 (datiert für die Mitte der 1780er-Jahre). 122 AA XXI, 149. Dies bedeutet den erwähnten Sachverhalt, dass der Begriff des „Übersinnlichen“ zwar nicht als Erdichtung verabschiedet, sondern „für leer an Inhalt“ gehalten wird, während „praktische Vernunft jetzt für sich selbst, und ohne mit der spekulativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen Ge-
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sei schon hier betont: Keineswegs wird hier also etwa die epistemische Begrenztheit des „Nicht-anders-denken-Könnens“ als maßgeblicher Grund dafür geltend gemacht, um „die Möglichkeit des höchsten Guts“ allein durch den Rekurs auf die Gottesidee stützen zu können; vielmehr ist es allein das einem unbedingten Vernunftanspruch adäquate „Nicht-anders-wollen-Können“, worin dieser Rekurs auf die Notwendigkeit Gottes als eines „moralischen Welturhebers“ hinreichend fundiert ist. Eben deshalb kann auch nur ein „theistischer Gott“ die angemessene „ratio essendi“ des „Endzwecks der Schöpfung“ und somit auch des „Endzwecks der praktischen Vernunft“ sein und erweist sich insofern (mit einem berühmten Wort Schellings123 gesprochen) als dasjenige, was „wir eigentlich wollen [nicht: wünschen!], wenn wir Gott wollen“. Darin ist auch begründet, dass Kant nicht von einer „Rechtfertigung der Natur“, sondern von einer solchen der „Vorsehung“ spricht: „(a)nstatt Vorsehung sollte man Vorsorge sagen“124 –, worauf jenes „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ allein beruhen kann und auch in dieser Hinsicht natürlich jeden Rekurs auf eine bloße Idee „eine(r) blindwirkende(n) ewige(n) Natur als [der] Wurzel der Dinge“ (II 557) als völlig unangemessen verwirft. Nur ein solcher „zur Religion tauglicher“ „lebendiger Gott“ als „freihandelnder“ Gott (d. i. als „weiser Welturheber“) kann – und zwar als zureichender Grund und als Ziel, also als „Urquell und Endzweck“ – der adäquate „terminus ad quem“ menschlicher Hoffnung sein, denn auch für Kant gilt in dieser Hinsicht zweifellos Schellings Motiv: „Person sucht Person“.125 Allein auf die darin begründete „Schöpfung“ als „Dasein der Welt“ zielt ja auch jene in der „Willensbestimmung von besonderer Art“ zutage tretende „Sinnaffirmation“, „dass eine Welt sei“, und inspiriert so jenen kantischen Rekurs auf „einen theoretischen Begriff von der Quelle“, woraus der in moralisch-praktischer Rücksicht unentbehrliche „Endzweck“ „entspringen kann“ (III 632), wenn doch andernfalls diese „Schöpfung“ bedeutungs- und bewandtnislose „Faktenaußenwelt“ bliebe. Demgemäß ist der praktisch-postulatorisch vermittelte Vernunftglaube auf jene unumgänglichen Voraussetzungen gerichtet – und zwar gleichermaßen im Sinne einer Legitimation wie auch in kritischer Begrenzung praktischer Vernunftangenstande der Kategorie der Kausalität, nämlich der Freiheit, Realität verschafft (obgleich, als praktischem Begriffe, auch nur zum praktischen Gebrauche), also dasjenige, was dort gedacht werden konnte, durch ein Faktum bestätigt“ (IV 110). Gemäß den korrespondierenden Begriffen der „transzendentalen Freiheit“ und des „transzendentalen Ideals“ (der Begriff von Gott „in transzendentalem Verstande gedacht“: II 521) wäre die schon zitierte „moralische Gewissheit“ des „Ich bin gewiß, dass ein Gott sei …“ nun korrelativ zum Hinweis Kants, dass „durchs moralische Gesetz jene transzendentale Idee [der Freiheit] realisiert und … der Begriff der Freiheit, als Kausalität, … bejahend erkannt“ (AA XI, 155) wird, so gleichsam die anderen mit sich „zieht“ und ihnen solcherart einen „postulatorischen“ Charakter verleiht. 123 Schelling X, 21. 124 Refl. 8082, AA XIX, 623. 125 Schelling XI, 566. – Der späte Fichte steht dem, ungeachtet des ganz anderen Begründungsganges, durchaus nahe: „Nur in der Form der Freiheit ist Gott sichtbar, – wie er überhaupt sichtbar ist, im Bilde, im Gesichte“ (IV, 522) – aber eben doch nur von „moralischen Wesen“ „gesichtet“. Kant hätte – mit Schelling – Feuerbachs Befund wohl durchaus zugestimmt und dennoch daraus nicht dessen religionskritische Konsequenzen gezogen: „Der wahrhaft religiöse Mensch legt unbedenklich sein Herz in Gott; Gott ist ihm ein Herz, das für alles Menschliche empfänglich. Das Herz kann nur zum Herzen sich wenden; es findet nur in sich selbst, in seinem eigenen Wesen Trost“ (L. Feuerbach 1903 f, Bd. 6, 67).
504 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ sprüche –, unter denen allein der ganze „Endzweck der menschlichen Vernunft“ gemäß dem unabweislichen „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ auszuweisen ist.126 Auch in solcher Problemakzentuierung wird die von Kant durchaus mit Schelling geteilte Intention sichtbar, dass die Gottesfrage nicht hinreichend gestellt bzw. beantwortet werden kann, wenn von dem in praktischen Vernunftansprüchen wurzelnden lebenstragenden – und entsprechend umgreifenden – Orientierungs-Interesse der menschlichen Existenz abgesehen wird. Jene von Schelling betonte „Antinomie zwischen dem, was aus der Vernunft [als ‚Gott am Ende‘] mit Notwendigkeit folgt, und dem, was wir eigentlich wollen, wenn wir Gott wollen“,127 hätte in dieser Hinsicht in dem kantischen Hinweis wenigstens eine motivliche Vorgestalt, dass der in der Philosophie zwar unumgängliche „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ von dem „für die Religion tauglichen Begriff von Gott“ genau zu unterscheiden bleibt – ohne dass damit indes die von Kant errichteten kritischen „Haltesignale“ außer Kraft gesetzt wären. Dieser wichtige Aspekt der kantischen Fundierung der Religionsphilosophie macht so auch ein der kritischen Sinnintention der Postulatenlehre entsprechendes Anliegen Schellings verständlich: „Vernunft und Gefühl befriedigt kein Gott, der ein lauteres Es ist, sie verlangen einen, der Er ist.“128 In solcher Hinsicht hat noch der späte Kant, mit Schelling gesprochen, die Auffassung vertreten bzw. beibehalten: Nichts anderes als die „Einheit des Menschen mit Gott selbst“ kann infolgedessen, in Vollendung kreatürlicher Existenz,129 126 Mit Recht bemerkt U. Barth (2005b, 288): „Kant ‚beweist‘ nicht eigentlich die Existenz Gottes, sondern expliziert deren Annahme als eine immanente Setzung des sich realisierenden praktischen Selbstbewusstseins, das um der geforderten Hervorbringung des Höchsten Guts willen sich dessen Ermöglichungsbedingungen, soweit sie die eigene Handlungskompetenz überschreiten, vergewissert.“ 127 Schelling X, 21. Freilich: „Der Sache nach war jener reine Rationalismus schon in Kants Kritik enthalten. Kant lässt der Vernunft … nur den Begriff Gottes, und … so macht er auch für den Begriff Gottes keine Ausnahme von der Regel, dass der Begriff eines Dinges nur das reine Was desselben enthält, nichts aber von dem Dass, von der Existenz. Kant zeigt allgemein, wie vergeblich das Bestreben der Vernunft sei, mit Schlüssen über sich selbst hinaus zur Existenz zu kommen (in diesem Streben aber ist sie nicht dogmatisch, denn sie erreicht ja ihren Zweck nicht, sondern bloß dogmatisierend)“ (Schelling XIII, 83). 128 Schelling VIII, 255. 129 Dieses Motiv kommt schon beim frühen Kant zum Ausdruck: „Eine Glückseligkeit, welche die Vernunft nicht einmal zu erwünschen sich erkühnen darf, lehret uns die Offenbarung mit Überzeugung hoffen. Wenn denn die Fesseln, welche uns an die Eitelkeit der Kreaturen geknüpft halten, in dem Augenblicke, welcher zu der Verwandlung unseres Wesens bestimmt worden, abgefallen sein, so wird der unsterbliche Geist, von der Abhängigkeit der endlichen Dinge befreiet, in der Gemeinschaft mit dem unendlichen Wesen, den Genuss der wahren Glückseligkeit finden“ (I 344). Vgl. dazu auch Kants Hinweis auf die von Christus in Aussicht gestellte, freilich an die moralische Bewährung geknüpfte „Gemeinschaft mit Gott“ (AA XIX, 197). – Auch die „moralisch konsequente Denkungsart“ verdankt sich dem in der „Geschichte der reinen Vernunft“ durchlaufenen Reinigungs- und Reifungsprozess, und führt darin zu der Einsicht, dass diese „moralisch konsequente Denkungsart“ in einer anderen Hinsicht sehr wohl „unvermeidlich“ „auf die Idee eines anderen Wesens über ihm“ führt, obgleich Kant sich offenbar auch für diese Einsicht auf das Licht der „durch hergebrachte Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ beruft: „Epikur wollte der Tugend die Triebfeder geben und nahm ihr den inneren Wert. Zeno wollte der Tugend einen inneren Wert geben und nahm ihr die Triebfeder. Nur Christus gibt ihr den innern Wert und auch die Triebfeder … Die Triebfeder aus der andern Welt ist auch schon an sich selbst der Entsagung auf allen Vorteil gleich. Sie sind allein nicht zufällig oder ungewiss und diesen zur Regel. Die andere (intellectuale) Welt ist eigentlich die, wo die Glückseligkeit genau mit der Sittlichkeit zusammenstimmt … Die andere Welt ist ein notwendig moralisches Ideal. Ohne dieses ist die moralische Gesetzgebung ohne Regierung. Sie
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als der eigentliche Inhalt der „Idee des höchsten Guts“ (des „vollständigen Wohls“) für den Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ gelten.130 Das darin zutage tretende, gewissermaßen in gestufter Form akzentuierte „Kreditiv“ zeigt somit einen wichtigen Aspekt der „teleologia rationis humanae“ an; es ist die eben in dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ angezeigte Konvergenz, die der besonderen Weltstellung des Menschen als „conscientia mundi“ und seiner je besonderen Individualität „gerecht“ zu werden vermag und worin sich auch „Vernunft, Herz und Gewissen“ (IV 813) als anerkannt wiederfinden. Eine späte kantische Gedankenfigur über die Zweckverbindung der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“, die seine Ethikotheologie weiterführt, bietet hierfür einen bedeutsamen Anknüpfungspunkt.
allein geht auf den innern Wert der Handlungen. Durch die gehoffte Belohnung der andern Welt wird die Tugend uneigennützig und hat doch eine Stütze oder Zuflucht. Die Triebfeder ist den Sinnen so weit als möglich entzogen“ (Refl. 6838, AA XIX, 176). 130 Vgl. AA XXIII, 69: „So ist der Begriff von Gott eine Idee der Vernunft die uns schlechterdings notwendig ist weil sie allein das Unbedingte zu allem Bedingten aus Erfahrungsbegriffen an die Hand gibt“ – wenngleich sich für die Vernunft eben erst „in ihrer praktischen Erkenntnis Data [das sind freilich von ihr selbst hervorgebrachte, eben als ein Factum der Vernunft] finden, jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen und auf solche Weise dem Wunsche der Metaphysik gemäß über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus […] zu gelangen“ (II 28).
2. Ein Blick auf Kants späte „Preisschrift“: Die im „archimedischen“ Punkt der Freiheit verankerte „Zweckverbindung“ der Vernunftideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ In systematischer Hinsicht ist die Einbeziehung dieser „Preisschrift“ Kants nicht zuletzt deshalb erforderlich, weil sie die für den „Endzweck der Metaphysik“ unverzichtbare Vermittlung von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ in besonderer Zuschärfung anzeigt und auch eine Vertiefung der kantischen Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“ zur Folge hat. Zunächst sei rückblickend eine bemerkenswerte motivliche Stufung vergegenwärtigt: Den bedeutsamen Ertrag des „kritischen Geschäfts“, die „Möglichkeit“ der Freiheits- und der Gottesidee als „grenzbegrifflich“ denkbar auszuweisen, hat Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ sodann zu dem Nachweis ausgedehnt, dass und wie an den „Begriff der Freiheit, sofern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, alle andere(n) Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit)“ anschließen; während diese als bloße – obgleich unentbehrliche – „Ideen“ der spekulativen Vernunft jedoch „ohne Haltung“ bleiben, sollen sie erst „mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität“ erhalten (IV 107). Ermöglicht wurde dies zunächst durch die erst über die „praktische Vernunft“ eröffnete „Bestimmbarkeit“ und „Bedeutungsverleihung“ dieser grenzbegrifflich-„proble matischen Begriffe“; ihren Status als „Postulate“ gewinnen die solcherart zwar „immanent gewordenen“, d. h. zu „Bedeutung in praktischer Absicht“ gelangten „Vernunftideen“ allerdings erst in einem weiteren Schritt – nämlich dadurch, dass das darin Gedachte nunmehr auch als „Voraussetzungen in praktisch notwendiger Rücksicht“ explizit „gesetzt“ wird – d. h. als theoretische „Positionen“, die sich bzw. ihre Legitimation dem unbedingten Anspruch des Moralisch-Praktischen verdanken.131 Es ist freilich genau zu unterscheiden: Dass „vermittelst ihrer Beziehung aufs Praktische“ die „transzendentalen Ideen objektive Realität“ erhalten, besagt zunächst lediglich ihre „Bestimmbarkeit“, während davon die „objektive Realität“ im Sinne des „Daseins“ (als „praktisch“ verwurzelte und auch legitimierte „theoretische Voraussetzungen“ noch unterschieden bleibt; erst die Zusammenführung der „Ethikotheologie“ (der darin bestimmten „Gottesidee“)
131 Hier ist daran zu erinnern, dass Kant schon in der „ersten Kritik“ die „transzendentalen Ideen“ als „theoretische Stütze“ der „moralischen Ideen und Grundsätze“ (II 445) geltend gemacht hat; umgekehrt gewinnen die erstgenannten erst dadurch nach Kant „objektive Realität“: „Diese Postulate sind nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht, erweitern also zwar nicht das spekulative Erkenntnis, geben aber den Ideen der spekulativen Vernunft im allgemeinen (vermittelst ihrer Beziehung aufs Praktische) objektive Realität und berechtigen sie zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaßen könnte.“ (IV 264)
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mit dem postulatorisch ausgewiesenen „Ich will, dass ein Gott sei …“ erlaubt die notwendige Einheit beider Aspekte, die erst im IV. Teil (s. IV., 3.) ausgewiesen werden kann. Schon in der „ersten Kritik“ hat Kant ausdrücklich „versuchsweise“ im Blick auf eine „teleologia rationis humanae“ dies in Aussicht gestellt: „Nun bleibt uns noch ein Versuch übrig: ob nämlich auch reine Vernunft im praktischen Gebrauche anzutreffen sei, ob sie in demselben zu den Ideen führe, welche die höchsten Zwecke der reinen Vernunft, die wir eben angeführt haben, erreichen, und diese also aus dem Gesichtspunkte ihres praktischen Interesse nicht dasjenige gewähren könne, was sie uns in Ansehung des spekulativen ganz und gar abschlägt“ (II 676). Ebendies fundiert den in der „zweiten Kritik“ geleisteten Aufweis, dass erst die Verbindung der „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft und [die] praktische Erweiterung derselben“ (IV 275) jenen „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ ermöglicht, in dem „endliche Vernunft“ sich selbst erhält. Sodann hat Kant den aus dieser Verbindung resultierenden „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ in der „Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft“ zu dem Anspruch weitergeführt, dass solcherart durch die Verknüpfung dieser „Ideen des Übersinnlichen“ (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) „untereinander“ allererst „Religion“ möglich werde (V 606) – eine Verknüpfung, die in der im „moralischen Gesetz“ offenbar werdenden Wirklichkeit der „Idee der Freiheit“ als dem „archimedischen Punkt“ verankert bleibt, d. h. in jener besonderen „Idee“, die, als „ratio essendi“ des Bewusstseins des „moralischen Gesetzes“, selbst unter die „Scibilia mit gerechnet werden muss“ (V 599). Daraus ergibt sich: Diese zunächst als möglich geltend gemachte „Verknüpfung“ der drei „reinen Vernunftideen“, die seine „Ethikotheologie“ beschließt, findet sodann noch eine Verdichtung in der teleologischen Konzeption eines „Zusammenschlusses“ dieser Ideen, die nunmehr in dieser „Preisschrift“ bestimmend wird. Darin hat sich der Aufweis der „Kompossibilität“ bzw. „Kohärenz“ der „Vernunftideen“ zu einer „Zweckverbindung“ des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ (III 646; 632) gefestigt; diese hat Kant auch als „Organisation der reinen praktischen Vernunft“ charakterisiert, „wo erstlich das Subjekt der allgemeinen Gesetzgebung, als Welturheber, zweitens das Objekt des Willens der Weltwesen, als ihres jenem gemäßen Endzweckes, drittens der Zustand der letztern, in welchem sie allein der Erreichung desselben fähig sind, in praktischer Absicht selbstgemachte Ideen sind“ (III 650).132 Darauf zielt offenbar das von ihm verwendete Bild, dem zufolge das innere Gefüge der „Ideen des Übersinnlichen“ – d. i. jenes „System der Voraussetzungen“ – diese „von uns selbst gemachten Ideen“ zu einem kreisförmig gedachten „systematischen Ganzen“ „zweckmäßig“ zusammenschließt.133 Einer „moralisch
132 Diese „gewisse Organisation der (praktischen) Vernunft“ manifestiert sich eben in der „zweckmäßigen und in ihrer Form beharrlichen Anordnung der Teile“ (AA XXII, 33), d. h. hier: in der „Zusammenstimmung“ der „Vernunftideen“, wodurch allein die „Selbsterhaltung der Vernunft“ gewährleistet ist. Auch hier ist in diesem Sinne noch einmal auf jenen analogen Sachverhalt zu achten, dass Kant die Idee einer „moralischen Teleologie“ und deren Gegenstand, den „Endzweck aller Dinge“, ausdrücklich „nach der Analogie mit der physischen Teleologie, welche letztere uns die Natur wahrnehmen lässt“ (III 647), versteht. Jener Rekurs auf diese „gewisse Organisation der praktischen Vernunft“ darf aber wohl auch so verstanden werden, dass eben darin sich jene „moralische Gewissheit“ manifestiert. 133 Im Blick darauf ist es nicht uninteressant, dass Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Religionsschrift“ auf ein „reine(s) Vernunftsystem der Religion“ verweist (IV 659).
508 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ konsequenten Denkungsart“ zufolge soll darin jene „apriorische“ Idee des „moralisch notwendige(n) Endzwecks unsrer reinen Vernunft“ ihre Letztbegründung finden. Indes, eine Schwierigkeit bzw. Verschiebung in dieser angeführten kantischen Explikation der „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“ ist wohl nicht zu übersehen, in der offenbar eine Konfundierung verschiedener Begründungsebenen zutage tritt: Denn genauer wäre doch wohl zu sagen, dass jene „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ selbst zunächst lediglich auf den inneren Zusammenhang der „Moralität“ (als „oberstes Gut“) mit dem „praktischen Endzweck“ (als „höchstem Gut“) und dem „Endzweck der Schöpfung“ abzielt;134 von dieser an den „moralischen Zwecken“ orientierten „teleologischen“ Perspektive (deren „Organisation“) wäre jedoch jene „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ (III 632) noch zu unterscheiden, die sodann selbst – als „System der Postulate“ – auf die Möglichkeitsbedingungen der in dieser „Organisation“ vereinten Bestimmungen abzielt. So lässt sich auch nur in diesem Sinne sagen, dass eine solche „Zweckverbindung … das höchste in einer Welt mögliche Gut … enthalte“ (III 646); während Letzteres, als der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“, selbst kein Vernunftpostulat ist, expliziert das „System der Postulate“ die Bedingungen der Möglichkeit dieses „praktischen Endzwecks“ und des „Endzwecks der Schöpfung“ und macht hierfür eben jene „Zweckverbindung“ der Vernunftideen geltend. Ungeachtet dieser Unklarheit wird in Kants „Preisschrift“ eine besondere motivliche Verdichtung unübersehbar: Was Kant in seiner „zweiten Kritik“ zunächst noch lediglich negativ, d. h. als „conditio sine qua non“, formulierte – dass nämlich die (in der „Geschichte der reinen Vernunft“ „in abstracto“ ausgebildeten) „Prinzipien“ der Vernunft“ „einander nicht widersprechen“ dürfen, ohne die „Möglichkeit eines Vernunftgebrauchs überhaupt“ aufzuheben (IV 250) –, eben dies wird in jener „Zweckverbindung“ nunmehr auch ausdrücklich bejahend „gesetzt“. Ist damit eine kritische Erweiterung des Vernunftgebrauchs eröffnet und sodann auch der „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ realisiert, so ist derart auch der in der „Einheit der Vernunft“ und deren „zweckmäßigem Gebrauch“ fundierte systematische Ort der „Religion“ als einer „reinen Vernunftsache“ (VI 338) ausgewiesen. Zugleich findet so auf eindrucksvolle Weise die sehr frühe kantische Reflexion eine Bestätigung, der zufolge die „Selbsterhaltung der Vernunft … das Fundament des Vernunftglaubens“ (s. u. IV., 3.) sei – eine These, die in Kants Ethikotheologie sodann erst ihre endgültige Entfaltung und auch Legitimation finden kann. Der noch spätere Hinweis Kants, dass jene „Idee der Freiheit“ derart „die zwei übrigen in ihrem Gefolge bei sich“ führt (III 411), soll wohl ebenfalls verdeutlichen, dass dergestalt, „gleichsam in der Verkettung … eines … Vernunftschlusses“ (ebd.), alle drei „Ideen“ zweckmäßig „zusammengeschlossen“ werden.135 Diese offenkundig über ein bloßes Ableitungsverhältnis noch hinausweisende – wohl von Motiven Wolffs inspirierte – Ge134 In diesem Sinne ist wohl auch Kants Bemerkung zu verstehen, dass „Moral … in ihrer Vollendung zur Religion überschreiten [!] will“ (so Kant im Brief an Mendelssohn: AA X, 347), d. h. „unumgänglich zur Religion“ führt (IV 652); demgegenüber leisten die „Vernunftpostulate“ die Explikation der unverzichtbaren Voraussetzungen dieses „Überschritts“. 135 Jene Notiz des späten Kant resümiert in dieser Perspektive gewissermaßen diese Entwicklung: „Das Sys tem des Wissens, insofern es zur Weisheit die Leitung enthält, ist die TransscPhilos.“ (AA XXI, 121).
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dankenfigur, die auf eine unauflösliche „Zusammenstimmung“ („consensus“) derselben abzielt,136 lässt jene „Verknüpfung“ als eine systematisch-teleologische begreifen. Darin sind ihre „Momente“ eben nicht lediglich verbunden, sondern auch als „zueinander gehörig“ in der bestimmten Hinsicht ausgewiesen, dass sie aus solchem in einer „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (III 650) begründeten „Zueinander“ auch ihre letzte Bestimmtheit als „Übersinnliches“ gewinnen und so die „teleologia rationis humanae“ erst zum Abschluss bringen.137 Jene gemäß der Idee einer „moralischen Teleologie“ weitergeführte „transzendentale Steigerung“, von der schon im Kontext der kantischen Bestimmung des „Ideals des höchsten Guts“ (in Kants „erster Kritik“) die Rede war, hätte in dieser „Zweckverbindung“ bzw. „Zusammenstimmung“ mithin eine „Komplexität“ gewonnen, ohne die jener „Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung“ noch nicht ausreichend differenziert wäre. Ausgehend von jenem „Endzweck der praktischen Vernunft“ und der Frage nach dessen Ermöglichungsgrund erweist sich diese „Zweckverbindung“ selbst als das „System der Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht“ gemäß jener schon angezeigten „transzendentalen Steigerung“, die jene „Vernunftideen“ über ein bloß verträgliches „Nebeneinander“ hinaus zu einer „Zusammenstimmung“, einem „Konsensus“, vereint, in dem „endliche Vernunft“ sich realisiert.138 Schon hier ist jedoch darauf hinzuweisen: Ein für das „Zusammenstimmen“ in dieser „Zweckverbindung der Vernunftideen“ konstitutiver Aspekt ist erst in der existenzialanthropologischen Perspektive des IV. Teiles näher auszuweisen (s. dazu u. bes. IV., 3.2.1.). Es soll sich noch zeigen: In der Konkretheit jenes Gefüges der Vernunftideen „realisiert“ menschliche Vernunft doch lediglich sich selbst und führt mit dem solcherart als „Zweckverbindung“ entfalteten Ideen-Gefüge vor Augen, wie im bzw. für den Existenz-Vollzug 136 Es verdient auch in diesem Kontext besondere Beachtung, dass Kant den „ontologischen Begriff der Vollkommenheit“ als „Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem“ (V 206) charakterisierte; dies bleibt nun auch auf diese „Vereinigung und [!] Zusammenstimmung“ der Ideen des „Übersinnlichen“ zu beziehen, wodurch sich dieser „ontologische Begriff der Vollkommenheit“ in denkwürdiger Weise mit dem Thema der „Selbsterhaltung der Vernunft“ verbindet und Letztere demzufolge an die „Zusammenstimmung jener „Ideen des Übersinnlichen“ bindet (s. auch die nächste Anm.). – Mit Blick auf jene „Zweckverbindung“ (III 646) ist es für diese Idee einer „moralischen Teleologie“ bemerkenswert, dass Kant nahezu zeitgleich andernorts (gegen Garve) betonte, es bestehe das „höchste in der Welt mögliche Gut … in der Vereinigung und [!] Zusammenstimmung“ von „Moralität und Glückseligkeit“ (VI 132), wobei offenbar erst diese (über die „Vereinigung“ hinaus gehende) harmonische „Zusammenstimmung“ den besonderen „teleologischen Aspekt“ der „moralischen Rechtmäßigkeit“, Angemessenheit und der dem entsprechenden „Vollkommenheit“ indiziert. 137 Vornehmlich auf diese in der „wirklichen Welt“ mögliche „Zweckverbindung“, „die … das höchste in einer Welt mögliche Gut … enthalte“ (III 646), und auf den darin realisierten „praktisch-dogmatischen Überschritt“ ist es zu beziehen, wenn dieses „dritte Stadium der Metaphysik“, das darin den Zusammenhang der Ideen des „Übersinnlichen“ gleichsam als ein „System der Postulate“ nachzeichnet, nach Kant bemerkenswerterweise „einen Kreis“ (III 638) ausmachen soll. 138 Gleichwohl bleibt in einer systematischen Hinsicht und in gebotener Rücksicht auf die von Kant vorgenommene Bestimmung des Verhältnisses zwischen den „transzendentalen Ideen“ der theoretischen Vernunft und den „praktischen Vernunftideen“ zu beachten: In der späten systematischen „Zweckverbindung“ dieser „Ideen des Übersinnlichen“ ist der von Kant geltend gemachte „gewisse Zusammenhang und Einheit“ im „System“ jener „transzendentalen Ideen“, die als „Begriffe der reinen Vernunft“ (und deren „Zusammenschluss“) durch „die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“ sind (II 331), gewissermaßen „aufgehoben“.
510 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ des Menschen als eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ (IV 133) das „Übersinnliche über uns“ in symbolischer Darstellung „für uns“ offenbar wird. Ebenso findet in der zu dieser „Zweckverbindung“ gesteigerten Verknüpfung jener „selbstgemachten“ (und doch „nötigenden“) Vernunftideen, die in dieser „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“ gründet, offenbar auch Kants bedeutsamer Hinweis auf den entscheidenden Begründungs-Status jenes „Kreditivs des moralischen Gesetzes“ (IV 162) eine systematische Einlösung – also gleichsam am Ende des „letzten [„dritten“] Stadiums der Metaphysik“ und des darin ausgewiesenen „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“. Dass in dieser – wiederum an die „ursprüngliche Organisation“ des „Naturzwecks“ erinnernden – „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“ die „Zusammenstimmung“ jener miteinander verbundenen Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ zu einer solchen „Zweckverbindung“ noch einmal grundsätzlicher gedacht ist, betrifft in der Folge auch den „Weltbegriff der Philosophie“ als System der „wesentlichen und höchsten Zwecke“. Derart sind diese motivlichen Konstellationen gewissermaßen als eine kantische Vorwegnahme des im „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ einer „Ethik“ zugeschriebenen Vorhabens anzusehen, „ein vollständiges System aller Ideen oder, was dasselbe ist [!], aller praktischen Postulate“ zu entwerfen“139 – ein Vorhaben, das in der Sache offenbar auf nichts anderes als auf eine systematische Durchführung jener kantischen „transzendentalen Steigerung“ hinausläuft. Die in der „Preisschrift“ über die „moralische Teleologie“ hinaus erweiterte „teleologia rationis humanae“, in der jenes „dritte Stadium“ der Metaphysik im Grunde erst zum Abschluss kommt, erweist sich nunmehr als eine solche, dass die in dieser „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ sich manifestierende „Zusammenstimmung“ genauer besehen – über alle bloße „Verträglichkeit“ und „Einstimmigkeit“ hinaus – als ein teleologischer „Zusammenschluss“ begreifbar wird, der jedoch keineswegs „willkürlich“ geschieht, sondern durchaus einer immanenten Notwendigkeit folgt, von der noch näher die Rede sein soll. Dieser „Zusammenschluss“ ist es, der nunmehr, als ein „System dieser Voraussetzungen“, gewissermaßen erst das „ganze menschliche Vernunftvermögen schließt und krönet“, derart die „teleologia rationis humanae“ vollendet und so auch erst den intendierten „Endzweck der Metaphysik“ einzuholen vermag. Genauer besehen ist es freilich die selbst erst aus der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ geläutert hervorgegangene (und auch erst aus einer Auseinandersetzung mit der „Ethik der Alten“ resultierende) „Idee vom höchsten in einer Welt möglichen Gut“ als „Endzweck“ und der darin mitenthaltene „moralisch“ qualifizierte Freiheitsbegriff, von der jene – sich nun als „Zweckverbindung“ manifestierende und als solche sich auch begreifende – Verknüpfung der „Ideen des Übersinnlichen“ ihren Ausgang nimmt (s. dazu o. III., 2.).140 139 Hegel 1, 234. Gleichwohl zielen jene „notwendigen Voraussetzungen in theoretischer und praktischer Hinsicht“ über diese als „praktische Postulate“ verstandenen Ideen hinaus, weshalb Kant sich auch nicht mit der Festsetzung Hegels begnügen wollte: „Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee“ (ebd.). 140 Die späte „Preisschrift“ nimmt offenbar eine Anmerkung aus der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ auf und festigt den dort erwähnten „notwendigen Schlusssatz“ nunmehr zu einer „Zweckverbindung“: „Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, so dass der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen not-
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Jene in der „Geschichte der reinen Vernunft“ sich entfaltenden Momente des „Übersinnlichen“ und ihr systematischer „Zusammenschluss“ erweisen sich somit als Voraussetzung für die Erreichung des „Endzwecks der Metaphysik“. Erst in diesem „dritten Stadium der Metaphysik“ – das, wie sich noch zeigen soll, „theoretisches“ und „praktisches Vernunftbedürfnis“ (III 274) zusammenschließt und somit „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ wie in einem gemeinsamen „Beziehungspunkt“ vereint – findet der „Endzweck der Metaphysik“ seine Vollendung. Darin gewinnt die Vernunft Klarheit über sich selbst, erhält derart sich selbst und liegt in diesem Sinne auch der kantischen Selbstverortung in der „Geschichte der reinen Vernunft“ zugrunde. Kant hat die für dieses „dritte Stadium“ beanspruchte „Vollendung der Metaphysik“ offenkundig an den Nachweis geknüpft, dass diese Metaphysik als System der Ideen des „Übersinnlichen“ „einen Kreis“ ausmacht, „dessen Grenzlinie in sich selbst zurück kehrt, und so ein Ganzes von Erkenntnissen des Übersinnlichen beschließt, außer dem nichts von dieser Art weiter ist, und der doch auch alles befasst, was dem Bedürfnis dieser Vernunft gnügen kann“ (III 638).141 Damit ist der Anspruch verbunden, dass – gemäß der Leitidee eines „Systems der reinen Vernunft“ (II 62; 701 f ) – eine solche „Vollendung“ einer Vermehrung weder bedürftig noch derselben fähig sei. Sofern die Vernunft derart nicht nur sich „selbst erhält“, sondern darin auch, als „vollständige zweckmäßige Einheit“, ihre systematische „Vervollkommnung“ erfährt, muss nun auch jene „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ in einem besonderen Licht erscheinen – natürlich erst recht in Erinnerung an die schon in der „ersten Kritik“ leitende These Kants: „Vollständige zweckmäßige Einheit ist Vollkommenheit (schlechthin betrachtet)“ (II 599). Mit nochmaligem Blick auf Kants Selbstverortung innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ sei hier noch einmal an jenen Sachverhalt erinnert, dass die einzelnen wendigen Schlusssatz, führen soll“ (II 338, Anm.). Später sind sie so angeordnet: „die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes“ (II 672); auch in der „zweiten Kritik“ ist das Postulat der „Unsterblichkeit der Seele“ dem „Dasein Gottes“ vorgereiht (vgl. IV 252 ff; 254 ff ). – Auffällig ist die in der späten „Zweckverbindung“ vorgenommene Anordnung auch insofern, als Kant in jener angeführten Anmerkung (II 338, Anm.) ausdrücklich betonte, dass in einer „systematischen Vorstellung“ dieser Ideen die Reihenfolge „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ die „schicklichste“ wäre, während die „analytische“ Ordnung von der „Seelenlehre … zur Weltlehre … und von da bis zur Erkenntnis Gottes“ fortgehe (II 338, Anm.) – ein Thema, das Kant noch in der späten „Preisschrift“ als „System der Ideen“ beschäftigt hat. 141 Sodann heißt es weiter: „Nachdem sie sich nämlich von allem Empirischen … und von den Bedingungen der sinnlichen Anschauung, die ihr die Gegenstände nur in der Erscheinung vorstellten, losgemacht, und sich in den Standpunkt der Ideen, woraus sie ihre Gegenstände nach dem, was sie an sich selbst sind, gestellt hat, beschreibt sie ihren Horizont, der, von der Freiheit, als übersinnlichem, aber durch den Kanon der Moral erkennbarem Vermögen theoretisch-dogmatisch anhebend, eben dahin auch in praktisch-dogmatischer, d. i. einer auf den Endzweck, das höchste in der Welt zu befördernde Gut gerichteten Absicht zurück kehrt, dessen Möglichkeit durch die Ideen von Gott, Unsterblichkeit, und das von der Sittlichkeit selbst diktierte Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht ergänzt, und so diesem Begriffe objektive, aber praktische Realität verschafft wird“ (III 638). Auf diese Weise nahm der späte Kant offensichtlich eine frühere Gedankenfigur in weiterführender Absicht auf und beantwortete zugleich die darin enthaltene Frage: „Die Vernunft wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus zu gehen, sich in einem reinen Gebrauche und vermittelst bloßer Ideen zu den äußersten Grenzen aller Erkenntnis hinaus zu wagen, und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises, in einem für sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe zu finden. Ist nun diese Bestrebung bloß auf ihr spekulatives, oder vielmehr einzig und allein auf ihr praktisches Interesse gegründet?“ (II 671 f ).
512 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ vernunft-konstitutiven Momente des „Unbedingten“ selbst aus der in ihrer eigenen „Geschichte“ sich „auswickelnden“ Vernunft und der darin sich manifestierenden „teleologia rationis humanae“ in ihrer jeweiligen Bestimmheit hervorgehen, sodann in ihrem Eigensinn in Beziehung zu den anderen gesetzt werden und zuletzt, im letzten „Stadium der Metaphysik“, nunmehr als in jener Einheit der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ „zusammengeschlossene“ zu begreifen sind. Ohne die in dem unauflöslichen Gefüge der Vernunftideen angezeigte innere Vernunftverfassung und ihre „Komponenten“ sind folglich auch jene „höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ nicht zu begründen, weshalb auch erst die so resultierende umgreifende Vernunftperspektive die Verknüpfung der dem „Weltbegriff der Philosophie“ aufgegebenen systematischen Explikation dieser „höchsten Zwecke“ mit den im „Schulbegriff der Philosophie“ entwickelten Dimensionen des „Unbedingten“ zu leisten vermag. Darin ist freilich auch dies enthalten: War für die „transzendentale Steigerung“ zunächst die „Einheit der Vernunft“ in ihrem „theoretischen Gebrauch“ und die darauf bezogene „Selbsterhaltung“ der leitende Gesichtspunkt, so erweist sich in einer anderen Akzentuierung dieser „Einheit der Vernunft“ die „Selbsterhaltung der Vernunft“ als das „Fundament des Vernunftglaubens“. Ein abschließender Aspekt dieser „transzendentalen Steigerung“ zielt indes auf jene umgreifende „Einheit“ von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ ab, der in der angezeigten Weise die philosophische Orientierung an der „Einheit der Vernunft“ und als das „System der reinen Vernunft“ zum Abschluss bringt, und so auch die Idee einer „teleologia rationis humanae“ gleichsam vervollständigt. Jene Verknüpfung stellt sonach aber auch die Substanz jeder „auf dem Kritizism der praktischen Vernunft gegründete(n) wahre(n) Religionslehre“ (VI 328) und ebenso das kritische Richtmaß für die Ansprüche der geschichtlichen Religionen dar. Dadurch soll, als später Ertrag der „Geschichte der reinen Vernunft“, auch ein gangbarer Weg gewiesen werden, der die Aporien des „theoretisch-dogmatischen Fortganges“ sowie des „skeptischen Stillstandes“ und somit auch den hoffnungslosen Anschein eines „uferlosen Meer(es)“ überwinden lässt, „in welchem der Fortschritt keine Spur hinterlässt und dessen Horizont kein sichtbares Ziel enthält, an dem, um wie viel man sich ihm genähert habe, wahrgenommen werden könnte“ (III 589). Ebendies darf mit besonderem Blick auf die „Preisschrift“ als ein höchst bemerkenswertes Ergebnis aus dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ festgehalten werden: Die Differenzierung jener der menschlichen Vernunft immanenten „Unbedingtheits-Momente“ bzw. Dimensionen des „Übersinnlichen“ sind so als intern „zusammengeschlossen“ zu begreifen, wodurch die darin sich manifestierende „Einheit der Vernunft“ und der darin verankerte „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ besonders deutlich werden: „teleologia rationis humanae“. Indes setzt der darin zuletzt vollzogene „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ selbst die jenem „dritten Stadium“ zuzurechnende „Vollendung des kritischen Geschäfts“ schon voraus, die Kant – selbst wiederum in gestufter Form – mit seinem „Kritizismus“ erreicht bzw. eingelöst sah. Ein weiterer Schritt ist sodann lediglich konsequent: Denn dieses „dritte Stadium der Metaphysik“ macht in der angezeigten Weise ja nicht allein die immanente „teleologische Verfassung“ der Vernunft in ihrer „gewissen Organisation“ sichtbar; ebenso entdeckt sie in der „Geschichte der reinen Vernunft“ deren (wenngleich „umwegig“ mani-
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fest werdende) „teleologische“ Tiefenstruktur, worin sie sich – gewissermaßen als letzter Schritt innerhalb des „dritten Stadiums“ – nicht nur selbst einordnet, sondern darin sich auch als deren Reflexionsgestalt erweist, d. h. sich selbst auch als Ort dieser „Selbstreflexivität“ begreift und solcherart gleichermaßen vollendet. Dass die Verbindung der „Ideen des Übersinnlichen“ eine solche ist, die in dieser Einheit der „Elemente“ die immanente „zweckmäßige Verfassung“ der menschlichen Vernunft zutage treten lässt, welche in dem „dritten Stadium“ auch ihrer selbst bewusst wird und eben darin die „Vollendung der Metaphysik“ erreicht, darf so vielleicht als der bedeutsamste Aspekt der kantischen Selbstverortung in der „Geschichte der reinen Vernunft“ angesehen werden.142 Die voranstehenden Überlegungen wollten vor allem verdeutlichen, wie sich erst aus der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ vollzogenen – selbst eine „teleologia rationis humanae“ widerspiegelnden – systematischen Unterscheidung und Verknüpfung des „Schul- und Weltbegriffs der Philosophie“ das Kernthema der kantischen Religionsphilosophie und der darin intendierte „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ in „kritischer Methode“ entfaltet: Krönender Abschluss innerhalb des „dritten Stadiums der neueren Metaphysik“, näherhin der nun sogenannten „praktischdogmatischen Metaphysik“. Kants bedeutsamer – im Kontext seiner Bezugnahme auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ stehender – Hinweis auf „Theologie und Moral“ als die beiden „Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat“ (II 709), findet erst in dieser Verknüpfung von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ seine Einlösung und somit auch in dem in Kants „Preisschrift“ als „Theologie“ ausgewiesenen „dritten Stadium“ der „Fortschritte der Metaphysik“ seinen systematischen Ort. Noch innerhalb dieses „dritten Stadiums“ der Metaphysik selbst lässt sich sonach eine bemerkenswerte Stufung nachvollziehen: Hatte Kant in der „transzendentalen Dialektik“ in dem „System der transzendentalen Ideen“ diese „Vernunftideen“ als „Einheits“- und „Totalitätsbegriffe“ erschlossen und sodann als „notwendige Vernunftbegriffe“ zu einem System der „psychologischen“, der „kosmologischen“ und der „theologischen Idee“ „zusammengeschlossen“, so stand in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ die Bestimmung der „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ als „schlechterdings notwendige Voraussetzungen in praktischer Absicht“ im Vordergrund; während in der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ der ethikotheologische Aufweis der Verknüpfung der 142 Hierfür trifft Henrichs Bemerkung genau zu: „Kant hat den Kritizismus präzise als eine ‚Maxime‘ definiert, – nämlich die, Misstrauen gegen die Sätze der Metaphysik zu hegen. Sie ist die Maxime, der Kant wirklich die Vollendung seines Werkes verdankt. […] Gleichwohl sollte diese neue Philosophie nicht nur das Ende der alten sein. Indem Kant die Quellen ihrer Irrtümer aufsuchte, wollte er zugleich ihre Möglichkeit erklären. Sie war nicht, was ‚Mystik‘ ist, – bloßes Zerrbild der Vernunft –, sondern Vernunft selbst im Stadium vor der Vollendung der Einsicht. Kants Programm der kritischen Philosophie ist ebenso auf Zukunft wie auf Vergangenheit bezogen. Kommendes Denken ist immer zugleich auch Erkenntnis seiner Herkunft und eben darin Kritik. Somit ist Kants Lehre Aufklärung in einem und gar wörtlichen Sinn: Sie räumt nicht Überlebtes beiseite und zwingt schlechthin Neues herbei, sondern sie bringt Licht in Bestehendes, – in Vernunft, deren Streit mit sich und dessen Möglichkeit und Sinn. Gleichwohl ist sie gerade darin Gründung von Einsicht und Hilfe für die einzige Revolution, der Kant das Wort geredet hat –, für die ‚Revolution der Denkungsart‘“ (Henrich 1966, 56 f ).
514 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ „Vernunftideen“ („Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“) „untereinander zu einer Religion“ (V 606) verfolgt wurde und in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Religionsschrift“ von dem „reinen Vernunftsystem der Religion“ die Rede ist (IV 659), wird in der „Preisschrift“ diese Verknüpfung nun als eine (von der Idee der Freiheit ausgehende) „Zweckverbindung“ als „Zusammenstimmung“ dieser „Ideen“ geltend gemacht, deren Konstituierung noch genauer zu verfolgen sein wird (s. dazu auch u. IV., 3.2.). Hier soll vorläufig der Hinweis darauf genügen: Es ist eine – über die in der Ethikotheologie maßgebenden „moralischen Zwecke“ noch hinausweisende, gleichwohl darin verankerte – besondere „Zweckmäßigkeit“, die in diesem (der darin verwurzelten „praktischen Bestimmung“ des Menschen allein „weislich“ angemessenen) Gefüge der „Vernunftideen“ zutage tritt und infolgedessen auch bezüglich der Gottesthematik zu berücksichtigen bleibt. So wären nicht nur (in der Spur und in kritizistischer Brechung von Wolffs „metaphysica specialis“) die „vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen“ vereint, sondern sogar zu einer unauflöslichen „Zweckverbindung“ zusammengeschlossen. Dass in dieser „Zweckverbindung der Vernunftideen“ die „Selbsterhaltung der Vernunft“ sich realisiert, sofern die sich darin manifestierende innere „Verfassung der Vernunft“ doch eine solche ist, die der praktischen und „ganzen Bestimmung des Menschen“ „weislich angemessen“ ist143, hat Kant zwar in jenem „System der Ideen“ bzw. in seinem Hinweis auf das „einen Kreis“144 ausmachende „dritte Stadium der Metaphysik“ (III 638) noch betont; gleichwohl hat er daraus keine entsprechenden Konsequenzen mehr gezogen. Gewiss wäre schon hier nicht zuletzt die vom späten Schelling geäußerte Frage: „Warum ist überhaupt Vernunft?“ (s. u. III., Anm. 154) nahegelegen. Besonders bemerkenswert ist vor allem dies, dass mit diesen systematischen Aspekten (der „Zweckverbindung“ und „Zusammenstimmung“, der „Organisation der reinen praktischen Vernunft“, dem „System der Postulate“) unschwer ein Bogen zu spannen ist zu jener frühen These Kants über die „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des 143 Schon in der „ersten Kritik“ hat Kant ja darauf hingewiesen, dass die „letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet“ sei (II 674). – Die gebotene Rücksicht auf solche „weisliche Angemessenheit“ relativiert in dieser „teleologischen Perspektive“ wohl auch den Einwand Hiltschers: „Erst die Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft entwickelt eine Vernunftordnung der Gesamtwirklichkeit und spezifiziert deren Relevanz auf die Bedingungen des endlichen Weltwesens Mensch. Sie entwirft die anzunehmende Voraussetzung einer teleologischen Gesamtordnung für den sich unter den Primat der praktischen Vernunft einordnenden Menschen. Diese Gesamtordnung sichert den Primat der praktischen Vernunft, indem sie die Ordnung der Naturzwecke der Ordnung der praktischen Zwecke unterordnet. Da sie aber nicht die subjektive Dignität der reflektierenden Urteilskraft … überschreiten darf, ist Kant nicht der abschließende Ausweis gelungen, dass der Mensch wirklich ein konstitutives Glied im intelligiblen Vernunftreich zu sein vermag. Am Ende bleibt nur die Hoffnung.“ (Hiltscher 2006, 311) Indes, eben allein durch diese moralisch begründete Hoffnung und die kritische Vermeidung der seine „ganze Bestimmung“ bedrohenden „Vermessenheiten“ „passt“ doch der Mensch als „vernünftiges Weltwesen“ nach Kant „in das System der Zwecke“. 144 In diesem späten Bild des „Kreises“ zeichnete Kant offenbar noch einmal eine zentrale Begründungsfigur „der Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben“ nach: „Wenn das oberste Prinzip aller Sittengesetze [d. i. die Wirklichkeit der Freiheit] ein Postulat ist, so wird zugleich die Möglichkeit ihres höchsten Objekts [d. i. des „höchsten Gutes“], mithin auch die Bedingung, unter der wir diese Möglichkeit denken können [das sind das „Dasein Gottes“ und die „Unsterblichkeit der Seele“], dadurch zugleich [!] mit postuliert“ (V 601). S. dazu aber u. V., Anm. 183.
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Vernunftglaubens“, zumal die genannten Themen im Grunde allesamt als eine systematische Entfaltung dieser richtungsweisend gewordenen frühen Leitthese zu lesen sind. Auch in solcher Hinsicht bestätigt sich bemerkenswerterweise – in Rücksicht auf die diesem „dritten Stadium der Metaphysik“ selbst immanente Entwicklung (d. i. Kants eigene „Kritik“ und die darauf gegründete „Metaphysik“) – sein aufschlussreicher Hinweis, dem zufolge in der „Zeitfolge“ eben auch die „natürliche Gedankenfolge“ sichtbar wird, „wie sie [die „Geschichte der Philosophie“] sich nach und nach aus der menschlichen Vernunft hat entwickeln müssen [!]“ (s. o. I., Anm. 58). Dieses Kapitel beschließend, sei – vorläufig – lediglich noch einmal angemerkt, dass die in dieser späten „Preisschrift“ maßgebende Idee der „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ vermutlich eine eigentümliche Verbindung der sogenannten „Postulatenlehre“ der „zweiten Kritik“ und der „Ethikotheologie“ der „dritten Kritik“ widerspiegelt, die erst im IV. Teil genauer thematisiert werden kann.
2.1. Der eigentümliche Nötigungscharakter der in dem „Gefüge“ der „Vernunftideen des Übersinnlichen“ sich selbst entfaltenden Vernunft Im Vorblick auf noch zu unternehmende „religionsphilosophische Grenzgänge“ (s. u. V. Teil) scheint es nicht unplausibel, auch diese innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik in der neueren Zeit“ vorgenommenen Differenzierungen zu resümieren – und zwar auf eine Weise, dass dabei zugleich ein „Selbstbegrenzungsmotiv“ der besonderen Art ins Blickfeld rückt, das aus der eigentümlichen Verbindung jenes „Kritizismus“ mit dem „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ resultiert. Dieser besondere Aspekt einer „Vernunftkritik“ legt sich auch deshalb nahe, weil darin in gewisser Hinsicht eine Analogie zu jener die transzendentale Logik beschließenden (und von Kant bekanntlich offen gelassenen) Frage über die „Eigentümlichkeit des Verstandes“ zutage tritt, weshalb denn unser „Vermögen des Verstandes“ „nur gerade durch diese Art und Zahl“ der Kategorien und nicht durch andere ausgezeichnet sei (II 145). Diese von Kant unbeantwortet gelassene Frage bliebe sodann, im Sinne des Programms einer „Vernunftkritik“, wohl auch auf die „Verfassung“ endlicher Vernunft auszudehnen bzw. zu übertragen – nicht zuletzt in Erinnerung an jenen denkwürdigen Hinweis Kants darauf, dass die „transzendentalen Ideen eigentlich nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien“ sind (II 402), die ihren Ursprung in „den drei Funktionen der Vernunftschlüsse“ haben und in dieser Vereinigung des „Logischen der Vernunftschlüsse“ (III 200 f ) die interne „Naturbestimmung unserer Vernunft“ (III 204) explizieren.145 145 Hier darf an Kants bemerkenswerte Auskunft erinnert werden, „dass die Vernunft eigentlich gar keinen Begriff erzeuge, sondern allenfalls nur den Verstandesbegriff von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung frei mache, und ihn also über die Grenzen des Empirischen, doch aber in Verknüpfung mit demselben, zu erweitern suche“ (II 401 f ). Ungeachtet der kantischen Versicherung, dass uns die Vernunftideen nicht „unbegreiflich“ seien, weil wir es darin doch „bloß mit Begriffen zu tun“ haben, „die in unserer Vernunft lediglich ihren Ursprung haben, und mit bloßen Gedanken-Wesen, in Ansehung deren alle Aufgaben, die aus dem Begriffe derselben entspringen müssen, aufgelöst werden können“ (III 223), bleibt doch das „Unbegreifliche“ der Faktizität und der internen Verfassung der Vernunft selbst. In diesem Sinne
516 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Dass die „transzendentalen Vernunftideen“ ihren Ursprung in „den drei Funktionen der Vernunftschlüsse“ haben und in dieser Vereinigung des „Logischen der Vernunftschlüsse“ die „Naturbestimmung unserer Vernunft“ entfalten, steht zweifellos in einem denkwürdigen Bezug zu der ebenfalls schon angeführten Auffassung Kants, dass jene spekulativen Vernunftideen zunächst als „praktisch immanent“ gewordene erst bestimmbar werden, d. h. „praktische Bedeutung“ („objektive Realität“) gewinnen und in ihrem unauflöslichen Begründungszusammenhang aufgewiesen werden müssen.146 Erst über diesen notwendigen Vermittlungsschritt wird sodann nachvollziehbar, dass die „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ als „Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht … den Ideen der spekulativen Vernunft im allgemeinen (vermittelst ihrer Beziehung auf das Praktische) objektive Realität“ geben (IV 264).147 Jener Entfaltung der „Naturbestimmung unserer Vernunft“ (III 204)148 in den „transzendentalen Vernunft ideen“ und ihrem „Zusammenschluss“, worin theoretische Vernunft gleichsam ihrer eihätte wohl auch Kant Schelling zugestimmt: „Dass überhaupt etwas existiere, und dass insbesondere dies Bestimmte, apriori Eingesehene in der Welt existiere, kann die Vernunft nie ohne Erfahrung behaupten“ (Schelling XIII, 59). Vielleicht wäre Schellings Anliegen im Blick auf die von Kant geltend gemachte „Unbegreiflichkeit des Wirklichen“ dahingehend zu erläutern: Mag die Vernunft in den „Ideen“ es lediglich mit ihrem „eigenen Produkt“ zu tun haben und so das von ihnen vorgeschriebene Gesetz „gar wohl begreifen können“ (III 223, Anm.), so bleibt sie gerade in dieser ihrer eigenen „Verfassung“ unbegreiflich und nötigt dergestalt dazu, Kontingenz und Notwendigkeit gleichsam im Sinne einer „aposteriorischen Apriorität“ zu verbinden. Es ist die „Wirklichkeit“ und die interne „Verfassung der Vernunft“ selbst, worin die Vernunft in den – d. h. ihren! – „Abgrund“ blickt: „Abgrund der Vernunft“… Vgl. dazu u. III., Anm. 154. 146 „Höchstes ursprüngliches Gut“, „höchstes abgeleitetes [„vollendetes“] Gut“ und „oberstes Gut“ erweisen sich, über Vermittlung der „objektiven Realität“ der „reinen praktischen Vernunft“ und ihrer Begriffe (IV 107), selbst schon als Symbolisierung dieser zugrunde liegenden und entsprechend differenzierten Idee des „Unbedingten“, „um das es doch eigentlich zu tun ist“ (II 510) – näherhin der „theologischen“, der „kosmologischen“ und der „psychologischen Idee“ –, und verweisen dergestalt auf das zu bedenkende (d. h. „symbolisch darzustellende“) „Verhältnis derselben zueinander“. 147 Dass Kant an dieser Stelle sehr direkt von den „spekulativen Vernunftideen“ zur Weiterbestimmung der „Postulate“ als „Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht“ fortschreitet, hängt mit einer nicht immer hinreichend reflektierten Mehrdeutigkeit von „objektiver Realität“ zusammen, die gerade auch an der hier zitierten Stelle zu beobachten ist. Sie zeigt sich, genauer besehen, auch in der Schlussanmerkung der „Kritik der Urteilskraft“, wo Kant in seinem Bezug auf die „Analogie“ „ein Erkenntnis Gottes und [!] seines Daseins (Theologie)“ unterscheidet: „Aber nach der Analogie mit einem Verstande kann ich, ja muß ich, mir wohl in gewisser anderer Rücksicht selbst ein übersinnliches Wesen denken, ohne es gleichwohl dadurch theoretisch erkennen zu wollen; wenn nämlich diese Bestimmung seiner Kausalität eine Wirkung in der Welt betrifft, die eine moralisch-notwendige, aber für Sinnenwesen unausführbare Absicht enthält: da alsdann ein Erkenntnis Gottes und seines Daseins (Theologie) durch bloß nach der Analogie an ihm gedachte Eigenschaften und Bestimmungen seiner Kausalität möglich ist, welches in praktischer Beziehung, aber auch nur in Rücksicht auf diese (als moralische), alle erforderliche Realität hat“ (V 619). „Alle erforderliche Realität“ ist deshalb auf beide Aspekte zu beziehen. Die durch die „Analogie“ ermöglichte „praktische Erkenntnis“ (III 613), wodurch „den reinen Verstandes- und Vernunftbegriffen objektive Realität“ verschafft wird, bleibt auch hier von „objektiver Realität“ im Sinne von „Dasein“ unterschieden. 148 Es ist in systematischer Hinsicht höchst bemerkenswert: Das in den „transzendentalen Vernunftideen“ realisierte „Logische der Vernunftschlüsse“ macht die „Naturbestimmung unserer [theoretischen] Vernunft“ (III 203 f ) aus, wofür die Orientierung an der Idee der „Vollständigkeit“ (d. h. hier: „Zweckmäßigkeit des Vernunftgebrauchs“) maßgebend ist; dies findet in dem späten Hinweis Kants auf die „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (III 650) eine unübersehbare Entsprechung, die sich an der inneren „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ orientiert. S. dazu jedoch auch u. IV., 3.2.
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genen Verfassung innewird, korrespondiert so auf bemerkenswerte Weise die für Kant im Grunde zeitlebens bestimmend gebliebene Perspektive, dass die (im „System jener Vernunftpostulate“ gedachte bzw. dadurch gewährleistete) „Selbsterhaltung der Vernunft“ als das „Fundament des Vernunftglaubens“ zu begreifen sei – ein Zusammenhang, der so auch auf sehr grundsätzliche Weise das Verhältnis von „Schul“- und Weltbegriff“ der Philosophie zueinander berührt. Nicht zuletzt ist es die – als ein besonderes Ergebnis aus jener „Metaphysik der Metaphysik“ und der darin selbstreflexiv gewordenen „Vernunft in abstracto“ gewonnene – Einsicht, die diese „Endlichkeit der Vernunft“ in durchaus unterschiedlichen Hinsichten ausweist. Diese „Endlichkeit“ der menschlichen Vernunft manifestiert sich zwar auch schon in dem regulativen Charakter der „Ideen“ als „reinen Vernunftbegriffen“, gleichwohl konstituiert und „realisiert“ sie sich in diesen „regulativen“ Funktionen des „Vernunftgebrauchs“: Erweisen sie sich doch zunächst als „Aufgaben, um die Einheit des Verstandes wo möglich bis zum Unbedingten fortzusetzen“ und sind als solche durchaus „notwendig und in der Natur der menschlichen Vernunft gegründet“, also keinesfalls bloße „Fiktionen“; gleichwohl vermögen sie „kein Objekt“ zu bestimmen und offenbaren so – als nicht konstitutiv und in diesem strengen Sinne nicht „erkenntnisrelevant“ – ihren voraussetzenden und „regulativ-subjektiven Charakter“. Erst recht ist des Weiteren in entsprechender Weise darauf zu achten, dass auch das sich „realisierende“ Gefüge der „praktischen Vernunftideen“ selbst – d. i. seine Faktizität und die ebenso wenig „beliebig erdachte, sondern in der Natur der menschlichen Vernunft gegründete“ (III 210) innere Verfassung der „gewisse(n) Organisation der reinen praktischen Vernunft“ – ebenso uneinholbar vorausgesetzt ist, sofern dieses sich in seiner „Realisierung“ als ein stets schon „gefügtes Gefüge“ dieser nunmehr „in praktischer Absicht selbstgemachte(n) Ideen“ (III 650 f ) erweist. In der „Geschichte der reinen Vernunft“ kommt dieses zur Entfaltung und lässt darin eine besondere Gestalt einer „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ ins Blickfeld treten, zumal in diesen von der „Vernunft hervorgebrachten Ideen“ sie sich selbst „erhält“. Darin erhält sie sich in ihrer „Totalität“, während innerhalb dieser „Ganzheit“ die Ideen des Übersinnlichen „als Teile eines Ganzen“ ihre Bestimmtheit und Verknüpfung untereinander gewinnen. Das darin zutage tretende Voraussetzungsproblem wird so erst innerhalb jenes „dritten Stadiums der Metaphysik“ Thema einer Grenzreflexion von besonderer Art, die so einen elementaren Aspekt der „Endlichkeit der Vernunft“ sichtbar macht. Dergestalt wird solche „Vernunftverfassung“ – und zwar gleichermaßen in ihrem „theoretischen“ wie auch „praktischen Gebrauch“, zumal es doch „ein und dieselbe Vernunft“ ist – also als ein ihr selbst vorausgesetztes „gefügtes Gefüge“ erkennbar, und damit auch ein besonderer Aspekt ihrer „Endlichkeit“; und zwar ungeachtet dessen, dass sie in dieser inneren Verfassung sich „realisiert“ und so jene in der „Geschichte der reinen Vernunft“ sich offenbarende „teleologia rationis humanae“ zur Entfaltung bringt. Dass menschliche Vernunft – im Sinne eines aller „Reflexivität“ vorausliegenden „Faktums“ – ihre eigene innere Verfassung als eine ihr selbst unbegreifliche Wirklichkeit begreifen muss, d. h. aber: diese als in ihrem „Ursprung“ unverfügbar voraus-setzt, ist freilich selbst – vornehmlich in jener unauflöslichen Verbindung der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ –
518 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ als ein dieser „teleologia rationis humanae“ immanentes Moment anzusehen und weist sie auch unter diesem besonderen Gesichtspunkt als „endliche Vernunft“ aus. Genauer besehen expliziert die innere Verfassung der menschlichen Vernunft in diesen Ideen und deren „Zusammenstimmung“ also gleichermaßen ihre „Endlichkeit“ und liefert so zugleich das „Bauzeug“ für eine kritische „Metaphysik“ als der „Idee einer Wissenschaft“. Wäre demzufolge jene schon erwähnte späte kantische Bezugnahme darauf nicht in analoger Weise aufzunehmen – dass nämlich die Transzendentalphilosophie erst jenes „System der reinen Vernunft“ ermöglicht, d. h. ein System „von subjektiven Ideen, welche die Vernunft selbst schafft […] indem sie sich selbst [!] schafft“149? In derartigem „Schaffen“ bleibt sie sich jedoch gerade selbst uneinholbar voraus-gesetzt, sofern dieses „Schaffen“ sich doch – zugleich – als ein hinnehmendes „Finden“ erweist, also ebenso ein „Ergriffen-Sein“ wie ein „Ergreifen“ – und doch nicht einfach ein „Begreifen“ – meint. Hier sei noch einmal an Kants Hinweis erinnert, dass die „Vernunft, als das Vermögen der Prinzipien, … das Interesse aller Gemütskräfte“ bestimmt, das ihrige aber sich selbst“ (IV 249), das demnach nicht anderswoher begründbar bzw. ableitbar ist; wenn (endliche) Vernunft eben dergestalt sich selbst „realisiert“, und Vernunft als Prinzip auch ihr eigenes Interesse „sich selbst“ bestimmt („schafft“) und sich darin „erhält“, dann setzt sie sich gleichwohl selbst in solcher Selbstbestimmung ihres „Interesses“ voraus, begreift sich mithin in ihrer eigenen Wirklichkeit als „unbegreiflich“ und affirmiert 149 AA XXI, 93. Vgl. auch AA XXI, 22; 43. – Dass die Ideen „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ von der Vernunft „geschaffene“ sind, bedeutet also, dass diese selbst sich allein in ihnen verwirklicht bzw. erhält – obgleich diese „durch reine Vernunft geschaffenen Ideen“ erst über die „moralisch-praktische Vernunft“ „Wirklichkeit“ erhalten (AA XXI, 91 f ). Dass diese „Ideen“ von der Vernunft „geschaffene“ sind und sie sich in ihnen „ergreift“ und „realisiert“, bedeutet freilich nicht, dass sie sich (und ihre „gefügte“ „Zweckverbindung“) in ihnen selbst „begreift“, sondern sich zugleich darin „voraus-setzt“. – Mit nochmaligem Rückbezug auf die in der späten „Preisschrift“ eröffneten denkwürdigen Problemperspektiven (s. o. III., 2.) wären hier die aufschlussreichen – durchaus von Kant „inspirierten“ – Überlegungen von K. Cramer „Über die Gründe des Interesses eines Philosophen an Theologie“ aufzunehmen, nicht zuletzt das für diese Zusammenhänge zentrale Motiv: „Wir sind wesentlich Vernunftwesen, das heißt Wesen, die in der Lage sind, etwas zu verstehen. […] Aber eines verstehen wir bei dem allen gerade nicht, dies nämlich, dass wir verstehende Wesen sind. Es ist eine uns allen offen stehende und am Ende auch gar nicht zu vermeidende Einsicht, dass wir uns aus uns selber gar nicht verstehen können. Denn unsere Vernunft vermag sich im Rekurs auf sich selbst gerade darüber nicht aufzuklären, dass sie das ist, was sie ist, nämlich Vernunft. […] Vernunft als solche muss uns ein gänzlich opaker Sachverhalt bleiben. Das ist, wenn ich mich mit Pascal so ausdrücken darf, das Elend der Vernunft. Eben deswegen ist Vernunft das Verlangen nach einer Einsicht, die sie im Rekurs auf sich gerade nicht leisten kann“ (Cramer 2003, 235); ebendies ruft nach Cramer freilich das besondere „Interesse eines Philosophen an Theologie“ wach und führt so über die Frage nach dem „Sinn der Vernunft selbst“ an den „Abgrund der Vernunft“, der indes „die Vernunft sich selber ist“ (ebd. 236). Auf die aus der Vernunft selbst aufkommende Erwartung der „Erschließung des Sinns der Vernunft selbst“ sieht Cramer die „vernünftige Hoffnung“ gerichtet – eine „Hoffnung, zu der wir aus Gründen der Vernunft selbst verpflichtet sind, wenn wir uns selbst nur richtig verstehen“ (ebd. 237), die nur als eine „Apokalypse der Vernunft“ ihre offenbarende Erfüllung fände und so erst alle Bedrohung, „die Menschen inkonsequent zu machen“ (Refl. 6317, AAXVIII, 616), endgültig überwunden hätte. Indes ist es die Vernunft selbst, die „am Ende“ noch vor ganz andere „Abgründe“ führt bzw. dorthin geführt wird, s. u. VI. Teil. Noch einmal im Blick auf Cramer: In der Tat, dass Vernunft „das ist, was sie ist, nämlich Vernunft“ – und just sie selbst es ist, die sie an ihre „Abgründe“ führt, an denen sie von der „Verzweiflung an sich selbst“ angefochten ist und eben dieser – aus Gründen ihrer „Selbsterhaltung – nicht zustimmen darf – dies (und daran geknüpfte Fragen) sind es wohl, was das „Interesse des Philosophen an Theologie“ noch verschärft.
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sich so in dem Sinne, „dass Vernunft ist und auch sein soll“.150 Dass die „Selbsterkenntnis der Vernunft“ nach Kant die „schwierigste“ ist, ebendies sich auch auf diese ihre schlechthin vorgängige, d. h. reflexiv uneinholbare „Faktizität“ bezieht und sie sich darin als „endliche“ begreift, sei hier lediglich angemerkt. Als bedeutsam erscheint dabei vor allem dies: Auch in derlei Hinsicht hat die „Geschichte der reinen Vernunft“ sich gewissermaßen als deren in der „Zeitordnung“ (III 595) explizierte „Verfassungsgeschichte“ erwiesen, wodurch diese „Verfassung“ und das sich darin explizierende „Vernunftbedürfnis“ in einem Prozess zunehmender Läuterung – „Kultur der Vernunft“ – in der angezeigten Weise Gestalt gewinnt, sich gleichermaßen als „endliche Vernunft“ „in sich reflektiert“, d. h. in diesem „dritten Stadium“ sich selbst letztendlich als solcherart „gefügte“ begreift. In einer solchen von Kant eröffneten Aussicht gewinnt jener Hinweis auf die Entsprechung von „Zeitfolge“ und „natürlicher Gedankenfolge“ in der „Geschichte der reinen Vernunft“ und die darin angezeigte Explikation der Idee einer „teleologia rationis humanae“ sodann noch die besondere Bedeutung, dass diese in diesem „dritten Stadium“ reflexiv wird und hier, in der Explikation des „Endzwecks der Metaphysik“, sich selbst noch einmal im Sinne der „Kritik“ sowie des in einer kritischen Metaphysik vollzogenen „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ in ihrer „teleologischen Verfassung“ differenziert.151 Ein damit zusammenhängender Gesichtspunkt, der in dem reflexiven Zu-sich-Kommen der „Vernunft in abstracto“ in der „Geschichte der reinen Vernunft“ wohl besondere Beachtung verdient, erweitert diese schon wiederholt angesprochene „Selbstbegrenzung 150 Es hat sich schon wiederholt gezeigt: Als „unbegreiflich“ gilt Kant in dieser Hinsicht im Grunde alles „Wirkliche“ – zuletzt freilich auch dies, dass „Raum und Zeit“ als die vorausgesetzten Anschauungsformen und gerade diese (zwölf ) Kategorien es sind, in denen „Erscheinung buchstabiert“ wird – desgleichen die Wirklichkeit der Freiheit; dahin weist auch der von ihm sogenannte „unerforschliche Grund“ der (moralischen) Freiheit (IV 805). Vgl. dazu noch einmal jenen interessanten Brief-Passus (aus dem schon zitierten Brief Kants an Jacobi v. 30. 8. 1789: AA XI, 76), in dem von dem notwendig zur „Spekulation“ Hinzukommenden die Rede ist, „aber doch nur in ihr, der Vernunft, selbst liegt u. was wir zwar (mit dem Namen der Freiheit …) zu benennen, aber nicht zu begreifen wissen“ und so „das notwendige Ergänzungsstück derselben“ ist. 151 Die schon wiederholt erwähnte Anregung Kants (s. o. I., Anm. 58), die „Zeitfolge“ selbst zugleich als „natürliche Gedankenfolge“ begreifbar zu machen, wäre sodann, im Blick auf Kants Selbstverortung, nicht nur auch auf das „dritte Stadium der Metaphysik“ anzuwenden; darüber hinaus wäre dies, präziser noch, auf die späte „Preisschrift“ insofern auszudehnen, als die in der „Auswicklung“ des „Endzwecks der Metaphysik“ maßgebende „Gedankenfolge“ erst in der dort vorgestellten „Zweckverbindung der Vernunftideen“ de facto zum Abschluss kommt und in der Sache dennoch darüber hinausweist. Ergänzend (zu den obigen Anmerkungen: III., Anm. 140 und 141) darf nunmehr, vom erreichten Ende des „dritten Stadiums der Metaphysik“ her betrachtet, angemerkt werden: Jene späte „Zweckverbindung der Ideen des Übersinnlichen“ löst nun erst jene Vernunft-Perspektive vollständig ein, die Kant schon in der „transzendentalen Methodenlehre“ der „ersten Kritik“ eröffnet hat: „Denn unsere Vernunft (subjektiv) ist selbst ein System, aber in ihrem reinen Gebrauche, vermittelst bloßer Begriffe, nur ein System der Nachforschung nach Grundsätzen der Einheit, zu welcher Erfahrung allein den Stoff hergeben kann. Von der eigentümlichen Methode der Transzendentalphilosophie lässt sich aber hier nichts sagen, da wir es nur mit einer Kritik unserer Vermögensumstände zu tun haben, ob wir überall bauen, und wie hoch wir unser Gebäude, aus dem Stoffe, den wir haben (den reinen Begriffen apriori), aufführen können“ (II 630). Die Organisation jener „Zweckverbindung“ bringt jenen Bau nunmehr (in einer durch die neue „Freiheitslehre“ maßgeblich modifizierten Weise) zum Abschluss.
520 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ der Vernunft“ überdies in denkwürdiger Weise: Denn sowohl im Blick auf die Daseinsverfassung des Menschen „nach der Beschaffenheit, in der er wirklich ist“ (IV 113), als auch bezüglich der „fortgehenden Kultur des menschlichen Vernunftvermögens“ (V 586) bleibt doch beachtenswert, dass „Vernunft“ in der „Realisierung“ ihrer Ideen gleichwohl „sich selbst nicht schafft“, sondern „dergestalt“ sich selbst vorausgesetzt bleibt – und zwar gleichermaßen hinsichtlich ihrer unhintergehbaren „Faktizität“ und der inneren Struktur jenes Gefüges der „transzendentalen“ und „praktischen Vernunftideen“ sowie des darin sich artikulierenden „Selbstverhältnisses“. Gewiss sind auch diese praktischen „Vernunftideen“ zu denken „aufgegeben“, entfaltet sich doch darin die Leitidee der „moralischen Teleologie“ in den sie konstituierenden Aspekten bzw. Komponenten. Dennoch sind diese sich „gegeben“ in der bestimmten Hinsicht, dass sie sich als „Faktum der Vernunft“ im zweifachen Sinne dieser Wendung erweisen: Denn obgleich menschliche Vernunft in diesen von ihr ganz „unzertrennlichen“ Ideen lediglich sich selbst setzt („realisiert“), so schafft sie sich darin doch nicht selbst, zumal sie weder über ihre eigene Wirklichkeit noch über ihre innere Verfassung verfügt – in der eigentümlichen Spannung von „Realisierung“ und „Nötigung“: In der ihr aufgegebenen „Realisierung“ affirmiert sie sich, als sein-sollend, vielmehr als eine solche, die sich selbst in dieser Konfiguration „genötigt“ erfährt.152 In denkwürdiger Analogie zur Erfahrung der in ihrer Wirklichkeit „sich selbst nicht „in ihrer Gewalt habenden“ (und insofern „unbegreiflichen“) Freiheit bleibt sie sich derart, gemäß ihrer Wirklichkeit und ihrer eigenen „Beschaffenheit“, selbst in eigentümlicher Weise entzogen. Eben darin erweist sie sich in ihrer Notwendigkeit insofern gleichermaßen als kontingent, als sie in ihrer eigenen „Realisierung“ zwar sich selbst erhält und gleichwohl sich selbst unverfügbar voraus-gesetzt ist. Im Sinne dieser „Faktizität“ darf nun wohl auch Kants Hinweis verstanden werden, dass man nach der „ausführlichen Kenntnis“ der Vernunft „nicht weit um (s)ich suchen darf, weil ich sie in mir selbst antreffe“ (II 14) – freilich so, dass darin gleichwohl diese Vernunft „sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen“ muss (IV 83), d. h. das „In-sich-Antreffen“ und „Urheberschaft“ derart in eigentümlicher Weise vereinigt sind. Desgleichen bedeutet dies: Dass auch die Ideen „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ von der Vernunft „geschaffene“ sind, zielt zwar primär darauf ab, dass menschliche Vernunft sich allein in ihnen setzt, d. h. darin selbst ihre „objektive Realität“ (d. h. eben hier: ihren Sachgehalt und ihre Wirklichkeit) erhält.153 Die im „Schaffen der Vernunftideen“ 152 Auch Kants berühmter Eröffnungssatz der „ersten Kritik“, wonach die „menschliche Vernunft“ „durch Fragen“ in einer „Gattung ihrer Erkenntnisse“ „belästigt“ werde, darf ja nicht vergessen lassen, dass eben in bzw. durch diese(n) „belästigende(n) Fragen“ endliche Vernunft sich selbst als solche erhält; dennoch können diese Fragen über alle „Belästigung“ hinaus ein Gewicht erhalten, deren Last für ihre „Selbsterhaltung“ zuletzt zur besonderen Herausforderung wird (vgl. u. VI. Teil). 153 Dennoch betonte Kant, dass der Widerstreit der Vernunft bezüglich ihrer Ideen aufgelöst werden können muss, weil Vernunft es darin doch mit nichts anderem als mit ihren eigenen Produkten zu tun hat. – Dass die in ihren Ideen „sich selbst schaffende Vernunft“ dennoch sich entzogen ist und sich selbst „unbegreiflich“ bleibt, d. h. darin in dieser Hinsicht „genötigt“ ist, kommt in eigentümlicher Weise auch an einer späten Stelle der Tugendlehre bezüglich der Gottesidee zum Ausdruck, wonach „diese Idee ganz aus unserer eignen Vernunft hervorgeht“; auch wenn sie in diesem Sinne also „von uns … selbst gemacht wird“, so ist es doch eine „unumgänglich der Vernunft sich darbietende [!] Idee“ (IV 579 f ) – also jenseits bloßer Belie-
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zwar sich selbst „hervorbringende Vernunft“ erweist sich dergestalt selbst als eine verund gefügte in dem bestimmten Sinne, dass sie sich hinsichtlich ihrer eigenen Wirklichkeit und internen „Verfassung“ nicht begründend „einzuholen“ vermag, d. h. nicht über sich selbst „verfügt“. Demgemäß impliziert das Programm einer „Kritik der Vernunft“ und ihrer „Metaphysik der Metaphysik“ stets auch die Anerkenntnis der in diesem Sinne verstandenen „unbegreiflichen“ Wirklichkeit der Vernunft selbst, d. h. deren „unvordenklichen“ Vorausgesetztheit und ihrer eigentümlichen Selbstbezüglichkeit. Derart wird die „Endlichkeit der menschlichen Vernunft“ in der besonderen Hinsicht erkennbar, dass diese für sich selbst als „Faktum“ gewissermaßen „Phaenomenon“ ist (bzw. bleibt), sofern sie sich in dieser ihrer wesentlichen Verfassung (als „Vermögen der Prinzipien“ und der „Zwecke“) selbst eben „immer schon findet“ – d. h. jenseits aller „willkürlichen Erdichtung“ sich selbst vielmehr gegeben ist –, also sich in ihren „Ideen“ in der angezeigten Weise selbst „schafft“. Sich selbst in diesem Sinne vorausgesetzt, vermag das „Faktum der Vernunft“ sich nicht zu begründen und demonstriert gerade in solcher faktisch-kontingenten „Unbedingtheit“ – in diesem „Dass-Vernunft-ist“ – ihre eigene „Bedingtheit“ bzw. Endlichkeit.154 Auch daraus wird deutlich: „Selbsterhaltung der Vernunft“ besagt in solcher Hinsicht nicht zuletzt dies, dass Letztere sich in ihrer internen Verfassung – als selbst vorausgesetzt – „affirmiert“ und so auch sich „realisiert“. bigkeit. Vgl. AA XXI, 63: „Der Begriff (Gedanke) von einem solchen Wesen ist nicht ein Ideal (gedichtet) sondern eine notwendig aus der Vernunft im höchsten Standpunkt der Transsc. Phil. hervorgehend. Er ist keine Dichtung (willkürlich gemachter Begriff conceptus factitius), sondern ein der Vernunft notwendig gegebener (datus).“ „Hervorbringen“ und „Gegebensein“ sind hier auf bemerkenswerte Weise verschränkt. 154 Dies hatte offenbar Schelling vor Augen: „Denn … es bleibt immer übrig zu fragen: warum ist denn Vernunft, warum ist nicht Unvernunft? Es ist freilich auf den ersten Blick bequem, gleich anfangs die Vernunft als allgemeine Substanz, als das notwendig Seiende zu setzen. Aber vielmehr ist die Existenz der Vernunft selbst nur etwas Bedingtes, Positives“ (Schelling X, 252). Bezieht sich erstgenannte Frage zunächst auf das in seiner Faktizität kontingente „Dass“ der Vernunft, so ist zweitgenannte auf die innere VernunftVerfassung gerichtet. Mit Blick auf Kant (und gleichsam in einer „noologischen“ Transformation des kantischen „kosmologischen“ und „physikotheologischen“ Argumentes) darf Schellings Anliegen in dieser motivlichen Spur wohl auch so verstanden werden: Nicht die der „Kontingenz“ bzw. der „Teleologie der Natur“ nachdenkende „metaphysische Vernunft“ ist der Ausgangspunkt der diesen Schelling’schen Fragen zugrunde liegenden Gedankenbewegung; vielmehr ist es darin die sich selbst als „kontingent“ begreifende – und insofern auch sich selbst relativierende – Vernunft selbst, die sich derart als für sich selbst uneinholbare „Wirklichkeit“ begreift, d. h. in solcher Hinsicht Kants Satz „Wirklichkeit ist unbegreiflich“ gleichsam auf sich selbst zur Anwendung bringt und so einen ganz besonderen Aspekt der „Vernunftkritik“ indiziert. Das von Kant zunächst „physikotheologisch“ akzentuierte Argument, dass „wir nach der Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens“ dafür [also für das Dasein „organischer Produkte der Natur“] keinen anderen Grund denken können, als den einer Ursache der Natur selbst“, wäre in entsprechender Weise „vernunftteleologisch“ zu akzentuieren: Dass wir für das Dasein der Vernunft und ihrer „Verfassung“ „nach der Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens“ keinen anderen Grund denken können als die „Ursache der Vernunft selbst“, indiziert einen „Abgrund der Vernunft“ im „unvordenklich“ denkbar radikalsten Sinne. – Dies hat sich ja auch schon als das Eigentümliche erwiesen: So sehr die „Herrschaft der Vernunft“ selbst uns die „Tauglichkeit“ derselben „zu höheren Zwecken, die in uns verborgen liegt“ (V 556 f ), offenbart, so wenig verfügt solche „Herrschaft der Vernunft“ indes über sich selbst in ihrer Faktiziät und verweist als solche über sich selbst hinaus – wohl ganz im Sinne jener oben angeführten Frage Schellings. In dieser Hinsicht hätte der späte Schelling wohl auch von seiner eigenen frühen Kritik an den „Kantianern“ Abstand genommen: „Es ist eine Lust anzusehen, wie sie Beweis an der Schnur zu ziehen wissen. Eh’ man sich’s versieht, springt der deus ex machina hervor – das persönliche, individuelle Wesen, das oben im Himmel sitzt!“ (J. Hoffmeister [Hg.], Briefe von und an Hegel, Bd. 1. Hamburg 1952, 14).
522 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Es erweist sich: So unzweifelhaft die moralisch-teleologische Vollkommenheit „auf den Menschen selbst ursprünglich gegründet sein muss“ (III 646), so unübersehbar ist auch die faktische „Beschaffenheit“, dass diese sich zeigende „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ als solche sich zwar entwickelnd „hervorbringt“, gleichwohl nicht „schafft“, sondern gleichsam sie „antreffend realisiert“, d. h. in solcher „Realisierung“ in eigentümlicher Weise „Freiheit und Notwendigkeit“ vereint. In dem in jenem gefügten „Gefüge“ der „Vernunftideen des Übersinnlichen“ zutage tretenden „Nötigungscharakter“ artikuliert sich ein „Selbstbezug der Vernunft“, der nunmehr freilich gerade nicht durch ihren „eigenen empirischen Gebrauch“, sondern durch ihren „unbedingt-moralischen Gebrauch“ vermittelt ist und den „Nötigungscharakter“ auch dieser „in praktischer Absicht selbstgemachten Ideen“ (III 651) zur Geltung bringt. Es ist dieser Sachverhalt, der ein Voraussetzungsverhältnis von besonderer Art indiziert, das, in nochmaligem Blick auf Jacobi, nun vielleicht auch so verstanden werden darf, dass der „Mensch Vernunft hat“, so wie die „Vernunft den Menschen hat“.155 So mag sich ebenfalls bestätigen: Jene frühe programmatische Bemerkung Kants im Kontext der „Geschichte der reinen Vernunft“ über „Theologie und Moral [als] die zwei Triebfedern, oder besser, Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat“ (II 719), hat in jenem späten Aufweis der „Zusammenstimmung“ wohl ihre konkrete Einlösung erfahren, die gleichermaßen als eine nochmals verstärkte Distanzierung gegenüber skeptizistischen Relativierungs-Tendenzen verstanden werden kann. Jedenfalls bleibt dieser Aspekt in dem als („transzendente“: III 640) „Theologie“ bezeichneten „dritten Stadium“ der Metaphysik mit zu berücksichtigen, das zuvor schon als „praktisch-dogmatischer Überschritt zum Übersinnlichen“ (III 629 ff ) ausgewiesen wurde. Damit ist wohl auch ein Punkt erreicht, an dem menschliche Vernunft nicht allein an die Grenzen der Verstandeserkenntnis, d. i. der Erfahrungsgrenzen, gelangt, sondern auch an die ihr immanente Grenze stösst und ebenso, in grenzbegrifflicher Behutsamkeit, dazu „genötigt“ ist, sich „auf dieser Grenze zu halten“. Denn nur in solchem „Sichauf-der-Grenze-Halten“ erhält sie sich selbst „an den Grenzen“ derselben und bleibt auch in solcher Hinsicht, eben als „endliche Vernunft“, vor jener zwiefachen „Vermessenheit“ bewahrt, die, wie Kant betont, „das Längenmaß der Kräfte“ verkennt (vgl. V 497, Anm.) bzw. diese grenzbegrifflich sensible „docta ignorantia“ in eine unkritisch-dogmatistische Leugnung des „Jenseits der Grenze“ verkehrt. Letztendlich wird in diesem Kontext und im Blick auf diese einzelnen erforderlichen Vermittlungsschritte die Frage unabweislich (und thematisiert so noch einmal einen besonderen Aspekt der „teleologia rationis humanae“), 155 Vgl. Jacobi 2000, 286. – Im Sinne (und entsprechend dem von ihm selbst betonten „Nötigungscharakter“, vgl. III 274 f; 390 f, Anm.; IV 651) hätte Kant wohl für diese Frage Jacobis Verständnis gezeigt: „Hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?“ Eine gewiss zu modifizierende (und auch im Blick auf den Doppelsinn des „Faktums der Vernunft“ interessante) Entsprechung hat dieses Motiv in einem Passus der späten „Tugendlehre“: „Die Tugend, in ihrer ganzen Vollkommenheit betrachtet, wird also vorgestellt, nicht wie der Mensch die Tugend, sondern als ob die Tugend den Menschen besitze; weil es im ersteren Falle so aussehen würde, als ob er noch die Wahl gehabt hätte (wozu er als dann noch einer andern Tugend bedürfen würde, um die Tugend vor jeder anderer angebotenen Ware zu erlesen)“ (IV 538). Eben solche „Willensbestimmung“ konstituiert das „eigentliche Selbst“.
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wie die unauflösliche Einheit dieser „Ideen“ in diesem Gefüge zur „Darstellung“ gelangt, darin sich als „endliche Vernunft“ manifestiert und so auch sich selbst begreift. Als Verweis auf spätere Überlegungen zu Kants Konzeption eines kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ (s. u. III., 3.) sei hier noch dies angemerkt: In jenen „Ideen“ bzw. in deren unauflöslichem innerem Gefüge bezieht „endliche Vernunft“ sich zwar gerade nicht auf etwas ihr Äußerlich-Fremdes, sondern expliziert darin im Grunde lediglich sich selbst, ohne sich in solchem „realisierenden“ Bezug indes selbst zu „generieren“. So werden freilich auch erst jene gefügten „Figurationen“ sichtbar, worin bzw. wie das Absolute für den Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ erst „Sinn und Bedeutung“ erhält (vgl. III 267) – d. h. aber des Weiteren auch: in einem genau zu nehmenden Sinne „Gott der Gegenstand der Religion wird“ (IV 263, Anm.). Dies bedeutet nichts anderes als dies, dass die „theologische Idee“ als „Substrat aller Theologie“ in diesen „moralischen Prädikaten“ gewissermaßen ein „Antlitz“ gewinnt und erst als solches dergestalt gewordenes „Gegenüber“ „terminus ad quem“ des „theismus moralis“ ist. Erneut bestätigt sich: Was für „spekulative Vernunft“ ein krönender „Abschlussgedanke“ war, bleibt so zugleich als unverzichtbarer „Anschlussgedanke“ erhalten.156 2.1.1. „Endliche Vernunft“ – ihre intendierte „Selbsterhaltung“ gegenüber Versuchen einer „skeptizistisch-genealogisierenden“ Relativierung Noch ein anderer Problemaspekt, der auf jene „Zweckverbindung der Vernunftideen“ verweist und auch mit der darin sich manifestierenden „Endlichkeit der Vernunft“ eng zusammenhängt, verdient hier Beachtung. Denn jener Aufweis der „Zusammenstimmung“ der Ideen des „Übersinnlichen“ bringt ebenso, obwohl auf indirekte Weise, einen besonderen Aspekt der von Kant als durchaus unentbehrlich betonten Unterscheidung zwischen „einer Sache selbst“ und ihrer Entstehung, „wie sie eingeführt wird“, in Erinnerung – und bewahrt auch nur so vor einem drohenden „genealogischen Kurzschluss“. Dieser von Kant ausdrücklich geltend gemachte „große Unterschied zwischen der Erklärung seiner Meinung in Ansehung … der Frage, was eine Sache … ist und der, wie diese Sache zuerst introduziert worden“ ist,157 darf in diesem speziellen Kontext der von ihm unternommenen vernunft156 In diese Richtung ist wohl die Antwort auf die von K. Düsing benannten in der Tat „entscheidenden Fragen“ zu suchen: „Welche Bedeutung hat die Setzung der ‚Existenz‘ Gottes in diesem Erweis; und wie ist der moralische Gottesbegriff mit seinen im Wesentlichen ethischen Prädikaten Gottes vereinbar mit der theoretischen Gotteskonzeption, die letztlich zur negativen Theologie führt und die auch in der Moralphilosophie in Kraft bleibt?“ (K. Düsing 2010b, 57). 157 Refl. 8089, AA XIX, 633; Kant hat den „großen Unterschied“ von „Genesis und Geltung“ bzw. „Entdeckungs“- und „Begründungszusammenhang“ ausdrücklich gerade auch mit Blick auf die Religion (näherhin auf die pädagogische Funktion der „Wunder“) betont – so auch in einem berühmten Brief an Fichte (AA XI, 321 f ). – Auch was die Frage der „Wunder“ (als Mittel der „Introduktion“) (vgl. dazu die „allgemeine Anmerkung“: IV 740 ff ) als „Parergon“ betrifft, stimmte Kant offensichtlich mit Hamann überein: „Der Glaube ist unter der Liebe tätig; und diese wählt alle Mittel, die Gott den Zeiten und Umständen überlässt. Der erste Anfang der Kirche hatte Wunder nötig; dies waren die Almosen daher der Apostel. Diese haben nach der Weisheit Gottes aufgehört; er hat uns desto mehr zeitliche und äußere Mittel in
524 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ „teleologischen“ Begründung der Religion wohl auch in einer religionskritisch relevanten Akzentuierung aufgenommen werden – vornehmlich schon im Blick auf Humes scharfe Theismus-Kritik, die ihm deutlich vor Augen stand. Dies legt nicht zuletzt sein ausdrücklicher, offensichtlich von einschlägigen Motiven Humes inspirierter Hinweis darauf nahe, „dass die Furcht zwar zuerst Götter (Dämonen), aber die Vernunft, vermittelst ihrer moralischen Prinzipien, zuerst den Begriff von Gott habe [158] hervorbringen können“ (V 573),159 weil doch erst die „entpsychologisierende“ Fundierung des „Vernunftbegriffs von Gott“ und dessen ethisch verankerte Bestimmung „der Vernunft genugtuend ist“. Dass die „Furcht vor den Göttern“ (vgl. IV 847 f ) und andere mögliche „funktionale Aspekte“ letztendlich dem „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ und mithin dem Vernunftglauben an den einen „Herzenskündiger“ Platz gemacht hat, wäre wohl in diesem Sinne zu verstehen; sie fügt sich so auch recht gut in eine solche an der Idee einer „Geschichte der reinen Vernunft“ orientierte Gedankenfigur, die es erlaubt, diese nicht zuletzt „Genesis und Geltung“ differenzierende „Entwicklung“ auch als Explikation des „Logos der Theologie“ zu interpretieren. Es soll sich noch erweisen: Der Aufweis der „natürlichen Illusion“ – die sich (im unkritisch vorgestellten „Ideal des allerrealsten Wesens“) der Vorstellung der „Einheit der höchsten Realität und der durchgängige(n) Bestimmbarkeit (Möglichkeit) aller Dinge in einem höchsten Verstande, mithin in einer Intelligenz“ (II 523, Anm.), verdankt – ist in dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ eng mit der kritischen – nicht zuletzt durch Humes Anthropomorphismus-Kritik inspirierten – Legitimation des unverzichtbaren „symbolischen Anthropomorphismus“ verbunden (s. dazu u. III., 3.). Dieser zielt auf den Nachweis ab, wie erst „Gott der Gegenstand der Religion wird“ (IV 263, Anm.) und hat so selbst, wie sich zeigen soll, innerhalb dieses „dritten Stadiums der Metaphysik“ seinen Ort. die Hände gegeben und anvertraut, womit wir unseren Glauben ebenso kräftig zeigen und wodurch wir seinen Namen ebenso vollkommen verherrlichen können“ (Hamann 1949, 225). 158 Wenigstens indirekt ist deshalb die kantische Bemerkung auch auf Hume gemünzt: Dieser vernunft-immanente „transzendentale Begriff von Gott“, der gar nicht „umgangen werden“ kann, ist notwendig von uns „gemacht“ – so wie jener „Begriff von Gott …, welchen uns selbst zu machen die praktische reine Vernunft nötigt“ (III 389 ff, Anm.; vgl. IV 839 f, Anm.); beide bleiben vom „Religionswahn“ und seinem schlechten „Anthropomorphismus“ jedoch genau zu unterscheiden, „denn da machen wir uns einen Gott, wie wir ihn am leichtesten zu unserem Vorteil gewinnen … können“ (IV 839 f ). Genauer wäre wohl zu sagen: Die Idee des „allerrealsten Wesens“ (als Begriff der „transzendentalen Theologie“ auszubilden, dazu „nötigt“ der theoretisch-„spekulative“ Vernunftgebrauch; indes, diesen „unbestimmten Begriff“ des „metaphysischen Gutes“ sodann im Sinne eines auch „zur Religion tauglichen Gottesbegriffs“ näher zu bestimmen, dies ermöglicht und dazu „nötigt“ „praktische reine Vernunft“. Die von Kant bekundete Absicht, „dass ich mich so nahe als möglich am Transzendentalen halte, und das, was etwa hiebei psychologisch, d. i. empirisch sein möchte, gänzlich bei Seite lasse“ (II 674), impliziert auch eine Kritik an Humes Religionsphilosophie; das Programm der „Entpsychologisierung“ wäre entsprechend auch auf das Gebiet der „praktischen Vernunft“ auszudehnen. 159 Dies ist freilich insofern eine missverständliche Bestimmung, als hierfür der „Gottesbegriff der theoretischen Vernunft“ schon vorausgesetzt ist, und auch dem kantischen Anspruch, zu zeigen, „wie Gott ein Begriff der Religion wird“, jener „theoretische Gottesbegriff“ zugrunde liegt. Auch der „Vernunftbegriff von Gott“ selbst ist ein spätes Resultat, das sich einer „Entpsychologisierung“ verdankt. Ebenso finden sich bei ihm doch wenigstens Ansätze zu „einer Theorie darüber, wie diese verschiedenen Konzeptionen eines rein vernünftigen Gottesbegriffs … miteinander vereinbar sind“ (E. u. K. Düsing 2002, 101); darin unternimmt Kant den Versuch einer notwendigen Vermittlung der „negativen“ Bestimmungen“ (der „theoretischen Begriffe“) und der „positiven“, also der „moralisch qualifizierten“.
2. Die späte Zweckverbindung der „Vernunftideen“
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Das Programm einer „Kritik der Vernunft“ wie eben auch jener Aufweis der unauflöslichen „Zusammenstimmung“ der Vernunftideen enthält sonach – wie seine kritische Würdigung und Zurückweisung der Humeschen Religionskritik zeigt160 –, analog zur „Entpsychologisierung“ der Fundamente der Moral, gleichermaßen eine solche der Religion und des „Gottesbegriffs“. Nicht zuletzt bezüglich der Gottesthematik wäre die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ als der Ort zu begreifen, an dem die Korrespondenz von „Theologie und Moral“ sich entfaltet und in solcher Entwicklung zu einem „(mono-)theismus moralis“ auch die nicht zuletzt religionsgeschichtlich-religionsphilosophisch höchst bedeutsame Differenzierung von „Genesis“, „Faktizität“ und Geltung“ zunehmend an Bedeutung gewinnt, die auch in dem „dritten Stadium der Metaphysik“ noch einmal eine philosophische Rechtfertigung – vornehmlich im Aufweis der „Zusammenstimmung“ der „Vernunftideen“ – erhält. Nur nebenbei bemerkt: Dies entspricht offenbar genau dem Sachverhalt, dass – ebenfalls ein wesentlicher (obgleich gemeinhin kaum gewürdigter) Bestandteil der Ausbildung einer umfassenden „Vernunftkritik“ – auch die Entfaltung des vom „Weltbegriff der Philosophie“ unabtrennbaren „Vernunftinteresses“ in verschiedener Hinsicht mit einer „Entpsychologisierung“ und somit mit einer „Aufhebung“ psychologischer „Vermögen“ bzw. bloßer „Affekte“ in „praktische Vernunftkategorien“ verbunden ist, wie sich desgleichen an den Themen „Liebe“ und „Hoffnung“ näher zeigen lässt (s. u. IV., 4.1.). So korrigierte der späte Kant übrigens auch, was sich bezüglich des Stellenwerts des „Vernunftbedürfnisses“ als bedeutsam erweist, jene schon erwähnte frühe – offensichtlich bloß „psychologische“ – Argumentation: „Die Verstandeswaage ist doch nicht ganz unparteiisch, und der eine Arm derselben, der die Aufschrift führt: Hoffnung der Zukunft, hat einen mechanischen [!] Vorteil, welcher macht, dass auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige Schale fallen, die Spekulationen von an sich größeren Gewichte auf der anderen Seite in die Höhe ziehen. Dieses ist die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann, und die ich in der Tat auch niemals heben will“ (I 961). Indes, zuletzt hat sich bei ihm selbst, gerade auch in religionsphilosophischem Kontext, nicht nur jene Behutsamkeit bzw. Unbestechlichkeit durchgesetzt, nicht „Bedürfnis für Einsicht“ zu halten (vgl. III 272, Anm.),161 160 Humes Einwürfe gegen den „Theismus“ würdigte Kant als durchaus „sehr stark“ (III 231; s. bes. §§ 57 f der „Prolegomena“. – Schon in seinen „Vorlesungen zur Rationaltheologie“ deutete Kant diese Differenzierungen bezeichnenderweise im kritischen Verweis auf Hume an (und verwirft damit auch einen „genealogischen Fehlschluss“): „Ehe die Menschen ihre Vernunft kultivierten, gründete sich ihr Begriff von Gott auf Furcht, und sie glaubten, ihn durch Schmeicheleien zu gewinnen. […] Es ist daher sehr unrichtig, wenn man sagt, dass alle Völker einen Gott geglaubt hätten. Sie glaubten wohl ein mächtiges Wesen, aber nicht einen Gott, und ihre Theologie half ihnen solchergestalt zu nichts. – Er kann sich daher nach seiner ganzen Größe und bloß durch die Vernunft offenbaren, damit wir durch die Vernunft zu den Wirkungen das hinzusetzen, was nötig ist, um einen Gott angemessenen Begriff von Gott zu bekommen“ (AA XXVIII, 1316 f ): Auch daraus ist übrigens zu ersehen, dass der „Fortschritt im Bewusstsein der Gottheit“ nach Kant nicht zuletzt in einer fortschreitenden „Entpsychologisierung“ der Gottesidee (und in der fortschreitenden Vernunftverankerung) besteht, der bei ihm eine entsprechend „entpsychologisierte“ Konzeption der Hoffnung korrespondiert (s. dazu auch u. V., 2.1.1.). Bezeichnenderweise hat dies in dem im „dritten Stadium der Metaphysik“ beanspruchten Rekurs auf das „von der Sittlichkeit selbst diktierte Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht“ (III 638), d. h. des „praktischen Endzwecks“, eine genaue Entsprechung gefunden. 161 Diese Mahnung Kants, die den Anspruch jenes „Vernunftbedürfnisses“ legitimiert und auch limitiert, lässt die von Henrich vorgeschlagene Lesart des „Als-ob“ in diesem Kontext doch als zu stark erschei-
526 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ zumal doch „in der Abwiegung der Vernunftgründe einer bloßen Spekulation alles ehrlich zugehen müsse“ (II 638). Solche Haltung weiß deshalb ebenso um die (von Nietzsche diagnostizierte) Versuchung bzw. die Gefahr, „Hoffnung … mit Wahrheit zu verwechseln“162; gegenüber jener frühen „psychologisierenden“ Argumentation hat sie ausdrücklich einen Spruch der „unparteilichen Vernunft“ und ein durchaus „moralisches Bedürfnis“ geltend macht – nicht zuletzt im ausdrücklichen Anspruch darauf, dass hier ein „Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt“ (IV 278). Jenes „nicht ganz unparteiische“ psychologische Bedürfnis wird folglich durch das moralisch verankerte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ und die es differenzierende Endzweck-Idee ersetzt, ohne damit auf das Niveau des „unfreien Fürwahrhaltens“ eines bloß „doktrinalen Glaubens“ zurückzufallen – eben dies bedeutet die mit dem Programm der „Kritik“ und der Neubegründung einer kritischen Metaphysik engstens verbundene Sondierung, Differenzierung und Legitimation von recht unterschiedlichen Geltungsansprüchen, die mit diesem umfassenden Vernunftgebrauch verbunden sind.
2.2. Eine anschließende Frage: Wird in jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ noch ein besonderes – gemäß jener „transzendentalen Steigerung“ gestuftes – Begründungsverhältnis sichtbar? Ein systematisch sehr bedeutsames Anschluss-Motiv ist im Ausgang von dieser „Preisschrift“ hier noch näher zu verfolgen. Darin soll jene „Zweckverbindung der Vernunftideen“ (im Sinne einer analog zur Bestimmung des „Naturzwecks“ verstandenen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“) als eine „Selbsterhaltung der Vernunft“ in der besonderen Hinsicht ausgewiesen werden, dass „endliche Vernunft“ in dieser „Zusammenstimmung“ ihrer Ideen sich selbst auch auf eine Weise affirmiert und erhält, die über die „Ethikotheologie“ im engeren Sinne noch hinausweist, gleichwohl darin (und somit zuerst in der Idee des „Übersinnlichen in uns“) verankert ist. Es wird sich zeigen: Von diesem die Idee einer „moralischen Teleologie“ beschließenden Aspekt her beurteilt, kann auch die Konzeption der „theologischen Idee“ (und die ihr immanente Entwicklung innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik) nicht unberührt bleiben; ebenso wird die kantische Idee einer „moralischen nen, zumal dieses „Vernunftbedürfnis“ offenbar zwischen dem fiktionalen „Als-ob“ und der beanspruchten Einsicht anzusiedeln ist und in diesem Sinne vermutlich einen besonderen „Als-ob“-Sinn indiziert: „Was zu begründen uns unmöglich ist, was aber aus dem Ganzen unseres Vernunftwesens als unverzichtbare These hervorgeht, auf das dürfen wir ebenso unser Leben orientieren, wie wenn es eine begründete Erkenntnis wäre. Wir sind berechtigt in der Meinung, dass das, was wir so annehmen, und das, was wahr ist, sich ineinander kontinuieren“ (Henrich 1999d, 146). Kants späteres Bemühen, ein zwar unabweisliches praktisches Vernunftbedürfnis nicht für „Einsicht“ zu nehmen (und es zugleich von einer offenbar doch nicht „ganz unparteiisch“ bleibenden „Verstandeswaage“ abzugrenzen) ist hier offensichtlich zurückhaltender, obgleich manche Äußerungen durchaus in die von Henrich angezeigte Richtung verstanden werden können (s. dazu aber u. IV., Anm. 49). 162 Es ist die in diesem (von „Einsicht“ unterschiedenen) „Vernunftbedürfnis“ verankerte Hoffnung, die durchaus begründetermaßen über Camus’ Losung hinausweist, „mit dem aus[zu]kommen, was unmittelbar evident ist.“ (Camus 2007, 10).
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Teleologie“ im Lichte seiner späten Konzeption einer „authentischen Theodizee“ noch eine – unumgängliche – besondere Zuschärfung erfahren, die ebenfalls die ethikotheologisch bestimmte Gottesthematik in entscheidender Weise betrifft (s. u. VI. Teil). Infolgedessen findet im Kontext dieser Überlegungen der „Preisschrift“ auch Kants frühe Bestimmung des „Prinzips der Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ in modifizierter Form eine späte Rechtfertigung und Vertiefung, die derart noch einen besonderen Aspekt einer „transzendentalen Steigerung“ ins Blickfeld rückt. Dies sollte es, einer solchen teleologischen Leitperspektive zufolge, auch erlauben, seine frühe Bezugnahme auf die „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“, die den Menschen „in eine ganz andere Ordnung der Dinge versetzt“ (IV 91), mit diesem Thema der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als dem „Fundament des Vernunftglaubens“ auf eine Weise zu verknüpfen, die so erneut die Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ bzw. dessen „ganze Bestimmung“ in den Vordergrund rückt. Näherhin soll sich zeigen, dass der von Kant gesuchte Aufweis, dass und wie „Moral unausbleiblich zur Religion führt“, im Ausgang von dieser Begründungsfigur der „Preisschrift“163 wohl noch eine denkwürdige systematische Weiterführung finden kann. Es soll sich zeigen: Darin ist die ethikotheologische Verbindung der „Ideen des Übersinnlichen“ mit dem durch „Einschränkung des theoretischen“ und „Erweiterung des praktischen Vernunftgebrauchs“ ermög lichten „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“ (IV 275) in eigentümlicher Weise vereint. Vorab sei noch einmal daran erinnert: Es war die (erst nach-kantisch formulierte) Frage „Wie muss eine Welt für moralische Wesen beschaffen sein?“, die bei Kant vor allem in der Entfaltung der Idee einer „moralischen Teleologie“ (und zuletzt in der Perspektive eines umfassenden „Endzwecks der Schöpfung“) – dann aber auch im Kontext seiner Theodizee-Abhandlung – offenbar auf „Gedanken von einer metaphysischen Bauart“ führt, die so in bemerkenswerter Nähe zu der einem umgreifenden Sinnhorizont eingeschriebenen Frage nach der „Bewandtnis des Lebens“ stehen.164 Über das „kritische Geschäft der Vernunftkritik“ hinaus darf das mit Kants eigener Metaphysik-Konzeption erreichte „dritte Stadium“ als die eigentliche Vollendungsgestalt und Einlösung des „Endzwecks der Metaphysik“ vor allem deshalb gelten, weil erst darin – nun auch noch über die Entfaltung und Beziehung der genannten „Momente der praktisch-dogma163 Eine (vielleicht aus der Besonderheit dieses Textes erklärbare) Abweichung bzw. Ungenauigkeit tritt wohl auch darin zutage, dass einerseits neben „Gott“ und „Unsterblichkeit“ das „von der Sittlichkeit selbst diktierte Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht“ als Bedingung der Möglichkeit des „höchste(n) in der Welt zu beförderenden Gut(s)“ angeführt wird (III 638), während an einer späteren Stelle der „Preisschrift“ dieser „Endzweck“ selbst (neben „Gott“ und „Unsterblichkeit der Seele“) als ein der „Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (III 650) zugehöriges Moment angeführt wird. In der „Preisschrift“ wird übrigens nicht das „höchste in der Welt zu befördernde Gut“ als „Endzweck“ (im Unterschied zum § 91 der „dritten Kritik“: V 599) als „Glaubenssache“ geltend gemacht, sondern lediglich die darauf abzielenden Bedingungen werden als solche bezeichnet (vgl. III 638 f ). Einschlägige Unschärfen, die dann auch die genaue Bestimmung des Status der Hoffnung und des Glaubens betreffen, sind in diesen späten Texten nicht zu übersehen. – Ebenso bleibt freilich daran zu erinnern, dass in diese „Zweckverbindung“ auch die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, eingebunden sind, sofern „das „Übersinnliche in uns“ ohne diesen es erst „erfüllenden“ Anspruch nicht zu denken ist und folglich auch diese „Zweckverbindung“ in besonderer Weise bestimmt (s. dazu u. IV., 4.1.). 164 Vgl. dazu den Abschnitt „6. Bewandtnis des Lebens“ in Henrichs dritter Vorlesung (Henrich 2007, 130 ff ).
528 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ tischen Erkenntnis des Übersinnlichen“ (III 633) hinausweisend – sich jene „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (III 650 f ) im Sinne des unauflöslichen Zusammenhanges der „Vernunftideen“ manifestiert. Der „transzendentale“ Charakter der hier angeführten „selbstgemachten Ideen“ – unter denen bezeichnenderweise die als „scibile“ geltend gemachte Idee der Freiheit hier nicht angeführt wird, während hingegen der angeführte „Endzweck der praktischen Vernunft“, das „höchste Gut“, offenbar selbst keine „Vernunftidee“ in diesem Sinne darstellt – besagt gemäß jener „transzendentalen Steigerung“ freilich dies, dass sie doch nur in Bezug darauf, d. i. als „Bedingung der Möglichkeit“ jenes „moralisch notwendigen Endzwecks“, Gültigkeit haben, d. h. ihren „praktisch-dogmatischen“ Charakter rechtfertigen. Die im „Weltbegriff der Philosophie“ explizierten „höchsten Zwecke“ der Vernunft, „deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann“ (nämlich der auf den vollständigen Vernunftgebrauch abzielende „Endzweck“ derselben: II 701), sind ihrerseits in jener unauflöslichen „Zweckverbindung der Vernunftideen“ begründet. Indes, der „praktische Endzweck der Vernunft“, den der Mensch „hat und haben soll“ (III 645), fungiert nicht nur als Fundament der Ethikotheologie, die so die Gottesidee als diejenige eines weisen „moralischen Welturhebers“ ausweisen soll; vielmehr ist es nun die sich in der „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ manifestierende „Zusammenstimmung“ derselben, in der „endliche Vernunft“ einerseits sich selbst erhält, ohne sich „dergestalt“ jedoch auch aus sich selbst begreifen zu können. Gemäß einer selbst noch einmal gestuften „transzendentalen Steigerung“ führt dies eine „transzendentale Zweckmäßigkeit“ von besonderer Art vor Augen, an die sich konsequenterweise weitere Begründungsfragen anschließen. Sie nehmen die diese Überlegungen bestimmende teleologische Leitperspektive auf und vertiefen sie in entscheidender Hinsicht.165 Denn obgleich diese „Zweckverbindung“ der Vernunftideen als Ermöglichungsgrund des „höchsten Guts, als Endzwecks“ gedacht werden muss, so führt eben diese „moralisch verankerte“ Einheit und „Zweckverbindung der Vernunftideen“ selbst – im Sinne einer konsequenten Weiterführung jener „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ bzw. der Erweiterung der Idee der „moralischen Teleologie“ – ihrerseits unumgänglich auf die Frage nach ihrem Ermöglichungsgrund. Nicht nur das in seiner Faktizität unbegreifliche „Übersinnliche in uns“ wäre demnach als „Reflex“ des „Übersinnlichen außer uns“ in kritischer Absicht aufzunehmen (wohlgemerkt: ohne dabei unkritischen Hypostasierungen bzw. entsprechenden „Subreptionen“ zu verfallen). Eher wäre wohl das – in jenem „Übersinnlichen in uns“ zwar verankerte – ganze Gefüge der Vernunftideen als ein „Reflex des Übersinnlichen außer uns“ (s. dazu 165 Es scheint durchaus erwägenswert, diese in der angezeigten „Zweckverbindung“ geleistete Verknüpfung der Vernunftideen als eine Art „ethikotheologisch“ begründete „Kohärenztheorie der Wahrheit“ zu verstehen, die unter den Vorzeichen des „Primats der praktischen Vernunft“ bzw. einer „mit sich einstimmigen Vernunft“ steht; sie muss in der ihr immanenten „teleologischen Struktur“ freilich in der „ErstePerson-Perspektive“ des „moralischen Glaubens an die Tugend“, des erhofften „Endzwecks“ und seines Ermöglichungsgrundes („Ich will, dass ein Gott sei …) bewährt werden, ist also in dem den „moralischen Glauben“ auszeichnenden „Vertrauen“ des „ich bin gewiss“ verankert. Dies kann erst im IV. Teil (IV., 3.2.) näher ausgewiesen werden.
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u. III., 2.) gemäß dieser kritischen „Analogie“-Figur zu begreifen, zumal jene – im „Faktum“ des Bewusstsein des moralischen Gesetzes offenbare und dieserart „Faktizität und Unbedingtheit“ in sich vereinende – „Idee der Freiheit“ doch die beiden anderen Ideen „mit sich führt“ und so erst die Weltstellung des Menschen als „Copula von Endlichem und Unendlichem“166 in ihren differenzierten Bezügen zu entfalten vermag. Wenn in der Freiheit als dem „Übersinnlichen in uns“ jenes Gefüge der Vernunftideen verankert ist, dann wäre es doch lediglich konsequent, die Frage nach dem „unerforschlichen Grund“ nunmehr auf das ganze Gefüge dieser „Vernunftideen“ auszudehnen. Demnach ist es also das im „archimedischen Punkt“ der Freiheit verankerte ganze Gefüge der „Vernunft ideen“, das in seiner inneren Verfassung über sich selbst hinaus- besser: in ihren „unerforschlichen“ Grund zurückverweist, wofür freilich im Ausgang die von Kant benannte Frage nach dem „für uns unerforschlichen Grund der Freiheit“ (IV 805) selbst grundlegend bleibt. Ebendies wäre die Basis für jene auf den Grund dieser „Zweckverbindung“ abzielende Gedankenfigur und somit für die darin sich in neuer Gestalt manifestierende „transzendentale Steigerung“. Ohne diese zwar ethikotheologisch vermittelte, jedoch darüber noch hinausweisende Perspektive einer „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ könnte demzufolge die daraus eröffnete Gottesthematik noch nicht zum Abschluss kommen. Deshalb ist die hier zutage tretende „Steigerung“ noch genauer zu verfolgen. Ein wenig genauer betrachtet wird – in Einbeziehung dieser erweiterten Motivkonstellationen der späten „Preisschrift“ – in der Idee der „moralischen Teleologie“ eine bemerkenswerte Stufung nachvollziehbar: Zunächst geht auch die in dieser „Preisschrift“ bestimmende Begründungsfigur von der in der Idee des „höchsten Gutes“ gedachten „Zweckmäßigkeit“ aus, d. h. von der „harmonisch zusammenstimmenden“ Einheit von „Moralität und Glückseligkeit“ als dem darin gemäß der Idee der „moralischen Welt“ bestimmten „höchsten Weltbesten“ (V 578). Dieser „ethikotheologisch“ bestimmende „Endzweck der praktischen Vernunft“ (als Idee des „höchsten Gutes“) wird nunmehr durch jene – als „Gefüge“ der „Ideen des Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ gedachte – „innere Zweckverbindung“ begründet, weshalb hier zunächst beide Ebenen einer „Zweckmäßigkeit“ zu unterscheiden und gleichermaßen aufeinander zu beziehen sind. Infolge dieser gestuften Begründung sind es nicht nur jener „Endzweck der praktischen Vernunft“ und der ihn ermöglichende „Endzweck der Schöpfung“, die sich als letztbegründungsbedürftig erweisen; vielmehr ist es die nun als Ermöglichungsgrund beider gedachte – als solche gleichwohl aus sich unbegreifliche – „Zweckverbindung der Ideen“ selbst, die auf einen dieser „Zusammenstimmung“ der „Vernunftideen“ selbst noch vorausliegenden und unverfügbar-unerforschlichen Grund derselben, d. h. aber: auf einen unausweichlichen „wahren Abgrund für die menschliche Vernunft“ (II 543), verweist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eben nicht nur jener „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ in solcher „Zweckverbindung“ seinen zu denkenden Ermög lichungsgrund hat; soll doch diese fundierende „Zweckverbindung“ der praktischen Ver166 Kant hat wiederholt den Menschen (als „vernünftiges Weltwesen“) als „copula“ zwischen „Welt“ und „Gott“ (AA XXI, 37; 27) und in diesem Sinne eben als „copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ bestimmt; an Kant anknüpfend wird diese Wendung im Folgenden verstanden.
530 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ nunftideen selbst nicht nur als nicht „willkürlich erdichtet, sondern [als] durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“ (II 331) ausgewiesen werden.167 Deshalb ist nunmehr auch die „objektive theoretische Realität“ dieser „Zweckverbindung“ selbst infolge einer solchen gestuften „transzendentalen Steigerung“ auf deren „ratio essendi“ zu beziehen. Verweist also das erhoffte „höchste Gut“ als „Endzweck“ auf das in jener „Zweckverbindung“ gedachte „System der Postulate“ des Vernunftglaubens“, so wird die darin zutage tretende „Zweckmäßigkeit der besonderen Art“ selbst zum Verweis auf die damit allein „zusammenstimmende“ „ratio essendi“ derselben. Es soll sich noch zeigen: Diese voranstehend skizzierte Problemkonstellation gewinnt sodann im Blick auf Kants spätes „Sonnengleichnis“ (dem allein durch die „Reflexe“ eröffneten Zugang zum „Übersinnlichen“: III 388 f ) und in Verbindung mit jenem in Kants „opus postumum“ benannten „System von subjektiven Ideen, welche die Vernunft selbst schafft … indem sie sich selbst schafft“ (s. o. I., Anm. 100), noch besonderes Interesse. Als eine systematisch höchst bedeutsame Konsequenz aus Kants „Preisschrift“, die zugleich als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen fungiert, wäre zunächst dies festzuhalten: Der „praktische Endzweck“ des Menschen als eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ ist als der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“ in der „Natur der Vernunft“ selbst begründet; die darauf, als Fundament derselben, bezogene „Zweckverbindung der Vernunftideen des Übersinnlichen“ ist ihrerseits in der „Natur der Vernunft“ verankert, worin „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ in eigentümlicher Weise vereint sind – nunmehr eben am Ende des „dritten Stadiums der Metaphysik“, das Kant denkwürdigerweise als „das der Theologie“ (III 615) bezeichnet hat. Es liegt demzufolge nahe – entsprechend der „Natur der Vernunft“ –, dass diese „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ vereinende „Zweckverbindung der Vernunftideen“ ihrerseits auf die Frage nach dem „zureichenden Grund“ führt, damit aber auch notwendigerweise über die „Ethikotheologie“ noch hinausweist. Wenn in jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ Vernunft als Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“ sich organisiert und dergestalt sich selbst erhält, so erweist sich jene frühe Kennzeichnung des „Prinzips der Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ nunmehr in eigentümlicher Weise als zweideutig: Der „Vernunftglaube“ fungiert als Fundament (gleichsam als „ratio essendi“) der „Zweckverbindung der Vernunftideen“, während Letzere „ratio cognoscendi“ des „Vernunftglaubens“ und seiner „Voraus-Setzungen“ sind. Ebendiese Begründungsfigur findet bei Kant im Kontext seiner Explikation der „Modi des Fürwahrhaltens“ eine Bestätigung und überdies eine bemerkenswerte Vertiefung, deren gestufte Form erneut besondere Beachtung verdient: Ihr zufolge ist es zunächst das „höchste Gut“ als Gegenstand einer „notwendigen Willensbestimmung“, 167 Es ist in systematischer Hinsicht sehr bemerkenswert, dass einerseits „die höchsten Zwecke … nach der Natur der Vernunft, wiederum Einheit haben müssen, um dasjenige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist, vereinigt zu befördern“ (II 672); von dieser in der „Natur der Vernunft“ verankerten systematischen „Einheit“ und „Ordnung der Zwecke“ bleibt indes die – gleichermaßen die „Natur der Vernunft“ realisierende – „Zweckverbindung der Vernunftideen“ noch zu unterscheiden, die sodann, als „System der Postulate“, die Möglichkeitsbedingungen jenes „in der Natur der Vernunft“ verankerten „höchsten Zwecks“ explizieren.
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in dem die (praktische) Vernunft sich „in Ansehung ihres notwendigen Zwecks“ selbst erhält, während „diese praktisch notwendige Voraussetzung“ der Möglichkeit des „höchsten Gutes“ ihrerseits auf die unumgänglichen Bedingungen „dieser Möglichkeit“ denkend verweist; sofern allein in der „Zweckverbindung“ jener „Vernunftideen“ die „Selbsterhaltung der Vernunft“ (im Sinne des „höchsten Gutes“ als dem „notwendigen Zweck der praktischen Vernunft“) verankert ist, erhält also in dem diesen „notwendigen Zweck“ begründenden „System der Postulate“ die Vernunft in einem noch grundlegenderen Sinne „sich selbst“. Die Konsequenz daraus wäre doch dies: Eben die in diesem „System der Postulate“ gedachte „Zweckverbindung“ und die dergestalt sich selbst manifestierende „Selbsterhaltung der Vernunft“ wird somit, in Anlehnung an eine weitere (schon wiederholt angeführte) kantische Begründungsfigur (im späten Aufsatz über den „neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“: III 390 Anm.), zum Ausgangspunkt dafür, dass „Gott“ nunmehr zu denken wäre als der, der den „Grund alles dessen enthält“, wozu wir diese – und zwar sowohl im Sinne der „Hoffnung“ (auf den „notwendigen Zweck“) als auch des sie fundierenden „Glaubens“ zu denkende – „Selbsterhaltung der Vernunft“ annehmen müssen. In einer derartigen Gedankenfigur wären die „Abschlussgedanken“ des „Endzwecks der Vernunft“ und des „transzendentalen Begriffs von Gott“ untrennbar miteinander verbunden – und zwar auf eine Weise, die den „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ wiederum notwendig „teleologisch“ vereint, gerade auch darin die systematische Verfassung der Vernunft erweist und diese zuletzt im bzw. als „System der Metaphysik“ „reflektiert“. Jenes Motiv einer „transzendentalen Steigerung“ hätte dergestalt einen besonderen Abschluss gefunden. 2.2.1. Die „Zweckverbindung der Vernunftideen“ und die unumgängliche Frage nach dem „Grund ihrer Vernunftform“ Daraus folgt also dies: Die Idee der „moralischen Teleologie“ führt der „Preisschrift“ zufolge nicht nur auf jenen „theoretischen Begriff von der Quelle“, woraus der „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ „entspringen kann“ (III 632) – näherhin auf die postulatorisch verankerte Idee eines „weisen Welturhebers“ bzw. eines „machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen“ (IV 652). Gemäß jener teleologischen „Steigerung“ weist dies zudem darauf hin, dass die zu denkende Einheit der Ermög lichungsbedingungen dieses „Endzwecks“, d. h. das „Übersinnliche in uns, über uns und nach uns“ (III 632) als ein „System der Postulate“, eine „moralisch-teleologische Verknüpfung“ (III 647) auch insofern erkennen lässt, als doch allein diese „Zweckverbindung“ auch mit „der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (IV 281 ff ) genau „zusammenstimmt“; Letztere ist selbst in jene „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ – als ein „Moment“ derselben – eingebunden, sofern sie die „Weisheit“ jenes „Rechtschaffenen“ im Sinne einer der „ganzen Bestimmung des Menschen“ angemessenen „Zweckmäßigkeit“) doch geradezu konstituiert. Diese „Zweckverbindung“ der Vernunftideen und die darin zutage tretende „weisliche Zusammenstimmung“ mit der „ganzen Bestimmung des Menschen“
532 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ dürfte somit angesehen werden, „als ob“ sie in der „Weisheit“ des „moralischen Welturhebers“ letztbegründet wäre.168 Sie selbst wäre dann, als solche „Zusammenstimmung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ und als „Zusammenstimmung“ mit der moralischen „Bestimmung des Menschen“, gleichsam als „Reflex“ der „Weisheit des moralischen Welturhebers“ zu begreifen;169 dafür bliebe, gemäß „unseren schwachen Begriffen“ und nach Maßgabe einer kritischen „Analogie“, der Bezug auf die „Vernunftform, … die in der Welt allenthalben angetroffen wird“ (III 235) und auf den „Grund dieser Vernunftform“ bestimmend, die nun jedoch im Sinne jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ zu modifizieren wäre170 – ohne dass diesem zu denkenden „Grund dieser Vernunftform“ indes die „Vernunft“ selbst als eine „Eigenschaft“ „angeklebt“ wäre, wie Kant bemerkenswerterweise betont (III 234). So bleibt es dabei: „Dadurch wird nun verhütet, dass wir uns der Eigenschaft der Vernunft nicht bedienen, um Gott, sondern um die Welt vermittelst derselben so zu denken, als es notwendig ist, um den größtmöglichen Vernunftgebrauch in Ansehung dieser nach einem Prinzip zu haben“ (III 235).171 Eine solche kritische Perspektive ist nunmehr gemäß einer ethikotheologischen Perspektive zu erweitern und auf die von Kant differenzierte „Endzweck“-Thematik zu beziehen. Der dadurch „ethikotheologisch“ eröffnete Ausblick auf den „größtmöglichen Vernunftgebrauch“ (bzw. auf dessen „Bedingungen“) würde damit jene frühe Analogisierung der „Wissens“- und „Hoffnungs“-Frage in einer anderen Hinsicht lediglich erneut bestätigen. Jene „in der Welt allenthalben“ angetroffene „Vernunftform“ wäre somit nicht nur auf die in dem Gefüge des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ zutage tretende „Zweckverbindung“ dieser Vernunft ideen zu beziehen; ebenso wäre sie auf jene sich darin manifestierende, der „praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessene Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (IV 281) – als der dieser „Zweckverbindung der Vernunftideen“ eingeschriebenen 168 Es bleibt natürlich dabei, dass jener „Begriff des Urwesens“ allein im Ausgang von diesem „Vernunftgefüge“ in seiner immanenten „Zweckmäßigkeit“ bestimmbar wird und das in diesem „weisen Welturheber“ gedachte Verhältnis „für uns“ sich gleichwohl dem moralisch begründeten Ausgang „von uns“ verdankt. 169 Dass, so Kant, „Weisheit, d. i. praktische [!] Vernunft in der Angemessenheit ihrer dem Endzweck aller Dinge, dem höchsten Gut, völlig entsprechenden Maßregeln, … allein bei Gott“ wohne (VI 185), wäre so in diesem sehr präzisen Sinne zu nehmen – und ist wohl auch nur so verständlich. 170 Jener denkwürdige kantische Hinweis, wonach wir uns der „Vernunftform“ doch lediglich bedienen, nicht „um Gott, sondern um die Welt vermittelst derselben so zu denken, als es notwendig ist, um den größtmöglichen Vernunftgebrauch in Ansehung dieser nach einem Prinzip zu haben“ (III 235), bleibt nun freilich, durchaus dem „unseren schwachen Begriffen angemessene(n) Ausdruck“ gemäß, auf den „praktischen Endzweck“ bzw. den umfassenden „Endzweck der Schöpfung“ zu beziehen. 171 Kants Erklärung, dass nicht zuletzt „die Eigenschaft der Vernunft“ ohne unkritische Hypostasierung lediglich in diesem Sinne erlaubt sein kann, scheint doch eine stillschweigende Präzisierung bzw. Zuschärfung gegenüber der „ersten Kritik“ insofern zu leisten, als es dort im Verweis auf den „analogischen Charakter“ ausdrücklich heißt: „Ich werde mir also nach der Analogie der Realitäten in der Welt, der Substanzen, der Kausalität und der Notwendigkeit, ein Wesen denken, das alles dieses in der höchsten Vollkommenheit besitzt [!], und, indem diese Idee bloß auf meiner Vernunft beruht, dieses Wesen als selbständige Vernunft, was durch Ideen der größten Harmonie und Einheit, Ursache vom Weltganzen ist, denken können“ (II 588). Ob mit gebotener Rücksicht auf diese behutsame Einschränkung nicht auch den im Kontext des „Atheismus-Streites“ von Fichte erhobenen Einwänden zu begegnen wäre, sei hier nur als Frage angemerkt.
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„Weisheit“ – auszudehnen, zumal sich doch in ihr die interne „zweckmäßige Verfassung der Vernunft“ selbst und deren eben daraus begründeter „zweckmäßige Gebrauch“ derselben widerspiegelt. Dass diese der „praktischen Bestimmung … angemessene Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ freilich, im Sinne des „negativen Nutzens der Kritik“, den vorgängig zu erbringenden kritischen Aufweis der „Nicht-Unvernünftigkeit“ der „Vernunftideen“ voraussetzt, versteht sich von selbst; dafür erweist sich eben auch der „Schulbegriff der Philosophie“ als unverzichtbar. Einem derartigen Stufengang von – in „transzendentalen Steigerungen“ vollzogenen – Sinnperspektiven zufolge wäre deshalb, gemäß einer differenzierten Idee der „moralischen Teleologie“, mit Kant erneut jene Frage: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“172 aufzunehmen. Sie bleibt nun gemäß jener umfassenden Orientierung daran, wie „wir in das System der Zwecke passen“ (II 687) – dem „Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ entsprechend – auch noch zu präzisieren. Nicht zuletzt der Umstand, dass der Mensch als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ allein aufgrund der „weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ in jenes „System der Zwecke passe“, lässt eine „Affinität“ zutage treten, welche die Frage nach deren „zureichenden Grund“ unumgänglich macht. Weder ist die in jener „Zusammenstimmung“ der Vernunftideen“ und in der „weislichen Proportion der menschlichen Erkenntnisvermögen“ sich spiegelnde „teleologische“ „Grundverfassung der Vernunft“ und deren „Interesse an sich selbst“ aus sich selbst zu begründen, noch ist die ihr immanente Sinnstruktur und ihr Geltungsanspruch („quid juris?“) etwa aus einer „Naturgeschichte des Geistes“ zureichend zu begreifen. Es ist vornehmlich ihre Verankerung in dem „archimedischen Punkt“ der „im moralischen Gesetz sich offenbarenden Freiheit“, die diese in der „moralisch konsequenten Denkungsart“ verwurzelte „Zweckverbindung“ vor dem Verdacht bewahrt, dass die darin vereinten „Voraussetzungen in notwendig praktischer Absicht“ sich bloß lebensdienlichen „Erdichtungen“ im Dienste der Selbstbehauptung verdanken bzw. sich darin erschöpfen. Dieses von Kant verfolgte Programm des Aufweises der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ ist deshalb stets auch als kritische Abwehr einer psychologisierend-genetischen Religionskritik zu vergegenwärtigen.173 172 Die Entfaltung dieser Frage, so hat sich gezeigt, führt auf „Vernunftideen“, welche die Zuversicht der Erreichbarkeit des in dieser Frage Intendierten inspirieren; die demgemäß als „unumgängliche Voraussetzungen“ entworfenen „Ideen“ sind freilich solche, die allein deshalb zu motivieren vermögen, weil sie eben nicht bloße „Ideen ohne Realität“ sind; dass eine „theoretische Idee“ zugleich schon „objektive Realität“ hat, wollte Kant bekanntlich zunächst ausschließlich der „Idee von der Freiheit“ zubilligen (III 523); wenn diese sich aber, wie Kant betont, daran (zwar über den „Umweg“ des „ganzen Gegenstandes der praktischen Vernunft“) anschließen, so wäre die „objektive Realität“ folgerichtig auch auf sie zu „übertragen“. Ebendies besagt ja der Hinweis, dass „das, was für die spekulative [Vernunft] transzendent war, in der praktischen immanent“ wird (IV 265); dass dies doch in einer Spannung zu anderen Äußerungen Kants steht (z. B. IV 107 f ), ist freilich nicht zu übersehen. 173 Dass in diesem zweckmäßigen Gefüge der „Vernunftideen“ nach Kant menschliche Vernunft sich selbst „erhält“, darf so auch verstanden werden im Sinne von Henrichs Bestimmung der kantischen Ideen als „unausweichliche(n) und zugleich lebensspendende(n) und nur als solche wohlmotivierte(n) Fiktionen“ (Henrich 2001, 60). Henrichs Charakterisierung macht noch einmal in besonderer Weise den Bezug dieser Vernunftideen auf den „Primat der praktischen Vernunft“ und den daran geknüpften „lebens-sammelnden“ Anspruch deutlich, der jedenfalls das Missverständnis dieser Ideen als bloße „Fiktionen“ ablehnt.
534 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Vor diesem Hintergrund rückt natürlich erst recht Kants späte Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen als „Copula von Welt und Gott“ in ein besonderes Licht, wäre doch diese existierende „Copula“ nun selbst als „Zweckverbindung der Ideen des Übersinnlichen“ zu begreifen. Erst recht wäre natürlich sein Rekurs auf: „Gott, die Welt, und (de[n] Mensch[en]) das denkende Wesen in der Welt, welches sie verknüpft“,174 in dieser „teleologisch“ zugeschärften Weise zu verstehen. Dies sollte es erlauben, den Zusammenhang zwischen der menschlichen Weisheit und der Idee des „weisen Welturhebers“ im Sinne der von Kant wiederholt geltend gemachten „Zusammenstimmung“ gemäß seiner kritischen Analogie-Konzeption noch zu vertiefen. Folgt dies doch offenbar lediglich aus der hier favorisierten Perspektive, der zufolge die in der „Preisschrift“ angezeigte „transzendentale Steigerung“ darauf hinausläuft, dass sie selbst von der „Zweckverbindung“ dieser „in theoretischer Rücksicht transzendente(n) Ideen“ (III 632), d. h. von dieser „Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (III 650 f ) als einem „System“ dieser „Ideen“, ausgeht und die „moralisch-teleologische Verknüpfung“ (III 647) dieser „Ideen“ somit selbst auf die Frage nach ihrem „zureichenden Grund“ als „Urquell“ derselben führt. Die freilich modifizierte Absicht, nämlich nunmehr „aus der in ihrer Wirklichkeit unbegreiflichen teleologischen Tiefenstruktur der menschlichen Vernunft“ auf jene „höchste Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ (V 560), lenkt die daraus resultierenden „Abschlussgedanken“ mithin erneut auf die Einheit von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“. Indes, ein weiterer Begründungsschritt legt sich im Anschluss an schon vorgestellte Differenzierungen nahe: Denn dementsprechend sieht sich die „mit sich einstimmige Vernunft“ erst recht durch die in solcher „Zweckverbindung der Ideen des Übersinnlichen“ gedachten „Realitäten“ auf jene von Kant grenzbegrifflich angezeigte Idee eines „Grundes aller Realitäten“ verwiesen,175 der einerseits vor allem unkritischen „Anthropomorphismus“ bewahrt – andererseits freilich auch davor, dass überhaupt „alles Denken ausgehe“; in der Vorstellung „eine(s) einigen Gott(es), als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (III 636), hätte dieser angezeigte „Grund aller Realitäten“ auch schon eine „Symbolisierung“ gefunden. Von diesem „grenzbegrifflich“ gedachten 174 AA XXI, 32. Die Ausdehnung der „Reflexe“ der Idee des „Übersinnlichen außer uns“ auf die in dem „Übersinnlichen in uns“ verankerte „Zweckverbindung der Vernunftideen“ und die Verknüpfung dieser Gedankenfigur mit dem soeben zitierten Passus über den „Gott und die Welt“ verknüpfenden „denkenden Menschen“ legt zum einen eine kritische Lesart im Blick auf die von Kant kritisierten „neuplatonisierenden“ Tendenzen nahe; vor allem wecken diese einschlägigen Motive jedoch Assoziationen zu stoischen Motiven – zumal im Blick auf Seneca, der gelegentlich die menschliche Vernunft als den „Geist Gottes in uns“ charakterisierte. 175 Vgl. dazu in diesem Kontext noch einmal die (in I., 2.1.2. angeführte) lange Anmerkung aus dem späten Aufsatz „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton …“, deren besondere systematische Bedeutung hier erneut erkennbar wird und Kants Motiv der „absoluten Transzendenz“ Gottes widerspiegelt. Dann bleibt freilich die weitere Frage, wie sich dieser zu denkende „Grund aller Realitäten“ zu jener früheren kantischen Unterscheidung zwischen dem „Gegenstand schlechthin“ (als bloß unbestimmt gedachtem „Etwas überhaupt“) und dem „Gegenstand in der Idee“ verhält. – Im Ausgang von den in diesem Abschnitt angeführten Motivlinien wäre es eine reizvolle Aufgabe, diese Gedanken Kants mit den subjekt-theoretischen Fundierungen und den daran geknüpften Erkundungen des „religiösen Bewusstseins“ bei Schleiermacher in kritischer Absicht in Beziehung zu setzen.
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„Grund aller Realitäten“ her wäre nunmehr also jene gefügte „Zweckverbindung“ als letztbegründet zu denken; dies lässt wiederum erneut die Anknüpfung an jenen grenzbegrifflichen „Gegenstand in der Idee“ und dessen unaufhebbare Differenz zum „Gegenstand schlechthin“ (s. o. I., 2.1.1.) als unumgänglich erscheinen. Begründet ist der Rekurs auf diesen neuerlichen – grenzbegrifflich thematisierten – „Abgrund für die menschliche Vernunft“ (der gleichwohl ebenfalls „viel zu denken gibt“) eben darin, dass sowohl in der Vernunftidee des „Endzwecks der praktischen Vernunft“ als auch in dem ihn erst ermöglichenden „Gefüge“ jener „selbstgemachten Vernunftideen“ die Vernunft sich selbst zwar notwendig „realisiert“ („schafft“), gleichwohl sich selbst in solcher Nötigung in eigentümlicher Weise entzogen bleibt und so über sich hinaus – besser wohl: hinter sich zurück – „gezogen“ wird (s. dazu u. III., 2.1.). Dann aber wäre es doch diese teleologische Verknüpfung der „Vernunftideen“ (welche ihrerseits den „Endzweck“ des „höchsten Gutes“ fundieren), die derart wohl auf ihren zureichenden Grund verweist; dieser entpuppt sich einer solchen Gedankenfolge gemäß jedoch erst recht als ein „Abgrund der Vernunft“ und legt dennoch eine nochmals differenzierte Anknüpfung an das kantische „Reflexe“-Motiv seines „Sonnengleichnisses“ nahe:176 Jene ganze „Zusammenstimmung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ selbst wäre sonach als jene „Reflexe“ zu begreifen, die so „verweisend“ auf ihren Grund und „Abgrund“ hin (im Sinne jener zuvor benannten kritischen Analogie-Figur) notwendig zu denken geben. Dann wäre die daraus resultierende Frage nach der „ratio essendi“ der „Zweckverbindung“ dieser Vernunftideen (und der ihr eingeschriebene bzw. durch sie erst ermöglichte „zweckmäßige Vernunftgebrauch“: IV 275) selbst eine solche, die der kritischen Vernunftperspektive geschuldet ist. Dennoch wäre daraus nicht schon der direkte Anspruch darauf abzuleiten, dass diese sich selbst begreifende „Zweckverbindung“ – in ihrer „schlechthinnigen“ Kontingenz hinsichtlich ihres faktischen „dass“ und ihres gefügten „wie“ – solcherart selbst über sich hinausweist, ohne damit indes einer unkritischen „Subreption“ zu verfallen. Dessen ungeachtet wäre das zwar nicht in beanspruchter „Einsicht“, aber doch in einem „Vernunftbedürfnis“ verankerte Postulat des „Daseins Gottes“ von daher durchaus zu rechtfertigen als ein „theoretischer, als solcher aber nicht erweislicher Satz“, sofern er mit dieser unauflöslichen „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ unzertrennlich verbunden ist. Ausgehend von der in dieser „Zweckverbindung“ sich manifestierenden besonderen „Zweckmäßigkeit der Vernunft“ (und deren „Selbsterhaltung“) gewinnt jene schon wiederholt angeführte kantische Auszeichnung 176 Dieses „Reflexe“-Motiv, dem zufolge das „Übersinnliche“ allein als die die „Seele moralisch erleuchtende Vernunft“ verstanden werden darf, formuliert eine späte kantische Begründung des „Primats der reinen praktischen Vernunft“. Vielleicht darf es im Sinne Kants ja auch als eine „Immanentisierung“ des „Absoluten“ buchstabiert werden; freilich (mit Kant) so, dass darin zugleich die „gegenläufige“ Bewegung in dem Sinne mitgedacht wird, wonach dieses „immanent“ gewordene Absolute als „Übersinnliches in uns“ der einzig mögliche Ausgangspunkt für eine Bestimmbarkeit der „grenzbegrifflich“ vorausgesetzten Idee des „Absoluten“ bleibt, das nach Kant durch dieses „Übersinnliche in uns“ solcherart jedoch keineswegs ersetzt bzw. „aufgezehrt“ wird. Es bleibt jedenfalls darauf zu achten, dass die in der „dritten Kritik“ als „scibile“ beanspruchte Freiheit wie auch deren fundierende Sonderstellung („von welcher der Anfang muss gemacht werden“: III 632) als „Übersinnliches in uns“ die neue „Freiheitslehre“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ voraussetzt.
536 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ der menschlichen Weltstellung als „copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ wohl noch eine Präzisierung, die gleichwohl „am Ende“ noch eine „Brechung“ der besonderen Art notwendig macht. Resultieren doch aus jener teleologisch erweiterten Form einer „transzendentalen Steigerung“ weitere Fragen, die jene „Zweckverbindung“ im Kontext der von Kant beanspruchten Idee einer „authentischen Theodizee“ noch einmal in einem besonderen Licht erscheinen lässt (s. u. VI. Teil). In indirekter Anknüpfung an jene Analogisierung der Wissens- und Hoffnungsfrage sowie im Ausgang von jener Idee der „moralischen Teleologie“ liegt derart noch ein weiterer Schritt in der Differenzierung jener „transzendentalen Steigerung“ nahe: Jener frühe, schon an der Unterscheidung der theoretischen und praktischen „Welt“-Idee orientierte „Versuch, … ob nämlich auch reine Vernunft im praktischen Gebrauche anzutreffen sei, ob sie in demselben zu den Ideen führe, welche die höchsten Zwecke der reinen Vernunft … erreichen“ (II 676), wird in diesem vom späten Kant ausgewiesenen „dritten Stadium der Metaphysik“ nunmehr dahingehend eingelöst, dass dies nicht allein auf jene „Ideen führe“, sondern überdies den „Zusammenhang“ derselben als eine solche „Zweckverbindung“ legitimiert, die diesen Zusammenhang nun auch als eine „Zusammenstimmung“ ausweist. Letztere wird so als das „System der Ideen“ auf eine Weise vorgestellt,177 dass Metaphysik als „Frage nach dem „Endzweck der Vernunft“ sich folgerichtig – über jene ethikotheologische Begründungsfigur noch hinaus – auf den „zureichenden Grund“ ebendieser „Zweckverbindung“ sowie der in dieser „Selbsterhaltung der Vernunft“ implizierten Selbstaffirmation verwiesen sieht: Es ist die in dieser „Zusammenstimmung“ der „Vernunftideen“ sich realisierende „immanente Verfassung“ der menschlichen Vernunft und die darin sich manifestierende – weil allein der „Proportioniertheit der Erkenntnisvermögen“ und somit der „ganzen Bestimmung“ des Menschen gemäße – „Weisheit“, die so, gemäß dem gesuchten „Endzweck der Metaphysik“ auf die „Weisheit“ eines „moralischen Welturhebers“ als „Grund“ dieser „Zweckverbindung“ der „praktischen Vernunftideen“ (als „vollständige zweckmäßige Einheit“, d. h. „Vollkommenheit“ derselben: IV 599) verweist; freilich muss auch hier in analogem Sinne gelten, dass dem so in grenzbegrifflicher Absicht gedachten „Grund dieser Weisheit“ nicht selbst solche „Weisheit“ als „Eigenschaft angeklebt“ werden darf. Die in dieser „Zweckverbindung“ bzw. der „Zusammenstimmung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ allein gewährleistete „Selbsterhaltung der Vernunft“ und die ihr immanente „Verfassung“ legt so nicht nur die nochmalige Erinnerung daran nahe, dass der frühe Kant diese „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ geltend gemacht hat (s. dazu u. IV., 3). Daran knüpft sich dem Gesagten zufolge jene eröffnete Aussicht darauf, die über diese erweiterte „moralische Teleologie“ auf die Frage 177 Hätten diese Motive der kantischen „Preisschrift“ dem jungen Hegel bekannt sein können, so müsste man geradezu davon ausgehen, dass er sich in Orientierung daran nur wenige Jahre später genau an die Vollendung dieses „dritten Stadiums“ gemacht hat und dabei das kantische Bild des „Kreises“ aufnehmen und gleichsam vollenden wollte: „… so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen“ (Hegel 1, 234). Die Nähe dieser Motive des jungen Hegel zu dem angeführten „Bild des Kreises“ in der späten kantischen „Preisschrift“ ist jedenfalls frappierend.
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nach deren „zureichendem Grund“, d. h. auf die „ratio essendi“ dieser „teleologischen Verfassung der menschlichen Vernunft“ (als eine Voraussetzung ihrer selbst) führte, worin diese sich selbst „erhält“. Dies ist lediglich die Konsequenz aus dem voranstehend angezeigten – über die „Ethikotheologie“ noch hinausgehenden – Versuch, nicht allein von den „moralischen Zwecken vernünftiger Wesen in der Natur“, sondern von der sich in jener „Zusammenstimmung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ manifestierenden inneren „teleologia rationis humanae“ als dem „terminus a quo“ der Bestimmung der Gottesfrage auszugehen, wobei solche „Teleologie“ ebenfalls jedwede Anleihe bei einer bloß äußeren „Zweckmäßigkeit“ (der Nützlichkeit, Zuträglichkeit o. Ä.) schon um der „Selbsterhaltung der Vernunft“ willen verbieten muss. Wenn also diese unauflösliche, d. h. aber auch: in ihrem inneren Zueinander unumkehrbare Verknüpfung der Inhalte des Vernunftglaubens solcherart eine teleologische Verfassung ans Licht bringt, die ihrerseits die Rückfrage nach dem „Grund“ derselben fordert, so scheint lediglich eine Folgerung daraus doch dies zu sein: War die „Moraltheologie (Ethikotheologie) der Versuch, aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur … auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ (V 560), so wäre hingegen die angezeigte Begründungsfigur, aus der in der menschlichen Vernunftverfassung verankerten „Zweckverbindung“ nunmehr auf deren „Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“178, analog dazu wohl mit einigem Recht als „noo-theologisch“ zu bezeichnen,179 die somit auch die „Idee von Gott“ gemäß der kritischen Analogie-Konzeption bestimmen müsste (s. u. III., 3.). Die in ihrem „dass“ selbst „unbegreifliche Wirklichkeit“ dieses „gefügten Gefüges“ der „Vernunftideen“ und die darin zutage tretende „Zusammenstimmung“ gemäß der „moralischen Teleologie“ (und der in ihr sich entfaltenden „teleologia rationis 178 Derart findet in der späten „Preisschrift“ die in der „ersten Kritik“ Kants skizzierte „Architektonik der reinen Vernunft“ eine noch differenziertere Endgestalt, welche die „ganze … philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange“ nunmehr auch mit dem (in seinen „Stadien“ explizierten) „Endzweck der Metaphysik“ verbindet: „Die Philosophie der reinen Vernunft ist nun entweder Propädeutik (Vorübung), welche das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkenntnis apriori untersucht, und heißt Kritik, oder zweitens das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange, und heißt Metaphysik; wiewohl dieser Name auch der ganzen reinen Philosophie mit Inbegriff der Kritik gegeben werden kann, um, sowohl die Untersuchung alles dessen, was jemals apriori erkannt werden kann, als auch die Darstellung desjenigen, was ein System reiner philosophischen Erkenntnisse dieser Art ausmacht, … zusammen zu fassen“ (II 701 f ). Diese „ganze … philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange“ lässt sich nur als die innere Einheit von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ begreifen. 179 Während also als „physikotheologisch“ der „Versuch der Vernunft“ bezeichnet wird, „aus den Zwecken der Natur“ … auf die oberste Ursache der Natur zu schließen“ und die Bezeichnung „ethikotheologisch“ darauf abzielt, „aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ (V 560), wäre als „noo-theologisch“ der Versuch zu bezeichnen, die Gottesfrage im Ausgang von der „Zweckverbindung der Vernunftideen“, d. i. im Blick auf die „teleologische Verfassung der Vernunft“, zu begründen. Hat die der „Schulphilosophie“ zugehörige „metaphysica specialis“ in der späten „Ethikotheologie“ ihre kritizistische Übersetzung und Legitimation gefunden, so wäre die angezeigte „noo-theologische“ Gedankenfigur der „Preisschrift“ eine kritische Weiterführung bzw. Transformation der „Ethikotheologie“. „Sinntheoretische“ Fundierungsversuche der Gottesthematik in gegenwärtigen religionsphilosophischen Ansätzen könnten in diesen kantischen Bezügen vermutlich Anknüpfungspunkte finden.
538 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ humanae“), die sodann in dem den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ eröffnenden „dritten Stadium“ der Metaphysik gewissermaßen „reflexiv“ zu sich kommt, wäre als das Fundament einer gleichsam selbst „ethikotheologisch“ begründeten „noo-theologischen“ Konzeption zu verstehen, die, im Sinne jenes späten kantischen „Analogie“-Motivs (III 389 f ), freilich die vernunftkritisch errichteten Haltesignale keinesfalls ignorieren will. Der damit verbundene kritische Anspruch bewahrt einerseits davor, unversehens in den Sog einer „dogmatistischen Metaphysik“ zu geraten, andererseits könnte das als „Theologie“ bezeichnete „dritte Stadium der Metaphysik“ jedoch erst im Ausblick auf diese angezeigten weiterführenden Motive seinen Abschluss finden. Derart wäre, in Vermeidung des Rückfalls in eine vorkritische Metaphysik, überdies die Möglichkeit eröffnet, traditionell bestimmende Motive derselben in kritizistischer Brechung und gemäß jener „praktisch-dogmatischen Metaphysik“ aufzunehmen und über diese hinaus noch weiterzuführen. Eine besonders interessante Problemperspektive resultiert dabei aus der Verbindung dieser angezeigten teleologischen Perspektiven der „Preisschrift“ mit seiner kritischen Auseinandersetzung mit (neu-)platonisierenden Motivsträngen.180 Indes, Kant hat diese Konsequenzen in seinen fragmentarischen Entwürfen zur „Preisschrift“ selbst nicht (mehr) gezogen; sie hätten es wohl auch unumgänglich gemacht, seine darin vorgenommene Charakterisierung der „Theologie“ (als des „dritten Stadiums“ der „Fortschritte der Metaphysik in der neueren Zeit“) bzw. der „theologischen Idee“ nicht unwesentlich zu modifizieren.181 Dessen ungeachtet verdient diese unübersehbar an seine ethikotheologische Konzeption anschließende Idee der „Zweckverbindung der Vernunftideen“, die von der differenzierten Idee einer „teleologia rationis humanae“ ihren Ausgang nimmt, und die darauf gestützte „noo-theologische“ Begründungsfigur in einer systematischen Hinsicht besonderes Interesse. War es also zunächst die Idee des „höchsten Gutes“, als deren Ermöglichungsgrund die Gottesidee als eine der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“ fungierte, so ist es nunmehr die diesen Rekurs auf die der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“ selbst miteinschließende „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“, welche die „fragende Vernunft“ nach dem darauf bezogenen „Grund“ dieser „Ordnung der Ideen“ Ausschau halten lässt, ohne dabei freilich den grenzbegrifflichen Status des „Gegenstands in der Idee“ zu unterlaufen. So erst wäre jener kantischen Mahnung hinreichend Rechnung getragen, „den Begriff von einer Gottheit“ nicht leichtfertig zu verschwenden (V 562). Wohlgemerkt: Es ist diese von Kant zwar nahegelegte, jedoch von ihm selbst nicht weiter verfolgte Gedankenfigur der „Zweckverbindung der Vernunftideen“, die, selbst in der unbegreiflichen Wirklichkeit des „moralisch schlechthin gebietende(n) Gesetzes“ (d. h. eben der Freiheit als dem „Übersinn180 Die in dieser „noo-theologischen“ Begründungsfigur vorgenommene Verbindung jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ mit jenem ebenfalls sehr späten „Reflex-Motiv“ legt auch einen Blick auf die beim späteren Fichte und Schelling erkennbare Annäherung an neuplatonische Begründungsfiguren nahe; die Möglichkeit einer – kritizistisch gebrochenen – Anknüpfung an „neuplatonische“ Perspektiven einer „negativen Theologie“ und der modifizierten „Hypostasen“-Lehre beim späten Kant ist hier nicht zu verfolgen. S. dazu auch o. I., Anm. 24 u. Anm. 119. 181 Aus einer solcherart erweiterten kantischen Perspektive wäre in der Folge wohl auch ein Blick auf Spinoza und Hegel von besonderem Interesse.
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lichen in uns“) begründet, eine solche „abgründige“ Rückfrage notwendig macht. Dass erst in dem angezeigten „Zusammenschluss“ jener „Vernunftideen“ die „Selbsterhaltung der Vernunft“ sich realisiert, kann in der Folge den ethikotheologisch-„teleologischen“ Status der Gottesidee nicht unberührt lassen. Als „Geheimnis“ „viel zu denken“ gäbe somit nicht allein der „unerforschliche Grund“ der Freiheit, sondern derjenige der in ihr verankerten „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen“ überhaupt, die so das neu errichtete Fundament dieses „Vernunftglaubens“ darstellt. Obgleich sich für einen derartigen, aus der Steigerung der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ hervorgehenden „noo-theologischen“ Versuch bei Kant keine direkten Anhaltspunkte finden, so sind jedoch sachlich durchaus naheliegende diesbezüglichen Anknüpfungspunkte nicht zu übersehen, die jenes Vorhaben eines „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ in der angezeigten Weise noch weiterführen könnten, ohne solcherart freilich „kritizistische Haltesignale“ stillschweigend zu ignorieren. Ob diese in dem voranstehend angezeigten „Ausgang“ noch weiter auszuziehenden Problemlinien sodann auch auf die im „opus postumum“ (in verschiedenen Varianten) vorgenommene Kennzeichnung der menschlichen Vernunft als system-bildende „Mitte“ („medius terminus“) von „Gott und Welt“ führen (vgl. dazu I., Anm. 131), sei hier nur als Frage erwähnt; dies ist hier ebensowenig weiter zu verfolgen wie die für eine religionsphilosophisch-theologische Perspektive in Kants „opus postumum“ unübersehbaren Schwierigkeiten und weitreichenden Konsequenzen daraus. Zu unterscheiden und zu verbinden wären demnach folgende Aspekte: In jenem „gefügten Gefüge“ der Vernunftideen und ihrer inneren „Organisation“ „realisiert“ und „erhält“ menschliche Vernunft sich selbst und erfährt sich darin reflexiv als solche, die gerade in solcher „Selbsterhaltung“ nicht über sich selbst verfügt, ohne dass diese Erfahrung des „Nicht-Verfügens“ indes als „Verfügtheit“, „Fügung“ ins Affirmative quasihypostasiert werden dürfte, was eine kritisch bleibende „negative Theologie“ unbeirrt verbieten muss. Beide genannte Aspekte – die im und als „Gefüge“ sich vollziehende „Selbsterhaltung der Vernunft“ und das darin zugleich innegewordene Nicht-Verfügen über sich selbst sind in Kants (später) Unterscheidung zwischen „Inbegriff“ und „Grund aller Realitäten“ zu berücksichtigen, zumal Gott näherhin als jenes „Wesen, das den Grund aller Realitäten“ enthält [!] (III 390, Anm.), von diesem „Grund“ selbst noch einmal unterschieden wäre und derart die Vernunft vor ihren „Abgrund“ führt.182 182 Lediglich als Verweis auf ein klärungsbedürftiges Problem sei angemerkt, dass die Vermittlung jenes absolut „grenzbegrifflich“ gedachten „Gegenstands in der Realität“ mit Kants Bezugnahme auf Gott als das „Wesen“, „das den Grund aller Realitäten“ enthält, sodann wohl auch einen Ausblick auf jene – widersprüchlichen – Bestimmungen des „opus postumum“ nahelegt; ihnen zufolge ist zwar die „Transzendentalphilosophie“ als „System subjektiver Ideen“ zu verstehen, obgleich in dieser (dem „opus postumum“ zufolge an die Stelle der Metaphysik tretenden) „Transzendentalphilosophie“ das „Dasein Gottes“ gar nicht „gefragt“ sei (s. dazu u. IV., Anm. 372). Auch im Blick auf jenes „Gefüge“ der Vernunftideen ist Kants noch spätere Notiz aus dem „opus postumum“ von besonderem Interesse: „Transsc. Philos. ist die reine Philosophie (weder mit empirischen noch mathematischen vermengt) in einem System der Ideen der speculativen und moralisch//practischen Vernunft in so fern dieses ein unbedingtes Ganze ausmacht“ (AA XXI 77); „Transsc. Philos. ist das System der Ideen in einem absol. Ganzen“ (AA XXI, 80), wobei die „Existenz Gottes“ selbst jedoch gar nicht ihr Thema ist.
540 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Demnach spricht einiges dafür, dass dergestalt noch eine letzte Steigerung dieser gestuften Idee einer „Teleologie“ bzw. der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ ins Blickfeld rückt: Wurde die „Physikotheologie“ als der „Versuch der Vernunft, aus den Zwecken der Natur … auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften zu schließen“, aus prinzipiellen Gründen durch jenen ethikotheologischen Ausgang von dem „moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur“ (V 560) überholt, so wäre die im „archimedischen Punkt“ der Freiheit verankerte „Zweckverbindung“ jener „Ideen des Übersinnlichen“ – die ihrerseits den „Endzweck der Vernunft“ erst als denkbar ausweisen soll – dieserart selbst zum Ausgang der Vermittlung der Gottesidee (als „ratio essendi“ jener „Zweckverbindung“) geworden. Diese von Kant selbst zwar gewissermaßen eröffnete (jedoch nicht explizierte) Gedankenfigur lässt sich somit dahingehend resümieren, dass weder in einer physikotheologischen Begründungsfigur noch allein im Rekurs auf den „praktischen Endzweck“ der Gottesgedanke zureichend begründet wäre. Der kantische Ausblick auf eine „Gottheit als moralischen Urheber“ (III 646) bliebe demnach nicht allein auf den „Endzweck der praktischen Vernunft“ bzw. auf den „Endzweck der Schöpfung“ zu beziehen bzw. darauf einzuschränken. Denn erst in diesem Ausgang von der durch die zweckmäßige Verknüpfung der Vernunftideen selbst bestimmten internen „Verfassung“ und „Selbsterhaltung der Vernunft“, die als „vollständige zweckmäßige Einheit“ (als „teleologia rationis humanae“) über sich hinaus auf ihren „Grund“ verweist, wäre gemäß dieser besonderen und abschließenden „transzendentalen Steigerung“ „der Begriff der Gottheit“ hinreichend zu bestimmen (in dem alle anderen „ontotheologischen“ und „moraltheologischen“ Momente der „theologischen Idee“ „aufgehoben“ wären). Freilich bleibt es dabei: „Was dieser Urgrund [jener zweckmäßigen Verbindung der Vernunftideen des Übersinnlichen“] an sich selbst sei, hat dadurch nicht gedacht werden sollen“ (II 601). Daran anknüpfend legt sich indes ein noch weiter zurückreichender Blick auf eine Gedankenfigur über die „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ nahe: Dort wollte Kant in kritischer Absicht den „teleologischen“ Gedanken als durchaus gerechtfertigt ausweisen, im Ausgang von der „systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung …, welche sich die Vernunft zum regulativen Prinzip ihrer Nachforschungen machen muss“ (II 601), auf die begründende Idee einer „höchsten Intelligenz“ – freilich als einen bloßen „Gegenstand in der Idee“ – zu rekurrieren. Solche teleologische Perspektive auf die „systematische Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung“ und die daran geknüpfte Begründungs-Idee hat sich demzufolge, entsprechend jener „Zweckverbindung“ der „Ideen Übersinnlichen“, gleichsam verschoben; sie wäre nunmehr, freilich über den notwendigen ethikotheologischen Umweg, in jener angezeigten „noo-theologischen“ Begründungsfigur „aufgehoben“ und auch zugeschärft, was in der Folge erst recht für jenen Rekurs auf jenen „Urgrund an sich selbst“ gelten muss. Wenn in der skizzierten Weise die zunächst am Ende der „Ethikotheologie“ – näherhin in der kritischen „Analogie“-Lehre – verortete „theologische Idee“ diesem erweiterten Begründungszusammenhang zufolge auf diese „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ auszudehnen ist, so ist demgemäß jene (nicht als „Inbegriff“, sondern als „Grund aller Realität“ bestimmte) „theologische Idee“ selbst auszuweisen (vgl. III 390 f, Anm.)
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– nunmehr eben als jenes „Wesen“, das den „Grund“ des in dieser „Zweckverbindung“ sich manifestierenden „Zusammenstimmens“ jener Ideen enthält (d. h. dieser „Grund“ also nicht selbst einfachhin ist!), der nunmehr die „Gottesidee“ selbst als ein „Moment“ zugehört – ein „Zusammenstimmen“ wohlgemerkt, in dem menschliche Vernunft sich selbst erhält. Der von Kant verfolgte „Hervorgang“ des „Begriffs von Gott“ „aus unserer Vernunft“ erfordert dieser späten Problemperspektive zufolge also insofern noch einmal eine neue Blickwendung, zumal dieser „Begriff von Gott“ (die „theologische Idee“) demzufolge weder (physikotheologisch) „aus der Theorie der Natur“ noch (ethikotheologisch) aus der „praktische(n) reine(n) Vernunft“ (ebd.) begründet wäre, sondern auf eine andere „teleologische“ Begründung bzw. auf ein „transzendentales Substratum“ verweist, wovon nunmehr zu sagen wäre, dass dies die „teleologia rationis humanae“ auch erst „schließt und krönet“ (II 563). Demgemäß liegt es also zunächst nahe, in entsprechender Weise den im Sinne einer „kritischen Analogie“ geltend gemachten „Grund“ jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ sodann auf jene „symbolische“ Idee eines „einigen Gott[es], als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (III 636) zu beziehen – näherhin in der zweifachen Hinsicht, dass darin dieser „Urquell“ zureichender Grund des „dass“ und des „was“ der in dieser „Zweckverbindung“ zutage tretenden Verfassung zu bestimmen wäre; die in ihr sich reflektierende „Weisheit“ wäre so wohl als „Reflexe des Übersinnlichen außer uns“ anzusehen, zumal derart auch der von Kant jenem „Rechtschaffenen“ (gemäß seiner „praktischen Bestimmung“) zugeschriebene Wille erst seine letztbegründende Einlösung fände, „dass eine Welt überhaupt existiert, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (IV 652). Es ist dieser eng geknüpfte „teleologische“ Begründungszusammenhang der reflexiv uneinholbaren „Realität“ und Sinnstruktur jenes „Vernunftgefüges“ und die darin verankerte (der „praktischen Bestimmung des Menschen“ gemäße) „Weisheit“, von welcher der grenzbegriffliche Verweis auf einen „Grund aller Realitäten“ seinen Ausgang nimmt und doch eine weitere Differenzierung fordert, die über diese Unterscheidung zwischen „Grund“ und „Inbegriff der Realitäten“ hinaus führt. Entsprechend jener denkwürdigen späten Anmerkung wäre eben zu sagen, dass „Gott“ als derjenige gedacht wird, der „den Grund“ dieser sich in jener „Zweckverbindung“ der Vernunftideen manifestierenden „Zusammenstimmung“ in sich enthält – wenn nach Kant offenbar doch nur so die „absolute Transzendenz“ Gottes gewahrt wäre. Nicht nur erhielte Kants Rekurs auf die selbst schon der kritischen „Analogie“-Konzeption verdankte Idee eines „weisen Welturhebers“ solcherart einen besonderen Akzent. Von solchem der Vernunft selbst nicht verfügbaren „Grund“ – gleichermaßen „Abgrund“ der und für die Vernunft – ist freilich, entsprechend jener schon wiederholt angezeigten kantischen Argumentation, auch nur „ex negativo“ zu sagen, dass das Denken darin auf die Idee eines „Wesens“ verwiesen wird, welches, allerdings „nicht aus der Notwendigkeit seiner Natur (per emanationem)“, „den Grund alles dessen in der Welt enthält, wozu wir Menschen Weisheit anzunehmen nötig haben“ (so in Abwandlung eines schon wiederholt angeführten kantischen Argumentes: III 390, Anm.), wie der späte Kant selbst in kritischer Bezugnahme auf die Begründungsfigur der „Analogie“ ausdrücklich geltend gemacht hat. Als dessen – das „religiöse Verhältnis“ erst fundierende – „symbolische Darstellung“ wäre sonach, in einem notwendigen weiteren Schritt, die Kennzeich-
542 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ nung desselben als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (III 636) bzw. als „weiser Welturheber“ anzusehen bzw. als ein solcher auch erst zu legitimieren. Derart gewinnt die in der „Preisschrift“ maßgebende Idee der „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ in systematischer Hinsicht einen durchaus bedeutsamen Stellenwert: Einerseits stellt die darin gedachte „Zusammenstimmung der Ideen“ unverkennbar eine Vertiefung gegenüber der als möglich erwogenen „Verknüpfung“ der „Vernunftideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit … untereinander zu einer Religion“ (V 606) dar; andererseits ist es die in dieser „Zusammenstimmung“ mitgedachte „Vollkommenheit“, die zugleich auf jene – dann eben vornehmlich darauf zu beziehende – Fundierung in dem „Grund aller Realitäten“ (und damit alles „Zweckmäßigen“) vorausweist. Gemäß jener kritischen Analogie-Konzeption wäre die „theologische Idee“ nun als solche zu begreifen: Sie wäre nicht einfachhin als „Grund aller Realitäten“ (und somit auch als „Grund der Vernunftform“ [III 235] jener in der „teleologia rationis humanae“ verankerten „Weisheit“ zu denken, sondern in dem angezeigten Sinne eher als solche, die den „Grund“ derselben enthält. Das in jener „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ gedachte „Verhältnis der menschlichen Vernunft“ zum „Übersinnlichen“ wäre als „Vernunftform“ selbst in dem „höchsten Wesen“ begründet – freilich wiederum in der behutsamen „analogie“-bedachten Weise, dass dieses („was es an sich selbst sei“, für uns „so gar undenkbare“) „höchste Wesen“ doch lediglich „den Grund dieser Vernunftform“ enthält, die sich in jener „Zweckverbindung“ der Vernunftideen – und in der diese fundierenden „Autonomie“! – manifestiert, d. h. ohne selbst mit dem „Grund dieser Vernunftform“ einfachhin identisch zu sein, der aber gleichwohl „in ihm“ ist. Kants behutsamer Hinweis, dass diesem „höchsten Wesen“ selbst „Vernunft“ auch nur „nach der Analogie“ („für uns“) beigelegt werden könne,183 wäre sodann entsprechend dieser „Zweckverbindung“ zu modifizieren. Die an seine Begründung der Unverzichtbarkeit des „transzendentalen Begriffs von Gott“ sowie an die notwendige Unterscheidung zwischen „Inbegriff“ oder „oberste(m) Grund aller Realitäten“ (III 386 f, Anm.) geknüpfte Mahnung, dass, „was die Natur des höchsten Wesens (objektiv) sei, ganz unerforschlich“ bleibe (III 390) – „neuplatonisch“ gesprochen: „Nichts von Allem“ sei, und gerade in solcher „Negation“ eine „von uns gedachte“ grenzbegrifflich notwendige Idee ist –, erweist sich auch für diese Begründungsfigur in besonderer Weise als bestimmend. Rückblickend sei nochmals die nachgezeichnete denkwürdige Stufung vergegenwärtigt: Zunächst war es die Idee einer „zweckmäßigen Einheit der Dinge“, die das „spekulative Interesse der Vernunft“ zwar auf die regulative Idee einer „obersten Intelligenz“ führte (II 594). Gemäß jener Mahnung, den „Begriff der Gottheit“ nicht leichtfertig an „jedes von uns gedachte verständige Wesen“ zu verschwenden (V 562), sollte es, über die „Physikotheologie“ hinaus, der Ausgang von den „moralischen Zwecke(n) vernünftiger Wesen in der Natur“ (V 560) ermöglichen, über die Idee des „Endzweck(s)“, des 183 Dieses Analogie-Motiv findet in der langen und höchst bedeutsamen Anmerkung im späten Aufsatz „Über einen neuerdings erhobenen vornehmen Ton …“ eine aufschlussreiche Entfaltung (III 389 f, Anm.; s. dazu o. I., 2.1.2.); diese „Analogie-Figur“ wäre freilich im Sinne jenes „Grundes der Vernunftform“ zu ergänzen.
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„höchste(n) in der Welt [durch unser Mitwirken] zu befördernde(n) Gut(es)“ bzw. über den zugrunde liegenden „Endzweck der Schöpfung“ die Konzeption eines kritischen „theismus moralis“ zu begründen. Dies erst sollte es also dem „moralischen Theisten“ erlauben, „einen ganz präzis bestimmten Begriff von Gott [zu] machen, indem er ihn nach der Moralität einrichtet“.184 Auch diese ethikotheologische (endzweck-orientierte) Vertiefung noch überschreitend, verdient wohl der späte Bezug auf die in der „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“ verankerte „Zweckverbindung“ (die „Zusammenstimmung“ dieser „Ideen“) noch ganz besonderes Interesse, zumal doch für sie (wie Kant selbst in unüberhörbarer Anspielung auf die „physische Teleologie“ bezeichnenderweise betonte) vorrangig geltend zu machen wäre, dass sie „im ganzen genommen, das höchste in der Welt mögliche Gut, mithin die teleologische oberste Bedingung des Daseins derselben enthalte, und einer Gottheit, als moralischen Welturhebers, würdig sei“ (III 646). Und nur beiläufig sei noch einmal daran erinnert, dass ohne die Rücksicht darauf nach Kant auch das Motiv der „Ehre Gottes“ nicht angemessen zu bestimmen ist. Diese besondere „teleologische“ Abschluss-Perspektive darf mithin auch in der zuletzt maßgebenden „Idee eines Ganzen aller Zwecke“ (VI 133, Anm.) nicht ausgeblendet bleiben. Das in dieser „Zweckverbindung“ begründete bzw. sich „realisierende“ Verhältnis der menschlichen Vernunft zu Gott wäre sonach als ein solches zu denken, in dem zugleich das Verhältnis dieses „Urwesens“ zur Welt – und somit aber auch zu der diese Vernunftverfassung widerspiegelnden „Zweckmäßigkeit“! – gedacht ist, welches man (jener früheren Wendung Kants zufolge) „also hierdurch zwar nicht nach dem, was es an sich selbst ist, aber doch nach dem, was es für mich ist, nämlich in Ansehung der Welt, davon ich ein Teil bin, erkenne“ (III 233). Erst daraus, d. h. in gebotener Rücksicht auf solche „Erkenntnis nach der Analogie“, wäre nunmehr der „Endzweck der Metaphysik“ angemessen bestimmbar, wenn doch erst dies den Ideen eines „Endzwecks des Menschen“ und des „Endzwecks der Schöpfung“ genügt. Dies führt sonach auf den grenzbegrifflichen Gedanken eines „Sinn-Grundes“, der in der Idee eines „moralischen Welturhebers“ selbst schon seine „symbolische Darstellung“ gefunden hat. Ein Ergebnis dieses Rückblicks wäre somit wohl auch dies: Über diese durch die „Preisschrift“ eröffnete Perspektive wäre die Thematik der „Selbsterhaltung der Vernunft“ noch einmal enger mit der Gottesthematik verbunden, ohne damit in eine vorkritische Metaphysik zurückzufallen; vielmehr wäre die solcherart erweiterte bzw. vertiefte Teleologie-Konzeption selbst diesem „dritten Stadium“ der Metaphysik zugehörig und als ein Ergebnis des durchschrittenen Läuterungsprozesses und der selbstreflexiven Verortung anzusehen. Damit wäre nun auch die im „dritten Stadium der Metaphysik“ entfaltete „Theologie“ auf eine Weise zu einem Abschluss gebracht, die in solcher Vermittlung auch jenen („leeren“, obgleich als deren „Substrat“ unverzichtbaren) „metaphysischen Gottesbegriff“ sowie die kritisch rezipierten Motive der „physischen“ und „moralischen Teleologie“ als unverzicht184 AA XXVIII, 34. In Kants Rekurs auf den „moralischen Monotheismus“ ist stets die Abgrenzung vom „jüdischen“ und auch vom „ägyptischen „Monotheismus“ mitzuhören; jener geht erst aus der – geschichtlich hervorgetretenen – Verbindung von „Theologie und Moral“ hervor, die sodann auch der Auszeichnung der Religion als einer „reinen Vernunftsache“ zugrunde liegt.
544 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ bare Stufen dieser teleologischen Konzeption aufzunehmen hätte. Innerhalb dieses „dritten Stadiums“ selbst, das die kantische „Vernunftkritik“ sowie die einzelnen Momente des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ in sich vereint und sonach als „Theologie“ gleichsam fokussiert, fände somit nicht nur jenes schon in der „ersten Kritik“ so benannte Motiv einer „transzendentalen Steigerung“ eine denkwürdige Entfaltung; das ganze „dritte Stadium der neueren Metaphysik“ (als dasjenige der „Theologie“) wäre dergestalt in seiner teleologischen „Tiefenstruktur“ rekonstruierbar, wodurch jene Leitperspektive einer „Geschichte der reinen Vernunft“ über die Rezeption dieser Motive der „Preisschrift“ eine nicht unwesentliche Bereicherung auch im Sinne des kantischen „System“-Begriffs erhielt. Ein wenigstens kurzer Ausblick auf bemerkenswerte Perspektiven im „opus postumum“ fügt sich an: In diesen „noo-theologischen“ Kontext eingebettet gewinnt jedenfalls die noch spätere Bezugnahme Kants auf „Gott, die Welt, und de(n) Geist des Menschen als das, was … erstere verbindet“185, besondere Bedeutung und auch einen bemerkenswert präzisen Sinn. Auch ein sehr bemerkenswerter Passus aus einer späten Vorlesung Kants über „Rationaltheologie“ darf wohl ganz im Sinne jener Frage nach dem „Grund“ als transzendenter „Urquell“ jener „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ (in ihrer „relationalen Einheit“) gelesen werden: „Gott hat alle Realitäten in sich, mithin auch Vernunft, also ist das ens realissimum auch eine intelligentia, aber dies folgt nicht. Gott kann realissimum als Grund sein und kann Grund von der Vernunft der Weltwesen sein, ohne selbst Vernunft zu haben“186 – wohl in jenem oben dargelegten Sinne, dass dieser „den Grund alles dessen in der Welt enthält, wozu wir Menschen einen Verstand [und Willen] anzunehmen nötig haben“ (III 390, Anm.) – als solcher infolgedessen selbst wohl eher als „Ungrund“ zu bezeichnen wäre und so die Vernunft vor ihren „Grund“ und „Abgrund“ führt. Die Nähe zu der von Kant gelegentlich angezeigten „Analogie“-Lehre ist nicht zu übersehen, somit aber auch diejenige zu seinen früheren Hinweisen auf „den Grund dieser Vernunftform“ (III 235) und auf die Unterscheidung zwischen „Inbegriff“ und „Grund aller Realitäten“. Es sollte deutlich geworden sein, dass ohne diese kritisch erweiterte teleologische Perspektive das „dritte Stadium der Metaphysik“ als dasjenige der „Theologie“ jedenfalls noch unvollständig bliebe. Die späteren Überlegungen zum Stellenwert der kantischen Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“ (s. u. III., 3.) werden diese Themen noch weiter verfolgen und auch noch vertiefen. Am Ende der hier unternommenen Analyse dieser erweiterten bzw. mehrstufigen Idee der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ und ihrer Einbindung in die Idee einer „moralischen Teleologie“ resultiert nun noch eine ihrem Reflexiv-Werden im „dritten Stadium 185 AA XXI, 23. 186 AA XXVIII, 780. In dem gemäß der „relationalen Einheit“ dieser „Zweckverbindung der Ideen des Übersinnlichen“ nunmehr erweiterten Sinne wäre also jenes späte kantische Sonnengleichnis zu lesen: „Zwar in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen, ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft), und selbst in praktischer Absicht hinreichend [und auch allein der „praktischen Bestimmung“ des Menschen angemessen] zu sehen … ist ganz tunlich“; im Blick auf den noch späteren Rekurs Kants auf „Gott, die Welt, und de(n) Geist des Menschen als das, was … erstere verbindet“ (AA XXI 23), ließe sich die daraus entstehende Gedankenfigur als eine späte „kritische Apologie“ Kants für platonisch-neuplatonische Motive buchstabieren, die freilich – kritisch gebrochen – gerade die „vornehmen Töne“ jener zeitgenössischen Neuplatoniker zu vermeiden vermag, die bekanntlich Kants bissigem Spott ausgesetzt waren.
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der Metaphysik“ zugehörige Perspektive: Sie expliziert diese „Steigerung“ der „transzendentalen Zweckmäßigkeit“ und der darin sich manifestierenden „Zusammenstimmungen“ im „System aller Vermögen des menschlichen Gemüts“ (vgl. V 182 ff ) und spannt so noch einmal den Bogen zu jener wesentlich differenzierteren ethikotheologischen Frage, wie dieses „vernünftige Weltwesen“ in seiner spezifischen Weltstellung „in das System aller [!] Zwecke“ passt – in dem nunmehr auch das „Zusammenstimmen“ in jener „Zweckverbindung“, aber auch jenes „System der Postulate“ aufgehoben sein müssen.187 Im Rückblick auf diese von der „Preisschrift“ über die „wirklichen Fortschritte in der Metaphysik“ ausgehenden Problemperspektiven bestätigt sich: Der aus der „Vollendung des kritischen Geschäfts“ und aus der daran geknüpften „spekulativen Einschränkung der Vernunft und der praktischen Erweiterung derselben“ eröffnete „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ und seine Entwicklung im „dritten Stadium der Metaphysik“ erweist sich selbst als ein spätes Ergebnis einer langen Entwicklung, die das philosophische Denken in der „Geschichte der reinen Vernunft“ durchschreiten musste, um darin erst die „metaphysische Naturanlage“ des Menschen bzw. des „Endzwecks der Metaphysik“ sowie den sich explizierenden Begriff des „Absoluten“ in differenzierter Form zur Entfaltung zu bringen. Erst dies erlaubt es nunmehr, in kritischer Absicht von einer „praktisch-dogmatischen Metaphysik“ als dem letzten Stadium – und somit „der praktisch-dogmatischen Vollendung ihres Weges“ (III 615) – zu sprechen.188 Ausgehend von der in Kants „Preisschrift“ verfolgten weiterführenden Problemkonstellation sei hier – im Ausblick auf bestimmende Themen des IV. Teils – festgehalten: Sofern jene praktischen Vernunft-Ideen (und ihre „Organisation“) derart als solche legitimiert werden, die ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“ in freilich je unterschiedlicher Weise (in seinem Erkennen und Denkens, Handeln und Hoffen) auf einen „Unbedingtheits“-Anspruch hin orientieren, gewinnen sie existenz-orientierende („existenz-erhellende“) Bedeutung, zumal „endliche Vernunft“, jener „teleologia rationis humanae“ gemäß, erst dadurch ihre interne stabile Verfassung findet, d. h. „Selbsterhaltung der Vernunft“ nicht anders als in dem solcherart differenzierten „Gebrauch der Vernunft“ gewährleistet ist. Einer kantischen Perspektive zufolge wäre es freilich geradezu als ein verlässliches Indiz für jene „teleologia rationis humanae“ anzusehen, dass die in dem durchlaufenen Prozess der heilsamen Er-
187 Diesbezüglich sei auch hier auf Refl. 1820a hingewiesen (s. u. IV., Anm. 407) – ebenso darauf, dass die kantische Bestimmung des „Gemüts“ einen eigentümlichen, die „ganze Bestimmung des Menschen“ als eines „vernünftigen Weltwesens“ in sich begreifenden „Ganzheits“-Bezug enthält und allen seinen „Vermögen“ offenbar eine „teleologische“ Struktur innewohnt: „Das Gemüt (animus) des Menschen, … als Inbegriff aller Vorstellungen, die in demselben Platz haben, hat einen Umfang (sphaera), der die drei … Grundstücke Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögens befasst, deren jedes in zwei Abteilungen, dem Felde der Sinnlichkeit und der Intellektualität, zerfällt (dem der sinnlichen oder intellektuellen Erkenntnis, Lust oder Unlust, und des Begehrens oder Verabscheuens)“ (VI 429, Anm.). Der diesem „Gemüt“ immanente „teleologische“ Zug wird in der angeführten kantischen Bezugnahme auf die „innere Zweckbestimmung“ des menschlichen „Gemüts“ (V 587) besonders deutlich. 188 Indes: Die Entfaltung der „metaphysischen Naturanlage“ des Menschen kann erst aus der Verbindung der „vollendeten Ethikotheologie“ mit der auf dem neuen Fundament der neuen „Freiheitslehre“ errichteten Postulatenlehre zum Abschluss kommen, weil erst so der notwendige „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ selbst ins Blickfeld rückt (s. u. IV.).
546 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ nüchterung resultierende „Vollendung des kritischen Geschäfts der Vernunft“ sowie die daraus gewonnene Einsicht in den „letzte(n) Zweck des reinen Gebrauchs unserer Vernunft“ (II 671) zuletzt in das mit dem „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ konvergierende Motiv einmündet, dem zufolge „die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich [!] nur aufs Moralische gestellet“ ist (II 674) und so jenen Aufweis der „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ nochmals bestätigt. Dies ist nunmehr mit jener schon vorgestellten Begründungsfigur zu verknüpfen, wonach diese „Zweckverbindung“ der Vernunftideen – und somit auch die darin verankerte, der „praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessene Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (IV 281), – sich selbst in der angezeigten Weise „entzogen“ bleibt – und eben genau dies der „menschlichen Weisheit“ entspricht. Damit tritt also ein ganz besonderer Endlichkeits-Aspekt der Vernunft ins Blickfeld: Zunächst war ja mit der dem „Schulbegriff der Philosophie“ zugehörigen Ausbildung und Differenzierung des „Unbedingten“ die Aufgabe verbunden, die „zur Grundlegung einer Wissenschaft, welche das System aller dieser Erkenntnisse a priori enthalten soll“, erforderliche Unterscheidung der „Ideen“ als „Vernunftbegriffen“ „von den Kategorien, oder reinen Verstandesbegriffen“ (III 199) vorzunehmen. Sodann war es unumgänglich, den „Ursprung der Ideen in den drei Funktionen der Vernunftschlüsse“ aufzuklären und deren Differenzierung zu leisten; diese in je unterschiedlicher Weise auf die „unbedingte synthetische Einheit aller Bedingungen überhaupt“ abzielenden Ideen „Seele, Welt, Gott“ und die Explikation ihrer systematischen „Einheit“ verwiesen wiederum auf das freizulegende Verhältnis dieser theoretischen und praktischen Ideen zueinander. Dies führt folgerichtig auf die Frage, wie die auf die „unbedingte synthetische Einheit aller Bedingungen überhaupt“ gerichteten Vernunftideen („psychologische“, „kosmologische“ und „theologische“ Idee) und deren „Zusammenschluss“ mit den nunmehr „praktisch bestimmten“ Vernunftideen „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ verbunden sind. Sie explizieren als solche den im „Weltbegriff der Philosophie“ thematisierten „höchsten Zweck der menschlichen Vernunft“ bzw. dessen Möglichkeitsbedingungen, an denen die Vernunft deshalb noch einmal in ganz anderer Weise Interesse nimmt und die sodann, als der „Vernunft abgenötigte Voraussetzungen“, noch einen besonderen – eben: postulatorischen – Status gewinnen. Erst recht ist es der durch jenen „Zusammenschluss“ der praktischen Vernunftideen begründete – der „ganzen Bestimmung des Menschen“ angemessene – „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ selbst und die ihn fundierende „Verfassung“, deren immanenter Geltungsanspruch sich auch nicht in einer Art „psychologistischer Genealogie“ („fiktionalistisch“) relativieren lässt. Gleichwohl bleibt dieser „Zusammenschluss“ (d. h. die darin zutage tretende „immanente Teleologie“) als schlechthin vorgängiges Faktum in seiner „Unbegreiflichkeit“ zu begreifen – eine besondere Gestalt einer „docta ignorantia“ –, ohne damit freilich eine genealogisch-empirische Erklärung ihrer „Realisierung“ in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ in Frage stellen zu wollen – eine Problemperspektive, die wohl auch in religionsphilosophischer Hinsicht von besonderem Interesse ist und in eigentümlicher Weise „Genesis und Geltung“ verbindet. Eine überraschende Konsequenz aus dieser kantischen Argumentation sei hier noch erwähnt. Lediglich eine Folgerung aus jenem kantischen Argument über die der „praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessene Proportion seiner Erkenntnisvermögen“
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(IV 281 ff ) – wonach „die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist, in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu teil werden ließ“ (IV 283) – wäre doch dies: Das notwendige „Misslingen“ aller einschlägigen Ansprüche einer „Beweisbarkeit“ des Daseins Gottes wäre demzufolge nicht nur kein Defizit und auch allein der „moralischen Bestimmung des Menschen“ durchaus angemessen189; der nur durch die Nicht-Beweisbarkeit des „Daseins Gottes“ gewährleistetete bzw. eröffnete „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ wäre indes selbst – im Sinne der „teleologia rationis humanae“ – in der Idee eines „moralischen Welturhebers“ begründet. Die Nichtbeweisbarkeit des Daseins Gottes selbst sowie die daraus gespeiste „docta ignorantia“, aber auch die „Unerforschlichkeit“ des Grundes der „Freiheit“ hätten mithin selbst – und zwar als eine „Zweckmäßigkeit“ von besonderer Art – allein in der „Weisheit“ eines „moralischen Welturhebers“ ihren „zureichenden Grund“ – anders wäre die „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen und der für ihn als „moralische Persönlichkeit“ konstitutive „Sinn des Unbedingten“ nicht zu denken. Die behutsame Rücksicht darauf, ein „Bedürfnis der Vernunft“ nicht mit „Einsicht“ zu verwechseln, wäre demnach selbst in einer „teleologischen“ Hinsicht zu verstehen. Dass jene „nicht zu dämpfende [und dennoch stets neu ent-täuschte] Begierde, durchaus über die Grenze der Erfahrung hinaus irgendwo festen Fuß zu fassen“, sich zuletzt auf de(n) einzigen Wege, der ihr noch übrig ist, nämlich de(m) des praktischen Gebrauchs (II 670 f ), verwiesen sieht, ist so keineswegs eine bloße Verlegenheit bzw. deren Kompensation, sondern erweist sich als Fundament eines „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“, ohne den auch die „Ehre Gottes“ nicht zu denken wäre (s. o. III., 1.3.3.). Solcherart wird erneut der weite Bogen sichtbar, den jenes „dritte Stadium der Metaphysik“ – von der „Kritik der reinen Vernunft“ zum „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ – umgreift. Doch nicht nur dies: War im Eröffnungssatz der „Kritik der reinen Vernunft“ von einer geradezu schicksalhaften Aporetik der durch unabweisliche und gleichermaßen unauflösliche Fragen „belästigten“ – und scheinbar zu unüberwindlicher Orientierungslosigkeit verurteilten – menschlichen Vernunft die Rede (II 11), so werden „Gott, Freiheit, Unsterblichkeit der Seele“ zunächst einmal im läuternden Hindurchgang durch die „Kritik“ als die eigentlichen Themen der Metaphysik und ihrer „Nachforschungen“ in „grenzbegrifflicher“ Behutsamkeit legitimiert; zuletzt jedoch, d. h. im Rückblick am Ende dieses „dritten Stadiums“, erweisen sie sich nunmehr darüber hinaus denkwürdigerweise in einer „Zweckverbindung“ von „Ideen des Übersinnlichen“ als systematisch „zusammenstimmend“ vereint und lassen dergestalt eine „teleologia rationis humanae“ zutage treten.190 Diese „Zweckverbindung“ ist selbst, wie eine existenzialanthropologisch 189 Schon in seinen frühen Vorlesungen hat Kant wiederholt darauf hingewiesen: „Dieser Glaube ist daher auch nicht Wissen, und, Heil uns! Dass er es nicht ist; denn eben darin erscheinet die göttliche Weisheit, dass wir nicht wissen, sondern glauben sollten, dass ein Gott sei“ (AA XXVIII, 1083). 190 Eine bedeutsame Verschiebung in der Begründungsfigur wird auch darin erkennbar, dass jene späte „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen“ in gewisser Weise sogar der frühen These Kants widerspricht, wonach „(d)ie Metaphysik … zum eigentlichen Zwecke, ihrer Nachforschung nur drei Ideen“ habe: „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, so daß der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen notwendigen Schlußsatz, führen soll“ (II 338, Anm.). Die „Zusammenstimmung“ in dieser „Zweckverbindung“ als einem „System der Postulate“ ist gerade dadurch begründet, dass sie erst das
548 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ verankerte Perspektive noch erweisen soll (IV. Teil), in dem – „menschliche Weisheit“ erst fundierenden – „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“ noch einmal „aufgehoben“; dadurch erfüllt das „endliche Vernunftwesen“ nach der „Beschaffenheit, mit der es wirklich ist“, die in jener „Lehre vom Endzweck der Vernunft“ enthaltene „Forderung“ des Überschritts im Existenz-Vollzug gleichsam „in individuo“ und „in concreto“ „an sich selbst“.191 2.2.2. Vom Ende des „dritten Stadiums der Metaphysik“ her betrachtet: Die umfassend gedachte Idee eines „Reichs der Zwecke“ – eine über die „Organisation der reinen praktischen Vernunft“ noch hinausweisende teleologische Perspektive? Anknüpfend an die Idee einer „moralischen Welt“ und im Sinne der voranstehenden Überlegungen zur „teleologia rationis humanae“ liegt ein nochmaliger Blick auf den fundamentalphilosophischen Gehalt der Idee eines „Reichs der Zwecke“ nahe192 – auch in der Absicht, eine häufig zu beobachtende Einengung der kantischen Idee eines „Reich(s) der Zwecke als ein Reich der Natur“ (die in der Moralphilosophie zunächst ja tatsächlich im Vordergrund steht, sich jedoch darin nicht erschöpft) zu vermeiden. Damit soll jene frühe – eben moralphilosophisch akzentuierte – Kennzeichnung des „Reichs der Zwecke“ als Idee eines „Ganze(n) aller Zwecke, (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag) in systematischer Verknüpfung“ (IV 66), um entscheidende Akzente bereichert werden. Diese Idee des „Reichs der Zwecke“ hat wohl erst in jenem teleologischen „Weltbegriff“ – eine „Welt, als ein nach Zwecken zusammenhängendes Ganzes und als System von Endursachen“ (V 569) – ihre umfassende Bestimmung und in den entsprechenden Motiven der „Preisschrift“ auch noch eine letzte reflexive Zuschärfung gefunden.193 Erst in der „Idee des Ganzen „höchste Gut“ (als „Endzweck der praktischen Vernunft“), das als solches eben selbst gerade kein „Postulat“ ist, begründet. Insbesonders bezüglich des Verhältnisses zwischen dem „Unsterblichkeits“-Postulat und der Idee des „höchsten Gutes“ finden sich bei Kant bisweilen missverständliche Formulierungen. 191 So heißt es im sogenannten Jachmann-Prospekt: AA VIII, 441; das vollständige Zitat ist in IV., Anm. 585 angeführt. 192 Kants Bestimmung dieser Idee des „Reichs der Zwecke“ (und deren bedeutsamer systematischer Stellenwert) wird häufig nur verkürzt wahrgenommen: Weist doch der Gehalt dieser Idee (die letztlich das „Reich der Natur“ und das „Reich der Freiheit“ umfasst) über einen zu eng gesteckten moralphilosophischen Rahmen hinaus. Vor allem ist Leibnizens Kennzeichnung des „Reichs Gottes“ als einer „moralische(n) Welt in der natürliche(n) Welt“ (Monadologie Nr. 86) als maßgeblicher Hintergrund dieser kantischen Idee eines „Reichs der Zwecke“ unschwer zu identifizieren, wenngleich Kant in dieser umgreifenden „Idee“ die theoretische und praktische Vernunftidee differenziert und sie später (bezeichnenderweise in seiner „dritten Kritik“) in einer ethikotheologischen Gestalt dennoch vereinigt. Dort findet erst die frühere – umfassendere – Bestimmung des „Reichs der Zwecke“ ihre Einlösung (IV 70, Anm.) und zugleich eine Weiterführung. Kant hat diese Motive in ethikotheologischem Kontext religionsphilosophisch expliziert und noch zugeschärft. 193 Vgl. dazu K. Düsing (1968), der diesen „teleologischen Weltbegriff“ als die „beziehungsreichste Weltvorstellung bei Kant“ ansieht (1968, 27); dies liegt schon deshalb nahe, weil es auch den „theoretischen“ und den „praktischen Weltbegriff“ in sich vereint.
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aller Zwecke“ wird die im Sinne einer „theoretischen Idee“ entworfene teleologische Konzeption der „Natur als ein Reich der Zwecke“ mit der im Sinne einer „praktischen Idee“ gedachten Moral als „ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur“ (IV 70, Anm.) nunmehr zu einem umfassenden „System der Zwecke“ vereint. Deren Entfaltung führt zuletzt auf die abschließende Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ (bzw. des „Endzwecks aller Dinge“) und vermag so erst die in einer systematischen Hinsicht notwendige „Vermittlung zwischen spekulativer und praktischer Vernunft“ einzulösen. So zeigt sich, dass in dieser Idee eines „Reichs der Zwecke“ die Welt als „Reich der Natur“ (als „eine sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“) und als „Reich der Freiheit“ als ein „System der Zwecke“ in der umgreifenden Einheit eines teleologischen Ganzen gedacht sind.194 So bedeutsam jene Orientierung an der Idee einer „moralischen Welt“ (sowie an der darin lediglich „mitenthaltenen“ „eigenen Glückseligkeit“) im Rahmen der in der Ethik begründeten „Ordnung der Zwecke“ zweifellos ist, so sehr bleibt jedoch das fundamentalphilosophische Fundament der Ethikotheologie davon noch unterschieden und kann wohl auch erst vor dem Hintergrund der „dritten Kritik“ Kants (der dort im Vordergrund stehenden Vermittlung von „Natur und Freiheit“) ins Blickfeld rücken. So erst wird jener frühe – bezeichnenderweise mit Blickrichtung auf Leibniz erfolgter – programmatische Rekurs auf die umgreifende Idee des „Reichs der Zwecke“ als Einheit des „Reichs der Natur“ und des „Reichs der Zwecke“ (IV 70, Anm.) nachvollziehbar.195 In diesem systematisch erweiterten Problemkontext tritt noch ein anderer Aspekt der für Kants Denken in vielerlei motivlichen Hinsichten bedeutsam gebliebenen Leibniz’schen Erbschaft in den Vordergrund. Er wird erneut bestätigen, dass auch seine späten ethikotheologischen Bezüge ausdrücklich, obgleich in unvermeidlich kritizistischer Brechung, an eine – von ihm allerdings geforderte – erweiterte Konzeption der „prästabilierten Harmonie“ Leibnizens anknüpfen, die so auch ein besonderes systematisches Interesse gewinnt. Demzufolge ist dieses Leibniz’sche Motiv keineswegs auf das „Leib-Seele“-Problem einzuschränken;196 offenbar wurde dies von Kant dahingehend verstanden, dass schon Leibniz „jene vorherbestimmte Harmonie noch … auf die zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der Gnaden (dem Reich der Zwecke in Beziehung auf den Endzweck, d. i. den Menschen unter moralischen Gesetzen) ausdehnt, 194 Nicht zuletzt in Kants religionsphilosophischen Vorlesungen finden sich unübersehbar einschlägige Hinweise – so etwa in der Bestimmung des „Systems der Zwecke“, das gleichermaßen „das System der Zwecke durch Freiheit“ und das „System der Zwecke nach der Natur der Dinge“ (AA XXVIII, 1099 f; 1201 f; 1307) umfasst. 195 Im Lichte der maßgeblichen thematischen Perspektiven der „Kritik der Urteilskraft“ gewinnt ein früher Vorlesungs-Passus besonderes Gewicht, der das Thema der „Selbsterhaltung der Vernunft“ mit dieser fundamentalphilosophischen Perspektive verbindet: „Um unsere Vernunft mit sich selbst einstimmig und das System der Natur und Freiheit von der Welt harmonisch ihr zu machen, kann ich mir ein Wesen als Gott denken, aber seine Existenz und ob er auch Intelligenz und summum bonum sei, weiß ich nicht“ (AA XXVIII, 1237). 196 Dies hat auch Hegel ausdrücklich betont (vgl. § 60 seiner „Enzyklopädie“). – Dass die der Sache nach auf Kant hinweisenden einschlägigen Lehrstücke Leibnizens in anderer Blickrichtung auf cartesianische Problemstellungen und Aporien zurückweisen und dieserart indirekt die metaphysischen Konzeptionen Kants und Descartes’ verknüpfen, ist hier nicht näher zu verfolgen; innerhalb der kantischen „Stadienlehre“ der neueren Metaphysik wäre dies freilich ein besonders wichtiges Thema.
550 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ wo eine Harmonie zwischen den Folgen aus unseren Naturbegriffen und denen aus dem Freiheitsbegriffe, mithin zweier ganz verschiedener Vermögen, unter ganz ungleichartigen Prinzipien in uns, und nicht zweierlei verschiedene außer einander befindliche Dinge in Harmonie gedacht werden sollen (wie es wirklich Moral erfordert), die aber, wie die Kritik lehrt, schlechterdings nicht aus der Beschaffenheit der Weltwesen, sondern, als eine für uns wenigstens zufällige Übereinstimmung, nur durch eine intelligente Weltursache kann begriffen werden“ (III 373). Auch dies spricht in systematischer Hinsicht wohl dafür, Kants späte kritische „metaphysische“ Gesamtkonzeption als eine kritizistisch gebrochene Aneignung der Leibnizschen Idee eines differenzierten „Reichs der Zwecke“ zu verstehen, die jene metaphysischen Bestimmungen des „Reichs der Natur“ und des „Reichs der Gnaden“ – auch – am Leitfaden der kantischen Grundfragen im Sinne eines Systems der „notwendig zu denkenden theoretischen und praktischen Voraussetzungen“ zu buchstabieren erlaubt. Es wurde schon erwähnt, dass noch der späte Kant mit der durch seine Vernunftkritik zwar vollzogenen „Brechung“ indes ausdrücklich eine „eigentliche Apologie für Leibniz“ (III 373) leisten wollte – ein gewiss denkwürdiger Aspekt, der jene kantische „Stadienlehre“ der „Preisschrift“ insofern noch wesentlich erweitert, als diese von ihm intendierte „Apologie“ doch selbst noch dem von ihm für die eigene Selbstverortung beanspruchten „dritten Stadium“ der „neueren Metaphysik“ zugehört. So wenig also außer Acht bleiben darf, dass die von Kant intendierte „praktisch-dogmatische Vollendung“ des „Weges und der Gelangung der Metaphysik zu ihrem Endzwecke“ in ausdrücklicher Ablösung von der „theoretisch-dogmatischen“ Metaphysik (und somit auch von Leibniz) geschieht und allein auf dem „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ basiert, so wenig darf dies auch über die angezeigten fundamentalphilosophischen Problemperspektiven hinwegsehen lassen, die sich gerade auch für dieses späte Stadium der Metaphysik selbst als unverzichtbar erweisen. Diese von maßgeblichen Motiven der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ und der „Preisschrift“ – sowie von einer entsprechend vertieften Idee des „Reichs der Zwecke“ – ausgehenden Überlegungen führen so zuletzt auch auf das Verhältnis bzw. die Einheit von „Physiko“- und „Ethikotheologie“: Ungeachtet dessen, dass die ethikotheologische Begründung der Gottesthematik die „Physikotheologie“ nach Kant nicht allein zu ergänzen, sondern sogar zu „ersetzen“ vermag (V 611),197 verweist doch gerade jenes angezeigte Motiv eines „besondern Beziehungspunkt(s) der Vereinigung aller Zwecke“, der die „Gesetzgebungen der Natur und der Freiheit“ verknüpft, darüber hinaus auf thematische Bezüge, die bezeichnenderweise schon bei den unmittelbaren Nachfol197 Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Kants Argumentation im späten „moralischen Katechismus“ (IV 620 ff, bes. 622 f ) in einer Spannung zur Bestimmung des Verhältnisses von „Physikotheologie“ und „Ethikotheologie“ (vgl. §§ 85–87 der „Kritik der Urteilskraft“) steht und im Grunde den dort der Ethikotheologie zugeschriebenen Anspruch sogar relativiert. Interessant ist andererseits, dass Kant in seinem Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ (aus dem Jahr 1788) hingegen noch ausdrücklich betonte, dass „ein apriori durch reine praktische Vernunft bestimmt gegebener Zweck (in der Idee des höchsten Gutes) den Mangel der unzulänglichen Theorie der „theoretischen Natur-Wege (in Ansehung der Erkenntnis Gottes)“ „ergänzen müsse“ (V 139).
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gern Kants in den Vordergrund getreten sind und in recht unterschiedlichen Differenzierungen bestimmend wurden. Vermutlich gibt hier eine an Schelling gerichtete Anfrage des jungen Hegel198 einen denkwürdigen Wink – nämlich, ob wir „nach Befestigung des moralischen Glaubens die legitimierte Idee von Gott jetzt rückwärts brauchen, z. B. in Erklärung der Zweckbeziehung usw., sie von der Ethikotheologie her jetzt zur Physikotheologie mitnehmen und da jetzt mit ihr walten dürften“199 – ohne damit, so Hegels offensichtliches Anliegen, in eine vorkritische Metaphysik zurückzufallen. In solchem – an der rechten Begründungsordnung orientierten – „Rückgang“ von der ethikotheologischen zu einer „physikotheologischen“ Perspektive200 wäre des Weiteren innerhalb dieses religionsphilosophischen Begründungskontextes im Sinne einer Entfaltung der Idee des „Reichs der Zwecke“ wohl eine kritische Teleologie-Konzeption vertretbar, welche die von Kant bezüglich der „Naturteleologie“ errichteten unverrückbaren Grenzmarkierungen freilich nicht ignorieren darf; desgleichen hätte eine solche erweiterte Teleologie-Konzeption – unter den genannten Vorzeichen – seiner Bezugnahme auf die „physische Teleologie“ gebührend Rechnung zu tragen, „welche einen für unsere theoretisch reflektierende Urteilskraft hinreichenden Beweisgrund an die Hand gibt, das Dasein 198 Auch Hölderlins Hinweis bzw. Vermutung ist hier zu nennen, dass Hegels frühe Bemühungen um den „Religionsbegriff“ den „Begriff der Vorsehung … wohl ganz parallel mit Kants Teleologie“ behandle (d. h. der „Art, wie er [Kant] den Mechanismus der Natur (also auch des Schicksals) mit ihrer Zweckmäßigkeit vereiniget“) (Hölderlins Brief an Hegel, v. 26. Jänner 1795, in: Hölderlin 1992, II 569). Dies klingt offenbar auch noch in der die Forderung einer „höheren Aufklärung“ begründenden Bemerkung nach: „Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, dass mehr als Maschinengang, dass ein Geist, ein Gott, ist in der Welt“ (Hölderlin 1992, II 51). (Eine – bis ins Terminologische zu verfolgende – Bestätigung findet Hölderlins diesbezügliche Kant-Nähe in der aufschlussreichen späten Reflexion 6451: AA XVIII, 723 f ). 199 Brief Hegels an Schelling aus dem Jahr 1795: J. Hoffmeister (Hg.), Briefe von und an Hegel. 4 Bände. Hamburg 1952 ff, hier Bd. I (1785–1812), 17. Damit ist allerdings auch gesagt: Ohne diese vom jungen Hegel angezeigte Begründungsordnung vermag ein für sich genommener „teleologischer Gottesbeweis“ die ihm stillschweigend zugedachte Fundierungs-Funktion gerade nicht zu erbringen. Daran knüpft offensichtlich K. Düsings aufschlussreicher Hinweis auf diesen Vorschlag des jungen Hegel an, „man habe zu erörtern, wie die Welt für ein moralisches Wesen bestimmt sein müsse, und man müsse von der Ethikotheologie zur Physikotheologie zurückgehen, um zu zeigen, wie die Zweckmäßigkeit der Natur von einem moralische Zwecke setzenden Wesen in der Welt aus begründbar ist“ (so K. Düsing in Hasler 1985, 229). Schon die von Kant (z. B. in der Darlegung des „Gebrauchs teleologischer Prinzipien in der Philosophie“: V 139 ff; ebd. 168) angezeigte Verknüpfung der „reinen praktischen Teleologie“ und der „natürlichen Teleologie“ weist in diese Richtung. Vermutlich hatte Hegel die (schon angeführte) teleologische Argumentation vor Augen, der zufolge Kant (und zwar schon in dessen „erster Kritik“!) für diese „Teleologie“-Begründung bemerkenswerterweise eine „transzendentale Steigerung“ geltend gemacht hat (II 685). Schon die oben angeführte Argumentation Hegels macht deutlich, dass ihm zufolge das von falschen Begründungslasten befreite „teleologische Argument“ solcherart einen neuen Stellenwert gewinnt. 200 Diese Perspektive des jungen Hegel stand offenbar schon Kant vor Augen: „Dass nun aber in der wirklichen Welt für die vernünftigen Wesen in ihr reichlicher Stoff zur physischen Teleologie ist (welches eben nicht notwendig wäre), dient dem moralischen Argument zu erwünschter Bestätigung, soweit Natur etwas den Vernunftideen (den moralischen) Analoges aufzustellen vermag. Denn der Begriff einer obersten Ursache, die Verstand hat, (welches aber für eine Theologie lange nicht hinreichend ist) bekommt dadurch die, für die reflektierende Urteilskraft hinreichende, Realität; aber er ist nicht erforderlich, um den moralischen Beweis darauf zu gründen“ (V 612); ebenso hat Kant in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen (in den Abschnitten über die „Physikotheologie“) diese Begründungsfigur wiederholt angesprochen (vgl. dazu bes. die in AA XXVIII. 2.2 enthaltenen Vorlesungen).
552 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ einer verständigen Weltursache anzunehmen“ (V 573).201 Genauer besehen wollte auch Kant die berechtigten Anliegen einer „physischen Teleologie“ ja keineswegs einfachhin als obsolet geworden verabschieden; vielmehr war es sein Bestreben, solche (lediglich als „Propädeutik“ taugliche) „natürliche Teleologie“ – und zwar gleichermaßen gegenüber naturwissenschaftlichen Erwartungen wie auch gegenüber unkritischen theologischen Ansprüchen – wohl eher von einer Begründungslast befreien, die sie, auf sich selbst gestellt, eben nicht zu tragen vermag und folglich sowohl einerseits mit den methodologischen Prämissen der Naturwissenschaftlichen unverträglich bliebe und andererseits auch bezüglich theologischer Ansprüche lediglich eine „faule Vernunft“ und eine Problemkonfusion begünstigte. Also nicht bloße Verwerfung war das Ziel, sondern eher die – buchstäbliche – „Relativierung“ der Ansprüche einer „physischen Teleologie“ in der bestimmten Hinsicht, dass diese notwendigerweise erst in Bezug gesetzt wird zur ethikotheologischen Argumentation und sich von da her – nachgereiht und auch in solchem Sinne „relativiert“! – erst hinreichend in ihren Ansprüchen zu legitimieren vermag, d. h. „jetzt mit ihr walten“ dürfe in jenem erwähnten (vom jungen Hegel angezeigten) Sinn. Vornehmlich sollte eine solche Rückbindung der Ethikotheologie die fundamentalphilosophische Basis derselben gebührend beachten, die nicht zuletzt in jener kantischen Leitfrage „Was ist der Mensch?“ mitzubedenken bleibt. Die darin maßgebende Absicht erschöpft sich insofern auch nicht einfachhin in einer „praktisch“ orientierten Frage nach der „ganzen Bestimmung des Menschen“, sondern vermag überdies wohl noch andere religionsphilosophisch relevante Aspekte dieser „ganzen Bestimmung des Menschen“ sichtbar zu machen.202 201 Noch angesichts gegenwärtiger Debatten zum Status kritischer teleologischer Argumente im thematischen Kontext der Evolutionstheorie bliebe, daran anschließend, zu fragen, ob diese Aspekte nicht auch im Sinne einer entsprechenden – so erst den Ansprüchen einer kritischen Teleologie-Konzeption genügenden – gemäßigten Lesart des „anthropischen Prinzips“ aufzunehmen wären? Dies könnte es erlauben, ohne unkritischen Rückfall die kosmologischen, physikalischen und biologischen Vorgänge und deren Gesetzmäßigkeiten als „zweckmäßig“ in dem behutsamen Sinne zu interpretieren, dass diese jedenfalls als unverzichtbare Bedingungen über die Evolution des Lebendigen hinaus auch das Auftreten der menschlichen Population und daran geknüpfter Lernprozesse ermöglicht haben und in der Existenz dieses „vernünftigen Weltwesens“ die „sich erhaltende Zweckmäßigkeit“ der Natur (V 545) mit derjenigen der „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit der Freiheit“ (in der „teleologia rationis humanae“) vereint ist. Dies ist mit der Perspektive einer „Selbsterhaltung der Vernunft“ (und auch deren immanentem „Bildungstrieb“) untrennbar verbunden; davon wäre zu erwarten, dass dies Kants späten Bezug auf den Glauben „an einen einigen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (III 636), in motivlicher Hinsicht nicht unwesentlich erweitern könnte; wäre jene zuvor angezeigte umgreifende teleologische Perspektive des jungen Hegel so nicht selbst in dieser „teleologia rationis humanae“ in kritischer Absicht zu verankern bzw. daraus zu begreifen? – In eine ähnliche Richtung weist vermutlich der Hinweis von W. Lütterfelds: „Kants Konzept des Menschen als ‚Endzweck der Schöpfung‘ wiederholt sich in der modernen Kosmologie und deren ‚anthropischem Prinzip‘. Es besagt, dass die basalen materiellen Naturkonstanten, die mit dem ‚Urknall‘ entstanden sind, nicht nur das Auftreten biologischer Lebewesen und deren Evolution ermöglicht haben, sondern letztlich auch das des Menschen. Für Kant ist freilich das Konzept des Menschen als ‚Endzweck der Schöpfung‘ bzw. des Kosmos eine Theorie der reflektierenden Urteilskraft, die mit diesem metaphysischen Zweckbegriff der Natur bestenfalls ein theoretisches Regulativ der naturwissenschaftlichen Forschung vorgibt, das empirisch nicht einlösbar ist, sondern nur in einer Metaphysik der Moral“ (Lütterfelds 2006, 263, Anm. 3). 202 Dass auch der spätere Kant (so in seinem oft zitierten Brief an Stäudlin aus dem Jahr 1793: XI 429) auf die dritte Frage „Was darf ich hoffen? (Religion)“ noch die „vierte“ folgen lässt: „Was ist der Mensch? (Anthropologie)“ bestätigt den fundamental-anthropologischen Status dieser Frage. Gleichwohl bleibt
2. Die späte Zweckverbindung der „Vernunftideen“
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Es ist die in der abschließenden „Allgemeine(n) Anmerkung zur Teleologie“ (V 607 ff ) von Kant selbst aufgeworfene – aus einem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ geltend gemachte – Frage, „wozu der Mensch selbst [da ist], bei dem wir, als dem letzten für uns denkbaren Zwecke der Natur stehen bleiben müssen“ (V 609), die auch unter kritizistischen Vorzeichen die Rückfrage keineswegs als obsolet oder als überflüssig erscheinen lassen kann: Weshalb ist denn – über das Dasein, die bloße „Selbsterhaltung“ und Steigerung des „Lebens“ (als des „Vermögen[s] eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln“: IV 114 Anm.) hinaus – „Vernunft“ als Einheit des „Vermögens der Zwecke“ und des „Vermögens des Unbedingten“ wirklich, die den Menschen eben als „Vernunftwesen (nicht bloß vernünftiges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte)“ (IV 550) auszeichnet und ihn über das „teleologische System [„wozu“?] in den äußeren Verhältnissen organisierter Wesen“ (V 545 ff ) – buchstäblich „prinzipiell“ – hinausführt? Kants diesbezügliche Argumentation läuft hier zuletzt offenbar darauf hinaus, dass die so verstandene „Vernunft“ – und in diesem Sinne „die Welt und der Mensch selbst“ (V 610) – doch aus dem allein „zureichenden Grunde“ wirklich ist, weil sie eben „dasein soll“ – eine nach Kant freilich der „reflektierenden Urteilskraft“ verdankte Pointe des mit dem „moralischen Beweis“ verbundenen Anspruchs. Diese Begründung für die Wirklichkeit dieser „Vernunft“ als „Vermögen des Unbedingten und der Zwecke“ wird von ihm sodann in der Vorrede zur „Religionsschrift“ offenbar aufgenommen bzw. dahingehend noch weitergeführt, dass der sich durch diese vernommene „Unbedingtheit“ buchstäblich be-ansprucht (und sich derart als „Vernunftwesen“) wissende Mensch eben deshalb auch „wollen würde“, „dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde, ob er sich sich gleich nach dieser Idee selbst in Gefahr sieht, für seine Person an Glückseligkeit sehr einzubüßen …“ (IV 652). In der unauflöslichen Verknüpfung dieser Motive – der darin angesprochenen reflexiv uneinholbaren „Faktizität des Daseins“ und des darin vernehmbaren unbedingten „Anspruchs“ sowie der Unverfügbarkeit des „höchsten Gutes“ – entfaltet sich jenes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ selbst in recht unterschiedlichen Hinsichten; so werden sie in diesem ethikotheologischen Kontext als Dimensionen „radikaler Kontingenz“ buchstabierbar und sind im Sinne des kritischen „Als-ob“ der „reflektierende Urteilskraft“ auch als „Geschöpflichkeit“ auszulegen, die in den ethikotheologisch legitimierten – „personalen“ – Gottesprädikaten „allwissend“, „allmächtig“, „allgütig und zugleich gerecht“ (V 560) bezeichnenderweise eine genaue Entsprechung haben. Es sind nicht zuletzt die voranstehend im Ausgang von ethikotheologischen Motiven angezeigten Problemaspekte, welche, unter gewandelten Vorzeichen, in die später noch ausführlich zu thematisierenden „existenzialanthropologische Wende“ eingerückt werden. (s. u. IV. 2.; IV.3.) Jene „viel zu denken gebende“ metaphysische Frage nach dem „unverfüglichen“ Grund des „gefügten Gefüges“ der „praktischen Vernunftideen“ – „Abgrund“ der und für die Vernunft – wird dort in der gewissermaßen transformierten Gestalt der unhintergehbaren „Teilnehmer“-Perspektive begegnen. darauf zu achten, dass im systematischen Zusammenhang dieser Fragen – nicht zuletzt eben in der umgreifenden Frage „Was ist der Mensch?“ – die mögliche „Einheit der Vernunft“ thematisch wird.
554 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“
2.3. Die innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ rekonstruierbare ethikotheologisch-teleologische Entfaltung der „Gottesidee“ Aus den voranstehenden Überlegungen ergeben sich auf dem von Kant beschrittenen Weg schon innerhalb des „Vernunftbegriffs in abstracto“ einige bedeutsame Folgerungen auch bezüglich der Gottesthematik, die eine nochmalige Anknüpfung an frühere Überlegungen (vor allem zur Differenzierung der „Endzweck“-Thematik sowie zur Idee des „Reichs der Zwecke“) in diesem Kapitel jedoch als unumgänglich erscheinen lassen. Zur Erinnerung: Als ein kritisches Resultat der in dem Abschnitt von der „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ in der „ersten Kritik“ vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem „Gegenstand schlechthin“ und dem „Gegenstand in der Idee“ hat Kant zunächst den kritischen Rekurs auf den „Begriff einer höchsten Intelligenz“ mit dem Hinweis auf dessen heuristische Absicht bezüglich der „größtmöglichen systematischen Einheit der Erfahrung“ durchaus gerechtfertigt. Dabei hat er einen diesbezüglichen – zuletzt jedoch der abwägenden Urteilskraft anheimgestellten – Beurteilungsspielraum in der „ersten Kritik“ noch ohne Zögern gegenüber überzogenen Ansprüchen des theoretischen Vernunftgebrauchs zugestanden – und zwar mit Rücksicht auf den regulativen Vernunftgebrauch hinsichtlich des erforderlichen Rekurses auf die zugrunde liegende Idee einer „obersten Intelligenz“, d. h. in Anbetracht der „Voraussetzung eines höchsten Wesens in der vernünftigen Weltbetrachtung“: „Allein darf ich nun zweckähnliche Anordnungen als Absichten ansehen, in dem ich sie vom göttlichen Willen, obzwar vermittelst besonderer dazu in der Welt darauf gestellten Anlagen, ableite? Ja, das könnt ihr auch tun, aber so, dass es euch gleich viel gelten muß, ob jemand sage, die göttliche Weisheit hat alles so zu seinen obersten Zwecken geordnet, oder die Idee der höchsten Weisheit ist ein Regulativ in der Nachforschung der Natur und ein Prinzip der systematischen und zweckmäßigen Einheit derselben nach allgemeinen Naturgesetzen, auch selbst da, wo wir jene nicht gewahr werden, d. i. es muss euch da, wo ihr sie wahrnehmt, völlig einerlei sein, zu sagen: Gott hat es weislich so gewollt, oder die Natur hat es also weislich geordnet. Denn die größte systematische und zweckmäßige Einheit, welche eure Vernunft aller Naturforschung als regulatives Prinzip zum Grunde zu legen verlangte, war eben das, was euch berechtigte, die Idee einer höchsten Intelligenz als ein Schema des regulativen Prinzips zum Grunde zu legen, und, so viel ihr nun, nach demselben, Zweckmäßigkeit in der Welt antrefft, so viel habt ihr Bestätigung der Rechtmäßigkeit eurer Idee“ (II 602 f ). Ein solches, an Maßstäben der „beobachtenden Vernunft“ eingeräumtes „völliges Einerlei“ muss sich, wie sich noch zeigen wird, im Ausgang vom unbedingten moralischen Anspruch, d. h. aus Vernunftgründen, geradewegs verbieten; die für die „reflektierende Urteilskraft“ unentscheidbare „Gleich-Gültigkeit“ wird – und zwar nach bestimmenden Ansprüchen und „Begriffen der praktischen Vernunft“ – durchaus eindeutig entschieden. Nun ist zwar nicht zu übersehen, dass analog zu dieser voranstehenden Begründungsfigur auch noch jene kantische Bestimmung des „Endzweck(s) der Schöpfung“ erfolgte – eben als derjenigen „Beschaffenheit der Welt, die zu dem, was wir allein nach Gesetzen bestimmt angeben können, nämlich dem Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft
2. Die späte Zweckverbindung der „Vernunftideen“
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und zwar so fern sie praktisch sein soll, übereinstimmt“ (V 582). Gewiss bleiben auch die aus einer solchen Analogisierung resultierenden Schwierigkeiten zu beachten, die in diesem Kontext der Mahnung Kants noch einmal besonderes Gewicht geben, „den Begriff von einer Gottheit an jedes von uns gedachte verständige Wesen, deren es eines oder mehrere geben mag“, nicht leichtfertig zu verschwenden (V 562). Während also der „Vernunft“ jene heuristische Orientierung in ihrem „theoretischen Gebrauch“ (genauer: der „reflektierenden Urteilskraft“ in der „dritten Kritik“) an der Idee einer „obersten Intelligenz“ durchaus entspricht, vermag dies den moralischen Ansprüchen des Menschen als eines „Vernunftwesens“ (IV 550) jedoch keineswegs zu genügen. Mag also ein als „verständiger Welturheber“ (V 610) gedachter deistischer Gottesbegriff als „Schema“ jenen bescheidenen Ansprüchen der projektierten Einheit der „forschenden Vernunft“ zwar durchaus angemessen sein, so taugt dies jedoch mitnichten als ein der Weltstellung des Menschen adäquater und mithin auch in solcher Hinsicht „zureichender Grund“: Was also „zum Behufe einer beliebigen spekulativen Absicht“ ausreichend sein bzw. auf dem Gebiet der systematisierenden Naturbeschreibung als ein erforderliches „Regulativ in der Nachforschung der Natur und ein Prinzip der systematischen und zweckmäßigen Einheit“ angesehen werden mag, eben dies muss sich im Blick auf den ethikotheologischen Anspruch der praktischen Vernunft schlechterdings als unzureichend erweisen, zumal jene maßgebenden Ansprüche keinesfalls an die moralische Problemdimension heranreichen203. Dies berührt den entscheidenden Punkt der „Ungleichartigkeit“ und verweist auf einen notwendig maßgeblichen „Entscheidungsgrund von anderer Art“ (IV 280). Kants Hinweis, man müsse, „um sich wenigstens von der Möglichkeit des ihm [dem „vernünftigen Weltwesen“] moralisch vorgeschriebenen Endzwecks einen Begriff zu machen, das Dasein eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes, annehmen“ (V 580), ist infolgedessen – und zwar, wie sich zeigen soll, gegen ihn selbst – in diesem sehr präzisen Sinne zu nehmen; dies gilt jedenfalls dann, wenn der Anspruch jener „moralisch konsequenten Denkungsart“ nicht wiederum stillschweigend unterboten werden soll. Dies lässt den Rekurs auf die „Weisheit eines moralischen Welturhebers“ als unumgänglich erscheinen204 und verweist gegenüber jener vorgestellten „höchsten Intelligenz“ schon 203 Vor allem darauf zielt Kants bedeutsame (schon wiederholt erwähnte) Unterscheidung zwischen „Vernunftwesen“ und „bloß vernünftigem Wesen“ (IV 550) bzw. diejenige zwischen der „Anlage für die Menschheit“ und derjenigen „für seine Persönlichkeit“ (IV 673, Anm.) ab; jenem bloß „vernünftigen Wesen“ (das selbst weder „Endzweck der Schöpfung“ sein könnte noch einer solchen Idee eines „praktischen Endzwecks“ fähig wäre) könnte wohl auch ein bloß deistischer Begriff Gottes als der Idee einer „obersten Intelligenz“ für die heuristische Erklärung des „gesetzmäßigen Zusammenhanges der Erscheinungen“ genügen – und genau darauf wäre nach Kant „der Begriff der Gottheit“ nicht zu verschwenden (V 562). Der kantischen Unterscheidung zwischen „bloß vernünftigem Wesen“ und „Vernunftwesen“ korrespondiert recht genau diejenige zwische dem defizienten „Begriff einer intelligenten Weltursache (als höchsten Künstlers)“ (V 561) und dem Begriff der „Gottheit“; deren („Gerechtigkeit und Güte“ als „moralische [Wesens-]Eigenschaften“ einschließende: V 570) „Weisheit“ bleibt deshalb notwendig, weil „prinzipiell“, von einem bloßen „Kunstverstand“ unterschieden. (Angemerkt sei nochmals, dass Kant jene Unterscheidung zwischen „Vernunftwesen“ und „bloß vernünftigem Wesen“ jedoch terminologisch nicht konsequent beibehält.) Zu den von Kant aufgewiesenen prinzipiellen Defiziten der „Physikotheologie“ s. auch Dörflinger 2010. 204 In der Tat ist dies ein systematisch leitender Gesichtspunkt: „So ist der Gedanke der Einheit der Zwecke die Wurzel der Ethik; der gleiche Gedanke der Zweckeinheit führt auch zur Metaphysik, in ihm schließen
556 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ in der „ersten Kritik“ hinaus auf das „Ideal des höchsten (ursprünglichen) Guts“. Diesbezüglich kann und darf es infolgedessen also gerade nicht „einerlei“ sein „zu sagen, Gott hat es weislich so gewollt, oder die Natur hat es also weislich geordnet“ – liefe dies doch unweigerlich darauf hinaus, der „Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens“ in nivellierender Weise nicht gerecht zu werden und somit auch den darin verankerten ethikotheologischen Anspruch preiszugeben. Von einer „Übereinstimmung“ (d. i. der darin gedachten „perfectio“) des „Endzwecks der Schöpfung“ zu dem „Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft“ könnte demzufolge so wenig die Rede sein wie von einem „höchsten Weltbesten“ (V 578). Folglich kann im Sinne des differenzierten Vernunftgebrauchs die angezeigte „Personifizierung“ jenes Ideals im „Ideal des höchsten ursprünglichen Gutes“ und d. h. als „allervollkommenstes Wesen“, erst ihren spezifischen Sinngehalt und gleichermaßen ihre Rechtfertigung finden: Weil in „Ansehung der Welt, davon ich [nämlich als vernünftiges Weltwesen] ein Teil bin“ (III 233) jener Rekurs auf eine „höchste Intelligenz“ sich prinzipiell als unzureichend erweist, bedarf dies in Bezug auf unser „Vernunftvermögen“ noch eines anderen Gesichtspunkts der Beurteilung, der bzw. dessen Anspruch nunmehr allerdings nicht zu einer bloßen Angelegenheit der (ad hoc eingeführten) praktisch reflektierenden Urteilskraft herabgestuft werden darf. Dergestalt manifestiert sich die innere Differenzierung und gleichermaßen die unauflösliche Einheit der Vernunft „in der Verschiedenheit ihres Gebrauchs“.205 Während also die theoretisch-regulative („deistische“) Vernunftidee einer „obersten Intelligenz“ bzw. die „Idee einer höchsten und schlechthin notwendigen Vollkommenheit eines Urwesens“ für die im theoretischen Vernunftvermögen des Menschen (als eines bloß „vernünftigen Wesens“: vgl. IV 550) begründete Idee einer „systematischen Einheit der Naturerscheinungen“ als unentbehrliche Voraussetzung fungiert (und als solche auch genügen mag), erweist sich solche Begründungsfigur indes als völlig unzureichend, sofern eben nicht lediglich jenes „respektiv auf den Weltgebrauch der Vernunft“ die maßgebende Erkenntnisperspektive darstellt, sondern nunmehr das „respektiv auf die Welt und mithin [!] auf uns“ (III 234) ins Blickfeld rückt. Was also für eine in heuristischer Absicht erfolgende Begründung der im theoretischen Vernunftgebrauch unverzichtbaren „systematischen Einheit der Naturerscheinungen“ „völlig einerlei“ war, dies kann für eine im „Primat des Praktischen“ begründete bzw. diesem verpflichtete ethikotheologische Perspektive gerade nicht erlaubt sein bzw. genügen; sie muss derlei Beurteilungsspielräume im Sinne einer von Kant eingeräumten „uns zukommenden Wahl“ (s. u. IV., 3.4.) – als unangemessen und „vermessen“ – geradewegs verbieten. Ein lediglich auf die „regulative Urteilskraft“ rekurrierender Begründungsanspruch müsste andernfalls auch jene (schon sich Ethik und Naturlehre zur Einheit zusammen“ (Guttmann 1906), wofür Leibniz die Grundlage liefert. 205 Es ist mit Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ – und die kantische Selbstverortung darin als deren letztes Stadium – höchst aufschlussreich, dass Kant in der seine „Ethikotheologie“ abschließenden und „vollendenden“ „Allgemeine(n) Anmerkung zur Teleologie“ (V 607 ff ) ausdrücklich die Absicht verfolgte, gegenüber philosophisch defizienten – weil dem „Begriff des Menschen“ prinzipiell nicht genügenden – Gottesbegriffen einen erst „für die Theologie tauglichen“ bzw. „hinreichenden“ Gottesbegriff (V 611 ff ) zu entwickeln, in dem seine Idee einer „moralischen Teleologie“ (und darin diejenige des „moralischen Endzwecks“) ihren Abschluss findet.
2. Die späte Zweckverbindung der „Vernunftideen“
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angeführte) auf den Status jenes „Ideals des höchsten Guts“ abzielende frühere These geradewegs unterminieren: „Ich nenne die Idee einer solchen Intelligenz, in welcher der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, so fern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit glücklich zu sein) in genauem Verhältnisse steht, das Ideal des höchsten Guts“ (II 681). Kants bemerkenswerte Charakterisierung des „dritten Stadiums der Metaphysik“ als „Theologie“ soll dies bestätigen: Auch die von ihm nachdrücklich betonte kritische Abgrenzung von den „in der neueren Zeit“ unternommenen Bemühungen, dem „Endzweck der Metaphysik“ näher zu kommen, bestätigt es im Sinne eines entsprechend differenzierten „zweckmäßigen“ Vernunftgebrauchs: Weder lediglich das die Einheit der Erfahrung fundierende Schema einer „obersten Intelligenz“ noch ein im Kontext der „Teleologie der Natur“ (also „physikotheologisch“) fundierter Begriff des „höchsten Wesens“, sondern allein ein der „moralischen Teleologie“ adäquater Gottesbegriff vermag diesem – alle heuristischen Absichten und naturteleologischen Begründungsmuster (und deren „Existenz-Vergessenheit“) überholenden – praktisch-„unbedingten Vernunftbedürfnis“, d. h. den in dem unbedingten Interesse der fragenden Vernunft grundgelegten Sinnbezügen, zu genügen. In Kants Kritik des „physikotheologischen Beweises“ ist der Einwand der „Vermessenheit“ (sofern eben auch er „das Längenmaß seiner Kräfte“ verkenne: V 497 Anm.) mit dem Aufweis seiner prinzipiellen – weil der Weltstellung des Menschen nicht gerecht werdenden – Unangemessenheit engstens verbunden. Ebendies veranlasste ihn zuletzt zu jener Zuschärfung, wonach der „ethikotheologische Beweisgrund vom Dasein Gottes“ nicht etwa die „Physikotheologie“ bloß ergänze, sondern zuletzt „den Mangel“ seiner Überzeugung überhaupt „ersetzt“ (V 611). Allein so sei bezüglich dieser „Vernunftforschungen“ zureichend nachgewiesen, dass auf „Gott der Zweck eigentlich geht“ (III 629). Erst vor diesem ethikotheologischen Hintergrund wäre mithin auch Kants frühe programmatische These einlösbar geworden bzw. nunmehr im Sinne kritischer Vernunftansprüche aufgehoben: „Die Erkenntnis von Gott ist also das Ziel und die Endabsicht der Metaphysik“.206 2.3.1. Eine an die „Theologie“ als „drittes Stadium der Metaphysik“ geknüpfte notwendige Rückbesinnung: Die unauflösbare Verbindung von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ So erweisen sich das entsprechend differenzierte „Vernunftbedürfnis“ sowie die einzelnen Aspekte des „Ideals des höchsten Guts“ als später Ertrag dieser Entwicklung gemäß dem „Vernunftbegriff in abstracto“, die sodann das eigentliche Fundament der kantischen Religionsphilosophie bereitstellen. Der durchaus mehrstufige „Fortschritt“ in der „Geschichte der reinen Vernunft“ wäre demnach darin zu sehen, dass erst über das „Reflexiv-werden“ der geschichtlich-„symbolischen“ Gottesbegriffe, wodurch „die phi206 Kant 1988, 263. – Das hat auch noch der späte Kant so gesehen: „Ingleichen hat man da etwas, wodurch das Übersinnliche (Gott, worauf der Zweck eigentlich geht), erkannt werden kann, weil ein Gesetz der Freiheit als übersinnlich gegeben ist“ (III 629).
558 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ losophischen Ideen mehr bestimmet und gereiniget wurden“207, ein den Ansprüchen des philosophischen Denkens genügender „metaphysischer Gottesbegriff“ resultiert, der als solcher dem „Schulbegriff der Philosophie“ zugehört und diesen auch als „Gedanke des Abschlusses“ „abschließt und krönt“ – Kant selbst verwies auf die zunehmend bewusst gewordene Differenz zwischen dem („gemeinen“) „Vernunftgebrauch in concreto“ und dem (spekulativen) „Vernunftgebrauch in abstracto“ (III 450). Demzufolge darf der erzielte Fortschritt mit Rücksicht auf die Weltstellung des Menschen offenbar auch darin gesehen werden, dass jener (in ontologischer Begrifflichkeit ausgebildete bzw. „gereinigte“) Gottesbegriff das am „Weltbegriff der Philosophie“ bemessene „unbedingte Vernunftbedürfnis“ (und sein „Urteilen-Müssen“) noch unterböte. Eben deshalb muss dieser „metaphysische Gottesbegriff“ (als zwar unverzichtbares „Substrat aller Theologie“)208 „aufgehoben“ werden und könnte so auch jenem als höchstes „metaphysisches Gut“ gedachten Begriff des „Absoluten“ (als „höchstes ursprüngliches Gut“ in der Bestimmung des „moralischen“ und „weisen Welturhebers“) erst eine dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ gemäße Gestalt verleihen, die zuletzt in jener Bezugnahme auf den „moralisch-bestimmten Monotheism“ zum Ausdruck kommt.209 Die grenzbegrifflich gedachte „theologische Idee“ bleibt (im Sinne einer „negativen Theologie“) als „terminus ad quem“ also vorausgesetzt, obwohl sie erst in dem in der moralischen Lebensführung verankerten Hin-Blick ein „zur Religion tauglicher Begriff Gottes“, also ein „Gegenstand der Religion wird“, und nun, durch solchen „Hin-Blick“ vermittelt, ein gedachtes Verhältnis desselben zur Welt, von „der wir selbst ein Teil sind“, zu eröffnen vermag.210 207 AA XXVIII, 1094. 208 Ausdrücklich betonte Kant, dass „Religion ohne Theologie … ein Produkt des Wahns“ ist. Denn (so vielleicht ein wenig missverständlich): „Sie ist die Moralität, die sich auf Theologie bezieht“ (AA XXVIII, 1323). Damit ist gesagt, dass die „theologische Idee“ eben unverzichtbarer „terminus ad quem“ des „Vernunftglaubens“ ist, der sich als „Postulat“ auf das „Dasein“ des in dieser „Vernunftidee“ Gedachten bezieht. – In Beachtung dieser notwendigen Vermittlungsschritte bleibt jedenfalls Kant vom Vorwurf des frühen Schelling unberührt, dass die Philosophie Gott nur annehme, „um die moralischen Zwecke reimen zu können, also keineswegs um seiner selbst willlen. Gott möchte immerhin nicht sein, wenn man nur ohne ihn in der moralischen Welt fertig würde, … wenn man ohne ihn die Welt überhaupt erklären könnte; er ist nicht um seiner eigenen Absolutheit willen, als die Idee der Ideen, die durch sich selbst die oberste Realität unmittelbar in sich begreift, sondern in einer noch dazu einseitigen [!] Beziehung auf Vernunftwesen“ (I.5, 115). Indes, mit dieser Betonung einer bloß „einseitigen Beziehung auf Vernunftwesen“ ist, in einer anderen Hinsicht, in der Tat indirekt eine bedeutsame Schwierigkeit in Kants Religionsphilosophie angezeigt (s. dazu u. III., 3.). 209 Dieser besondere Hintergrund der kantischen Postulatenlehre ist unübersehbar, wenn es in Hegels frühen „Fragmenten über Volksreligion und Christentum“ heißt (Hegel 1, 101 f ): „Die transzendente Idee von Gott als dem allerrealsten Wesen, wenn auch die spekulative Vernunft fähig wäre, die Realität und [!] Existenz derselben zu beweisen oder auch nur einen Glauben an dasselbe hervorzubringen, würde doch an sich für uns schlechterdings nicht erkannt, aus sich allein seinen Eigenschaften nach bestimmt werden können, wenn nicht Naturbetrachtung und der Begriff von einem Endzweck der Welt zu Hilfe genommen werden. – Da aber der Versuch der spekulativen Vernunft, ihrem Ideal, das, so erfüllt es scheint, doch insofern, als es allein Interesse für den Menschen, nicht bloß für die Logik hat, leer wäre, Wesenheit und Bestimmung zu verleihen, selbst wenn sie Naturbetrachtung zu Hilfe ruft, fehlschlägt, so kann nur praktische Vernunft einen Glauben an Gott gründen.“ Hegels späte diesbezügliche Kritik an Kant impliziert insofern auch eine Selbstkritik. 210 Es ist freilich bemerkenswert, dass diesem korrespondierenden „Offenbarwerden“ der „Ideen“ des „Übersinnlichen in uns“ und „außer uns“ ebenso dies entspricht, dass nach Kant die „Möglichkeit dieser Ideen [selbst] kein menschlicher Verstand jemals ergründen“ könne (IV 266), obgleich wir die Wirklich-
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Ein wesentliches Resultat der Entfaltung und Vertiefung des „Weltbegriffs der Philosophie“ ist demzufolge durch den in der „Methodenlehre der Kritik der teleologischen Urteilskraft“ unternommenen Aufweis erreicht, weshalb der „physisch-teleologische Beweisgrund“ in einer prinzipiellen Hinsicht – d. h. noch ganz abgesehen von den theoretisch-spekulativen Defiziten dieses „physikotheologischen“ Arguments – den an die Weltstellung des Menschen geknüpften Vernunftansprüchen nicht genügt, sondern auf die in der umfassenden „teleologia rationis humanae“ freizulegende „moralische Teleo logie“ als Ermöglichungsgrund der „Selbsterhaltung der Vernunft“ verweist. Auch ist nicht zu übersehen, dass das in der „Geschichte der reinen Vernunft“ entfaltete „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ solcherart eine immer präsisere Gestalt und sensiblere Wahrnehmungsfähigkeit annimmt; darin spiegelt sich lediglich die in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ vorgängig zutage tretende zunehmende Verinnerlichung dieses Korrespondenzverhältnisses von Mensch und Gott nunmehr innerhalb des „Vernunftbegriffs in abstracto“ wider. In diesem Kontext ist ein – auch das Verhältnis von Religion und Philosophie berührender – schon erwähnter Hinweis Kants in seiner „ersten Kritik“ erinnernswert, der ebenso den eigentümlichen und langen „Bildungsweg“ anzeigt, bis darin zuletzt „geläuterte Religionsbegriffe erwachen“ werden (VI 320): „Wir finden daher [!] auch in der Geschichte der menschlichen Vernunft: dass, ehe die moralischen Begriffe genugsam gereinigt, bestimmt, und die systematische Einheit der Zwecke nach denselben und zwar aus notwendigen Prinzipien eingesehen waren, die Kenntnis der Natur, und selbst ein ansehnlicher Grad der Kultur der Vernunft in manchen anderen Wissenschaften, teils nur rohe und umherschweifende Begriffe von der Gottheit hervorbringen konnte, teils eine zu bewundernde Gleichgültigkeit überhaupt in Ansehung dieser Frage übrig ließ. Eine größere Bearbeitung sittlicher Ideen, die durch das äußerst reine Sittengesetz unserer Religion notwendig gemacht wurde, schärfte die Vernunft auf den Gegenstand, durch das Interesse, das sie an demselben zu nehmen nötigte und … brachten … einen Begriff vom göttlichen Wesen zu Stande, den wir jetzt für den richtigen halten, nicht weil uns spekulative Vernunft von dessen Richtigkeit überzeugt, sondern weil er mit den moralischen Vernunftprinzipien vollkommen zusammenstimmt“ (II 685 f ).211 Diese in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ durch „größere Bearbeitung sittlicher Ideen, die durch das äußerst reine Sittengesetz unserer Religion notwendig gemacht wurde“, vollzogene „moralische Sensibilisierung“ und daran geknüpfte Ansprüche schärften freilich
keit dieser Vernunftideen, d. h. „das Gesetz welches die Vernunft durch sie dem Verstande, zu seinem Gebrauch in der Erfahrung vorschreibt, gar wohl begreifen können, weil es ihr eigenes Produkt ist“ (III 223, Anm.). Während „innerhalb“ dieser Vernunftverfassung der Vernunft gemäß jenen „Gesetzen“ alles „begreiflich“ ist, bleibt sie sich hinsichtlich dieses „Faktums der Vernunft“ selbst „unbegreiflich“. 211 Dies bestätigt geradezu die Einschätzung Striets: „Ob Kant geahnt hat, wie stark seine entschiedene Fixierung des Freiheits- und ich würde sogar auch sagen des Aufklärungsprinzips in der jüdisch-christlichen Glaubenstradition wurzelt, wage ich nicht zu beurteilen. Die in dieser Tradition immer stärker durchgesetzte ethische Qualifizierung des Gottesverhältnisses ist bei Kant jedenfalls eindeutig zu identifizieren“ (Striet 2005, 168). Letztere gehört nach Kant auch ganz wesentlich in die „Geschichte der menschlichen Vernunft“, die dem „Vernunftbegriff in abstracto“ zugrunde liegt.
560 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ gleichermaßen das Bewusstsein des „moralischen Unvermögens“ und konnten so auch für die Bestimmung des „höchsten Gutes“ und die darauf bezogene Hoffnung nicht ohne Folgen bleiben. Es sind die voranstehend skizzierten, innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ (d. h. der kantischen „Kritik“) selbst vollzogenen Differenzierungsschritte, in denen die Unterscheidung und Einheit von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ noch eine nähere Entfaltung findet. Dies eröffnet einen „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“, der die Einlösung des „Endzwecks der Metaphysik“ ermöglicht und dabei doch allen „theosophischen Überschwang“ und riskanten „salto mortale“ vermeidet. Weder eine (sich in „vernunftverwirrende überschwengliche Begriffe“ versteigende) „Theosophie“ (V 588) als beanspruchte „theoretische Erkenntnis der göttlichen Natur“ (V 612) noch schlechte Mystik als Rückzug auf „übersinnliche Erfahrungen“,212 die so, miteinander verbunden, eine „schmelzende Vereinigung mit der Gottheit“ verheißen (IV 251), eröffnen demnach einen gangbaren Weg. Ausschließlich die unauflösliche „Verbindung von Theologie und Moral“ (bzw. der darin begründeten „moralischen Teleologie“) fungiert und bewährt sich als tragfähiges Fundament der „Religion“, das in der angezeigten Weise das „Bedürfnis der theoretischen Vernunft“ und dasjenige der „praktischen Vernunft“ in sich vereint, dergestalt aber auch auf jene zu denkende Einheit des „Schul“und „Weltbegriffs der Philosophie“ abzielt. Hier sei noch einmal daran erinnert, dass es nach Kant die Theologie war, die, gleichsam als Anfangsgestalt, „die bloß spekulative Vernunft nach und nach in das Geschäft zog, welches in der Folge unter dem Namen der Metaphysik so berühmt geworden“ ist (II 709). Es war näherhin die an den (dem „Schulbegriff der Philosophie“ zugehörigen) Begriff des „transzendentalen Ideals“ geknüpfte kritische Unterscheidung des „Gegenstandes schlechthin“ und des „Gegenstandes in der Idee“, die Kant zunächst als „Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft“ (II 708) verstanden wissen wollte. Gemäß dem „an der ganzen Bestimmung des Menschen“ orientierten „Weltbegriff der Philosophie“ liegt hingegen der über den ethikotheologischen Begründungsweg gewonnene „genau bestimmte“ Begriff des „Urwesens“ dem sogenannten „moralischen Beweis“ zugrunde, auch wenn Letzterer lediglich die moralisch verankerte „Nötigung“ als „freies Annehmen“ des „Daseins Gottes“ (als einer der Vernunft „abgenötigten Voraussetzung“) besagt. Es wird im IV. Teil noch genauer zu verfolgen sein: Das allein als Glaube vollzogene „freie Annehmen“ des „Gegenstands schlechthin“ erweist sich als eine über den gedachten „Gegenstand in der Idee“ noch hinausgehende – praktisch begründete – „der Vernunft abgenötigte Voraus-Setzung“ im Sinne einer postulatorisch gestützen „Position“. Als solche „abgenötigte Voraussetzung“ führt sie in solchem „Rückweis“ somit noch hinter den „Gegenstand in der Idee“ zurück. Auf solchem durchaus legitimierbaren 212 Vgl. auch Kants „Vorarbeit zu Jachmanns Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie“: AA XXIII, 467 f ); s. dazu vor allem Henrichs (1966) wichtige Hinweise auf dieses sog. „Jachmannprospekt“ und die dort vorgenommenen Unterscheidungen; s. dazu La Rocca 2008. Auf biographische Hintergründe seiner eindringlichen – durchaus „mit eigener Erfahrung gesättigten“ – Kritik an der von ihm so genannten „Mystik“ s. Henrich 1966.
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Umweg – und keinesfalls durch eine verdeckte „Hintertüre“ – kehrt also jener „Gegenstand schlechthin“ in kritizistisch-postulatorischer „Brechung“ wieder, der somit keineswegs auf einen Rückfall hinter jenen die „Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft“ markierenden „subtilen Unterschied“ bzw. auf dessen „Widerruf“ hinausläuft. Nicht zuletzt ist es dieser von Kant betonte „ziemlich subtile Unterschied der Denkungsart“ (II 587), der gleichermaßen eine kritische „Legitimation“ und „Limitation“ leisten will, dergestalt aber auch als eine „Selbstbegrenzung der Vernunft“ verstanden werden muss. Dieser „subtile Unterschied der Denkungsart“ zwischen einer kritischen „suppositio relativa“ und einer „suppositio relativa“ impliziert freilich, im Sinne dieser „Selbstbegrenzung“, das kritische Bewusstsein, dass dies jedoch ebenso eine schlechthinnige Negation eines „Größer-als-gedacht werden kann“ verbietet, zumal dies auch den kritischen Sinn dieser Unterscheidung nivellieren müsste. 213 Demgemäß hat Kant bemerkenswerterweise dieses der „Endabsicht der Metaphysik“ entsprechende (mit dem „praktisch-dogmatischen Überschritt“ identifizierte) „dritte Stadium der Metaphysik“ zuletzt sogar ausdrücklich als „das der Theologie“ bezeichnet, „mit allen … Erkenntnissen a priori, die darauf führen, und sie notwendig machen“ (III 615). Als der den „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ vereinende und so gleichermaßen „für die Religion taugliche Gottesbegriff“ hat der daraus resultierende Begriff eines „weisen Welturhebers“ in demjenigen des „einigen Gott[es], als de(s) Urquell(s) und Endzweck(s) alles Guten, als sein Endzweck“ (III 636) sodann auch noch eine Präzisierung gefunden.214 Genauer wäre zu sagen: Es ist der „größtmögliche Vernunftgebrauch“ selbst, der auf jene Einheit des „Schul“- und „Weltbegriffs der Philosophie“ abzielt, damit die Idee des Wesens aller Wesen“ mit derjenigen eines „Ganzen aller Zwecke“ allererst in sich vereint und so in dieser späten Kennzeichnung der Gottesidee als des „Urquell(s) alles Guten …“ (III 636) zur „symbolischen Darstellung“ bringt. Innerhalb dieses „dritten (theologischen) Stadiums“ liegt nun auch eine nochmalige Erinnerung an jene denkwürdige Begründung und Vermittlung des „Endzwecks vernünftiger Weltwesen“ und des „Endzwecks der Schöpfung“ nahe: Für diese umfassende Idee einer „moralischen Teleologie“ hat es sich als sehr bedeutsam erwiesen, Kants Bestimmung des „Endzwecks“ als desjenigen „Zweck(s), der keines andern als Bedingung seiner 213 Jene so bedeutsame – nach Kant die „Kultur der Vernunft“ vollendende – Unterscheidung des „Gegenstands schlechthin“ vom „Gegenstand in der Idee“ (als das das Denken „abschließende und krönende“ „Ideal der Vernunft“) wäre so „ex negativo“ bzw. in grenzbegrifflicher Absicht auch zu lesen als ein kantischer Verweis auf die von ihm offen gehaltene Differenz zwischen dem „ens realissimum“ („über das hinaus Größeres nichts gedacht werden kann“) und dem „Größeren, als gedacht werden kann“; eben dafür wäre bei Kant zwar ein „Platz offen gehalten“ und dieser zugleich als uneinnehmbar ausgewiesen. 214 Mit Recht betonte Heimsoeth (1966b, 207 f ): „Von der ersten Kritik her und selbst noch vom System der drei Kritiken aus unterschätzt man leicht den theologischen Charakter der ‚Endabsicht‘ von Kants Metaphysik und wie viele seiner Überlegungen und Aufweise im Stufengang der Werke und der Werkabsichten eben dahin zielen. […] Es ist höchst charakteristisch, dass in der ‚Preisschrift‘ über die Fortschritte … das ‚dritte Stadium‘ der Metaphysik … als das der Transzendenten Theologie (‚praktisch-dogmatischer Überschritt zum Übersinnlichen‘) betitelt wird.“ Dieses „dritte Stadium“ folgt freilich auf den „Spinozismus“ als den „wahre(n) Schluss der dogmatisierenden Metaphysik“ (Refl. 6050: AA XVIII, 436) sowie auf den mit Hume markierten „skeptischen Stillstand“. Zu Kants Bestimmung des „dritten Stadiums der Metaphysik“ s. auch die erhellenden Ausführungen von Herrmann (2004, bes. 14 ff ).
562 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Möglichkeit bedarf“ (V 557), auf den „Endzweck der praktischen Vernunft“ (d. i. demjenigen „vernünftiger Weltwesen“: V 581) und gleichermaßen auf den „Endzweck der Schöpfung“ – sowie natürlich auf die Vermittlung beider – zu beziehen. In der Folge werden darin bemerkenswerte Aspekte sichtbar, die unvermeidlich solche „realitäts-bezogenen“ Assoziationen nach sich ziehen. Darin ist impliziert, dass der „Endzweck aller vernünftigen Weltwesen“ als ein solcher gedacht werden muss, der eben nicht nur gedacht (d. h. „in intellectu“ bzw. „in voluntate“), sondern auch „in re“ ist – in diesem Sinne also „nicht allein wir einen uns apriori vorgesetzten Endzweck haben“, zumal andernfalls noch ein umfassenderer „praktischer Endzweck“ gedacht werden könnte. Die „theoretisch objektive Realität“ dieses „praktischen Endzwecks“ kann also nur als ein „Endzweck“ gedacht werden, der nicht allein der „unsere“, sondern zugleich auch ein „Endzweck der Schöpfung“ ist – und der dies wiederum nur dann sein kann, wenn er seinerseits nicht nur als solcher „gedacht“, sondern als „Endzweck“ auch „objektive Realität“ hätte. Diese „objektive Realität“ des „Endzwecks der Schöpfung“ lässt sich jedoch nicht anders als eine solche Voraussetzung denken, die einerseits lediglich in der moralisch begründeten Notwendigkeit des praktischen Endzwecks (als dessen „ratio cognoscendi“) begründet ist bzw. damit „übereinstimmen müsse“ (V 581); andererseits kann er jedoch als objektiver „Endzweck der Schöpfung“ selbst nur als in einem solchen „Grund“ verankert gedacht werden, der, wie erwähnt, als solcher eben „den Grund alles dessen enthält“, wozu wir Menschen einen „Endzweck der Schöpfung“ anzunehmen nötig haben. Dass Kants Bestimmung des Gottesgedankens als des „einigen Gott(es), als … Urquell jenes Endzwecks“, selbst schon als „symbolische Darstellung“ desselben gedacht werden müsste, fände so, als eine Folge daraus, erneut eine Bestätigung. Die Frage liegt nahe: Wäre Kants These, dass der „transzendentale Begriff von Gott als dem allerrealsten Wesen … in der Philosophie nicht umgangen werden [könne], so abstrakt er auch ist“ (III 389), nicht in ethikotheologischer Transformation bezüglich des „Endzweck“-Gedankens aufzunehmen? Die dieses „dritte“ und letzte „Stadium der Metaphysik“ ausfüllende „Theologie“ beschließt somit nicht nur den darin vollzogenen „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“; ebenso sind die unterschiedlichen Aspekte bzw. Momente des „Unbedingten“ im „theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch“ in dieser „Theologie“ – auf dem langen Weg der „Geschichte der reinen Vernunft“ – in systematischer Absicht und in differenzierter Weise entfaltet. Zuletzt sind sie freilich auch aufeinander bezogen und in ihrer teleologischen „Zusammenstimmung“ verknüpft, weil darin „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ und auch die diese in je unterschiedlicher Weise abschließenden „Gottesideen“ vereinigt gedacht werden müssen. Die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erst freigelegte Eigenständigkeit und immanente Differenziertheit des „Schul“- und „Weltbegriffs der Philosophie“ hat im „dritten Stadium der Metaphysik“ wiederum ihre Einheit gefunden, das – als „dasjenige der Theologie“ – die „transzendentale Theologie“ und die „Ethikotheologie“ nunmehr umgreift. Nun ist freilich auch nicht zu übersehen, dass jene verfolgten ethikotheologischen Differenzierungen und die gestufte Begründung des „Endzwecks“ vom späten Kant nicht immer konsequent beibehalten worden sind. In einer aufschlussreichen Anmerkung Kants (in dem erst im Jahr 1796 publizierten Aufsatz über den „neuerdings erhobenen
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vornehmen Ton in der Philosophie“) über den Sinn des „Glaubens an das Übersinnliche“ in „moralisch-praktischer Bedeutung“ (III 387, Anm.) wird diese gestufte Begründungsordnung zwischen „praktischem Endzweck“ und dem „Endzweck der Schöpfung“ (dem „Endzweck aller Dinge“) in eigentümlicher Weise verkehrt bzw. reduziert: „Es ist also in dem kategorischen Imperativ der der Materie nach praktischen Vernunft, welcher zum Menschen sagt: ich will, dass deine Handlungen zum Endzweck aller Dinge zusammenstimmen, schon die Voraussetzung eines gesetzgebenden Willens, der alle Gewalt enthält (des göttlichen) zugleich [!] gedacht, und bedarf es nicht, besonders aufgedrungen zu werden.“ (III 387, Anm.)215 Dieser vorausgesetzte „gesetzgebende Wille“ gewinnt freilich erst in dem – über jene „praktische Erweiterung“ noch hinaus weisenden – kritischgebrochenen „symbolischen Anthropomorphismus“ konkrete Gestalt (s. u. III., 3.) und sodann auch Bedeutung für die kantische Bestimmung der „Religion“ als „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ (IV 261). Deutlich wird aus jenem Passus aus Kants später Schrift „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton
“ aber auch dies, dass Kant seine „moraltheologische“ Argumentation keineswegs aufgegeben oder auch nur relativiert – d. h. etwa jenen Rekurs auf Gott zu einer Angelegenheit der bloßen „Urteilskraft“ zurückgestuft – hat, zumal andernfalls auch der Rekurs auf einen „Endzweck aller Dinge“ nicht ausgewiesen werden könnte. Bemerkenswert ist in dem angeführten Passus gerade dies, dass der Hinweis auf die „zugleich gedachte Voraussetzung eines gesetzgebenden Willens“ offensichtlich die frühere Auskunft Kants revidiert, wonach jener „moralische Beweis“ der Ethikotheologie nicht als „Schluss von der moralischen Teleologie auf eine Theologie“ abziele, sondern lediglich „auf einen Endzweck der Schöpfung“, während hingegen der Rekurs auf ein „nicht bloß verständiges, sondern ein zugleich moralisches Wesen“ erst in einem „zweite(n) Schluss … bloß für die Urteilskraft“ begründet sei (V 583). Indes, davon ist in dieser Schrift „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton …“ offensichtlich gar nicht mehr die Rede. Andererseits wird hier jedoch, gegenüber den angezeigten früheren Ausführungen Kants, das zwischen den einzelnen Endzweck-Bestimmungen maßgebliche Begründungsverhältnis und dessen Voraussetzungen auf unübersehbare Weise entdifferenziert und bleibt überdies in gewisser Weise wohl auch dem Verdacht einer zirkulären Argumentation ausgesetzt (s. dazu auch u. IV., 3.4.). Daraus folgt: Die als spätes Resultat in dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ erst hinreichend differenzierten theoretischen und praktischen „Vernunftideen“ und ihre Verhältnisbestimmung ermöglichten es, dass aus jener früh angezeigten Verbindung von „Theologie und Moral“ nunmehr eine Gestalt der „Religion“ begründet wird, die allein kritische Vernunftansprüche berücksichtigt und nur so auch der im Eröffnungssatz der kantischen „Religionsschrift“ ausgesprochenen Mahnung zu genügen vermag: „Die Mo215 In der in dieser „Idee eines Endzwecks“ schon „mitgesetzten“ „Voraussetzung“ (eben in „notwendig praktischer Rücksicht“) ist jene frühe kantische Analogie zwischen der Wissens- und Hoffnungsfrage noch einmal besonders deutlich angesprochen, wonach Letztere „in Absicht auf das Praktische und das Sittengesetz eben dasselbe“ sei, „was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Dinge ist“ (II 677).
564 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ ral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindendes Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“ (IV 649): In der Tat eine „stolze Unabhängigkeitserklärung der profanen Vernunftmoral vom Gängelband der Theologie“,216 die selbst ein besonders signifikantes und richtungsweisend gewordenes Ergebnis dieses Läuterungsprozesses darstellt; sie enthält eine entschiedene Absage an alle Varianten eines „theologischen Nominalismus“ und ebenso eine unübersehbare Selbstkorrektur gegenüber jener in der „ersten Kritik“ vertretenen „moraltheologischen“ Position und ihrer „motivationalen“ Akzentuierung, der zufolge ohne Rekurs auf Gott die „moralischen Gesetze … leere Hirngespinste“, „die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“ wären (II 681 f ). Auch darauf sei in dieser Bezugnahme auf das von Kant sogenannte „Stadium der Theologie“ noch hingewiesen: Diesbezüglich unverkennbar anders als Lessings Vorhaben bzw. Bedürfnis, „die Begriffe der Gottheit“ zu genießen und demgemäß die „orthodoxen Begriffe von der Gottheit“ verabschieden zu wollen, insistierte Kant darauf, sich als „vernünftiges Weltwesen“ (und sei es auch „mit Furcht und Zittern“: IV 722) darin „wiederfinden“ und anerkannt wissen zu können. Seine Warnung vor einer leichtfertigen, weil dem Menschen als „existierendem Endzweck“ unangemessenen „Verschwendung“ des „Begriffs von einer Gottheit“ – auch im Sinne der Vorstellung von einer „blind wirkenden Ursache der Natur“ – wäre wohl auch darauf zu beziehen. In Anlehnung an eine berühmte Bemerkung Jacobis über den „Spinozisten“ Lessing enthält jene späte kantische Begründung des Unterschiedes zwischen „Inbegriff und Grund aller Realitäten“ auch eine indirekte Antwort darauf, was Kant jedenfalls daran hinderte, „Spinozist zu werden“. Aus den genannten Gründen konnten eben Spinozas „Begriffe von der Gottheit nicht für ihn“ sein, sofern sich dieses „vernünftige, aber endliche Wesen“ darin sich gerade nicht verstehen und bejahen könne – ein Anspruch, der freilich keineswegs bloßem „Wunschdenken“, sondern durchaus einem moralischen Bedürfnis entspricht. Schon dies, dass die „moralisch konsequente Denkungsart“ nicht über sich selbst verfügt, sofern sie sich – jenseits der Beliebigkeit bloßen „Wunschdenkens“ – zu diesem allein dadurch zustimmungsfähigen Urteil doch „genötigt“ erfährt, weist wohl darauf hin.217 216 So Habermas 2005, 219. – Auch in den Vorlesungen zur „Rationaltheologie“ betonte Kant die andernfalls unvermeidliche Aufhebung aller moralischen Vernunftansprüche: „Wir werden die Gesetze nicht vom göttlichen Willen ableiten. Der Gesetzgeber darf nicht der Autor sein, sondern die moralischen Gesetze liegen in der Natur der Dinge. Leiten wir sie vom göttlichen Willen ab, so verdirbt das alle Moral; denn so kann Gott auch dispensieren“ – freilich um den hohen Preis, dass dies dann überhaupt alle „moralische Verbindlichkeit“ aufheben müsste. Sehr entschieden hat Kant stets – nicht zuletzt in päda gogischem Kontext – die Ansicht bekämpft, „als ob die Anerkennung des moralischen Gesetzes nicht möglich wäre wenn wir nicht einen moralischen Gesetzgeber außer uns annähmen dessen Gebot es sei“ (AA XXIII, 121). 217 Andernfalls bliebe auch jene schon angeführte kantische Kennzeichnung des „Unglaubens“ als „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis (Verzichttuung auf Vernunftglauben)“ (III 282) ganz unverständlich. Für diesbezüglich klärende Hinweise danke ich V. Gerhardt.
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Jene voranstehend angeführte Mahnung Kants gewinnt derart sogar noch einmal besonderes Gewicht. Sie bestätigt erneut, dass nur eine solche absolute „Sinn-Instanz“ als „terminus ad quem“ dieses Vernunftglaubens dem Sinn-Anspruch und dem „persönlichen Wert“ (V 610) dieses „vernünftigen Weltwesens“ genügt bzw. diesem auch „gerecht“ wird. Eben dafür kann der Rückzug auf ein bloß erkenntniskritisch-vorbehaltliches „Alsob“ schon in Anbetracht jener praktischen Vernunftansprüche keinesfalls ausreichen. Gemäß jenem leitenden Motiv eines „moralisch-bestimmten Monotheismus“218 wollte Kant auch noch im Theodizee-Aufsatz auf den als „moralische Weisheit“ bzw. erst als „allervollkommenstes Wesen“ gekennzeichneten Gottesbegriff rekurrieren, weil „der eigentümliche Begriff der Weisheit … die Eigenschaft eines Willens vorstellt, zum höchsten Gut als dem Endzweck aller Dinge zusammen zu stimmen“ (VI 106; V 614),219 und andernfalls jenem „unbedingten Vernunftbedürfnis“ nicht angemessen, d. h. eines „vernünftigen Weltwesens“ geradezu „unwürdig“ wäre. Gewiss gibt er diesem Motiv im Kontext einer „authentischen Theodizee“ noch eine weitreichende Zuschärfung. Allein darin ist auch, entgegen anders lautenden und mitunter wohl auch irreführenden Bemerkungen Kants,220 zureichend begründet, weshalb „Moral … unausbleiblich zur Religion“ führe: „Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der 218 Diese Wendung findet sich im „opus postumum“ (AA XXIII, 440); von dem „theismus moralis“ ist freilich auch andernorts die Rede. In diesem Sinne heißt es in Kants später Reflexion 6451 (AA XVIII, 723): „Denn der Mensch, der im nexu finali physico ein Glied ist; aber in sich ein Prinzip eines höheren nexus finalis antrifft, wird … sein Dasein auch in Ansehung dessen auf … denselben verständigen Urheber beziehen; aber der Begriff desselben ist als von einem Wesen als Urheber des höchsten Guts, weil dieser allein der Zweckbeziehung des moralischen Menschen angemessen [!] ist.“ – In Kants Rekurs auf einen „moralischen Theismus“ klingt offenbar ein auch in der unverkürzten Bestimmung des „höchsten Gutes“ mitzuhörender Versöhnungsaspekt und damit ein Aspekt von „Geschöpflichkeit“ an, der nicht preisgegeben werden darf. 219 Auch bezüglich dieser Gott beigelegten „Eigenschaft der Weisheit“ bleibt freilich zu bedenken, dass es dabei ebenfalls nicht darum zu tun sein kann, „um Gott, sondern um die Welt vermittelst derselben … zu denken“ (III 235). 220 Diese Hinweise Kants stehen vermutlich ebenfalls der Auffassung Henrichs entgegen, „dass schon Kant zwischen der Realität der moralischen Weltordnung und der Existenz des persönlichen Gottes schließlich [!] eine klare Unterscheidung markierte, die in der zweiten Variante seiner Moraltheologie auch notwendig geworden ist: Die Voraussetzung der Ordnung ist unabweisbar, ihre Erklärung aus der Existenz des Urwesens als Person geht dagegen daraus hervor, dass wir nur über die Erklärungsperspektive aus der Analogie zu dem verfügen, was wir von uns selbst als Handelnde und Bewirkende wissen. Mit dieser Unterscheidung ließ Kant die Erklärung zu und minderte nur im Vergleich mit der Annahme der Ordnung selbst den Grad ihrer Verlässlichkeit. Die Folge der Gedanken, die innerhalb der Moraltheologie entfaltet werden können, nachdem die Umwendung zur Vorgängigkeit der Ordnung vollzogen wurde, zieht es nun aber nach sich, dass die Verbindung zwischen der Voraussetzung der Ordnung und ihrer Erklärung durch den persönlichen Gott noch weiter gelockert wird. Denn in dem Maße, in dem die Ordnung selbst zum Prozess wird [wie schon bei Fichte], aus dem heraus sich die Aktivität der Glieder der Ordnung freisetzt, wird der Gedanke der Ordnung von dem Gedanken des persönlichen Gottes noch weiter abgesetzt und dem Gedanken des ‚Absoluten‘ angenähert“ (Henrich 2004, II 1518 f ). Dieser – nach-kantisch zunächst vollzogenen – Annäherung an den „Gedanken von einem all-einigen Prozeß“ stehen indes wichtige Motive der kantischen Religionsphilosophie als damit unvereinbar entgegen; gleichwohl sind jene Äußerungen Kants nicht zu übersehen, die ein derartiges Verständnis indes begünstigten. Sie sind es wohl auch, die den späten Schelling zu einer – wenngleich sehr kritischen und dem Anspruch nach auch weiterführenden – Wiederannäherung an kantische Motive inspiriert haben; freilich führt dies auf die unabweisliche Frage, ob darin das in dem kantischen Begriff des „höchsten Guts“ (als dem „Weltbesten“) enthaltene praktische Sinnpotenzial nicht verkürzt wird.
566 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Herbeiführung des höchsten Guts (als Zwecks) gedacht werden soll: so muss, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches [!] Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge [!] dieses geschieht“ (IV 655, Anm.). Freilich, auch dieser sehr missverständliche Rekurs auf die „strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Gutes“ bzw. auf die beanspruchte „Würdigkeit, glücklich zu sein“, ist im Lichte behutsamerer religionsphilosophischer Äußerungen Kants zu relativieren bzw. zu korrigieren. Aus ähnlichen Motiven hätte wohl auch der späte Kant dem Gedanken seine Zustimmung versagt, „dass sich das vereinzelte Subjekt in der abschließenden Selbsterkenntnis der Vernunft auf diese Ordnung insofern relativiert, als es sich selbst und sein Handeln als Moment im Prozess der Realisierung dieser Ordnung begreift“.221 Kann doch ihm zufolge nicht zustimmend oder auch nur in bloßer Indifferenz gedacht werden – und zwar wiederum aus moralischen Gründen, weil die in der rechten Begründungsordnung miteinzubeziehende „eigene Glückseligkeit“ selbst dies, eben dem hier den Ausschlag gebenden Urteil der „praktischen Vernunft“ gemäß, verbietet! –, dass das sittliche Bewusstsein „diese [moralische] Ordnung auch als vorgängig in Beziehung auf sich selbst, sein eigenes Handeln und dessen Rolle in der Realisierung der Ordnung als eines wirklichen Weltzustandes“ versteht.222 Die angeführten späten Stellungnahmen Kants sollten ebenso bestätigen, dass er die maßgebende Orientierung an der Idee eines „persönlichen Gottes“ (im Sinne eines „moralisch bestimmten Monotheismus“) auch in den späteren Versionen einer Grundlegung seiner Religionsphilosophie keineswegs aufgegeben hat. Aus diesen Überlegungen mag auch deutlich geworden sein, weshalb Kant ausdrücklich den in seiner „Ethikotheologie“ begründeten bzw. vollzogenen „praktischdogmatischen Überschritt“223 in seiner Selbstverortung in dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ innerhalb dieses letzten Stadiums situiert, worin die „Endabsicht der Metaphysik“, „vom Sinnlichen zum Übersinnlichen fortzuschreiten“, auf eine Weise ihre Einlösung findet, die auch kritischen Vernunftansprüchen genügt. Die in der Kritik der reinen Vernunft zunächst erzielte „Vollendung des kritischen Geschäfts der Vernunft“ begründete die notwendige Differenzierung und Vermittlung der Einheit des „Schul- und Weltbegriffs der Philosophie“. Letztere manifestiert sich sodann in der Ausbildung eines in sich differenzierten Gefüges der Ideen des „Übersinnlichen“ und verweist mit den darin zu leistenden „Grenzbestimmungen der Vernunft“ letztendlich auch den „Weltbegriff der Philosophie“ selbst darüber hinaus auf Grenzfragen recht unterschiedlicher Art (von denen auch noch ausführlich die Rede sein soll: s. V. Teil); sie sind mit der inneren Verfassung einer „endlichen Vernunft“ unzertrennlich verbunden. 221 Henrich 2004, II 1530. Auch mit der schon zitierten späten Anmerkung Kants am Ende seiner „Tugendlehre“ (IV 631, Anm.) dürfte Henrichs Interpretation wohl nicht vereinbar sein. 222 Henrich ebd., 1530. 223 Es versteht sich von selbst, dass dieses nachfolgend wiederholt angeführte Adjektiv „praktisch-dogmatisch“ für Kant also „noch nichts von einem abwehrenden oder pejorativen Charakter“ hat, „wie er zu dem von Kant so viel verwendeten Terminus ‚Dogmatismus‘ in der Philosophie gehört“ (Heimsoeth 1966 I, 150, Anm. 214).
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Die beiden voranstehenden Kapitel dieses III. Teiles wollten vor allem verdeutlichen, dass die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ in einem langwierigen und verschlungenen Scheidungsprozess aus der „Vernunft in concreto“ gewonnene „Reinigkeit“ dieser Ideen des „theoretisch“ und „praktisch Absoluten“ (der „Theologie“ und der „Moral“) sodann auch der näheren Differenzierung jener Vernunftverfassung zugrunde liegt.224 Die darin geleistete Herausbildung der einzelnen „Elemente“ der Vernunftidee des „Unbedingten“ und ihre interne Verknüpfung fundiert auch seine Charakterisierung der Religion als „reine Vernunftsache“ (VI 338), die gleichermaßen den Anspruch der „Allgemeinheit“ enthält. Ebenso sollte klar geworden sein, dass der von Kant intendierte Aufweis, wie „Moral unumgänglich zur Religion“ führt, bis hin zu den späteren religionsphilosophisch relevanten Motiven selbst noch einmal eine bemerkenswerte Stufenfolge durchläuft. Erst dadurch ist der grenzbegrifflich gedachte ganz „leere Begriff“ des „metaphysischen Guts“ (vgl. III 641) als „Ideal des höchsten Gutes“ (näherhin in der Idee des „höchsten ursprünglichen Guts“: II 681) bestimmbar geworden. Jene spätere Kennzeichnung der Gottesidee als „Urquell alles Guten in der Welt als seinen Endzweck“ wäre mithin selbst schon eine „symbolische Darstellung“ desselben, die in einem späten – bezeichnenderweise in der kantischen „Tugendlehre“ zu findenden – Motiv noch eine bemerkenswerte ethische Konkretisierung gefunden hat und so das ethikotheologisch begründete „moralische Verhältnis“ noch in besonderer Weise akzentuiert: Die „Vorstellung und Beherzigung der Gleichheit unter Menschen, mithin die Idee, dadurch selbst verpflichtet zu werden, indem man andere durch Wohltun verpflichtet
, gleichsam als Brüder unter einem allgemeinen Vater, der aller Glückseligkeit will“ (IV 612 f ), wäre demnach schon als religiös-bildliche „Darstellung“ dieses „einigen Gott[es]“ als des „Urquell(s) alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (III 636), anzusehen. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass dieses Motiv genauer besehen einerseits die Klammer bildet zwischen jenem frühen kantischen Hinweis, dass „Gott die Glückseligkeit der Menschen, durch Menschen will“, und der späten Analogie-Figur des „Gemeinspruch“-Aufsatzes, wonach der Mensch sich „nach der Analogie“ mit der „sich nicht verschließenden Gottheit“ denkt (VI 133, Anm.). Andererseits bleibt auch für diese Begründungsfiguren der kantische Verweis auf den „Logos“ der „Verhältnis“-Analogie als „vollkommene Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen“ maßgebend (III 233), nicht zuletzt auch in Kants spätem Rekurs auf die „Liebe“ als „göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts (dessen Schöpfung und Leitung)“ (IV 629 f ). 224 Hier finden sich offensichtlich besonders naheliegende religionstheoretische Anknüpfungspunkte zu Troeltschs Kant-Interpretation: „Die Kantische Lehre ist in allen Stücken erkenntnistheoretisch, das heißt: sie beruht auf der Voraussetzung, dass in den apriorischen Notwendigkeiten der Vernunft und in deren Konsequenzen die dem Menschen allein erkennbare normative Wahrheit gegeben ist; sie besteht in der Herausschälung der apriorisch-rationalen, den Wahrheitskern konstituierenden, Gedanken aus dem Wirrwarr des erfahrungsmässig stets getrübten und nie rein auf seine apriorische Bestimmtheit sich besinnenden gewöhnlichen Bewusstseins; sie ergiebt schliesslich derart als Ziel aller Denkarbeit einen streng normativen, die für Menschen erreichbare Wahrheit enthaltenden Gedankenzusammenhang, der als Wahrheitskern des gewöhnlichen Bewusstseins, als Maßstab der tatsächlichen historischen Geistesbewegungen und als Zweck der völlig gereinigten, alles Zufällige von diesen Gesetzen aus beherrschenden und gliedernden, Vernunft erscheint“ (Troeltsch 1904, 41).
568 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ 2.3.2. Noch eine späte Frucht der Unterscheidung und Einheit von „Schul“und „Weltbegriff der Philosophie“ Ausgehend von den voranstehend verfolgten systematischen Perspektiven der „Preisschrift“ und im Blick225 auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ hat sich gezeigt bzw. nochmals bestätigt: Es ist zuletzt die „Einheit der Vernunft“, die jenen an der „logischen Vollkommenheit der Erkenntnisse“ orientierten „Schulbegriff der Philosophie“ (das darin gedachte „metaphysische Gut“ als „Ideal der Vernunft“) mit jenen das „Tun und Lassen bestimmenden Prinzipien“ der „reinen praktischen Vernunft“ (das darin verankerte „absolut Gute“ bzw. „oberste Gut“) und darüber hinaus mit der Bestimmung der „Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (dem „höchsten abgeleiteten Gut“) unauflöslich verknüpft. Erst in jener – in der „Geschichte der reinen Vernunft“ in ihre Momente differenzierten und sodann wiederum zu einem Ganzen gefügten – Einheit von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ vollendet sich der umfassende „Endzweck der Metaphysik“ – und zwar in dem schon angezeigten Sinne, dass darin die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erkennbare „Zeitordnung“ der einzelnen „Stadien“ zugleich als die darin zutage tretende „teleologia rationis humanae“ nachvollziehbar wird, der zufolge die „Zeitordnung … in der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens gegründet“ ist (III 595). Dass die in Aussicht gestellte „Vollendung der Metaphysik“ über die Differenzierung der „Elemente“ des „Schul- und Weltbegriffs der Philosophie“ – in direktem und indirektem Bezug auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ – von Kant zuletzt wiederum mit der zu begreifenden Einheit von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ in Verbindung gebracht wurde, die sich nun als „Zweckverbindung“ des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ (III 632) erwies – und d. h.: sich als eine solche im Sinne einer „teleologia rationis humanae“ nun auch selbst begreift –, darf als das diesem als „Theologie“ bezeichneten „dritten Stadium“ vorbehaltene Resultat dieser Entwicklung angesehen werden; darin ist das Band zwischen „moralischer Teleologie“ und „Theologie“ unübersehbar eng geknüpft und erlaubt noch besondere Akzentuierungen. Weil dieser Aufweis der „teleologischen Verfassung der Vernunft“ als einer immanenten „teleologia rationis humanae“ erst in diesem „dritten“ (und letzten) Stadium der Metaphysik geleistet wird, ist dieses als das „Erwachsenenalter der reinen Vernunft“ und somit als deren Vollendung ausgewiesen, worin die die darin entfaltete „Vernunftteleologie“ zuletzt auch ihre Reflexionsgestalt ausbildet und erst dergestalt zum Abschluss kommt. Folglich ist Letztere in diese „teleologia rationis humanae“ selbst noch miteinbezogen, sofern sie die in jenem inneren „Gefüge der Vernunftideen“ freigelegte „gewisse Organisation“ gleichermaßen legitimiert und die daran geknüpften Ansprüche auch im Sinne einer Selbstkritik und -begrenzung limitiert. Somit wird nicht nur jene in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erst herausgeschälte „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ – also ihre „Momente“ und die in ihrer Verbindung sich 225 Die Überlegungen dieses Abschnitts knüpfen indirekt noch einmal an jene Themen an, die in den beiden ersten Kapiteln des I. Teils – am Leitfaden der „Geschichte der reinen Vernunft“ – im Vordergrund standen (s. o. I., 1.; I., 2.).
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enthüllende „teleologische Verfassung“, worin sie sich in ihren „Ideen“ selbst „erhält“ (s. o. III., 2.1.) – bewusst; vielmehr wird so die innere Verfassung dieser Idee der „moralischen Teleologie“ selbst offenbar, deren Entfaltung in die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ eingebunden und in bzw. durch diese in dem von Kant angezeigten Sinne „bei Gelegenheit der Erfahrung“ gewissermaßen „ursprünglich erworben“ ist. Genauer besehen erweist sich nämlich die „Geschichte der reinen Vernunft“ selbst schon als eine nachträgliche Reflexionsgestalt der in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ vollzogenen „Kultur der Vernunft“ (s. dazu näher V., 1.1.). Im Vorblick auf den V. Teil sei hier lediglich dies noch angemerkt: In der Tat spricht vieles dafür, dass auch noch der spätere Kant dieses aus dem Gefüge der „Ideen des Übersinnlichen“ errichtete Fundament der Vernunftreligion gleichermaßen als eine aus der „Geschichte der reinen Vernunft“ bzw. aus den „durch hergebrachte fromme Lehren“ gewonnene Erbschaft und deren Synthese verstanden hat: Es liegt wohl nahe, das vom späten Kant kritisch, d. h. in „gebrochener Form“ rezipierte (und somit von falschem „Überschwang“ befreite) „Sonnengleichnis“, verbunden mit seinem Hinweis auf „Chris tus“ als „Urbild der Moralität“ sowie auf „die andere Welt“ als „ein notwendig moralisches Ideal“, als Fundament des darauf gestützten „Vernunftglaubens“ anzusehen. Es ist dabei freilich gerade die „Christus“-Idee, die diesbezüglich von Kant auch als kritisches Korrektiv gegen Platons „Überschwang“ geltend gemacht wurde. Als ein wichtiger Ertrag aus jenem „dritten Stadium“ der Metaphysik sei hier noch einmal daran erinnert: Die dem gesuchten „praktisch-dogmatischen Überschritt“ zugrunde liegende bzw. darin sich entfaltende Idee der „moralischen Teleologie“ vereint in sich „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ – und zwar über eine höchst differenzierte Verknüpfung der einzelnen Momente derselben: Wurde die dem kritischen „Schulbegriff der Philosophie“ zuzuschreibende Unterscheidung des „Gegenstandes schlechthin“ und des „Gegenstandes in der Idee“ zwar zunächst als „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ (II 583) ausgewiesen, so haben die innerhalb des „Weltbegriffs der Philosophie“ erbrachte Differenzierung der „wesentlichen und höchsten Zwecke der menschlichen Vernunft“ sowie die „Beziehung aller Erkenntnisse der menschlichen Vernunft“ (im Sinne der darin aufgewiesenen „teleologia rationis humanae“: II 700 f ) doch erst in Kants Entfaltung der verschiedenen „Endzweck-Dimensionen“ ihren Abschluss gefunden. Der im „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ entfaltete „theoretische“ und „praktische Vernunftgebrauch“ stellt in der darin geleisteten Differenzierung der verschiedenen Dimensionen des „theoretisch“ und „praktisch Unbedingten“ (s. o. I., 1.1) jene „Momente“ zur Verfügung, deren innere zweckmäßige Verknüpfung allein den Überschritt zum „Endzweck der Metaphysik“ zu begründen vermag. In der „Geschichte der reinen Vernunft“ zwar zunächst in ihrer Eigenständigkeit ausdifferenziert, finden „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ nunmehr, gemäß jenem zweifachen „Bedürfnis der Vernunft“ in ihrem „theoretischen“ und „praktischen Gebrauch“, ihren Zusammenschluss im abschließenden Stadium der „Theologie“: Ein Zusammenschluss, der so das in unterschiedlichen Vernunftansprüchen begründete „Urteilen-Wollen“ und das „Urteilen-Müssen“ in eigentümlicher Weise vereint und erst dadurch den „Endzweck der Metaphysik“ erreicht. Dies wäre deshalb in dieser kantischen Perspektive als die
570 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ „Vollendung des Weges der Metaphysik“ und somit der „teleologia rationis humanae“ in reflexiver Gestalt anzusehen; zugleich impliziert dies freilich auch ihre „Selbstbegrenzung“ gegenüber den geschichtlich-positiven Religionen (s. dazu u. V., 2.1.). Indes, kritische Metaphysik expliziert, am Leitfaden der „moralischen Teleologie“, die diversen Geltungsansprüche der Vernunft nicht nur gemäß diesen „ihren Elementen und obersten Maximen“, ebenso weist sie „Theologie und Moral“ als die beiden „Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat“ (II 709), aus. Dem – genauer besehen zwei „gegenläufige“ Gedankenbewegungen in sich vereinigenden – in seiner Religionsphilosophie intendierten Nachweis, dass und wie „Moral … unumgänglich zur Religion“ führt bzw. wie „Gott ein zur Religion tauglicher Begriff wird“, ist diese Verbindung der „Theologie und Moral“, d. h. die allein religionsbegründende Verknüpfung des „theoretischen“ und „praktischen Vernunftideals“, als unentbehrliches Fundament schon vorausgesetzt; sie werden nunmehr als die beiden „Scharniere“ zwischen „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ begreiflich. Dies findet in Kants denkwürdigem Hinweis auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ eine recht präzise Entsprechung und rückt derart auch die konkrete (geschichtliche) Entfaltung des unauflöslichen Gefüges der Vernunftideen in dieser teleologischen Perspektive noch einmal in besonderer Weise ins Blickfeld.226 Die spannungsvolle Einheit der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ gereinigten Ideen des „Übersinnlichen außer uns“ sowie des „Übersinnlichen in uns“ bleibt hierfür das einzig tragfähige Fundament, das einen theosophischen Überschwang (und „moralische Schwärmerei“ als „Eigendünkel“) ebenso zu vermeiden vermag wie einen halsbrecherischen religiösen „salto mortale“ bzw. einen unkritischen „Offenbarungspositivismus“. Der auf die „logische Vollkommenheit unserer Erkenntnis“ bzw. auf die Abschluss-Idee des „höchsten metaphysischen Gutes“ (als „Letztprinzip“) abzielende „Schulbegriff der Philosophie“ ist darin mit dem auf die „systematische Vollkommenheit der Zwecke“, mithin auf die „höchsten Zwecke der Vernunft“ gerichteten „Weltbegriff der Philosophie“ unauflöslich vereint. Sind also in der damit vollzogenen Verknüpfung jener „Vollendung des kri226 Von diesem bei Kant ansatzweise erkennbaren differenzierten Begründungszusammenhang abstrahiert offenbar jene vom Verfasser des berühmten „Ältesten Systemprogramms“ vertretene Auffassung, wonach „die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt – wovon Kant mit seinen beiden praktischen Pos tulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat“ (Hegel 1, 234: „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“). Indes, dies hat der von Kant intendierte „praktisch-dogmatische Überschritt“ keineswegs behauptet, setzt dies doch die grenzbegrifflich konzipierte „theologische Idee“ (als „durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“: II 331) seinerseits voraus. Vermutlich wird deshalb die aus der eigentümlichen Vereinigung dieser „grenzbegrifflich“ gedachten „theologischen Idee“ und der praktisch realisierten „Idee der (positiven) Freiheit“ resultierende kantische Begründungsfigur in dem vom jungen Hegel geforderten „Glauben an Sein“ doch insofern verfehlt, als dies wohl den besonderen Charakter dieser Idee verkennt – ein Gedanke, der sich auch für Kants Kritik der Gottesbeweise als höchst bedeutsam erweist. Seine (gegen den Cartesianischen Gottesbeweis gerichtete) Warnung davor, ein „Bedürfnis für Einsicht“ zu nehmen, sowie die Mahnung, jene im Sinne „der subjektiven Bedingungen des Gebrauchs der Vernunft“ verstandene „nur abgenötigte Voraussetzung … nicht für freie Einsicht aus[zu] geben“ (III 273, Anm.), ist deshalb in modifizierter Form wohl auch gegen Hegels (vermutlich Jacobiinspirierte) These zu richten, „Glauben setzt ein Sein voraus“ (Hegel 1, 251), weil dies den von Kant stets betonten unaufhebbaren grenzbegrifflichen Charakter der „theologischen Idee“ einzuebnen scheint.
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tischen Geschäfts der Vernunft“ einerseits und in der Explikation der „ganzen Bestimmung des Menschen“ „aus dem Standpunkt der Zwecke“ andererseits „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ zusammengeführt, so kann demzufolge erst dadurch der „Endzweck der Metaphysik“, jener korrelierenden „Zeit“- und „natürlichen Gedankenfolge“ gemäß, seine End- und Vollendungsgestalt gewinnen. Erst dies lässt den daraus resultierenden Grundriss einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ erkennen, worin „Religion als reine Vernunftsache“ (VI 338) legitimiert werden soll – und zwar gleichermaßen gegenüber der zeitgenössischen „genealogischen“ Religionskritik nach dem Vorbild Humes und gegenüber den sich auf „ihre fühlbaren Geheimnisse“ (III 384)227 berufenden zeitgenössischen „vornehmen Tönen in der Philosophie“ und deren „Schwärmerei“ (III 377). Der schon erwähnte – und im V. Teil (s. dazu u. bes. V., 3.1.) noch näher zu verfolgende – Sachverhalt, dass die unterschiedlichen Dimensionen bzw. Aspekte des „Unbedingten der Vernunft“ sich selbst aus der „Geschichte der reinen Vernunft“ in zunehmender geschichtlicher Selbstläuterung entwickeln und so in der Einheit des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ zuletzt die unverzichtbare Basis der Religion (als einer „reinen Vernunftsache“: VI 338) darstellen, ohne das auch ein beanspruchter „Offenbarungsglaube … Heidentum“ wäre,228 führt so lediglich einen besonderen Aspekt jener sich in der „Geschichte der reinen Vernunft“ selbst sich entfaltenden „teleologia rationis humanae“ vor Augen; dieser bleibt auf den in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ vollzogenen Prozess der „Kultur der Vernunft“ rückverwiesen, weil darin „situiert“. Diese in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erst freigelegten Vernunftprinzipien bilden in ihrem inneren Zusammenhang also das daraus resultierende „Formale aller Religion“ (IV 628), das als das unumstößliche Fundament der „auf dem Kritizism der praktischen Vernunft gegründete(n) wahre(n) Religionslehre“ (VI 328) sodann – ein weiterer „vernunftteleologischer“ Aspekt – als der unentbehrliche Ausleger dessen fungiert, „was uns ein Geschichtsglaube immer verheißen mag“ (IV 855). Genauer noch wäre zu sagen: Erst in jener aus der „Geschichte der reinen Vernunft“ ebenfalls resultierenden unauflöslichen Verknüpfung der beiden „Beziehungspunkte(n) zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“ (II 709) treten – in dieser Einheit des „Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit“ und im „Bewusstsein der Gottheit“229 – ein „mora227 Bemerkenswerterweise rekurrierte Kant jedoch wenig später auf die „Undurchdringlichkeit des Geheimnisses“ der durch das „unerschütterliche moralische Gesetz“ offenbaren „Idee der Freiheit“ – ein Geheimnis, das, so betont Kant hier, „nur nach langsamer Entwicklung der Begriffe des Verstandes und sorgfältig geprüften Grundsätzen … fühlbar [!] werden kann“ (III 393); ob sich in solcher Argumentation nicht eine Vermengung unterschiedlicher Ebenen widerspiegelt? 228 Vgl. noch einmal die recht aufschlussreichen Vorarbeiten Kants zum „Streit der Fakultäten“ (AA XXIII, 423 ff, hier 440). Man darf dies wohl auch so verstehen, dass die aus bloßen Offenbarungs-Ansprüchen erworbenen bzw. aufgenommenen Bestimmungen bzw. religiösen Inhalte als eine bloß faktische „Erwerbung“ noch „vernunftlos“ (d. h. bloße „Sprüche“: IV 768) blieben (gleichwohl deshalb nicht einfachhin vernunftwidrig wären), weshalb sie auch des „reinen Religionsglaubens“ als eines „Auslegers“ bedürfen und so erst befähigt sind, den „an sich selber toten Geschichtsglauben“ mit Leben zu füllen. 229 Auch diesbezüglich gestand Kant, mit Blick auf die Antike, den Stoikern bemerkenswerterweise zu, „die reinsten Begriffe von Gott“ ausgebildet zu haben (AA XXVIII, 1126). Diese Beanspruchung der Religion als „reine Vernunftsache“ impliziert ebenso die von Kant (hier durchaus in Übereinstimmung mit Leibniz) erteilte Absage an einen „theologischen Nominalismus“ – nicht zuletzt in der besonderen
572 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ lisch bestimmter Monotheismus“ und ein entsprechendes Verständnis der Religion hervor, die zuletzt jenes Fundament der Vernunftreligion, d. h. „Religion“ solcherart auch als „reine Vernunftsache“ legitimieren.230 Auch dies besagt wohl nichts anderes als dies, dass darin jene als grenzbegrifflicher „Abschlussgedanke“ gleichermaßen limitierte wie auch legitimierte Idee des „Übersinnlichen außer uns“ (als theoretisches „Ideal der Vernunft“) mit dem „durch die Tat“ ursprünglich wirklichen „Übersinnliche in uns“ (dem „Ideal der sittlichen Vollkommenheit“ als der Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“) verknüpft wird. Erst dieser denkwürdige Zusammenschluss von „Abschluss“ und „Ausgang“ (d. i. „Abschlussgedanke“ und „archimedischer Punkt“) und die dadurch gewährleistete „Einheit der Vernunft“ vermag sonach das Grundgefüge jener kritischen Metaphysik bereitzustellen, um so auf sicherem Boden, d. h. ganz ohne waghalsige Sprünge, den „Überschritt“ zu ihrem „Endzweck“ zu verfolgen. Zugleich ist es, wie sich in einem „existenzialanthropologischen“ Perspektivenwechsel noch zeigen soll (s. u. IV. Teil), die daraus gewonnene Verbindung der „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft und praktischen Erweiterung derselben“, die darin den „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ begründet. Schon Kants „Stadienlehre“ hat es sichtbar gemacht: Bis dieser „Endzweck der Metaphysik“, d. i. vom „Sinnlichen zum Übersinnlichen fortzuschreiten“, als Resultat dieser Entwicklung erreicht werden konnte, war in dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ ein langer und hindernisreicher Weg zu durchlaufen, in dem sich zunächst die Zügelung und Disziplinierung einer bloß naturwüchsigen „metaphysischen Naturanlage“ als die vorrangige Aufgabe erwies, die durch jene „Stadien“ der Metaphysik angezeigt ist. Der durchaus ambivalente Charakter jener „metaphysischen Naturanlage“ tritt dieserart besonders deutlich zutage, dessen Aufweis gleichermaßen in Kants Kritik der traditionellen Metaphysik und in seinem Versuch einer Neubegründung einer kritischen „künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“, ein besonderes Anliegen zur Geltung bringt. Überdies bestätigt sich, dass „Theologie und Moral“ keineswegs nur in früheren Gestalten der Metaphysik „die zwei … Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“ waren, sondern als solche gerade auch noch im Denken des späten Kant erhalten geblieben sind.
Hinsicht, dass es für die Beurteilung des Moralischen bzw. des Bösen, des Gerechten bzw. Ungerechten, des Wahren bzw. Unwahren keine divergierenden Maßstäbe zwischen Gott und Mensch geben kann, zumal andernfalls, so Kant, wohl überhaupt „jeder Vernunftgebrauch“ unmöglich wäre und diese Einsicht jedenfalls auch ein Negativ-Kriterium der Religion als einer „Vernunftsache“ gegenüber „historischen Glaubensarten“ darstellt. 230 So betonte Kant in seinen Vorlesungen in Abwehr von „zwei Extremen“, die entweder der „Vernunft alles Vermögen absprechen wolle, etwas Wahres und Zuverlässiges von Gott erkennen zu wollen“ bzw. die „alle dem Menschen nötige Erkenntnis Gottes aus ihr ableiten“ wollte: „Wenn man mit Aufrichtigkeit und unparteiischem Prüfungsgeiste zu Werke gehet; so wird man finden, dass die Vernunft in der Tat das Vermögen habe, sich einen moralisch bestimmten, und für sie möglichst vollständigen Begriff von Gott zu machen; aber auf der andern Seite auch gestehen müssen, dass aus vielerlei Ursachen dieser reine Begriff von der Gottheit wohl nicht leicht bei irgend einem Volke des Altertums stattgefunden habe“ (AA XXVIII, 1122); vgl. dazu die daran geknüpften interessanten Überlegungen (ebd. 1122 ff ), die auch religionsgeschichtliche Anknüpfungen an diese Ausbildung des „reinen und moralisch bestimmten Begriff von Gott“ erlauben. (s. dazu u. V., 2.1.1.)
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In jener kantischen Unterscheidung von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ – bzw. in den in deren Entwicklung zutage tretenden Differenzierungen der „metaphysica generalis“ und der geläuterten „metaphysica specialis“ – wird auch erst jenes unabweisliche „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ hinreichend expliziert, das sodann auf die unverkürzte, d. h. der Weltstellung und „ganzen Bestimmung des Menschen“ angemessene Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ verweist. Dass letztendlich der von Kant diesem „Weltbegriff der Philosophie“ zugeordnete Versuch eines „praktisch-dogmatischen Überschritts zur Metaphysik“ (III 629 ff ) als der eigentliche „Endzweck der Metaphysik“ sich selbst in die „Geschichte der Vernunft“ einreiht, dessen besonderer Anspruch jedoch nur aus dieser Entwicklung verstanden werden kann, dies macht die Angewiesenheit dieses Vorhabens auf die darin schon vorausgesetzte Differenzierung und Verknüpfung des „Schul- und Weltbegriffs der Philosophie“ noch einmal besonders deutlich. Sie wurden in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ausgebildet und haben in ganz unterschiedlichen Akzentuierungen insbesondere die darin entwickelte Vernunft-Idee des „Unbedingten“ (des in diesem Sinne „Übersinnlichen“) zum Gegenstand.231 Diese Überlegungen wollten auch noch einmal bestätigen, wie die von Kant geltend gemachte „metaphysische Naturanlage“ und die Beantwortung der Fragen „Was die Vernunft eigentlich mit der Metaphysik will? Welchen Endzweck sie mit ihrer Bearbeitung vor Augen habe?“232 in der „Geschichte der reinen Vernunft“ selbst ihre teleologische Entfaltung finden. Die aus dem „bewussten Leben“ und aus den damit verbundenen Erfahrungen und Nöten selbst aufkommenden „letzten Gedanken“ (D. Henrich), worin die „metaphysische Naturanlage“ des Menschen verwurzelt ist, finden nach Kant im Hindurchgang durch die „Kritik“ in der als „praktisch-dogmatischer Überschritt“ gekennzeichneten neuen Gestalt der Metaphysik ihre reflektierte und systematische Entfaltung und zugleich ihre Legitimation; daraus führen sie, wie sich noch näher zeigen soll, wiederum in dieses „bewusste Leben“ in „existenz-erhellender“ und orientierender Weise zurück. Ein Passus aus der Einleitung zu Kants „Logik“ zielt offenbar auf diese Vermittlungsfigur ab: „Alles läuft zuletzt auf das Praktische hinaus; und in dieser Tendenz alles Theoretischen und aller Spekulation in Ansehung ihres Gebrauchs besteht der praktische Wert unseres Erkenntnisses. Dieser Wert ist aber nur alsdenn ein unbedingter, wenn der Zweck, worauf der praktische Gebrauch des Erkenntnisses gerichtet ist, ein unbedingter Zweck ist“ (III 518). In dieser von Kant benannten „Tendenz alles Theoretischen und aller Spekulation“ tritt wohl ein besonderer Aspekt der „teleologia rationis humanae“ zutage; indes, dies
231 So zeigt sich: Die ausgebildete Unterscheidung der „metaphysica generalis“ und der „metaphysica specialis“ gehört selbst in diese Differenzierung der Idee des „Unbedingten“. 232 „Was die Vernunft eigentlich mit der Metaphysik will? Welchen Endzweck sie mit ihrer Bearbeitung vor Augen habe? Denn groß, vielleicht der größeste, ja, alleinige Endzweck, den die Vernunft in ihrer Speculation je beabsichtigen kann, weil alle Menschen mehr oder weniger daran Teil nehmen, und nicht zu begreifen ist, warum bei der sich immer zeigenden Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen in diesem Felde, es doch umsonst war, ihnen zuzurufen: sie sollten doch endlich einmal aufhören, diesen Stein des Sisyphus immer zu wälzen, wäre das Interesse, welches die Vernunft daran nimmt, nicht das Innigste, was man haben kann“ (AA XX, 259 f ). Es ist nicht weniger als das „Interesse der Vernunft an sich selbst“, das sich darin zur Geltung bringt.
574 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ legt nun die Verknüpfung dieser „Tendenz alles Theoretischen und Spekulativen“ mit Kants Hinweis darauf nahe, „dass jeder Schritt, den man mit der reinen Vernunft tut, sogar im praktischen Felde … dennoch sich so genau und zwar von selbst an alle Momente der Kritik der theoretischen Vernunft anschließe, als ob jeder mit überlegter Vorsicht, bloß um dieser Bestätigung zu verschaffen, ausgedacht wäre“ (IV 233). Im Rückblick auf diesen durchschrittenen Weg durch die „Geschichte der reinen Vernunft“ ist die von Kant geäußerte „frohe Aussicht zum nahen ewigen Frieden in der Philosophie“ nunmehr als ein spätes Resultat aus dieser „Geschichte“ aufzunehmen, das derart „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ systematisch (gemäß der „Idee eines Ganzen der Erkenntnis nach Prinzipien überhaupt“: III 223) in diesem „dritten Stadium“ zu vereinen erlaubt – nunmehr freilich allein auf einem „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ eröffneten Weg, der somit in diesem „dritten Stadium“ über das Programm der „Kritik“ noch hinausweist.233 Es ist freilich bemerkenswert, dass diese innerhalb des (dritten) „Stadiums“ der „Theologie“ vollzogene „Vereinigung“ des „Schul- und Weltbegriffs der Philosophie“ (in genauer Entsprechung zur angezeigten „Verbindung“ von „Theologie und Moral“) derart als eine besondere „Zweckverbindung“ ausgewiesen wird, die nur als solche auch den als „Endzweck der Metaphysik“ intendierten „Überschritt zum Übersinnlichen“ zu leisten vermag. Das vor diesem Hintergrund noch einmal vergegenwärtigte Verhältnis zwischen „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ verweist sodann auch auf deren klärungsbedürftiges Verhältnis zu den geschichtlich-positiven Religionen (das allerdings auch in Kants „Religionsschrift“ nur beiläufig-indirekt thematisch wird). Dies führt so auf weitere Problemstellungen, die unübersehbar mit jener kantischen Unterscheidung zwischen einem „Vernunftbegriff in concreto“ und „in abstracto“ (und deren Einheit) eng verbunden sind. Dieses differenzierte Verhältnis des „Schul- und Weltbegriffs“ der Philosophie und der darin explizierten Vernunftideen zueinander sowie deren Bezug auf die geschichtlich-positiven „Glaubensarten“ erweisen sich so als ein für die kantische Gesamtsystematik insgesamt bedeutsames Problem – nicht zuletzt im Kontext der kantischen Bezugnahme auf die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ (dem „Vernunftbegriff in concreto“) und hinsichtlich der „Geschichte der reinen Vernunft“ (dem „Vernunftbegriff in abstracto“) im engeren Sinne234 sowie im Blick auf den Status derselben innerhalb der „Geschichte der menschlichen Vernunft“. (s. dazu. u. V., 1.)
233 „Zwischen dem Dogmatism und Scepticism ist die mittlere und einzig-gesetzmäßige Denkungsart der Kritizism“ (Refl. 5645, AA XVIII, 287). Indes erschöpft sich das von Kant benannte „dritte Stadium“ (und seine eigene Verortung darin) eben noch nicht in diesem „Kritizism“ und weist so darüber noch hinaus auf einen „Überschritt“ „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“, der weder das Denken auf Holzwege führt noch einen „salto mortale“ zumuten will. 234 Diesbezüglich – und damit auch mit Blick auf das Verhältnis von „Philosophie und Religion“ bzw. die „Vernunft in concreto“ und „in abstracto“ – ist Kants Verweis auf die Merkwürdigkeit aufschlussreich, „dass die Menschen im Kindesalter der Philosophie davon anfingen, wo wir jetzt lieber endigen möchten, nämlich, zuerst die Erkenntnis Gottes, und die Hoffnung oder wohl gar die Beschaffenheit einer andern Welt zu studieren“ (II 709).
2. Die späte Zweckverbindung der „Vernunftideen“
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Ein wenig genauer besehen wäre nunmehr, in nochmaliger Anknüpfung an die notwendige Unterscheidung und Vermittlung der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und der „Geschichte der reinen Vernunft“ („Vernunftbegriff in concreto“ und „abstracto“), eine eigentümliche Kreisbewegung in diesen durchschrittenen Begründungsfiguren sichtbar zu machen: Denn, so hat sich schon im I. Teil gezeigt (I., 1.1.), jener in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ zutage tretende Läuterungsprozess und Fortschritt findet eine produktive Weiterführung innerhalb der in diese „Geschichte der menschlichen Vernunft“ selbst eingebetteten „Geschichte der reinen Vernunft“. Das sich derart erst geschichtlich differenzierende Verhältnis von „Vernunftbegriff in concreto“ und „in abstracto“ lässt sich demnach, dieser kantischen Perspektive folgend und eine bemerkenswerte Wendung Kants aufnehmend, zuletzt als ein Prozess fortschreitender „metaphysischer Sublimierung“ (VI 185)235 verstehen, der im „dritten Stadium der Metaphysik“ (in der darin entfalteten Einheit von „Kritik und Metaphysik“) zum Abschluss kommt und so den „Endzweck der Metaphysik“ (als „Überschritt zum Übersinnlichen“) erst als erreichbar erscheinen lässt. Aus den philosophisch gereinigten bzw. begründeten „moralischen Prinzipien“ und der aus der „rationalen Theologie“ resultierenden „theologischen Idee“ wird derart eine Verbindung von „Theologie und Moral“ ermöglicht, woraus nun allererst „Religion“ resultieren (II 338, Anm.) und so auch als „reine Vernunftsache“ (VI 338) legitimiert werden soll; überdies soll diese Verbindung aber auch die „Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat“ (II 709) bereitstellen. Demzufolge findet dieses zuletzt selbst aus der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ (und somit aus der „Religionsgeschichte“) hervorgegangene „dritte Stadium der Metaphysik“ am Leitfaden der Vernunftidee der „moralischen Teleologie“ einerseits seinen Abschluss und führt allein so auf den „Endzweck der Metaphysik“; indes ist dieser, die „Ethikotheologie“ als Lehre von den „höchsten Zwecken der Vernunft“ vollendend, in dem daraus resultierenden existenz-verankerten religiösen Verhältnis „aufgehoben“, das in der „ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat“ erweisenden Wirklichkeit der Freiheit verankert ist und letztendlich auf die Religion als die „Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (V 615) sowie auf das postulatorische „Ich will, dass ein Gott sei …“ (IV 277) führt. Dergestalt wird jene vom „Vernunftgebrauch in concreto“ ausgehende und über den (ethikotheologisch explizierten) „Vernunftgebrauch in abstracto“ zur moral-fundierten Religion – und somit mitten in den „Alltag des Lebens“ – zurückführende Kreisgang gewissermaßen vollendet. (s. u. IV., 4.3.) 235 Die durch die „größere Bearbeitung der sittlichen Ideen“ erreichte „Katharsis“ (Kant spricht auch von „moralischer Kultivierung“ bzw. „Entwicklung“: z. B. AA XXVIII, 1329) der moralischen Prinzipien im „Vernunftbegriff in concreto“ hat so eine ausdrückliche Entsprechung in der Aufgabe einer kritischen Metaphysik und deren „Vernunftbegriff in abstracto“: „Der Gebrauch der Metaphysik in Ansehung des theoretischen ist bloß negativ; sie eröffnet nicht die Erkenntnis der Dinge und ist nicht dogmatisch. […] Die reine Vernunft ist nur in Ansehung der Objekte des Willens dogmatisch, in Ansehung der … Spekulation aber (bloß aufsehend) catharctisch“ (Refl. 4445, AA XVII, 552 f ). Schon hier sind der Sache nach Einheit und Unterschied von „spekulativer Einschränkung der reinen Vernunft und praktischer Erweiterung derselben“ (IV 275) deutlich benannt.
576 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ In Rückbesinnung auf die Leitthemen dieses Kapitels darf resümiert werden: Es sind jene in der „Preisschrift“ zu einer inneren „Zweckverbindung“, d. h. „Zusammenstimmung“ gefügten Dimensionen des „Unbedingten“ selbst, die somit auch unzureichende (traditionelle) Bestimmungen des „Endzwecks der Schöpfung“ verbieten; es ist deshalb kein Zufall, dass sich in dieser „Preisschrift“ eine Kritik an eben solchen Verkürzungen findet, wie Kant sie bezeichnenderweise auch noch in der „Metaphysik der neueren Zeit“ identifiziert hat. Demgegenüber waren es ganz unterschiedliche Dimensionen der Idee des „Unbedingten“ und ihre unauflöslich gefügte „Zusammenstimmung“, die sich so für einen der Weltstellung des Menschen (als des existierenden „Endzwecks der Schöpfung“) angemessenen Aufweis des „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ sowie des „Endzwecks der Schöpfung“ als dem „Ganzen aller Zwecke“ als maßgebend erwiesen haben.
3. Ein bedeutsames Ergebnis innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“: Die kritische Konzeption des „symbolischen Anthropomorphismus“
3.1. Wie erst aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ ein „für die Religion tauglicher Begriff von Gott“ resultiert Kants Lehrstück vom „symbolischen Anthropomorphismus“ setzt einerseits seine (primär von Hume inspirierte) Kritik an einem „dogmatischen Anthropomorphismus“ voraus und steht andererseits in einem offensichtlich sehr engen systematischen Zusammenhang mit dem gesuchten Aufweis, wie „Gott der Gegenstand der Religion wird“ (IV 263, Anm.)236. Diesbezüglich hielt Kant die Rückbindung an die Idee des „metaphysischen Guts“ (als „theologische Idee“) für erforderlich, zumal deren grenzbegriffliche Funktion einer „negativen Theologie“ als unverzichtbares „Substrat aller Theologie“ auch noch in diesem ethikotheologisch „praktisch-dogmatischen Überschritt“ und dessen „Aufhebung“ in die „Religion“ vorausgesetzt bleibt. Eine unentbehrliche Voraussetzung bleibt dieses „Substrat aller Theologie“ für ihn – „religionskritisch sensibel – auch deshalb, weil andernfalls, eine berühmte Bemerkung aus seiner „ersten Kritik“ variierend, in den konkreten symbolischen Gestalten des religiösen Bewusstseins etwas zur „Erscheinung“ käme ohne etwas, „das da erscheint“, sodass in der Folge der Verdacht eines bloßen „Wahns“ wohl nicht so ohne Weiteres zu entkräften wäre. Seine Bemerkung, dass „Religion ohne Theologie … ein Produkt des Wahns“237 ist, darf auch in diesem Sinne verstanden werden. Dass das Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ das „Übersinnliche der Freiheit“ „kundtut“ und dieses „die zwei übrigen [Ideen] in ihrem Gefolge bei sich“ führt (III 411), erweist sich so auch als Fundament für den „allein zur Religion tauglichen Gottesbegriff“, in dem die Idee des „Übersinnlichen außer uns“ in symbolisierenden Prädikaten „zur Erscheinung“ kommt. Auch Kants – für sich betrachtet freilich missverständliche – Bemerkung, dass „Gott ein aus der Moral hervorgehender Begriff ist“, ist zunächst wohl so zu verstehen, dass dieses als „metaphysisches Gut“ gedachte „Absolute“ (der „metaphysische Gott“) überhaupt erst aus diesem moralischen Verhältnis zu ihm als „höchstes ursprüngliches Gut“ bestimmbar wird, d. h. schon darin seine „symbolische Darstellung“ erhält. Sofern dies dem zwar gedachten (aber „unbestimmt“ gebliebenen) „transzendentalen Ideal“ „Sinn 236 „Der theistische Begriff ist ein bloß relativer oder regulativer, nicht absoluter und konstitutiver Anthropomorphism“ (Refl. 6214, AA XVIII, 503). Demzufolge dürfen wir „nicht über göttliche Eigenschaften grübeln, sondern müssen ihn nur in Relation auf unser moralisch[es] Gesetz bestimmen“ (AA XXIII, 71), was freilich die „theologische Idee“ schon voraussetzt. 237 AA XXVIII, 1323.
578 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ und Bedeutung“ (III 267) verschafft, gewinnt es für „vernünftige, aber endliche Wesen“ ein unabweisliches Interesse in „praktischer Absicht“. Jene „theologische Idee“ – beim späten Kant findet sich die wohl darauf bezogene Kennzeichnung „transzendente Theologie“ (III 640) – erhält so erst über „das Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft“ (IV 276) als „höchstes ursprüngliches Gut“ (als „ratio essendi“ des „höchsten abgeleiteten Guts“) ihre nähere Bestimmung und gewinnt sodann in jener Idee des „Urquells alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (III 636), als „weiser Welturheber“, offensichtlich noch eine nähere symbolische Konkretisierung, von der die im engeren Sinne religiös-„versinnlichende“ Vorstellung eines „allgemeinen Vaters, der aller Glückseligkeit will“ [IV 612 f] noch unterschieden bleibt. Solcherart wäre wohl auch die in diesem „sinn-orientierten“ Deutungsprozess begründete Kennzeichnung des „Ideals des höchsten (ursprünglichen) Gutes“ (II 681) in seiner metaphysischen Verankerung und inhaltlichen Bestimmtheit zu rekonstruieren. Daraus mag verständlich werden, dass Kant diesen über den „praktisch-dogmatischen Vernunftgebrauch“ in Entfaltung des Gedankens des „Endzwecks der Schöpfung“ gewonnenen „bestimmten Begriff Gottes“ (IV 273) als „höchstes ursprüngliches Gut“ ausdrücklich als „symbolische Darstellung“ der Idee des „höchsten metaphysischen Guts“ (des „metaphysischen Gottes“: III 643) charakterisierte, der – zwar als unverzichtbar vorausgesetzt – für sich genommen jedoch ein zwar unentbehrlicher, aber gänzlich „leerer Begriff“ bleiben müsse. In der später also „moraltheologisch“ qualifizierten „Idee des höchsten ursprünglichen Gutes“ sind die Bestimmungen des rational-theologisch gedachten „fehlerfreien Ideals der Vernunft“ (sowie die „deistisch“ bestimmte Idee „einer obersten Intelligenz, als der alleinigen Ursache des Weltganzen“ [II 594]) als „regulatives Prinzip der systematischen Einheit der Welt“, d. i. „Ungrund der Welteinheit“ (II 601), „aufgehoben“ – eben in einem „moralisch-bestimmten Monotheismus“. Es ist die ethikotheologische Bestimmung dieses „Urquells alles Guten …“, die nun auch jene Einheit von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ zum Abschluss bringt und so erst das unstillbare Bedürfnis der Vernunft in der Einheit von „negativer“ und „positiver Theologie“ befriedigen kann. Darin ist der den „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ vereinigende „Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält“ (V 248), als metaphysisches Fundament in „symbolischer Darstellung“ unschwer wiederzuerkennen. Jene Verbindung des „Schul“- und „Weltbegriffs der Philosophie“ eröffnet erst, so hat sich gezeigt, den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“, weil hierfür gleichermaßen die dem „Schulbegriff“ zugehörige Idee der „absoluten Transzendenz“ sowie die systematische Entfaltung der „wesentlichen und höchsten Zwecke“ der praktischen Vernunft vorausgesetzt sind.238 Es ist jene späte Bestimmung der Idee des „Urquells alles 238 Vgl. dazu die späten „Ergänzungen zu den Fortschritten der Metaphysik“ (AA XXIII, 471 f ): „Die Prinzipien der Vollendung unserer Erkenntnis d. h. des absoluten Ganzen derselben (der absoluten Einheit des Vernunftgebrauchs) sind Synthesis der Vernunft. Sie enthalten Bedingungen der Weisheit d. i. der Zusammenstimmung zu der Summe aller unsrer Zwecke“. Jenes von Kant schon früher benannte „zweifache Vernunftbedürfnis“ ist darin unschwer wiederzuerkennen, dem zweierlei „Weltbegriffe“ korrespondieren.
3. Zur kritischen Konzeption des „symbolischen Anthropomorphismus“
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Guten, als sein Endzweck“, die in solcher Vermittlung auch den angemessenen „terminus ad quem“ des hoffnungs-begründenden Glaubens darstellt und jenes unverzichtbare „Substrat aller Theologie“ nun als „heiliger Gesetzgeber, gütiger Regierer und gerechter Richter“ auslegbar („bestimmbar“) macht – ohne freilich auch dabei Kants Mahnung, „Bedürfnis nicht für Einsicht“ zu nehmen, zu vergessen.239 Es erweist sich auch diesbezüglich als bedeutsam: Die Verbindung des „Schul“- und „Weltbegriffs der Philosophie“ liegt ebenso jenem durch kritische Metaphysik eröffneten – und selbst in gestufter Form vollzogenen – „praktisch-dogmatischen Überschritt“ zugrunde, der über das bloß negativ-„kritische Geschäft“ der „Kritik“ noch hinaus führt; erst darin entfaltet sich die differenzierte „Einheit der Vernunftideen“, die sich jener „Verbindung … der reinen spekulativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse“ (IV 251) verdankt.240 Die Idee des den „Schulbegriff der Philosophie“ abschließenden und krönenden „Ideals der Vernunft“ (als „Wesen aller Wesen“) und die den „Weltbegriff der Philosophie“ leitende Idee der „Weisheit“ (als „Idee von der notwendigen Einheit aller möglichen Zwecke“) sind also – „Theologie und Moral“ verknüpfend – in diesem „dritten Stadium der Metaphysik“ vereint und fundieren nun auch die „symbolische Darstellung“ der ethikotheologischen Idee des „Urquells alles Guten, als sein(en) Endzweck“, worin jene zunächst maßgebende Bestimmung des „Ideals des höchsten ursprünglichen Gutes“ noch eine nähere Bestimmung erfährt. Diese Kennzeichnung zielt offenbar auf die Verknüpfung der „physischen Ordnung der Dinge … mit der moralischen“ (VI 118) ab und verweist darüber hinaus auf die Idee „der Einheit in der Zusammenstimmung jener Kunstweisheit mit der moralischen Weisheit“, wovon wir freilich „keinen Begriff“ haben – und „auch zu derselben nie zu gelangen hoffen“ können (VI 115), wie es bezeichnenderweise noch in Kants spätem Theodizee-Aufsatz heißt. Die in diesem „dritten Stadium der Metaphysik“ über die „Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft“ (II 583) hinaus intendierte Vermittlung des „Schul“- und „Weltbegriffs der Philosophie“ hat so auch dies zum Ergebnis, dass jene dem „Schulbe239 Auch hier ist an Kants Reflexion zu erinnern: „Die spekulative Theologie ist nur negativ, um die Irrtümer abzuhalten. Die praktische Theologie ist positiv“ (Refl. 5515, AA XVIII, 205; vgl. Refl. 6227, ebd. 516). Vgl. Refl. 6219 (AA XVIII, 507 f ). „Den spekulativen Begriff von Gott ist es zuvor höchstnötig zu berichtigen; aber sein Wert kann nicht so hoch angeschlagen werden, daß nicht der moralische ihm die vornehmste Bestimmung geben müßte.“ Im Sinne einer solchen „negativen Theologie“ sprach Kant auch von einer „logischen Theologie“ (AA XXVIII, 321). – Jene „praktische Theologie“ ist es, die als solche jenen „metaphysischen Gottesbegriff“ (als „leeren Begriff“: III 641) erst bestimmbar macht; diese aus praktischen Vernunftansprüchen gespeiste „Bestimmung“ der „praktischen Theologie“ ist mit einer „Temporalisierung“ der „logischen Bestimmungen“ jener „logischen Theologie“ verknüpft, die darin auch das erwähnte Anliegen, die „negativen Größen in die praktische Weltweisheit“ aufzunehmen, zu integrieren hätte; die detaillierte Entfaltung und Verknüpfung dieser Bestimmungen in dem von Kant sogenannten kritischen „symbolischen Anthropomoprphismus“ muss damit sichtbar machen, dass und wie darin nur das Verhältnis der menschlichen Vernunft „zur Idee von Gott“ zum Ausdruck bzw. zur Darstellung gelangt. 240 Noch im „opus postumum“ bleibt diese Begründung in vielen Variationen erhalten: „Der überschwängliche Begriff von ihm ist immer nur negativ und so können ihn umgekehrt dadurch dass sein Erkenntnis nicht das der Welt, sondern das von allen Menschenpflichten als göttlichen Geboten mithin nicht als ob man ein solches Gebot oder Verbot wirklich erhalten hätte“ (AA XXII, 58). „Der Begriff oder vielmehr die Idee von Gott ist der Gedanke von einem Wesen, vor dem alle Menschenpflichten zugleich als seine Gebote geltend sind“ (ebd.).
580 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ griff der Philosophie“ zugehörige, d. h. für den „spekulativen Vernunftgebrauch“ „grenzbegrifflich“ zwar unentbehrliche, in Bestimmtheit allerdings nicht einmal denkbare Idee des „absolut notwendigen Wesens“ über die (im „Weltbegriff der Philosophie“ explizierte) „Rangordnung der Zwecke“ (und somit des „höchsten Guts“) als Idee des „höchsten ursprünglichen Guts“ und erst als solche auch als „terminus ad quem“ menschlicher Hoffnung bestimmbar wird – als das nunmehr als Symbolisierung des „Gegenstandes in der Idee“ vorgestellte („praktisch immanent gewordene“) absolut not-wendende Wesen241. Dass jene „theologische Idee“ in „symbolischer Darstellung“ gewissermaßen für uns zunächst ein „Antlitz“ als „weiser Welturheber“ erhält und näherhin in den moralischen „Eigenschaften“ des „heiligen Gesetzgeber(s) (und Schöpfer[s]), des gütige(n) Regierer(s) (und Erhalters) und de(s) gerechte[n] Richter[s]“ (IV 263, Anm.) „Gegenstand der Religion“ wird, ist freilich erst dadurch ermöglicht, dass jenes „höchste Wesen“ – und zwar innerhalb des von uns gedachten „Verhältnisses der Welt zu diesem Urwesen“ – in Bestimmtheit vor-gestellt wird und derart auch, im Gang der allmählichen „moralischen Bildung der Menschen“ (vgl. IV 847 ff ), unterschiedliche Akzentuierungen in geschichtlich konkreten Gestalten erfährt.242 Hierfür ist die Weltstellung des Menschen als „copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ und dessen „Hin-Sicht“ als konstitutiv vorausgesetzt: Jener unscheinbare „Platz … in der äußeren Sinnenwelt“ (IV 300), an dem gleich241 Deshalb betonte Kant die Unmöglichkeit, sich mit dem durch „ontologische Prädikate“ gedachten „deistischen Gott“ zu begnügen: „es sind nur Prädikate in abstracto, welche der Deist Gott beileget. Davon können wir uns aber unmöglich schon begnügen lassen; denn so würde uns ein solcher Gott nichts helfen; er wäre … aber ganz isoliert für sich …, und in keinem Verhältnisse mit uns“ stehend; „… zwar muss dieser Begriff von Gott den Anfang aller unserer Erkenntnis von Gott ausmachen, aber allein für sich genommen ist er unbrauchbar, und, ohne dass wir mehr von Gott erkennen könnten, ganz für uns entbehrlich. Soll uns dieser Begriff Nutzen schaffen; so müssen wir sehen, ob nicht jene ontologischen Prädikate auf Beispiele in concreto angewandt werden können. Und das tut der Theist, indem er sich Gott als die oberste Intelligenz denkt“ (AA XXVIII, 1020) – denn, wie gesagt, auch der „unbestimmte“ physikotheologische Gottesbegriff „hilft mir […] zu gar nichts“ (AA XXVIII, 1071 f ). 242 Schon hier liegt eine Anknüpfung an Kants Bezüge auf die Religionsgeschichte ebenso nahe wie ein Blick auf seinen berühmten Satz: „Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben“ (IV 768). Eingebunden in eine religionsgeschichtliche Perspektive ist Kants Hinweis auf eine „physische Theologie“ (im Rahmen seiner „Physischen Geographie“) von besonderem Interesse: „Da die theologischen Principien nach der Verschiedenheit des Bodens mehrenteils sehr wesentliche Veränderungen erleiden [!]: so wird auch hierüber die notwendigste Auskunft müssen gegeben werden. Man vergleiche z. B. nur die christliche Religion im Oriente mit der im Occidente und hier wie dort die noch feinern Nuancen derselben. Noch stärker fällt dies bei wesentlich in ihren Grundsätzen verschiedenen Religionen auf“ (AA IX, 165). – Kants bemerkenswerter (wohl von Herder inspirierter) Bezug auf diese „theologische Geographie“ weckt Assoziationen zu seiner in naturphilosophischem Kontext erwähnten „Anartung“ (s. dazu bes. Kants Abhandlung „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“: V 139–170), wonach „die Entwicklung der Anlagen … sich nach den Örtern“ richtet (ebd. 156); die leitenden Motive dieser Abhandlung wären durchaus in entsprechender Weise für die hier im Vordergrund stehenden Themen zu rezipieren. Gleichwohl bleiben von diesen äußeren (auch sozial- und kulturgeschichtlichen) „Anpassungs“-Aspekten einer „physischen Theologie“ eine religionsgeschichtliche Perspektive im strengen Sinne und die darin rekonstruierbaren Fortschritte bzw. Lernprozesse genau zu unterscheiden (s. dazu u. V., 1; 2.). Diese „Anpassung“ („Akkommodation“) bleibt somit von dem prinzipien-bezogenen religionsgeschichtlichen Lernprozess und der diesbezüglichen „ursprünglichen Erwerbung“ genau abzugrenzen, die von Kant in jener „größeren Bearbeitung sittlicher Ideen“ angesprochen ist und nicht auf eine bloße Frage der „religiösen Geographie“ reduziert werden darf.
3. Zur kritischen Konzeption des „symbolischen Anthropomorphismus“
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wohl „das Absolute“ allein im „bedingten Unbedingten“ (d. i. endlicher Vernunft und ihrer „praktischen Vernunftansprüche“) vernehmbar wird, d. h. aus solchen Hin-Sichten auch erst seine Konturen in geschichtlicher Entfaltung bzw. „Erscheinung“ gewinnt.243 Bezüglich des systematischen Stellenwerts dieses „symbolischen Anthropomorphismus“ innerhalb der kantischen Ethikotheologie ist daran zu erinnern: Für den Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ vermag „Gott“ allein in bzw. über dieses Verhältnis zu ihm „Sinn und Bedeutung“ zu gewinnen – und zwar in der bestimmten Hinsicht, dass darin diese Beziehung nicht begründet, sondern vielmehr schon vorausgesetzt ist. Denn in jenem „Gefüge“ der Vernunftideen wird die grenzbegrifflich-negativ gedachte Idee des Absoluten (des „Übersinnlichen außer uns“) in der konkreten Weise offenbar, dass sie auch für „vernünftige Weltwesen“ als Gott erst lebensorientierenden Anspruch und Sinn gewinnt. Nur sofern er – nach Maßgabe jenes „Gefüges“, d. i. als negative „Richtschnur“ – als Ermöglichungsgrund des erhofften „Endzwecks der praktischen Vernunft“ bzw. des „Endzwecks der Schöpfung“ ausgewiesen werden kann, darf der Gottesbegriff auch als „zur Religion tauglich“ gelten. Innerhalb des zu jener „Zweckverbindung“ verfestigten Gefüges der „Vernunftideen verwandelt sich somit auch der Stellenwert jenes „symbolischen Anthropomorphismus“. Dieser, in der Verbindung von „Theologie und Moral“ verankert, bescheidet sich dann eben auch damit, dass die daraus resultierenden Attribute zwar nicht „Einsichten“ der spekulativen Vernunft, „aber doch Erweiterungen ihres Gebrauchs in irgend einer anderen, nämlich praktischen, Absicht sind, welches ihrem [der theoretisch-spekulativen Vernunft] Interesse, das in der Einschränkung des spekulativen Frevels besteht, ganz und gar nicht zuwider ist“ (IV 251).244 In solchem „Bescheidwissen“ ist erneut angezeigt: Weder „Theologie“ noch „Moral“, sondern allein die aus der Verbindung beider hervorgehende „Religion“ (und der hierfür „taugliche Gottesbegriff“) vermag für „vernünftige Weltwesen“ im Blick auf das „Ganze einer moralischen Lebensgeschichte“ eine lebenstragende Orientierung zu bieten, woraus nach Kant die Gott zugeschriebenen Prädikate und deren „analogischer“ Charakter verständlich werden sollen und der kritische Anspruch des „symbolischen Anthropomorphismus“ auch erst seine Rechtfertigung gewinnt. In einer existenzialanthropologischen Transformation („Umwendung“) der Ethiko theologie – auch ihres „Begriff(s) eines einzigen Welturhebers, der zu einer Theolo-
243 Noch Schellings These: „Gott aber kann nur sich offenbar werden in dem, was ihm ähnlich ist, in freien aus sich selbst handelnden Wesen“, darf als eine religionsphilosophische Konkretisierung dieser kantischen Bestimmung des Menschen als „copula von Endlichem und Unendlichem“ bzw. des „Gefüges“ jener „Ideen des Übersinnlichen“ gelesen werden (Schelling VII, 347). Kants Bemerkung aus dem „opus postumum“ (AA XXI, 92), wonach Gott sich „in der moralisch-praktischen Vernunft und dem kategorischen Imperativ offenbart“, lässt sich durchaus im Sinne der angeführten Bemerkung Schellings verstehen. Genau genommen verbietet aber Kants Wendung eine Gleichsetzung Gottes mit dem „kategorischen Imperativ“ und rückt damit auch jene mißverständliche Wendung Kants ins rechte Licht: „Es ist ein Gott, denn es ist ein categ. Imperativ“ (AA XXII, 106). 244 In implizitem Verweis auf den von Kant eingeräumten „subtileren Anthropomorphismus“ (II 603) konnte deshalb G. Martin mit Recht betonen: „Diese Erweiterung bedeutet, dass der Begriff des Noumenon nicht mehr ausschließlich im negativen Verstande gebraucht wird, und sie bedeutet …, dass der Begriff der causa noumenon nicht bloß ein negativer Begriff ist, sondern dass sein Gebrauch erweitert wird, wenn auch vielleicht nur auf dem Wege der Analogie“ (Martin 1960/61, 180).
582 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ gie tauglich ist“ –, die „auch unmittelbar zur Religion“ führt (V 614 f ) und sich darin mit dem Aufweis verbindet, wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“, soll sich noch näher erweisen (s. u. IV. Teil): Dass „Gott ein Gegenstand der Religion wird“ und erst „dergestalt“ „Eigenschaften“ gewinnt, besagt vornehmlich dies, dass er allein im Existenzvollzug des Menschen in Hin-Sicht auf die Idee des „Übersinnlichen außer uns“ „bedeutend“ wird,245 wofür jene „negative Theologie“ als „Substrat aller Theologie“ indes notwendig vorausgesetzt bleibt. Derart ist zwar jener „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ aufgehoben, woraus jedoch, genauer besehen, allein der (ethiko-theologisch qualifizierte) Begriff des „vollkommensten Wesens“ resultieren kann,246 zumal dafür auch die „via eminentiae“ gedachten „metaphysischen Vollkommenheiten“ bemerkenswerterweise noch nicht zureichend sind (vgl. IV 263, Anm.).247 Über die negativen, d. h. „transzendenz-sichernden“ Prädikate (ohne die Gott nicht Gott wäre)248 hinaus eröffnen erst die unabweislichen praktischen Vernunftansprüche eine „positive“ Bestimmbarkeit, zumal in diesen „Eigenschaften“ die Gottesidee doch immer schon in einem Verhältnis zur Welt, d. h. eben in Beziehung zu etwas anderem, nämlich als die Beziehung des „Realgrundes zur Folge“ (I 818), in Konkretheit gedacht wird.249 245 In diesem Sinne ist Kants aufschlussreiche Bemerkung sehr genau zu nehmen: „Immerhin mag jener Begriff für die spekulative Vernunft überschwenglich sein; auch mögen die Eigenschaften, die wir dem dadurch gedachten Wesen beilegen, objektiv gebraucht, einen Anthropomorphism in sich verbergen: die Absicht ihres Gebrauchs ist auch nicht, seine für uns unerreichbare Natur, sondern uns selbst und unseren Willen, darnach bestimmen zu wollen“ (V 585; Hervorhebung v. Verf.). Dergestalt erhalten diese „Eigenschaften“ – jenseits von schiefen „An-sich“-Bestimmungen und bloßer „Fiktionalität“ – einen eigentümlichen, eben dieses „Verhältnis“ selbst anzeigenden „Schwebe“-Charakter, der ihren „symbolischen“ Gehalt auch erst zu fundieren vermag. Ganz ähnlich noch im opus postumum: XXII, 57 f. 246 Ein durchaus wesentlicher Problemaspekt ist dies, dass dieser als höchstes „metaphysisches Gut“ qualifizierte „Inbegriff aller Realitäten“ dennoch dieses noch nicht als „ens perfectissimum“ ausweist, weil die „perfectio“ sich nicht schon in der Bestimmung der „omnitudo“ (als „aggregatio, complexus“) erschöpft, sondern an den „consensus“ der „realitates“ gebunden ist. Dann scheint die Folge daraus doch zu sein, dass erst jene Bestimmungen, „die alles enthalten, wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird“, diesen auch erst als „vollkommenstes Wesen“ bestimmbar machen. – Für wichtige Hinweise auf die Schwierigkeiten, die mit der Einheit und Differenz von „omnitudo realitatis“ und dem „ens perfectissimum“ gerade mit Blick auf ihre Herkunft aus der Leibniz-Wolff’schen Tradition verbunden sind, danke ich Konrad Cramer. 247 Mit Recht betonte deshalb Wundt: „In der Religion hat so die kritische Philosophie ihr letztes Ziel und ihre höchste Bestimmung. Alle ihre Bemühungen, so vielfältig sie in mannigfaltige Richtungen auseinander zu laufen scheinen, verbinden sich schließlich in dem einen und höchsten Gegenstande, dem Glauben an Gott“ (Wundt 1924, 372). 248 So weist Kant in seiner Kritik am ontologischen Gottesbeweis in der späten „Preisschrift“ darauf hin, dass für die Bestimmung des „schlechterdings notwendig existierenden Wesens“ lediglich die „in dem Begriff der Notwendigkeit“ analytisch enthaltenen Prädikate „Unveränderlichkeit, Ewigkeit, Einfachheit“ u. Ä. (III 643) verfügbar sind, und deshalb „der Begriff von diesem metaphysischen Gott immer ein leerer Begriff“ bleiben muss; vgl. auch die frühe Religionslehre Pölitz: AA XXVIII, 1020. 249 Mit Recht merkt Höffe deshalb in seinem Kommentar zu Kants „erster Kritik“ zu dieser Erweiterung des Gottesbegriffs an: „Während er für die theoretische Vernunft etwa das höchste Wesen, das notwendige Wesen, das Urwesen ist, zeichnet er sich für die praktische Vernunft durch Allmacht, Allwissen, Allgerechtigkeit und Allgüte aus. Nicht der geringste Beitrag Kants zur philosophischen Theologie liegt … in der Einsicht, dass im Gottesbegriff diese zwei grundverschiedenen und zugleich sich ergänzenden Klassen von Eigenschaften zusammenkommen“ (Höffe 2003, 258). Gerade in diesem „Zusammenkommen“ verbirgt sich jedoch ein besonderes (und von Kant letztlich nicht bewältigtes?) Problem, nämlich dasjenige der „Vermittlung“ von rationaltheologischem und ethikotheologischem Gottesbegriff und den je geschichtlichen Religionen.
3. Zur kritischen Konzeption des „symbolischen Anthropomorphismus“
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Ebenso ist darauf zu achten, dass dies, der kritischen Konzeption Kants gemäß, in Wahrheit jedoch stets das Verhältnis der Welt zu ihrem „Realgrund“ bezeichnet, d. h. erst daraus positive Bestimmbarkeit gewinnt. Die jene „theologische Idee“ zunächst auszeichnenden – lediglich negativen250 – Prädikate werden demzufolge erst in der durch den „symbolischen Anthropomorphismus“ gebrochenen Gestalt – d. i. eben in dem in der „Religion“ gedachten menschlichen Gottesbezug – „positiv“, d. h. solche, durch die Gott erst Gott wird251 und somit als „Gott der Religion“ auch „für uns“ not-wendig als „persönlicher Gott“ gedacht werden muss. Über jene „transzendentalen“ bzw. bloß „analytischen“ Prädikate hinaus wird die Gottesidee erst „zur Religion tauglich“, worin die in der „omnitudo realitatis“252 gedachten „realitates“ nicht nur vereint, sondern jetzt auch erst „kompossibel“ sind, d. h. „zusammenstimmen“, mithin das „Ideal des höchsten Guts“ begründen.253 Jene Idee des „Über250 Schon in der „ersten Kritik“ betonte Kant: „Die Notwendigkeit, die Unendlichkeit, die Einheit, das Dasein außer der Welt …, die Ewigkeit, ohne Bedingungen der Zeit, die Allgegenwart, ohne Bedingungen des Raumes, die Allmacht etc. sind lauter transzendentale Prädikate, und daher kann der gereinigte Begriff derselben, den eine jede Theologie so sehr nötig hat, bloß aus der transzendentalen gezogen werden“ (II 563). Diese „negative Theologie“ (bzw. deren „Prädikate“, „ohne die Gott nicht Gott ist“), werden erst über den „symbolischen Anthropomorphismus“ weiter bestimmbar durch Prädikate, durch die Gott Gott, d. h. ein „für die Religion tauglicher Begriff wird“. 251 Zu Kants Bemühen, einerseits eine „Anthropomorphisierung“ des „göttlichen Wesens“ zu vermeiden und zugleich eine bloße Bestimmung „durch reine ontologische Begriffe“ zu überwinden, „wo mir alsdenn gar kein Erkenntnis übrig geblieben wäre“, vgl. auch die insgesamt interessante Reflexion 6317: AA XVIII, 623 ff. 252 Treffend stellt U. Barth fest: „Die Idee der omnitudo realitatis als transzendentale Bedingung der teleologischen Einheit des Wissens ist ein bloßer Grenzbegriff. Aus ihm allein lässt sich keine Theologie entfalten. Sowohl der Begriff Gottes, als auch seine objektive Realität und Existenz lassen sich allein aus einer Interpretation der religiösen Implikationen des praktischen Selbstbewusstseins bzw. aus einem moralischen Begriff der Religion entwickeln. […] Der Sinn des Ausdrucks ‚Gott‘ erschließt sich allein in Form der Reflexion über das menschliche Gottesverhältnis, der Gottesgedanke ist nicht ablösbar von derjenigen epistemischen Instanz, die ihn erzeugt. Für Kant liegt diese Beziehung vor im Sachverhalt der moralischen Religion. Dieser Religionsbegriff ist darum das begriffliche Deduktionsprinzip einer sachhaltigen Gotteslehre“ (Barth 2005a, 259). Dieser Sinn von „objektive Realität“ ist auch in der Refl. 6173 (AA XVIII, 478) maßgebend: „Also ist das Dasein Gottes Glaubenssache der Vernunft, und durch diesen Beweis wird allein ein bestimmter Begriff vom Urwesen gegeben“. 253 Im Grunde besagt freilich dieser über den „symbolischen Anthropomorphismus“ vermittelte „genau bestimmte Begriff dieses Urwesens“ lediglich eine solche „partielle Definition“ desselben – in dem zweifachen Sinne: Allein durch das moralisch begründete „Verhältnis“ zu ihm und der daraus gewonnenen „Bestimmung“ „vermittelt“ und eben im Sinne jenes in dem „Nicht-Unterschreitungsprinzip“ enthaltenen „nicht weniger“. Dahin weist auch, wenngleich (hinsichtlich des „Nutzens“) ein wenig missverständlich, Refl. 6228 (AA XVIII, 517): „Nicht zu forschen, was Gott sei, sondern: was wir im Verhältnisse auf ihn sein sollen, d. h. was die Idee von ihm uns nutzen könne.“ Anders gewendet bedeutet diese „partielle Definition“ eben, dass „das System der Erkenntnis von Gott … nicht den Inbegriff aller möglichen Erkenntnisse von Gott, sondern dessen, was bei Gott von der menschlichen Vernunft angetroffen wird“, betrifft (AA XXVIII, 995). Darauf zielt auch die von Kant gerühmte – grenzbewusste – Zufriedenheit, „nur so viel von ihm, der ein Gegenstand eines ewigen Nachforschens auch für die scharfsinnigste Vernunft bleibet, zu erkennen, als wir in Hinsicht auf uns nötig haben. Dieses Interesse der Menschheit werde am besten per viam analogiae … befördert und erreichet“ (AA XXVIII, 1046). – Anknüpfungspunkte zur klassischen Analogie-Konzeption des Thomas v. Aquin (auch hinsichtlich jener „partiellen Definition“) sind hier nicht zu übersehen, ebenso wenig jedoch auch die Differenzen. – In diesem Sinne heißt es auch in Hegels frühen Entwürfen über „Religion und Liebe“: „Bei dem moralischen Zweck, den wir der Vor-
584 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ sinnlichen außer uns“ ist durch das in diesem Gefüge der Vernunftideen maßgebende „kompossible“ „Zueinander“ derselben vermittelt und wird auch nur in solchem „Durch“ in seinem konkreten Gehalt offenbar. Solche „Kompossibilität“, die in dem „allervollkommensten Wesen“ als dem „für die Religion tauglichen Gottesbegriff“ gedacht wird (und in diesem Sinne seine „objektive Realität“ ausmacht), besagt jedenfalls mehr als die bloß mögliche (widerspruchslose) Denkbarkeit desselben als „fehlerfreies Ideal“254 und die daran orientierten „metaphysischen Vollkommenheiten“ (IV 263). Genauer noch wäre zu sagen: Jene „realitates“ sind in der von Kant modifizierten Begründungsfigur keineswegs als in Gott – als „Gegenstand schlechthin“ – realiter verschiedene anzusehen, sondern wären, auch als „partielle Definitionen“ verstanden, wohl eher als jene konkreten Formen zu nehmen, in denen, zufolge jenem kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“, in Wahrheit „lediglich“ das Verhältnis des menschlichen Geistes zu diesem voraus-gesetzten „Grund“ angezeigt wird, sofern Letzterer „für uns“ in je geschichtlicher Konkretheit zur Sprache kommt, d. h. in einer religionsgeschichtlichen Entfaltung seine Bestimmtheit gewinnt. Kants Konzeption eines „symbolischen Anthropomorphismus“, der kritischen Ansprüchen genügen will, muss demnach – gewissermaßen mit gegenläufigem Richtungssinn – eine zweifache Aufgabe bewältigen: Vorab ist sie mit der Forderung konfrontiert, diese „für uns“-Bestimmungen als jene „Eigenschaften, die alles enthalten, wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird“ (IV 263, Anm.), als zwar durch die menschliche Vernunft vermittelte – weil aus dem moralischen Verhältnis resultierende – zu begreifen. Denselben kritischen Vernunftansprüchen zufolge nötigt sie jedoch, im Sinne jener angezeigten mehrstufigen Vermittlungsschritte, gleichermaßen dazu, jene „Eigenschaften“ wiederum zu negieren (sie „aufzuheben“), weil sie doch nur in solcher kritischen „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ als Symbolisierungen des „Gegenstandes in der Idee“ als dem „Ideal der Vernunft“ zu begreifen sind und jedenfalls jener Eindruck vermieden wird, dass sie lediglich äußerlich „aufgeklebt“ sind. Vor diesem Hintergrund – und im Bewusstsein jener zu wahrenden Differenz zwischen dem „Gegenstand in der Idee“ und dem „Gegenstand schlechthin“ – mag auch die Bedeutung jener schon angeführten kantischen Bemerkung noch einmal klarer erkennbar werden, dass und wie „dem, was spekulative Vernunft zwar denken, aber als bloßes transzendentales Ideal unbestimmt lassen musste, dem theologischen Begriff des Urwesens, Bedeutung (in praktischer Absicht)“ verschafft wird. Daraus wird deutlich, wie eben erst durch die Verbindung von „Theologie und Moral“ und durch die damit verbundenen „Brechungen“ Religion allererst entsteht (II 338, Anm.)255 und sodann als „reisehung der Gottheit beilegen, reflektieren wir nicht auf ihr übriges uns unbekanntes Wesen, sondern hier urteilen wir, dass ihre Tätigkeit insofern die Tätigkeit eines Ich sei“ (Hegel 1, 241). 254 Zu den in diesem bedeutsamen Lehrstück zutage tretenden notwendigen Differenzierungen sowie den damit verbundenen Schwierigkeiten vgl. die erhellenden Analysen von Theis (1997). 255 Diese nicht selten ignorierte (bzw. einseitig „moralisch verkürzte“) religions-begründende Verbindung „von Theologie und Moral“ ist in einem genauen Sinne zu nehmen; sie liegt der Sache nach nicht nur der Kennzeichnung des „Postulat(s) der reinen praktischen Vernunft“ (IV 252 f ) zugrunde, sondern auch dem bemerkenswerten Hinweis, dass „bloß reine Vernunft (sowohl [!] ihrem theoretischen als praktischen Gebrauche nach) die Quelle ist, daraus er“ – d. i. „Glaube, und zwar reiner Vernunftglaube“ – „entspringt“ (IV 257).
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ne Vernunftsache“ auch Bestand haben kann – indem derart jene Einheit des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ lediglich eine notwendige Konkretisierung erfährt. Demgemäß ist die von Kant (im Zusammenhang der Bestimmung der „Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt“) artikulierte Forderung noch zu präzisieren, dass – eben gleichermaßen für und durch uns – „Gott der Gegenstand der Religion wird“ (IV 263, Anm.) und somit infolge solcher Hin-Sicht das, „was für die spekulative Vernunft transzendent war, in der praktischen immanent“ wird (IV 265). In einem ganz strengen Sinne besagt dies eben lediglich, dass in Kants religionsphilosophischer Konzeption für die Bestimmung der Religion jene vernunfttheoretische Begründung der „theologischen Idee“ selbst schon als „Substrat“ vorausgesetzt ist, deren Status erst über die Moral in einer für die Religion hinreichenden Weise bestimmbar wird. Von der daraus gewonnenen Bestimmung als „Ideal des höchsten Gutes“ bleiben sodann noch die daraus erst abgeleiteten näheren „guten symbolischen Bedeutungen“ (IV 802) und die daran geknüpften „ästhetischen Versinnlichungen“ zu unterscheiden. Zunächst scheint es doch recht eindeutig zu sein: Die inhaltliche Bestimmung dieses Verhältnisses (und nicht zuletzt, wie Kant ausdrücklich betont, die „Eigenschaft der Vernunft“ selbst: III 235) erfolgt aus den vorgängig in praktischen Vernunftverhältnissen fundierten – „hin-sichtlichen“ – Bezügen des Menschen zu diesem voraus-gesetzen „Vernunftideal“ und wird so gewissermaßen erst innerhalb derselben „Vernunft … auf das Verhältnis desselben zur Sinnenwelt“ „übertragen“. Allein dieser in praktischen Vernunftansprüchen fundierten (buchstäblichen) Hin-Sicht verdankt sich also dessen „Ansichtig-Werden“ für uns, wodurch jenes grenzbegrifflich gedachte „Vernunftideal“ jedoch auch erst „bedeutend“ wird; indes, als der als unverzichtbarer „terminus ad quem“ fungierende „Beziehungspunkt“ bleibt er darin „vernunft-immanent“ vorausgesetzt und vermag auch nur so vor unkritischer „Idolisierung“ zu bewahren. Das kritische Ergebnis scheint klar zu sein: Dergestalt, d. i. in solcher unauflöslichen „Gegenwendigkeit“ (und dem darin begründeten „Schwebe“-Charakter der „Eigenschaften“, s. o. III., Anm. 245), gewinnt es seine konkreten – erst zur „Religion tauglichen“ – positiven „Eigenschaften“, d. h. zeigt allein aus solcher gegenwendigen „Vermittlung“ in konkreter Weise „das Verhältnis“ an, „was die uns unbekannte oberste Ursache zur Welt hat, um darin alles im höchsten Grade vernunftmäßig zu bestimmen“ (III 235). Jener als grenzbegriffliche Voraussetzung vermittelte „terminus ad quem“ fundiert so jenen Glauben als „credere in deum“ und sichert mit der Unterscheidung von „suppositio absoluta“ und „suppositio relativa“ gleichwohl die „absolute Differenz“.256 Die dargelegte Unverzichtbarkeit dieser „symbolisch-indirekten Darstellung“ des „metaphysischen Guts“ (des „transzendentalen Ideals“) lässt es infolgedessen auch vermeiden, dies als bloße „Nothülfe für Begriffe des Übersinnlichen“ abzuwerten, „die also eigentlich nicht dargestellt, und in keiner möglichen Erfahrung gegeben werden können, aber doch notwendig zu einem Erkenntnisse gehören, wenn es auch bloß [!] als ein praktisches mög256 Es war schon davon die Rede: Genauer besehen sind diese „Prädikate“, in denen das gedachte „Verhältnis des Menschen zu Gott“ sich artikuliert, doch so bestimmt, dass dieses „Verhältnis“ selbst als begründet gedacht ist durch dasjenige Gottes zur Welt, „von der wir selbst ein Teil sind“.
586 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ lich wäre“ (III 613). Gemäß der Forderung des „Weltbegriffs der Philosophie“, nämlich „der Beziehung aller Erkenntnis [!] auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“, ist jene Kennzeichnung des „an sich bestimmungslosen“ Absoluten als „AbschlußGedanke“ auf die ganze „praktische Bestimmung“ des Menschen zu beziehen. Letztere wäre erst über solchen Umweg auf eine Weise eingeholt, die auch seiner Weltstellung als „Copula von Endlichem und Unendlichem“ genügt. Während die Gottesthematik, so Kants bemerkenswerte (schon im Blick auf die „metaphysische Naturanlage“ des Menschen wohl nicht konsistente) Auskunft, im Horizont theoretischer Vernunftansprüche lediglich geringes Interesse findet, „weil man von allen Entdeckungen, die hierüber zu machen sein möchten, doch keinen Gebrauch machen kann, der in concreto, d. i. in der Naturforschung, seinen Nutzen bewiese“ (II 672), nimmt das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ an diesen Fragen hingegen ein ganz besonderes Interesse.257 Ist, mit Hölderlin gesprochen,258 „mit der Vernunft, der kalten vom Herzen verlassenen Vernunft“, lediglich der „metaphysische Gottesbegriff“ als der „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ thematisierbar, der zwar „in der Philosophie nicht umgangen werden“ kann (III 389), so sind es Kant zufolge „Vernunft, Herz und Gewissen“, die erst auf einen zur „Religion tauglichen Gottesbegriff“ führen und dabei dennoch einen blindlings unternommenen Rückzug unter die „Fahne des Glaubens“259 und damit verbundene „Sprünge“ vermeiden lassen. Auch in solcher Hinsicht ist jene frühe kantische These von der aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ resultierenden Religion und dem ihr gemäßen Gottesbegriff
257 Kants Auskunft, wonach bezüglich der „drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes … das bloß spekulative Interesse der Vernunft nur sehr gering“ ist (II 672), ist nicht nur erstaunlich, sondern steht wohl auch in einer unübersehbaren Spannung zu anders lautenden Äußerungen Kants – nicht zuletzt zu der kurz davor angesprochenen „nicht zu dämpfenden Begierde, durchaus über die Grenze hinaus irgendwo festen Fuß zu fassen“, wenn doch die „reine Vernunft“ „Gegenstände ahndet“, „die ein großes Interesse für sie bei sich führen“, und sie doch deshalb „den Weg der bloßen Spekulation“ antritt, „um sich ihnen zu nähern“ (II 670); dass sie für die „Naturforschung“ ohne Nutzen sind (II 672), ändert nichts daran, dass spekulative Vernunft daran Interesse nimmt, zumal doch die „metaphysische Naturanlage“ ohne das nicht zu begreifen wäre, wie schon Kants Hinweis auf die durch unabweisliche Fragen „belästigte“ menschliche Vernunft verdeutlicht – Fragen, in denen menschliche Vernunft sich doch zugleich selbst erhält. 258 Der junge Hölderlin erwähnte in einem Brief an seine „liebste Mamma“ freilich, in Bezug auf eine von ihm gehaltene Predigt, dass er nach dem Studium desjenigen „Teils der Weltweisheit der von den Beweisen der Vernunft für das Dasein Gottes und von seinen Eigenschaften, die wir aus der Natur erkennen sollen“, insbesondere durch „Spinoza, eine(n) großen und edlen Manne … und doch Gottesleugner nach strengen Begriffen“ zu der Ansicht geführt wurde: „… dass man, wenn man genau prüft, mit der Vernunft auf seine Ideen kommen muss, wenn man nämlich alles erklären will“ (Brief Hölderlins an seine Mutter v. 14. Februar 1791, in: Hölderlin 1992, II 467 f ). Kant stimmt mit Hölderlin überein, wenn man berücksichtigt, was ihn zu seiner Kritik am spinozistischen „Absoluten“ inspiriert und ihn auch zur Unterscheidung zwischen dem „ens realissimum“ als „Inbegriff“ oder als „Grund aller Realitäten“ veranlasst hat. 259 Bekanntlich sah Kant die Angehörigen des „ethischen Gemeinwesens“ unter einem besonderen Anspruch versammelt, den er gelegentlich (wie schon erwähnt) als „Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt“ bezeichnete (IV 752); möglicherweise ist dies eine indirekte späte Anspielung auf Mendelssohns polemische Bemerkung über Jacobis „Rückzug unter die Fahne des Glaubens“, die, so Mendelssohn, „völlig in dem Geiste“ der (christlichen) Religion Jacobis sei, „die Ihnen die Pflicht auferlegt, die Zweifel durch den Glauben niederzuschlagen“ (vgl. Jacobi 2000, 112 f ). Ob freilich Mendelssohns Vorwurf gegen Jacobi zu Recht erfolgte, steht auf einem anderen Blatt.
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aufzunehmen. Denn jene – in ihrer Absolutheit grenzbegrifflich voraus-gesetzte – „theologische Idee“ als bleibendes „Substrat aller Theologie“ gewinnt allein aus der Verbindung von „Vernunft, Herz und Gewissen“ eine Bestimmtheit „für uns“ (als „Gegenstand in der Idee“), die sie eben nicht schon von bzw. aus sich selbst hat, sondern sich allererst aus den an praktische Vernunftansprüche geknüpften „Hin-Sichten“ (im Sinne jenes „Durch-Einander“) ergibt. Demnach wäre nicht nur im Blick auf die deistische Gottesvorstellung einer „obersten Intelligenz“, sondern auch bezüglich des „lebendigen [theistischen] Gottes“ zu sagen, dass die ihm beigelegte „Eigenschaft der Vernunft“ bzw. „Persönlichkeit“ – somit aber auch „Wille, Selbstbewusstsein“ – lediglich darauf abzielte, „um die Welt vermittelst desselben“, d. h. das moralisch begründete religiöse „Verhältnis“ des Menschen und die darin begründete „Hin-Sicht“, zu denken und wir es gleichwohl vermeiden, „uns in grobe oder schwärmerische Begriffe zu verlieren“ (III 235). Deshalb bleibt darauf zu achten, dass auch in Kants Bezugnahme auf das „Verhältnis dieses aller unsere Erkenntnisvermögen übersteigenden Wesens zum Objekt unserer praktischen Vernunft“ (V 585 f ) genauer besehen das über die Bestimmung des „höchsten Gutes“ vermittelte besondere Verhältnis zu dieser vorausgesetzten „Idee“ maßgebend bleibt. Der solcherart nicht allein legitimierte, sondern auch als unverzichtbar ausgewiesene „symbolische Anthropomorphismus“ legt es somit nahe, die für jenes gedachte „Verhältnis der Welt zu Gott“ als maßgeblich gedachten „Symbole“ (bzw. symbolischen Darstellungen) nunmehr als solche zu begreifen, die dem Menschen als „vernünftigem, aber endlichen Wesen“ „verweisend“ „viel zu denken veranlassen“ – und eben dies wird nur durch die „negative“ Erfahrung möglich, dass sie eben gerade nichts (im buchstäblichen Sinne) zu „erkennen geben“. Demnach ist es diese differenzierte Begründungsfigur, die selbst erst auf diese Symbole führt; gegenüber einer verkürzenden Berufung auf die „symbolische“ Gotteserkenntnis setzt diese Begründung doch voraus, dass die Gotteserkenntnis durch den (von Kant so bezeichneten) „herrlichen Weg der Analogie“260 ermöglicht wird, darauf jedoch auch beschränkt bleibt. Letztere ist demnach Grundlage für die daraus resultierende Bestimmung bzw. Bezeichnung des Symbols als eines „anschaulich Gegebenen“, sodass genauer besehen schon die Symbolisierung selbst eine solche „vermittelst einer Analogie“,261 d. h. die „Vorstellung des Gegenstandes nach der Analogie“, ist (III 613). Mithin resultiert sie selbst aus dieser analogen Erkenntnis und erlaubt auch nur in der daraus gewonnenen Bestimmtheit eine „indirekte Darstellung“. So gewinnt auch die an jene Unterscheidung von „Inbegriff“ und „Grund“ anknüpfende kantische These, dass aus „dem moralischen Gesetz, welches uns unsere eigene Vernunft mit Autorität vorschreibt, … nun der Begriff von Gott hervor“ geht, „welchen uns selbst zu machen die praktische reine Vernunft nötigt“ (III 391, Anm.), noch eine zusätzliche kritische Nuance. Dies rückt auch jene These über den aus „dem moralischen Gesetz“ 260 AA XXVIII, 1023; 1170. – Zur Problematik der anthropomorphen Prädikationen im Einzelnen vgl. auch Refl. 6317a (AA XVIII, 629 ff ). – In diesem Sinne ist auch Kants Begründung der Ausbildung der negativen ontologischen bzw. der auf dem „herrlichen Weg der Analogie“ legitimierten positiv-moralischen Gottesprädikate sehr beachtenswert (vgl. dazu auch AA XXVIII, 1019 ff ). 261 AA XXVIII, 329 f; wohl ähnlich ist bei Kant von einem „regulativ gebraucht(en)“ „Anthropomorphismus“ die Rede (Refl. 6056: AA XVIII, 439).
588 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ erst hervorgehenden „Begriff von Gott“ sowie Kants Bestimmung des „symbolischen Anthropomorphismus“ und den von ihm so bezeichneten „herrlichen Weg der Analogie“ noch einmal in ein besonderes Licht.262 3.1.1. Kants „symbolischer Anthropomorphismus“ im Blick auf sein spätes „Sonnengleichnis“ Erneut legt sich eine Anknüpfung an Kants „Sonnengleichnis“ nahe: Es ist das „Übersinnliche in uns“, das einerseits zwar selbst „Reflex“ des „Übersinnlichen außer uns“ ist; andererseits ist es die in diesem „Reflex“ verankerte moralische „Hin-Sicht“, die sich geradezu als sinn-konstitutiv erweist und so gemäß jenem „Gefüge“ der Ideen des „Übersinnlichen“ erst eine Bestimmbarkeit des „Übersinnlichen außer uns“ eröffnet – eine kantische Version des berühmten traditionellen Motivs, dass Gott auch nur „in bzw. durch Göttliches erkannt werden kann“ 263, d. h. das „Divinatorische“ im Menschen Bedingung der Möglichkeit des 262 Auch in seinen Vorlesungen zur Rationaltheologie hat Kant wiederholt (wohl auch mit Blick auf Leibniz) auf die klassische Analogie-Lehre Bezug genommen: „Denn im Grunde können wir uns Gott nicht anders denken, als wenn wir alles Reale, was wir bei uns selbst antreffen, ohne alle Schranken ihm beilegen“ (AA XXVIII, 1016). Wie dann diese „Realitäten“ noch voneinander unterscheidbar sind, berührt freilich auch die Bestimmung des „Alls der Realitäten“; dies ist dann eben auch hinsichtlich jener Gedankenfigur Leibnizens beachtenswert, der Kant hier offensichtlich folgt: „Indem wir uns vorstellen, dass dasjenige, das in uns beschränkt ist, in ihm ohne Schranken ist“ (Leibniz, Monadologie § 30). Demgemäß wäre Kants Hinweis auf das Vernunftbedürfnis, „den Begriff des Uneingeschränkten dem Begriffe alles Eingeschränkten … zu Grunde zu legen“ (III 272), ebenso auf dieses Fundierungsverhältnis von „endlichem“ und „unendlichem Ich“ „via eminentiae“ zu beziehen – ein Thema, das ja auch in Kants Hinweis bestimmend ist, dass wir „in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (des intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden“ (V 527), obgleich damit über dessen Realität noch nichts entschieden ist. 263 Hier ist, an Kants Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“ anschließend, auch die kritische Einsicht des Thomas v. Aquin in einer religionsphilosophischen Akzentuierung zu vergegenwärtigen: „Nun ist das Erkannte im Erkennenden immer nach der Seinsweise des Erkennenden. Bei jedem Erkennenden also entspricht die Erkenntnis der Seinsweise seiner Natur“ (Thomas v. Aquin, Summa theologica qu. 12, 4, resp.). Das bedeutet freilich auch: „Darum wird ein Verstand, der am Licht der Glorie [das ihn in gewissem Sinne gottförmig macht] in höherem Maße teil hat, Gott auch vollkommener schauen. Größeren Anteil am Glorienlicht aber wird der haben, der eine größere Liebe hat; denn wo größere Liebe ist, da ist auch ein stärkeres Verlangen. Und das Verlangen [desiderium] ist es, das den Verlangenden bereit und fähig macht, den Gegenstand des Verlangens zu empfangen“ (STh I, qu. 12, 6, resp.). Es spricht vieles dafür, auch im Lichte dieser (wohl auf augustinische Motive zurückgehenden [z. B. Confessiones 7,10]) Überlegungen des Thomas v. Aquin sodann Kants Bezug auf den „sich nach einer Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen zu buchstabieren. Eine bemerkenswerte Nähe zu diesen Motiven zeigt sich in Kants Vorlesung zur Religionslehre (AA XXVIII, 1039), wo er bezüglich der Unveränderlichkeit Gottes anmerkt: „Gott ist und bleibet aber immer derselbe, gleich gnädig und gleich gerecht. Es kommt nur auf uns an, ob wir Gegenstände seiner Gnade, oder seiner Gerechtigkeit werden wollen. In uns gehet also eine Veränderung vor; unsere Relation, in der wir zu Gott stehen, wird geändert, wenn wir uns bessern, dergestalt, dass, wenn vorher unser Verhältnis zu Gott die Relation strafwürdiger Sünder zu einem gerechten Gott war, nunmehr, nach unserer Besserung, dies Verhältnis aufgehoben, und dagegen, die Relation rechtschaffener Tugendfreunde an jene Stelle tritt. So können wir es auch nicht mit dem Begriffe von einem unveränderlichen Gott zusammen reimen, dass er in uns, wenn Besserung unser Zweck ist, wirksamer sein soll, als ehedem, sondern wir selbst werden dadurch, dass wir an unserer Besserung arbeiten, des Einflusses seiner Kraft fähiger und in
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Verstehens des Anspruchs des „Göttlichen“ ist264 – dies besagt auch Kants (wohl missverständliche) Notiz, dass „Gott ein aus der Moral hervorgehender Begriff“ sei. Derart sind in dem erhellenden späten Rekurs auf das „in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuch tenden Vernunft)“265 vernehmbare „Übersinnliche außer uns“ zwei Momente zwar zu unterscheiden, jedoch keinesfalls zu trennen: Zunächst verweist dies auf das im „moralischen Gesetz“ offenbar gewordene „Übersinnliche in uns“, das von Kant einerseits gewissermaßen als „Spur“ jenes „Übersinnlichen außer uns“ beansprucht wird und andererseits – eben als solches! – dieses „Übersinnliche außer uns“ doch erst „sichtbar“ macht. Allein die solche Brechung erzeugenden „Reflexe“ ermöglichen also jene Bestimmtheit, in denen bzw. durch die dieses „Übersinnliche außer uns“ in solcher Hin-Sicht „für uns“ „Sinn und Bedeutung“ gewinnt. Gleichwohl erschöpft es sich nicht in der durch den kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ zwar legitimierten „partiellen Definition“; ihr gemäß wäre auch (im Kontext der von ihm als unverzichtbar angesehenen Unterscheidung zwischen „Grund und Inbegriff“) jene so behutsame Lehre Kants zu verstehen, dass die Kennzeichnung Gottes als „Grund aller Realität“ doch lediglich dies bedeute: Er sei zu denken als „das Wesen, welches den Grund alles dessen enthält“, wozu wir diese „Realitäten“ (z. B. Vernunft, Wille, Sinn, Zweckmäßigkeit) „annehmen“ müssen. Entsprechend diesen „analogen Bestimmungen“266 wäre nun auch in analoger Weise zu sagen, dass doch nur der Behöherm Grade teilhaftig.“ – Es spricht einiges dafür, jenen oben zitierten Passus, wonach „jedem Erkennenden also … die Erkenntnis der Seinsweise seiner Natur“ entspricht, nicht nur im Sinne der Restriktion des menschlichen Erkenntnisvermögens zu verstehen, sondern auch im Lichte der schon wiederholt erwähnten grundsätzlichen kantischen Kritik an den unzulänglichen, weil „endzweck-vergessenen“ Gottesbeweisen und ihrer „Verschwendung“ des Gottesbegriffs. 264 Insofern ist es durchaus ein kantisches Motiv, das Jacobi in seiner Rezension zu Matthias Claudius benannte: „Und so muß … Gott im Menschen selbst geboren werden, wenn der Mensch einen lebendigen Gott – nicht bloß einen Götzen – haben soll; […] Er muß menschlich in ihm geboren werden, weil der Mensch sonst keinen Sinn [!] für ihn hätte. Der Vorwurf: Es würde auf diese Weise ein Gott nur erdichtet, wäre mehr als ungerecht. Und wie sollte denn der Nicht Erdichtete beschaffen, woran erkennbar sein als der allein Wahre?“ (zit. n. Jaeschke 1994, 180). Damit wird nicht das „Absolute“ vom Endlichen abhängig bzw. durch dieses „bedingt“, vielmehr ist lediglich der Ort benannt, an dem ein „Unbedingtes“ und sein Anspruch an den Menschen auch vernehmbar wird. Kants Insistieren auf dem „moralischen Ausleger“ hat hier sein sachliches Fundament, dem zufolge der Anspruch des „Göttlichen“ doch nur von „Göttlichem“ (dem „Übersinnlichen in uns“) vernommen werden kann. 265 Freilich verbietet es Kants „Reflex“-Motiv, das „Übersinnliche in uns“ als „Erscheinung des Absoluten“ in dem Sinne zu verstehen, dass es dieserart selbst an die Stelle des „Absoluten“ treten wollte; gleichwohl bleibt es nach Kant dabei, dass nur über diesen erfahrenen Unbedingtheits-Anspruch der Vernunft, in dem (als „Faktum der Vernunft“) sich das endliche Vernunftwesen gerade selbst „entzogen“ erfährt, das „Übersinnliche außer uns“ thematisch werden kann. Darin erweist sich ihm zufolge jener „Reflex“ als „sonnenhaft“ und weist so der Antwort auf Goethes Frage die Richtung: „Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?“ 266 Dieser – resultierende – analoge Sinn der Bestimmung des „höchsten ursprünglichen Gutes“ wird besonders auch aus einem Passus aus den Vorarbeiten der „Religionsschrift“ deutlich: „Eine dieser Idee [des „höchsten Gutes“] correspondierende und nach der Analogie mit unserer (menschlichen) Natur als vernünftiger sittlicher Wesen denkbare Substanz außer uns zum Behuf unseres moralische Endzwecks anzunehmen so doch dass diese Begriffe von Substanz, Ursache, Absicht usw. die eigentlich nur in Beziehung auf Weltwesen für uns Bedeutung haben nur die Vehikeln dieser Analogie sein durch deren Vorstellung eine praktische Beziehung unserer Vernunft auf ichren Endzweck (das höchste Gut) bewirkt werden soll, an sich aber keine theoretische Erkenntnis dieses uns unbegreiflichen Etwas enthält“ (AA XXIII, 121); vgl. auch Refl. 6247, AA XVIII, 525 ff
590 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ griff von Gott als dem „Wesen, welches den Grund alles dessen in der Welt enthält, wozu wir Menschen ‚Personalität‘ anzunehmen nötig haben“, jenen „terminus ad quem“ bereitzustellen vermag, der auch als der „zureichende Grund“ menschlicher Hoffnung gedacht werden kann; näherhin wären dies jene notwendig beigelegten „Attribute“, von denen her Gott sodann als „allmächtiger Schöpfer“, „heiliger Gesetzgeber“, „gütiger Regierer und moralischer Vorsorger“ bzw. als „gerechter Richter“ (IV 806 f ) „quoad nos“ bestimmbar werden soll, weil nur in derlei – allesamt durch einen „Zeit-Index“ geprägten – „symbolischen Darstellungen“ dieser Gott für „vernünftige Weltwesen“ auch lebensorientierende Relevanz zu gewinnen vermag. Derart bleibt die kritische Rücksicht darauf gewahrt, dass jener „transzendentale Begriff von Gott“ nicht nur gedacht werden muss, weil doch die Philosophie das „traktiert …, was in allen menschlichen Erkenntnissen das Selbständige [d. i. eben das „Absolute“] ist und allem zum Grunde liegt“.267 Darüber hinaus erweist sich die Weltstellung des Menschen – dessen Existenz-Vollzug durch die Einheit eines sich theoretisch und praktisch differenzierenden Vernunftbedürfnisses und die dadurch verknüpften Dimensionen von „Unbedingtheit“ konstituiert ist – als die „copula“, worin dieses „für uns“ des „Übersinnlichen außer uns“ im konkreten moralisch-religiösen Verhältnis erst bestimmbar wird. Als solche „copula zwischen Welt und Gott“ ist der Mensch – eben als „vernünftiges Weltwesen“ – einerseits schon dadurch ausgezeichnet, dass er den „transzendentalen Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ als von uns aufgestelltes „Ideal der Vernunft“ gleichsam „vermag“, zumal dieser „transzendentale Gottesbegriff“ nach Kant „in der Philosophie“ eben gar „nicht umgangen werden“ könne, „so abstrakt er auch ist“ (III 389, Anm.). Ebenso „unumgänglich“ ist freilich jener „Reflex“ des „Übersinnlichen in uns“, in dem dieses „Übersinnliche“ nicht bloß „erahnt“, sondern „durch die Tat“ wirklich ist und insofern in einer solchen kritischen „Brechung“ eine – jedes „(H)ineinschauen, (H)ineinempfinden“ (IV 95) gleichwohl verbietende – „Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge“ eröffnet, „in der wir jetzt schon sind“ (IV 235). Dergestalt gewinnt also jener als unverzichtbarer „terminus a quo“ theoretisch vorausgesetzte „Gedanke des Abschlusses“, ohne den die Vernunft sich selbst nicht zu begreifen vermag, eine Bestimmtheit in der besonderen Hinsicht, dass allein die „praktische Erweiterung“ der Vernunft „den Begriff von Gott zuerst bestimmt [!] hervorbringen konnte“ (V 615) – d. h. eben mit besonderer Rücksicht auf den „Primat des Praktischen“ und gemäß der gebotenen Unterscheidung zwischen der Charakterisierung des Menschen als „Vernunftwesen“ oder „vernünftiges Wesen“ sowie dem entsprechend differenzierten „Vernunftinteresse“. Erst über diesen kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“, so hat sich gezeigt, resultiert ein „zur Religion tauglicher Begriff“ Gottes, der im „religiösen Bewusstsein“ und gleichermaßen für dieses als „weiser Welturheber“ („heiliger Gesetzgeber und Schöpfer)“, als der „gütige Regierer (und Erhalter)“ und als der „gerechte
(bes. 527), sowie Refl. 7202, AA XIX, 282: „Die Idee des allgemeinen Willens hypostasiert, ist das höchste selbständige Gut, das zugleich der zureichende Quell aller Glückseligkeit ist: das Ideal von Gott.“ 267 Refl. 4970, AA XVIII, 44.
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Richter“ (vgl. IV 263, Anm.) bestimmbar – und auch erhoffbar – wird.268 „Offenbar“ wird jenes „All der Realität“ als das „den ganzen Weltraum durchströmende Sonnenlicht“ (III 641), bzw. der „Grund“ desselben“, erst durch die moralische Bestimmung des Menschen, weil allein durch bzw. in solcher „Brechung“ „Gott der Gegenstand der Religion wird“ (IV 263, Anm.)269 und, wie Kant ausdrücklich betont, die darin „gebrauchten Eigenschaften“ also nicht „auf seine für uns unerreichbare Natur“ abzielen, sondern darauf, „uns selbst und unseren Willen danach bestimmen zu wollen“ (V 585). Hier tritt ein eigentümlich gegenläufiges Begründungsverhältnis wiederum besonders deutlich zutage: Dass diese „gebrauchten Eigenschaften“ in Wahrheit doch das „Verhältnis des Menschen zur Gottesidee“, also „die Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht“ (IV 628), betreffen, umgreift gewissermaßen das darin mitgedachte „Verhältnis dieses „höchsten Wesens“ „respektiv auf die Welt und mithin auf uns“ (III 234); und nur diese Gegenläufigkeit erlaubt sodann die Bestimmung des „Formale(n) aller Religion“ als des „Inbegriffs aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ (IV 628), die als solche den Rekurs auf das „Dasein dieses Wesens, nicht bloß auf die Idee“, freilich verbieten muss. Nur in diesem Sinne lässt sich auch sagen, dass Moral – als jene „Reflexe des Übersinnlichen außer uns“ – zur Religion (auf das „Formale“ derselben) führt. Davon, dass Moral zufolge diesem „moralischen Endzweck“ „sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (IV 652), bleibt das Postulat des Daseins Gottes, der zuvor als „machthabender moralischer Gesetzgeber“ symbolische Bestimmtheit erhalten hat, indes noch unterschieden. Dass allein von der „moralischen Bestimmung des Menschen“ her (also dem „Unbedingten in uns“) die Gottesidee Bestimmtheit (d. h. in diesem Sinne „objektive Realität“) gewinnt, beansprucht eben keineswegs den Beweis seines „Daseins“;270 beide „Realitäts“-Aspekte müssen deshalb unterschieden werden und bleiben gleichwohl in solcher Hinsicht aufeinander bezogen.271 268 Diese drei Bestimmungen würdigte Kant ausdrücklich als „das heilige Symbol der Moraltheologie, das Monogramm seines geheimnisvollen Wesens, aber um Theosophie und Theurgie zu verhüten“ (Refl. 6093, in: AA XVIII, 449). Diese Kennzeichnungen des „für die Religion tauglichen Gottesbegriffs“ sind insofern noch je für sich zu nehmen, als darin der „Gott der Ethik“ und der „Religion“ (als „Oberhaupt in einem moralischen Reich der Zwecke“ und als „Herzenskündiger“) zu unterscheiden sind. Es bestätigt sich Cassirers Sichtweise: „Nicht als Schöpfer, nicht als Erklärung des ‚Anfangs‘ der Welt wird Gott hier gedacht, sondern als Bürgschaft ihres sittlichen Zieles und ‚Endes‘“ (Cassirer 1977, 281). Gleichwohl bleibt hierfür auch jene Kennzeichnung als „Urquell alles Guten“ in der Sache vorausgesetzt. 269 So betonte Kant ja auch, dass wir schon durch die „Idee von Gott … eine innere Offenbarung, welche durch die Vernunft selbst geschieht, haben“. „Offenbarung kann uns keinen neuen Begriff von Gott geben, als den wir schon aus der [praktischen] Vernunft haben“ (AA XXVIII, 1317). Ebendies hatte wohl die Kant-Kritik des späten Schelling vor Augen: „Denn mit einem Gott, der bloß Vernunftidee ist, lässt sich weder wirkliche Religion, noch um viel weniger eine wirkliche Offenbarung denken“ (Schelling XIII, 141). 270 Nochmals sei daran erinnert, dass Kant demgemäß auch lediglich betonte: „… und dass wir also in uns ein Prinzip haben, welches die Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns zu einer, obgleich nur in praktischer Absicht möglichen, Erkenntnis zu bestimmen vermögend ist, woran die bloß spekulative Philosophie (die auch von der Freiheit einen bloß negativen Begriff geben konnte) verzweifeln mußte“ (V 606). 271 Zur Mehrdeutigkeit des Begriffs „objektive Realität“ und ihrer Herkunft aus der cartesianischen Tradition s. H. Wagner 1980, 279–289.
592 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Eine diesbezüglich höchst aufschlussreiche Argumentation der „Religionsschrift“, die allen „schädlichen Anthropomorphismus“ abwehren will, schließt hier unmittelbar an: Ihr zufolge verhält es sich ausdrücklich so, dass erst und allein in dem „moralische(n) Verhältnis der Menschen zum höchsten Wesen“ Gott in den genannten Attributen „offenbar“ wird. Demgemäß will „Gott … in einer dreifachen, spezifisch verschiedenen moralischen Qualität gedient sein, für welche die Benennung der verschiedenen (nicht physischen, sondern moralischen) Persönlichkeit eines und desselben Wesens kein unschicklicher Ausdruck ist, welches Glaubenssymbol zugleich die ganze reine moralische Religion ausdrückt“ (IV 808 f ). Unübersehbar tritt darin jene an einer kritischen Analogie-Konzeption orientierte frühere Auffassung Kants „in concreto“ zutage, worin durch deren Bestimmungen „unseren schwachen Begriffen“ gemäß eben doch „nur das Verhältnis“ angezeigt sein soll, „was die uns unbekannte oberste Ursache zur Welt hat“ (III 235). Deshalb, so freilich auch der spätere Kant, kann diese „Theorie des Übersinnlichen“ eben nicht „nach demjenigen, was wir an den Objekten erkennen, sondern allenfalls nach dem, was wir hineinlegen [!], Statt finden, weil der Gegenstand übersinnlich ist“ (III 632). Im Hintergrund bleibt bei all diesen Bemühungen die Einsicht bestimmend: Kein „vorgeblicher geheimer Wahrheitssinn, keine überschwengliche Anschauung unter dem Namen des Glaubens, worauf Tradition oder Offenbarung, ohne Einstimmung [!] der Vernunft, gepfropft werden“ (III 268), vermag ein tragfähiges Fundament, d. h. dem Vernunftglauben seinen „terminus ad quem“ zu sichern. Dies gewährleistet ausschließlich der selbst in einem „Bedürfnis der Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch“ verankerte – deshalb unentbehrliche – „transzendentale Begriff von Gott“, obgleich diese – nicht mit dem „Gegenstand schlechthin“ zu verwechselnde – für sich genommen noch ganz unbestimmte „spekulative Vernunftidee“ in der angezeigten Weise allein über den Weg der „symbolischen Darstellung“ für ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“ „objektive Realität“ (d. h. „Sachhaltigkeit“) gewinnt.272 Sofern jenes „Übersinnliche“ im theoretischen Vernunftgebrauch zwar als „spekulativer Grenzbegriff“ gedacht werden kann, 272 Es trifft wohl zu, dass Kants „Prototypon“-Kapitel den „transzendentalen Rahmen der Ethikotheologie bereitstellen“ muss, „der um der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft willen erfordert wird. Sofern auch die Postulatenlehre den Gottesgedanken als Totalitätsidee impliziert, setzt sie ein theoretisches Prinzip voraus, das zuvor in der theoretischen Philosophie seine formale Rechtfertigung empfangen haben muss“ (Barth 2005a, 246). Deshalb insistierte Kant darauf als dem in seiner kritischen Funktion unerlässlichen „Substrat aller Theologie“, denn: „Wenn wir … die Moraltheologie bei Seite setzen, und die Theologie aus Prinzipien der Spekulation nehmen; so ist die transzendentale Theologie die vornehmste unter allen; denn die Erkenntnis des Urwesens aus reinen Vernunftbegriffen ist der Grund aller übrigen Theologien. Es ist nötig, dass die reinen Vernunftbegriffe vorausgesetzt werden, aus denen wir das höchste Wesen erkennen können; denn es kann unmöglich anderssein, wenn wir von einem Wesen reden wollen, was ganz von der Welt unterschieden ist. Von einem solchen Wesen aber können wir nicht durch Begriffe reden, die aus der Welt hergenommen sind, sondern es müssen reine Vernunftbegriffe sein“ (AA XXVIII, 306). Freilich zeigt sich auch hier eine in der „Geschichte der reinen Vernunft“ freigelegte Stufung: „Die transzendentale Theologie ist aber der Grund der natürlichen und der Moraltheologie. Der Nutzen [der erstgenannten] ist also negativ; denn sie gibt solche [„transzendenz“sichernden] reine Begriffe der Erkenntnis von Gott, wodurch die falschen und unreinen Begriffe gereiniget, und die falsche Vernünftelei refutieret wird“ (ebd. 307). Zu dieser wichtigen Stufung „transzendentale Theologie“ – „natürliche Theologie“ – „Moraltheologie“ s. auch Refl. 6214 (AA XVIII, 499 f ).
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jedoch ausschließlich in dem „Übersinnlichen in uns“ als jener „Reflex“ im praktischen Vernunftgebrauch auch „positiv“ vernehmbar wird, resultiert daraus – weil es doch „nur eine und dieselbe Vernunft … in theoretischer oder praktischer Absicht“ (IV 251) ist – die Möglichkeit, die Idee jenes „Übersinnlichen außer uns“ gemäß jenem kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ zu bestimmen. Und auch nur in solcher „Brechung“ sah der späte Kant Platons „Anamnesis“ vor dem Vorwurf eines „schwärmerischen Mys tizismus“ bewahrt. Indes, solche „Brechung“ fordere eine „praktische Wendung“, die sich freilich aus dem schon geleisteten – jene „Einheit der Vernunft“ wiederum voraussetzenden – Nachweis legitimiert, dass dieses „Ideal“ doch nur am „weitesten“ von der Realität „entfernt zu sein scheint“, sofern sich seine Wirklichkeit doch im „moralischen Selbstbewusstsein“ offenbart und aus solcher „Vermittlung“ auch jenes „Vernunftideal“ als „Ideal des höchsten Gutes“ erst seine Bestimmtheit gewinnt. In diesem Sinne wäre wohl zu sagen, dass, genauer besehen, diese „Brechung“ der „Anamnesis“ doch selbst der Aufweis des „Primat der praktischen Vernunft“ ist und derart jenes praktisch-unbedingte „Urteilen-Müssen“ begründet, in dem die innere Rationalität des „Vernunftglaubens“ im Sinne einer „moralisch konsequenten Denkungsart“ – gegenüber „ahnungsvollen“ Ansprüchen – gewissermaßen „diskursiv“-ethikotheologisch begründet wird.273 Die Differenzierung der Ideen des „Übersinnlichen“ und ihre innere „zweckmäßige Verbindung“ ist folglich als Fundament für diesen kat’ anthropon ermöglichten „symbolischen Anthropomorphismus“ vorausgesetzt,274 weil doch nur in bzw. aus solcher „Fügung“ die Hin-Sicht darauf gelingen kann, wie solcherart erst all jene – „nur die Sprache und nicht das Objekt“ angehenden (III 233) – „Eigenschaften“ resultieren, „die alles in sich enthalten, wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird“. Erst dies, dass solche Bezugnahme auf die derart erst resultierenden „Eigenschaften“, „wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird“, mit seinem kritischen Hinweis darauf verbunden ist, diese „Eigenschaften“ lediglich als solche aufzunehmen, „um die Welt vermittelst derselben“ zu denken (III 235),275 lässt die über diese angezeigte mehrstufige Vermittlung gewon273 In diese Richtung weist schon die „vorkritische“ Refl. 6894 (AA XIX 197 f ): „Christus sagt auch, daß in der Gemeinschaft mit Gott das höchste Gut bestehe; aber sein Weg ist durch das Wohlverhalten im Glauben, nicht durch Anschauen oder Andächtelei. Er ist hierin von Plato unterschieden.“ 274 Für einen kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ ist freilich die selbstkritische Einsicht vorausgesetzt, dass das „Symbolisierende“ auf ein „Symbolisiertes“ verwiesen bleibt, d. h. der Bezug des „Symbols“ auf das darin intendierte „Nicht-Symbolische“ nicht verloren gehen darf, was auch für eine kritische „negative Theologie“ zu bedenken bleibt. Die Frage, wie diese von Kant her als unabweislich aufgegebenen Probleme aufzulösen sind, hat bekanntlich schon die unmittelbaren Nachfolger Kants beschäftigt; sie hat an Aktualität nach wie vor nichts verloren. Diese Probleme treten auch in den religionsphilosophisch interessantesten Abschnitten von Feuerbachs „Wesen des Christentums“ zutage (vgl. bes. das 2. Kapitel: „Das Wesen der Religion im allgemeinen“). 275 Vor dem Hintergrund dieser in den „Prolegomena“ dargelegten kritischen „Analogie“-Konzeption verdient Kants spätere behutsame Bemerkung besondere Beachtung: „Daher war es auch eine für die Religion wichtige Absonderung der gedachten Eigenschaften, oder vielmehr [!] Verhältnisse Gottes zum Menschen, durch die Idee einer dreifachen Persönlichkeit, welcher analogisch jene gedacht werden soll, jede besonders kenntlich zu machen“ (IV 877 f ). Ihren besonderen Sinn erhält diese „Verhältnis“-Bestimmung freilich erst in gebotener Rücksicht darauf, dass dieses „Verhältnis“ genauer besehen ja ein solches der menschlichen Vernunft zur „Idee [!] Gottes“ darstellt; daraus gewinnt wiederum sein religionsgeschichtlicher Hinweis auf die verschiedenen „Funktionen“ der Gottesprädikate seine besondere
594 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ nene kritische Pointe resultieren, die seiner Bezugnahme auf die „Analogie“ bzw. auf den „kritischen Anthropomorphismus“ zugrunde liegt: Eine behutsame, kantisch gebrochene Antwort auf Hölderlins Frage: „Was ist Gott? unbekannt, dennoch voll Eigenschaften ist das Angesicht des Himmels von ihm“276? Gleichwohl darf dieser in dem „symbolischen Anthropomorphismus“ geleistete bzw. legitimierte Aufweis, wie „Gott ein Gegenstand der Religion wird“, das zugrunde liegende systematisch bedeutsame Problem der „Einheit der Vernunft“ nicht aus dem Auge verlieren, das in der von Kant betonten Verknüpfung von „Theologie und Moral“ angezeigt ist. Eben dafür ist nach Kant jener als „Vollendung des kritischen Geschäfts der menschlichen Vernunft“ gewürdigte Aufweis der „natürlichen Endabsicht der Dialektik der Vernunft“ (die darin vollzogene Unterscheidung zwischen „Gegenstand in der Idee“ und „Gegenstand in der Realität“) schon vorausgesetzt, obgleich mit dem „praktischdogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ in diesem „dritten Stadium“ die „praktisch-dogmatische Vollendung ihres Weges und der Gelangung der Metaphysik zu ihrem Endzwecke“ (III 615) erst erreicht sein soll. Daraus resultieren weitere Fragen, die nicht zuletzt mit der unübersehbaren Zweideutigkeit in Kants Bestimmung der „objektiven Realität“ zusammenhängen. 3.1.2. Die auch im Kontext der „Ethikotheologie“ zutage tretende Mehrdeutigkeit des Begriffs „objektive Realität“ Auf die in den voranstehenden Überlegungen schon wiederholt erwähnte Mehrdeutigkeit, die in dem von Kant beanspruchten Aufweis der „objektiven Realität“277 zutage tritt, sei in diesem Kontext des „symbolischen Anthropomorphismus“ bzw. des intendierten Aufweises, dass und wie „Gott ein Gegenstand der Religion wird“, nochmals ausdrücklich hingewiesen. Vorweg sei auch auf eine stillschweigend vollzogene Verschiebung in Kants Argumentation angezeigt, die nicht lediglich terminologische Unschärfen verrät, sondern wohl ebenso eine unaufgelöste sachliche Unklarheit sichtbar macht: Zunächst war der diesbezüglich entscheidende Punkt (der „zweiten Kritik“ zufolge) darin zu seBedeutung. – Im Sinne dieser eigentümlichen „Verhältnis“-Bestimmung sehr aufschlussreich ist auch Kants Notiz: „
in Gott ist es eine dreifache Persönlichkeit. Diese ist aber nur im Begriff von Gott in praktischer, nicht spekulativer Absicht: eine Idee der Relation auf die menschliche Moralität und Freiheit“ (Refl. 6092, AA XVIII, 449). Und dann: „Das [diese „dreifache Persönlichkeit“] ist das heilige Symbol der Moraltheologie, das Monogramm seines geheimnisvollen Wesens, aber um Theosophie und Theurgie zu verhüten“ (ebd. Refl. 6093, 449). 276 Hölderlin 1992, I 907. 277 Vielleicht wäre diese „Äquivokation“ mit Kant auch in der Frage zu formulieren: Wie (in welchem Sinne) können diese „Vernunftideen“ „objektive Realität“ haben, wenn sie eben doch keine „objektive Realität“ haben, d. h. nun: Sich nicht auf die „Möglichkeit von Erfahrung“ beziehen (vgl. II 199 f )? – In der Tat ist es „ein schon früh einsetzender und immer wieder in der Ausarbeitung der Transzendentalphilosophie anklingender Kerngedanke Kants, dass den spekulativen Vernunftbegriffen erst im Bereich der reinen praktischen Vernunft ‚Realität‘ (Sachbedeutung, Möglichkeit und Wirklichkeit des darin Bezeichneten betreffend) zuwächst … Die Endabsicht der menschlichen Vernunft geht eben, im Theoretischen wie im Praktischen, auf das Übersinnliche“ (Heimsoeth 1966 I, 69).
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hen, dass die im spekulativen Vernunftgebrauch „ohne Haltung“ (II 543) bleibenden Vernunftideen Gott und Unsterblichkeit erst im Anschluss an den („durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft“ seine Realität beweisenden: IV 107) „Begriff der Freiheit“ „Bestand und objektive Realität“278 erhalten; demnach besagt „objektive Realität“ hier eben lediglich die „Realität der Begriffe, die zum Behuf der Möglichkeit des höchsten Guts gehören, … ohne gleichwohl durch diesen Zuwachs die mindeste Erweiterung des Erkenntnisses nach theoretischen Grundsätzen zu bewirken“ (IV 269).279 Während also der Begriff „objektive Realität“280 zunächst nicht mehr als die in „symbolischer Darstellung“ (als „höchstes ursprüngliches Gut“) eröffnete Bestimmbarkeit jenes andernfalls unbestimmt gebliebenen Begriffs des „Urwesens“ (d. i. des „höchsten metaphysischen Guts“) bezeichnete, erhält „objektive Realität“ erst dadurch die Bedeutung von „Existenz“, sofern „die Möglichkeit, die vorher nur Problem war, hier Assertion wird“, und so „der praktische Gebrauch der Vernunft mit den Elementen des theoretischen verknüpft“ wird (IV 109). Somit wird in dem später sogenannten „moralischen Beweis des Daseins Gottes“ (in Kants „dritter Kritik“) bezüglich der „objektiven Realität“ der Akzent doch unübersehbar anders gesetzt: „Wenn es aber auf das Praktische ankommt, so ist ein solches regulatives Prinzip (für die Klugheit oder Weisheit): dem, was nach Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen von uns auf gewisse Weise allein als möglich gedacht werden kann, als Zwecke gemäß zu handeln, zugleich konstitutiv [!], d. i. praktisch bestimmend“ (V 586). Näherhin ist in diesen maßgeblichen späten religionsphilosophischen Begründungsfiguren davon die Rede, dass jenen „Ideen des Übersinnlichen“ „objektive Realität“ doch allein „in praktischer Rücksicht, als Postulaten der moralisch-praktischen Vernunft, zugestanden werden könne“, zumal eben – vor dem Hintergrund der neuen „Freiheitslehre“ – allein die „durch die Tat“ (IV 107) ihre Wirklichkeit erweisende praktische „Vernunftidee“ der Freiheit „durch praktische Gesetze der reinen Vernunft … unter die scibilia mit gerechnet werden muss“ (V 599).281 Dies setzt freilich den in der „zweiten Kritik“ beanspruchten Aufweis des Menschen als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ schon voraus und bestätigt insofern bemerkenswerterweise, 278 Wohl zu Recht gibt Puntel zu bedenken: „Durch das Prädikat des Seins wird also keine Bestimmung des Objekts hinsichtlich seiner Realität, d. h. Sachheit erreicht, aber man kann dennoch von einer gewissen Bestimmung durch das Sein sprechen, nämlich hinsichtlich der vollen Objektivität des Objekts, die eben dann gegeben ist, wenn das Objekt bzw. das Ding an sich gesetzt ist. Diese doppelte Bestimmung (hinsichtlich der Realität und des Daseins) macht erst das eigentlich erkannte, d. h. voll bestimmte Objekt, das Objekt in seiner Objektivität, aus“ (Puntel 1969, 308). 279 Die Mehrdeutigkeit des Terminus „objektive Realität“ spiegelt sich auch darin wider, wenn es heißt, dass der „Urbegriff … der Dingheit überhaupt (realitas)… an sich selbst ein Sein, zum Unterschiede von dem, dessen Begriff ein Nichtsein vorstellt“ (III 640); auch dies, dass „Realitäten“ hier als lauter „Bejahungen“ bestimmt werden, verstärkt diese Zweideutigkeit. Kant hat „Realität“ ausdrücklich auch mit „Sachheit“ übersetzt (vgl. II 191; 517). Vgl. auch III 613: „Einen reinen Begriff des Verstandes, als an einem Gegenstande möglicher Erfahrung denkbar vorstellen, heißt, ihm objektive Realität verschaffen, und überhaupt, ihn darstellen“. 280 Zum besonderen Status bzw. Gehalt der „objektiven Realität“, den Kant der „personifizierten Idee des guten Prinzips“ zuerkennt, vgl. IV 712 ff. 281 Dies entspricht offensichtlich recht genau jener (in dem Aufsatz „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ ziemlich zeitgleich vorgelegten) Gedankenfigur (III 387, Anm.).
596 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ gewissermaßen auch im Nachhinein, die Unverzichtbarkeit dieser zunächst als „nicht transzendental, sondern [als] moralisch“ gekennzeichneten Frage „Was soll ich tun?“ (II 677) als notwendiges Scharnier für jene zuvor erwähnte Analogisierung der „Wissens“und der „Hoffnungsfrage“. Es ist diese in ihrer Sonderstellung ausgewiesene Idee der Freiheit, die in solcher Hinsicht die beiden anderen Vernunftideen gleichsam „nach sich“ zieht, d. h. allein in solchem Ausgang von der „objektiven Realität“ der Idee der Freiheit282 auch ihnen (obgleich in praktischer Absicht) „objektive Realität verschafft“, also in diesem „praktisch-dogmatischem Überschritt“ die beiden anderen Ideen auf praktisch-postulatorische Weise zunächst bestimmbar macht und, davon unterschieden, sodann auf das Dasein als eine der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“ (als „absolute Position“) abzielt, das in „praktischer Absicht, nicht willkürlich“ (IV 628), vorausgesetzt wird.283 Daraus wird auch deutlich: Keineswegs ist „Gott“ (die „theologische Idee“) selbst ein „Postulat der reinen praktischen Vernunft“, sondern allein das „Dasein Gottes“ (IV 254 f; vgl. allerdings III 411, Anm.),284 und zwar näherhin in der Bestimmung als „höchstes ursprüngliches Gut“; hierfür bleibt jene „theologische Idee“ als das „Substrat aller Theologie“ selbst schon vorausgesetzt, obgleich sie erst über die praktische Vernunft ihre inhaltliche Bestimmtheit gewinnt und dergestalt, beim Wort genommen, ein „zur Religion tauglicher Begriff wird“.285 Die Postulatenlehre setzt genauer besehen freilich nicht nur diese beiden unter282 Bezüglich dieser Freiheitsidee gewinnt Kants Kennzeichnung der „objektiven Realität“ freilich eine besondere Bedeutung gegenüber allen anderen Ideen: Besagt diese „objektive Realität“ hier doch zunächst, dass darin „Idee und Existenz“ zusammenfallen; darüber hinaus meint dies sodann, dass sie den „transzendentalen Begriff der Freiheit“ „realisiert“, sofern sie als moralische Freiheit „real“ bestimmbar wird (d. h. Gehalt gewinnt). So wird freilich auch jener entscheidende „Punkt der Ungleichartigkeit“ gegenüber der „theologischen Idee“ sichtbar, der nach Kant dieser Freiheitsidee auch ihre Sonderstellung sichert: Wird „durchs moralische Gesetz jene transzendentale Idee [der Freiheit] realisiert und … der Begriff der Freiheit, als Kausalität, … bejahend erkannt“ (AA XI, 155), so gewinnt hingegen der philosophisch-spekulative Begriff des „metaphysischen Gutes“ lediglich „Bestimmbarkeit“ und insofern genaue Konturen als Vernunftpostulat – nichts anderes besagt hier wohl Kants Hinweis auf die „objektive Realität“ dieser Ideen! 283 Erneut bestätigt sich, dass die daraus resultierende Bestimmung dieser „objektiven Realität“ durchaus mehrdeutig ist: Besagt dies zunächst, dass solcherart erst ein „genau bestimmter“ Gottesbegriff ermöglicht wird, d. h. der abstrakte Begriff des höchsten „metaphysischen Guts“ erst bestimmbar wird, so bleibt davon die auf das „Dasein Gottes“ abzielende Kennzeichnung der „objektiven Realität“ genau zu unterscheiden – und, wohlgemerkt, allein das „Dasein Gottes“ wird von Kant „als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft“ (IV 254) bezeichnet. „Das Dasein der Gottheit ist nicht bewiesen, sondern es wird postuliert, und es kann also bloß dazu dienen, wozu die Vernunft gezwungen war, es zu postulieren“, so in der späten Refl. 8092 (in: AA XIX, 637; vgl. auch Refl. 5103, AA XVIII, 88); dies erinnert an die Bestimmung des Postulates des „Daseins Gottes“ als einer der „Vernunft abgenötigten Voraussetzung“. 284 Hier zeigt sich auch ein direkter Zusammenhang zu Kants berühmter kritischer Auskunft, „Dasein“ sei kein „reales“, sondern ein „logisches Prädikat“; sie muss in diesem Kontext auch dahingehend vergegenwärtigt werden, dass zwar jene „realitates“ eine „analoge Verwendung“ erlauben, keinesfalls aber „Existenz“ selbst, weil Letztere lediglich die „Setzung des Dinges mit allen seinen Bestimmungen“ (III 642) meint – und nur darauf bezieht sich auch diese Bestimmung des „Postulates“ als „theoretische Voraus-Setzung“ in „notwendig praktischer Absicht“. Deshalb kann das „ist“ in dem „Existenzialsatz“ „Es ist ein Gott“ nicht als „analoge“ Bestimmung gelten. 285 Diese Mehrdeutigkeit tritt besonders deutlich in dem Abschnitt „VI: Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt“ (IV 264 ff ) hervor: Hier spricht Kant nämlich ausdrücklich davon, dass die „durch die Achtung fürs moralische Gesetz notwendige Absicht aufs höchste Gut“ „dem, was spe-
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schiedenen Aspekte von „objektiver Realität“ („Sachhaltigkeit“ bzw. „Dasein“) schon voraus; ihre stufenweise Differenzierung und Vermittlung wäre als die eigentliche Aufgabe der Religionsphilosophie anzusehen. Dass Kant, vornehmlich in dieser Bestimmung der „objektiven Realität“, offenbar eine terminologische und sachliche Unsicherheit erkennen lässt, wird wohl auch durch das eigentümliche Schwanken bestätigt, das in folgendem Passus seiner „Religionsschrift“ zutage tritt: „Nun gibt es aber ein praktisches Erkenntnis, das, ob es gleich lediglich auf Vernunft beruht, und keiner Geschichtslehre bedarf, doch jedem, auch dem einfältigsten Menschen so nahe liegt, als ob es ihm buchstäblich ins Herz geschrieben wäre: ein Gesetz, was man nur nennen darf, um sich über sein Ansehen mit jedem sofort einzuverstehen, und welches in jedermanns Bewußtsein unbedingte Verbindlichkeit bei sich führt, nämlich das der Moralität; und was noch mehr ist, diese Erkenntnis führt entweder [!] schon für sich allein auf den Glauben an Gott, oder bestimmt wenigstens [!] allein seinen Begriff als den eines moralischen Gesetzgebers, mithin leitet es zu einem reinen Religionsglauben“ (IV 855). Schon hier sei angemerkt (obgleich diese Fragen im Grunde schon auf den IV. Teil [IV., 3.] vorausweisen): Beide Aspekte der „objektiven Realität“ hat Kant indes in einer aufschlussreichen Bemerkung in seinem Aufsatz „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie“ (aus dem Jahr 1796) auf bemerkenswerte Weise vereint: Denn allein durch das von der Freiheit „abstammende Gesetz des kategorischen, d. i. schlechthin gebietenden, Imperativs … bekommen Ideen, die für die bloß spekulative Vernunft völlig leer sein würden, ob wir gleich durch diese zu ihnen, als Erkenntnisgründen unseres Endzwecks, unvermeidlich hingewiesen werden, eine obzwar nur moralisch-praktische Realität: nämlich uns so zu verhalten, als ob [!] ihre Gegenstände (Gott und Unsterblichkeit), die man also in jener (praktische[n]) Rücksicht kulative Vernunft zwar denken, aber als bloßes transzendentales Ideal unbestimmt lassen mußte, dem theologischen Begriffe des Urwesens, Bedeutung (in praktischer Absicht, d. i. als einer Bedingung der Möglichkeit des Objekts eines durch jenes Gesetz bestimmten Willens)“ verschafft (IV 265). Demgegenüber bekräftigt er wenige Seiten später, dass allein praktische Vernunft dies leiste, dass „jene Begriffe [Freiheit, Unsterblichkeit und Gott] real sind und [!] wirklich ihre (mögliche) Objekte haben“ (IV 267); die „Ideen der spekulativen Vernunft“ als „(transzendente) Gedanken, in denen [zwar] nichts Unmögliches ist“, sollen nunmehr jedoch erst „durch ein praktisches Gesetz, als notwendige Bedingungen der Möglichkeit dessen, was dieses sich zum Objekte zu machen gebietet, objektive Realität“ erhalten (ebd.). Dass also dem „spekulativ“ gedachten „transzendentalen Ideal“ „Bedeutung in praktischer Absicht“ zukommt, klärt bzw. bedeutet deshalb eben gerade noch nicht (im Sinne einer kantischen Wendung gesprochen, dass bzw.) „ob er [der Begriff] sich auf ein Objekt beziehe, und also irgend was bedeute“ (II 273, Anm.). – Zu dieser Mehrdeutigkeit vgl. auch die schon zitierte Refl. 6317 (AA XVIII, 623 f ). – Ebenso zeigt sich diese Zweideutigkeit in dem Hinweis, dass „durch die praktischen Postulate“ jenen „Ideen Objekte gegeben“ werden, indem „ein bloß problematischer Gedanke dadurch allererst objektive Realität“ (IV 268) erhält. Vgl. dazu auch die höchst bemerkenswerte Argumentation Kants über das „Formale aller Religion“ in dem Beschluss der Metaphysik der Sitten („Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott liegt außerhalb den Grenzen der reinen Moralphilosophie“: IV 627 ff, hier: 628) und die hier angesprochene „Beziehung der Vernunft auf die Idee [!] von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird“. – Bezüglich des genauen Sinnes von „objektive Realität“ besagt Kants Bestimmung des „Formale(n) aller Religion“ offenbar, dass dieserart der Gottesbegriff für dieses „vernünftige Naturwesen“ erst „Sinn und Bedeutung“ gewinnt und infolgedessen die Gott zugeschriebenen Prädikate in Wahrheit das Verhältnis des „vernünftigen Weltwesens“ zu diesem „Urwesen“ zum Ausdruck bringen (vgl. dazu den erhellenden § 58 der „Prolegomena“).
598 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ postulieren darf, gegeben wären“ (III 408 f ).286 Abgesehen davon, dass jenes beanspruchte praktische Bestimmend-Werden der „Ideen“ auch hier zunächst wohl nicht mehr als dieses (freilich nicht „fiktionalistisch“ misszuverstehende) „Als-ob“ besagt, wird eine sachlich bedeutsame Verschiebung insofern erkennbar, als Kant hier bemerkenswerterweise, wie erwähnt, das „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ nicht als einen „theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz“ versteht, „sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (IV 252 f ). Das „Postulat“ wird nun ausdrücklich, und zwar durchaus in religionsphilosophischem Kontext, als ein „a priori gegebener, keiner Erklärung seiner Möglichkeit (mithin auch keines Beweises) fähiger, praktischer Imperativ“ bestimmt und bemerkenswerterweise dahingehend erörtert: „Man postuliert also nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein irgend eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjekts“ (III 411, Anm.). Hier scheint Kant die Idee des „höchsten Gutes“ offenbar selbst als ein „Postulat“ auf eine Weise zu bestimmen, die deren Identifikation mit der „Unsterblichkeit“ nahelegt, zumal Letztere hier charakterisiert wird als „ein Zustand, in welchem dem Menschen sein Wohl oder Weh in Verhältnis auf seinen moralischen Wert zu Teil werden soll“ (III 411).287 Auch in Kants „Logik“ ist eine einschlägige Unschärfe bezüglich der „objektiven Realität“ nicht zu übersehen; enthält doch sein Hinweis auf die Freiheits idee, d. h. die in ihr gedachte Einheit von „Idee und Realität“, einen schon erwähnten – problemgeschichtlich aufschlussreichen – Wink und zeigt dennoch ebenso ein offenbar 286 Dieser Rekurs auf die „Erkenntnisgründe unseres Endzwecks“ macht deutlich, dass Kant diese „objektive Realität“ gleichermaßen als „ratio cognoscendi“ und als „ratio essendi“ versteht. 287 Sodann heißt es freilich: „Wenn es nun Pflicht ist zu einem gewissen Zweck (dem höchsten Gut) hinzuwirken, so muß ich auch berechtigt sein anzunehmen: daß die Bedingungen da sind, unter denen allein diese Leistung der Pflicht möglich ist, obzwar dieselben übersinnlich sind, und wir (in theoretischer Rücksicht) kein Erkenntniß derselben zu erlangen vermögend sind“ (ebd.). Diese Argumentation hätte genauer besehen zur Folge, dass von jenem „Postulat“ als „a priori gegebenem praktischem Imperativ“ (gemäß des „praktischen“ Aspekts der Idee des „höchsten Guts“) jenes „Postulat“ (gewissermaßen „zweiter Ordnung“) zu unterscheiden wäre, das auf die „daseienden Bedingungen“ abzielt, „unter denen allein diese Leistung der Pflicht möglich ist“ (III 411); indes, auch diese Erklärung ist offenbar missverständlich, zumal es hier nicht um die „Bedingungen der Leistung der Pflicht“ geht, sondern um die Bedingung der Möglichkeit des „höchsten Gutes“, das die praktische Orientierung an der Pflicht als „oberstes Gut“ zur Voraussetzung hat. – Es hat jedenfalls den Anschein, dass Kants Argumentation hier stillschweigend die Differenz zwischen „Hoffnung“ und „Glaube“ einebnet, zumal das so bestimmte „Postulat“ als „praktischer Imperativ“ nun selbst noch einmal auf „Bedingungen“ verweist. Dabei ist nicht zu übersehen, dass Kant mit der oben angeführten Bestimmung des „Postulates“ genau denjenigen Unterschied in der Bestimmung des „Postulates“ relativiert, den die Vorrede zur „Kritik der praktischen Vernunft“ noch geltend gemacht hat: Hier grenzte Kant von den „Postulaten der reinen Mathematik“ ausdrücklich die „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ in dem Sinne ab, dass Letztere auf die „Möglichkeit eines Gegenstandes“ (und nicht, wie die mathematischen Postulate, auf die „Möglichkeit einer Handlung“) abzielen. Indes bleibt zu beachten, dass sich die „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ aber doch auf das „Dasein dieser Gegenstände (Gott, Unsterblichkeit)“ als Bedingungen der Möglichkeit des „höchsten Gutes“ beziehen, während Letzteres als der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“ indes selbst kein „Postulat“ ist. Es spricht einiges dafür, dass diese späten Spannungen in der Bestimmung des „Postulates“ (und das darin sich widerspiegelnde Verhältnis von „Hoffnung“ und „Glaube“) auch auf Kants Bestimmung der „fides“ als „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ (die allerdings „ich hineinlege, und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde“) (V 603 Anm.) zurückverweist (s. dazu u. IV., 3.1.).
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unbewältigtes Sachproblem an,288 das sich im „opus postumum“ in diesbezüglichen Unklarheiten und bzw. Zweideutigkeiten bekanntlich noch einmal verdichtet. Die in diesem Abschnitt vorgestellten Überlegungen zu Kants mehrdeutiger Verwendung des Terminus „objektive Realität“ soll folgender – freilich schon auf Themen des zweiten Bandes vorausweisender – Hinweis zum Abschluss bringen: In dem durch das differenzierte Gefüge der Ideen des „Übersinnlichen“ aufgespannten Vernunfthorizont wird auch ein bemerkenswertes gestuftes Korrespondenz-Verhältnis erkennbar, das nicht zuletzt auf die Weltstellung dieses „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ ein besonderes Licht wirft. Rückblickend spricht wohl einiges dafür, dass schon der Rekurs „auf den Begriff der Freiheit, aber im praktischen Gebrauche der reinen Vernunft“ (IV 111), der die im Feld des „kritischen Systems der spekulativen Vernunft“ nur „problematisch vorgestellten“ Begriffe „jetzt in ihrer realen Darstellung einsehen … lassen“ könne (IV 112), selbst einen unmittelbaren Bezug auf seine Symbollehre enthält, zumal diese „praktischen Vernunftideen“ doch als korrelative symbolische Repräsentation jener Vernunft ideen des „Unbedingten“ anzusehen sind. Eine – wiederum gestuft verlaufende – analoge Begründung, die Kant auch hier offensichtlich vor Augen steht, ist nicht zu übersehen: Zunächst war es „das moralische Gesetz“ als ein „Gesetz der Kausalität durch Freiheit“, das als solches eben dasjenige zu bestimmen vermochte, „was spekulative Philosophie“ „zwar als Aufgaben vortragen konnte, … aber nicht auflösen konnte“, d. h. „unbestimmt lassen mußte, nämlich das Gesetz für eine Kausalität, deren Begriff in der letzteren nur negativ war, und … diesem also zuerst objektive Realität“ verschafft (IV 162). So wie die „Aufhebung der transzendentalen Freiheit [als einer „rein transzendentale(n) Idee“] zugleich alle praktisch-positive Freiheit vertilgen“ müsste (II 489 f ) bzw. der Begriff der „logischen Persönlichkeit“ im Begriff der „moralischen Persönlichkeit“ als deren transzendentaler Voraussetzung aufbewahrt ist,289 so wäre es, analog dazu, zu verstehen, dass erst die Aussicht auf das „höchste Gut“ „dem, was spekulative Vernunft zwar denken, aber als bloßes transzendentales Ideal unbestimmt lassen musste, dem theologischen Begriffe des Urwesens, Bedeutung (in praktischer Absicht …)“ verschafft (IV 265). Dementsprechend bleibt die in der „rationalen Theologie“ (obgleich im Sinne einer „negativen Theologie“) maßgebende „transzendentale“ Gottesidee, d. i. der Begriff des „höchsten metaphysischen Gutes“ (III 641),290 dem moraltheologisch gekennzeichneten „Begriff der Gottheit“ (dem 288 Dieser Passus sei hier noch einmal angeführt: „Man kann keiner theoretischen Idee objektive Realität verschaffen oder dieselbe beweisen, als nur der Idee von der Freiheit; und zwar, weil diese die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, dessen Realität ein Axiom ist. – Die Realität [!] der Idee von Gott kann nur durch diese und also nur in praktischer Absicht, d. i. so zu handeln, als ob ein Gott sei, – also nur für diese Absicht bewiesen werden“ (III 523). 289 Dabei bleibt freilich der „fundamentale“ Zusammenhang mit den in der „transzendentalen Dialektik“ angeführten Ideen „Seele, Welt, Gott“ zu beachten und im Blick auf die entscheidenden Überlegungen der „Paralogismenlehre“ aufzunehmen (s. nächste Anm.). 290 Hier sei noch einmal auf Kants Kennzeichnung einer „logischen Theologie“ (AA XXVIII, 321) hingewiesen, der in „schulphilosophischer“ Perspektive bzw. im Sinne des Zusammenhanges der „Vernunftideen“ das „logische Subjekt“ korrespondiert. Der (die neue „Freiheitslehre“ freilich schon voraussetzenden) Moraltheologie liegt der Ausgang von der „moralischen Persönlichkeit“ (und das „Für-sich-Sein“
600 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Begriff des „höchsten ursprünglichen Gutes“) schon vorausgesetzt, ebenso der je bestimmten geschichtlich-konkreten Gottesvorstellung als ein zwar „problematischer, aber doch unvermeidlicher Begriff der Vernunft“, der freilich „nun bestimmt sein“ will (IV 276, Anm.)291 Diese auch hier sichtbar werdende Korrespondenz zwischen der Freiheits- und der Gottesidee ist gewiss bemerkenswert: Während also die „spekulative Philosophie“ auch „von der Freiheit einen bloß negativen Begriff geben konnte“ – deren vorausgesetzte unvordenkliche Wirklichkeit selbst indes einen „Abgrund der Vernunft“ indiziert! –, dem ein ebenso im Negativen bleibender Begriff des „Übersinnlichen außer uns“ entspricht, wird es nunmehr möglich, über die „praktisch“ bestimmbar gewordene Idee des „Übersinnlichen in uns“ (also die „Idee“ der „Gott wohlgefälligen Menschheit“ als des Sohnes Gottes“: IV 728) demgemäß auch „die desselben außer uns“ zu „einer, ob gleich nur in praktischer Absicht möglichen, Erkenntnis zu bestimmen“ (V 606). Derart korrespondieren in dieser Begründungsfigur – ganz gemäß jener Verknüpfung der Vernunftideen – der Sonderstellung jener „Idee der Freiheit“ („zwar skeptisch angefochten, aber doch unwiderlegt“: III 631) die an jenen „positiven Begriff der Freiheit“ anschließenden, freilich selbst schon „symbolisch dargestellten“ Ideen „Gott und Unsterblichkeit“ als „höchstes ursprüngliches“ und „höchstes abgeleitetes Gut“. Sie konkretisieren dergestalt die von Kant angezeigte „wirkliche Verknüpfung des Bekannten mit einem völlig Unbekannten (was es auch jederzeit bleiben wird)“ (III 229); auch in diesem weiterführenden, d. h. konkretisierenden Sinne darf es nunmehr verstanden werden, dass die „Idee der Freiheit“ „die zwei übrigen in ihrem Gefolge bei sich“ führt (III 411). dieses „eigentlichen Selbst“) zugrunde, d. h. verdankt sich jenem bedeutenden Sachverhalt, dass erst durch die „a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetze des reinen Vernunftgebrauchs [d. h. das moralische Gesetz] unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre“ (II 360 f ). – So wie mit der (zunächst lediglich „ex negativo“ aufgewiesenen) Denkbarkeit („Möglichkeit“) der „transzendentalen Freiheit“ das zwar fehlerfrei zu denkende (und insofern „mögliche“) „transzendentale Ideal“ korreliert und solcher Aufweis dem „Schulbegriff der Philosophie“ zugehört, so entspricht dem nunmehr allein im Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ aufweisbaren „positiven Begriff der Freiheit“ (bzw. der „moralischen Persönlichkeit“) der auf einen moralischen Anspruch gestützte „positive“ Gottesbegriff; dieser fundiert so – gegenüber dem schulphilosophisch begründeten Verhältnis der psychologischen, kosmologischen und theologischen Vernunftideen – die für die Begründung der Religion maßgebliche Einheit der „Ideen des Übersinnlichen“ und führt so erst zu einem „für die Religion tauglichen Gottesbegriff“ (der freilich immer noch und erst recht der Kritik des späten Schelling ausgesetzt ist). Dies markiert übrigens einen ganz entscheidenden Punkt für die Verknüpfung – Einheit und Differenz – von „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ und für das hierfür maßgebende Begründungsverhältnis. – Zwar knüpfte der späte Schelling (mit seiner Unterscheidung zwischen bloß „negativen“ und „positiven“ Prädikaten) durchaus an diese kantischen Motive an; seine Kant-Kritik geht indes darüber noch entschieden hinaus. 291 Nun ist freilich nicht zu übersehen, dass Kant diesen „problematischen, aber doch unvermeidlichen Begriff der Vernunft“ hier ausdrücklich auf denjenigen „eines schlechterdings notwendigen Wesens“ bezieht; dies widerspricht offensichtlich seiner (späteren: Kritik der Urteilskraft § 76) entscheidenden Auskunft, dass eben dieser „Begriff eines schlechterdings notwendigen Wesens“ in Bestimmtheit eben gar nicht zu denken ist (d. h. „gar für uns überschwänglich ist“, so im „Theodizee“-Aufsatz: VI 106, Anm.), während bekanntlich die Idee des „transzendentalen Ideals“ als der die menschliche Vernunft abschließende und krönende Begriff gelten soll – und von dem „transzendentale(n) Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“, behauptet noch der späte Kant, dass dieser „in der Philosophie nicht umgangen werden“ könne (III 389, Anm.).
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3.1.3. Ein bezeichnendes Schwanken in Kants Bestimmung des „Gott-WeltVerhältnisses“ Jedoch auch Kants ausdrückliches Bemühen um einen für „die Religion tauglichen Gottesbegriff“ und um die Wahrung der „kritischen Transzendenz“ kann nicht über die prinzipielle Schwierigkeit hinwegsehen lassen, die in seiner Kennzeichnung des – merkwürdig „verhältnislosen“ – „religiösen Verhältnisses“ zutage tritt. Bezeichnenderweise schwankt Kants Kennzeichnung in eigentümlicher Weise – und zwar auch in seiner Legitimation des „symbolischen Anthropomorphismus“ und der hierfür bestimmenden „suppositio relativa“ – zwischen dem darin gedachten „Verhältnis Gottes zur Welt“ und dem „Verhältnis des Menschen zu Gott“. Ein für die Grundlegung seiner Religionsphilosophie bedeutsamer Passus der „Prolegomena“ über die „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ macht dies und die stillschweigend vollzogene Umkehrung besonders deutlich: „Wir halten uns aber auf dieser Grenze, wenn wir unser Urteil bloß auf das Verhältnis einschränken, welches die Welt zu einem Wesen haben mag, dessen Begriff selbst außer aller Erkenntnis liegt, deren wir innerhalb der Welt fähig sind. Denn alsdenn eignen wir dem höchsten Wesen keine von den Eigenschaften an sich selbst zu, durch die wir uns Gegenstände der Erfahrung denken, und vermeiden dadurch den dogmatischen Anthropomorphismus, wir legen sie aber dennoch dem Verhältnisse desselben zur Welt bei, und erlauben uns einen symbolischen Anthropomorphism, der in der Tat nur die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht“ (III 232 f; Hervorhebung v. Verf.).292 Nun erweisen sich die ein solches „Verhältnis“ charakterisierenden „Beilegungen“ freilich allesamt als solche, die vorgängig in dem gedachten Verhältnis des menschlichen Geistes zu Gott begründet bzw. dadurch „vermittelt“ sind. Dies ist auch im Blick auf die (schon erwähnte) spätere Auskunft Kants zu berücksichtigen, wo er in seiner Erläuterung der „ratio analoga“ ausdrücklich bekräftigt, dass eben auch die vom „höchsten Wesen“ prädizierte „Eigenschaft der Vernunft“ doch „nur das Verhältnis anzeigt, was die uns unbekannte oberste Ursache zur Welt hat, um darin alles im höchsten Grade vernunftmäßig zu bestimmen“ (III 235).293 Dieses eigentümliche Schwanken ist für Kants Lehre vom „symbolischen Anthro292 Gegenüber dem „nur die Sprache und nicht das Objekt selbst“ angehenden „symbolischen Anthropomorphismus“ betonte Thomas v. Aquin (im Anschluss an Dionysius Areopagita) aber doch lediglich, ungleich „schwächer“: „Wenn Dionysius bejahende Aussagen über Gott als haltlos, nach anderer Lesart als unangebracht bezeichnet, so soll das heißen: kein Name entspricht Gott in der Art und Weise der Bezeichnung“ („… inquantum nullum nomen Deo competit secundam modum significandi, ut supra dictum est“ (Thomas v. Aquin, Sth I, qu. 13, art.12, ad 1.). 293 Die bemerkenswerte kritische Pointe dieser kantischen Argumention, die geradewegs auf die Inversion dieses Verhältnisses abzielt, hat der frühe Fichte vermutlich übersehen, wenn er, vermeintlich ganz im kritischen Geist Kants, betont: „Ich will nicht versuchen, was mir durch das Wesen der Endlichkeit versagt ist, und was mir zu nichts nützen würde; wie du an dir selbst bist, will ich nicht wissen. Aber deine Beziehungen und Verhältnisse zu mir, dem Endlichen, und zu allen Endlichen, liegen offen vor meinem Auge“ (Fichte II, 305). Und doch heißt es sodann: „Du wirkest in mir die Erkenntniss von meiner Pflicht, von meiner Bestimmung in der Reihe der vernünftigen Wesen; wie, das weiss ich nicht, noch bedarf ich es zu wissen. Du weißt und erkennst, was ich denke und will; wie du wissen kannst; – durch welchen Actu du dieses Bewusstsein zustande bringst, darüber verstehe ich nichts; ja ich weiss sogar sehr wohl, dass der Begriff eines Aktes, und eines besonderen Aktes des Bewusstseins nur von mir gilt, nicht aber von dir, dem
602 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ pomorphismus“ geradezu konstitutiv.294 Seine – von ihm unausgewiesen vollzogene – Umkehrung des „Verhältnisses“, wonach in der diesem Urwesen zugeschriebenen „Vernunft“ doch lediglich das Verhältnis des „vernünftig-moralischen Weltwesens“ zu dem an sich unerforschlichen, ja sogar „undenkbaren“ „höchsten Wesen“ bestimmbar wird295 – genauer: zur „Idee“ desselben! (vgl. IV 628) –, tritt auch in dem denkwürdigen Sachverhalt zutage, dass Kant zunächst die Bestimmung des „höchsten Wesens“ „respektiv auf die Welt und mithin auf uns“ (III 234), vor Augen stand. Dann ist jedoch wiederum von dem „Verhältnis der Welt zu Gott“ (III 235) die Rede, ohne dass das diesem Schwanken Kants zugrunde liegende Sachproblem dabei auch nur andeutungsweise zur Sprache kommt. Jedenfalls kann auch seine anschließende kritische „Grenz“-Reflexion nicht darüber hinwegsehen lassen, dass das darin intendierte „Verhältnis desjenigen, was außerhalb derselben [d. i. der „Grenze“] liegt, zu dem, was innerhalb enthalten ist“, selbst ein schon „vermitteltes“ ist: „Aber die Begrenzung des Erfahrungsfeldes durch etwas, was ihr sonst unbekannt ist, ist doch eine Erkenntnis, die der Vernunft in diesem Standpunkte noch übrig bleibt, dadurch sie nicht innerhalb der Sinnenwelt beschlossen, auch nicht außer derselben schwärmend, sondern so, wie es einer Kenntnis der Grenze zukommt, sich bloß auf das Verhältnis desjenigen, was außerhalb derselben liegt, zu dem, was innerhalb enthalten ist, einschränkt“ (III 237). Und noch beim späten Kant ist in ähnlicher Weise sowohl vom „moralischen Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte“ (IV 807) als auch vom „moralische(n) Verhältnis der Menschen zum höchsten Wesen“ (IV 808) die Rede, ohne dass dies eine Erläuterung gefunden hat. In solchem Schwanken wird wohl das Problem sichtbar, dass in den daraus gewonnenen „Gottes“-Prädikaten im Grunde Unendlichen“. – Verblüffend ist allerdings einerseits die diesbezügliche sachliche Nähe zu dem Argument des Hl. Thomas (der hier allerdings möglicherweise doch eine reflektiertere Position als Kant einnimmt) zu der Frage, „Gibt es einen Namen, der Gottes Wesen bezeichnet?“ (STh I, qu. 13, art. 2. resp.): „Die als Verneinung von Gott ausgesagten Namen oder die Namen, die eine Beziehung zwischen ihm und den Geschöpfen besagen, bezeichnen in keiner Weise sein Wesen, sondern schließen etwas von ihm aus oder bezeichnen eine Beziehung von ihm zu einem andern, oder besser [!]: eines andern zu ihm“. Vgl. dazu den 7. Artikel dieser quaestio 13 über die Frage: „Werden die Namen, welche eine Beziehung zu den Geschöpfen einschließen, von Gott mit zeitlicher Geltung ausgesagt?“ – Das festgestellte merkwürdige Schwanken Kants in der Bestimmung des „Verhältnisses“ hat eine denkwürdige problemgeschichtliche Entsprechung in der thomistischen Unterscheidung, wonach die Welt in einer „relatio realis“ zu Gott, Gott jedoch lediglich in einem „gedachten“ Verhältnis zur Welt steht. Es bedürfte einer gesonderten Untersuchung – nicht zuletzt eben im Blick auf Kants eigentümliches Schwanken von „Gott und Welt“ –, wie weit Kants kritische (jedwede „Subreption“ vermeidende) „Gottes“-Konzeption als „Gegenstand in der Idee“ eben mit dieser denkwürdigen Problemanzeige des Thomas v. Aquin zusammenhängt, wonach gilt: „In Gott aber gibt es keine natur-wirkliche Beziehung [d. h. eine „relatio realis“] zu den Geschöpfen, sondern bloß eine gedachte, insofern die Geschöpfe zu ihm eine Beziehung haben“ (ebd. qu.13, art.7, resp.). Das kritische Anliegen des Aquinaten hätte Kant wohl geteilt – und dennoch darauf insistiert, dass hier nur der kritisch gedachte „Gegenstand in der Idee“ als Bezugspunkt gedacht werden kann. 294 Ob und wie weit hier mit Blick auf diese kantischen Bezüge auch Anknüpfungspunkte dafür zu finden sind, um in solchem Ausgang von der „Beschaffenheit“, mit der dieses „vernünftige Weltwesen“ wirklich ist, dieses auch im Sinne des „Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit“ zu analysieren und ohne Engführung als „religiöses Verhältnis“ auszuweisen, das in jenem buchstäblich voraus-gesetzten „Beziehungspunkt“ seinen unaufgebbaren „terminus ad quem“ hat, dies sei hier nur als Frage formuliert. 295 So verweist Kant etwa auf den „göttlichen Willen“, worin wir unsere „moralisch-notwendigen Zwecke zugleich als seine Zwecke … denken“ (so in den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“: AA XXIII, 438).
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eben doch eher der Mensch als „vernünftiges Weltwesen“ von sich vor Gott und von einem erst dadurch „vermittelten“ Verhältnis Gottes zum Menschen spricht, darin also nicht „von Gott“ die Rede ist. Diese von uns beigelegten „Eigenschaften Gottes“ sind bemerkenswerterweise eben jene, durch die das „vernünftige, endliche Wesen“ das in seiner „moralischen Lebensgeschichte“ begründete Verhältnis zu jenem Gott bestimmt296 – der gleichwohl erst durch diese „von uns beigelegten Eigenschaften“ Gott, d. h. ein „Gegenstand der Religion“ werden soll – während die „Absicht ihres Gebrauchs“ doch diejenige ist, „uns selbst und unseren Willen darnach bestimmen zu wollen“ (V 585). „Offenbar“ wird Gott für den Menschen nach Kant demnach allein im moralisch-vernünftigem Verhältnis des Menschen (als „ratio cognoscendi“ desselben) zu ihm, während die Welt (und der Mensch „als Teil derselben“) in solchem realen Verhältnis in geschöpflicher Abhängigkeit zu diesem (als „ratio essendi“) stehen. Es ist offensichtlich die Verbindung dieser beiden gegenläufigen Bestimmungen, aus denen die Kennzeichnung der „Religion“ als „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ erwächst (IV 261). Im Vorblick auf die schon in der unmittelbaren Nachfolge Kants diesbezüglich vorgebrachten Bedenken (s. u. III., 3.1.4.) sei schon hier gefragt: Lässt sich denn unter den kantischen Prämissen tatsächlich der beanspruchte Aufweis einlösen, dass dadurch „Gott der Gegenstand der Religion wird“, wenn eben dies doch allein durch die ihm – durch uns – „beigelegten“ Prädikate zustande kommt297 und genau dies die eigentümliche Zirkularität einer solchen Begründung sichtbar macht? Wodurch wäre denn gewährleistet, dass sich dies nicht lediglich einer solchen Hin-Sicht verdankt – d. h. einer (wörtlich genommenen) „Einbildung“ gewissermaßen, ohne dass damit jedoch jenes grenzbegrifflich Vor-Gestellte als „von sich selbst“ her „offenbar“ werdend ausweisbar wäre?298 Zeigt sich diese Schwierigkeit nicht auch in jenem angezeigten – bezeichnenderweise von Kant nicht näher ausgewiesenen – Schwanken bezüglich des „Verhältnisses Gottes zur Welt, mithin auf uns“ bzw. des „Verhältnisses der Welt zu Gott“? Bezüglich einer solchen – geradezu religionsbegründenden! – Gegenläufigkeit und Einheit des vorgestellten „moralischen Verhaltens Gottes zum menschlichen Geschlechte“ und dem „moralischen Verhältnis des Menschen zu Gott“ bliebe demzufolge zu berücksichtigen – zugleich eine wichtige religionsgeschichtliche Perspektive im Kontext 296 Dies bleibt auch bezüglich der kantischen „Erläuterung“ zu diesem „Analogie“-Problem genau zu beachten, der zufolge freilich gelten soll, dass „dadurch doch die Vernunft nicht als Eigenschaft auf das Urwesen an sich selbst übertragen“ wird, „sondern nur auf das Verhältnis desselben zur Sinnenwelt und also der Anthropomorphism gänzlich vermieden“ werden könne (III 235). 297 In der Tat bleibt es dabei: „Aber die negative Theologie der theoretischen Vernunft bleibt in Kraft. Deshalb können jene positiven, moralischen Prädikate und auch die grundlegende Charakterisierung Gottes als des moralischen Welturhebers keine inneren, evtl. gar wesentlichen Bestimmungen von Gott selbst sein. Sie werden nur von der menschlich-endlichen praktischen Vernunft zur Vorstellung der realen Ermöglichung des höchsten Gutes entworfen und bilden insofern nur eine Vernunftperspektive von uns aus auf den an sich selbst unbekannten Gott. Dieser kann positiv von uns nur mit unseren eigenen moralischen Bestimmungen, freilich in höchster Steigerung, d. h. in illimitierter Einfachheit umschrieben, nicht begrifflich in seiner genuinen Bedeutung und seinem Sein erfasst werden. Daher haben solche von uns aus konzipierten moralischen Bestimmungen in Bezug auf Gott nur analogische Bedeutung“ (K. Düsing 2010b, 69 f ). 298 Einschlägige Problemstellungen sind bezeichnenderweise beim jungen Hegel – von Kant herkommend und in zunehmender Ablösung von ihm – deutlich zu erkennen.
604 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ des Programms einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ –, dass dieses gedachte „moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte“ vorgängig vermittelt wäre durch das „moralische Verhältnis“ des Menschen zu dem vor-gestellten „Übersinnlichen außer uns“ im Sinne des „symbolischen Anthropomorphismus“ bzw. des dadurch bestimmten „Gegenstands in der Idee“. Nur so wäre wohl auch Kants späte Auskunft angemessen, d. h. kritischen Maßstäben genügend, zu verstehen: „Die Idee eines moralischen Weltherrschers ist eine Aufgabe für unsere praktische Vernunft. Es liegt uns nicht sowohl daran zu wissen, was Gott an sich selbst (seine Natur) sei, sondern was er für uns als moralische Wesen sei; wiewohl wir zum Behuf dieser Beziehung die göttliche Naturbeschaffenheit so denken und annehmen müssen, als es zu diesem Verhältnisse [des praktischen Vernunftglaubens] in der ganzen zur Ausführung seines Willens erforderlichen Vollkommenheit nötig ist (z. B. als eines unveränderlichen, allwissenden, allmächtigen etc. Wesens) und ohne diese Beziehung nichts an ihm erkennen können“ (IV 806).299 Im begründenden Rekurs auf diese „Beziehung“ ist die „existenz“verwurzelte Legitimation dieser Gottesprädikate besonders deutlich angesprochen. In solchem „Für-uns-Sein“ Gottes sind also dieses „umgekehrte“ Verhältnis der „praktischen Vernunft“ zu Gott als einem „moralischen Weltherrscher“ und dessen explikative Bestimmungen benannt; gleichwohl wäre, gemäß jener kritischen Analogie, dieses „moralische Verhältnis zu Gott“ selbst als in dem „Verhältnis Gottes zur Welt“ begründet zu denken. Dieser angezeigten Gegenläufigkeit liegt ein „Verhältnis“ zugrunde, welches – im Sinne eines eigentümlichen „Durch-Einander“ dieser Bestimmungen – jedoch selbst wiederum nur „innerhalb“ des „von uns“ gedachten Verhältnisses zu ihm als ein vorausgesetztes „Verhältnis zu uns“ bestimmbar wird.300 Darin verkehren sich also „ratio cognoscendi“ und „ratio essendi“ in eigentümlicher Weise, wodurch dieserart eine eigentümliche „Zirkularität“ zutage tritt: Zwar wird durch das „moralische Verhältnis“ als „ratio cognoscendi“ die Gottesidee gemäß jenen „drei Eigenschaften“ bestimmbar und damit erst „ein Gegenstand der Religion“; jedoch ist dieses „moralische Verhältnis“ selbst wiederum als in Gott als „ratio essendi“ begründetes und auch in ihm enthaltenes zu begreifen – ist dieses „moralische Verhältnis“ doch als ein solches zu begreifen, das vorgängig schon begründet ist in der „Schöpfung“ als der „Ursache vom Dasein einer Welt“ (V 576, Anm.). In dem im Menschen (als „Teil derselben“) gedachten „Verhältnis der Welt“ zu jenem „Urwesen“ wäre also das „Verhältnis desselben zur Welt“ in bestimmter Weise selbst so zu denken, dass in Letzterem das erste zugleich eingeschlossen 299 Dies bleibt zu berücksichtigen, wenn Henrichs Feststellung Kants kritische Begründung eines „theismus moralis“ nicht doch zu gering veranschlagen soll: „Kant hat den Gedanken des Urwesens aber auch ganz von dem der Intelligenz getrennt. Er zeigte, dass der metaphysische Gedanke in seiner Reinheit und erhabenen Leere aus einer rationalen Operation hervorgeht, dass ihm aber die Intelligenz nur über die Analogie mit dem wirklichen Menschen zuzuschreiben ist. Wenn ihm dann weiter zudem die moralische Persönlichkeit zugeschrieben wird, so aus einem Bedürfnis des endlichen guten Willens heraus. Für eine personale Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch sah er keine Begründung, welche die Philosophie als solche zu geben vermöchte“ (so Henrich 2008, 286). 300 Auch Fichtes Verweis, wonach solcherart „gleichsam der unbildliche Gott“ in das „Bildliche“ eintritt, d. h. ein Angesicht gewinnt (Fichte VII, 319), erlaubt in einer kantischen Lesart nur diese „invers“ begründete – und durch die „Reflexe des Übersinnlichen in uns“ gebrochene und bestimmte – Version.
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wäre bzw. als von ihm umgriffen gedacht werden müsste. Jenes eigentümliche Schwanken in Kants Argumentation (in den „Prolegomena“) könnte so vielleicht eine Erklärung finden; dafür hätte sich in analogem Sinne jene Unterscheidung zwischen „ratio cognoscendi“ und „ratio essendi“ angeboten, die er später (zur Vermeidung einer scheinbaren „Inkonsequenz“) bezüglich des Verhältnisses von „Freiheit“ und „moralischem Gesetz“ geltend gemacht hat (vgl. IV 108, Anm.). Indes spricht wohl alles dafür, dass bei Kant dieses bloße unaufgelöste Nebeneinander der beiden benannten „gegenläufigen“ Verhältnisbestimmungen das letzte Wort bleibt (bzw. bleiben muss); das zu begreifende „Durcheinander“ dieser Bestimmungen und die hierfür erforderlichen Vermittlungsschritte weisen insofern jedenfalls über den Rahmen der kritischen kantischen Religionsphilosophie hinaus. Demzufolge wäre also vorrangig der Nachweis zu erbringen, wie denn gedacht werden soll, dass dieser als „Gegenstand in der Idee“ gedachte „Grund“ zwar „für uns“ wird und dennoch nicht einfach „durch uns“ ist, d. h. solcherart tatsächlich „Gott ein Gegenstand der Religion wird“; dennoch wäre dabei – in Wahrung jenes Unterschieds zwischen dem „Gegenstand schlechthin“ und dem „Gegenstand in der Idee“ – wiederum in gebührender Weise zu berücksichtigen (bzw. soll damit vereinbar sein), dass auch in Kants Bestimmung der Religion als „Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote … nur die Beziehung der Vernunft auf die Idee [!] von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird“ (IV 628).301 Erst so wäre doch in entsprechender Weise jenem erwähnten kritischen Anliegen der kantischen „AnalogieKonzeption“ gemäß dem „größtmöglichen Vernunftgebrauch“ Rechnung getragen (III 235); dies freilich auf eine Weise, dass darin „Gott“ nicht mehr selbst als „Grund“ des religiösen Bewusstseins gedacht wäre, sondern lediglich als der Bezugspunkt dieser – gleichsam hin-gedachten – Eigenschaften fungierte, der gleichwohl als „transzendentaler Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ bzw. als „fehlerfreies Ideal der Vernunft“ beansprucht bzw. vorausgesetzt wird. Indes, dann erlauben die Bestimmungen des „symbolischen Anthropomorphismus“ als solche „symbolische Dar-Stellungen“ keineswegs den Gedanken eines „Sich-uns-Darstellens“ als „Selbst-Manifestation“ im eigentlichen Sinne. Im Blick auf Kants eigene Bestimmung des „Gegenstands in der Idee“ lässt sich infolgedessen in einem strengen Sinne gerade nicht aufrechterhalten, dass ein „höchstes Wesen“ „sich [!] uns darstellt“ (III 278) und somit anzeigen könnte, „wodurch Gott [!] ein Gegenstand der Religion wird“. Deshalb wird die Frage unabweislich: Wie aber soll dann, ohne sich erneut dem Vorwurf einer „Subreption“ auszusetzen, wiederum genauerhin gedacht werden können, dass „Gott“ nicht allein „für uns und durch uns“, sondern derart tatsächlich „für sich und durch sich“ selbst „ein Gegenstand der Religion wird“?302 301 Genauer noch wäre wohl zu sagen: Jener Gedanke, wonach sich in den Gott buchstäblich zugedachten „Prädikaten“ das Verhältnis der menschlichen Vernunft zu dieser „Gottesidee“ widerspiegelt, wäre noch dahingehend zu präzisieren, dass die konkreten symbolischen Bestimmungen derselben durch die Vorstellungen der geschichtlichen Religionen vermittelt bzw. geprägt sind und sich darin auf ein notwendig „Vor-Gestelltes“ beziehen – ein Motiv, mit dem wohl auch Kants Lehre von den „konzentrischen Kreisen“ zu verbinden (bzw. zu korrigieren) wäre (s. dazu u. V., 2.1.3.). 302 Schellings Kritik hat offenbar genau dies im Visier und kritisiert indirekt auch jene kantische Beschränkung auf das „Formale aller Religion“: „Theoretisch war mit diesem negativen Resultat im Grunde alle
606 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ 3.1.4. Anmerkung: Vermag Kants Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“ tatsächlich aufzuweisen, „wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird“? Eine kritische Frage im Ausblick auf Hegel und Schelling Über diesbezügliche Defizite bzw. ungelöste Schwierigkeiten und Aporien dieser kantischen Konzeption eines „symbolischen Anthropomorphismus“ waren sich sowohl Hegel als auch der späte Fichte und Schelling einig – ungeachtet der unterschiedlichen Konsequenzen, die von ihnen daraus gezogen wurden und in besonderer Weise das Verhältnis zwischen Religionsphilosophie und philosophischer Theologie betreffen. Eine vorrangige – nicht zuletzt bezüglich der Probleme, die Kants Rekurs auf den „nur die Sprache und nicht das Objekt selbst“ angehenden „Anthropomorphismus“ bereitet – Frage wäre wohl dies: Begünstigt Kants Argumentation über den „symbolischen Anthropomorphismus“ nicht in der Tat ein – durch diesen Hinweis auf den „nur die Sprache und nicht das Objekt selbst“ betreffenden „Anthropomorphismus“ demonstriertes – bloß äußerliches „Anwendungsverhältnis“, dem zufolge einem völlig abstrakt-leeren Begriff des – eben „prädikatlosen, unerkannten und unerkennbaren“ – „Absoluten“ lediglich Prädikate äußerlich angeheftet werden, weshalb solches „Prädizieren“ eben auch ein bloß „äußerliches“, d. h. „in uns fallendes Tun“ (Hegel) bliebe?303 Denn die im Sinne einer derartigen – eben bloß „subjektiven“ – „symbolischen Darstellung“ des „Übersinnlichen außer uns“ verstandene Bestimmung könne doch gerade nicht als ein „Selbst-Offenbarwerden Gottes“ begreiflich werden,304 bliebe dieses „für uns“ in der angezeigten Weise doch lediglich ein solches „durch uns“ – ungeachtet jenes erwähnten kantischen Anspruchs, dem wirkliche [!] Religion aufgehoben; denn alle wirkliche Religion kann sich nur auf den wirklichen Gott, und zwar auf diesen nur als Herrn beziehen; denn ein Wesen, das dieses nicht ist, kann nie Gegenstand einer Religion … werden. Dies konnte aber nach dem negativen Resultat der Kantischen Kritik nie der Fall sein: denn war Gott als Herr der Wirklichkeit erkennbar, so gab es eine Wissenschaft, für die er Princip war, in der die Wirklichkeit von ihm abgeleitet werden konnte; aber dies leugnete Kant. Noch weniger blieb ein mögliches Verhältnis der natürlichen Theologie zur geoffenbarten Religion übrig. Die geoffenbarte Religion setzt den sich offenbarenden, also den wirkenden und wirklichen Gott voraus. Von dem als existierend bewiesenen Gott, den die alte Metaphysik zu haben glaubte, war ein Übergang zu dem sich offenbarenden möglich; von dem Gott, der nur die höchste Vernunftidee ist, könnte nur in einem höchst uneigentlichen Sinne gesagt werden, daß er dem Bewusstsein sich offenbare, in einem ganz andern, als in dem der Offenbarungsgläubige von Offenbarung spricht“ (XIV 46). 303 Berühmt wurde Hegels Einwand aus der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“: „Das Subjekt ist als fester Punkt angenommen, an den als ihren Halt die Prädikate geheftet sind, durch eine Bewegung, die dem von ihm Wissenden angehört und die auch nicht dafür angesehen wird, dem Punkte selbst anzugehören; durch sie aber wäre allein der Inhalt als Subjekt dargestellt“ (Hegel 3, 27). Hegel hat hier möglicherweise auch jenen Passus aus Kants „Prolegomena“ vor Augen, dem zufolge der einer kritischen Analogie-Konzeption verpflichtete „Theismus“ es gerade vermeidet, jenem „höchsten Wesen“ auch die „Eigenschaft der Vernunft“ „an ihm selbst, als eine ihm anklebende Eigenschaft, beizulegen“ (III 234). Dass dieses „Ankleben“ sich der „anklebenden“ Tätigkeit verdankt, d. h. der Sache „äußerlich“ bleibt, macht es nach Hegel freilich nicht besser. 304 Ein derartiges Vorhaben wäre nach Kant wohl um einen zu hohen Preis erkauft: Verraten doch diese weitreichenden Ansprüche genauer besehen nicht weniger als den stillschweigend vollzogenen Überschritt von der Philosophie auf die Seite der positiven Religion und der Theologie, bzw. dies, dass solcherart, obgleich weniger stillschweigend, die Religion in Philosophie aufgehoben werde – ein Ansinnen, das sich auf dem „allein noch offenen kritischen Weg“ verbieten muss.
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zufolge das „höchste Wesen sich uns darstellt“ (III 278), wovon wohl nur in einem ganz uneigentlichen Sinne die Rede sein könnte. Es wäre also (wie schon Kants Nachfolger kritisch angemerkt haben) eben gerade nicht das „absolute Wesen an und für sich selbst … in jenen Formen erschienen“, zumal doch auch dieses „Kleid seiner Vorstellungen“305 lediglich ein von uns angemessenes bzw. ihm „verpasstes“ wäre, um in diesen „Eigenschaften“ in Wahrheit „uns selbst und unseren Willen darnach bestimmen zu wollen“ (V 585). Demnach bliebe solches „Offenbarwerden für uns“ (als „Für uns-Sein“) in Wahrheit schon deshalb ein bloß einseitiges (d. h. ein solches bloß „durch uns“), weil darin, der unübersehbaren Zweideutigkeit jener „objektiven Realität“ zufolge, sich lediglich unser (moralisches) Verhältnis zu dieser nunmehr „genau bestimmten Gottesidee“ zeigt, insofern die darin offenbare „objektive Realität“ („Sachhaltigkeit“) doch gewissermaßen eine bloß „subjektive“ bleibt. Genau diesen Sachverhalt markierte Kant ja auch als eine entscheidende – unaufhebbare – Differenz zwischen der Idee der Freiheit und der „theologischen Idee“. Entsprechend blieben auch jene im Sinne der kantischen Religionsphilosophie zugelassenen Modi der „symbolischen Darstellung“ der Idee Gottes lediglich solche „für uns“, denen jedoch keineswegs ein „Erscheinen von“ korrespondierte, weil diese, so Hegels grundsätzlicher Einwand, doch nur als ein „von uns Gesetztes“ gelten dürften.306 Die naheliegende Frage ist im Blick auf die nachkantischen religionsphilosophischen Konzeptionen demzufolge wohl dies: Wie soll unter den Voraussetzungen der kantischen Konzeption jenes zweifache Verhältnis so gedacht werden können, dass dem „religiösen Verhältnis“ des Menschen zu Gott ein „reales“ Verhältnis Gottes zum menschlichen Geist buchstäblich „korrespondiert“ bzw. dieses Sich-Beziehen des menschlichen Geistes sich auch selbst wiederum als ein davon abhängiges und „durch es“ bestimmtes begreifen kann? Dabei sollte freilich zugleich jene kritische Einsicht Kants gewahrt bleiben, wonach die Gott beigelegten Prädikate doch lediglich das religiöse Verhältnis des Menschen zu dieser „Idee von Gott“ (vgl. IV 628) zum Ausdruck bringen und das darin „zu vermittelnde“ Verhältnis Gottes zur Welt jedoch selbst nur „innerhalb“ des „Transzendenzbezuges“ des menschlichen Geistes, d. h. in diesem religiösen Verhältnis, gedacht werden kann.
305 Hegel 3, 497. Hegels Bemerkung in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“: „Wie der subjektive Geist beschaffen ist, ist auch für ihn die objektive Wahrheit“ (Hegel 16, 213), ist vor dem Hintergrund der kantischen Hin-Sicht zu verstehen, dass bzw. wie „Gott ein Gegenstand der Religion wird“. Kants spätes Insistieren darauf, dass aus „dem moralischen Gesetz, welches uns unsere eigene Vernunft mit Autorität vorschreibt, … nun der Begriff von Gott hervor“ geht, „welchen uns selbst zu machen die praktische reine Vernunft nötigt“ (III 391, Anm.), weist ebenfalls darauf hin. Von dieser „Nötigung“, durch die der „Vernunftbegriff von Gott“ näherhin als „moralischer Welturheber“ bestimmbar wird (und so „objektive Realität“ gewinnt), bleibt die „objektive Realität“ im Sinne der „abgenötigten Voraussetzung“ des „Daseins eines allerrealsten [höchsten] Wesens“ zu unterscheiden. 306 Es spricht einiges dafür, dass diese grundsätzliche Aporie bezeichnenderweise noch in Kants irreführendem – weil falsche Trennungen eher fixierendem – Bild von den „konzentrischen Kreisen“ (s. u. V., 2.1.3.) zutage tritt, in dem er das Verhältnis von Vernunftreligion und Offenbarung (als „historisches System“) beschreiben wollte. – Zu diesem Bild und seiner vermutlichen Herkunft bei Kant s. auch Winter 2005.
608 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ All diese Fragen spielten bekanntlich bereits in der unmittelbaren Nachfolge Kants eine wichtige Rolle, freilich schon von den langen Schatten der Religionskritik begleitet. In gewiss verschieden akzentuierter Stoßrichtung und auch mit unterschiedlichen Konsequenzen haben insbesondere Hegel und Schelling ihre scharfen Einwände gegen einschlägige Defizite der kantischen Religionsphilosophie artikuliert. Noch die in Hegels späten Vorlesungen zur Religionsphilosophie geäußerte Kritik an der „schiefen“ Verhältnisbestimmung einer bloß „symbolischen Darstellung“ darf, obgleich primär wohl auf Jacobi gemünzt, gleichermaßen auf die in dem kantischen „symbolischen Anthropomorphismus“ erkennbare Einseitigkeit bezogen werden. Denn auch mit Blick auf Kant bliebe doch zu bedenken, „dass unser Thema, die Erhebung des subjektiven Geistes zu Gott, unmittelbar es enthält, dass in ihr sich das Einseitige des Erkennens, d. i. seine Subjektivität aufhebt, sie wesentlich dies Aufheben ist; somit führt sich darin die Erkenntnis der anderen Seite, die Natur Gottes, und zugleich sein Verhalten in und zu dem Erkennen von selbst herbei“, denn: „So viel soll die Religion doch sein, dass sie ein Ankommen unseres Geistes bei diesem Inhalte, unseres Bewußtseins bei diesem Gegenstande sei, nicht bloß ein Ziehen von Linien der Sehnsucht ins Leere hinaus, ein Anschauen, welches nichts anschaue, nichts sich gegenüber finde. In solchem Verhältnis ist wenigstens so viel enthalten, dass nicht nur wir in der Beziehung zu Gott stehen, sondern auch Gott in der Beziehung zu uns stehe. Im Eifer für die Religion wird etwa, wenigstens vorzugsweise, von unserem Verhältnis zu Gott gesprochen, wenn nicht selbst ausschließlich, was im Prinzip des Nichtwissens von Gott eigentlich konsequent wäre; ein einseitiges Verhältnis ist aber gar kein Verhältnis. Wenn in der Tat unter der Religion nur ein Verhältnis von uns aus zu Gott verstanden werden sollte, so würde nicht ein selbständiges Sein Gottes zugelassen; Gott wäre nur in der Religion, ein von uns Gesetztes, Erzeugtes.“307 Auch wenn man den von Hegel selbst diesbezüglich beschrittenen Wegen einer „philosophischen Theologie“ nicht folgt, so bleibt dennoch die Frage unabweislich: Wie also ist – so die gegen Kant gerichtete, schon unüberhörbar religionskritisch sensible Mahnung Hegels und Schellings308 – dem naheliegenden Einwand zu entgehen, dass das aus jener von Kant aufgewiesenen „objektiven Realität“ zwar gewonnene „Anlitzhafte“ jenes noch „unbestimmten Ideals“ eben doch lediglich in der „Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht“ (IV 628), begründet ist; wie also soll vermieden werden, dass die Differenz zwischen „Gott an sich und für uns“ zuletzt doch 307 Vgl. Hegel 17, 380; 382. Hier ist übrigens Hegels Sensibilität für Feuerbachs Verweigerung des Unterschieds „zwischen dem, was Gott an sich, und dem, was er für mich ist“, deutlich zu erkennen (vgl. auch diesbezüglich L. Feuerbachs Einleitung zu „Das Wesen des Christentums“, bes. das 2. Kapitel). – Nicht zuletzt im Blick auf dieses eigentümliche Schwanken in jener kantischen „Verhältnis“-Bestimmung wird plausibel, dass für die „idealistischen“ Nachfolger Kants das Problem, wie das Verhältnis der menschlichen Vernunft zum „Absoluten“ so gedacht werden kann, dass Letzteres selbst im Verhältnis des Absoluten zur menschlichen Vernunft gegründet ist, einen besonderen Stellenwert gewinnen musste – eine Spannung, die bei Kant auch noch in „gegenläufigen“ (zuletzt aporetischen?) Wendungen im „opus postumum“ sichtbar wird. 308 Die thematisch einschlägige Auseinandersetzung zwischen dem späten Schelling und Hegel wäre so zugleich als deren durchaus unterschiedliche Rezeption und Kritik der kantischen Religionsphilosophie zu verstehen.
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– in dem von Feuerbach indizierten Sinne – buchstäblich „gegenstandslos“ wird? Indes, jene so wichtige kantische Differenz zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ bietet hierfür zweifelsohne sowohl im Blick auf Hegels309 Kant-Kritik als auch auf die von Schelling beanspruchte Weiterführung der kantischen Vernunftkritik kritische Anknüpfungspunkte. In besonderer Weise treten derart auch religionsphilosophische Motive in den Vordergrund, die bezeichnenderweise vornehmlich im Kontext der von Schelling intendierten Wiederanknüpfung bzw. Weiterführung der kantischen Vernunftkritik eine entscheidende Rolle spielten. Nicht zuletzt hätte Schelling darauf insistiert (und bringt dies in den im Kontext der Vermittlung von „negativer“ und „positiver Philosophie“ geäußerten Hinweisen ja auch indirekt zum Ausdruck), dass die ethikotheologisch gereinigte bzw. zu einem „theismus moralis“ tauglich gemachte „Idee der Gottheit“ sowie das zwar als „Theologie“ geltend gemachte „dritte Stadium der neueren Metaphysik“ keinesfalls an die „Wirklichkeit“ Gottes heranreiche, weshalb auch noch über dieses Stadium der „Theologie“ notwendigerweise hinauszugehen sei. Dafür bedarf es nach Schelling bekanntlich einer „Umkehrung“, welche die „Vernunftwissenschaft“ und die darin maßgebende metaphysische „Contemplation“ selbst jedoch nicht zu leisten vermag. Gemäß der späten kantischen „Stadienlehre“ müsste sich, Schelling zufolge, die von ihm intendierte Unterscheidung und Vermittlung zwischen „negativer“ und „positiver Philosophie“ gewissermaßen als ein noch anzuschließendes „viertes Stadium“ in dem „Fortschritte der Metaphysik“ verstehen, das als solches auch erst rechtens als „Theologie“ zu bezeichnen wäre. Gewiss sind die Schwierigkeiten nicht zu übersehen, die mit einer von diesem „symbolischen Anthropomorphismus“ ausgehenden Konzeption verbunden sind; jedoch besagt deren schon von Kants Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolgern daran geäußerte – und auch in vielerlei Hinsicht plausible – Kritik noch nichts über die Rechtmäßigkeit der diesbezüglich geltend gemachten religionsphilosophischen Ansprüche und über die Einlösbarkeit der darin maßgebenden philosophischen Intuitionen. Die sich aufdrängenden „nachkantischen“ Rückfragen sowie die diesbezüglich nicht unplausible Kritik an unbewältigten Problemen der kantischen Religionsphilosophie bzw. philosophischen Theologie sind das eine; indes bleibt die andere Frage, ob die von Kants Nachfolgern beschrittenen Wege die von ihm errichteten entscheidenden Haltesignale nicht in mancher Hinsicht wiederum ignorieren und dies die gegen Kants „reduktionistische“ Religionsphilosophie erhobenen Einwände nicht doch wenigstens relativiert: So unzweifelhaft es auch kantischen Intentionen entspricht, dass die „Geschichte der reinen Vernunft“ selbst vornehmlich auch als ein die „symbolischen Darstellungen“ Gottes (d. h. sein „Für-unsSein“) berührender Läuterungsprozess gelesen werden darf, so hätte Kant wohl religi309 Ein wesentlicher Anknüpfungspunkt für dieses entscheidende Sachproblem wäre – im Blick auf Kants kritizistische Differenz zwischen dem „Gegenstand schlechthin“ und dem „Gegenstand in der Idee“ – dies, wie unter den Vorzeichen des kritischen Kant dem Anliegen Hegels Rechnung zu tragen wäre, dass in solchem religiösen Verhältnis nicht „nur unsere Beziehung auf Gott, unser Verhältnis zu ihm“ zu denken sei, sondern dieses Verhältnis selbst eben zugleich als ein „Verhältnis [Gottes] in [bzw. zu] sich selbst gefasst“ werden könnte (Hegel 16, 52); erst dies vermag bekanntlich das „religiöse Verhältnis“ nach Hegel als ein „Verhältnis von Geist zu Geist“ auszuweisen.
610 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ onsphilosophische Ansprüche, die diese „symbolischen Darstellungen“ eben auch als geschichtlich konkrete „Selbstdarstellung“ Gottes (im Sinne einer beanspruchten Einheit von „genitivus subjektivus“ und „genitivus objektivus“), d. i. als dessen „Selbsterweis“, behaupten wollten, vor drohenden „Subreptionen“ gewarnt310 – jedenfalls dann, wenn solche Ansprüche sich nicht mit den kritisch vermittelten religionsgeschichtlichen Perspektiven begnügen wollten (s. u. V., 2.1.1.). Ein derartiger Anspruch hätte wohl auch nur in der gebrochenen Form bzw. unter dem kritischen Vorbehalt eines „reflektierenden Glaubens“ (s. u. V., 3.3.) von ihm akzeptiert werden können; jedenfalls wäre er an die Bedingung geknüpft, dass dabei der Status der für den spekulativen Vernunftgebrauch als unverzichtbar ausgewiesenen grenzbegrifflichen „theologischen Idee“ (und die darin „aufgehobene“ Differenz von „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“) und somit auch der wesentliche Unterschied zur Sonderstellung der „Idee der Freiheit“ gewahrt bleiben müsste. Freilich bliebe jener Anspruch wohl der Rückfrage Kants ausgesetzt, ob damit das Programm der Vernunftkritik und der durch sie eröffnete und legitimierte „metaphysische Überschritt zum Übersinnlichen“ jedoch nicht schon „überschritten“ wäre, zumal sich eine „regulativ“ erlaubte, ja sogar notwendige Vernunftperspektive dieserart doch unversehens in ein konstitutives Prinzip verwandelt hätte. Auch die von Kant betonte „Subtilität“ in der Unterscheidung von „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ und die darin gleichermaßen implizierte Sensibilität für „Subreptionen“ müssen es jedenfalls verbieten, den „Gegenstand in der Idee“ als den gleichsam „immanent gewordenen“ „Gegenstand schlechthin“ geltend zu machen, weil eben dies geradewegs auf eine unkritische „Hypostasierung“ eines „Grenzbegriffs“ hinausliefe. Unter diesen kritischen Vorzeichen wäre sodann auch zu fragen, ob das die „positive Philosophie“ leitende Anliegen Schellings nicht doch der bei Kant lediglich „erkenntniskritisch“ begründeten „negativen Theologie“ stillschweigend eine „metaphysisch“ verankerte „negative Theologie“ unterschoben hat. Ist denn nicht ebendies vorausgesetzt, um derart, in der von Schelling beanspruchten Weiterführung der kantischen Vernunftkritik, sodann zu dem „unvordenklichen“, „bloß Existierenden“ zu gelangen, das freilich dabei jene entscheidende kantische Differenz zu ignorieren scheint (bzw. sie unterläuft), „ob etwas meiner Vernunft als ein Gegenstand schlechthin, oder nur als ein Gegenstand in der Idee gegeben wird“ (II 583)?311 Kants Bedenken blieben so wohl auch darauf ge310 In anderer Akzentuierung trifft dies wohl auch auf Fichtes späte Wissenschaftslehre und die darin – auch religionsphilosophisch maßgebende – Differenz von „Wahrheits“- und „Erscheinungslehre“ zu, deren Bezug auf die beanspruchte „Intuition des Absoluten“ und dessen Bestimmung „von sich, durch sich, in sich“ – Problemaspekte, die wohl allesamt in unterschiedlichen Nuancierungen auf jene kantische Differenz zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ (II 582 ff ) zurückgeführt werden können und den Grund dieser Unterscheidung festhalten. 311 Nur als Frage sei hier angemerkt, ob der späte Schelling in seiner beanspruchten Weiterführung der kantischen Vernunftkritik und mit dem darin erhobenen Vorwurf, Kant sei den Nachweis dafür schuldig geblieben, wie denn die beiden Vernunftideen „ens realissimum“ und „ens necessarium“ „aneinander grenzen“ (Schelling XIII, 168), nicht doch diese bedeutsame Unterscheidung zwischen dem grenzbegrifflichen „Gegenstand schlechthin … oder Gegenstand in der Idee“ (vgl. II 582 f ) ignoriert? Dies markiert nach Kant immerhin die „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ (II
3. Zur kritischen Konzeption des „symbolischen Anthropomorphismus“
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richtet, ob denn die in seiner „Vollendung des kritischen Geschäfts“ errichteten Halte signale womöglich gerade in der vom späten Schelling beanspruchten Weiterführung der Vernunftkritik übersehen bzw. erneut ignoriert werden – nicht zuletzt etwa in dem von Schelling geltend gemachten Sinne, Offenbarung als ein „von Gott gestiftetes Verhältnis“ zu begreifen.312 Indes, vielleicht führt jene schon wiederholt erwähnte denkwürdige Anleihe des späten Kant beim „älteren Platon“, der zufolge „in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen, ohne zu erblinden, … nicht möglich“ sei (III 388), in diesem Kontext noch einen Schritt weiter. Die Frage liegt jedenfalls nahe: Wäre jener daran geknüpfte Hinweis auf deren „Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft)“ im Ausblick auf nachkantisch ausgebildete Motive nicht auch in der weiterführenden Hinsicht aufzunehmen, dass jenes „Übersinnliche außer uns“ eben doch nur in je geschichtlich vermittelter und bestimmter Konkretheit für den menschlichen Geist offenbar werden kann? Solches Offenbar-Werden stünde so offenkundig unter der zweifachen Voraussetzung: Vorrangig bliebe, unter diesen kantischen Prämissen, darauf zu achten, dass jenes als „Reflexe“ des „Übersinnlichen außer uns“ bestimmte „Übersinnliche in uns“ genauer besehen doch der unhintergehbare Ausgangspunkt dafür ist, „wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird“, d. h. darin aber das geschichtlich bestimmte Verhältnis der menschlichen Vernunft zu dem vor-gestellten „Gegenstand in der Idee“ (nicht dem „Gegenstand schlechthin“) widerspiegelt. Dies setzt freilich jene unaufhebbare kritische Differenz zwischen dem „Gegenstand schlechthin“ und dem „Gegenstand in der Idee“ voraus – und zwar im Sinne des kritischen Gedankens eines in Differenz zu dem „Gegenstand in der Idee“ gedachten „unseren Begriffen sich entziehenden Grundes“ (II 591), der als von dem „Gegenstand in der Idee“ unterschieden gedacht wäre. Desgleichen verweist es – eben im Sinne der nachkantischen religionskritischen Reduktionsgestalten des Motivs, dass das Absolute (nur) im menschlichen Bewusstsein „offenbar“ wird, – auf den entscheidenden kantischen Gedanken, dass jene „theologische Idee“ als das unerlässliche „Substrat aller Theologie“ – gesetzt als „voraus-gesetzt“ – ausweisbar bleibt als der unverzichtbare „terminus a quo“, der freilich selbst in unaufhebbarer Differenz zu jenem vorausgesetzten „Etwas überhaupt“ steht, „wovon wir gar keinen Begriff haben, was es an sich selbst sei“ (II 601). 582); möglicherweise hat Schelling deren Bedeutung schon insofern verkannt, als er andernfalls auf dem von ihm beschrittenen Weg wohl kaum zu dem „bloß Existierenden“ in der Vermittlung von „negativer“ und „positiver Philosophie“ hätte gelangen können. Kurzum: Ob Schelling damit den kritischen Sinn dieser kantischen Unterscheidung (zuletzt „hypostasierend“?) jedoch nicht unterläuft? 312 Zweifellos ist nicht zuletzt auf Kant Hegels Kritik an dem „Standpunkt der verständigen Aufklärung“ gemünzt, „da für sie Gott jenseits ist und kein affirmatives Verhältnis zum Subjekt hat, stellt den Menschen abstrakt für sich hin, so dass er das affirmative Allgemeine nur, insofern es in ihm ist, anerkannt, aber es nur abstrakt in ihm hat und daher die Erfüllung desselben nur aus der Zufälligkeit und Willkür entnimmt“ (Hegel 17, 338). So zutreffend diese Kennzeichnung grundsätzlich auch ist, so wenig lässt sich im Blick auf Kant aufrechthalten, dass, ungeachtet aller „Dürftigkeit“ dieser Bestimmungen, die Gott zugeschriebenen Prädikate, wodurch dieser „ein zur Religion tauglicher Gottesbegriff“ wird, bloß der „Zufälligkeit und Willkür“ entnommen sind; sie sind vielmehr solche, die es allererst als ein „moralisch“ begründetes Verhältnis qualifizieren. Ungeachtet dessen bleibt die Frage, ob solche Kritik sich nicht aus Voraussetzungen speist, die mit Kants „Vernunftkritik“ und deren „Haltesignalen“ nicht so ohne Weiteres vereinbar sind.
612 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Bleibt der – in der Philosophie unumgängliche – „transzendentale Begriff von Gott“ als Vernunftidee solcherart unverzichtbares kritisches („negatives“, „nicht erweiternd[es]“: IV 268) Richtmaß für alle in den symbolischen Darstellungen begründeten Prädika tionen, so steht dieser, gemäß jener „subtilen Unterscheidung“, selbst in „absoluter Differenz“ zum „Gegenstand in der Realität“; dieser muss von dem „Gegenstand in der Idee“ her als – von ihr zu unterscheidendes – grenzbegrifflich „Gesetztes“ gedacht werden, worin dieser „Gegenstand in der Idee“ gewissermaßen selbst „weggedacht“ wird, weshalb jener „Gegenstand schlechthin“ als „negativ konstituiert“ zu begreifen ist (s. dazu o. I., 2.1.1.), ohne von diesem als „Urgrund“ vorausgesetzt gedachten „Etwas überhaupt“ überhaupt „einen bestimmten Begriff haben“ zu können (II 586) und ohne damit unkritische „Hypostasierungen“ zu begünstigen.313 So bestätigt sich: Dieser „symbolische Anthropomorphismus“ setzt selbst den in der „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ geltend gemachten Unterschied zwischen dem „Gegenstand schlechthin“ und dem „Gegenstand in der Idee“ – zwar ein „ziemlich subtiler Unterschied der Denkungsart“ (II 587), gleichwohl ein „großer Unterschied“ (II 583) in der Sache – voraus, wobei dieser „Gegenstand in der Idee“, wie erwähnt, selbst wiederum als „terminus ad quem“ jeder notwendigen Bestimmbarkeit im Sinne des kritischen „Anthropomorphismus“ fungiert und insofern als „Substrat aller Theologie“ vorausgesetzt ist. Derart ist die für die philosophische Theologie kennzeichnende „Letztbegründung“ in „kritizistischer Brechung“ aufbewahrt und gleichermaßen mit jenem Gefüge der „Vernunft ideen“ als dem Fundament der von Kant so bezeichneten „natürlichen Religion“ eng verknüpft. Noch einmal sei betont: Vom vernunft-immanent geleisteten teleologischen Aufweis dieses Gefüges der Vernunftideen bleibt indes die postulatorisch legitimierte Behauptung des „Daseins“ des in diesen Vernunftideen Gedachten, d. i. der „Gegenstand in der Realität“, noch genau zu unterscheiden. Kants wiederholter Hinweis darauf, dass in den „Vernunftideen“ selbst durchaus nichts „Unbegreifliches“, sofern diese „Produkte der Vernunft“ selbst sind, jedoch „in dem Wirklichen allein … Unbegreiflichkeit“ stattfinde (III 223, Anm.), bleibt auch im Blick auf die Kennzeichnung der (auf das „Dasein“ abzielenden) Postulate als der „Vernunft abgenötigte“ Voraus-Setzungen zu beachten. Innerhalb der kritischen Konzeption des „symbolischen Anthropomorphismus“ wären demnach folgende Differenzierungsschritte in gestufter Form zu rekonstruieren: Die als „Gegenstand in der Idee“ legitimierte „theologische Idee“ steht (im Sinne der von Kant geltend gemachten „ziemlich subtilen“ Unterscheidung zwischen „suppositio absoluta“ und „suppositio relativa“) in einer unaufhebbaren Differenz zum „Gegenstand schlechthin“ (als „Etwas überhaupt“), der jedoch in seiner unverzichtbaren grenzbegrifflichen Funktion selbst weder hypostasiert noch von jener „theologischen Idee“ (als dem höchsten „metaphysischen Gut“) absorbiert werden darf. Demzufolge beschränkt sich die von Kant vorgenommene differenzierte „Grenzbestimmung der Vernunft“ (III 224 ff ), auch nicht auf diese Einsicht eines „symbolischen Anthropomorphismus“, sondern muss ebenso darauf insistieren, dass die im Ausgang von diesem „Gegenstand der 313 Nicht zuletzt darauf wäre wohl das von Schelling eingeräumte „tiefe Gefühl“ Kants für „die Erhabenheit des allem Denken zuvorkommenden Seins“ (Schelling XIII, 163) zu beziehen.
3. Zur kritischen Konzeption des „symbolischen Anthropomorphismus“
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Idee“ kritisch-grenzbegrifflich vorausgesetzte Idee des „Gegenstandes schlechthin“ im Sinne einer „suppositio absoluta“ als – obgleich uneinholbarer – „terminus ad quem“ erhalten bleibt, wobei diese Unterscheidung selbst als eine notwendig der Vernunft „immanente“ anzusehen ist, worin sie sich selbst als „endliche“ erhält. Es wird sich zeigen: Dieser weder als „Meinungssache“ noch als „Tatsache“ zu rechtfertigende „Gegenstand in der Realität“ (bzw. „Gegenstand schlechthin“) kehrt in gewandelter Gestalt als jene der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“ wieder, als die er das Postulat des „Daseins Gottes“ bestimmt hat. Die Einsicht in diese unaufhebbare Differenz zwischen „suppositio absoluta“ und „suppositio relativa“, zwischen „Gegenstand in der Idee“ und „Gegenstand in der Realität“, wollte Kant als kritisches Ergebnis seiner Einsicht in die „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ verstanden wissen. Andererseits – gewissermaßen in umgekehrtem Richtungssinn – bleibt diese „theologische Idee“, im Sinne einer kritischen „negativen Theologie“, von ihrer „symbolischen Darstellung“ unterschieden, worin „Gott ein Gegenstand in der Religion wird“ bzw. ein für die „Religion tauglicher Gottesbegriff“ erst ausgebildet werden soll. Als „höchstes ursprüngliches Gut“ hat dieser „Gegenstand in der Idee“ selbst schon eine „symbolische Darstellung“ und darüber hinaus als „Urquell alles Guten …“ noch eine Präzisierung gefunden; die Bestimmung des „allein Heilige(n), de(s) allein Selige(n)“, des „allein Weise(n)“ (IV 263, Anm.) darf dann wohl als weitere religiös-ästhetische Ausformungen desselben verstanden werden. Diese dem Gott als „Gegenstand der Religion“ – in moralisch verankerten „Hin-Sichten“ – buchstäblich zugedachten verschiedenen Attribute behalten indes ihren bleibenden Einheitsgrund in dem voraus-gesetzten „Gott in der Idee“ als dem „theologischen Begriff des Urwesens“ (IV 265), auf den hin (als ihren „terminus ad quem“) sie in der solcherart gewahrten Differenz von der menschlichen Vernunft ausgesagt werden. Davon wird in recht unterschiedlichen Akzentuierungen auch noch im II. Band (bes. IV. Teil) die Rede sein. Indes, noch eine andere – gegenläufige – Problemperspektive ist im Kontext der voranstehend verfolgten Idee der „moralischen Teleologie“ und der daran geknüpften „Ethikotheologie“ nicht einfach zu übergehen. Denn auch verschiedene Gestalten des „Zweckwidrigen in der Erfahrung“ müssen in diese Idee einer „moralischen Teleologie“ integriert werden; damit verschärft sich naheliegenderweise auch jene „teleologisch“ orientierte Ausgangsfrage dieses III. Teiles: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“
4. „Zweckwidriges in der Erfahrung“: Eine unumgängliche theodizee-orientierte Erweiterung der Ethikotheologie
Zur Erinnerung: Jene fundamentalanthropologischen Erörterungen Kants über den Status des Menschen als des existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ und die daran anschließenden ethischen Überlegungen zum „System der Zwecke der Freiheit“ mündeten letztendlich in die den „Endzweck des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst“ (V 557), thematisierende Frage: „Wozu haben Menschen existieren müssen?“ (V 559, Anm.), also „warum die Welt und der Mensch selbst da ist“ (V 610). Erst darin findet auch die umgreifende Idee des „Reichs der Zwecke“ (IV 66 f ) ihren Abschluss; ihre Bestimmung als Einheit der „Zwecke der Natur“ und der „Zwecke der Freiheit“ hat im Lichte der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ und darüber hinaus in der noch späteren „Preisschrift“ über die „wirklichen Fortschritte in der Metaphysik“ noch eine besondere systematische Bedeutung gewonnen, worin sich auch, wie sich zeigen soll, das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ über die Orientierung an der „Idee des Ganzen aller Zwecke“ zur Frage nach dem „Sinn der Schöpfung“ zuspitzt und dadurch auch einen neuen Stellenwert gewinnt. Obgleich schon bei Kant jenes denkwürdige ethikotheologische Motiv, dass „ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste“ wäre (V 567), – auch – über den „praktischen Endzweck“ des Menschen unübersehbar hinausweist, so hat Schelling, in diesen systematischen Spuren Kants, dem noch eine besondere Radikalisierung verliehen, indem er dies zu der aus „so vielen schmerzlichen Lauten aus alter und neuer Zeit“ erwachsenen Frage zugespitzt hat: „Weit entfernt also, dass der Mensch und sein Tun die Welt begreiflich mache, ist er selbst das Unbegreiflichste, und er treibt mich unausbleiblich zu der Meinung von der Unseligkeit alles Seins […]. Gerade Er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweifelten Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?“314 In Anknüpfung an Kants „Weltbegriff der Philosophie“ (und die darin artikulierten „höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit“: II 441) gab Schelling damit diesen kantischen Motiven zugleich eine Wendung, die über alle „moralische Teleologie“ (und deren „Wozu“-Fragen) hinaus auf ein noch abgründigeres „Warum?“ verweist. Indes spricht vieles dafür, dass die Kants Gesamtsystematik durchziehende Idee einer „teleologia rationis humanae“ nunmehr unumgänglich auch darauf führt, dass ohne eine solche Frage die Vernunft zwar keine Befriedigung finden könnte, mit ihr jedoch erst 314 Schelling XIII, 7. In späteren Vorlesungen zur „Grundlegung der positiven Philosophie“ heißt es sodann in noch zugeschärfter Form: „Warum ist Sinn überhaupt, warum ist nicht Unsinn statt Sinn?“ (Schelling, 1972, 222).
4. Eine theodizee-orientierte Erweiterung der Ethikotheologie
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recht an ihren eigenen Abgrund gerät: Fragen gewissermaßen, derer man sich, in einer nunmehr noch einmal zugeschärften Weise, nicht „erwehren“ kann, sowenig sie zu „ertragen“ sind, zumal sie „alles unter uns“ zusammensinken lassen (vgl. II 543). Hatte sich der Begriff des „absolut notwendigen Wesens“ im Kontext theoretischer Vernunftansprüche gleichermaßen als unumgänglich und als „Abgrund der Vernunft“ erwiesen, so gerät dieses vom „Gängelband des Instinkts“ abgelöste und „zu sich selbst“ gekommene „vernünftige Weltwesen“ mit derlei unabweislichen – d. h. auch keine „Gleichgültigkeit“ erlaubenden – theodizee-sensiblen Fragen nunmehr erneut an den „Rand eines Abgrunds der [fragenden] Vernunft“ (VI 89). Ein dafür sensibles „Vernunftbedürfnis“ kann und darf sich, an „die Grenzen der (praktischen) Vernunft“ anstoßend, zweifellos nicht bloß mit dem zu befriedigenden Anspruch begnügen, „sich im Denken im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfülleten Raume des Übersinnlichen, lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren“ (III 271), erfährt es sich doch durch jene unabweislichen Fragen in „Abgründe“ von ganz anderer Art hineingezogen (s. u. III., 4.2.; VI., 1).
4.1. Ein ethikotheologischer Perspektivenwechsel: Das theodizee-geprägt radikalisierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ Eine Folgerung daraus wäre dies: Gewiss ist die den kantischen „Weltbegriff der Philosophie“ erst beschließende Frage nach dem „Endzweck der Schöpfung“ von dem durch die Idee einer „moralischen Teleologie“ inspirierten, gleichwohl durch den „Weltlauf … als die einzige Ordnung der Dinge“ gleichermaßen irritierten Widerfahrnis jenes „Es ist: als ob sie [die „Tugendhaften“] in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen“ (V 587)315 nicht abzulösen. Vom Widerfahrnis des „Nicht-seinSollenden“ ausgehend formiert sich dergestalt „ex negativo“ die Idee des „Sein-Sollenden“ und fungiert so gleichsam als die Negativ-Gestalt der an dem, was „dasein soll“, orientierten Idee der „moralischen Welt“. Ihre Explikation fordert die sensible Rücksicht auf den Status dieser hoffenden „Subjekte“ selbst und berührt somit die darin zutage tretende besondere Sinnintention dieser Hoffnung. Sind es doch die der „inneren Zweckbestimmung des menschlichen Gemüts“ (ebd.; s. dazu o. III., Anm. 187) zuwiderlaufenden einschlägigen Erfahrungen, die sich entsprechend den traditionellen Theodizee-Motiven sodann zu einer Gedankenfigur fügen, welche die Sinnintention der Ethikotheologie – und insbesondere den Status bzw. Anspruch der Gottesfrage selbst – noch unübersehbar verschärft. Die Thematisierung der die Theodizeefrage doch erst provozierenden Erfahrungen des „Zweckwidrigen“ ist in der „teleologia rationis humanae“ auch deshalb miteingeschlossen, weil die Konzeption der „Ethikotheologie“ durch das Widerfahrnis des „Zweckwidrigen“ (in der zweifachen Gestalt des „Übels“ und des „Bösen“: vgl. auch III 407 Anm.) 315 Dieser Intuition folgt offensichtlich auch ein Predigtentwurf des jungen Kantianers Hölderlin in seinem Bezug auf die „gewisse Hoffnung eines bessern Lebens. Der Gedanke gibt unaussprechlichen Mut, dass jede Kraft in uns, alles was wir duldeten und taten, fortwirke, dass wenn einst die Harmonie der seelenlosen Natur aufgelöst ist, die viel höhere Harmonie der sittlichen Welt beginnen werde“ (Hölderlin 1992, II 45).
616 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ notwendig erweitert wird und auf solche Weise jede theodizee-vergessene „Teleologie“ und auch das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ noch einmal „unterbricht“. Mit dem entsprechend dem Theodizee-Problem modifizierten ethikotheologischen Ausgang von dem „moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur“ (V 560) wandelt sich, angesichts der irritierenden mannigfachen Erfahrungen des „Zweckwidrigen in der Welt“, notwendigerweise auch der Gehalt jenes ethikotheologisch verankerten „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“. Dieses von Kant bezeichnenderweise – zeitlich und in sachlicher Hinsicht – an der Schwelle zur Theodizee-Abhandlung (in der abschließenden „Allgemeine[n] Anmerkung zur Teleologie“) thematisierte nicht zu befriedigende „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ erhält sein spezifisches Profil eben daraus, dass infolge einer solchen theodizee-geprägten Erweiterung auch jene „Zweckverbindung“ der „Vernunftideen des Übersinnlichen“ eine besondere Gestalt annimmt. Kants wiederholter Hinweis darauf, dass „Erfahrung … der Vernunft niemals völlig Gnüge“ tut (III 226; II 60), obgleich menschliche Vernunft „über alle mögliche Erfahrung hinaus von dem, was Dinge an sich selbst sein mögen, keinen bestimmten Begriff“ haben kann, verlangt so, im Ausgang von diesen durch Widerfahrnisse abgründiger „Negativität“ sensibilisierten praktischen Vernunftansprüchen, noch eine besondere Akzentuierung – und zwar im Sinne einer gemäß dem „Primat des Praktischen“ gewendeten Begründungsfigur und der darin maßgebenden „praktischen Vernunftideen“: Dass „Erfahrung der Vernunft niemals völlig Gnüge tut“ und, ungeachtet des theoretischen Vernunftbedürfnisses, das „Übersinnliche“ doch „ungeschaut“ bleibt, verbindet sich, wie es bezeichnenderweise in Kants Theodizee-Aufsatz heißt, mit dem, „was Erfahrung an dieser Welt zu erkennen gibt“ (VI 114), und artikuliert sich daraus konsequenterweise „ex negativo“ in der Gestalt des „Vermissens“, des „Versagten“ und des un-erhört Gebliebenen. In einer derartigen „Brechung“ und Zuschärfung müssen jene frühe Ausschau nach einem „Quell von positiven Erkenntnissen …, welche ins Gebiete der reinen Vernunft gehören“, und die damit verbundenen Enttäuschungen in neuem Licht erscheinen, die in diesem Theodizee-Kontext deshalb noch einmal angeführt werden sollen: „Denn welcher Ursache sollte sonst wohl die nicht zu dämpfende Begierde, durchaus über die Grenze der Erfahrung hinaus irgendwo festen Fuß zu fassen, zuzuschreiben sein? Sie [die „reine Vernunft“] ahndet Gegenstände, die ein großes Interesse für sie bei sich führen. Sie tritt den Weg der bloßen Spekulation an, um sich ihnen zu nähern; aber diese fliehen vor sie. Vermutlich wird auf dem einzigen Wege, der ihr noch übrig ist, nämlich dem des praktischen Gebrauchs, besseres Glück für sie zu hoffen sein“ (II 670). Indes, werden diese so eindringlichen vernunft-kritischen Sätze aus dem „Kanon der reinen Vernunft“ im Lichte jenes späten Hinweises auf das „in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft)“ gebrochen dargestellte „Übersinnliche“ (vgl. III 388) sowie im Blick auf die daran geknüpften beiden anderen „Ideen des Übersinnlichen“ gelesen, so wird daraus ein Anspruch vernehmbar, der alle bloßen „Ahnungen des Übersinnlichen“ hinter sich lässt. Aus diesen – solcherart theodizee-sensibel gebrochenen – „Reflexen des Übersinnlichen“ speisen sich jedenfalls auch die gleichsam in die „moralische Weltweisheit“ als „negative Größen“ eingeschriebenen Kategorien des
4. Eine theodizee-orientierte Erweiterung der Ethikotheologie
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Vermissens, des Verlustes und der Trauer.316 In durchaus „uneigennütziger Willensbestimmung“ wäre so auch dem Rat Hölderlins: „Deswegen sollte alles Erkennen vom Studium des Schönen anfangen – denn der hat viel gewonnen [sic!], der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern“,317 an der Seite des Psalmisten die Frage unbeirrt entgegenzuhalten: „Warum, Herr, stehst du so ferne, verbirgst dich in Zeiten der Not?“ (Psalm 10,1). Im Sinne einer entsprechend erweiterten ethikotheologischen Konzeption spricht deshalb vieles dafür, das Theodizee-Thema näherhin innerhalb jener Idee einer „moralischen Teleologie“ zu verorten; dies verlangt freilich, angesichts des derart einbezogenen „Zweckwidrigen in der Welt“ (VI 106), eine entscheidende Modifikation derselben. In solcher Einbindung der von Kant dergestalt – gegenüber den traditionellen Gestalten der „doktrinalen Theodizee“ – geltend gemachten Idee der „authentischen Theodizee“ in die umgreifende Idee der „moralischen Teleologie“318 wird jedenfalls deren enger Zusammenhang mit der Hoffnungsthematik in besonders eindringlicher Weise erkennbar; ohne sie müsste auch jener dem „rechtschaffenen“ Menschen in den Mund gelegte moralische Sinn-Überschuss nicht nur unausgewiesen, sondern zuletzt überhaupt unverständlich bleiben. Näherhin bedeutet dies, dass eine der Radikalität jener negativitäts-sensiblen Erfahrung des „Es müsse anders zugehen“ standhaltende Ethikotheologie sich selbst demgemäß wandeln muss; es ist der darin explizierte – dem „doktrinalen Glauben“ gegenübergestellte und in einem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ verankerte – authentisch-„moralische Vernunftglaube“, der solche Herausforderung durch das Theodizee-Thema ohnedies als besonderen Stachel spürt. Wenn die von Kant beanspruchte „Authentizität“ dieser Theodizee von jenem „Urteilen-Müssen“ (III 274) des unbedingten „praktischen Vernunftbedürfnisses“ nicht nur nicht abgelöst werden kann, sondern darin geradezu verwurzelt ist, so betrifft dies in der Folge auch den Status der Hoffnung und des „moralischen Glaubens“ als eines „freie(n) und in moralischer Absicht der Vollendung seiner Zwecke notwendige(n) Fürwahrhalten(s)“ (III 498, Anm.) auf eine Weise, die auch die Ansprüche einer dem „doktrinalen Glauben“ immanenten „doktrinalen Theodizee“ keineswegs nur beiläufig berührt.319 Schon daraus mag deutlich werden: Die auf den Aufweis des unauflöslichen Zusammenhangs der leitenden Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ (und somit der inneren Verknüpfung zwischen „praktischem Endzweck“ und „Endzweck der Schöp316 Erst recht in solchem Richtungssinn wären Kants Überlegungen, die „negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“, aufzunehmen. 317 Hölderlin 1992, II 60. 318 Wie eng Kants Idee einer „authentischen Theodizee“ der Sache nach mit dem Kern seiner Leitidee einer „moralischen Teleologie“ verbunden ist, belegt jene schon zitierte Anmerkung seines Theodizee-Aufsatzes (VI 111, Anm.). 319 Die nachfolgenden Überlegungen versuchen „im Ausgang von Kant“, seine späte ethikotheologische Konzeption mit den leitenden Motiven seiner Idee einer „authentischen Theodizee“ zu einer weiterführenden religionsphilosophischen Begründungsfigur zu verknüpfen. Auch wenn sich dieser Interpreta tionsversuch nicht auf den Wortlaut der kantischen Texte selbst berufen kann, sollen die daraus resultierenden Motivlinien gleichwohl als „kantianisch“ gelten dürfen. Diese (den III. Teil und auch den 1. Band abschließenden) Überlegungen stehen thematisch freilich in engem Zusammenhang mit dem den 2. Band abschließenden VI. Teil.
618 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ fung“) gestützte ethikotheologische Begründungsfigur der „dritten Kritik“ legt in solcher Einbindung des (nahezu zeitgleich erschienenen) Aufsatzes „Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ (aus dem Jahr 1791) eine derartige Neuakzentuierung tatsächlich nahe. Ihr gemäß stellt die Verknüpfung der Weltstellung des Menschen als des „existierenden Endzwecks der Schöpfung“, der Idee des „praktischen Endzwecks“ desselben, des „Endzwecks aller Dinge“320 und gleichermaßen des „Zweckwidrigen in der Welt“ mit derjenigen der „moralischen Weisheit des Welturhebers“ offenbar eine besondere Herausforderung dar. Es ist, wie sich zeigen soll, keineswegs lediglich der Umstand, dass die durchaus gemischte Erfahrung des „Zweckmäßige(n) und Zweckwidrige(n)“ in dem „Maschinenwerk dieser Welt“ die physikotheologische Beweislast überfordert (abgesehen von der völligen Untauglichkeit, physikotheologisch einen „Endzweck der Schöpfung“ ausweisen zu wollen), d. h. physikotheologische Ansprüche eben schon deshalb unvermeidlich ins Wanken bringt. Kants Theodizee-Aufsatz zufolge ist nicht allein das Ansinnen zum Scheitern verurteilt, „die höchste Weisheit Gottes aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt lehrt“, zu beweisen (VI 106);321 ebenso wenig hält, so seine entschiedene These über das „Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“, der bloße – anders orientierte – Anspruch einer philosophischen Theodizee vor dem unbestechlichen „Gerichtshof der Vernunft“ stand. Denn auch das lediglich „negative Geschäft“ einer „Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers …“ (VI 105) sei zum Scheitern verurteilt und führe zugleich endgültig vor Augen, dass „alle bisherige Theodizee das nicht leiste, was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen gibt, gemacht werden, zu rechtfertigen [!]“ (VI 114). Die wohl schärfste Absage an die Ansprüche einer „doktrinalen Theodizee“ hat Kant sodann in den Satz konzentriert, „dass unsere Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend sei“ (VI 320 Mit Recht merkt Schulte (1991a, 384) an: „Dass das höchste Gut Endzweck aller Dinge, auch der Natur, und nicht nur der Endzweck der praktischen Vernunft sei, hat Kant erst in der Ethikotheologie und damit der moralischen Teleologie der Kritik der Urteilskraft voll entwickelt“; die damit verbundene Problemvertiefung indiziert vielleicht auch eine Verunsicherung über den genauen Status der vormals geltend gemachten „Antinomie der praktischen Vernunft“ (vgl. dazu ausführlich Milz 2002). Darin spiegelt sich der Sachverhalt wider, dass auch die Idee des „Reichs der Zwecke“ erst in der „dritten Kritik“ ihre umfassende systematische Einlösung findet. 321 Hier sei noch einmal eigens betont: Nicht die Entscheidung über das „Dasein Gottes“ (dessen „Beweisbarkeit“), sondern die „Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt“ erhebt und die Prüfung des „Für und Wider“ der Argumente sind das eigentliche Thema der „Theodizee“. Schon hier sei – mit Blick auf das von Kant diagnostizierte „Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ und seine (ihnen entgegengesetzte) Idee einer „authentischen Theodizee“ – auf die grundlegende Schwierigkeit hingewiesen, dass jedwede „Theodizee“ den Erweis des „Daseins Gottes“ doch schon voraussetzen („unterstellen“) muss – eben dies ist nach Kant bekanntlich eine philosophisch nicht ausweisbare Prämisse, zumal dieses „Dasein Gottes“ erst über den auszuweisenden „Vernunftglauben“ und dessen „praktisch notwendige Voraussetzungen“ „postulatorisch“ zu legitimieren ist. Deshalb liegt dann die Rückfrage an Kant nahe, wie unter solchen „kritizistisch“ unumgehbaren Vorzeichen seine späte Bestimmung der „Theodizee“ als einer „Glaubenssache“ zu verstehen ist und eine zirkuläre Argumentation vermieden werden kann?
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115).322 Gleichwohl wird auch zu prüfen sein, ob diese von Kant vollzogene – dem Anspruch nach aus einem Gerichtsverfahren abgeleitete – radikale Abrechnung mit traditionellen Gestalten der von ihm so bezeichneten „doktrinalen Theodizee“ auch tatsächlich stichhaltig ist (s. u. III., 4.2.3.) und nicht vielmehr auch schwerwiegende Problemvermengungen erkennen lässt.323 Noch etwas sei hier – und zwar am Ende des gesuchten „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ und dem „Endzweck der Metaphysik“, d. h. „Gott, worauf der Zwecke eigentlich geht“ (III 629) – vergegenwärtigt: Im Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ hat Kant, wie erwähnt, „Theologie und Moral“ als die „beiden Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“ benannt, „denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat“ (II 709). Dies sah er erst mit jenem auf gesichertem Boden vollzogenen „praktisch-dogmatischen Überschritt“ und gemäß der in einer „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“ zutage tretenden „Zweckverbindung“ „realisiert“, weshalb auch das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ erst darin seine vollständige systematische Entfaltung findet. Das in Kants Theodizee-Aufsatz angesprochene „Zweckwidrige in der Erfahrung“ nötigt solcherart nicht nur zu einer Modifikation der zugrunde liegenden Idee einer „moralischen Teleologie“ (und auch der Idee des „höchsten Gutes“), sondern nuanciert auch seine frühe Kennzeichnung von „Theologie und Moral“ als die beiden „Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“ auf besondere Weise, zumal sich mit jenem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ auch die darin verwurzelte Hoffnungsfrage wandelt und derart nicht zuletzt die Frage nach deren „terminus ad quem“ noch eine radikale Zuschärfung erhält. Dabei soll sich zeigen: Jener „noo-theologisch“ genannte Zusammenhang der „Zweckverbindung der Ideen des Übersinnlichen“ (worin „endliche Vernunft“ sich selbst „erhält“) mit der Gottesthematik (als der jener „Zweckverbindung“ angemessenen „Quelle“: s. o. III., 2.2.) erhält vor solchem Hintergrund eine eigentümliche Akzentuierung, der zufolge jenes als „drittes Stadium der Metaphysik“ bezeichnete Stadium der „Theologie“ notwendigerweise erweitert werden muss. Kant hat offenbar das Bewusstwerden des unabweislichen Theodizee-Problems und gleichermaßen die Einsicht in das „Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ als ein der „Geschichte der reinen Vernunft“ zugehöriges bzw. daraus hervorgehendes Resultat angesehen.324 Dieses vernunftkritische Ergebnis wäre somit selbst 322 Eine detaillierte Analyse der kantischen Kritik der Leibniz’schen Theodizee-Konzeption hätte dabei auch Kants Kritik der Leibniz/Wolff’schen Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ miteinzubeziehen. 323 Busche (2013, 239) stellt wohl nicht ohne Grund fest, „dass die in der Literatur fast durchgängig zu findende praesumtio juris, Kants Theodizeekritik müsse im Wesentlichen zutreffend sein, zu den größten Fehleinschätzungen bei der philosophischen Beurteilung der Reichweite und Leistung der Kant’schen Kritik geführt hat.“ S. dazu die unten (III., 4.2.3.) weithin im Anschluss an Busche vorgebrachten Bedenken. 324 Insofern kann die von J. Brachtendorf vertretene Ansicht nicht überzeugen, der zufolge „Kant
nur gegen eine rein theoretisch-spekulativ vorgehende Theodizee argumentiert, die Möglichkeit einer moralischpraktisch fundierten Zurückweisung der Einwürfe gegen die moralische Weisheit Gottes hingegen offen hält“ und sein „vermeintlicher Beweis der Unmöglichkeit jeder Theodizee in Wahrheit nur ein Argument gegen die Möglichkeit eines Erfahrungsbeweises für das Wirken Gottes in der Welt darstellt“ (Brachtendorf 2002, 59). Dass es Kant nicht um eine „Ablehnung, sondern um eine Neufundierung der Theodizee“ zu tun sei, die nur „auf dem Boden der kritischen Philosophie durchgeführt“ werden könne (ebd. 73 f ),
620 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ noch innerhalb des mit seiner „Vernunftkritik“ erreichten „dritten“ und letzten Stadiums zu verorten, das so in einer besonderen Hinsicht zugleich jene „Idee einer moralischen Teleologie“ „abschließt und krönt“ und auch jene „Selbsterhaltung der Vernunft“ (und somit das „Interesse der Vernunft“ an sich selbst) in einem neuen Licht erscheinen lässt. Dass Kant in dem (kurz nach der „dritten Kritik“ veröffentlichten) Theodizee-Aufsatz ausdrücklich den Aspekt der „Zweckwidrigkeit“ selbst („ex negativo“) der Idee der „moralischen Teleologie“ einschreibt, entspricht dem recht genau. Jene im Kontext der kantischen Bestimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ auftretende bedrängende Erfahrung: „Es ist, als ob sie eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen“ (V 587), findet im Sinne dieses Motivs einer „authentischen Theodizee“ somit selbst innerhalb der Idee einer „moralischen Zweckmäßigkeit“ ihren „natürlichen“ Ort gemäß der „Ordnung der Zwecke“. Aus der gebotenen Rücksicht darauf, dass Kants Theodizee-Aufsatz das Widerfahrnis des „Zweckwidrigen in der Welt“ (VI 106) gewissermaßen in die Idee der „moralischen Teleologie“ integriert bzw. diese entsprechend erweitert, resultiert eine Motivkonstellation, die an jene unauflösliche „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ anknüpfen lässt und zugleich dieses „Gefüge“ dennoch radikal verändert. Die aus dem Widerfahrnis des „Welt- und Naturlaufs“ abgenötigte Betroffenheit darüber, dass „die Geschichte des menschlichen Geschlechts“ ein „unaufhörlicher Einwurf“ gegen die „Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung“ (VI 49) zu sein scheint, ebenso die Natur immer wieder in geradezu monströs anmutender Weise aus den Fugen gerät (in der Tat den Eindruck einer „bloßen Wüste“ erweckt), erschüttert gleichermaßen jenes „Gefüge“ der Vernunftideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“. Davon kann, unter solchen Vorzeichen, auch der Sinngehalt dieser „Ideen des Übersinnlichen“ und deren Verhältnis zueinander nicht unberührt bleiben. Derart tritt nun auch eine besondere Steigerung zutage, die jenen „Kardinalsatz: Es ist ein Gott“, aber auch das in den Fragen „Ist ein Gott?, ist ein künftiges Leben?“ (II 676) eigentlich Erfragte – d. h. aber auch: das darin Vermisste – und das darin leitende „praktische Interesse der reinen Vernunft“ noch zuschärft (s. u. VI., 1.). Denn das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ jenes „Rechtschaffenen“, dessen „Denkungsart“ „Aufrichtigkeit“ und „Redlichkeit“ in sich vereint, vermag in jenem „Kardinalsatz“ und in den daran geknüpften Fragen noch keine Befriedigung zu finden. Vielmehr nimmt es den Anspruch: „Es gibt nur einen Ausdruck für die Wahrheit: den Gedanken, der das Unrecht verneint“,325 und er eine „moralisch-praktische Theodizee“ (ebd.) durchaus für möglich hielt, lässt sich wohl nicht aufrechterhalten. 325 Horkheimer/Adorno 1969, 195 f. – Nun steht auch diese Wendung Horkheimers in direktem Bezug auf Kant, die zugleich einschlägige motivliche Verkürzungen der Postulatenlehre verwirft: „Wenn ich beschreiben sollte, warum Kant am Gottesglauben festgehalten hat, so wüßte ich keinen treffenderen Hinweis als den auf eine Stelle bei Victor Hugo. Ich zitiere sie, wie sie mir in der Erinnerung haftet: Eine alte Frau geht über die Straße; sie hat Kinder erzogen und Undank geerntet, gearbeitet und lebt im Elend, geliebt und ist allein geblieben. Aber sie ist fern von allem Haß und hilft, wo sie kann. Jemand sieht sie ihren Weg gehen und sagt: ‚Ca doit avoir un lendemain‘, das muss ein Morgen haben. Weil sie nicht zu denken [d. h. wohl: mit Zustimmung zu denken, d. i. zu wollen] vermochten, dass das Unrecht, das die Geschichte beherrscht, endgültig sei, haben Voltaire und Kant einen Gott gefordert, nicht für sich selbst. Das höchste Gut im Jenseits ist die Verlängerung des Ziels, das sie im Diesseits sich stellten. In dem Begriffe von Gott und Sittlich-
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als einen bleibenden Stachel gerade in diesem Kontext einer „authentischen Theodizee“ wahr und verschärft so auch den Anspruch jener in einem „praktischen Vernunftinteresse“ verwurzelten Fragen. Freilich, zu einem keineswegs vermessenen „Machtspruch der Vernunft“ hat sich der darin artikulierte Anspruch in diesem Theodizee-Kontext nunmehr erhoben. Sind es doch jene benannten „Abgründe“, die ein „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ an deren Grenzen evozieren – jedenfalls dann, wenn „vernünftige Weltwesen“ „den Weltlauf einmal als die einzige Ordnung der Dinge ansahen, womit sie wiederum jene innere Zweckbestimmung ihres Gemüts nicht zu vereinigen wussten“ (V 587), und jenes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ gemäß der in der „teleologia rationis humanae“ fundierten „moralischen Teleologie“ gleichwohl die Unmöglichkeit einer positiven Beantwortung einräumen muss. So zeigt sich aber auch, dass jener „Machtspruch der Vernunft“ zunächst als ein solcher der „reinen praktischen Vernunft“ gegen jene „naturalistische“ Nivellierung bzw. Vergleichgültigung gerichtet ist, welcher der normativ taube „Weltlauf … als die einzige Ordnung der Dinge“ gilt (V 587), zumal in „der Natur … alles“ bloß ist und mithin eben auch „von keinem Soll in ihr die Rede“ ist (VI 341). Indes, über diesen trostlosen Blick auf den „Lauf der Welt nach der Ordnung der Natur“ hinaus bringt sich dieser „Machtspruch“ – als derjenige der „moralisch-gläubigen Vernunft“ – als Widerstand gegenüber jenen „nihilistischen“ Tendenzen jenes „Vernunftunglaubens“ zur Geltung, der es sich selbst geradewegs zur „Maxime“ macht, die „Zwecke der Vernunft“ selbst als bloß „chimärisch“ zu entlarven und damit zuletzt das „Interesse der Vernunft an sich selbst“ als „nichtig“ zu dementieren. Derart, so soll sich zeigen, verschmilzt jene wahrgenommene unbestechliche „Stimme, es müsse anders zugehen“, in eigentümlicher Weise mit der Sprachlosigkeit jenes „tiefen Stillschweigens der Vernunft“ (s. u. VI., 1.2.1.) zu einem aus „Vernunft, Herz und Gewissen“ (IV 813) gespeisten – un-erhörten – Anspruch, der diese theodizee-nahen Fragen letztendlich als den eigentlichen Glutkern der kantischen Ethikotheologie verstehen lässt.326 Als ein solcher müsste das Theodizee-Thema erst einmal wahrnehmbar werden – jedenfalls dann, wenn diese Ethikotheologie, in einem unverkürzten Sinne und gemäß der „fortgehenden Kultur“, als der „Versuch“ genommen wird, „aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur … auf jene [„übersinnliche“] Ursache und ihre Eigenschaften zu keit entdecken sie die eigene Gesinnung wieder, wie in dem von der Natur den eigenen Verstand“ (ebd.). – Es wäre dies einer solchen Lesart zufolge – „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und dennoch auf eine Weise, die noch in Kants Verweis „aufs Moralische“ als „letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft“ (II 674), mitgehört werden muss – gewissermaßen eine kantische „Übersetzung“ des paulinischen „Wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss“ (Gal 5,5). Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass sich Horkheimers Argumentation genauer besehen nicht so ohne Weiteres auf Kant berufen kann. 326 Der darin sich artikulierende Anspruch verweist – sowohl in seiner Intention als auch seiner „Intensität“ – freilich auf eine Dimension von „schlechthiniger Zweckwidrigkeit in der Erfahrung“ (aus Geschichte und Natur), die sich gewiss noch nicht darin erschöpft, dass „selbst für den, der, wie es heißt, lebenssatt stirbt, … der Tod und der Verfall des Körpers zum Tode hin ein Skandalon“ ist (Henrich, in: Langthaler/ Hofer 2010, 311). So unzweifelhaft ein solches „Skandalon“ an den Sinn „der Buchstaben der Schöpfung“ rührt, so weisen jene angezeigten Dimensionen des schlechthin „Sinnwidrigen“ darüber doch noch hinaus. Hier wäre an die von E. Angehrn (2010) jüngst vorgelegten differenzierten Analysen zu „Sinn und Nicht-Sinn“ (diesbezüglich besonders über „Widersinn und Negativität“: ebd. 296 ff ) anzuknüpfen.
622 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ schließen“ (V 560). Dergestalt hätte das in Kants „Weltbegriff der Philosophie“ explizierte Gefüge der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns“ und „nach uns“, das dem Gesagten zufolge den Grundriss der kantischen Religionsphilosophie darstellt, wohl eine wesentliche Vertiefung gefunden. Eine Einbindung der „Theodizee“-Thematik stünde damit freilich in einem unablösbaren Bezug zur Frage nach dem „Endzweck der Schöpfung“ und somit danach: „Warum haben Menschen überhaupt existieren müssen?“ 4.1.1. Das gemäß dem unbedingten „Urteilen-Müssen“ opfer-orientiert zugeschärfte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ Wenn die kantische Idee des „höchsten Gutes“ in der praktischen Vernunftidee der „moralischen Welt“ verwurzelt ist, dann ist, im Blick auf die Kennzeichnung der „allgemeinen Glückseligkeit“ als Gegenstand der Hoffnung sowie in gebotener Rücksicht auf das unverkürzte „Interesse der Menschheit“, diese Konzeption des „praktisch notwendigen Zwecks“ gemäß einer opfer-orientierten Perspektive zu erweitern. Erst dies genügte der „praktischen Idee“ einer „moralischen Welt“, „in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre“327; für sie müsste demnach („e contrario“) jene erwähnte Unmöglichkeit gelten, wonach nicht mit Zustimmung zu denken sei, „dass das Unrecht, das die Geschichte beherrscht, endgültig sei“.328 Jenes Motiv Adornos, dass es „nur einen Ausdruck für die Wahrheit“ gibt: „den Gedanken, der das Unrecht verneint“, fügt sich wohl auch in diesen engeren Kontext. Auch auf Adornos berühmtes Diktum sei in diesem Kontext verwiesen: „Die Kantische Rettung der intelligiblen Sphäre ist nicht nur, wie alle wissen, protestantische Apologetik, sondern möchte auch in die Dialektik der Aufklärung dort eingreifen, wo sie in der Abschaffung von Vernunft selbst terminiert. […] Es [d. i. das „Unsterblichkeits“-Postulat] verurteilt die Unerträglichkeit des Bestehenden und bekräftigt den Geist, der sie erkennt. Dass keine innerweltliche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; dass keine ans Unrecht des Todes rührte, bewegt die Kantische Vernunft dazu, gegen Vernunft zu hoffen. Das Geheimnis seiner Philosophie ist die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung.“329 Gemeinsam mit seiner Charakterisierung des kantischen Systems 327 Adorno 1966, 395. Nicht zufällig steht diese Bemerkung Adornos im weiteren Kontext seiner kritischen motivlichen Bezugnahme auf Kants Postulatenlehre; diese von Adorno erwähnte „Idee [!] einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre“, lässt sich in der Tat als eine opfer-zentrierte und entsprechend der „authentischen Theodizee“ modifizierte Version der kantischen Idee der „moralischen Welt“ buchstabieren, d. h. der „Welt, so fern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre (wie sie es denn, nach der Freiheit der vernünftigen Wesen, sein kann, und, nach den notwendigen Gesetzen der Sittlichkeit, sein soll)“ (II 679). 328 Horkheimer 1985, 212. 329 Adorno 1966, 377 f. – Die Nähe zu Kants Motiv der „Verzweiflung der Vernunft an sich selbst“ – ebenso zu seiner Kennzeichnung des „Unglaubens“ als Selbstdementierung des „Bedürfnisses der Vernunft“ (s. u. IV., 3.1.3.) – ist nicht zu übersehen. Freilich, in derlei Verzweiflung artikuliert sich gerade das Gegenteil jenes bloß „vorübergehende(n) Unsinn(s) eines Hoffnungslosen“, den Kant in seinem frühen „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“ (I, 898) feststellt. – Es hat sich erwiesen: Adorno war offen-
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als eines solchen von „Haltesignalen“330 ist jene von Kant diagnostizierte Gefahr einer „Verzweiflung der Vernunft an sich selbst“ (III 668) solcherart von Adorno wohl recht zutreffend charakterisiert und gewinnt so auch mit Rücksicht auf Kants Gesamtsystematik einen recht präzisen Sinn, der in einer derartigen motivlichen Konfiguration wohl besondere Beachtung verdient.331 Auch folgender Sachverhalt ist im Blick auf die derart erweiterte Ethikotheologie erinnernswert: Zunächst bereitete Kants Hinweis auf die „Strafwürdigkeit“ als jenes besondere „Etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ (IV 150) in Kants „zweiter Kritik“ gewissermaßen die Konzeption des „höchsten Gutes“ vor (s. u. IV., 2.1.1.). Gegenüber der im engeren ethikotheologischen Kontext sodann in den Vordergrund gerückten Diskrepanz, dass der Mensch „für seine Tugenden kein Glück, oder für seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe“ (V 587), werden nunmehr jedoch noch andere Aspekte maßgebend, die offenbar die motivlichen Akzente unübersehbar verschieben: So erscheint in dem kurz danach erschienenen Theodizee-Aufsatz erneut das Motiv der „Strafwürdigkeit“ bzw. der „Strafgerechtigkeit“ als eine vorrangige Perspektive, die in einer solchen theodizee-orientierten Akzentuierung ein besonderes „Vernunftbedürfnis“ zur Geltung bringt und so jene maßgebende „teleologia rationis humanae“ auf entscheidende Weise ergänzt. Indes, die Kehrseite des in diesem Theodizee-Kontext geäußerten denkwürdigen Hinweises, wonach „die Klage über den Mangel einer Gerechtigkeit, die sich im Lose, welches den Menschen hier in der Welt zu Teil wird, zeige, nicht darauf [gehe], dass es den Guten hier nicht wohl, sondern dass es den Bösen nicht übel geht“ (VI 108 Anm.), ist nunmehr nicht etwa der Bezug auf eine „Glückswürdigkeit“, sondern die besondere Sensibilität für das „Leid des Gerechten“ und für das einem „blinden Naturlaufe“ zuzuschreibende Los unschuldiger Opfer. Dies ist, genauer besehen, diejenige Version des „höchsten Gutes“, welche in der an Kants Ethikotheologie anschließenden Theodizee-Abhandlung im Ausgang von den verschiedenen Gestalten des „Zweckwidrigen in der Erfahrung“ zunächst in den Vordergrund rückt, während jener in der ethikotheologischen Argumentation noch als „unvermeidlich“ mitbenannte Aspekt, dass ein Mensch „für seine Tugenden kein Glück“ (V 587) gewinnt, nunmehr nicht bloß hintangestellt, sondern der Sache nach überhaupt abgewertet wird (VI 108 Anm.).332 Es ist aufschlussreich, dass jene zunächst maßgebende Orientierung an der „Strafgerechtigkeit“ auch die im Theodizee-Kontext zentrale opfer-orientierte Perspektive in sich enthält – ein ganz besonderer Aspekt einer notwendigerweise erweiterten „morabar sensibel für diesbezügliche verborgene bzw. „unerschöpfte“ Sinnpotenziale der kantischen Postulatenlehre und verknüpfte dies mit einem frühen Motiv Benjamins über die „verzweifelte Hoffnung“. 330 Adorno 1966, 380. 331 Adornos Vorlage, Ad Klage Dr. Fausti, erlaubt solche Lesart: „Die Idee der Klage der Kreatur, die vom Subjekt ihren Ausgang nimmt aber immer mehr sich ausbreitet und gleichsam den Kosmos ergreift … Der rein symphonische Satz als Klage Gottes: ich habe es nicht gewollt … Die Idee, dass das fragend Negative als Allegorie der Hoffnung steht“ (Adorno 2002, 160 f ). 332 Mag dies, so scheint Kants Argumentation nunmehr zu besagen, zwar nicht mit Zustimmung gedacht (d. h. als „moralische Ordnung“ gewollt) werden können, so verlangt indes der eben empörende Sachverhalt den entschiedenen Einspruch, dass der moralisch Böse „für seine Verbrechen keine Strafe“ findet – und die Kehrseite davon ist eben der gleichermaßen empörende Blick auf das „Leid des Gerechten“.
624 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ lischen Teleologie“, der wohl auch in Kants beiläufigem Hinweis anklingt, dass es sich „von dieser Zweckmäßigkeit in der Welt fragt …, ob jedem in der Welt hierin sein Recht widerfährt“ (VI 107). Es soll sich zeigen: Die aus einem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ gespeiste, keineswegs bloß „selbst-besorgte“ Frage „Ist ein künftiges Leben?“ gewinnt so als die bedrängende Frage nach dem Los des „leidenden Gerechten“ bzw. seiner erhofften „Rettung“ neue Gestalt. Genauer noch wäre wohl zu sagen: Der Rekurs auf die Erfahrung des „schlechthin [d. i. „moralisch“] Zweckwidrigen in der Welt“ legt die zweifache Hinsicht nahe, dass dies auf die „Strafgerechtigkeit“ und gleichermaßen auf die „Opfer-Perspektive“ zu beziehen ist – und folglich verlangt auch jene Rücksicht, „ob jedem in der Welt hierin sein Recht widerfährt [!]“ (VI 107), diese zweifache Hinsicht, die solcherart die beiden Aspekte des gerechten Urteils und der „Rettung“ in sich vereint, in solcher Orientierung an den Opfern deren „Subjekt“-Status in der zweifachen Bedeutung „innerlich“ macht und ihnen auch nur so „gerecht“ wird.333 Das in jener wahrgenommenen „Stimme …, es müsse anders zugehen“ (V 587), sich äußernde „Vernunftbedürfnis“ ist demzufolge vornehmlich darauf zu beziehen: „Es ist merkwürdig, dass unter allen Schwierigkeiten, den Lauf der Weltbegebenheiten mit der Göttlichkeit ihres Urhebers zu vereinigen, keine sich dem Gemüt so heftig aufdringt, als die von dem Anschein einer darin mangelnden Gerechtigkeit“ (VI 111, Anm.) – ein erfahrenes Defizit, das in der „fortgehenden Kultur“ sich selbst läutert und gleichermaßen zuschärft, sofern seine besondere „Aufdringlichkeit“ doch wohl aus dem irritierten Blick auf das „Leid des Gerechten“ erwächst. Jenes denkwürdige „[E]twas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ (IV 150), das zunächst eine erste – gewissermaßen „strafgerechtigkeits“bezogene – Akzentuierung der Postulatenlehre in den Vordergrund rückte, wird solcherart für die Endgestalt der Ethikotheologie bestimmend. Jenes „[E]twas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ impliziert so unverkennbar eine opfer-orientierte Hinsicht,334 die im Sinne des jener „moralischen Teleologie“ zuletzt eingeschriebenen „Theodizee“-Motivs somit auch eine Modifikation jenes „praktisch notwendigen Zwecks“ erfordert. Den „Rechtschaffenen“ in dieser elementaren Hinsicht Recht zu verschaffen – ebendies war wohl auch in jenem frühen Hinweis auf jenes „Etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ (IV 150) schon mitenthalten und weist in diesem Theodizee-Kontext dennoch da333 Im Blick auf die eigentümliche Ambivalenz, die bekanntlich nach Freud der „illusionären“ Gottesvorstellung innewohnt, wäre Kants Argumentationsfigur in „ent-psychologisierender“ Absicht demgegenüber auch so zu verstehen, dass sie im Kontext der „authentischen Theodizee“ in Rücksicht auf diese eigentümliche Verknüpfung von „Strafwürdigkeit“ und „Rettung“ (die beide im „unparteiischen Urteil“ eines praktischen Vernunftanspruchs verwurzelt sind) und im notwendigen Rückbezug auf das „allerrealste Wesen“ (als „Substrat aller Theologie“) eine Variante des Aufweises leistet, wie „Moral unumgänglich zur Religion“ führt – und gerade in solcher Lesart auch eine kritische Erwiderung auf Freuds Religionskritik darstellt. Für Kant ist Gott weder „Wahn“ (Refl. 6220: AA XVIII, 510) noch ist Religion „Illusion“; gleichwohl hätte auch Kants Hoffnungskonzeption dem nüchternen Befund Freuds im Blick auf das penetrant „Zweckwidrige in der Erfahrung“ ohne Zögern zugestimmt: „Die Erfahrung lehrt uns: Die Welt ist keine Kinderstube“. 334 Es ist sehr bemerkenswert, dass Adorno in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Kants Postulatenlehre deren leitende Motive auf eine Weise „opfer-zentriert“ akzentuiert, der die hier vorgestellte modifizierte „ethikotheologische“ Lesart in dieser Hinsicht durchaus nahesteht. Dies gilt vor allem bezüglich seiner schon angeführten Interpretation des Postulates der „Unsterblichkeit der Seele“.
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rüber hinaus. Derart wird Kants Rekurs auf „eine Zweckmäßigkeit in dem Verhältnis der Übel zu dem moralischen Bösen“ und die diesbezügliche Frage, „ob jedem in der Welt hierin sein Recht widerfährt“ (VI 107; v. Verf. hervorgehoben), noch in besonderer Weise akzentuiert; als „moralische Zweckmäßigkeit“ wird sie „einzig von der Art“ ausgewiesen, „die man in der Welt einigermaßen wahrzunehmen hoffen kann“ – keineswegs jedoch von einer als Gericht fungierenden, d. i. das „Unrecht“ aufdeckenden und Gerechtigkeit herstellenden fortgehenden Zeit. Auch Kants These, dass „Moral unumgänglich zur Religion führt“ und so auf die Vorstellung einer „Vorsorge“ eines „allvermögenden moralischen Wesens als Weltherrschers“ (IV 654 ff.) verweist, verdient in solchem Ausblick auf die erweiterte Endgestalt der Ethikotheologie wohl besondere Beachtung. Es wird sich zeigen: Allein jene solcherart erweiterte – aber auch korrigierte – „moralische Teleologie“ erweist sich als dem unbestechlichen „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ angemessen und lässt so den Grundriss einer darin verankerten „negativen Theologie“ erkennen; erst recht bezüglich einer aus solchen Motiven inspirierten „negativen Theologie“ muss sich jede Erwägung einer „Wahl“ in der Entscheidung über die Möglichkeit des „höchsten Gutes“ (IV 277) und seines Ermöglichungsgrundes verbieten. Demzufolge geht es in diesem Theodizee-Kontext mit dem Befriedigung suchenden „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ nicht allein darum, gemäß der Idee einer „moralischen Welt“ das Bewusstsein für die unaufhebbare „Dissonanz“ (VI 112) von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit wachzuhalten; diese ethikotheologischen Motive und die auf jenes „unbedingte Vernunftbedürfnis“ zurückgehende postulatorische Denkungsart weisen zweifellos über die bloße Erfahrung der Unerfülltheit der auf die „Totalität“ ihres Gegenstandes gerichteten „praktischen Vernunft“ hinaus. Es ist der Stachel schlechthiniger „Negativität“ (also nicht nur des „Mangels“ und der Sinnlosigkeit, sondern buchstäblich himmelschreiender Sinnwidrigkeit), der jenen Einspruch des „Es müsse anders zugehen“ und des „Etwas fehlt“ noch einmal verschärft: „Denn was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen: wenn der Teil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesen den Zweck enthält [!], – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden“ (VI 49). Weil sich eine solche Abwendung bzw. „Abstraktion“ davon ebenso verbieten muss wie eine als Selbstbescheidung auftretende „Unwissenheit“, gewinnt das dieses „vernünftige Weltwesen“ auszeichnende Vermögen der „Aufmerksamkeit“ (VI 412) (s. o. II., 2.1.1.) auch in diesem Problemzusammenhang besondere Bedeutung.335 Der Sachverhalt, dass Kant die unbeirrbare Erfahrung jener „Stimme in uns“ und das unbestechliche Bewusstsein des „Es müsse anders zugehen“ als den dem „menschli335 Wohl erst hier gewinnt Habermas’ Hinweis auf „ein Bewußtsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit“ (Habermas 2008a, 30 f ), eine äußerste Zuschärfung. Sowenig freilich solches „Bewusstsein“ mit bloßer „Wünschbarkeit“ (vgl. Habermas 2007, 407) zu tun hat, sowenig die daraus gespeiste Frage „Wo bleibt Gott?“ (s. u. VI., 1.); sie verweist freilich über jene unbeirrbaren Ansprüche hinaus auf der „Vernunft abgenötigte Voraussetzungen“, worin erst das „Dasein Gottes“ erfragt ist.
626 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ chen Vernunftvermögen“ innewohnenden Kern des sogenannten „moralischen Gottesbeweises“ geltend gemacht hat (V 586 f ), eröffnet so in Verbindung mit der angezeigten opfer-zentrierten Kehrseite jenes „Strafgerechtigkeits“-Motivs eine weiterführende Problemperspektive – „im Ausgang von Kant“: Der durch die Ausdehnung der Idee der „moralischen Teleologie“ auf das „Zweckwidrige“ vollzogene Perspektivenwandel erlaubt es nicht nur, sondern legt es auch nahe, das dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ immanente, weil in dem „menschlichen Vernunftvermögen“ verankerte „und … mit der fortgehenden Kultur desselben nur immer mehr entwickelt(e)“ Vermissen selbst in gewisser Weise sogar als das eigentliche Fundament des sogenannten „moralischen Gottesbeweises“ (V 573 ff ) zu verstehen. Nicht zuletzt ist es die an jene Widerfahrnisse des „Zweckwidrigen“ geknüpfte, „obgleich dunkle, Vorstellung von etwas, dem sie [d. i. jene rechtschaffenen Gemüter] nachzustreben sich verbunden fühlten“ (V 587), die in solcher Entwicklung auch die „widerständige“ Orientierung daran, „dass es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewalttätig verhalten habe“, selbst noch einmal als eine „vorläufige“ ausweist. Erschließt dieses dem „[E]twas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ innewohnende, gleichwohl ganz unterschiedlich akzentuierte Moment der „Negativität“ in diesem Theodizee-Kontext jenem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ eine besondere Tiefendimension, so kommt darin das der Unbedingtheit des praktischen Vernunftbedürfnisses immanente Urteilen-Müssen noch in besonderer Weise zum Ausdruck, zumal letztendlich doch der umfassende „Endzweck der Schöpfung“ als „Zweck aller Zwecke“ bzw. „Endzweck aller Dinge“ selbst – über alle „moralische Teleologie“ hinaus – in Frage steht. Über die sinn-orientierte Nötigung hinaus, sich darin zum „Ganzen seiner Existenz“ (IV 255) zu verhalten, hat sich das „Bedürfnis der praktischen Vernunft“ zum „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ in der angezeigten opfer-orientierten Zuschärfung verfestigt. Ebendies kann den mit der Gottesthematik verbundenen Anspruch nicht unberührt lassen und rückt somit jene „zwei Fragen“, „die das praktische Interesse der reinen Vernunft“ angehen, „nämlich: ist ein Gott? Ist ein künftiges Leben?“ (II 676), und ihren Zusammenhang in ein neues – und zugleich sinnverwandelndes – Licht. Die moraltheologischpostulatorisch übersetzte metaphysische Frage nach der „Unsterblichkeit der Seele“ und die darin gedachte „Selbsterhaltung“ gewinnt in einem derart erweiterten ethikotheologischen Kontext selbst noch eine unumgängliche Vertiefung. Dass der Mensch „doch nicht so ganz Tier“ ist, „um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein“ (IV 179), bleibt wohl auch in diesem Kontext sehr bedenkenswert. Im Umkreis eines um die Theodizee-Thematik erweiterten „Weltbegriffs der Philosophie“ und dessen Frage „Was ist der Mensch?“ – und somit im Bezug auf die Weltstellung des Menschen – erhält die jenes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ auszeichnende unbedingte Nötigung, „urteilen zu müssen“, noch eine besondere Dringlichkeit, die sich jenes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ gewiss nicht herabmildern oder gar ausreden lässt. Es ist nicht zu übersehen: Solcherart wandelt und vertieft sich innerhalb jenes Gefüges der Vernunftideen des „Übersinnlichen“ ebenso der sich in der Vernunftreligion artikulierende negativitäts-sensible Sinnanspruch. In gebotener Rücksicht auf das allein jenes „Bedürfnis der praktischen Vernunft“ auszeichnende „Urteilen-Müssen“ (III 274) gewinnen
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jenes unauflösliche Gefüge und die durch ihre Verknüpfung konstituierte „zweckmäßige Vernunftverfassung“ wohl erst ihre endgültige – jetzt auch theodizee-affine – Gestalt, in der auch das darin Erfragte und Erhoffte neue Konturen erhält. Derart verdichtet sich jene in der Verknüpfung des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ zutage tretende „Zweckverbindung“ und macht erst recht in solcher Akzentuierung eine „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ notwendig. Eine derartige Verknüpfung dieser theodizee-lastigen Themen mit jenem unauflöslichen Gefüge der Vernunftideen rückt nun auch Kants Auskunft über den in „der selben Vernunft“ wurzelnden Zusammenhang von „Gottesbegriff“, „moralischer Teleologie“ und „Schöpfungssinn“ in ein besonderes Licht und berührt damit jene Thematik, der Kant mit seinem Motiv einer „authentischen Theodizee“ in angemessener Weise Rechnung tragen will: Nämlich dass „wir uns den Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen notwendig und vor aller Erfahrung [!] machen. Denn da wird Gott durch unsre Vernunft selbst der Ausleger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens; und diese Auslegung können wir eine authentische Theodizee nennen. Das ist aber alsdann nicht Auslegung einer vernünftelnden (spekulativen), sondern einer machthabenden praktischen Vernunft, die, so wie sie ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin gebietend ist, als die unmittelbare Erklärung und Stimme Gottes angesehen werden kann, durch die er dem Buchstaben seiner Schöpfung einen Sinn gibt“ (VI 116). Es soll sich zeigen (s. VI. Teil): Dass in dieser „authentischen Theodizee“ „Gott durch unsre Vernunft selbst der Ausleger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens“ wird, ist (im Ausblick auf noch spätere Äußerungen Kants) nicht zuletzt auch in der zweifachen Hinsicht interessant: Zunächst verlangt und rechtfertigt es in geschöpflicher Solidarität in „teilnehmender Vernunft“ unumgängliche Rückfragen an diese Schöpfer-Instanz selbst. Und wenn Kant später bezüglich der Entscheidung über die „Herkunft“ dieser „(göttlichen) Stimme“ indes in Zweifel darüber gerät, ob sie „aus der Machtvollkommenheit“ der menschlichen Vernunft selbst, „oder ob sie von einem anderen, dessen Wesen … unbekannt ist, und welches zum Menschen durch diese seine eigene Vernunft spricht, herkomme“ (III 395), offensichtlich Zurückhaltung empfiehlt, so könnte man, in Anlehnung an eine von ihm früher beanspruchte Argumentation bezüglich eines „Schwankens“ bzw. eines möglichen „Entscheidungsgrundes“ (vgl. IV 280 f ), mit Kant nunmehr dahingehend argumentieren, dass in solcher „Unentschiedenheit“ jenes „überwiegende praktische Fürwahrhalten“ ein besonderes (nicht bloß „mechanisches“, sondern vernunft-begründetes!) Übergewicht erhält, als das der späte Kant den „Zweifelglauben“ ausgewiesen hat. Doch davon kann erst im VI. Teil (VI., 1.) genauer die Rede sein. Es versteht sich, dass dieser Rekurs auf den „vor aller Erfahrung“ gemachten „Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen“ im Blick auf das mannigfache „Zweckwidrige in der Erfahrung“ noch ganz andere Fragen als unabweislich erscheinen lässt, die sich so eben als „Kardinalfragen“ in einem „Machtspruch der Vernunft“ zur Geltung bringen.336 Weist die allein „endzweck“-orientierte Ethikotheologie über 336 Es soll sich zeigen (s. u. VI., 1.1.): Der in der Frage „Wo bleibt Gott?“ artikulierte „Machtspruch der Vernunft“ als des „Gottes in uns“ ist selbst darin begründet, dass Gott sich „in der moralisch-praktischen Vernunft und dem kategorischen Imperativ offenbart“ (AA XXI, 92). – Im Sinne dieser theodizee-sen-
628 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ die physikotheologischen Ansprüche in prinzipieller Hinsicht hinaus, so resultieren im Ausgang von dieser Endzweck-Thematik und der damit verbundenen Ausschau nach einem „bestimmten Begriff der obersten Ursache, als Weltursache nach moralischen Gesetzen, … die unserm moralischen Endzwecke Genüge tut“ (V 614), unabweisliche Fragen, die Kant am Beginn der Theodizee-Schrift mit dem Verweis auf die Gestalten des „Zweckwidrige(n) in der Welt …, was der Weisheit ihres Urhebers entgegengesetzt werden könnte“ (VI 106), sogleich benennt. Es ist das durch jenes schon wiederholt angeführte „Urteilen-Müssen“ (III 274; IV 278) provozierte und ebenso legitimierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“, das dem vielfach variierten späten kantischen Motiv, dass der Mensch die existierende Verbindung von „Gott und Welt sei“,337 noch eine besondere Nuance gibt. Im „Urteilen-Müssen“ dieses „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ erhält sich die „Vernünftigkeit“ eines „endlichen Vernunftwesens“ und widersetzt sich so zugleich jener Versuchung, den Gedanken einer „moralischen Weisheit in der Weltregierung“ vollends aufzugeben. Andernfalls müsste wohl auch der unter Verweis auf die Metaphysik erfolgte kantische Bezug auf „dasjenige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist“ (II 672), in ein eigentümliches Zwielicht geraten. Sind es nicht dieser theodizee-orientierte Ausgang von der „teilnehmenden“ und „mitteilenden Vernunft“ sowie das daraus gespeiste „Urteilen-Müssen“, die an jenes „nicht nachlassen dürfende“ Interesse der praktischen Vernunft gebunden bleiben? Wenn dergestalt in dieser kantischen Perspektive der „Glutkern der Theodizee“ als jene unabweisliche Provokation festgehalten wird, worin sich die Gottesfrage erhält und gleichermaßen in Frage gestellt weiß – was wäre denn der dieser unauflöslichen Ambivalenz angemessene Ausdruck? Der dieser Einfügung der „negativen Größen in die praktische Weltweisheit“ – und sodann in den „Weltbegriff der Philosophie“ selbst – verdankte Versuch bzw. Anspruch ist es, der jene „Erfahrung“ von Negativität als dem „Nicht-sein-Sollenden“ ermöglicht und auch wach hält – und zwar gegenüber jener vernunftlosen, d. i. normativ stummen bzw. tauben Indifferenz und neutralisierenden Abstinenz, gegen die noch Adornos – dem Geist Kants hier innigst verwandte – Anmerkung gerichtet war: „Bewusstsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt. Stets stammt sie aus dem Vergangenen, Hoffnung aus ihrem Widerspiel, dem, was hinab mußte oder verurteilt ist.“338 Solche Forderung, gemäß dem ins „Praktische“ gewendeten Bestreben und sibel zugeschärften Frage wäre Höffes treffende Bemerkung noch einmal besonders zu akzentuieren: „Letztlich dient Kants gesamtes Unternehmen transzendentaler Kritik der Zurückweisung theoretischer und der Stärkung moralisch-praktischer Ansprüche“ (Höffe 2008, 307). 337 Ein Motiv, das im „opus postumum“ häufig wiederkehrt (AA XXI, 37 ff ). 338 Adorno 1966, 370 f. Mehr noch: Diese in die praktische „Weltweisheit“ und in den „Weltbegriff der Philosophie“ eingeschriebenen „negativen Größen“ schärfen auch in diesem Theodizee-Kontext das Bewusstsein dafür, „dass das Gute und Böse, das Reich des Lichts und das Reich der Finsternis, nicht als aneinander grenzend und durch allmähliche Stufen (der größeren und mindern Helligkeit) sich ineinander verlierend gedacht, sondern durch eine unermessliche Kluft von einander getrennt vorgestellt werde“ (IV 712, Anm.).
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der Erweiterung des „Weltbegriffs der Philosophie“ die in „die praktische Weltweisheit“ eingeführten „negativen Größen“ als eine Negativ-Gestalt des „Ideals der praktischen Vernunft“ aufzunehmen, erscheint lediglich als konsequent; ist dies doch selbst in die Tiefenstruktur jenes – nun eben auch geschichtsphilosophisch zu akzentuierenden – „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ eingeschrieben und findet sodann als „Bedürfnis der klagenden Vernunft“ beredten Ausdruck, worin selbst noch einmal ein „wie immer bange[r] Glaube an eine Konkordanz zwischen den Menschenleben und einer Art von Sinnordnung im Weltgefüge“339 vernehmbar wird. Es sind vornehmlich die darauf bezogenen Gehalte der Hoffnung „vernünftiger Weltwesen“ und deren Orientierung an der „obgleich dunkle(n) Vorstellung von etwas, dem sie nachzustreben sich verbunden fühlten“ (V 587), worin unüberhörbar noch etwas von der Verbindlichkeit jenes „Urteilen-Müssens“ nachklingt, die jene erweiterte ethikotheologische Konzeption und das entsprechend modifizierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ in diese von Kant selbst nahegelegten Theodizee-Bezüge einmünden lässt. Erhofft wird, dass jene „Ideen der Vernunft“ – die also zwar „die Vernunft sich selbst schafft“, gleichermaßen aber sich in ihnen „erhält“ – nicht nur „sinnhaft“ sind, sofern sie (im Sinne eines konstitutiven „als ob“) eine unverzichtbare lebensorientierende Aufgabe erfüllen, sondern ihnen zudem auch „Sinn und Bedeutung“ zukommt; alle anderen Hoffnungsaspekte sind, wie sich zeigen soll, im Grunde daraus „abgeleitet“ und entsprechen auch nur so der „Ordnung der Zwecke“. Diese Gedankenfigur, die in Kants Aufweis der zur Idee des „moralischen Endzwecks“ notwendigerweise affinen Idee „Endzwecks der Schöpfung“ buchstäblich von grundlegender Bedeutung ist (s. o. III., 1.2.; 1.3.), gewinnt unter diesen nunmehrigen Vorzeichen der „Theodizee“ und der entsprechenden Modifikation der Idee des „höchsten Gutes“ einen neuen Stellenwert. Vor allem wird in den solcherart erweiterten ethikotheologischen Bezügen auch Kants Bemühen sichtbar, der Frage nach dem „Gott der Hoffnung“ nicht allein gegenüber herkömmlichen Kontingenz-Argumenten und „probabilistischen“ Kalkülen einen angemessenen Ausdruck zu geben. Ebenso ist darin das Anliegen erkennbar, die Theodizeefrage innerhalb einer selbst noch einem kosmotheologischen Denkrahmen verhafteten „doktrinalen Theodizee“ (und damit mitunter verbundenen „Täuschungen der Vernunft“) zu entschärfen bzw. ruhig zu stellen. Desgleichen zielt die nunmehr in den Vordergrund tretende kritische Absicht zunächst auf all diejenigen Ansprüche einer vermeintlichen „Selbsterhaltung der Vernunft“, die sich genauer besehen als bloß „verständige“ Selbstbehauptung erweisen und deren „Vernünfteln“ „der sich selbst als ihren Fragen gnugtuend behauptenden Vernunft“340 jedenfalls nicht standhalten kann; das darin zutage tretende leitende „Interesse“ erweist auch dem vernunft-geleiteten Anliegen einer „Theodizee“ ohnedies einen schlechten Dienst. Über solche Abweisung hinaus ist damit – in Erinnerung an jenen Sachverhalt, dass erst aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ 339 Henrich 2007, 134 f. Genau diese vorausgesetzte „Konkordanz“ (und deren „Ermöglichungsgrund“) ist in Kants Ethikotheologie offensichtlich „intensiver“ begründet, als Henrichs einschlägige Kant-Interpretation dies vermuten lässt (s. o. IV., 3.4.1; 3.4.2.). 340 Kant AA XXIII, 103.
630 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Religion hervorgehen soll (II 338) – freilich der geforderte Aufweis verbunden, wie der kantische Anspruch, wonach „Moral unumgänglich zur Religion führt“, derart eine neue Ausrichtung gewinnt, die „Vernunft, Herz und Gewissen“ in sich vereint. Gewinnt das in der so verankerten Religion sich artikulierende „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ derart noch ein besonderes Gewicht, so wäre demgemäß Kants Mahnung, „den Begriff von einer Gottheit“ nicht „an jedes von uns gedachte verständige Wesen“ zu verschwenden (V 562), auch in diesem Kontext entsprechend zu akzentuieren. Auch jene Unterscheidung zwischen „Vernunftwesen“ und „bloß vernünftigem Wesen“ (IV 550)341 erweist sich in diesem Theodizee-Kontext vor allem deshalb als besonders relevant, weil doch allein das in unabweislichen praktischen Vernunftansprüchen stehende „Vernunftwesen“ – als jener Ort, in dem allein von dem „unbedingten Soll die Rede“ ist – zu einer solchen „Vernunft, Herz und Gewissen“ (IV 813) verdankten negativitäts-sensiblen Erfahrung fähig ist. In der bekundeten Betroffenheit darüber artikuliert sich nichts anderes als das gleichsam „ins Herz geschriebene“ „moralische Gesetz“ als jener „Gott in uns“. Sowenig jenes für moralische Ansprüche unempfängliche „bloß vernünftige Wesen“ „theodizee-bedürftig“ ist, so wenig könnte indes auch ein ihm korrespondierender „Begriff von Gott“ als bloß „höchstes Wesen“ als „theodizee-fähig“ gelten. Als Kehrseite davon, dass nur an den ethikotheologisch „vor aller Erfahrung“ bestimmbar gewordenen „Gottesbegriff“ (denjenigen eines „moralischen und weisen Welturhebers“) der „Begriff der Gottheit“ nicht „verschwendet“ wäre, erweist sich also dies, dass erst vor diesem Hintergrund – also in der nunmehr notwendigen „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ – auch das Theodizee-Thema unabweislich wird; insofern ist es lediglich konsequent, dass Kant an die ethikotheologischen Begründungsfiguren die Theodizee-Abhandlung anschließt, obgleich darin durchaus bedeutsame Akzentverschiebungen zutage treten. Ebenso schließen sich daran, wie sich zeigen soll (s. u. III., 4.2.3.), jedoch auch kritische Rückfragen an Kants Theodizee-Konzeption insgesamt an. Auch die Erinnerung an – schon näher verfolgte (s. o. II., 4.) – geschichtsphilosophische Motive bestätigt die Notwendigkeit einer entsprechenden Modifikation bzw. Erweiterung dieser dem „Weltbegriff der Philosophie“ zugehörigen Fragen und verweist somit auf Vernunftansprüche, die über dieses Gebiet „praktischer Vernunftansprüche“ sowie über die maßgebende postulatorische Perspektive jenes gerechtigkeitsbedachten Urteils der „unparteiischen Vernunft“ noch hinausweisen. Andernfalls bliebe das zwar alles Wunschdenken distanzierende Argument Kants, wonach das „höchste Gut“ „selbst im Urteile der unparteiischen Vernunft“ als legitimer Gegenstand menschlichen Hoffens zu rechtfertigen sei, selbst dem zu engen und vorläufigen „moral-theologischen“ Begründungskontext verhaftet. Dagegen erlaubt es erst eine geschichtsphilosophisch erweiterte 341 Noch einmal sei auch in diesem Kontext daran erinnert: Der Mensch betrachtet sich nach Kant eben nicht allein als „Sinnenwesen“, sondern „auch als Vernunftwesen (nicht bloß vernünftiges Wesen)“ (IV 550) – erst dies qualifiziert ihn als theodizee-bedürftiges Wesen. Es ist nicht unwichtig, darauf zu achten, dass dieser Unterscheidung auch diejenige zwischen dem relativen Bedürfnis der „forschenden Vernunft“ und dem „Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft“ entspricht (IV 276) und Letzteres im Umkreis der Idee einer „authentischen Theodizee“ als „Bedürfnis der fragenden [und klagenden] Vernunft“ (V 609) sodann noch bestimmtere Gestalt gewinnt.
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und gleichermaßen ethikotheologisch vertiefte Perspektive, den postulatorischen Gehalt noch radikaler zu bestimmen und sodann auch jene Hoffnungsfrage „Was darf ich hoffen?“ in die vernunft-begründeten Negativ-Gestalten des Vermissens, der Trauer und der Klage zu verwandeln. Das derart inspirierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ gewinnt als Vermissen, Trauer und Klage – die sich freilich nicht schon in einer „Stimmung der Vergänglichkeit“ erschöpfen – seinen spezifischen Gehalt und gibt so der Frage „Was darf ich hoffen?“ (als Frage nach dem „höchsten Gut“ als dem „letzten Objekt der praktischen Vernunft“) noch einmal ungleich größeres Gewicht. Gewiss, schon dies, dass die „Hoffnung“ auf die „allgemeine Glückseligkeit“ (als „höchstes Gut“) gerichtet ist, impliziert die maßgebliche opfer-zentrierte Perspektive einer „Rettung der Hoffnungslosen“, die sich wiederum nicht an dem – dabei die „Geschichte“ der (eben „verlierenden“) Menschen ausblendenden – Maßstab der „Geschichte der Menschheit“ orientieren kann. Dass auch – und erst recht – in solcher Perspektive das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ als ein solches der „klagenden Vernunft“ hier „nicht wählt, sondern einem unnachlasslischen Vernunftgebote gehorcht“ (IV 277) und sich auch in entsprechender Weise Ausdruck verschafft, ist offenkundig. Indes, solches Klagen und Trauern nimmt nicht sich selbst zu wichtig, sondern vernimmt als „teilnehmende Vernunft“ das Gewicht jener Fragen, von denen es zehrt. „Teilnehmende Vernunft“ bleibt sie doch gerade durch jene „authentische Theodizee“ in dem bestimmten Sinne, dass sie hierin noch einmal in einer anderen Weise „ins Stocken gerät“ und über alle Grenzbestimmungen der Vernunft hinaus auf „Abgründe“ geführt wird, durch die jene schon angeführte kantische Frage, „warum die Welt und der Mensch selbst da ist“ (V 610), noch eine äußerste Zuspitzung erfährt. Dies bestätigt, dass diese theodizee-nahen Fragen von dem in der abschließenden „allgemeine(n) Anmerkung zur Teleologie“ angesprochenen „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ nicht abzulösen sind. Nicht nur hätte jener interessante Hinweis Kants, dass der „Zeitfolge“ der metaphysischen „Stadien“ eine „natürliche Gedankenfolge“ korres pondiert (vgl. o. I., 2.), in dieser Endgestalt des „dritten Stadiums“ und in dem darin intendierten „Überschritt zum Übersinnlichen“ eine denkwürdige Entsprechung; noch eine andere Motiv-Konstellation legt sich nahe: Der Ausgang von den besonderen Widerfahrnissen des „Zweckwidrigen in der Welt“ fügt sich mit jener leitenden Absicht, „von der Erfahrung des Sinnlichen [und das heißt hier: des Leidenden] zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten“ (III 590), denkwürdigerweise zur Grundgestalt einer – nach Kant bekanntlich von der Erfahrung ausgehenden – „natürlichen Theologie“, die in solchem Kontext recht genau jenem zentralen (häufig jedoch nicht vollständig angeführten) Motiv Adornos entspricht, das ohnehin von ferne an die kantische Begründung jenes moralischen „Urteilen-Müssens“ erinnert: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit“; die von Adorno daran geknüpfte Begründung ist freilich dies: „Denn [!] Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.“342 Solcher „Vorrang des Objektiven“ und seine Verknüpfung mit jenen eben zuvor angeführten kantischen
342 Adorno 1966, 29.
632 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Grundgedanken begründet eine gewiss bedenkenswerte motivliche Konstellation, die in diesem erweiterten ethikotheologischen Rahmen den Grundriss einer „negativen Theologie“ erkennen lässt (s. u. VI., 1.2.). In solcher theodizee-geprägten „Gebrochenheit“ ist Kants modifizierte „teleologische“ Begründungsgestalt der „natürlichen Theologie“ aufzunehmen: „Was also in theoretischer Rücksicht unmöglich ist, nämlich der Fortschritt der Vernunft zum Übersinnlichen der Welt, darin wir leben …, nämlich dem höchsten abgeleiteten Gut, das ist, in praktischer Rücksicht, um nämlich den Wandel des Menschen hier auf Erden gleichsam als einen Wandel im Himmel anzustellen, wirklich, d. i. man kann und soll die Welt nach der Analogie mit der physischen Teleologie, welche … uns die Natur wahrnehmen lässt …, apriori als bestimmt, mit dem Gegenstande der moralischen Teleologie … annehmen, um der Idee des höchsten Gutes nachzustreben“ (III 647 f ).343 Daraus mag deutlich werden: Es ist die Schwerkraft jener unabweislichen und gleichermaßen unbeantwortbaren Fragen, die das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ über das Motiv der „Strafgerechtigkeit“ bzw. über alle „Übereinstimmung“ („Proportioniertheit“) von „Tugend und Glückseligkeit“ hinausdrängt. Derart macht sie „noch etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ sichtbar, das die – in diesen Fragen erst recht – „ins Stocken geratende Vernunft“ gleichsam vor ihren eigenen Abgrund führt, damit aber auch das Widerfahrnis des „Etwas fehlt“ noch radikalisiert und dieserart gegenüber jener „docta ignorantia“ einem „tiefen Stillschweigen der Vernunft“ besonderen „Platz verschafft“. Mit der „fortgehenden Kultur des menschlichen Vernunftvermögens“ und der durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchteten Vernunft“ gewinnt so jenes von Kant geltend gemachte „[E]twas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ zuletzt eine besondere theodizee-affine Gestalt. Auch jenem späten Hinweis zufolge, wonach der in dem „menschlichen Vernunftvermögen“ fundierte „moralische Beweis“ „mit der fortgehenden Kultur desselben nur immer mehr entwickelt“ wird, spricht in der Sache vieles dafür, dass die schon wiederholt angeführte kantische These, dass allein aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ Religion resultiere (II 338), bemerkenswerte motivliche Konfigurationen zutage treten lässt, die sich auch hinsichtlich des in der „Geschichte der reinen Vernunft“ vorgenommenen Bezuges auf „Theologie und Moral“ und deren „Vereinigung zur Religion“ als besonders bedeutsam erweisen. Weil unter den Vorzeichen des theodizee-sensibel radikalisierten „Urteilen-Müssens“ jenes unbedingte „Bedürfnis der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche“ sich zu dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ verschärft, verwandelt sich, in solchem „Grenzbewusstsein“, jene „docta ignorantia“ zunächst in ein „tiefes Stillschweigen der Vernunft“. Davon ausgehend rückt nun auch der erhobene ethikotheologische Anspruch bzw. der Versuch, „aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur … auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ (V 560), in ein neues Licht und gibt somit auch jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ und den darin verankerten Fragen ein 343 Es soll sich zeigen: Den „Wandel des Menschen hier auf Erden gleichsam als einen Wandel im Himmel anzustellen“, impliziert notwendig dies, dem „Gott in uns“ und seiner bedrängenden Frage „Wo bleibt Gott?“ Ausdruck zu geben (s. u. VI., 1.1.).
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besonderes Profil. Dies lässt es nun als unausweichlich erscheinen, den in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ zutage tretenden (und im letzten Stadium der Metaphysik auch ethikotheologisch ausgewiesenen) Zusammenhang von Gottesthematik und menschlichem Selbstverständnis noch einmal enger zu knüpfen. Gerade auch in solchem Verweis auf die „fortgehende Kultur des menschlichen Vernunftvermögens“ (V 586) machte Kant selbst deutlich, dass dieser Zusammenhang des menschlichen Selbstverständnisses und des „Bewusstseins der Gottheit“ eben nicht abstrakt-geschichtslos fixiert werden darf, sondern doch allein in geschichtlicher Konkretheit wirklich ist und in philosophischtheologischer Reflexion auch lediglich in der unauflöslichen Einheit von geschichtlichem Gottes- und Menschengedächtnis „er-innert“ werden kann. Nicht nur hat Kants frühe Bestimmung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ in dieser Verknüpfung des „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ mit dem Thema der „Theodizee“ eine Endgestalt gefunden. Derart erfährt wohl auch seine späte Auszeichnung der menschlichen Weltstellung als „copula von Welt und Gott“ eine letzte Zuschärfung. „Zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ – darin spiegelt sich besonders deutlich die Weltstellung des Menschen als „Copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ wider, wodurch – im Sinne jener „ganzen Bestimmung des Menschen“ gelesen – auch die umfassende anthropologische Frage „Was ist der Mensch?“ in ein neues Licht gerückt wird, was nicht zuletzt im Blick auf Kants Hiob-Interpretation (und den Namen „Ijob“) besondere Beachtung verdient.344 Diese Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen als „copula“ erhält dergestalt eine besondere religionsphilosophische Prägung, die diese „copula“ näherhin als „conscientia mundi“ – und zwar gleichermaßen im Sinne solidarischer „Mitwisserschaft“ und als „Gewissen“ – ausweist. Vor solchem Hintergrund und im Sinne des durch „hergebrachte fromme Lehren“ inspirierten bzw. von ihnen „entlehnten“ „Theodizee“-Motivs verändert sich auch die Sinnintention jener berühmten programmatischen These, der zufolge „Moral also … unumgänglich zur Religion“ führt (IV 652). Daraus wäre zunächst, in diesen Problemkontext übersetzt, das Bemühen vernehmbar, theodizee-bedacht die Gottesfrage wachzuhalten, das darin Erfragte vernehmbar zu machen und derart mit der Frage nach der Weltstellung des Menschen als „conscientia mundi“ eng zu verknüpfen. Derart wäre die abschließende Frage „Was ist der Mensch?“ – nicht zuletzt im Blick auf Kants HiobInterpretation (s. u. 2.3.) – um bedeutsame Aspekte bereichert, die auch im Blick auf sein Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von besonderem Interesse sind.
344 Vgl. dazu auch noch einmal den schon angeführten Brief Kants an Stäudlin v. 4. Mai 1793 (AA XI, 429 f ). – Diese Fragen gewinnen besonderes Gewicht gerade durch die Akzentuierung der „Bestimmung des Menschen“ bzw. dann, wenn die kantische Frage „Was ist der Mensch?“ nicht zu einer theoretischen und ungeschichtlich fixierten „Wesensfrage“ neutralisiert wird, sondern darin die geschichtlich sich entfaltende „verzeitlichte … Natur- und Vernunftbestimmung des Menschen“ (Brandt 2007a, 105) vor Augen steht.
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4.2. Kants Befund: „Dass ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste“ sei – im Kontext der kantischen „Theodizee“-Schrift situiert 4.2.1. Das „vernünftige Weltwesen“ als „Endzweck der Schöpfung“: „Conscientia mundi“ – nicht bloßer „Mitspieler im großen Spiel des Lebens“ Hier sei noch einmal an jenen denkwürdigen Sachverhalt angeknüpft: Ausdrücklich hat Kant seine ganze ethiko-theologische Begründungsfigur (in § 86 der „dritten Kritik“) darauf gestützt, dass „ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde“ (V 567). Eine solche, in normativer Hinsicht taube und stumme, d. h. sinn-lose „Faktenaußenwelt“ müsste – weil für theoretische, moralischpraktische und ästhetische Geltungs- und Sinnansprüche unzugänglich – ohnedies jedwede „Dizee“ unmöglich machen, besser wohl: als völlig sinnlos erweisen. Wenn „Schöpfung“ ohne dieses „vernünftige Weltwesen“ und ohne dessen immer schon bejahten und vollzogenen „Glauben an die Tugend“ demzufolge schlechthin sinn-los, d. h. „umsonst und ohne Endzweck“ wäre, so stellt sich die Frage nach dem Sinn dieser Schöpfung für die solche Wahrnehmungen begleitende Aufmerksamkeit nunmehr auf eine Weise, die damit, den Ansprüchen der „teilnehmenden und mitteilenden Vernunft“ dieses „vernünftigen Weltwesens“ gemäß, auch jene ethikotheologisch intendierte Vermittlung von „subjektivem“ und „objektivem Endzweck“ betrifft. Jener „archimedische Punkt“ der kantischen Ethikotheologie, dass „ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste“ sei, muss demzufolge eine postulatorische Zuschärfung finden, die letztendlich auch durch die „Überführung von seiner Unwissenheit“ (VI 119) nicht relativiert oder gar ins Unrecht gesetzt werden kann, ohne damit jenes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ und den Unbedingtheitsanspruch seines „Urteilen-Müssens“ (und somit den „Gott in uns“) stillschweigend wiederum in Frage zu stellen. Es ist der mit dem Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ in die Welt getretene normativ-„unbedingte Sollensanspruch“, der die triste Erfahrung des bloßen „Umsonst“, der „Zweck- und Sinnlosigkeit“, auf solche Weise noch zum Widerfahrnis des geradezu „Zweckwidrigen“ zuschärft. Im Blick auf diese im Menschen aufbrechende „bewusste Negativität“ wäre es lediglich konsequent, jene denkwürdige kantische These über seinen Status als „Endzweck der Schöpfung“ noch dahin zu verschärfen: Es war jene vernommene Stimme des „Es müsse anders zugehen“ und die daraus „ins Stocken geratene Vernunft“, die ihn auch als „conscientia mundi“ auszeichnet; ebenso ist es diese „conscientia“, die dem Leid des Menschen (und zwar „nicht bloß als vernünftige[s] Wesen, sondern auch als mit Vernunft begabte[s] Tier“) (IV 593 f ) ihre Stimme und, aus solcher „Mitwisserschaft“, als mitteilend-„teilnehmende Vernunft“ auch ihre gerechtigkeits-sensible Sprache leiht.345 Allein 345 Vermutlich fügt sich ein Motiv W. Benjamins gerade mit Bezugnahme auf Kants Hiob-Interpretation (s. u. VI., 1.3.) auch in diesen erweiterten Rahmen der kantischen Postulatenlehre: „Der Gerechte ist der Fürsprech der Kreatur und zugleich ihre höchste Verkörperung“ (Benjamin II.2, 459); dies ist jedenfalls in jener Auszeichnung des Menschen als „conscientia mundi“ und der „teilnehmenden Vernunft“ impliziert. In einer kantischen Lesart dieses „Fürsprech“-Motivs ist darin wohl auch die mit der Rolle
4. Eine theodizee-orientierte Erweiterung der Ethikotheologie
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solche „Leid“-sensible Sprache ist es indes, die nicht nur „fremdem Leid“ unmittelbaren Ausdruck gibt, sondern solche „Negativität“ als „Nicht-sein-Sollendes“ überdies in einer normativen Hinsicht als schlechthin „Zweckwidriges“ auch erst buchstäblich wahrnehmbar macht. Solche „conscientia“ verdankt ihre Sensibilität und das „Mitgefühl am Leiden“ (vgl. IV 579)346 doch gerade jener „Reflexe der die Seele moralisch erleuch tenden Vernunft“ (als des darin „gebrochenen“ „Übersinnlichen“: III 388),347 deren unbestechliches „Es müsse anders zugehen“ ihren eigentümlichen „Charakter“ ausmacht, sofern dieses ihr gleichsam „eingeritzt“ ist und somit jene wachsame Rücksicht auf jenes „Etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ (IV 150) um entscheidende Aspekte erweitert – ein „Vermissen“ als „Monogramm der Vernunft“ in durchaus kantischem Sinne? Die dieser „conscientia“ eigentümliche „Vertrautheit mit sich“ erweist und bewährt sich als eine solche, die doch allein aus der solidarischen „Mitwisserschaft“ mit den Anderen – Kant spricht auch von den „Mitgenossen an der Schöpfung“ (VI 91) – ihren Anspruch und Stachel erhält. Derart werden – eben in der unbegreiflichen Faktizität jenes einzigen „Faktums der Vernunft“ – die normative Indifferenz der bloßen „Faktenaußenwelt“ und ein bloßes „Etwas nimmt seinen Lauf“ (sowie das „taubstumme“ Einverständnis dazu) unterbrochen. Indes, teilnehmend bleibt Vernunft, im Unterschied zu einem bloßen „Gefühl des Mitleids“, allein durch die aufmerksamkeits-geleitete Erinnerung daran, dass sie derart an die Frage „Was soll ich tun?“ und die damit verknüpfte Konkretisierung der „praktischen Urteilskraft“ (und deren „Regel“) gebunden ist und auch nur so von einer mehr oder weniger subtilen Besorgtheit und Zärtlichkeit für sich selbst unterscheidbar bleibt, mag diese, in kultivierter Feinfühligkeit und „Empfindlichkeit“, durchaus auch einen „Widerwillen“ dagegen verspüren, „seinen Mitmenschen leiden zu sehen“.348 Mit Rücksicht auf jene auch in die „praktische Weltweisheit“ einzuführenden „negativen Größen“ verschärft sich das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ für diese durch die Einheit von „Vernunft, Herz und Gewissen“ konstituierte Mitwisserschaft („conscientia“) unvermeidlich zu der Frage, was denn diese „Schöpfung“ nun aber mit diesem „vernünftigen Erdwesen“ und seiner „Geschichte“ ist – ob denn jene „ohne den Menschen … eine bloße Wüste“ bleibende, d. h. eben normativ taube und stumme „Schöpfung“ mit dem Menschen – und angesichts der Wirklichkeit der Geschichte – solcherart jedoch
des Menschen als „Sachwalter“ verbundene Irritation über das physische Leid der nicht-menschlichen Kreatur verbunden, die ihn freilich auch in besonderer Weise teilnehmend in die Pflicht nimmt. 346 Dass „der sinnliche Charakter … uns mit der lebendigen Natur verbindet“ und darin nach Kant auch das gebotene „Mitgefühl an ihrem Leiden“ begründet ist, führt B. Recki – gegen einschlägige Fehldeutungen Kants – mit besonderem Blick auf die in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ entfaltete „ästhetische Erfahrung“ sowie auf den § 17 der Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten“ vor Augen (Recki 2006a, bes. 56 ff ) – ein Motiv, das in diesen thematischen Bezügen in besonderer Weise zu berücksichtigen ist. 347 In diesen Wendungen bestätigt sich besonders eindrucksvoll die von Schmalenbach vertretene These, dass Kant „das Symbol des Göttlichen in ungeheurer, ewig den Abstand wahrender Ferne und zugleich als die tiefste Stimme der eigenen Seele erfuhr“ (Schmalenbach 1929, 133). 348 Vgl. J. J. Rousseau 1984, 141.
636 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ nicht als eine „Landschaft aus Schreien“349 erscheint? Derart weiß sich solche „conscientia mundi“ als der Ort erfahrbarer „Dissonanz“, die nicht zuletzt auch für eine „Geschichte als Leidensgeschichte der Welt“ (W. Benjamin, s. o. II., 4.3.) zu sensibilisieren vermag und auch in der Idee einer „moralischen Teleologie“ nicht ausgeblendet bleiben darf. Solche Wahr-Nehmung ist allein durch jene der praktischen Vernunft eingeschriebenen „negativen Größen“ ermöglicht, deren Unverzichtbarkeit für die „praktische Weltweisheit“ sich gerade auch in diesen geschichts- und religionsphilosophischen Bezügen erweist, zumal es erst dies erlaubt, das den Prinzipien der Freiheit und des Fortschritts Entgegengesetzte, ja geradezu schlechthin Widersinnige in bestimmter Weise auch erfahren zu können. War es das kritische „Als-ob“ der „reflektierenden Urteilskraft“, das „in organisierten Wesen“ eine „innere Zweckmäßigkeit (V 488) zu denken erlaubt und dabei die „Teleologie“ („Physikotheologie“) bestenfalls als eine für die Theologie brauchbare „Propädeutik“ ausweisen kann, so ist es das „schlechthin Zweckwidrige“ in der Erfahrung, das nunmehr – im Blick auf den Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ (als den Ort reflektierter „Negativität“) – dazu nötigt, das erst in der „Ethikotheologie“ laut werdende „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ noch zu erweitern, besser: zu radikalisieren. Nicht zuletzt in Anbetracht dessen, dass „Freiheit“ auch „das Schrecklichste [ist], was nur sein kann“350 – ja diese geradezu zur „Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst“ (VI 362) fähig ist –, verschärft sich erfahrene Sinn-losigkeit (bloßer „Mangel“ als „Abwesenheit“ von Sinn) geradewegs zum Widerfahrnis von Sinn-Widrigkeit, d. h. „realem Widersinn“. Erst das dadurch ermöglichte Bewusstsein von „Negativität“ ist es auch, das jene Erfahrung einer subjektlos-sinnleeren Wüste bloßer „Faktenaußenwelt“ in diejenige einer alle moralisch relevanten Differenzen nivellierenden sinnlosen Bewandtnislosigkeit des faktisch-blinden „Naturlaufs“ verwandelt.351 Solche abgründige, über alles „Etwas fehlt“ noch hinausweisende Widerfahrnisse lassen sich deshalb auch von der Verlockung nicht beirren oder besänftigen, wonach wir die durch die Erfahrung des Naturschönen geförderte „teleologische Beurteilung“ doch „als eine Gunst“ betrachten könnten, „die die Natur für uns gehabt hat, … dass sie über das Nützliche noch Schönheit und Reize reichlich austeilete, und [wir] sie deshalb lieben, so wie, ihrer Unermesslichkeit wegen, mit Achtung betrachten, und uns selbst in dieser Betrachtung veredelt fühlen: gerade als ob die Natur ganz eigentlich in dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufgeschlagen und ausgeschmückt habe …“ (V 494). Die Penetranz des „schlechthin Zweckwidrigen“ lässt sich durch keinerlei anders geartete (gleichsam kompensatorische) Erfahrungen von „Zweckmäßigkeiten“ mildern. Es ist dies lediglich ein besonderer Aspekt des „Primats der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“, ebenso jedoch gegenüber etwaigen einschlägigen Ansprüchen einer „ästhetischen 349 Diese Wendung ist dem Gedicht „Landschaft aus Schreien“ von N. Sachs übernommen: dies., Und niemand weiß weiter. Gedichte. Hamburg/München 1957, 73 f. 350 Menzer 1924, 152. 351 Dies ist der Maßstab, an dem sich auch die Unvollkommenheit der „Ordnung der Natur“ bemisst, sofern diese eben in einer unaufhebbaren Diskrepanz zur gedachten „moralischen Ordnung der Zwecke“ steht: „Wenn der rechtschaffene Mann unglücklich und der lasterhafte glücklich ist, so ist der Mensch nicht unvollkommen, sondern die Ordnung der Natur“ (Refl. 6590, AA XIX, 98).
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Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur“. Es ist jene „teilnehmend“-praktische Vernunft, die ihre Selbsterhaltung und ihren Primat als „praktische Vernunft“ – eben nur in Unterbrechung solcher „Erhabenheit unseres Geistesvermögens“ (ebd.) – in sensibler und kompromissloser Wahr-Nehmung äußerster Diskrepanz in Anbetracht dieses Umschlages der Erfahrung des machtvollen „Dynamisch-Erhabenen“ in das „Widerspiel“ des gewaltsamen „Monströsen“ bewährt, weil dieses „Schreckliche“ mitnichten, als ein lediglich „Ästhetisches“, allein ein „Abschreckendes“ „für die Sinnlichkeit“ ist (V 354). Demgegenüber ist es dieser unbeirrbare Anspruch der „teilnehmenden Vernunft“ selbst, der damit noch jene These Kants konfrontiert, dass die „Stimmung des Gemüts zum Gefühl des Erhabenen“ eine „Empfänglichkeit desselben für (praktische) Ideen“ voraussetzt und andernfalls sich jener negativitäts-sensiblen Wahr-Nehmung verschließen müsste. Der die kantische Ethikotheologie fundierende Hinweis auf den Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ erlaubt demnach eine Lesart, die noch in anderer Hinsicht bestätigt, dass in jenem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ der Anspruch einer leidsensiblen „teilnehmenden Vernunft“ als „conscientia mundi“ sich Gehör verschafft. Spricht doch vieles dafür, dass die im Menschen gleichsam „die Augen aufschlagende“ Schöpfung in ihm, als die „Vernunft, Herz und Gewissen“ umgreifende „conscientia“, sich wiederum genötigt sieht, angesichts der „Geschichte des menschlichen Geschlechts“ die Augen sogleich zu senken – ohne sie jedoch davor einfach verschließen zu dürfen;352 denn über die „Berge sich auftürmender Greueltaten und ihnen angemessenen Übel“ (VI 353) kann solche „conscientia“ gewiss nicht hinwegsehen wollen – und erst recht haben natürlich auch jene schon in geschichtsphilosophischem Kontext erwähnten Bedenken diesbezüglich nichts von ihrer Plausibilität und Dringlichkeit eingebüßt. Nur so erhält sich der Mensch als nicht bloß anpassungsfähiger „Mitspieler im Spiel des Lebens“, sondern als ein solcher, der auch in aus „teilnehmender Vernunft“ gespeister „Mitwisserschaft“ gemäß einer „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ in ein „System der Zwecke“ passt. Allein auf solche Weise bewahrt und bewährt er seine Weltstellung als „Endzweck der Schöpfung“. Diese Weltstellung des Menschen als „conscientia mundi“ erweist sich so gewissermaßen als der Ort, in dem nicht nur „Gut und Böse“ in die Welt eintritt, sondern „Negativität“ auch erst als radikale „Sinnlosigkeit“ und „Sinnwidrigkeit“ vernehmbar wird. Solche irritierende Erfahrung ist allein im Bewusstsein des „moralischen Sollens“, das „in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“ (II 498), begründet, die so auch das für die Idee der „moralischen Welt“ bestimmende „Dasein-Sollen“ fundiert.353 In der als „Endzweck der Schöpfung“ ausgezeichneten „Existenz“ des Menschen, ohne den „die ganze Schöpfung eine bloße Wüste“ bliebe, – näherhin in der „faktischen“ teleologischen Verfasstheit der Vernunft selbst – bricht die abgründige Gegen-Idee des „schlechterdings Zweckwidrigen“ auf; es ist der durchaus moralisch inspirierte Zweifel des „In-die-Welt-Passens“, 352 Etwas davon klingt in Kants Bemerkung an: „Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk“ (VI 93). 353 Es ist dies gleichsam eine nachträgliche Antwort Kants auf die von Nietzsche belächelte „ganze Attitüde ‚Mensch gegen Welt‘, der Mensch als ‚Welt-verneinendes‘ Prinzip … wir lachen schon, wenn wir ‚Mensch und Welt‘ nebeneinandergestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaßung des Wörtchens ‚und‘!“ (F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft Nr. 346).
638 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ der so diesen „existierenden Endzweck“ gewissermaßen selbst einholt. „Viel zu denken“ gibt freilich nicht nur jener Sachverhalt, dass in der Natur „von keinem Soll die Rede“ ist und erst mit der Wahrheits- und Moralfähigkeit des Menschen (ungeachtet der damit verbundenen und unaufhebbaren „Fehlbarkeit“) in diese taub-stumme Faktenaußenwelt eine Dimension von Unbedingtheit eingeschrieben ist; indes, nicht weniger denkwürdig ist dies, dass die daraus inspirierten und aus solchem „Sein-Sollen“ aufbrechenden Fragen zugleich ein „Stillschweigen der Vernunft“ motivieren, das in seiner Unerhörtheit im Menschen (als „conscientia mundi“) dennoch nicht das letzte Wort bleiben darf.354 Es ist dies eine der normativ tauben und sinn-losen Faktenaußenwelt eines bloßen „Naturlaufes“ (und einer ihr korrespondierenden ebenso leer-„wüstlichen“ Zeitvorstellung) gleichsam „eingeritzte“ Wunde (ihre „intelligible Spur“ gewissermaßen), in der allererst normative Ansprüche und entsprechende Erfahrungen von „Negativität“ aufbrechen, denen jene „conscientia mundi“ Ausdruck gibt; nicht zuletzt ist daran das sensible Bewusstsein geknüpft, dass jenes von einer „docta ignorantia“ genau zu unterscheidende – gebotene – „tiefe Stillschweigen der Vernunft“ jedoch ein ebenso an- wie auch einspruchsloses Schweigen verbietet. Der Ausgang von jenen schlechterdings sinnwidrigen Widerfahrnissen – die zuletzt auch diejenigen, „die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück[werfen], aus dem sie gezogen waren“ (V 579 f )355 – und von dem daraus geschärften Bewusstsein, „es müsse anders zugehen“, legt es nahe, diese ethikotheologischen Motive nun auch im Blick auf die von Kant angeführten Theodizee-Aspekte zu buchstabieren. Findet die aus dem Widerfahrnis und dem Widerstand gegen die Negativität des „Nicht-seinSollenden“ gespeiste „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“ in diesen Gestalten des „Zweckwidrigen“ gewissermaßen eine äußerste Zuschärfung, so verweist dies selbst noch einmal indirekt auf die moral-transzendierend-überschießende Voraus-Setzung, „dass eine Welt existiert“, und auf die von daher inspirierte (aller Erfahrung der „Negativität“ zugrunde liegende „vernunft-ideale“) Sinnerwartung des SeinSollenden (was „sein soll“). Derart wird der von Kant intendierte Aufweis des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ um wesentliche Aspekte bereichert und legt zudem die nochmalige Erinnerung daran nahe: Wenn es, jener Unterscheidung zwischen der „Anlage für die Menschheit“ und derjenigen „für seine Persönlichkeit“ (IV 672 f ) zufolge, keinesfalls die bloß „contemplative“ oder die „szientifische“ Fähigkeit der „Betrachtung der Welt“ und der „Spekulation“ ist, um sich ahnend den „Ideen“ zu nähern (II 670), worin der „persönliche Wert“ des Menschen begründet ist – dann darf dies, in Aufnahme einer für diese Motive Kants fruchtbar gemachten Wendung Schellings, wohl auch dahinge354 Ein Kernmotiv Kants in diesem Befund über das „Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ ist jedenfalls darin zu erkennen, dass eine theodizee-geleitete Relativierung des „schlechterdings Zweckwidrigen“ zuletzt auf eine Relativierung des „moralisch Bösen“ hinausliefe und schon deshalb negiert werden muss. 355 Man könnte diese kantischen Formulierungen geradezu als den in einen „ethikotheologischen“ Kontext „übersetzten“ Befund des alttestamentlichen Predigers lesen: „Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht; und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind“ (Kohelet 1,14).
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hend verstanden werden, dass es jene (als geschöpfliche „Mitwisserschaft“ verstandene) „conscientia mundi“ ist, die ihn, in seinem „Stand der Freiheit“ und in seinem daraus legitimierten Status als „Zweck an sich selbst“ (VI 92), schließlich in eminenter Weise als „copula von Welt und Gott“ ausweist und ihn so in besonderer Weise als „Vernunftwesen“ (in „mitteilender“ und „teilnehmender Vernunft“) qualifiziert. Solche Stellung muss es ihm als Glied des „Reichs der Zwecke“ gleichermaßen verbieten, sich diesbezüglich mit dem Rückzug in eine beanspruchte „docta ignorantia“ zu begnügen; sowenig der jenem praktischen Vernunftbedürfnis immanente unbedingte Anspruch des Urteilen-Müssens auf das relative Urteilen-Wollen des theoretischen „Vernunftbedürfnisses“ zurückgestuft werden darf, ohne den „Primat der praktischen Vernunft“ preiszugeben, sowenig darf sich dieses „Ins-Stocken-Geraten der Vernunft“ zu einer bloßen „docta ignorantia“ neutralisieren – d. h. gewissermaßen zähmen – lassen. Auch hier bleibt es Aufgabe jener unbestechlichen „Aufmerksamkeit“, genau zu prüfen, ob bzw. wieweit sich hinter der beanspruchten „docta ignorantia“ genauer besehen bloße Ignoranz und Gleichgültigkeit verbirgt. Demgegenüber muss nach Kant der „denkende Mensch“ Partei ergreifen und „einen Kummer“ fühlen, „von welchem der Gedankenlose nichts weiß“ (VI 98 f ). Es ist dies im Grunde auch lediglich die Kehrseite jener Pflicht, wonach er den Menschen „als gleichen Teilnehmer an den Geschenken der Natur anzusehen habe“ (VI 91). Nur beiläufig sei noch angemerkt: Dies entspricht nun auch, obgleich in einer besonderen Akzentuierung, jener in diese thematischen Bezüge aufzunehmenden kantischen Idee einer „authentischen Schriftauslegung“,356 wonach „der Gott in uns … selbst der Ausleger“ ist, „weil wir niemand verstehen, als den, der durch … unsere eigene Vernunft mit uns redet“ (VI 315), das heißt aber wohl auch: der die trauernde Klage selbst als Gestalt jenes „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ für wahr nimmt? Es ist ausschließlich dieser gleichsam als „conscientia mundi“ erhoffte Anspruch (einer „mitteilenden“ und „teilnehmenden Vernunft“), dessen Rechtmäßigkeit ein „göttlicher Gott“ bzw. eine „moralische Weisheit“ nicht „annihilieren“ kann, weil dieser nur so, jenseits von subtilem „Gunsterwerb“ und Berechnung, als Gott der Hoffnung – als das als „Herzenskündiger“ 356 Es ist beachtenswert, dass der kantischen Unterscheidung zwischen „authentischer“ und „doktrinaler Schriftauslegung“ offensichtlich jene zwischen „authentischer“ und „doktrinaler Theodizee“ und auch diejenige zwischen dem „moralisch-authentischen Vernunftglauben“ und dem „doktrinalen Glauben“ korrespondiert – eine Entsprechung, die dann auch noch zu erweitern bliebe: Wenn die „doktrinale Schriftauslegung“ (die in Wahrheit lediglich einen „Glaube[n] an Schriftgelehrte und ihre Einsicht“ widerspiegelt [IV 776], und zwar im unseligen Dienste eines bloßen „Kirchenglauben[s] als eines bestimmte[n], sich beständig erhaltende[n] System[s]“) – im Unterschied zu der „für alle Welt“ gültigen „authentischen Auslegung“ – den „prüfenden und musternden Durchsuchungen“ bzw. Ansprüchen der Vernunft entsagen wollte. Muss dann nicht eine „authentische Theodizee“ im Unterschied zu – besser: in Abgrenzung von – einer „doktrinalen Theodizee“ (die somit ja selbst konstitutiver Bestandteil eines „Kirchenglauben[s] … [als] ein[es] bestimmten, sich beständig erhaltenden Systems“ ist!) die Frage „Ist ein Gott?“ und den daraus postulatorisch resultierenden Kardinalsatz: „Es ist ein Gott“ in die Frage „Wo bleibt Gott?“ im Sinne einer „negativen Theologie“ weiterführen? Letztere wird in dem solcherart akzentuierten Ausgang von dem unbeirrbaren „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ freilich auch bezüglich des in Aussicht gestellten „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ für behutsame Zurückhaltung plädieren und vermag letztlich nur so den unabweislichen – „für alle Welt gültigen“ (IV 776) – Ansprüchen einer „authentischen Theodizee“ und der daraus gespeisten „negativen Theologie“ gerecht zu werden. S. dazu u. VI., 1.2.
640 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ näher bestimmte „höchste ursprüngliche Gut“ – anzuerkennen bleibt und andernfalls „den moralischen Begriff von Gott“ (VI 107) unweigerlich unterbieten bzw. überhaupt preisgeben müsste.357 Letzteres wäre freilich ebenso mit der Idee einer „moralischen Teleologie“ unverträglich, denn erst dieser Anspruch verschafft dem „Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit“ – d. h. nach Kant: der „Idee des Gottessohnes“, als dem „wahren sittlichen Ideal“ – Gehör, der so zu klagen wagt „mitten in uns“. Wenn dieser Gott „durch unsere eigene (moralisch-praktische) Vernunft spricht“, so ist es der „Gott in uns“358 als „sein eingeborener Sohn“ (IV 712), der sich zu solcher Klage auch ermächtigt weiß und wohl nur so als „untrüglicher, allgemein verständlicher Ausleger seines Wortes“ gelten darf. Jener Anspruch, dass Religion „reine Vernunftsache ist“, muss sich wohl in besonderer Weise in diesem Kontext der „Theodizee“ bewähren; denn freilich wusste auch Kant darum: Wider jene „moralischen Vollkommenheiten Gottes [der ‚Heiligkeit‘, ‚Güte‘ und ‚Gerechtigkeit‘] macht die [negativitäts-sensible] Vernunft Einwürfe, deren Stärke viele Menschen irre gemacht und in Verzweiflung gestürzt hat.“359 Allein die solcherart „ins Stocken“ geratene – und so auch alle Ansprüche einer „doktrinalen Theodizee“ unterbrechende – praktischen Vernunftansprüche dementieren sich nicht selbst und bleiben auch nur so vor einer besonderen „Vermessenheit“ bewahrt. Erneut und in einer speziellen Hinsicht sieht Vernunft sich so genötigt, sich „auf der Grenze zu halten“, worin jenes Gefüge der Vernunftideen – „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ – noch eine besondere Radikalität gewinnt. Mag also bezüglich der Möglichkeit des „höchsten Gutes“, der darin gedachten „Proportioniertheit“ und der erforderlichen „Ergänzung“ des „moralischen Unvermögens“ die behutsame Selbstbescheidung im Sinne einer „docta ignorantia“ durchaus angemessen und auch unverzichtbar sein, so muss sich dies angesichts des zugeschärften „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ und des daraus gespeisten „postulatorischen“ Anspruchs zweifellos verbieten. Die – eben als „teilnehmende Vernunft“ – „ins Stocken geratene Vernunft“, die auf einen „Endzweck der Schöpfung“ gerichtete Hoffnung und der die357 In dieser hier verfolgten Lesart der kantischen Idee der „authentischen Theodizee“ könnte, im Blick auf jenen „Machtspruch der Vernunft“ und die Kennzeichnung des Menschen als „Copula zwischen Endlichem und Unendlichem“, J. Haydns Hymnus auf den Menschen (Die Schöpfung, Nr. 25) eine besondere Zuschärfung erfahren: „Mit Würd’ und Hoheit angetan, mit Schönheit, Stärk’ und Mut begabt, gen Himmel aufgerichtet, steht der Mensch“. 358 Kants sehr späte Notiz „Gott in der Seele des Menschen“ (AA XXII, 120) gewinnt offenbar auch in diesen Kontext der „authentischen Theodizee“ eingebettet einen guten Sinn – erst recht natürlich in Anknüpfung an das Wort von Sebastian Franck: „Es hat Gott nicht nähere Freunde als diese unwilligen Gotteslästerer, unter dem Unglauben beschlossen und dennoch mitten im Unglauben mit einem unaussprechlichen Seufzer im Grunde ihrer Seelen glaubend“. Solchen „unaussprechlichen Seufzer im Grunde ihrer Seelen“ hätte Kant wohl auch noch als jene „Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft)“ des „Übersinnlichen außer uns“ identifiziert und auch akzeptiert: „… Es müsse anders zugehen …“. Daran anschließend wären denkwürdige Motive Feuerbachs aufzunehmen, ohne dass diese notwendigerweise zu einer religionskritischen Abspannung führen müssten. Dies gilt vor allem für Feuerbachs – bemerkenswerterweise an die soeben zitierten Motive anknüpfenden – Gedanken: „Gott ist eine Träne der Liebe, in tiefster Verborgenheit vergossen über das menschliche Elend. ‚Gott ist ein unaussprechlicher Seufzer, im Grund der Seelen gelegen‘“ – ein „Ausspruch“, den Feuerbach ausdrücklich als den „merkwürdigste(n), tiefste(n), wahrste(n) … der christlichen Mystik“ würdigte (s. L. Feuerbach, Bd. 6, 146). 359 So schon in der Religionslehre Pölitz AA XXVIII, 1076.
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ser Vernunft „abgenötigte Glaube“ fordern deshalb eine andere Zuschärfung, weil sie sich in den kantischen Kardinalfragen „Ist ein Gott? Ist ein ewiges Leben?“ noch nicht beruhigen bzw. darin anerkannt wissen können und demzufolge einer buchstäblich notwendigen Verwandlung bedürfen. 4.2.2. „Spuren und Winke“ in der Erfahrung des „Naturschönen“, worin Natur „figürlich zu uns spricht“ – jedoch im „Zweckwidrigen, was Erfahrung an dieser Welt zu erkennen gibt“, noch eine andere „Sprache zu uns führt“ Kant sah den Erfahrungshorizont des Menschen wohl auch durch eine eigentümliche Spannung ausgezeichnet, die sich auch bezüglich des „zweckmäßigen Gebrauchs“ und der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als sehr bedeutsam erweist: In der Tat gehört es zur „conditio humana“, dass dieses „vernünftige, aber endliche Wesen“ in der Erfahrung des „Naturschönen“ gleichsam die „Sprache, die die Natur zu uns führt“, und darin gewissermaßen ihren „höhern Sinn“ (V 399) ebenso vernimmt, wie es jener abgründigen Widerfahrnisse in Natur und Geschichte innewird, deren „Negativität“ nicht nur die „Vernunft ins Stocken geraten“ lässt, sondern dem daran Anteil nehmenden Menschen geradewegs die Sprache verschlägt. Ästhetischer Naturerfahrung im Zeichen des „Naturschönen“ und des „Erhabenen“ „angesichts“ der darin innegewordenen „subjektiven Zweckmäßigkeit“ (und des darin begründeten „Gefühls der Lust“) stehen jene von Kant keineswegs ignorierten (auch nicht als „erhaben“ sublimierbaren) Widerfahrnisse des absolut „Zweckwidrigen“ entgegen – nicht zuletzt solche von der „Natur als einer Macht“, die als „Allgewalt der Natur“ (V 348 f ) über uns „alle Gewalt hat“. Solche Widerfahrnisse führen diesem „vernünftigen endlichen Wesen“ seine physische Ohnmacht und „Nichtigkeit“ eindringlich vor Augen – so, als ob solche „Allgewalt“ ihm darin geradewegs bedeuten wolle, dass es doch nichts anderes als eine sich selbst gern verkennende „unbedeutende Kleinigkeit“ (V 349)360 der Naturgeschichte ist und sich in der Folge erst recht 360 „Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, … Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl. machen unser Vermögen zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir [!] uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Maß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren [!] Allgewalt der Natur messen zu können.“ (V 349) – Die Frage stellt sich, wer denn – eingedenk jener kantischen Version des „homo sum …“ – dieses „wir“ eigentlich ist (bzw. besser: sein darf?, darf es denn ein „Ihr“ und „Sie“ hier geben?), „die sich in Sicherheit befinden“ – und ob bzw. wohin sich denn mit der „ästhetischen Distanz“ diese in der Doppelnatur des „vernünftigen endlichen Wesens“ gründende ästhetische Erfahrung des „Erhabenen“ und ihr Anziehungs-Charakter verwandelt – wenn sie sich denn wandelt! – und ob jene Erfahrung des „Erhabenen“ und seine „Anziehung“ der Wahrnehmung des „Chaotisch-Monströsen“ und dem Entsetzen darüber weicht (weichen muss). Ist da etwa ein „dem Gefühl der Achtung … für die Idee der Menschheit in unserm Subjekte“ (V 344) verdanktes „Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns“ zu entdecken, ohne das – und deren Interesse-Nehmen – auch die Würde jener „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ und letztendlich der Gottesglaube selbst gar keine Anerkennung finden könnten; ist es nicht dies, worauf Kants Würdigung der „rechtschaffenen“
642 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ auch alles ästhetische Erleben des „Naturschönen“ und „Dynamisch-Erhabenen“ als nichtig-illusorisch erweist. Der intellektuell-lustvoll erfahrenen „Fasslichkeit“ der uns gleichsam „entgegenkommenden“ Natur und der aus dem interesselosen Wohlgefallen am „Naturschönen“ gespeisten Erfahrung steht das Widerfahrnis des grauenvollen „Unfassbaren“ in unüberbietbarer Schroffheit „abgründig“ gegenüber. Wird das „vernünftige Weltwesen“ in der ästhetischen Erfahrung des „Naturschönen“, dass „selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme“361 – gewiss eine „transzendentale Steigerung“ der besonderen Art –, seines „guten Vernehmens“ mit der „physischen Welt“ inne, so degradiert hingegen die des „Verstandes und der Vernunft“ spottende „Allgewalt der Natur“ diesen eines derartigen „Vernehmens“ fähigen Menschen zwar zur „unbedeutenden Kleinigkeit“, ohne dass jedoch solche Degradierung eo ipso auch seine Demütigung sein könnte. Der Umstand, dass jene ästhetische Erfahrung des „Dynamisch-Erhabenen“, um der Reinheit des „ästhetischen Urteils“ willen, lediglich an die „Kleinigkeit“ bzw. Kontingenz des Bewusstseins der eigenen Sicherheit geknüpft ist (vgl. auch V 350) und allein dadurch vor dem Umschlag in das gewaltsam-chaotische „Monströse“ bewahrt wird, verwandelt das daran geknüpfte Gefühl der „Seelenstärke“, d. h. der innegewordenen „Erhabenheit“ seiner „übersinnlichen Bestimmung“, und die damit verbundene Empfindung eines „begeisternden“ Wohlgefallens (V 350). Mag auch in der Erfahrung des – bekanntlich ein „Interesse am sittlich Guten“ voraussetzenden – „intellektuellen Interesses am Schönen“ (wie in dem an die „Entwicklung sittlicher Ideen“ gebundenen Interesse bzw. „Gefühl für das Erhabene in der Natur“ und seinem „Wohlgefallen“ daran) „gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns führt“ (V 399), vernehmbar werden, so ist es doch auch die Erfahrung der „staunengebietenden Macht der Natur“, die sich für „teilnehmende Vernunft“ unversehens in das „erschreckende“ Widerfahrnis des unendlich „Gewaltsamen der Natur“ verwandelt, das keineswegs als ästhetische Erfahrung „das Gefühl des Erhabenen erregt, der Form nach zwar zweckwidrig für unsere Urteilskraft, unangemessen unserem Darstellungsvermögen und gleichsam [!] gewalttätig für die Einbildungskraft erscheinen mag, aber dennoch nur um desto erhabener zu sein geurteilt wird“ (V 330). Es sind vielmehr – alle Vorstellungskräfte sprengende – Widerfahrnisse jener Geistesart Hiobs sich vornehmlich bezieht? – Über den prekären Status jenes „in Sicherheit befindlichen ‚Wir‘“ und dessen Verhältnis zu der von ihm selbst nahegelegten Version jenes „homo sum …“ hat sich der für alle mehr oder weniger subtilen Formen des „Sich-zur-Ausnahme-Machens“ (und daran geknüpfte „Abstraktionen“) so sensible und unbestechliche Kant (in seiner diesbezüglichen Anknüpfung an E. Burke) vielleicht nicht hinreichende Rechenschaft gegeben. Womöglich hätte ihn dies, mit Rücksicht auf den offenbar höchst kontingenten Status des „Wenn wir uns nur in Sicherheit befinden“, zu einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses der Vernunftidee des „Erhabenen“ zum Affekt des „Schrecklichen“ geführt. 361 Diese so denkwürdige frühe Reflexion 1820a (AAXVI, 127) sei hier noch einmal vollständig angeführt: „Die Schönheit ist von der Annehmlichkeit und Nützlichkeit unterschieden. Die Nützlichkeit, wenn sie woran gedacht wird, gibt nur ein mittelbares Wohlgefallen, die Schönheit ein unmittelbares. Die Schöne(n) Dinge zeigen an, dass der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme“; gleichwohl ist diese „Anzeige“ eben ein bloßer „Wink“, was mit der Weltstellung des Menschen als eines „vernunftbegabten Weltwesens“ unzertrennlich zusammenhängt.
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„Sprache, die die Natur zu uns führt“, die „vernünftige Weltwesen“ – als solche selbst Teil von ihr und dennoch „Endzweck der Schöpfung“, in dem allein „von einem Soll die Rede ist“ (VI 341) – verstummen lassen und aller Erhabenheit bzw. „Achtung für ihre eigene Bestimmung“ geradewegs zu spotten scheinen. Ungeachtet jener ästhetischen Erfahrungen des „Naturschönen“ und des „Erhabenen“, des darin gewährten „Gefühls der Lust“ und ähnlicher innegewordener „Stimmigkeiten“ bzw. „Adäquanz“ wird offenbar – und rückt solcherart die Weltstellung des Menschen als „conscientia mundi“ in ein besonderes Licht! –, dass in der Natur selbst durchaus „von keinem Soll die Rede ist“. Diese erneut irritierende eigentümliche „Gegenläufigkeit“ innerhalb des menschlichen Erfahrungshorizontes, der zufolge „Natur“ in der Erfahrung des „Naturschönen“ gewissermaßen „entgegenkommt“ und andererseits menschliches Dasein als „nichtig“ erweist, macht ihm zufolge offenbar einen sehr fundamentalen Aspekt der „conditio humana“ erfahrbar. Es ist die den Erfahrungshorizont eines „vernünftigen Weltwesens“ bestimmende eigentümliche Diskrepanz und „Dissonanz“, die jene im Beschluss der „zweiten Kritik“ benannte gegenläufige Erfahrung von schlechthinniger Nichtigkeit und gespürter „wahrer Unendlichkeit“ (in dem „bestirnten Himmel über mir“ und in dem „moralischen Gesetz in mir“) (s. dazu u. IV., 1.2.1.) erneut und zugeschärft variiert:362 Bedeutet diese „unmittelbar mit dem Bewusstsein (s)einer Existenz“ verknüpfte zweifache Erfahrung zweifellos eine besondere „Erweiterung des Vernunftgebrauchs mitten in der Erfahrung“, so wird ebendies durch jenes gegenläufig bestimmte „Existenz-Bewusstsein“ gleichermaßen in entscheidender Weise radikalisiert. Kants Hinweis, dass angesichts der erfahrenen Zweckmäßigkeit der Natur „selbst unsere Gedanken alle Begrenzung vermissen“, verweist das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ dieserart auf unabweisliche Fragen, die den Blick auf die „gegenwärtige Welt“ als einen „unermeßlichen Schauplatz“ noch in einer ganz anderen Vernunftperspektive schärfen. Zu den „abgründigen“ Irritationen des Menschen als „conscientia mundi“ gehört es eben, dass einerseits der Blick auf diesen „unermesslichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit“, die „selbst unsere Gedanken alle Begrenzung vermissen“ lässt, „unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muss“ (II 549 f ). Dem stehen jene Erfahrungen gegenüber, angesichts deren die Vernunft nicht nur „ins Stocken gerät“, sondern solches „sprachlose Erstaunen“ sich „in ein tiefes Stillschweigen“ verwandelt, das jenes beanspruchte teilnehmungsvolle „Ich bin ein Mensch. Alles, was Menschen widerfährt, trifft auch mich“ zuletzt verstummen bzw. dieses als eine bloß sentimentale Gedankenlosigkeit erscheinen lässt. Jenem in der Erfahrung des „Naturschönen“ bedeutenden „Wink“, 362 Die hier vorgestellten Überlegungen gehen über den aus der spannungsvollen Einheit in dem zweifachen Anblick des „tierischen Geschöpfs“ und „meiner [moralischen] Persönlichkeit“ gewonnenen Gesichtskreis noch hinaus und zielen gegenüber der darin maßgebenden „Erhabenheitsperspektive“ insofern noch auf eine Vertiefung der den Menschen als „conscientia mundi“ auszeichnenden „teleologia rationis humanae“, die auf seine ihm von Kant zugedachte Stellung als „Endzweck der Schöpfung“ und gleichermaßen auf den von ihm gedachten „Endzweck der Schöpfung“ ein neues Licht wirft. Sein Verweis auf die Diskrepanz zwischen dem „Weltlauf“ und der „inneren Zweckbestimmung“ des menschlichen „Gemüts“ (V 587) gewinnt hier noch ein ganz anderes Gewicht
644 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ „dass der Mensch in die Welt passe“, steht jenes tiefempfundene „Es müsse anders zugehen“ (V 587) in der angezeigten Weise in einem nicht zu mildernden Kontrast gegenüber. Es sind diese mit dem „Bewusstsein seiner Existenz“ verbundenen Erfahrungen der „herrliche(n) Ordnung, Schönheit und Vorsorge, die allerwärts in der Natur hervorblickt“ (II 34), und gleichermaßen die abgründigen „gegenläufigen“ Erfahrungen des „Zweckwidrigen“ in Natur und Geschichte, die den offenen Erfahrungshorizont dieses „vernunftbegabten Erdwesens“ prägt: „Anima humana est quodammodo omnia“ – in einer kantischen Lesart? Gewiss gibt es zu denken, dass Kant an jene frühe ästhetische Reflexion: „Die Schöne(n) Dinge zeigen an, dass der Mensch in die Welt passe …“363 noch zwei Jahrzehnte später in seinem Vergleich der „Bewunderung der Schönheit“ mit „dem einem religiösen Gefühl Ähnlichen“ anzuknüpfen scheint – so jedenfalls in einer späten „allgemeinen Anmerkung zur Teleologie“, also schon in zeitlicher Nähe zu Kants TheodizeeAufsatz: „Die Bewunderung der Schönheit sowohl, als die Rührung durch die so mannigfaltigen Zwecke der Natur, welche ein nachdenkendes Gemüt, noch vor einer klaren Vorstellung eines vernünftigen Urhebers der Welt, zu fühlen im Stande ist, haben etwas einem religiösen Gefühl Ähnliches an sich. Sie scheinen daher zuerst durch eine der moralischen analoge Beurteilungsart derselben auf das moralische Gefühl (der Dankbarkeit und der Verehrung gegen die uns unbekannte Ursache) und also durch Erregung moralischer Ideen auf das Gemüt zu wirken, wenn sie diejenige Bewunderung einflößen, die mit weit mehrerem Interesse verbunden ist, als bloße theoretische Betrachtung wirken kann“ (V 615 f, Anm.).364 Vielleicht noch deutlicher heißt es in der „Anmerkung zur Ethikotheologie“ (V 571 f ): „Setzet einen Menschen in den Augenblicken der Stimmung seines Gemüts zur moralischen Empfindung. Wenn er sich, umgeben von einer schönen Natur, in einem ruhigen heitern Genusse seines Daseins befindet, so fühlt er in sich ein Bedürfnis, irgend jemand [!] dafür dankbar zu sein.“365 363 Refl. 1820a, AA XVI, 127. 364 Im Sinne dieses „Interesse-Nehmens“ betonte Kant auch: „Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert“ (V 302) und dieses „Schöne“ „directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich führt“ (V 329). Das heißt nach Kant: „In einem teleologischen Urteile … können wir es als Gunst der Natur ansehen, dass sie uns, durch Aufstellung so vieler schöner Gestalten, zur Kultur hat beförderlich sein wollen“ (V 493). 365 Eine durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ ist vielleicht auch in Kants Hinweis auf das in dem Widerfahrnis des Naturschönen überkommende Gefühl eines Bedürfnisses, „irgend jemand dafür dankbar zu sein“ (V 571), zu erkennen, das die erfahrene Freude im ästhetischen Genuss in das Gefühl der Dankbarkeit verwandelt. Es verdient durchaus Beachtung, dass nach Kant dieses gefühlte Bedürfnis der Dankbarkeit also auf „irgend jemand“ gerichtet ist, d. h. – negativ formuliert – eine wenigstens nicht a-personale „Instanz“ als allein zureichenden „terminus ad quem“ vorauszusetzen scheint. Auch dies steht jedenfalls in einer Spannung zu seiner späteren Erwägung, wonach die Begründung dafür, dass für einen „Endzweck der Schöpfung“ der Rekurs auf ein „verständiges …[und] zugleich moralisches Wesen, als Welturheber, mithin ein Gott angenommen werden musste“ (V 583), lediglich ein „zweiter Schluss“ sei – und zwar eben „bloß für die Urteilskraft, nach Begriffen der praktischen Vernunft“ (V 583). Ohne diesen „Irgend jemand“ als Adressaten des Dankes wäre solcher Dank vielleicht doch nicht als „Dank“ – auch nicht als „metaphysischer Dank“ – zu bezeichnen, sondern bliebe ein zwar durchaus affirmatives und in Bewährung sich übendes Selbstverhältnis im Sinne einer höchst kontingenz-sensiblen Daseinsbejahung dieses „vernünftigen, aber endlichen Wesens“, das als solches
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Solche einem „religiösen Gefühl“ durchaus ähnliche Erfahrungen sind im Welthorizont des „vernünftigen Weltwesens“ als „copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ freilich mit himmelschreienden Widerfahrnissen und „Rührungen“ von ganz anderer Art verknüpft, womit diese vernünftigen Weltwesen „jene innere Zweckbestimmung ihres Gemüts nicht zu vereinigen“ wissen (V 587) und in denen ein „einem religiösen Gefühl Ähnliches“ nunmehr freilich in ganz anderer Weise Ausdruck sucht. Dass die „Bewunderung der Schönheit sowohl, als die Rührung durch die so mannigfaltigen Zwecke der Natur“ für ein „nachdenkendes Gemüt … etwas einem religiösen Gefühl Ähnliches an sich“ habe (V 615 f, Anm.), erhält vor diesem Hintergrund eine weitere Nuancierung; so wäre aber auch vermieden, dass dabei allein das bewunderte „Naturschöne“ als Ausgangspunkt sowie als letzter Maßstab fungiert und somit, erneut „cyklopisch“, auch jenes Widerfahrnis des „Dynamisch-Erhabenen“ abgedrängt wird, welches dieses als alleiniger „Endzweck der Schöpfung“ in Frage kommende Weltwesen doch ebenso gleichgültig als „unbedeutende Kleinigkeit“ zerschmettert und hinwegspült. Es ist deshalb keineswegs bloße Vermessenheit oder Hybris, wenn eine „Willensbestimmung besonderer Art“ nun auch in diesem theodizee-sensiblen Themenfeld als „Machtspruch der Vernunft“ zur Sprache kommt, darin also selbst als ein der „teilnehmenden Vernunft“ verpflichtetes „Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art“ (V 349) Gestalt gewinnt. Demzufolge tritt solcher moralisch verankerter „Machtspruch“ nunmehr geradezu als der gesteigerte Ausdruck jener sinn-affirmativen „Willensbestimmung von besonderer Art“ entgegen – nunmehr artikuliert als „Klage“ und „Vermissen“, das sich damit selbst gewissermaßen als jenes „Andere der Dankbarkeit“ erweist; freilich sich bescheidend und gerade auch darin den für alle Vernunftansprüche „abgründigen“ Erweis erhoffend, auch in jenem „Machtspruch der Vernunft“ (s. o. VI., 1.) keinesfalls „frevelhaft“ gesprochen zu haben.366 Dass Kant die Reinheit des „ästhetischen Urteils“ an die Bedingung geknüpft sah, dass „wir uns nur in Sicherheit befinden“ (V 349), ist wohl ohnehin als ein überaus bemerkenswerter Aspekt jenes „Interesses der Vernunft“ anzusehen, die ja nach Kant „das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“ bestimmt (IV 249). Indes, in derartigem „Erhabenheitserleben“ und im Genuss seines „Bei-sich-Seins“ wird offenbar, nicht weniger sicher, darüber hinweggesehen (besser: in dem genannten Sinne davon
freilich auch gar nicht in Frage gestellt sein soll; es wäre dies eine „Daseinsbejahung“, die dennoch kein „Gegenüber“ kennt. Dabei ist es gewiss nicht einfach darum zu tun, „die Dankbarkeit sogleich theistisch [zu] monopolisieren“ (so der naheliegende Einwand von D. Henrich, der dies im Interview mit J. Ph. Reemtsma [Formen des Nihilismus, Nazismus und moderne Metaphysik. Ein Gespräch mit dem Philosophen Dieter Henrich, In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 17 (2008), 83)] als „Leimrute des Theologen“ verwirft); gleichwohl dürfte dies die geltend gemachte Differenzierung zwischen einer solchen Daseinsbejahung und einem wirklichen „Lebensdank“ nicht erübrigen und insofern auch noch einmal Henrichs These wenigstens relativieren: „Es gibt eine metaphysische Dankbarkeit, einen Lebensdank, der sich nicht an einen Gott wendet“ (ebd.). 366 Der denkwürdige selbst-bescheidende Gedanke, „dass wir Gott gegenüber allezeit Unrecht haben“ (S. Kierkegaard), ist der Frage „Wo bleibt Gott?“ selbst durchaus immanent, ja ist für den darin enthaltenen Hoffnungs-Sinn geradezu konstitutiv und insofern auch „erbaulich“. Diese Frage impliziert, dass das „Hoffen-Dürfen“ nicht zuletzt eben gerade auch darauf gerichtet ist, „dass wir Gott gegenüber Unrecht haben“ werden, ohne dass dies den moralischen Impuls jener Frage auch nur relativieren könnte.
646 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ „abstrahiert“), dass anderen – ebenso als „Zwecke an sich“ existierenden – „vernünftigen Erdwesen“ solche rettende Sicherheit augenfällig nicht zuteilwird. Wenn ein solcher schlechthin vergleichgültigender, d. h. subjekt-vergessener „Weltlauf“ gleichwohl jene „Stimme, es müsse anders zugehen“, nicht zum Verstummen bringen darf – was liegt dann aber näher, als dass jenes „einem religiösen Gefühl Ähnliche“ angesichts solcher Wahrnehmungen sich für ein „nachdenkliches Gemüt“ in solchen Bezügen zu einer eigentümlichen Bewusstseinsgestalt vereint, worin sich auch der Anspruch der Hoffnung und jene Bestimmung des „Hoffnungsglaubens“ bzw. sein „Fürwahrhalten“ noch einmal entscheidend verwandeln? Das daraus inspirierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ vermag sich gemäß dem nun maßgebenden Aufweis, „wie die Moral zur Religion führt“,367 als jenes unbestechliche Vernunft-„Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen“, Gehör zu verschaffen.368 Als „macht-habende praktische Vernunft“ bringt es sich zunächst als widerständiges Bewusstsein von „Negativität“ zur Geltung, das sich auch in einer mitunter ungemütlichen Irritation „durch manche in der Natur und Sittenwelt ihm vorkommende Unregelmäßigkeiten“ (V 578) zweifellos noch nicht erschöpft. Als „machthabend“ erweist sich Vernunft dergestalt gerade als „teilnehmende“, die als solche alles bloße „Vernünfteln“ und „Vermessenheit“ vermeidet.369 367 Hier sei noch einmal an jenes von Horkheimer akzentuierte – als die „Frage der Philosophie“ geltend gemachte – Motiv erinnert, das sich in der Sache wohl ebenfalls von der kantischen Postulatenlehre inspirieren ließ (vgl. dazu o. II., Anm. 378). 368 Kants Absage an alle einschlägigen „Theodizee“-Ansprüche übt sich auch keinesfalls in der „Kunst, es nicht gewesen zu sein“; ebenso wenig ist das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ mit der Ausschau nach einem „ausbaufähigen Alibisystem“ (O. Marquard) zu verwechseln. Solches Bedürfnis wäre freilich das gerade Gegenteil des von O. Marquard als Theodizee-Motiv diagnostizierten „Bedürfnis(ses), all jenes, was an der Welt schlimm ist, menschlicher Freiheit zuzuschreiben, damit es nicht Gott belaste“ (Marquard 1973, 57). 369 Ausgehend von jenem bedeutsamen Hinweis Kants, dass erst im Menschen (als „homo noumenon“) in der Wirklichkeit „von einem Soll die Rede ist“, und dem von daher bestimmten „Theodizee“-Motiv legt sich eine Erinnerung an einen wenig zitierten – obgleich sehr eindringlichen – Passus aus Kants früher Schrift „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels …“ in diesem Kontext „authentischer Theodizee“ besonders nahe, die der indifferenten Gleichgültigkeit einer bloßen „Faktenaußenwelt“ mit dem moralischen Stachel des „Es müsse anders zugehen“ begegnet und so allen „vernommenen Schmerz“ in die „bewusstem Leben“ vorbehaltene Negativität des Leidens transformiert. Diese höchst eindrucksvolle – Kants Irritation unverkennbar widerspiegelnde – Stelle sei deshalb als ganze zitiert: „Wir dürfen aber den Untergang eines Weltgebäudes nicht als einen wahren Verlust der Natur bedauern. Sie beweiset ihren Reichtum in einer Art von Verschwendung, welche, indem einige Teile der Vergänglichkeit den Tribut bezahlen, sich durch unzählige neue Zeugungen in dem ganzen Umfange ihrer Vollkommenheit unbeschadet [!] erhält. Welch eine unzählige Menge Blumen und Insekten zerstöret ein einziger kalter Tag; aber wie wenig vermisset man sie, ohnerachtet es herrliche Kunstwerke der Natur und Beweistümer der göttlichen Allmacht sein; an einem andern Orte wird dieser Abgang mit Überfluss wiederum ersetzet. Der Mensch, der das Meisterstück der Schöpfung zu sein scheinet, ist selbst von diesem Gesetze nicht ausgenommen. Die Natur beweiset, dass sie eben so reich, eben so unerschöpfet, in Hervorbringung des Trefflichsten unter den Kreaturen, als des Geringschätzigsten, ist, und dass selbst deren Untergang eine notwendige Schattierung in der Mannigfaltigkeit ihrer Sonnen ist, weil die Erzeugung derselben ihr nichts kostet. Die schädlichen Wirkungen der angesteckten Luft, die Erdbeben, die Überschwemmungen vertilgen ganze Völker von dem Erdboden; allein es scheinet nicht, dass die Natur dadurch einigen Nachteil erlitten habe. Auf gleiche Weise verlassen ganze Welten und Systemen den Schauplatz, nachdem sie ihre Rolle ausgespielet haben. Die Unendlichkeit der Schöpfung ist so groß genug, um eine Welt, oder eine Milchstrasse von Welten, gegen sie anzusehen, wie man eine Blume,
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Indes, in einer eigentümlichen Gegenläufigkeit dazu sah Kant die den OrientierungsHorizont des Menschen (als eines „vernünftigen Naturwesens“) ebenso bestimmenden Erfahrungen des „Naturschönen“, worin die Natur gleichsam „figürlich zu uns spricht“. Sie sind es wiederum, die es diesem „vernünftigen Weltwesen“ erlauben sollen – in Wahrheit aber auch: dazu verführen? –, solche (eine moralische Sensibilität freilich schon voraussetzende) Widerfahrnisse als vernehmbare „Winke“370 der Natur zu interpretieren, als ob es „in diese Welt passe“. Es ist das darin vernehmbar gewordene flüchtige „Glücksversprechen“,371 das mit dem eigentümlich unbestimmten Bedürfnis der „Dankbarkeit“ verbunden ist (vgl. V 615)372. Letzteres verdankt sich offenbar selbst einer verheißenen „Authentizität“ und macht übrigens auch erst die Enttäuschung, ja sogar die moralische Empörung darüber verständlich, wenn diese „vernünftigen Weltwesen“ in solcher Wahrnehmung sich selbst als Getäuschte erfahren müssen. Denn an jenes unbestimmte Gefühl der Dankbarkeit bleibt – denkwürdig auch im Blick auf die von Kant im Kontext der „Theodizee“ besonders geltend gemachte „Authentizität“! – gleichermaßen das „Vertrauen“ darauf geknüpft, dass solche in der Erfahrung des „Naturschönen“ „verweilend“ vernommenen „Winke“ auf diese besondere Affinität von „Natur und Freiheit“ doch „authentisch“ sein und als solche auch Bestand haben mögen: Es ist die – vielleicht mit der ethikotheologisch verankerten „fides“ (IV., 3.1.) verschwisterte – Zuversicht in dem bestimmten Sinne, dass solche in (bzw. von) der Natur angezeigte „Spur“ sich letztendlich, auf das „Ganze menschlichen Daseins“ gesehen, nicht doch wiederum als „Trugbild“ entpuppt und – über dieses in der Erfahrung des Naturschönen innegewordene flüchtige „Glücksversprechen“ hinaus373 – den auf die „Verheißung des moralischen Gesetzes“ Vertrauenden und so auf das „Glück des ganzen Lebens“ (II oder ein Insekt, in Vergleichung gegen die Erde, ansiehet. Indessen, dass die Natur mit veränderlichen Auftritten die Ewigkeit auszieret, bleibt Gott in einer unaufhörlichen Schöpfung geschäftig, den Zeug zur Bildung noch größerer Welten zu formen“ (I 339 f ). 370 Vgl. dazu den bemerkenswerten Passus im § 42 der „Kritik der Urteilskraft“: „Da es aber die Vernunft auch interessiert, dass die Ideen (für die sie im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt) auch objektive Realität haben, d. i. dass die Natur wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Produkte zu unserem von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen (welches wir apriori für jedermann als Gesetz erkennen, ohne dieses auf Beweisen gründen zu können) anzunehmen: so muss die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen Übereinstimmung ein Interesse nehmen; folglich kann das Gemüt über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden“ (V 398). 371 Vgl. dazu Recki 1993; dies. 1992. 372 Jenes „Gefühl der Dankbarkeit“, „dass eine Welt sei“, setzt selbst voraus, dass Letztere eine der Idee der „moralischen Welt“ gemäße sei, und impliziert schon als solche Dankbarkeit die Hoffnung, dass der „Weltlauf“ nicht die „einzige Ordnung der Dinge“ ist, weil diese Vorstellung mit jener „höheren und unveränderlichen Ordnung der Dinge“ unverträglich bliebe, in der wir nach Kant als moralische Wesen „jetzt schon sind“ (IV 235). In Kants Hinweis auf diese „im heiteren Genusse seines Daseins“ empfundene „Dankbarkeit“ kommt vielleicht auch eine „Sinnaffirmation“ („dass eine Welt sei“) zum Ausdruck, die in der Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ (und dem darin gedachten „Sinn aus sich selber“) enthalten ist; sie hat in der „Moralität“ zwar ihre unumgängliche Voraussetzung, ohne dass sich solche „Affirmation“ darin erschöpft – noch Kants Idee der „moralischen Welt“ hat vermutlich darin ihr Fundament. 373 Darin zeigt sich Kants Nähe zu Adornos Notiz, wonach das „einzige Verhältnis des Bewußtseins zum Glück … der Dank“ sei (Adorno 1951, Nr. 72, 203).
648 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ 691) Hoffenden zuletzt nicht doch als den durch eine „natürliche Illusion“ Getäuschten und Geprellten ent-täuscht. Wohl deshalb ist jenes von Kant angeführte „Bedürfnis der Dankbarkeit“ von der Hoffnungsfrage nicht ablösbar, zumal dies mit dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ auch nicht so ohne Weiteres vereinbar wäre.374 Wäre es denn wirkliche „Dankbarkeit“ (und nicht eher eine besondere „daseins-fromme“ Gestalt des von Kant aufgespürten „Solipsismus“), wenn solches „Bedürfnis“ sich nicht von „mitteilender“ und „teilnehmender“ Vernunft unterbrechen ließe, weil darin doch nichts anderes als jenes affirmative „Dass-eine-den-moralischen-Gesetzen-gemäße-Welt-sei“ negative Gestalt gewinnt? So fände die von Kant angezeigte „Affinität“ zwischen den Ansprüchen des Moralischen und des Ästhetischen erneut eine denkwürdige Bestätigung. Ist es doch jenes in der Erfahrung des Naturschönen zu Dankbarkeit gerührte „nachdenkliche Gemüt“ selbst, in dem mit der darin angezeigten Aussicht, „dass der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme“ (s. o. IV., 3.3.1.), stets abgründige Irritationen verbunden sind. Jener denkwürdige Verweis auf „die wahre Auslegung der Chiffreschrift, wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht“ und dieserart in diesem „Interesse am Schönen“ gleichermaßen ein „moralisches Interesse“ voraussetzt und „offenbart“, hat eine nicht zu ignorierende Kehrseite und macht so die den Orientierungs-Horizont des Menschen konstituierende – nicht harmonisierbare – Spannung noch einmal in einer besonderen Zuschärfung sichtbar: Jene Widerfahrnisse des „Zweckwidrigen“ in Natur und Geschichte bedürfen durchaus keiner „Auslegung einer Chiffreschrift“, obgleich sie selbst in „teilnehmender Vernunft“ an ein unstillbares „moralisches Interesse“ rühren bzw. daran gebunden sind, ohne das diese hier verfolgten theodizee-geprägten Bezüge auch nicht der geforderten „Authentizität“ genügen könnten. Muss – eingedenk der „Verwandtschaft“ „ästhetischer Urteile … mit dem moralischen Gefühl“ (V 398) – jene aus der „Auslegung der Chiffreschrift …, wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht“, gespeiste Erfahrung375 nicht doch mit der ungeheuchelten Betroffenheit darüber vereint sein, ob dieses in seiner Chiffreschrift erdeutete „Schöne“ (bzw. jene Erfahrung des „Erhabenen“) für dieses „vernünftige, aber endliche“ – aber auch der „teilnehmenden Vernunft“ fähige – Wesen sich nicht in ganz anderer Weise auch als „des Schrecklichen Anfang“ erweist? Demzufolge wäre es nicht einmal so sehr ein Widerspruch, sondern wohl eher das aus derartigem Interesse gespeiste „Andere der Dankbarkeit“ selbst, das sich noch die hochgestimmten natur-ästhetischen Augenblicke und das darin enthaltene „Glücksversprechen“ sowie jenen „ruhigen heitern Genuss seines Daseins“ unterbrechen lässt – eingedenkend jener „vernünftigen Erdwesen“, denen es zeitlebens versagt bleibt, ihr Leben aus einer solchen „ruhigen heitern“ Selbsterfahrung des „Hiersein ist herrlich!“ zu 374 Die auch diesbezüglich naheliegenden Anknüpfungspunkte zu Kants Lehre vom „Schönen“ als „Symbol des Sittlichen“ sind hier nicht zu verfolgen. 375 Diese einen erst zu deutenden „Wink“ enthaltende „Chiffreschrift“ „offenbart“ uns noch eine andere Bestimmung als jene durch die „Aufforderung der Natur“ eröffnete Selbsterfahrung als „Herr über uns selbst“; dies konfrontiert so mit einem ganz anderen Vernunft-Anspruch, der erst ihrer „Selbsterhaltung“ entspricht.
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deuten und sich selbst darin zu sammeln.376 Es ist die „moralische Anlage“ in uns, die jenseits eines bloßen Erschreckens über das eigene potenzielle Getroffensein und eines allgemeinen und entsprechend blassen „Weltschmerzes“ sowie einer demgemäß abstrakten „Fernstenliebe“ der bedrängenden Erfahrung standhält, wie vielen „Mitmenschen, d. i. bedürftige(n), auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihilfe vereinigte(n) vernünftige(n) Wesen“ (IV 589 f ), die solcher Dankbarkeit zugrunde liegende Welterfahrung verwehrt bleiben muss. Und vielleicht ist es gerade der hartnäckige Stachel dieses „Anderen der Dankbarkeit“ selbst, der auch davor bewahrt, einer als „Zufriedenheit mit der Vorsehung und dem Gange menschlicher Dinge im Ganzen“ (VI 102) getarnten bzw. einer zum Verwechseln ähnlichen Teilnahmslosigkeit zu verfallen – einer unauffälligen Form jenes von Kant so energisch kritisierten „moralischen Solipsismus“, die sich, als Kunst des „dezenten Überlebens“, allzu leicht mit einer Gleichgültigkeit bzw. mit einem schleichenden Einverständnis dazu verbündet. Dankbar wahr-nehmende Demut wäre so unversehens einer subtilen Form eines gedankenlosen – mut- und zumutungslosen – Trotzes gewichen, Hoffnung hätte sich, stumm und ununterscheidbar geworden, letztendlich in eine borniert-abgestumpfte Hoffnungslosigkeit verkehrt – in eine lautlose und doch verzweifelte Form gewissermaßen, „man selbst sein zu wollen“, sei es auch in der ungestört-biederen Behaglichkeit jenes aus der Erfahrung der „schönen Natur“ gespeisten „ruhigen heitern Genusses seines Daseins“.377 Wenn Kant zufolge die „auf die Schule“ folgende „Anthropologie als Weltkenntnis“ den Menschen als denjenigen charakterisiert, der „nicht nur das Spiel versteht, dem er zugesehen hat“, sondern sich vor allem an dem orientiert, der darin selbst „mitgespielt“ hat (VI 400), so wird eine solche die „Anthropologie als Weltkenntnis“ aufnehmende „Theodizee“ indes den Menschen auch nicht nur als den „Mitspieler in dem großen Spiel des Lebens“378 ins Blickfeld rücken. Unter dem Eindruck, dass, angesichts der die „das allgemeine Weltbeste zerstörenden Enormitäten“ (IV 598), erst recht auch im „Weltenlauf“ „von keinem Soll die Rede ist“, werden solche theodizee-nahen Bezüge auch jenes im geschichtsphilosophischen Kontext thematisierte Motiv der „Naturgeschichte“ aufnehmen (s. o. II., 4.). Dann besagt der Rekurs auf den „deus in nobis“ in diesem Theo dizee-Kontext doch vor allem dies, dass dieser „Gott in uns“ die Leiden und Klagen der „Gewesenen“ und Verstummten miteinschließt – und sich gleichwohl nicht damit begnügt, allein das „Unabgegoltene“ vergangener Hoffnungen zu er-innern. Hier erweist sich die Anknüpfung an jene Perspektive der „Geschichte als Leidensgeschichte 376 In solcher durch das Motiv der „authentischen Theodizee“ notwendigen Brechung gewinnt jenes schon erwähnte denkwürdige Diktum Ricoeurs über die „Hoffnung, die etwas anderes erwartet“, – gerade in der angezeigten Stufung – noch eine radikale Zuschärfung (s. u. IV., Anm. 21). 377 Das aus solchem „ruhigen heitern Genuss seines Daseins“ gespeiste Gefühl der Dankbarkeit wird indes solche Empfindsamkeit auch daraufhin nüchtern prüfen, ob sie nicht einer – am Interesse-Haben und nicht am Interesse-Nehmen orientierten – selbst-besorgten Version des „Homo sum. Nihil humani a me alienum puto“: „Ich bin ein Mensch, und was Menschen widerfährt, kann auch mich treffen“ (AA II, 40), doch noch allzu nahe bleibt und so letztlich doch nicht mehr als die sublimierte selbst-interessierte Genugtuung darüber wäre, bislang selbst verschont geblieben zu sein. 378 Refl. 1502a, AA XV, 799 f.
650 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ der Welt“ (W. Benjamin) als unverzichtbar, welche die darauf bezogene Hoffnungsfrage nicht an „unabgegoltenen Hoffnungspotenzialen“, sondern unbeirrbar an den Subjekten dieser „Leidensgeschichten“ selbst festmacht. Insofern knüpfen diese Motive an die schon im zweiten (geschichtsphilosophischen) Teil geäußerte Vermutung an (bzw. bestätigen diese: s. dazu o. II., 4.3.), dass der dieser kantischen Hoffnungsthematik immanente Anspruch selbst – obgleich zwar „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, jedoch durchaus eingedenk der „durch hergebrachte fromme Lehren … erleuchteten praktischen Vernunft“ (VI 186)379 – geradezu das Verbot enthält: „Ihr dürft nicht hoffen wie die, die keine Trauer haben“380. Eine denkwürdige Konsequenz daraus wäre dem Gesagten zufolge – und in nochmaligem Verweis auf die nach Kant in dem „praktischen Interesse der reinen Vernunft“ verwurzelten Fragen „Ist ein Gott?, ist ein künftiges Leben?“ – doch dies, dass jene als Negativ-Gestalt der Hoffnung verstandene „Trauer“ (und ihr „Vermissen“) und das ihr eingeschriebene „Alles, was Menschen widerfährt, trifft auch mich“ in jener Hoffnung auf das „Ganze aller Zwecke“ und in der darin eingeschlossenen „Absicht, zu einem solchen Ganzen zu gehören“ (VI 133, Anm.), eine unübersehbare Entsprechung haben. Die voranstehenden Überlegungen wären freilich als eine gerade in solcher Dankbarkeit selbst gegründete (und von ihr stimulierte) Rückfrage aufzunehmen, die, jenem „Machtspruch der Vernunft“ zufolge, den irritierten Einsprüchen jenes „Rechtschaffenen“ ihren Beistand nicht versagen will. Vielmehr versteht und legitimiert sie sich – im Unterschied zu einer von bloß selbstbezüglicher Teilnahmslosigkeit getragenen Selbstzufriedenheit und einer übrigens von Kant verworfenen Gedankenlosigkeit (VI 98 f ) – in unbeirrbarem Widerstand auch gegenüber jener in Aussicht gestellten „tröstenden Aussicht in die Zukunft“ (VI 49) allein vor dem Hintergrund des Anspruchs einer „authentischen Theodizee“ (nunmehr als einer „Glaubenssache“: VI 119), worin „Gott durch unsre Vernunft selbst der Ausleger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens“ (VI 116) wird. Es ist wohl die von Kant auch als „Pflicht“ geltend gemachte „Dankbarkeit“, die sich eben „nicht allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf die Vorfahren, selbst diejenige, die man nicht mit Gewissheit namhaft machen kann“ (IV 592), erstreckt und als solche zuletzt in der Einheit von „Vernunft, Herz und Gewissen“ verankert ist. 379 Bezüglich dieser „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchteten praktischen Vernunft“ ist nicht nur an den „Heiligen des Evangelii“ und die höchste „Reinigkeit der moralischen Gebote“ zu denken; ebenso liegt mit Blick auf das „höchste Gut“ wohl auch ein Hinweis auf jene im „Alten Testament“ bekundeten „brennenden“ Erfahrungen nahe, für die Kant motivlich besonders empfänglich war. Die Erfahrung des Predigers klingt noch in der kantischen Konzeption der „moralischen Teleologie“ nach: „Denen, die Gott fürchten, wird es gut gehen, weil sie sich vor ihm fürchten; dem, der das Gesetz übertritt, wird es nicht gut gehen, und er wird kein langes Leben haben, gleich dem Schatten, weil er sich nicht vor Gott fürchtet. Doch es gibt etwas, das auf der Erde getan wurde und Windhauch ist: Es gibt gesetzestreue Menschen, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzesbrecher gehandelt; und es gibt Gesetzesbrecher, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzestreue gehandelt. Ich schloss daraus, dass auch dies Windhauch ist“ (Koh 8,12 ff ). Eine Assoziation zu Kants Hinweis auf das absurde Los der „in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie …, aus dem sie gezogen waren“, zurückgeworfenen „Rechtschaffenen“ (V 579 f ) und zur Erfahrung des „moralisch Zweckwidrigen“ legt sich zweifellos nahe. 380 Dies ist natürlich zu lesen als eine Umkehrung des neutestamentlichen Zuspruchs: „… damit ihr nicht trauert wie die anderen, die keine Hoffnung haben“ (1 Thess 4, 13).
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Jener Hinweis Kants (aus dem berühmten „Beschluss“ der „zweiten Kritik“), dem zufolge die „Erfahrung“ des „bestirnten Himmels über mir“ und des „moralischen Gesetzes in mir“ „unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ verknüpft sind (IV 300), findet eine denkwürdige Entsprechung darin, dass jenes im „ruhigen heitern Genusse seines Daseins“ in Anbetracht des „Naturschönen“ empfundene „Bedürfnis, irgend jemand dafür dankbar zu sein“ (V 571), sich ebenso mit dem unabweislichen Anspruch „teilnehmender Vernunft“, „Leiden beredt werden zu lassen“, innigst verknüpft. Dies ist es, was jenes „Bedürfnis der Dankbarkeit“ – eben daraus – „ins Stocken“, ja in „tiefes Stillschweigen“ geraten lässt; derart wird die durch solche Spannung konstituierte „Exis tenz“ in besonderer Akzentuierung als „conscientia mundi“ bzw. als „Copula zwischen Welt und Gott“ ausgewiesen. Jene von Kant bezeichnenderweise in diesem ethikotheologischen Kontext thematisierte „Dankbarkeit“ konvergiert so in unübersehbarer Weise mit jenem „Ich will, dass eine solche Welt sei“ und der darin sich manifestierenden „Willensbestimmung von besonderer Art“. Die sich in jenem „ruhigen und heiteren Genusse seines Daseins“ artikulierende „Sinnaffirmation“, aus der sich jenes gefühlte „Bedürfnis, irgend jemand dafür dankbar zu sein“ (V 571), speist, ist es wohl auch, die jene ganz andere „Stimme“ erst wahrnehmbar macht, „es müsse anders zugehen; mithin mußte auch die, obgleich dunkle, Vorstellung von etwas, dem sie [die „vernünftigen Weltwesen“] nachzustreben sich verbunden fühlten, verborgen liegen …“ (V 587). Noch einmal sei betont: Nicht, dass Kant jenen in der Erfahrung des Schönen enthaltenen „Wink“ etwa geringachten wollte, in dem uns augenblicklich die Ahnung überkommt, dass „wir in die Welt passen könnten“ – ganz im Gegenteil: Ist es doch dieses ein „Glücksversprechen“ enthaltende Widerfahrnis, das sich für Kant unmittelbar mit jenem – ihm zufolge einem religiösen Gefühl verwandten – Gefühl der Dankbarkeit verbindet, das freilich selbst eine „moralische Anlage in uns“ voraussetzt und derart gleichsam eine besondere „Zustimmung zur Welt“ artikuliert, die offenbar jener Welterfahrung bemerkenswert nahe kommt, welcher M. Claudius in seinem schon angeführten „täglich zu singenden“ Gedicht Ausdruck verlieh (s. u. IV., Anm. 33). Gleichwohl ist es ebendieselbe „moralische Anlage in uns“, aus der sich jene „Dankbarkeit“ speist und sich gleichermaßen durch jenes – behutsame, weil hinsichtlich seiner Möglichkeit durchaus verunsicherte – „Alles, was Menschen betrifft, trifft auch mich“ irritieren, ja erschüttern lässt. Eine im Sinne der nicht harmlosen Version des „Homo sum …“ vollzogene „Erweiterung des Vernunftgebrauchs inmitten der Erfahrung“, die dabei vor allem auch nochmals für die Ansprüche der „geschuldeten“ Rechtspflichten sensibilisiert, eröffnet und legitimiert so erst, der rechten „Ordnung der Willensbestimmung“ gemäß, den eigentlichen Sinnhorizont der Frage „Was darf ich hoffen?“, die sich gleichwohl von „einäugigen“ Fixierungen (im Sinne einseitiger „praktischer Zukunftsperspektiven“) befreien muss. Auch in diesem Zusammenhang bestätigt sich, dass es der Anspruch jener „conscientia“ jedenfalls geradewegs verbietet, diese Fragen zu einem stillschweigend akzeptierten Privileg gegenwärtiger und künftiger Generationen umzudeuten. Ein demgegenüber sensibilisiertes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ wird sich deshalb in diesem thematischen Umfeld noch einmal daran erinnern lassen, an welchen „Veto“-Rechten und -Pflichten sich das „Interesse der Menschheit“ und die daran gebundene „Existenz der Vernunft“
652 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ (II 631) orientieren muss. Das daraus gespeiste „Befremden“381 sprengt offenkundig den Horizont einer lediglich moraltheologisch konzentrierten Betrachtungsweise und gewinnt, in diesen theodizee-nahen Zusammenhang eingebettet, noch einmal besondere religionsphilosophische Relevanz. War Kant schon jener Befund rätselhaft, dass doch nur die „spätesten Generationen“ das „Glück haben sollten, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren … gearbeitet hatten“ (VI 37), so müssen sich solche „Rätselhaftigkeit“ und jenes „Befremden“ angesichts des absolut Widerwärtigen und „Zweckwidrigen in der Erfahrung“ der Geschichte geradewegs in ein tiefes „Stillschweigen der Vernunft“ verwandeln, das zweifellos auch über ein zu „starrem Staunen“ (R. Otto) verschärftes „Befremden“ noch hinausweist. Es ist vornehmlich die schon angezeigte eigentümliche und unaufhebbare Spannung, einerseits die „Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung … zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen“ (VI 49), sowie der offenbar nicht weniger großen Versuchung andererseits, „unsere Augen … mit Unwillen wegzuwenden“, worin, in gewiss ganz unterschiedlichen Akzenten, auch die für Kants Denken maßgebende Perspektive „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ verwurzelt ist. Aus ihr speist sich der moralische Impuls jener „authentischen Theodizee“ wie auch die spezifische Affirmation, die in diesem in „Vernunft, Herz und Gewissen“ verankerten „Bedürfnis der fragenden Vernunft“, das heißt in der ihm eingeschriebenen „Klage“, zutage tritt und dessen „Sinn fürs Not-Wendige“ schärft. Es hat sich erwiesen: Solche sensible Aufmerksamkeit lässt sich auch durch jene erhebenden „Blicke auf die schöne Seite der Schöpfung …, wo dem Menschen begreifliche Zwecke die Weisheit und gütige Vorsorge des Welturhebers in ein unzweideutiges Licht stellen“ (VI 118), nicht ablenken bzw. beschwichtigen – Ambivalenzen, die freilich wie kaum etwas anderes die Abgründigkeit menschlichen Daseins selbst offenbar werden lassen. Keineswegs verfällt solches radikalisierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ damit etwa der Vermessenheit, „Gericht zu halten“; sie begnügt sich durchaus mit dem Anspruch, dass das gerechtigkeits-inspirierte Ideal des „Gottes in uns“ (also ebenjene Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“) in seiner „ebenbildlich“-geschöpflichen Würde sich nicht in sehnsuchtsvoll-enthusiastischen Gefühlen und „Ahnungen fürs Übersinnliche“ verliert. Derart insistiert sie lediglich auf dem durch nichts relativierbaren Recht der von jenem „Gott in uns“ vernommenen Stimme – gespeist aus dem gleichermaßen schuld- wie auch leidsensiblen und „unüberschreibaren“ – „himmelschreienden“ – Bewusstsein, „es müsse anders zugehen …“. Jene von Kant so bezeichnete „himmlische Stimme in uns“ (des „Übersinnlichen in uns“) ist eben gleichermaßen die „himmelschreiende Stimme“ nach dem „Übersinnlichen außer uns“, die in ihrem Anspruch um der „Selbsterhaltung der Vernunft“ willen nicht zurückgewiesen werden kann. Der die „Sache Gottes verfechtende“ Verteidiger der „höchsten Weisheit des Welturhebers“ gegen jene erwähnte „Anklage“ und jener von W. Benjamin benannte „Gerechte“ „als Fürsprech der Kreatur und zugleich ihre höchste Verkörperung“382 verbünden sich hier 381 Hier liegt die Anknüpfung an einschlägige geschichtsphilosophische Aspekte besonders nahe (s. o. II., 3.2.). 382 W. Benjamin, Der Erzähler: II.2, 459.
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auf denkwürdige Weise. Es ist das im Sinne „teilnehmender Vernunft“ klagefähige „vernünftige Weltwesen“, das in solchem Anspruch als „conscientia mundi“ existiert, wohl auch nur so den Status als „Endzweck der Schöpfung“ verdient und derart den Menschen davor bewahrt, dass er als „Mitwisser der Schöpfung“ („conscientia mundi“) unversehens zum bloß überlebens-schlauen Mitspieler wird (s. o. III., 4.2.1.). Es hat sich gezeigt: Nicht als „Mitspieler in dem großen Spiel des Lebens“, sondern im Widerstand bzw. wo die „Vernunft ins Stocken gerät“, bringt das „vernünftige Weltwesen“ das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ zur Geltung, weil allein so der jener „teilnehmenden Vernunft“ verpflichtete „Gott in uns“ authentisch „zur Sprache“ kommt. Schon hier treten jene Fragen in den Vordergrund, die im abschließenden VI. Teil noch näher verfolgt werden sollen (und dort jene schon vorgestellte „Zweckverbindung der Vernunftideen“ mit dem Thema der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ verknüpfen): Es sind offenbar die „innere Zweckbestimmung ihres Gemüts“ (V 587) und der „Geist“ „vernünftiger Weltwesen“ als das es „belebende Prinzip“, worin sich dergestalt die Weltstellung des Menschen als „Copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ auf eine Weise zur Geltung bringt, die auch jener vernommenen „Stimme, … es müsse anders zugehen“ (V 587) die Richtung weist. Die Ausblendung dieser Themen hätte indes zur unvermeidlichen Folge, dass auch die Hoffnungsfrage dem jenem „Alles, was Menschen widerfährt, betrifft auch mich“ innewohnenden Anspruch nicht genügt und folglich keineswegs als eine durch ein „Vernunftbedürfnis“ legitimierte Frage angesehen werden kann. Vor diesem Erfahrungshintergrund bringt sich lediglich erneut – und besonders eindringlich – eine Version jener kantischen Aufforderung zur Geltung, den „Privathorizont zu demjenigen der Gattung zu erweitern“. Das keineswegs auf das Erschrecken über bloße „Selbstbetroffenheit“ – „Ich bin ein Mensch, und was Menschen widerfährt, kann auch mich treffen“383 – zu reduzierende, sondern im Sinne der von Kant vorgenommenen Wendung zugeschärfte, einem praktischen Vernunftinteresse verpflichtete „Ich bin ein Mensch. Alles, was Menschen widerfährt, betrifft auch mich“ kann wohl ebenfalls jene dem Erhabenen gemäße „Stimmung des Gemüts“ nicht unberührt lassen. Als äußerstes Gegenteil seiner ästhetischen Erfahrung, dass „selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme“, hat solche daran geknüpfte „Rührung“ in jenem untrüglichen „Es müsse anders zugehen“ (V 587) zweifellos ihren unbestechlichen Widerpart, worin praktische Vernunft allein sich als solche auch zu erhalten vermag. Freilich hat sie für ein „nachdenkendes Gemüt“ auch eine Veränderung des damit verbundenen „einem religiösen Gefühl Ähnlichen“ zur Folge, welches in der angezeigten Weise als das „Andere der Dankbarkeit“ – eben als ihr Anderes – zu bestimmen wäre und sich zu einem Vermissen, Klagen und Trauern verdichtet; nur in solcher „Wahr-Nehmung“ könnte das „vernünftige Weltwesen“ als „conscientia mundi“ auch für sich beanspruchen, „Endzweck der Schöpfung“ zu sein. Über das bloß bedingte „theoretische Vernunftinteresse“ und das unbedingte Bedürfnis der Vernunft in „ihrem praktischen Gebrauch“ hinaus artikuliert
383 AA II, 40.
654 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ dies einen unabweisbaren Anspruch, dessen Radikalität und Unbedingtheit solches Bedürfnis erst als ein solches der „fragenden“ und „klagenden“ Vernunft ausweist, das in den solcherart erweiterten „Weltbegriff der Philosophie“ integriert bliebe. Gleichwohl bleibt „grenz-sensibel“ darauf zu achten, dass damit keineswegs „an den Grenzen der reinen Vernunft“ etwa neue Sinnhorizonte „reflektierend“ eröffnet werden. Das derart mit solchen „Abgründen“ konfrontierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ lässt vielmehr Kants Hinweis auf den „Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung“ sowie den Anspruch, diese „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ auszuweisen, in diesem Theodizee-Kontext zu einer ganz besonderen Herausforderung werden. Es soll sich erweisen (s. u. VI., 1.2.): Das von Kant als „Theologie“ bezeichnete „dritte Stadium“ der Metaphysik als dasjenige „der praktisch-dogmatischen Vollendung ihres Weges, und der Gelangung der Metaphysik zu ihrem Endzweck“ (III 615), erfährt durch die zur „Glaubenssache“ deklarierte „authentische Theodizee“ (Hiob: „Wo bleibt Gott?“) und durch die aus dem radikalisierten „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ aufsteigenden Fragen eine eigentümliche „Brechung“; so gewinnt sie „am Ende“ als eine aus der erweiterten „Ethikotheologie“ hervorgehende „negative Theologie“ neue und endgültige Gestalt – die sich als solche freilich eine „Vollendung“ verbietet. Die voranstehenden Überlegungen sollten aber auch dies verdeutlichen, dass die jene maßgebenden ethikotheologischen Perspektiven unterbrechende Theodizee-Thematik in der hier vorgestellten Weise keineswegs bloß „von außen“ an diese Ethikotheologie herangetragen bzw. angefügt wird, sondern in der Sache aus ihr selbst hervorgeht und diese insofern tatsächlich erweitert. Indes, diese theodizee-affinen Fragen als dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ gewissermaßen „eingeschrieben“ zu behaupten und sie als – entsprechend jener erweiterten Idee der „moralischen Teleologie“ – unabweislich zu rechtfertigen, ist das eine; davon noch unterschieden bleibt die Frage zu beantworten, ob denn der von Kant geäußerte Befund über das „Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ tatsächlich stichhaltig ist und der von ihm auch diesbezüglich beanspruchte „Gerichtshof der Vernunft“ in der Tat die notwendige Unparteilichkeit und unvoreingenommene Beurteilung erkennen lässt. Dazu die folgende kritische Anmerkung. 4.2.3. Kants Theodizee-Kritik vor dem „Gerichtshof der Philosophie“. Eine kritische Anmerkung zum Anspruch seiner „Theodizee“-Schrift Auf den ersten Blick scheint die in Kants Abhandlung „Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ leitende Problemsicht und der daran geknüpfte kritische Anspruch bezüglich der damit zusammenhängenden Themen doch vornehmlich darauf abzuzielen: Sofern seiner Auffassung zufolge die in den traditionellen Konzeptionen auftretenden Begründungsgestalten einer „doktrinalen Theodizee“ offensichtlich selbst einen integralen Bestandteil eines „doktrinalen Glaubens“ darstellen, wäre demzufolge Kants Kritik, der zufolge ein solcher „doktrinaler Glaube stets etwas Wankendes an sich hat“ (II 692), demgemäß wohl dahingehend zu variieren, dass alle Versionen einer „doktrinalen Theodizee“ hingegen „stets etwas Sophistisches an sich“ haben – ein Ein-
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wand, der ohnedies auch seiner Abgrenzung der „authentischen Theodizee“ von einer „doktrinalen Theodizee“ zugrunde liegt. Kants Hinweis, dass der „doktrinale Glaube“ unaufhebbar „etwas Wankendes an sich“ habe, hätte in der Unterscheidung zwischen „doktrinaler“ und „authentischer Theodizee“ demnach eine bemerkenswerte direkte Entsprechung. So wie der Anspruch eines „theoretisch-dogmatischen Überschritts“ hinsichtlich der „transzendenten Vernunftideen“ zum Scheitern verurteilt sei, so müsse solches „Misslingen“ laut Kant eben auch für die diesem „theoretisch-dogmatischen Überschritt“ zuzuordnende „Theodizee“ gelten; deren Anspruch bzw. Bedeutung sei, analog zu jenen „Ideen“, ebenfalls nur in „praktisch-dogmatischer“ Transformation zu retten, d. h. eben in der nunmehr von Kant geltend gemachten Gestalt der „authentischen Theodizee“. Die durch ein „Gerichtsverfahren“ legitimierte und von Kant explizit vertretene Auffassung scheint demnach darauf abzuzielen, dass ein solcher – dann aber auch „unabweislicher“ – Anspruch nicht lediglich „verteidigt“ werden könne, sondern auch „affirmativ“, durch einen „Machtspruch der Vernunft“, zu behaupten sei. Indes, bei genauerem Hinsehen ergibt sich ein anderes Bild. Bei einer genaueren Lektüre der kantischen Theodizee-Schrift irritiert nämlich nicht nur der schon erwähnte Sachverhalt, dass Kant selbst offenbar noch kurze Zeit vor dieser Theodizee-Schrift eine solche „doktrinale Theodizee“ in der Spur seiner schulphilosophischen Vorgänger für möglich gehalten und auch selber vertreten hat.384 Vor allem muss auch der nunmehr von ihm gegenüber diesen Theodizee-Versuchen geäußerte Einspruch verwundern, dass derart ein philosophischer Anspruch auf eine „Einsicht“ erhoben werde, „zu der kein Sterblicher gelangen kann“ (VI 115) – ein Urteil freilich, das zunächst schon einmal die Rückfrage nahelegt, von wem eine solche offenbar als Wis384 Es ist bemerkenswert, dass Kant (noch in seinen Vorlesungen zur „natürlichen Theologie“: vgl. AA XXVIII, 1199), in Berufung auf Leibniz, im Blick auf die gegen die Theorie der „besten aller Welten“ vorgebrachten „Einwürfe“ „aus dem Dasein so vieler Übel in der Welt“ zu dem Argument Zuflucht nahm, „dass, da unsere Erde nur ein Teil der Welt sei, ein jeder Teil aber an und für sich unvollkommen sein müsse, weil nur das ganze Weltall das beste sein soll, es demnach unmöglich sei, zu bestimmen, ob nicht auch die Übel nach dem Plan des Ganzen durchaus mit zur besten Welt gehören“ – und in solcher Absicht sich zu einer gewiss erstaunlichen Abstattung eines „Dankes“ veranlasst sah, die ihm später offenbar doch nicht mehr als „authentisch“ genug (sondern wohl eher reichlich „sophistisch“) erscheinen wollte und so wohl ebenfalls den misslungenen Versuchen der Theodizee zugerechnet werden muss: „Dank sei den Astronomen, die durch ihre Beobachtungen und Schlüsse unseren Begriff vom Weltall weit über unseren kleinen Erdkreis emporgehoben und uns dadurch nicht nur Erweiterung unserer Erkenntnisse verschafft, sondern auch Bescheidenheit und Vorsicht in Beurteilung des Ganzen gelehrt haben; denn freilich, wäre unser Erdball schon die Welt, so möchte es schwer halten, mit Überzeugung sie als die beste zu erkennen, weil, aufrichtig gesprochen, hier die Summe des Schmerzes der Summe des Guten wohl das Gleichgewicht halten möchte“ (AA XXVIII, 1200). Daraus ist zu ersehen, dass Kants späterer Hinweis auf das aller „doktrinalen Theodizee“ innewohnende „Sophistische“ auch in seinen eigenen Auffassungen lange Zeit (nachweislich noch Mitte der 1780er-Jahre) feststellbar ist. Busche (2013, 242, Anm. 31) zitiert zustimmend das Urteil Dieringers: „Während Kant in den Vorlesungen über Rationaltheologie noch selbst den Part der Verteidigung übernommen hat, nimmt er im Theodizee-Aufsatz auf dem Richterstuhl der Vernunft Platz“. Dieringers Urteil trifft offenbar zu, wonach „Kant in seinen Vorlesungen über Rationaltheologie noch vom Gelingen einer philosophischen Theodizee überzeugt ist, während er in seinem Aufsatz von 1791 nur noch eine philosophische Verteidigung seines moralischen Theismus für möglich halten wird“ (Dieringer 2009, 195 f ). Dem entspricht, dass Kant im TheodizeeAufsatz diese „Theodizee“ nunmehr als „Glaubenssache“ versteht.
656 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ sensanspruch verstandene „Einsicht“ in die „Einheit in der Zusammenstimmung jener Kunstweisheit mit der moralischen Weisheit in einer Sinnenwelt“ (ebd.) denn eigentlich beansprucht wurde. Daran ist die weitere Frage geknüpft, was denn Kants eigene – gegenüber diesen traditionellen Gestalten kritisch geltend gemachte – Konzeption einer „authentischen Theodizee“ genauer besehen zu leisten vermag, besser: als deklarierte „Glaubenssache“ nunmehr eigentlich leisten will385 – abgesehen von der Zurückwiesung derselben, die einer kritischen Prüfung in einem unabhängigen Gerichtsverfahren ihm zufolge nicht standhalten können, und seiner demgegenüber bekundeten Würdigung der „Aufrichtigkeit“ Hiobs und der entschiedenen Verwerfung der Pseudo-Argumente der Hiob-Freunde (die von Kant allerdings offenbar fälschlicherwiese mit den Vertretern einer „doktrinalen Theodizee“ identifiziert bzw. mit ihnen in eine Reihe gestellt werden). Gewiss räumt Kant ein, dass auch die von den Kritikern dieser traditionellen TheodizeeAnsprüche erhobenen Einwände keineswegs ausreichend sind, um die Behauptung einer „moralischen Weisheit in der Weltregierung“ (VI 114) widerlegen zu können. Das kritischerweise erklärte Ziel sei es, in Zurückweisung einschlägiger Anmaßungen auf beiden Seiten „diesen Prozess für immer zu endigen; und dieses lässt sich gar wohl tun“ (VI 114 f ). Es wird sich im VI. Teil näher erweisen: Zur Erklärung der „Theodizee“ als „Glaubenssache“, die sie vor vermessenen Ansprüchen entlasten soll, fügt sich, als Kehrseite davon, die Bestimmung bzw. Legitimation des „Zweifelglaubens“ als „überwiegendes praktisches Fürwahrhalten“ (V 604) recht genau und modifiziert damit auch den Anspruch des „Vernunftglaubens“ (s. u. VI. 1.1.2.). Indes, grundsätzlicher noch bleibt zu fragen, ob denn diese von Kant „alternativ“ geltend gemachte „authentische Theodizee“ tatsächlich dasjenige einzulösen vermag, was Kant als deren rationalen Anspruch und als Auflösung derselben ausgibt, d. i. die „Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt“ (VI 105). Jedenfalls wird über die beiden genannten Ansprüche hinaus auch mit Kants „authentischer Theodizee“ nicht der vor einem „Gerichtshof der Vernunft“ erhobene Anspruch eingelöst, „den angeklagten Teil, als Sachwalter, durch förmliche Widerlegung aller Beschwerden des Gegners zu vertreten“ (VI 105).386 Busche kritisiert in seiner scharfsinnigen (wiederholt auf Motive 385 Die zu derjenigen des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ analoge Argumenta tion und der damit verbundene kritische Anspruch ist nicht zu übersehen, denn, so heißt es in der Schlussanmerkung der „Theodizee“-Schrift: „Die Theodizee hat es, wie hier gezeigt worden, nicht sowohl mit einer Aufgabe zum Vorteil der Wissenschaft, als vielmehr mit einer Glaubenssache zu tun. Aus der authentischen sahen wir: dass es in solchen Dingen nicht so viel aufs Vernünfteln ankomme, als auf Aufrichtigkeit in Bemerkung des Unvermögens unserer Vernunft, und auf die Redlichkeit, seine Gedanken nicht in der Aussage zu verfälschen, geschehe dies auch in noch so frommer Absicht, als es immer wolle“ (VI 119). Ein grundlegendes Problem sei jedoch schon im Blick auf diese kantische Bemerkung zur „authentischen Theodizee“ benannt: Was hat diese Erklärung der „(authentischen) Theodizee“ zur „Glaubenssache“ genauerhin philosophisch zu bedeuten, wenn solche „Theodizee“ doch nur unter der Voraussetzung des „Daseins Gottes“ sinnvoll ist, das freilich zuletzt erst über den „Zweifelglauben“ in kritischer Weise thematisch werden kann? Wie ist dann aber, ohne sich dabei einer zirkulären Argumentation auszusetzen, das Verhältnis von „(authentischer) Theodizee“ und „Zweifelglaube“ zu bestimmen? 386 Busche (2013, 236, Anm. 17) bezieht sich zustimmend auf die von C.-F. Geyer vertretene Auffassung, „Kants ‚authentische Theodizee‘ verdiene den Namen einer Theodizee nicht, ‚da sie mit den Anforde-
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und Argumente der Leibniz’schen Theodizee-Abhandlung rekurrierenden) „Metakritik“ zu „Kants Kritik der Theodizee“, dass der eigentliche Streitpunkt der Theodizee, nämlich „ob sich die vorgetragenen Anklagegründe gegen Gott, falls er existiert, als hinreichend für seine mögliche Verurteilung … erweisen oder nicht“, genauer besehen doch auch von Kant negativ beurteilt wurde. Ebendies trifft nämlich ihm zufolge nicht zu: „Wie bei jedem rechtsstaatlichen Prozess auch, muss er [der Verteidiger] nicht etwa die Unschuld des Angeklagten beweisen; vielmehr muss er lediglich negativ nachweisen, dass die Beschuldigungen von Seiten der Ankläger nicht ausreichen, um den Angeklagten wegen mangelnder Gerechtigkeit, Weisheit und Güte zu verurteilen“.387 Darüber hinaus leiste jedoch auch die von Kant demgegenüber favorisierte „authentische Theodizee“ genauer besehen nichts und begünstige überdies in mancherlei Hinsicht lediglich Missverständnisse über einige – mit der Theodizee-Thematik selbst nicht zu verwechselnde – Streitpunkte. Ebenso erweise sich Kants „richterliche“ Argumentation in mehrfacher Hinsicht als prinzipiell unzureichend, ja sogar als widersprüchlich. Busche beschließt seine Ausführungen mit dem ernüchternden Fazit, „dass Kants beanspruchter Nachweis vom ‚Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee‘ seinerseits gründlich misslungen ist. Kants erstes Beweisziel, dass ‚alle bisherige Theodicee‘ nicht fähig sei, ‚die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel‘, die aus den empirischen Zweckwidrigkeiten erwachsen, ‚zu rechtfertigen‘, bleibt in der Luft hängen, weil ein wirklicher, die vor Gericht geltenden Beweislastverteilungen mitreflektierender Vergleich zwischen der Validität der Anklagegründe und der Validität der Verteidigungsgründe auch nicht im Ansatz versucht wird.“388 rungen, die Kant im Ausgang von Leibniz an eine Verteidigung Gottes … gestellt habe, überhaupt nichts gemein‘ habe“. 387 Busche 2013, 244. Freilich, schon der von Kant einerseits festgestellte Ausgang dieses von ihm beanspruchten „Rechthandels vor dem Gerichtshofe der Philosophie“, „dass alle bisherige Theodizee das nicht leiste, was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen gibt, gemacht werden, zu rechtfertigen“ (VI 114), steht in einer unübersehbaren Spannung dazu, dass Kant andererseits ausdrücklich einräume, auch der Vertreter einer Theodizee habe sich nicht darauf „einzulassen“, „dass er die höchste Weisheit Gottes aus dem, was die Erfahrung aus der Welt lehrt, auch sogar beweise; denn hiermit würde es ihm auch schlechterdings nicht gelingen, weil Allwissenheit dazu erforderlich ist“ (VI 105 f ). Busche diagnostiziert hier bei Kant einen „verblüffenden Widerspruch“ (Busche 2013, 262), eben einen von ihm unbemerkten „Wertungswiderspruch“ (ebd. 263). 388 Busche 2013, 266. – Einige der von Busche angeführten Haupteinwände bzw. Kritikpunkte seien hier lediglich benannt: Das in diesem „Rechtshandel“ von Kant in der beanspruchten Rolle des „Richters“ geäußerte „Urteil … über alle ‚bisherige Theodizee‘ erweist sich … als weder unparteiisch noch elaboriert“ (Busche 2013, 254) und führe so zu dem wiederholt festgestellten Befund, „dass Kant die Argumente der Verteidigung [einer möglichen „philosophischen Theodizee“] in einem Ausmaß verkürzt, ja verdreht, das mit der Rolle eines Richters unverträglich ist“ (ebd. 256); manche der einschlägigen Argumente Kants seien bloße „Unterstellungen“ von (Erkenntnis-)Ansprüchen, die jedoch seitens der Theodizee nie erhoben wurden und „nur auf der Grundlage eines starken Affektes, ja eines Ressentiments gegen die Theodizee erklärlich“ seien (ebd. 258; 265); ein solcher „Affekt“ sei auch in „Kants Suggestion von Unredlichkeit“ (ebd. 269) in der Argumentation der Theodizee-Verteidiger bemerkbar, die auch nicht davor zurückscheue, Letztere mit den heuchlerischen Freunden Hiobs „auf dieselbe Stufe“ zu stellen (ebd.) und sie somit moralisch diskreditiert. Während Kant in seiner Argumentation weithin „jede richterliche Reflexion auf die konkrete Beweislastverteilung“ verabsäume, würden hingegen „die Verteidiger mit
658 III. Teil: Weltbegriff der Philosophie – Die „höchsten Zwecke der Vernunft“ Im VI. Teil werden diese von Kant im Kontext der so genannten „authentischen Theo dizee“ angesprochenen Fragen noch in anderen Hinsicht aufgenommen und weitergeführt. Im folgenden IV. Teil treten jedoch andere thematische Gesichtspunkte in den Vordergrund, die sich sodann auch für die Teile V und VI als grundlegend erweisen.
unterstellten Beweisansprüchen auf reine Einsicht in Gottes Motive überfrachtet“ (ebd. 262); gegenüber den kantischen Unterstellungen sei die Rückfrage angebracht, „was Theodizee in ihrer Geschichte denn mehr versprochen haben soll als dies, die Anklagen gegen Gott als unzureichend zu erweisen“ (ebd. 263) – und ebendies rechtfertige mitnichten die von Kant beanspruchte negative Bilanz (ebd.). Überdies bleibe von Kant „sein eigener Wertungswiderspruch unbemerkt“, dem zufolge „die bisherige Theodizee einerseits an ihren falschen Versprechungen gescheitert sein soll, andererseits aber im Ergebnis eine Art Freispruch des Angeklagten wegen Unzulänglichkeit der Anklagegründe zu erwirken fähig“ sei (ebd. 263); nicht zuletzt verrate Kants unzulängliches „richterliches Urteil“, „dass die Theodizee ‚eine Einsicht‘ beanspruche, ‚zu der kein Sterblicher gelangen kann‘…, eine ignoratio elenchi“, die eben erneut seine erwähnte „Überfrachtung der Theodizee mit außerwesentlichen Erkenntnisansprüchen“ (ebd. 266) erkennen lasse, die ebenfalls den Hauptmangel der kantischen Theodizee-Sicht, nämlich einen „viel zu weiten und überladenen Begriff von Theodizee“ (ebd. 267), lediglich bestätige und zuletzt auch den in Kants Urteil zutage tretenden „massiven Selbstwiderspruch“ verursache: „Einerseits beansprucht Kant nämlich, diesen ganzen Prozess höchstrichterlich ‚für immer zu endigen‘ …, andererseits endet das Verfahren aber ohne einen förmlichen und klaren Richterspruch“ (ebd. 267). Busches abschließendes Fazit: „Wie auch immer, das Ergebnis der hier versuchten Rekonstruktion und metakritischen Beurteilung von Kants Kritik der Theodizee dürfte die Notwendigkeit aufgezeigt haben, gleichsam Revision gegen Kants Richterspruch einzulegen und diesen ganzen Prozess erneut aufzurollen“ (ebd. 269).
Personenregister
A Adorno, Th.W. ............... 130, 263, 282, 286f, 310f, 313, 323, 333, 337f, 340f, 349f, 359f, 372, 384f, 391, 401, 413, 415, 417, 420, 425f, 429f, 620, 622ff, 628, 631, 647 Allison, H.E. ...................................... 53, 270 Angehrn, E. ..... 149, 263, 266, 268, 290, 292, 304f, 343, 361, 389, 398, 414, 417, 621 Arendt, H. ........................ 186, 226, 267, 345, 382, 392 Aristoteles............................. 40, 61, 159, 228 Aschenberg, R. ................. 181, 199, 358, 367 Atwell, J.E. ....................................... 141, 193 Auxter, Th. ............................................... 234
B Bambauer, Ch. ........... 19, 153, 158, 167, 177, 189f, 192, 234, 477 Barth, H. ...... 12, 30, 102, 447f, 450, 454, 458 Barth, U. ....... 48, 56, 201, 209, 504, 583, 592 Bartuschat, W. ................. 148f, 256, 258, 274 Baumgarten, A.G. ...... 90, 191, 202, 279, 301 Baumgartner, H.M. .......... 234, 268, 295, 371 Baum, M. .................. 90, 158, 186, 189, 191, 194, 197, 201f, 231, 279, 301 Beierwaltes, W.,.......................................... 97 Benedikt, M. ..................................... 224, 336 Benjamin, W. ........................................... 271, 287f, 292, 295, 303f, 318f, 325, 330, 333ff, 343, 349f, 355, 364, 370, 384, 397ff, 411ff, 420, 423ff, 634, 636, 650, 652 Bloch, E. ................................................... 340 Blumenberg, H. ................................ 310, 385 Bojanowski, J. .......................................... 446 Bondeli, M. ................................................ 89 Brachtendorf, J. ........................................ 619
Brandt, R. .................................. 19, 109, 146, 149, 169, 248, 253, 255, 267, 274, 277, 284, 288, 291, 296, 298, 311f, 316, 330, 344, 347, 364, 368, 404, 486, 633 Brecht, B.,......................................... 245, 429 Brumlik, M. .............................................. 404 Buber, M. ................................................. 211 Burke, E. .................................................. 642
C Carnap, R. ................................................ 126 Cassirer, E. ....................................... 310, 591 Cavallar, G. ...................................... 256, 393 Cheneval, F. ................... 261, 263f, 270, 290, 307, 393, 441, 474 Cicero, M.T. ....................... 56, 158, 173, 228 Claudius, M. ..................................... 589, 651 Cohen, H. ................................... 85, 185, 237 Collingwood, R.G. ................................... 264 Conradt, M. .............................................. 490 Cramer, K. ................................................ 518 Cunico, G. .......................................... 43, 179 Cusanus............................................... 96, 107
D Derrida, J. ......................................... 226, 242 Dieringer, V. ............................................. 655 Dierksmeier, C. ........................................ 500 Diner, D. ................................................... 368 Dörflinger, B. ........................................... 555 Droysen, J.H. ............................ 323, 404, 420 Durkheim E. ............................................. 239 Düsing, E. u. K. ................................ 467, 524 Düsing, K. ..... 49, 51, 93, 101, 111, 141, 148, 441, 461, 467, 484, 523, 548, 551, 603
660
E Ebbinghaus, J. .......................................... 206 Ebeling H. ................................................ 167 Eberhard J.A. ........................................... 442 Esser, A.M. ....................................... 134, 206
F Fackenheim, E.L. ............................. 339, 420 Ferguson, A. ............................................. 149 Feuerbach, L. ..... 86, 205, 503, 593, 609, 640 Fichte, J.G. ........... 81f, 91, 98, 107, 144, 166, 171, 173f, 176, 180, 184, 239, 241, 495, 503, 523, 532, 538, 565, 601, 604, 606 Firla, M. ................................... 215, 336, 342 Fischer, F. ................................................. 484 Fischer, K. .................................................. 28 Fischer, N. .................................... 23, 93, 158 Flach, W. .............. 145f, 254, 256, 263f, 275, 283, 376, 381 Fleischer, M. .............................. 13, 208, 315 Forschner, M. ............................... 23, 28, 365 Franck, S. ................................................. 640 Freud, S. ................................................... 624
G Garve, Ch. ............................ 14, 67, 196, 509 Gatterer, J.Chr. ......................................... 307 Geismann, G. .......... 106, 149, 189, 203, 230, 232, 254, 256, 263, 270, 275, 278, 284, 367 Gerhardt, V. ........ 14, 104, 257, 269, 360, 564 Gesang, B.,.................................................. 53 Geyer, C.-F. .............................................. 656 Goethe, J.W. .................................... 230f, 310 Guttmann, J. ............................................. 556 Guyer, P. ........................................... 194, 206
H Habermas, J. ...... 98, 176, 220, 222, 239, 241, 244, 247, 282, 286, 303, 346, 347, 362, 365, 368f, 396, 420, 422f, 425, 431f, 483, 564 Habichler, A. .................................... 234, 272 Halfwassen, J. ...................................... 47, 96 Hamann, J.G. ............................................ 523
Personenregister Hattrup, D. ............................................... 179 Hegel, G.W.F. ............ 55, 86, 89, 91, 94, 176, 192, 205f, 209f, 217, 224, 233, 235, 240, 245f, 281, 303, 320, 347f, 359, 371, 387, 390, 394, 402, 431, 439, 452f, 468, 480, 487, 510, 521, 536, 538, 549, 551f, 558, 570, 583f, 603, 606ff, 611 Heimsoeth, H. ................... 47, 101, 135, 164, 229, 491, 561, 566, 594 Henrich, D. ... 51, 89, 123, 127, 130f, 137, 155, 165, 208, 210, 231, 242, 248, 305, 379, 395, 397, 460, 462, 479, 484, 488, 493, 513, 525, 527, 533, 560, 565f, 573, 604, 621, 629, 645 Herder, J.G. ..... 147, 273, 277f, 339, 386, 580 Herrmann, F.-W. v. ............................. 65, 561 Herz, M. ............................................. 73, 315 Hiltscher, R. ............................................. 514 Hinske, N. ................. 13, 18, 22, 44, 62, 106, 112, 146, 149, 212, 252, 342, 352 Hobbes, Th. .............................................. 238 Höffe, O. ........ 23, 148, 152, 230f, 251, 252f, 256, 260f, 263, 272, 275, 295, 308, 582, 628 Hofmannsthal, H.v. .................................. 398 Hölderlin, F. ..... 89, 230, 551, 586, 594, 615ff Honneth, A. ........... 210, 240ff, 277, 288, 386, 412, 416, 421 Horkheimer, M. ...... 282, 292, 333f, 349, 397, 408, 411, 414, 424ff, 429ff, 620, 622, 646 Horn, Ch. .................................. 177, 193, 206 Hufeland, G. ..................................... 195, 197 Hume, D. ....... 68, 90, 92, 238, 297, 470, 491, 524f, 561, 571, 577 Hutter, A. ...................... 28, 65, 100, 173, 319
J Jacobi, F.H. .... 27, 75, 86, 90, 100, 104, 118f, 121, 184, 519, 522, 564, 586, 589, 608 Jerusalem, W. ........................................... 362 Jonas, H. ................................................... 388
K Karasek, J. ............................................ 60, 87 Kaulbach, F. ..................... 153, 274, 314, 484 Kierkegaard, S. ......................... 312, 351, 645 Kittsteiner, H.D. ....................................... 339 Kleingeld, P. .............. 23, 252, 260, 270f, 285
Personenregister Klein, H.-D. ................................ 40, 145, 260 Kleist, H. v. .............................................. 171 Klemme, H.F. ............................. 28, 126, 329 Kobusch, Th. ............................................ 107 Kolmer, P. .............................................. 3f, 66 Konhardt, K. ..................................... 161, 458 Korsch, D. .................................................. 83 Koselleck, R. ................................... 253, 289f Kowalewski................................. 59, 144, 418 Krämer, K. ................................................ 137 Krämling, G. ............................................ 115 Krüger G. ......................................... 128, 340 Kühn, M. .................................................. 492
L Landgrebe, L. ........................... 264, 317, 490 Langthaler, R. ........................... 177, 194, 621 La Rocca, C. ....................................... 41, 560 La Rochefoucauld..................................... 323 Leibniz, G.W.F. ............... 17, 39, 63, 97, 121f, 138, 140, 173, 215, 220, 232, 235, 262, 302, 440, 442f, 461, 472, 486, 498f, 501, 548ff, 556, 571, 582, 588, 619, 655, 657 Lenhardt, Ch. ................................... 340, 431 Lessing, G.E. ....................................... 91, 564 Levinas, E. ...................... 101, 112, 181, 223f Lichtenberg, G.Chr. ..................... 11, 15f, 126 Liebsch, B. ..... 226, 310f, 340, 346, 374, 382, 387f, 390, 393f, 408f, 421 Locke, J. ................................................... 297 Lotze, H. ......... 288, 343, 412, 423, 427ff, 431 Löwith, K. ................................................ 348 Ludwig, B. .. 28, 52, 58, 150, 164, 190, 200, 307 Luf, G. ...................................................... 286 Lutz-Bachmann, M. ................................... 23 Lyotard, J.-F. .................... 269, 369, 371, 392
M Makkreel, R. ..................................... 451, 489 Marcuse, H. .............................................. 340 Margalit, M. ..................... 365, 367, 375, 394 Marquard, O. .................................... 415, 646 Martin, G. ................................................. 581 Marty, F. ..................................................... 23
661 Marx, K. ................................... 205, 349, 430 Mendelssohn, M. ..... 100, 162, 264, 277, 339, 370, 508, 586 Menzer, P. ............... 155, 204, 272f, 307, 365, 479, 636 Metzger, W. ...................................... 210, 233 Metz, J.B. ......................................... 299, 367 Milz, B. .................................................... 618 Model, A. ................................................. 162 Mohr, G. ............................... 39, 59f, 65, 68ff Montaigne ............................................... 369 Moses, St. ................................. 264, 370, 402 Muglioni, J.-M. ........................................ 392 Müller, M. ................................................ 458 Munzel, G.F. ............................................ 218
N Nagel, Th. ................................................. 393 Nagl-Docekal, H. ..... 215, 263, 267, 348, 417 Nagl, L. ...................................................... 23 Nietzsche, F. ....... 35, 319, 372, 417, 526, 637
O Oberer, H. ................................................. 159 Otto, R. ............................................... 55, 652
P Pangritz, A. ............................................... 334 Pascal, B. .................................................. 518 Peukert, H. ....................................... 237, 340 Picht, G. ....................................... 23, 66, 152 Pistorius, H.A. ...................... 27, 52, 150, 167 Platon................................. 40, 47, 61, 80, 94, 96, 98, 101, 107, 112, 136, 185, 359, 425, 449, 476, 569, 593, 611 Plotin................................................... 96, 107 Proklos...................................................... 107 Puntel, B. .................................................. 595 Pyrrhon v. E. ........................................... 369
R Reale, G. ................................................... 112
662 Recki, B. ........................... 278, 344, 635, 647 Reemtsma, J.Ph. ............................... 370, 645 Reich, K. .......................... 154, 158, 202, 258 Rentsch, Th. ............................................. 478 Ricken, F. ................................................... 23 Ricoeur, P. ... 112, 180ff, 208, 264, 280f, 287, 290, 310, 336, 359, 374, 382, 384, 649 Riedel, M. ........ 241, 253, 255, 280, 291, 322, 326f, 337, 358, 374ff Ringleben, J. ............................................... 83 Ritzel, W. .................................................. 210 Römpp, G. ............................... 144, 161f, 206 Rousseau, J.-J. ...... 131, 238, 255, 268, 273, 635 Rüsen, J. ........................... 295, 317, 387, 407
S Sachs, N. .......................................... 313, 636 Santozki, U. .............................. 101, 147, 260 Schaeffler, R. ........................................ 77, 86 Schelling, F.W.J. ............... 47, 79, 81f, 85, 89, 91, 98, 118f, 129f, 132, 135, 244, 449, 503f, 514, 516, 521, 538, 551, 558, 565, 581, 591, 600, 605f, 608ff, 612, 614, 638 Schiller, F. ..... 207, 229ff, 288, 307, 354, 357, 405, 407f, 417 Schleiermacher, F.,.................................... 534 Schlözer, A.L. ........................................... 307 Schmalenbach, H. .................................... 635 Schmitz, H. ................................................ 13f Schmucker, J. ........................................... 213 Scholem, G. .............................. 338, 406, 423 Scholz, O.R. ............................................. 329 Schulte, Ch. .............................................. 618 Schulz, J.H. .............................................. 155 Schwaiger, C. ........................................... 162 Seneca, L.A. ..................................... 255, 534 Silber, J. ...................................................... 58 Simmel, G. ....................................... 229, 323 Simon, J. .......................................... 228, 328 Sommer, M. ........................................ 75, 209 Spinoza, B........... 68, 84, 88, 90f, 94, 96, 184, 386, 538, 564, 586 Stark, W. ................... 224, 232, 255, 268, 400 Stäudlin, C.F. .................................... 552, 633 Stolzenberg, J. .... 12, 40, 44, 62, 131, 134, 393 Striet, M. .................................................. 559
Personenregister
T Taylor, Ch. ................................ 189, 197, 212 Theis, R. ................................. 48, 60, 80, 584 Theunissen, M. ... 81, 205, 299, 365, 371, 394 Thies, Ch. ......................................... 477, 495 Thomas v. Aquin ............... 92, 476, 501, 583, 588, 601f Tieftrunk, J. .............................................. 159 Tonelli, G. ................................................ 146 Troeltsch, E. ..................................... 373, 567 Tuschling, B. ............................................ 446
V Voegelin, E. .............................................. 350
W Wagner, F. .................................................. 85 Wagner, H. ....................... 118, 462, 468, 591 Weil, E. ............................................. 190, 262 Wenzel, U.J. ..................... 152, 167, 169, 218 Weyand, K. ............................................... 278 Wild, Ch. .......................................... 266, 291 Willaschek, M. ......................................... 161 Wimmer, R. .................. 23, 77, 104, 214, 234 Wingert, L. .............................. 225f, 362, 421 Winter, A. ........................... 23, 162, 463, 607 Wittgenstein, L. ..................... 410f, 459f, 493 Wohlfart, G. ............................................. 450 Wolff, Ch. ................. 352, 441, 486, 498, 499 Wood, A.W. .................. 23, 75, 177, 179, 193 Wundt, M. .......................................... 28, 582
Y Yovel, Y. ................................... 270, 361, 413
Z Zeidler, K.W. .............................................. 73 Zeltner, H. ................................................ 173 Zocher, R. ................................... 60, 209, 444 Zöller, G. ....... 67, 79, 99, 133, 279, 329, 447f Zwenger, Th. ............................................ 295
Rudolf Langthaler Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant Band 19/2
Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderbände
19/2
Rudolf Langthaler
Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant Philosophische Perspektiven „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“ Band 19/2
Der Druck wurde gefördert vom österreichischen Wissenschaftsministerium, der Kulturabteilung des Landes Niederösterreich, der Kulturabteilung der Stadt Wien und der Sparkasse Amstetten.
ISBN 978-3-05-004047-9 eISBN 978-3-05-006142-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Unternehmen von De Gruyter Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Eine existenzialanthropologische Lesart der Postulatenlehre: Reiner „Vernunftglaube“ und „reflektierender Glaube“ – „Zweifelglaube“ und „authentische Theodizee“
Inhalt
IV. Teil: Die existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre und die darin entfaltete Leitthese: „Moral also führt unumgänglich zur Religion“ 1. Eine notwendige Rückbesinnung auf die fundamentalphilosophische Verankerung der kantischen Postulatenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.1. Die in einer existenzialanthropologisch verankerten Postulatenlehre zutage tretende fundamentalphilosophische Basis der Idee des „höchsten Gutes“ . . . . . . . 29 1.2. Zur unumgänglichen fundamentalanthropologisch-ethischen Basis der Postulatenlehre im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.3. Der Mensch als „vernünftiges, aber endliches Wesen“: Eine existenzialanthropologische Verankerung der „Geschöpflichkeit“ im engeren Rahmen der Postulatenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Die aus einer existenzialanthropologisch akzentuierten Idee der „moralischen Welt“ resultierende Bestimmung des „höchsten Gutes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2.1. Das „höchste Gut“ als der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“ – „in individuo“ und „in concreto“ gedacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2.2. Erforderliche weitere Differenzierungen innerhalb dieser Idee des „höchsten Gutes“. Zur Frage: „Was darf ich hoffen?“ . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Die im „Glauben an die Tugend“ verankerte „Selbsterhaltung der Vernunft“ – und ihre Bestimmung als „Fundament des Vernunftglaubens“ . . . . . . . . . . . . . 148 3.1. Die auf die moralisch „konsequente Denkungsart“ abzielende Bestimmung von „fides“ als „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ . . . . . . . 153 3.2. Das existenzialanthropologisch akzentuierte „Ich will, dass ein Gott sei …“ und die darin begründete Bestimmung der „objektiven Realität“ . . . . . . . . . . . . 192 3.3. Kants Diktum: „Es ist unmöglich, dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde“ – in einer nicht verkürzenden Lesart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3.4. Zu einigen – von Kant selbst begünstigten – Missverständnissen der seiner Postulatenlehre zugrunde liegenden Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 4. Eine durch die späte Tugendlehre eröffnete Vertiefung religionsphilosophischer Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 4.1. Die gemäß dem Anspruch des „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“, vorgenommene Bestimmung des „obersten Guts“. Die entsprechend zu modifizierende These, dass „Moral unumgänglich zur Religion führt“ . . . . . . . . . 294
4.2. Eine höchst bedeutsame Modifikation dieser ethikotheologischen Begründungsfigur in Kants „Gemeinspruch“-Aufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 4.3. Eine ethikotheologisch unverzichtbare Inversion: Weshalb Religion unausbleiblich auf die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, führt . . . . . . . . . . 342
V. Teil: Religionsphilosophische Grenzgänge im Ausgang von Kant: „Innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und an sie „anstoßende“ unabweisliche Fragen 1. Einleitung: Perspektiven einer „Selbstbegrenzung der Vernunft“, die an den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ geknüpft sind . . . . . . 368 1.1. Die „ursprüngliche Erwerbung“ der „Vernunftideen“ und die Ausbildung der „Geschichte der reinen Vernunft“ – innerhalb der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 2. Die „eine Religion“ und die „vielen historischen Glaubensarten“: Die „reine Vernunftreligion“ als deren „höchster Ausleger“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 2.1. „Innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ – nicht: „aus bloßer Vernunft“ . . . . . 392 3. Ein „der Vernunft fremdes Angebot“ in zweifacher Gestalt: Ein geschichtlicher „Sinnvorschuss“ und ein moral-transzendierender „Sinnüberschuss“. Zum Anspruch des „reflektierenden Glaubens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 3.1. „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und „an den Grenzen“ derselben: Zu Kants Rekurs auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 3.2. Weshalb und wie die „Freiheit allein … uns unvermeidlich auf heilige Geheimnisse führt“ – und wie die „praktische Vernunft“ dabei selbst zur „befragten“ wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 3.3. Woran der „reflektierende Glaube“ sonst noch „stößt“ – und was von der Philosophie zwar rechtmäßig „entlehnt“, jedoch keinesfalls „usurpiert“ werden darf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
VI. Teil: Zum Ende: „Authentische Theodizee“ als „Selbsterhaltung der Vernunft“? 1. Die im Kontext der „authentischen Theodizee“ unumgängliche Verwandlung des „Kardinalsatzes“: „Es ist ein Gott“ in die Kardinalfrage: „Wo bleibt Gott?“ . . . . . . 537 1.1. Weshalb Kants These, dass „Moral unausbleiblich zur Religion“ führt, ebenso „unausbleiblich“ auf die Frage „Wo bleibt Gott?“ verweist . . . . . . . . . . . . . . 538 1.2. Grundriss einer „negativen Theologie“: eine entsprechende Erweiterung der Idee einer „moralischen Teleologie“ und Ethikotheologie. Kants Frage, „was jedermann notwendig interessiert“, im Kontext „authentischer Theodizee“ . . . . . . 571
1.3. Zu Kants Hiob-Interpretation: das „Buch Hiob“ als „das philosophischste Buch im A.T.“. Das theodizee-sensibel radikalisierte „Bedürfnis der klagenden Vernunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 2. „Authentische Theodizee“ und der Stachel der „Anthropodizee“: Eine notwendige Inversion der Frage, weshalb und wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 2.1. Eine aus der gemäß der „authentischen Theodizee“ erweiterten Ethikotheologie resultierende Gestalt des „Gebets“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Detailliertes Gesamtinhaltsverzeichnis Band 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Detailliertes Gesamtinhaltsverzeichnis Band 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677
IV. Teil: Die existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre und die darin entfaltete Leitthese: „Moral also führt unumgänglich zur Religion“
Eine Vorbemerkung zu der im folgenden IV. Teil vorgeschlagenen Lesart der Postulatenlehre und der darin entfalteten „existenzialanthropologischen“ Wendung der „Ethikotheologie“ sei vorausgeschickt, die auch schon den mit dem verwendeten Terminus des „Existenzialanthropologischen“ angezeigten Perspektivenwechsel und die daraus resultierenden Problemaspekte erläutern soll: Dem voranstehenden III. Teil zufolge war es die Analogisierung der Wissens- und Hoffnungsfrage hinsichtlich des „vollständigen Vernunftgebrauchs“, die konsequenterweise eine umgreifende „teleologische“ Perspektive begründen sollte, welche mit dem derart eröffneten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ das „dritte Stadium der Metaphysik“ zugleich auch beschließt. Näherhin waren jene am „Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ orientierten Leitperspektiven, die im III. Teil im Vordergrund standen, einer kritischen Metaphysik geschuldet, die unterschiedliche Orientierungen des Vernunftgebrauchs an den „Zwecken der Natur“ und den „Zwecken der Freiheit“ in sich vereint. Die realistische Aussicht auf einen endgültigen „ewigen Frieden in der Philosophie“ führt nach dem bisherigen „endlosen Kampf“ zum Waffenstillstand und eröffnet den Parteien den „Endzweck der Metaphysik“, nämlich nunmehr auf gesichertem Boden „von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten“ (III 590). Der in dieser „praktisch-dogmatischen Metaphysik“ am Leitfaden der „moralischen Teleologie“ entfaltete ethikotheologische „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ impliziert jedoch auch, dass von dieser ethikotheologischen Vollendung des „Stadiums der Theologie“ der praktisch-existenzielle Standpunkt bzw. Vollzug dieses „Überschritts“ selbst noch unterschieden bleibt. Dabei erweist sich, dass diese Fragen sich keineswegs in einer theoretischen Interessiertheit erschöpfen,1 zumal darin noch eine Selbstvergewisserung und „Gewiss1
Kants diesbezüglich interessante späte Notiz: „Alle Philosophie ist 1. Autognosie 2. Autonomie. Wissenschaft u. Weisheit“ (AA XXI, 106) verlangt allerdings schon deshalb eine weitere Differenzierung verschiedener Ebenen, weil die in der gesuchten „Selbsterkenntnis der Vernunft“ implizierte Aufgabe der Begründung, Legitimation, Transformation und Systematisierung der „Vernunftideen“ mit dem „Endzweck der Metaphysik“ engstens verbunden ist. Freilich, schon Kants programmatischer Hinweis in der späten „Preisschrift“ legt Unterscheidungen nahe, die genauer besehen innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ zu leisten ist: Die „Transzendentalphilosophie“, so Kant in der „Preisschrift“, „hat zu ihrem Zweck die Gründung einer Metaphysik, deren Zweck wiederum, als Endzweck der reinen Vernunft, dieser ihre Erweiterung von der Grenze des Sinnlichen zum Felde des Übersinnlichen beabsichtiget“, wobei Kant nun jedoch die „Weisheitslehre“ als das „dritte Stadium der reinen Vernunft“ bestimmt und „als einen Überschritt zum Endzweck der Metaphysik“ versteht, den sie als eine „praktisch-dogmatische“ Disziplin (III 605) leisten soll, dergestalt aber die gesuchte „Selbsterkenntnis der Vernunft“ („Autognosie“) erst zum Abschluss bringt. Indes, wenn Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ ausdrücklich die „Weisheitslehre“ als „eine Lehre vom höchsten Gut“ bestimmt, „so fern die Vernunft bestrebt ist, es darin zur Wissenschaft zu bringen“ (IV 236), so ist somit die in der neuen Freiheitslehre verankerte „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ selbst als solche „Weisheitslehre“ charakterisiert und entspricht so vom Ansatz her der hier „existenzialanthropologisch“ genannten Perspektive; davon wäre jedoch einerseits jene Metaphysik (und ihr „Endzweck“) als „Vernunftwissenschaft“ (und die darin auch entfaltete Idee der „moralischen Teleologie“) noch zu unterscheiden, während andererseits die „Weisheitslehre“ selbst noch nicht „Weisheit“ als die konkrete existenzielle „Lebensorientierung“ ist, in der jene „Weisheitslehre“ gleichsam aufgehoben (d. h. „an sich selbst erfüllt“) ist. – Diese voranstehend angeführten Bestimmungen bestätigen die Notwendigkeit einer genauen Differenzierung bzw. Vermittlung verschiedener (Reflexions-)Ebenen; dies legt es auch nahe, das System der kritisch legitimierten
14 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre heit“ von ganz anderer Art auf dem Spiele steht, die sich entsprechend in „Selbst“-Aussagen artikuliert, d. h. zur Geltung bringt. Dies war zwar schon „in nuce“ in Kants Hinweis der „ersten Kritik“ insofern vorbereitet, als ihm zufolge die Überzeugung vom „Dasein Gottes“ allein auf einer „moralischen Gewissheit“ beruhe; infolgedessen wollte er die Bedenken darüber zerstreuen, „dass sich dieser Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnung gründet“ (II 692)2, d. h. für dessen „moralische Gewissheit“ („ich bin moralisch gewiss“: II 693) „Moralität“ buchstäblich voraus-gesetzt ist. Indes, erst die „neue Freiheitslehre“ der „zweiten Kritik“ legt ein neues Fundament mit dem ausdrücklichen Ausgang davon, dass in jenem „Subjekt des moralischen Gesetzes“ (als „Wesen an sich selbst“) „praktische Vernunft jetzt für sich selbst … der Freiheit Realität verschafft“ (IV 110); darin gewinnt deshalb auch der zunächst noch zurückgestellte Status der „bloß praktischen“ Frage „Was soll ich tun?“ (als „nicht transzendental, sondern moralisch“: II 677) einen neuen Stellenwert. Schon in der Vorrede zur „Kritik der praktischen Vernunft“ hat Kant auf die „zum Schlusse der Analytik“ über den „Begriff der Freiheit“ angestellten Überlegungen hingewiesen,3 die dort gewissermaßen die Überleitung zu den in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ bestimmenden Themen darstellen bzw. als deren „Funda-
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„Vernunftideen“ und ihre Transformation im Sinne jener kritisch verankerten „Metaphysik“ von der „Weisheitslehre“ im engeren Sinne zu unterscheiden, die wiederum nicht mit der „existenziell“ vollzogenen und bewährten „Weisheit“ selber gleichzusetzen ist (s. u. IV., 4.3.3.). Vor dem Hintergrund des darin maßgebend gewordenen Verhältnisses von „moralischem Gesetz und Freiheit“) und der nunmehrigen „lediglich praktischen“ Bedeutung des Freiheitsbegriffs, „die ihm die Vernunft durchs moralische Gesetz verschafft“ (IV 165), liegt es also nahe, dass so auch die „bloß praktische“ Frage: „Was soll ich tun?“ einen neuen Stellenwert zwischen der Wissens- und Hoffnungsfrage gewinnen muss. Dieser „Idee der Freiheit“ kommt sodann als dem einzigen „scibile“ (V 599) ein besonderer Status zu, weil sich in ihr „als Grundbegriff aller unbedingt-praktischen Gesetze) die Vernunft über diejenigen Grenzen erweitern kann, innerhalb deren jeder Naturbegriff (theoretischer) ohne Hoffnung eingeschränkt bleiben müsste“ (V 606). Denn, so die dort vorgelegte aufschlussreiche Argumentation Kants: „Nun kam es bloß darauf an, daß dieses Können in ein Sein verwandelt würde, d. i., daß man in einem wirklichen Falle, gleichsam durch ein Faktum, beweisen könne: daß gewisse Handlungen eine solche Kausalität (die intellektuelle, sinnlich unbedingte) voraussetzen, sie mögen nun wirklich, oder auch nur geboten, d. i. objektiv praktisch notwendig sein. An wirklich in der Erfahrung gegebenen Handlungen, als Begebenheiten der Sinnenwelt, konnten wir diese Verknüpfung nicht anzutreffen hoffen, weil die Kausalität durch Freiheit immer außer der Sinnenwelt im Intelligibelen gesucht werden muss. Andere Dinge, außer den Sinnenwesen, sind uns aber zur Wahrnehmung und Beobachtung nicht gegeben. Also blieb nichts übrig, als dass etwa ein unwidersprechlicher und zwar objektiver Grundsatz der Kausalität, welcher alle sinnliche Bedingung von ihrer Bestimmung ausschließt, d. i. ein Grundsatz, in welchem die Vernunft sich nicht weiter auf etwas anderes als Bestimmungsgrund in Ansehung der Kausalität beruft, sondern den sie durch jenen Grundsatz schon selbst enthält, und wo sie also, als reine Vernunft, selbst praktisch ist, gefunden werde. Dieser Grundsatz aber bedarf keines Suchens und keiner Erfindung; er ist längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt, und ist der Grundsatz der Sittlichkeit. Also ist jene unbedingte Kausalität und das Vermögen derselben, die Freiheit, mit dieser aber ein Wesen (ich selber), welches zur Sinnenwelt gehört, doch zugleich als zur intelligibelen gehörig nicht bloß unbestimmt und problematisch gedacht (welches schon die spekulative Vernunft als tunlich ausmitteln konnte), sondern sogar in Ansehung des Gesetzes ihrer Kausalität bestimmt und assertorisch erkannt, und so uns die Wirklichkeit der intelligibelen Welt, und zwar in praktischer Rücksicht bestimmt, gegeben worden, und diese Bestimmung, die in theoretischer Absicht transzendent (überschwänglich) sein würde, ist in praktischer immanent“ (IV 231 f ). – Bedauerlicherweise konnten die wichtigen Arbeiten von Klemme (2010) und Ludwig (2012) nicht mehr berücksichtigt werden.
IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre
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ment“ fungieren. Hatte die Antinomienlehre der „ersten Kritik“ in ihrer kritischen Unterscheidung zwar den Nachweis erbringen wollen, dass eine Handlung durchaus „eine sinnlich unbedingte Kausalität zum Grunde haben, mithin als frei gedacht [!] werden könne“ (IV 231; II 31), so sah Kant sich nunmehr (wohl besonders auch durch jene schon erwähnte Pistorius-Kritik inspiriert) darüber hinaus auf entscheidende Problemaspekte und auf daraus resultierende weitreichende systematische Konsequenzen verwiesen, die im Rahmen einer bloß erweiterten „zweiten Auflage“ innerhalb der „Kritik der reinen Vernunft“ freilich nicht mehr zu bewältigen waren. Dabei zeigte sich nicht zuletzt dies, dass im Blick auf den Menschen als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ und seiner „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ (IV 113), jenes „durch die Tat“ nunmehr „in Sein verwandelte [Gedacht-werden-]Können“ (IV 231) (d. h. die im „moralischen Gesetz“ offenbare „Freiheit im positiven Verstande“ und die erst dadurch erwiesene „transzendentale Freiheit“) sich bezüglich des „ganzen Gegenstands der praktischen Vernunft“ jedoch wiederum als ganz und gar „ohnmächtig“ erweist. Obgleich die Hauptaufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft zunächst dadurch bestimmt war: „Sie soll bloß dartun, dass es reine praktische Vernunft gebe, und kritisiert in dieser Absicht ihr ganzes [!] praktisches Vermögen“ (IV 107) – so ist, im Blick auf jene „Beschaffenheit“ des Menschen als „vernünftiges, aber endliches Wesen“, daran doch die notwendige Differenzierung des „Gegenstands der reinen praktischen Vernunft“ (IV 174 ff ) geknüpft. Erst sie vermag den Abschlussgedanken einer „unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (des „höchsten Gutes“) neu zu begründen und damit dem unabweislichen „Interesse der praktischen Vernunft“ zu genügen. Näher betrachtet erweist sich: Eine für die Ausbildung einer kritischen Metaphysik maßgebliche Entwicklungslinie verläuft unübersehbar von den angezeigten „teleologischen“ Perspektiven im „Kanon der reinen Vernunft“ in der „ersten Kritik“ (die sich in der dort geltend gemachten Analogisierung der „Wissens“- und „Hoffnungs“-Frage manifestiert: s. dazu o. III., 1.1.2.) über die Idee der „moralischen Teleologie“ der „dritten Kritik“ bis hin zur „Preisschrift“ über die „wirklichen Fortschritte“ in der neueren Metaphysik; die darin zutage tretende Problementfaltung mündet zuletzt in die dort verhandelten maßgeblichen „teleologischen Perspektiven“ und in die darin differenzierten „Endzweck“-Dimensionen ein und findet darin – als „Vernunftwissenschaft“ – in gewissem Sinne auch ihren Abschluss. Davon war schon im III. Teil die Rede. Eine andere direkte Verbindungslinie wird indes in der von der neuen „Freiheitslehre“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ ausgehenden (weil in ihr „verwurzelten“) „Existenz“-Perspektive bestimmend, die offensichtlich über die Verbindung der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ die Perspektiven, dass und wie „Moral unausbleiblich zur Religion“ (IV 652) und „eine Theologie auch unmittelbar zur Reli gion, d. i. der Erkenntnis unserer Pflichten, als göttlicher Gebote“ (V 614 f ) führt, zuletzt auch vereint.4 Es ist die darin entfaltete existenzialanthropologische Begründungsfigur, 4
Vielleicht wäre zu sagen: So wie die Explikation der Frage „Was ist der Mensch?“ engstens mit dem im „Weltbegriff der Philosophie“ entfalteten Fragen nach den „wesentlichen und höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft“ zusammenhängt und am Leitfaden der Idee der „moralischen Teleologie“ in der
16 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre die dieserart jene früh in Aussicht genommene Verbindung von „Theologie und Moral“ zur „Religion“ (II 338) nunmehr auf diesem neuen Fundament der „Freiheitslehre“ aufnimmt und so im Sinne einer „existenzialen Teleologie“ zur Entfaltung bringt. Komplementär zu der jenem Leitfaden der „moralischen Teleologie“ folgenden Perspektive tritt somit im Ausgang von der Freiheitslehre der „zweiten Kritik“ ein anderer Motivstrang in den Vordergrund, der in der unauflöslichen Einheit der „Idee“ und „Wirklichkeit“ der Freiheit verwurzelt ist; als solche „Freiheit im positiven Verstande“ erweist sie ihre „objektive Realität“ (gleichermaßen im Sinne ihrer „Sachhaltigkeit“ und „durch die Tat“) und stellt so das Fundament einer nunmehr freizulegenden Problemperspektive dar, die nun im – umfangreichsten – IV. Teil im Vordergrund stehen soll. Vorab ein diesbezüglicher – an grundlegende kantische Bestimmungen seiner „praktischen Philosophie“ anknüpfender – terminologischer Hinweis mit Blick auf geläufige kantische Motive. Erinnert sei zunächst (a) an Kants systematisch bedeutsamen Rekurs auf den durch „spekulative Einschränkung der reinen Vernunft und praktische Erweiterung derselben“ erst begründeten „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ (IV 275), ebenso (b) an die „unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ verknüpfte Einheit der gegenläufigen Erfahrungen des „bestirnten Himmels über mir“ und des „moralischen Gesetzes in mir“ (IV 300); des Weiteren sei (c) auf den von Kant in „Glaubenssachen“ genommenen Ausgang „von der Natur und dem [moralischen] Interesse des Subjekts“ (III 499) verwiesen und (d) auf den daran geknüpften Ausblick auf den „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht“ (IV 255); desgleichen ist (e) zu erwähnen jenes beharrliche „Ich will, dass ein Gott sei“ und (f ) auch das daraus resultierende, vom späten Kant so bezeichnete „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses [!] der reinen praktischen Vernunft“ (III 636); zuletzt soll in dieser Reihe auch der Hinweis (g) auf jene wiederholt angeführte Kennzeichnung der „Religion … (subjektiv betrachtet)“ als „Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (IV 822) nicht fehlen. Für die nachfolgenden Überlegungen bedeutsam ist nun jedoch dies: Dem Sachverhalt, dass all diese für Kants philosophische Begründung der „Religion“ schlechthin grundlegenden „subjekt-zentrierten“ Aspekte in der „Existenz“ des Menschen fokussiert sind und Letztere durch deren inneren Zusammenhang geradezu konstituiert ist, ist es geschuldet, dass die nachfolgenden religionsphilosophischen Perspektiven auf den – als „existenzialanthropologisch“ bezeichneten – Aufweis abzielen, wie bei Kant „Moral unausbleiblich zur Religion“ führt. Darin, so soll sich zeigen, tritt eine eigentümliche teleologische Grundstruktur zutage, die auch mit seinem zentralen Thema der „Selbsterhaltung der Vernunft“ untrennbar zusammenhängt. Jene schon benannte „moralisch konsequente Denkungsart“ und „Willensbestimmung von besonderer Art“ (s. o. III., 1.3.) Ethikotheologie ihren Abschluss findet, so führt der subjekt-zentrierte Ausgang davon, sich im „Existieren“ orientieren zu müssen, zu der Frage, wie darin „Moral unumgänglich zur Religion“ (IV 652) und auch „eine Theologie … unmittelbar zur Religion“ (V 614 f ) führt. Vielleicht ist diese „existenzialanthropologische“ Perspektive auch in der von Kant bisweilen als „subjektiv betrachtet“ gekennzeichneten Einstellung angezeigt, wie sie beispielsweise auch in seiner Bestimmung der „Religion“ zutage tritt: „Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (IV 822).
IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre
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erhält so noch eine besondere Wendung. Es wird sich dabei erweisen, dass sich dergestalt die frühe kantische Bestimmung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ am Ende des „dritten Stadiums der Metaphysik“ mit seiner späten Bezugnahme auf die „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (III 650) in denkwürdiger – und für Kants Gesamtsystematik insgesamt sehr aufschlussreicher – Weise zusammenschließt. „Religion (objektiv betrachtet)“ und „Religion (subjektiv betrachtet)“, „Hervorbringen“ und „Hervorgebrachtes“ wären dergestalt in einer Art „ursprünglicher Organisation der Vernunft“ untrennbar vereint. Die Bezeichnung „existenzialanthropologisch“ zielt vornehmlich darauf ab, besondere „Existenz“-Aspekte in Kants Denken zu entfalten, die auf die spezifische Daseinsweise des Menschen „nach der Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ (IV 113), abzielen; dafür erweist es sich freilich als unumgänglich, auch das kantische Motiv der zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ – d. h. des „Naturzwecks“ (als „organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“: V 486) und des „Systems der Zwecke“ – zu integrieren und sie mit jener „Subjekt-Zentrierung“ zu verbinden, die in der Perspektive der „ersten Person“ thematisch wird, d. h. als „Selbst“-Aussage „performativ“ zum Ausdruck kommt. Als „existenzialanthropologisch“ wäre solche Konzeption in dieser Hinsicht insofern ausweisbar, als sie von der Weltstellung des Menschen ihren Ausgang nimmt – das heißt von jenem „Naturwesen“, das als „Freiheitswesen“ sein Leben führen muss und es sich in solcher subjekt-zentrierten Orientierung, und Selbstverständigung einem unabweislichen „Interesse der Menschen“ (II 34) folgend, am „Ganzen seiner Existenz“ gelegen sein lässt. Derart weiß sich dieses „vernünftige, aber endliche Wesen“ auch mit der unausweichlichen Frage nach dem gelingenden „Ganzen des Daseins“ konfrontiert, worüber es nicht als einen „ursprüngliche(n) Besitz, und (als) eine Seligkeit“ zu verfügen vermag, „welche ein Bewusstsein seiner unabhängigen Selbstgenugsamkeit voraussetzen würde, sondern [für ihn vielmehr] ein durch seine endliche Natur selbst aufgedrungenes Problem“ (IV 133) darstellt, das solchem „bewussten Leben“ weitreichende Fragen „abnötigt“.5 5
In der Tat: „Die notwendige Beförderung des höchsten Gutes kommt also nicht zum Sittengesetz noch hinzu als zusätzlicher Bestimmungsgrund außer dem Gesetz, sondern ist die Anwendung des Sittengesetzes als Bestimmungsgrund auf ein Wollen und Handeln nach Zwecken. – Die Idee des höchsten Gutes gehört damit zwar nicht mehr zur Grundlegung der Ethik; aber sie gehört doch unabdingbar zu einer vollständigen Theorie der Grundbestimmungen und Leistungen des endlichen sittlichen Bewusstseins. Sie ‚geht aus der Moral hervor und ist nicht die Grundlage derselben‘. Kants späte Lehre vom höchsten Gut setzt daher gerade die endgültige Theorie der Moralität und die Begründung ihrer Prinzipien unabhängig von der Idee des höchsten Gutes voraus; das höchste Gut entspringt erst aus der Anwendung der reinen Moral auf die Teleologie eines endlichen Willens; es ist der nicht schon vorgegebene, sondern allererst zu entwerfende höchste Zweck unseres sittlichen Tuns in der Welt“ (K. Düsing 1971, 33). – Hier sei auch auf Barths treffende Beschreibung einer zentralen Intention Kants hingewiesen: „Zu einer wahrhaften Grundlegung der praktischen Philosophie gehörte für ihn auch die Beantwortung der Frage, unter welchen Voraussetzungen jenes oberste Prinzip von Vernunftwesen realisiert werden kann, die endlich sind und von denen man erwarten darf, dass sie sich ihrer Endlichkeit auch bewusst werden. Indem sie vordringlich dieses Thema behandelt und das Höchste Gut, den ‚Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen‘, als den Sinnhorizont und das Worum-willen moralischer Praxis entfaltet, bildet die ‚Dialektik der reinen praktischen Vernunft‘ ein integrales Moment der Kantischen Ethik“ (U. Barth 2005b, 281).
18 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Dabei ist diesem „endlichen Vernunftwesen“ in solcher Bedürftigkeit und ExistenzNot zuletzt an einem interessierten „Sich-selbst-verstehen-Können“ im „Ganzen seines Daseins“ gelegen, näherhin an einer (über bloße Akzeptanz hinausweisenden) „Schätzung seines Daseins“ (vgl. I 594) und der Bejahbarkeit seines reflexiv uneinholbaren „Existierens“ in seiner subjekt-zentrierten Verankerung – ein „Inter-esse“ an dem, was es in einem unverkürzten Sinne „lieben kann“, das sich von solcher „Existenz“ nicht ablösen lässt (s. dazu u. IV., 3.4.4.; bes. auch Anm. 481). In solchem Ausgang von der „Beschaffenheit, mit der e(s) wirklich ist“ – und gewissermaßen „aus dem Gesichtspunkte, worin ich mich befinde“ (I 594) und mich „orientiere“ – reflektiert solche existenzialanthropologische Perspektive das Selbstverhältnis der reflexiv uneinholbaren „Existenz“ und deren immer schon sinnhaft erschlossene Welt- und Selbstbezüge in ihrer gleichsam „absoluten Positivität“. In solcher subjekt-zentrierten Fundierung artikuliert sie sich sodann als die Rückfrage nach der Bedingung der Möglichkeit dafür, diese „existierend“ immer schon als sinnhaft erschlossene Wirklichkeit auch als sinnvoll verstehen und „Existenz“ als eine solche von „Sinn und Bedeutung“ bejahen zu können. Diese existenz-verankerte Perspektive und der darin konkrete „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ übersetzt damit gewissermaßen die moraltheologische Orientierung, daran, „unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen, indem [!] wir in das System der Zwecke passen“ (II 687). In kritischer Anlehnung an eine Wendung des frühen Kant wäre zu sagen: Kants Postulatenlehre lässt sich, so soll sich zeigen, in solcher Hinsicht – ernüchtert und jenseits der „Versuche“ (und „Versuchungen“) bloßer „Betrachtungen über den Optimismus“ – zunächst durchaus buchstabieren als der behutsame Aufweis, inwiefern jenes schon erwähnte Diktum: „Heil uns, wir sind! Und der Schöpfer hat an uns Wohlgefallen!“ und seine Implikationen unter kritizistischen Vorzeichen und den Bedingungen einer kritischen (endzweck-orientierten) Ethikotheologie – das heißt: ohne Rückfall in eine „vorkritische Metaphysik“ und damit verbundene theoretische und praktische „Vermessenheiten“ – zu begründen bzw. zu rechtfertigen ist. Auch und erst recht kann sich freilich solche Perspektive sodann den sich auftuenden Abgründen der Vernunft nicht verschließen und muss folglich gerade auch ein solches „Heil uns [!]!, wir sind! Und der Schöpfer hat an uns [!] Wohlgefallen!“ damit konfrontieren. Sofern diese existenzial anthropologische Perspektive zweifellos auch die Einbeziehung ganz anderer Gesichtspunkte – das heißt vor allem: die „Gesichtspunkte anderer“! – verlangt, ist damit ein weiter Bogen von Kants frühem „Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus“ (aus dem Jahr 1759) bis hin zu seinen spätesten religionsphilosophischen Texten gespannt. Dabei soll sich zeigen: Es ist das von der neuen „Freiheitslehre“ ausgehende und das Ganze der „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811) umgreifende „Interesse“, das jene „moralische Teleologie“ solcherart in die maß-gebende „Erste-PersonSingular“-Perspektive „übersetzt“, ohne dass solche existenz-verankerte Orientierung an der „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ und die umfassende Verständigung über sich selbst als eine „privatistische Engführung“ missverstanden werden dürfte. Auf diesem Fundament soll also Kants Postulatenlehre als eine solche existenzialanthropologische Übersetzung jener durch transzendentalphilosophische Kritik und metaphysische Reflexion entfalteten „moralischen Teleologie“ (und somit des darin intendierten „End-
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zwecks der Metaphysik“) ausgewiesen werden: Sie verwandelt jene am Leitfaden der Idee der „moralischen Teleologie“ ausgebildete „praktische Metaphysik“ und das darin explizierte „System der (End-)Zwecke“ bzw. das Gefüge der „Vernunftideen“ gewissermaßen in die existenz-verankerte, auf das „Ganze einer moralischen Lebensgeschichte“ ausgerichtete Sinnfrage eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“.6 Dieser Begründungsfigur zufolge wird jene vernunft-teleologisch bestimmte Thematik des „Endzwecks der Metaphysik“ als ethikotheologischer „Überschritt vom Sinnlichen zum Übersinnlichen“ gleichsam in diese „durch die Tat“ als „wirklich praktisch“ erwiesene Ich-Perspektive und des sich darin artikulierenden „existenziellen“ Interesses (eben im Blick auf das gelingende Ganze der „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“: IV 811) „übersetzt“7 und nötigt dazu, die daraus gewonnene reflektierte Lebensorientierung selbst erst noch in den konkreten Lebensvollzügen und Lebensnöten „praktisch-überschreitend“ zu bewähren – auch im Blick auf den ethikotheologischen „Endzweck der Metaphysik“ und über den darin eröffneten bzw. legitimierten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ noch hinaus. Auch in diesem sehr präzisen Sinne ist nunmehr die schon zitierte These zu nehmen: „Alles läuft zuletzt [!] auf das Praktische hinaus“ (III 518).8 Dergestalt ist das in dem frühen „Weltbegriff der Philosophie“ formulierte „System der Zwecke“ auf das „Ganze“ einer „moralischen Lebensgeschichte“ in seiner Existenz-Orientierung bezogen bzw. darin gewissermaßen aufgehoben. War die innerhalb eines „teleologischen Systems“ vorgenommene ethikotheologische Begründung des umfassenden „Endzwecks der Schöpfung“ in der Weltstellung des Menschen als des existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ begründet (s. Kritik der Urteilskraft, §§ 84 ff ), so findet dies in existenzialanthropologischer Perspektive – im Ausgang von dem in der Kritik der praktischen Vernunft unternommenen Aufweis, „dass es reine praktische Prinzipien gebe, wodurch die Vernunft a priori bestimmt wird“ (V 168), und dem daran geknüpften „apriori durch reine praktische Vernunft bestimmt gegebene(n) Zweck (in der Idee des höchsten Guts)“ (V 139) – nunmehr eine bemerkens6 7 8
Es wird sich erweisen: Dass die „Gottesprädikate“ auch dem späten Kant zufolge allein „Realität in praktischer Rücksicht“, d. h. allein durch den Rückbezug „auf den Lebenswandel“ III 390 Anm.), erhalten, entspricht lediglich dieser hier zu verfolgenden existenzialanthropologischen Wendung. Mögliche – an diesem Übergang vom III. zum IV. Teil sachlich naheliegende – Bezüge zu dem beim späten Schelling verhandelten Verhältnis zwischen der „negativen Philosophie“ und der vom „Ich“ ausgehenden „Umkehrung“ sind hier nicht zu verfolgen. Dieser Ausgang und die durch die Vernunftkritik vermittelte und gereinigte „Rückkehr“ und Rechtfertigung der Metaphysik klingt wohl auch in Kants Resümee an: „So haben wir Metaphysik, wie sie wirklich in der Naturanlage der menschlichen Vernunft gegeben ist, und zwar in demjenigen, was den wesentlichen Zwecke ihrer Bearbeitung ausmacht, nach ihrer subjektiven Möglichkeit ausführlich dargestellt.“ (III 238) Das von Kant in der späten „Preisschrift“ erwähnte „System der Ideen“ (die darin sich manifestierende „Zweckmäßigkeit“: III 638 f ) hat eine bemerkenswerte existenzialanthropologische Entsprechung im Ausgang von dem „archimedischen Punkt“ der Freiheit und dem daran anknüpfenden kantischen Hinweis auf die überraschende, weil „auf keinerlei Weise gesuchte, sondern … sich von selbst findende, genaue Eintreffung der wichtigsten Sätze der praktischen Vernunft“ (IV 233); Letzterer findet sich, wie schon erwähnt, bezeichnenderweise im Übergang zum zweiten Teil der „Kritik der praktischen Vernunft“ (IV 233 f ). Hier lässt sich eine bemerkenswerte Analogie zwischen der ethikotheologisch bestimmenden Idee der „moralischen Teleologie“ und dem unter dem Vorzeichen des „Primats der praktischen Vernunft“ stehenden „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ (IV 275) feststellen.
20 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre werte Entsprechung.9 Dies erweist sich gleichermaßen im Rückblick auf die dem „dritten Stadium der Metaphysik“ zugehörige Bestimmung (und nähere Differenzierung) des Verhältnisses von „Kritik und Metaphysik“ und für die daraus hervorgehende „praktischdogmatische Metaphysik“ als höchst bedeutsam. Diesem angezeigten Perspektivenwechsel zufolge rückt nun – auch in einer entsprechenden Akzentuierung jener „Ordnung der Zwecke“ und gemäß der „moralisch konsequenten Denkungsart“ – der Standpunkt des „Subjekts dieser reinen Vernunft“ selbst in den Mittelpunkt. Solche „Subjekt-Zentrierung“ setzt zwar den durch „Kritik“ vermittelten Nachweis voraus, dass „Vernunft“ auch „unbedingterweise praktisch“, d. h. „zur Bestimmung des Willens hinreichend“ sei (IV 120);10 jedoch fundiert dieses an die „Erste-Person“-Perspektive gebundene „Grundsätzliche“ eine entsprechende „Bewandtnis-Orientierung“ für den Menschen, sofern diese im Blick auf das „gelingende Ganze seines Zustandes“ als eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ (in der „Idee des höchsten Guts“) (V 139) geschieht und darin der durch „reine praktische Vernunft“ „bestimmt gegebene Zweck“ maßgebend wird. Es ist das „durch die Vernunft allen vernünftigen Wesen ausgesteckte Ziel aller ihrer moralischen Wünsche“ (IV 244), das in dieser Perspektive des „praktischen Endzwecks“ nunmehr als die Idee des „höchsten Gutes“ maßgebend wird. Wurde im Rahmen des vernunftkritisch eröffneten „Endzwecks der Metaphysik“ innerhalb der Idee der „moralischen Teleologie“ der Ort und geltungstheoretische Anspruch der Hoffnungsthematik kritisch verortet, so wird in der Postulatenlehre des zweiten Teils der „Kritik der praktischen Vernunft“ Religion „existenz“-immanent ausgewiesen und damit genauer besehen vor Augen geführt, wie, entsprechend solcher „Übersetzung“, Ethiko-„Theologie auch unmittelbar zur Religion“ führt (V 614 f ). Dies hat freilich jene Besinnung auf die „ganze Bestimmung des Menschen“ und, vorgängig noch, auf die „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“, zur unumgänglichen 9
Aufschlussreich ist diesbezüglich die zwischen der „Kritik der praktischen Vernunft“ und der „Kritik der Urteilskraft“ zu platzierende kleine Abhandlung „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ (V 139 ff ), in der beide Perspektiven einer ethikotheologischen „reinen Zwecklehre“ und der „in uns“ als „Weltwesen“ zu findenden „moralischen Teleologie“ (V 574) zwar erkennbar sind, jedoch nicht systematisch unterschieden bzw. vermittelt werden. S. dazu IV., 3.2. 10 In diesem Sinne betont auch H. Wagner im Verweis auf einschlägige Partien der „zweiten Kritik“: „in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ ist keine Rede von einer metaphysischen Herleitung des ersten Strukturgliedes, der (moralischen) Freiheit; überhaupt ist da von irgendeiner Ableitung derselben keinerlei Rede. Kant bestimmt nunmehr das Ausgangsverhältnis recht anders: Wessen wir uns im Moralischen ‚unmittelbar bewusst‘ sind, was ‚sich uns zuerst darbietet und … gerade auf den Begriff der Freiheit führt‘, ist ‚das moralische Gesetz‘ …; die Sittlichkeit ist es, die uns zuerst den Begriff der Freiheit entdeckt …; ohne das moralische Gesetz wäre uns die Freiheit unbekannt geblieben … So ist es ‚ein Faktum der Vernunft‘ … und ‚das einzige Faktum der reinen Vernunft‘…, woran unser Wissen um unsere moralische Freiheit hängt: dieses ‚Faktum der Vernunft‘ aber ist, schlicht und einfach, unsere Moralität: das Sittengesetz (Produkt der Autonomie der Gesetzgebung aus reiner praktischer Vernunft) und unser Wissen um unsere Verbundenheit zu seiner Befolgung“ (Wagner 2008a, 115). Aus der von Kant „in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ vertretenen Position“ sei eben zu „erkennen, dass Kant mit der in der ‚Grundlegung‘ vorgeschlagenen Lösung nicht mehr ganz zufrieden ist, dass er sie sei es ergänzen sei es ersetzen will“ (ebd. 116). Die schon angeführten Analysen Ludwigs (2010; 2011) zeigen, dass – und weshalb – wohl in der Tat von einem „Ersetzen“ die Rede sein muss, das auch über das „Nicht-mehrganz-zufrieden-Sein“ hinausgeht.
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Voraussetzung. Die Kennzeichnung „existenzialanthropologisch“ zielt im Blick auf diese „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“,11 eben näherhin auf die Weltstellung des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ ab, in der – gemäß der oftmals so bezeichneten „Doppelnatur“ – die „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ (als „Naturzweck“) mit der „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ (als „System der Zwecke der Freiheit“) buchstäblich „in eins“ gedacht werden muss, sodass auch im Ausgang von solcher „Existenz“-Bestimmung deren „leibliche Verankerung“ nicht aus dem Blickfeld gerät: Es geht um die „Beschaffenheit“ jenes „Naturwesens“, das als „Freiheitswesen“ sein Leben führen muss und darin vernunft-geleitet umgreifende Selbstverständigung und Orientierung „im Ganzen seiner Existenz“ sucht. „Existenzialanthropologisch“ wäre somit gewissermaßen die Charakterisierung für jenes in „Erster-Person-Perspektive“ geltend gemachte „Interesse der Vernunft an sich selbst“, das in jener „Beschaffenheit“ des „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ wirklich wird, sofern dieses sich (in Anlehnung an Kierkegaard formuliert) „im Menschlich-Existieren versteht“ (s. u. IV., Anm. 13). In dieser „Erste-Person-Perspektive“ bringt sich ein Standpunkt bzw. Anspruch nicht nur zum Ausdruck, sondern vor allem auch zur Geltung, der für Kants Kritik der praktischen Vernunft maßgebend bleibt und derart im Ausgang von der „revolutionierten Freiheitslehre“ und der darauf beruhenden „moralischen Anthropologie“ eine existenzialanthropologische Fundierung der Postulatenlehre leistet (s. dazu näher u. IV., 1.2.). Schon daraus wird deutlich: Von jenem „Endzweck der Metaphysik“ als der „Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten“ (III 590; v. Verf. hervorgehoben), der am ethikotheologischen Leitfaden der „moralischen Teleologie“ in systematischer Absicht eingelöst wird, bleibt demnach jener „Standpunkt des Lebens“ unterschieden,12 der nur in der „Erste-Person“-Perspektive des „moralischen Glaubens“ eingenommen, d. h. in gewissermaßen „absoluter Position“ „performativ“ realisiert werden kann.13 Indes, diese existenzialanthropologische Umwendung 11 Die in diesem IV. Teil grundlegende Bezeichnung „existenzialanthropologisch“ ist in terminologischer Hinsicht von Th. Rentsch entlehnt (vgl. z. B. Rentsch 2011, 26 ff ); jedoch findet die bei Rentsch damit angezeigte Nähe zu Heidegger hier keine nähere Berücksichtigung. Bestimmend für diese Kennzeichnung „existenzialanthropologisch“ als „Beschaffenheit, mit der der Mensch wirklich ist“ (vgl. IV 113), ist hier vornehmlich die in seiner „Existenz“ vereinte „zweifache sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ (s. dazu u. IV., 1.1.1.), die dergestalt eben auch die „Leiblichkeit“ und die dadurch vermittelten „weltlichen“ und „interpersonalen“ Bezüge angemessen berücksichtigt. – Vgl. zu diesem Ausgang von der „Beschaffenheit“, in der das „vernünftige Weltwesen“ Mensch „wirklich ist“, auch die Analysen von H. Wagner 2008b. 12 Auch in diesem Sinne wäre es lediglich konsequent, die selbst noch als „Wissenschaft“ verstandene „Ethikotheologie“ von der „Weisheit“ zu unterscheiden, obgleich „Weisheit aber durch den Weg der Wissenschaft“ zu vermitteln sei (II 708). Eine Notiz aus den Vorarbeiten zur „Religionsschrift“ fügt sich dazu: „Da Religion sich von der Theologie darin unterscheidet, dass sie eine Moral ist, die mit der Erkenntnis von Gott und seinem Willen übereinstimmt“ (AA XXIII, 91); sie schließt auch noch einmal an Kants Bemerkung an, dass bzw. wie „eine Theologie auch unmittelbar zu Religion“ führt (V 614 f ). 13 Hier, am Übergang von dem über die Stufen „transzendentaler Steigerung“ aufgewiesenen „Endzweck der Metaphysik“ zum Existenz-Vollzug „vernünftiger, aber endlicher Wesen“, wäre eine Anknüpfung an die von D. Henrich angezeigte „Verfahrensart, die Transzendentalphilosophie und Existenzphilosophie zusammenführen will“ (Henrich 2007, 170), besonders naheliegend. Ihr zufolge wäre wohl Kants umgreifende Frage „Was ist der Mensch?“ und die Reflexion auf dessen „ganze Bestimmung“ mit der Mah-
22 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre der ethikotheologischen Vernunftperspektiven verlangt eine ganz besondere Rücksicht auf jene „Beschaffenheit, mit der der Mensch wirklich ist“, die zuletzt noch in dem berühmten „Beschluss“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ (IV 300 f ) angezeigt ist:14 Eine kantische Version des Themas „System (der Zwecke) und Existenz“? Darin ist somit eine neue Blickrichtung eröffnet: Dem unauflöslichen Zusammenhang der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ entspricht Kants Kennzeichnung der „Religion“ als desjenigen „Glaube(ns), der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt“ (VI 316), auf die nach Kant freilich die Ethikotheologie (als noch metaphysische „Vernunftwissenschaft“) selbst hinführt. Darin hat auch jener von Kant erstrebte Aufweis eine Entsprechung, dass die bezüglich des „Endzwecks der Metaphysik“ maßgebenden Fragen in dem Interesse-Nehmen des „bewussten Leben“ selbst, d. h. in dessen unterschiedlich akzentuierten „moralischen Gesinnungen“ und der Orientierung auf ein „gelingendes Ganzes“ hin, verankert sind, d. h. erst daraus aufkommen und sich auch als das „lautwerdende Bedürfnis der Religion“15 unbeirrbar nung Kierkegaards zu verbinden, nicht zu „vergessen, was es heißt, Mensch zu sein, und zwar nicht, was es heißt, Mensch überhaupt zu sein […], sondern was es heißt, dass du und ich und er, dass wir jeder für sich Menschen sind.“ (Kierkegaard 1976, 254 f ). Jenes von Kant betonte „Interesse der Vernunft an sich selbst“ gewinnt so bei Kierkegaard gleichsam eine buchstäblich „existenzielle“ Wendung: „Während das denkende Subjekt und seine Existenz dem objektiven Denken gleichgültig ist, ist der subjektive Denker als Existierender wesentlich an seinem eigenen Denken interessiert, ist in ihm existierend. Darum hat sein Denken eine andere Art von Reflexion, nämlich die der Innerlichkeit […] wodurch es dem Subjekt angehört und keinem andern. […] Die Reflexion der Innerlichkeit ist die Doppelreflexion des subjektiven Denkers. Denkend denkt er das Allgemeine, aber als in diesem Denken existierend, dieses in seiner Innerlichkeit erwerbend, isoliert er sich subjektiv immer mehr“ (ebd. 200 f ). 14 Eine ausdrückliche Bestätigung findet diese letztgenannte Verbindung in dem schon erwähnten Brief Kants an Stäudlin (v. 4. Mai 1793, in: AA XI, 429 f ), in dem er betonte: „Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: „Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich tun? (Moral) 3) Was darf ich hoffen) (Religion) […] Mit beikommender Schrift Religion innerhalb der Grenzen etc. habe [ich] die dritte Abteilung meines Plans zu vollführen gesucht.“ Diese direkte (jedoch in der Sache nicht so ohne weiteres selbstverständliche) Zuordnung der Hoffnungsfrage zur Religion bzw. zur „Religionsschrift“ könnte auch so verstanden werden, dass davon die ethikotheologische „Endzweck“-Perspektive der praktisch-dogmatischen Metaphysik selbst noch unterschieden bleibt und die „Religionsschrift“ auch den ethikotheologischen Gottesbegriff (der allein eine „Grundlage zur Religion ausmachen kann“: V 615) für den Aufweis, dass „Moral unumgänglich zur Religion führt“, schon voraussetzt. – Dass die Frage des „Hoffen-Dürfen“ in der „Religionsschrift“ freilich noch ganz besondere Aspekte eines „reflektierenden Glaubens“ berührt, die darüber noch hinausführen, wird Thema der diesbezüglich unverzichtbaren „religionsphilosophischen Grenzgänge“ sein, die sich deshalb konsequenterweise an diesen IV. Teil anschließen. 15 Schelling XI, 578. – Schon hier sei der Hinweis erlaubt: Einerseits ist bezüglich der nachfolgend versuchten Interpretation einer „existenzialanthropologisch“ gewendeten Postulatenlehre eine grundsätzliche Nähe zu einschlägigen Motiven des in kritischer Absicht an Kant anschließenden späten Schelling zu vermuten; andererseits scheint die diesbezügliche Kritik Schellings an Kants Postulatenlehre jedoch auf einem gravierenden (wohl verschiedene Ebenen konfundierenden) Missverständnis zu beruhen (s. dazu ausführlicher u. IV., 3.2.4.); beide Aspekte treten bemerkenswerterweise in Schellings Notiz entgegen: „Das Ende der negativen Philosophie ist, daß das Ich die Umkehrung verlangt, die also zunächst bloßes Wollen ist (analog mit Kants Postulat der praktischen Vernunft, aber mit dem Unterschied, dass es nicht die Vernunft, sondern (das praktisch gewordene) Ich ist, das als persönliches selbst Persönlichkeit verlangt und sagt: ‚Ich will, was über dem Seienden ist‘)“ (F. W. J. Schelling, Übersicht über meinen künftigen Nachlaß, in: Schellingiana Bibl. III, 671 f (zit. n. H.-M. Baumgartner/H. Korten 1996, 216).
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entfalten. War es das Programm der „Kritik“, das, über sich hinausweisend, eine „kritische Metaphysik“ begründet und in der Gestalt der „Ethikotheologie“ am Leitfaden der „moralischen Teleologie“ zur Geltung bringt, so ist diese „Ethikotheologie“ selbst in der „Religion“ aufgehoben, die sich sodann, über den Zusammenhang der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“, zuletzt in dem abschließenden performativen Vollzug des „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses [!] der reinen praktischen Vernunft“ (III 636) artikuliert. Dieses führt so in besonderer Weise vor Augen, dass in jenen „Vernunftideen“, in denen sich „ein Interesse der Vernunft an sich selbst“ manifestiert, nach Kant das Gelingen menschlicher Existenz selbst auf dem Spiel steht. Der ethikotheologischen „Zweckverbindung“ und „Zusammenstimmung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ – die „zusammen gleichsam in der Verkettung der drei Sätze eines zurechnenden Vernunftschlusses stehen“ (III 411) – korrespondiert so, in dieser existenz-orientierenden Perspektive, genau der Ausgang vom „ganz aus der Seele des Menschen“ genommenen „Tugendbegriff“ und der daraus „durch Schlüsse herausvernünftelt(e)“ „Religionsbegriff“ (IV 857), wonach die „Moral“ über die Frage nach den Folgen unseres Recht- oder Unrechttuns zuletzt „unausbleiblich zur Religion“ führe (IV 655 Anm.). Demgemäß soll sich später (s. bes. u. IV., 3.2.) noch erweisen: Dem ethikotheologischen „Versuch, aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur … auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ (V 560), entspricht in solcher „Umwendung“ „der nunmehr in „Erster-Person-Perspektive“ verankerte Rekurs auf einen „Begriff von Gott, der für die Religion tauglich sein soll“ (VI 106 Anm.) und das sich daran „beharrlich“ orientierende „Ich will, dass ein Gott sei …“ (IV 277). In den späteren Ausführungen des IV. Teils soll sich sodann erweisen, dass für eine von der Weltstellung des Menschen ausgehende und hinreichend differenzierte Fundierung dieser Themen die Verknüpfung fundamentalphilosophischer Reflexionen mit einer existenzialanthropologischen Akzentuierung der Idee der „moralischen Welt“ als Leitperspektive einen besonderen Stellenwert erhält – vorrangig auch für diese daran geknüpften religionsphilosophischen Fragen. Dabei soll aber auch das ständige – vermutlich auch durch zeitgenössische Einwände inspirierte – Bemühen Kants erkennbar werden, sich über verbleibende Probleme in der Bestimmung des Verbindlichkeits-Status des „höchsten Gutes“ als des „Endzweck(s), den der moralische Mensch hat, und haben soll“ (III 645) – zwischen bloß wunsch-orientierter Beliebigkeit und dem Anspruch eines „moralischen Gebots“ – Klarheit zu verschaffen. Diesbezüglich werden nicht zuletzt in den späten kleineren Abhandlungen „existenz“-relevante Akzentuierungen zu diesen religionsphilosophischen Themen sichtbar werden, die sich, über die einschlägigen ethikotheologischen Differenzierungen der „dritten Kritik“ und die „Religionsschrift“ hinaus, in mancher Hinsicht als besonders aufschlussreich und auch in der Sache weiterführend erweisen. Darin wird wohl auch das beharrliche Bestreben Kants ersichtlich, in immer neuen Anläufen Klarheit über die als „unzertrennlich“ behauptete Verbindung von „Moral und Religion“ zu gewinnen, d. h. den genauen Gehalt und die Verbindlichkeit des diesbezüglichen Vernunftbedürfnisses zu bestimmen, aber auch mitunter von ihm selbst verursachte Missverständnisse auszuräumen; die darin manchmal zutage tretenden Modifikationen und auch Problemverschiebungen bestätigen dies lediglich.
24 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Eine solche als „existenzialanthropologisch“ bezeichnete Perspektive nimmt zunächst ihren Ausgang von jener eigentümlichen gegenläufigen Erfahrung, die Kant in dem berühmten Beschluss der „zweiten Kritik“ als schlechterdings konstitutiv für ein gleichermaßen orientierungs-fähiges und -bedürftiges Leben geltend gemacht hat: Denn die Erfahrung des „bestirnten Himmel(s) über mir und des moralische(n) Gesetz(es) in mir“, die ich „vor mir“ sehe, „unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ verknüpfe, und mich zu dieser „unmittelbaren Verknüpfung“ dennoch „reflexiv“ verhalte, vereint so in sich die menschliche Selbsterfahrung der Nichtigkeit als „Erdwesen“ mit der Selbstwahrnehmung „in einer Welt, die wahre Unendlichkeit hat“ (IV 300). Diese Gedankenfigur schließt thematisch offensichtlich einerseits an die Paralogismuslehre (II 359 ff ) an und gibt dem (allerdings nicht als „zweifaches Ich“ misszuverstehenden) „doppelten Bewusstsein dieses Ich“ andererseits eine notwendige praktische Konkretisierung, für die somit Kants Hinweis grundlegend bleibt, dass das „Erkenntnis seiner selbst nach derjenigen Beschaffenheit, was er an sich selbst ist … einzig und allein das Bewusstsein seiner Freiheit“ ist, welche ihm durch den kategorischen Pflichtimperativ … kund wird“ (VI 429, Anm.) (s. dazu o. I., 3.2.1., dort auch I., Anm. 160 sowie I., Anm. 259). Es ist die in jenem „Beschluss“ angezeigte Gegenläufigkeit, in der die „Faktizität“ menschlichen Daseins (im Sinne „radikaler Kontingenz“) und die durch nichts relativierbare „Unbedingtheits“-Dimension in der so verfassten „Existenz“ als „conscientia mundi“ – erneut „viel zu denken gebend“ – in eigentümlicher Weise vereint sind. Solche Gegenläufigkeit impliziert freilich noch eine weitere Unterscheidung: Dass, „(w)enn wir zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen stehen, wir allerwärts dem moralischen Gesetz gehorchen müssen“ (VI 133 Anm.), bleibt jedenfalls noch einmal davon zu unterscheiden, dass „wir in diesen moralischen Verhältnissen stehen“; Letzteres indiziert mithin einen Anspruch, der nicht selbst aus diesen „moralischen Verhältnissen“ erst ableitbar ist: Dass „ich“ in „moralischen Verhältnissen“ stehe und mich durch bzw. in diese(n) beansprucht weiß, ist nicht selbst wiederum aus den diesen „moralischen Verhältnissen“ immanenten Ansprüchen zu begründen. Es indiziert dies eine Dimension von „Kontingenz“, die so vielleicht auch noch als ein besonderer Aspekt von „Geschöpflichkeit“ ausgelegt werden kann und als solche über das bloße bewusste „Dasein“ unter den „Dingen der Welt“ (V 576 Anm.) offenbar noch hinausweist. Es wäre dies eine „Inanspruchnahme“, die in ihrer „Ursprünglichkeit“ der unbedingten Verbindlichkeit innerhalb jener „moralischen Verhältnisse“ noch vorausliegt und auch in keiner innerweltlichen Instanz eine Entsprechung finden kann, obgleich sie sich in „kommunikativer Freiheit“ erst „realisiert“ und auch bewähren muss. Dem korrespondiert so eine explizite Affirmation jener ursprünglichen Inanspruchnahme, die nunmehr auch im Sinne jener besonderen „moralischen Gesinnung im Verhältnisse zu Gott“ verstanden werden kann und näherhin von Kant als „Liebe Gottes …, aus eigener Wahl, und aus Wohlgefallen am Gesetze (aus Kindespflicht)“ bestimmt wurde, welche eine eigentümliche Weise der Selbstaffirmation als „vernünftiges Weltwesen“ impliziert. Infolgedessen liegt nicht nur die Frage nahe, ob Kants späte Bestimmung der „Religionspflicht“ als „Erkenntnis aller unserer Pflichten als (instar) [d. h. „gleichviel“] göttlicher Gebote“ (IV 579) darin ihre letzte Begründung fände – darüber hinaus resultiert daraus
IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre
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eine eigentümliche kantische „Übersetzung“ der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe: Ist doch jene „moralische Gesinnung im Verhältnis zu Gott“ und die darin vollzogene reflexive geschöpfliche Selbstbejahung als „vernünftiges Weltwesen“ unzertrennlich mit der Pflicht verbunden, „sich den Menschen überhaupt zum Zwecke zu machen“ (IV 526), d. h. sich die „Beförderung“ des – je besonderen – „Vermögens der Zwecke“ der Anderen (als „objectum obligationis“) selbst „zum Zweck zu machen“ (s. o. I., 4.). Im Vorblick auf die nachfolgenden Überlegungen erweist sich die diesen „Beschluss“ einleitende „existenz“-philosophische Argumentation Kants wohl nicht zuletzt deshalb als besonders bedenkenswert: Dass „ich“ den „bestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ „vor mir“ sehe und sie „unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz verknüpfe“, wäre demnach wohl auch dahingehend zu verstehen, dass die Unmittelbarkeit des „Sich-ins-Verhältnis-Setzen“ zu dieser gewussten „Einheit“ beider (als „Selbst“) auch erst „meine Existenz“ konstituiert, die freilich von ihrem interpersonalen „Weltbezug“ (und somit von den Anderen als „objectum obligationis“, s. o. I., Anm. 284) nicht abzulösen ist. Dies könnte in solchem Kontext noch dahingehend eine besondere Akzentuierung erlauben, dass darin die Erfahrung der „Erschütterung“ und der „Bestärkung“ in eins gedacht werden muss und im Verhältnis zu dieser Einheit sich „Existenz“ erhält – das heißt nun: bewahrt und gewinnt, wobei auf Letzterem auch der Hauptakzent liegt. Dies impliziert zwar nach Kant eine Absage an jede teleologisch-theologische „Suspension des Ethischen“, obgleich sich solche „Existenz“ solcherart mit dem Anspruch eines erweiterten Sinnhorizontes konfrontiert sieht, der von Kant in der Spannung zwischen dem „bonum supremum“ und dem „bonum consummatum“ sowie der dem „reflektierenden Glauben“ (s. u. V. 3.) innewohnenden Herausforderung angezeigt wird. Im Ausgang von jenem die eigentümliche Weltstellung des Menschen resümierenden „Beschluss“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ soll sich im Folgenden in einer existenzial-anthropologischen Perspektive erweisen: Fungieren die „theoretischen Vernunftideen“ als das unverzichtbare „Regulativ“, das die menschlichen Wissensansprüche und Weltkenntnisse leitet und so erst einen zweckmäßigen Vernunftgebrauch (d.h. eine – allein durch sie zu machende – zusammenhängende „Erfahrung“) ermöglicht, so sind es die „praktischen Vernunftideen“, die dem „vernünftigen, aber endlichen Wesen“ als „Wegweiser oder Kompass“ notwendige existenzielle Orientierung gewähren. Kants später programmatischer Hinweis auf die zunächst im „Subjekt des moralischen Gesetzes“ (IV 113) verankerte und näherhin im „Kritizism der praktischen Vernunft gegründete wahre Religionslehre“ (VI 328) findet dergestalt seine konkrete Einlösung. Es ist der darin sich manifestierende „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ „in concreto und individuo“, der so den ihm allein angemessenen und gangbaren „Weg zur Weisheit“ (IV 275) eröffnet und damit auch vor „Vermessenheiten“ aller Art – d. h. gleichermaßen vor Borniertheit und vor halsbrecherischen Sprüngen – bewahrt.
1. Eine notwendige Rückbesinnung auf die fundamentalphilosophische Verankerung der kantischen Postulatenlehre
Der angezeigte subjekt-zentrierte Perspektivenwechsel von der „ethikotheologischen“ Vernunftwissenschaft (als Teil des „Weltbegriffs der Philosophie“) zur „Erste-Person“Perspektive der „Existenz“ macht vorab eine nochmalige fundamentalphilosophische Rückbesinnung auf die eigentümliche Weltstellung dieses als „vernünftiges Weltwesen“ existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ unumgänglich. Dies weist über die bloße Charakterisierung des Menschen als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ (als des „Wesens an sich selbst“ bzw. „eigentlichen Selbsts“) hinaus und erfordert demgemäß einen breiter angelegten fundamentalphilosophischen Aufweis der „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ (IV 113), zumal dieser sich auch nicht auf die Besinnung des Status des Menschen als „Subjekt der Pflichten“ (ebd.) beschränken kann. Dies setzt eine existenzialanthropologische Erörterung der Frage voraus, was es denn für solche „vernünftige Weltwesen“ heißt, ihr Leben als „Subjekte“ und als „Personen“ in einem „Reich der Zwecke“ führen zu müssen; näherhin impliziert dies die Klärung der Frage, welche „Bewandtnis“ es für sie haben mag, in ihrer Lebensführung (und der darin übernommenen „Selbstverpflichtung“) „als Lebewesen auf ihren Tod hin lebend“ zu leben „als die, die ihr Leben führen von ihrem Tod her“16 – und d. h. eben auch: Was es bedeuten mag, „vernünftiges Sterbewesen“17 16 Diese Formulierung lehnt sich an eine die Weltstellung des Menschen charakterisierende Wendung von M. Theunissen an: „Als Lebewesen auf unseren Tod hin lebend, leben wir als die, die ihr Leben führen von unserem Tod her“ (Theunissen 1991, 207 f ). Theunissen hat diesbezüglich wohl Heideggers Bestimmung der „Grundverfassung der Geschichtlichkeit“ vor Augen: „Nur wenn im Sein eines Seienden Tod, Schuld, Gewissen, Freiheit und Endlichkeit dergestalt gleichursprünglich zusammenwohnen wie in der Sorge, kann es im Modus des Schicksals existieren, das heißt im Grunde seiner Existenz geschichtlich sein“ (Heidegger 1957, 385): Eine „Bestimmung des Menschen“, die der kantischen Charakterisierung des „endlichen Vernunftwesens“ keineswegs fremd ist. 17 Diese von H. Ebeling (Ebeling 1990, 113 u. ö.) übernommene Kennzeichnung der Menschen als „vernünftige Sterbewesen“ ist in der kantischen Bestimmung des „vernünftigen Weltwesens“ als eines „vernünftigen aber endlichen Wesens“ (IV 133) mitenthalten. Sie verweist offenbar auf die Weltstellung des Menschen, die in Theunissens (in der vorigen Anmerkung angeführten) Kennzeichnung so treffend benannt ist; sie macht auch recht gut die Spannung sichtbar, die der kantischen Charakterisierung des Menschen als eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ innewohnt. Sowohl in der angeführten Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen als auch in ihrer Bestimmung als „vernünftiges Sterbewesen“ spiegelt sich der von E. Heintel angezeigte betonte fundamentalphilosophische Sachverhalt wider, der nicht zuletzt auch mit Blick auf Kants Postulatenlehre sehr bedenkenswert bleibt: „Nur daseiende Transzendentalität kann den Tod vorwegnehmen, nur daseiende Transzendentalität ihn erleiden; das transzendentale Subjekt als solches stirbt nicht, weil es nie gelebt hat, seine Unsterblichkeit muss notwendig ein abstrakter Gedanke bleiben. Diese fundamentalphilosophische Situation ist immer schon vorausgesetzt, wenn überhaupt auf Tod und Unsterblichkeit reflektiert wird …“ (Heintel 1968, 749).
1. Die fundamentalphilosophische Verankerung der Postulatenlehre
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zu sein – eine Problemanzeige, die nur von der in der Existenz des Menschen konkreten Einheit der „zweifachen sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ her verständlich wird. Der Blick auf diese die menschliche Existenz auszeichnende eigentümliche Verschränkung des „Vom-Tod-Her“ und „Auf-den-Tod-Hin“ schließt freilich die keinesfalls banale Rücksicht darauf mit ein, dass dieses „vernünftige Sterbewesen“ – bei allem „Vorlaufen“ und „Vorwegnehmen“ –-, merkwürdigerweise letztendlich doch immer „an etwas“ stirbt: Ein durchaus bedenkenswerter Aspekt menschlicher „Kontingenz“ und der „Beschaffenheit“, mit der dieses „vernünftige, aber endliche Wesen“ „wirklich ist“. Bevor davon noch genauer die Rede sein soll, sei noch darauf hingewiesen: Es ist ein denkwürdiger Sachverhalt, der in Kants „zweiter Kritik“, also im Ausgang von Kants neuer „Freiheitslehre“, gewissermaßen in „Erster-Person-Perspektive“, unverkennbar in den Vordergrund rückt: Ausgehend von der „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ (IV 113), d. h. als „eigentliches Selbst“ „existiert“, zeigt sich, dass der Mensch als „vernünftiges Naturwesen“, leiblich daseiend, eben von dieser „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ selbst, in seiner „Kreatürlichkeit“ eingeholt wird – sofern er eben nicht lediglich seinen Tod wissend (und „vorlaufend“) vorwegnimmt, sondern „im Leibe“ stirbt (und nicht bloß verendet).18 Als „geistige Existenz“ aus der Natur herausgetreten, stirbt der Mensch doch als „Ganzer“, d. h. im buchstäblichen Sinne als In-dividuum. Auch das in der „Ursprünglichkeit“ des „moralischen Glaubens“ aufgehobene „Dass-ich-bin“ hebt in seiner „Absolutheit“ die „Endlichkeit“ nicht auf, sondern konfrontiert darin jenes „Naturwesen, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) … erkennen können“ (V 558), nunmehr noch in einer ganz anderen Hinsicht unausweichlich mit der „Beschaffenheit, mit der e(s) wirklich ist“ (IV 113). Auch hier bleibt gegenüber „einäugigen“ Akzentuierungen des „Existenz“-Verständnisses daran zu erinnern: Die „gewissen … apriori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetze des reinen Vernunftgebrauchs“ (II 360 f ), durch die allein die Freiheit sich als „Prinzip der Bestimmung meiner Existenz“ offenbart, zeichnen zwar den Menschen als „eigentliches Selbst“ aus und qualifizieren dieses „vernünftige Weltwesen“ als den existierenden „Endzweck der Schöpfung“; gleichwohl erweist sich die Wirklichkeit dieser leiblich daseienden „Existenz“ als eine solche, die sich in dieser „Freiheits“verfassung selbst schon voraussetzt und ebenso als leiblich-daseiende „doch sich selbst nicht gleichsam schafft“ (IV 87). Anknüpfend an jene Kennzeichnung der 18 In diesem Sinne lässt sich in Ansehung „je meiner Individualität“ (und d. h. auch: „Sterblichkeit im Leibe“, als „natürliches Individuum“) in Rücksicht auf leitende Intentionen Kants wohl sagen: „Die Endlichkeit meines Geschaffenseins (meiner Kreatürlichkeit) wird aber auch in der Absolutheit des Gewissens … nicht überwunden. Der vorweggenommene Tod, die Gewissheit, ‚dass ich sterbe‘, bringt mir nur allzu deutlich die Grenze der Humanität und die Endlichkeit meiner selbst zum Bewusstsein und wirft mich auf jene Kreatürlichkeit zurück, die ich immer schon (gewesen) bin und bleibe, auch wenn ich mich in der Absolutheit des Gewissens über alle Einschränkungen meiner natürlichen Existenz erhoben habe. Hier liegt ja der tiefere Grund für Kants Postulatenlehre bezüglich des Zusammenhangs von Gewissen und Unsterblichkeit“ (Heintel 1984, II 296). Auch dies bleibt zu bedenken, wenn Henrich bezüglich der Möglichkeit bzw. Zulassung eines „philosophisch legitimen Glauben(s)“ anmerkt: „Auch gegenwärtig kann es keinen Kantianismus geben, der Kants Intention unreduziert aufnimmt und der das von Fichte zuerst erschlossene Strategem nicht zu erneuern versteht“ (Henrich 2000a, 27 f ).
28 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Weltstellung des Menschen (s. o. I., 3.1.1.) bleibt darauf zu achten, dass es diesem „mit Vernunft begabten Erdwesen“ nicht nur versagt bleiben muss, sich je verlässlich zuhause zu wissen in der von ihm erst zu deutenden Welt (wie es ein hier ganz Kant-naher Dichter19 weiß); vielmehr ist es für ihn – eben als „vernünftiges Weltwesen“ – in Rückund Voraussicht auf das „gelingende Ganze seiner Existenz“ auch unausweichlich, vom wissend vorweggenommenen Tod her, stets erst „selbst-werdend“, ein bewusstes Leben eben auf den Tod hin führen zu müssen. Dass des Menschen „größte Besorgnis diejenige“ ist, „welche er vor sich selbst hat“,20 und eben darin, so Kant, „nicht ohne Ursache die Menschen die Last ihrer Existenz“ fühlen, „ob sie gleich selbst die Ursache derselben sind“ (VI 181),21 d. h. solcherart eben unvermeidlich „besorgt“ ihr Leben besorgen, wie Kant offenbar in Anlehnung an das antike „cura“-Motiv betont), fügt sich recht gut zu jenem Sachverhalt, wonach eben die „Exis 19 Dieses berühmte Motiv aus Rilkes „Duineser Elegien“ lässt eine große Nähe zu Kant erkennen (besonders der frühe Rilke hat ja auch Kants Schriften, bes. die „Kritik der Urteilskraft“, studiert). Vgl. auch die freilich ganz populär gehaltene „Pädagogik“ Kants (VI 691 ff ). „Leben“ als „physisches Anerkennen seiner Exis tenz in der Welt, und seines Verhältnisses zu den Außendingen“ (wie der getreue Kant-Schüler Willmanns meinte: VI 342) genügt eben dem „bewussten Leben“ und seinem Orientierungsbedürfnis nicht. 20 Refl. 7199, in: AA XIX, 272. Hier klingt das stoische „Selbstsorge-“, d. h. „cura“-Motiv ganz deutlich an; zu den vielfachen Bezügen zur Stoa in Kants „Bestimmung des Menschen“ vgl. Brandt 2007a und die dortigen Literatur-Hinweise. Auch naheliegende Anknüpfungen an das klassische – aus der platonischen Tradition stammende – „Sorge-um-die-Seele“-Motiv, das auch mit Kants Bestimmung des „eigentlichen Selbst“ zusammenhängt, sind hier nicht weiter zu verfolgen. Indirekt ist natürlich der Bezug auf das „eigentliche Selbst“ Platons unüberhörbar: „In Wahrheit“ aber gehe es bei der Gerechtigkeit nicht nur in Bezug „auf das äußere Handeln des Menschen, sondern in Bezug auf das innere, bei dem es wirklich um ihn selbst und um das Seine geht. Er erlaubt nämlich keinem Teil in sich, Fremdartiges zu tun, noch dass die Teile seiner Seele vielgeschäftig aufeinander übergreifen; vielmehr hat er sein Haus wohlbestellt, ist über sich selbst Herr geworden und hat Ordnung in sich selbst geschaffen; so ist er mit sich selbt befreundet und hat jene drei Teile [der Seele] in eine harmonische Übereinstimmung gebracht.[…] Alles das hat er in eins zusammengebunden und ist so aus vielen ganz und gar einer geworden“ (Politeia 443c). – Es ist in der Tat eine kantische Perspektive, die Konhardt geltend macht: „Die Anerkennung unseres ambivalenten, schwierigen Status als ‚Doppelwesen‘, und das bedeutet umgekehrt die Weigerung, diesen Status zugunsten ‚einfacherer‘, harmonisierender Lösungen preiszugeben, kann als Interesse an der ‚Selbsterhaltung‘ des endlichen Vernunftwesens verstanden werden, an der Erhaltung des Menschen als eines endlichen und zugleich essentiell vernunftbestimmten Wesens. Diese Auffassung der Selbsterhaltung des Menschen lässt sich mutatis mutandis als neuzeitlich-moderne Version der antiken Idee der ‚Selbstsorge‘ begreifen“ (Konhardt 2004, 426). Letztere wird freilich, gerade auch im Sinne der kantischen Kritik an der Stoa, durch Kants programmatische Formel von der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ zugleich durchbrochen; gleichwohl erlaubt Kants Konzeption des „Endzwecks der Schöpfung“ auch eine kritisch-gebrochene Anknüpfung an die stoische „Logos“-Lehre. 21 Auch in diesem Kontext der kantischen Überlegungen über „Das Ende aller Dinge“ (in denen Kant ebenso das Thema des „radikal Bösen“ berührt) finden sich zweifellos thematische Anknüpfungspunkte zu dem Motiv Ricoeurs: „Vielleicht kann niemand bis auf den Grund der Einwilligung hinabsteigen. Das Böse ist der Skandal, der auf immer die Einwilligung von der grausamen Notwendigkeit unterscheidet. Vielleicht bedeutet das, dass der Weg der Einwilligung nicht über die Bewunderung der herrlichen Natur läuft, die der Begriff des absolut Unwillentlichen zusammenfaßt, sondern über die Hoffnung, die etwas anderes erwartet … Die Bewunderung sagt: Die Welt ist gut, sie ist die mögliche Heimat der Freiheit; ich darf zustimmen. Die Hoffnung sagt: Die Welt ist nicht die endgültige Heimat der Freiheit; ich gebe soweit möglich meine Einwilligung, aber ich hoffe von der Last des Schrecklichen befreit zu werden und, am Ende der Zeiten, auf einen neuen Leib und eine neue Natur, die meiner Freiheit entspricht“ (P. Ricoeur, Philosophie de la volonte 1, Le volontaire et l’ involontaire 451; zit n. Greisch 2004, 595).
1. Die fundamentalphilosophische Verankerung der Postulatenlehre
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tenz“ des Menschen als des „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ dadurch bestimmt ist, sein Leben „rechenschaftsfähig“ und -„pflichtig“ vom wissend vorweggenommenen Tod her auf diesen hin „sein Leben führen zu müssen“22 und in diesem Sinne – am Maßstab der „moralischen Welt“ – gleichermaßen „besorgt“ sein darf und soll, zu jenem „Ganzen aller Zwecke“ zu gehören. Die in jener „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ sich manifestierende „Sorge um sich selbst“ (als „eigentliches Selbst“) ist dieser abgeleiteten „Sorge für sich selbst“ vorausgesetzt und wird so auch den unauflöslichen Zusammenhang zwischen dem „Glauben an die Tugend“ (IV 715) und dem „moralischen Glauben“ begründen (s. u. IV., 3.). Das „vernunft-gewirkte“ Bedürfnis einer umfassenden Existenz-Orientierung wäre für den Menschen als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ die in die existenzialanthropologische Perspektive übersetzte Explikation der „moralischen Teleologie“, die sich als „zweckmäßiger Gebrauch der Vernunft“ („subjektiv betrachtet“) realisiert.
1.1. Die in einer existenzialanthropologisch verankerten Postulatenlehre zutage tretende fundamentalphilosophische Basis der Idee des „höchsten Gutes“ Zunächst bleibt jedoch die zweifache „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ zu thematisieren, welche die Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ konstituiert. 1.1.1. Die in der „Beschaffenheit“ des „vernünftigen Weltwesens“ konkrete Einheit einer zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass die Thematisierung der „Weltstellung des Menschen“ auch für den in Kants „Weltbegriff der Philosophie“ gesuchten Aufweis der „ganzen Bestimmung des Menschen“ unverzichtbar ist und so auch mannigfache Anknüpfungspunkte für die späteren religionsphilosophischen Themen bietet. Jedoch zielt die Frage „Was ist der Mensch?“ nicht allein auf die „ganze Bestimmung“ des Menschen, sondern bedarf ebenso einer fundamentalphilosophischen Explikation derselben, 22 In motivlicher Hinsicht wissen sich die in diesem IV. Teil im Vordergrund stehenden „existenzialanthropologischen“ Perspektiven dem von D. Henrich formulierten Anliegen verbunden, die philosophischen Gedanken „über das bewusste Leben“ und die daran geknüpfte „Frage nach seinem Ursprung und seiner Bewandtnis für die Verfassung dieses Lebens“ näherhin auch so zu verstehen, „sich über den Ursprung dieser besorgten Frage eine gründlichere Rechenschaft zu geben.“ Der daran anschließende Hinweis Henrichs auf Kant erweist sich bezüglich der in diesem IV. Teil bestimmenden Blickwendung geradezu als richtungsweisend: „Er [der „Ursprung dieser Frage“] kann gewiss nicht unmittelbar in das Kantische ‚ich denke‘ gesetzt werden, obwohl das epistemische Selbstbewusstsein immer eine Voraussetzung für die Möglichkeit dieser Frage ist. Hält man sich an den Wortlaut des Kantischen Werks, so hätte sie ihren Ort allein in der Postulatenlehre der praktischen Philosophie oder, allgemeiner gesagt, im ‚Weltbegriff‘ der Philosophie. Will man sie in diesem Zusammenhang halten und zugleich ihrem Lebensgewicht Rechnung tragen, dann muss man aber diese Lehre stärker im Zentrum der Philosophie verankern und mit der Grundform eines bewussten Lebens verbinden, das geführt werden muss und das insofern Vernunftleben genannt werden kann“ (so D. Henrich, in: Langthaler/Hofer 2010, 64). Genau von diesem Anliegen ist die „existenzialanthropologische“ Verankerung der Postulatenlehre geleitet.
30 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre zumal auch Kants Kennzeichnung des Themas „Natur und Freiheit“ als die „beide(n) (Prinzipien) Türangeln der Philosophie“23 auf diese Fundierungsfragen rückverweist. Derart rückt die spezifische Weltstellung eines „vernünftigen Weltwesens“ ins Blickfeld – desjenigen „Naturwesens“,24 das als „Freigelassener der Schöpfung“ sein Leben führen muss und darin eine in „praktischer Vernunft“ fundierte Sinnorientierung verlangt. So unzweifelhaft die „praktische Bestimmung“ des Menschen als „moralische Persönlichkeit“ an die „Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen“ (IV 329) gebunden ist, so ist die „Beschaffenheit, in der er wirklich ist“, eben doch eine solche, dass er sich als „vernünftiges, endliches Wesen“ in dieser „Doppelnatur“25 „nicht selbst gleichsam schafft“ (IV 87), was sich deshalb gleichermaßen auf beide Aspekte („Natur und Freiheit“) dieser „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ bezieht: Sowohl in seinem natürlichen („leiblichen“) Dasein als auch in seinem (moralischen) Selbstverhältnis bleibt er sich selbst „voraus-gesetzt“, zumal er, so Kant in einer bemerkenswerten Notiz (s. u. IV., Anm. 32 u. 200), auch „die Freiheit selbst nicht in seiner Gewalt“ hat. Dass bei Kant von einer „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ sowohl im Blick auf seine Kennzeichnung des „objektiven Naturzwecks“ als auch auf die „Zwecke der Freiheit“ die Rede ist, erweist sich in systematischer Perspektive nicht zuletzt für eine fundamentalphilosophische Fundierung der kantischen Ethikotheologie als besonders bedeutsam Als konkrete Einheit einer (als „innerer Naturzweck“) „sich selbst erhaltenden
23 Vgl. AA XXI, 156. Wenigstens indirekt knüpft Kants späte Bezugnahme auf „Natur und Freiheit“ als die beiden „Türangeln der Philosophie“ ebenso an Leibnizens Lehre vom „Labyrinth des Kontinuums“ und dem „Labyrinth der Freiheit“ (als den „beiden Labyrinthen der Philosophie“) an, die noch in Kants Frage „Was ist der Mensch?“ nachklingt. Die in der Weltstellung des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ konkrete Einheit dieser „zweifachen sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ knüpft unübersehbar an die Leibniz’schen „Labyrinthe“ (im Sinne der Einheit von „Substanz und Freiheit“) an. – Zu den auch wirkungsgeschichtlich für Kant und den Deutschen Idealismus so bedeutsamen „beiden Labyrinthen“ Leibnizens sei auf die einschlägigen Arbeiten von Erich Heintel hingewiesen (Heintel 1968; 1984). 24 Allerdings wäre der von Kant vorgenommene Rekurs auf das „Naturwesen“ Mensch hier im Sinne des „organisierten Wesens“ als „innerer Naturzweck“ (d. h.: nicht im Sinne der „dritten Antinomie“ der ersten Kritik) zu verstehen: „Denn ein Geschöpf zu sein, und, als Naturwesen, bloß dem Willen seines Urhebers zu folgen; dennoch aber, als freihandelndes Wesen … der Zurechnung fähig zu sein; und seine eigene Tat doch auch zugleich als die Wirkung eines höhern Wesens anzusehen: ist eine Vereinigung von Begriffen, die wir zwar in der Idee einer Welt, als des höchsten Guts, zusammen denken müssen; die aber nur der einsehen kann, welcher bis zur Kenntnis der übersinnlichen (intelligiblen) Welt durchdringt, und die Art einsieht, wie sie der Sinnenwelt zum Grunde liegt: auf welche Einsicht allein der Beweis der moralischen Weisheit des Welturhebers in der letztern gegründet werden kann, da diese doch nur die Erscheinung jener erstern Welt darbietet [!], – eine Einsicht, zu der kein Sterblicher gelangen kann“ (VI 115). 25 Von einer „Doppelnatur des Menschen als Phaenomenon und Noumenon“ ist in P. Natorps Einleitung zur „Kritik der praktischen Vernunft“ die Rede (AA V, 508) die Rede – eine Wendung, die in der Sekundärliteratur des Öfteren aufgenommen wird (vgl. z. B. Wimmer 1990, 56; auch H. Wagner 2008a). Diese „Doppelnatur“ ist auch noch in der späten Notiz Kants angesprochen: „Der Mensch gehört nun als Tier zur Welt aber doch auch als Person zu den Wesen, welche Rechte fähig sind und folglich Freiheit des Willens haben dessen habilitaet ihn von allen anderen Wesen wesentlich unterscheidet“ (AA XXI, 36). – Von einer „Doppelnatur des Menschen“, d. h des „endlichen Vernunftwesens“ spricht auch – ebenfalls mit Blick auf Kant, obgleich anders akzentuiert – Konhardt (2004, 152): „Dieses Spannungsverhältnis von Endlichkeit und Vernunft, Natur und Freiheit, Bedingtheit und Unbedingtheit macht, in neuzeitlich zugespitzter Weise, die ‚Doppelnatur‘ des Menschen aus.“
1. Die fundamentalphilosophische Verankerung der Postulatenlehre
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Zweckmäßigkeit“26 und der „sich selbst erhaltenden Vernunft“ (nicht zuletzt als „System der Freiheit“ und ihrer „Zwecke“) ist die „Selbsterhaltung“ dieses „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ in dem so konstituierten „Existenz“-Vollzug verankert. Die in der Existenz des Menschen (eines „vernünftigen Weltwesens“) konkrete zweifache „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ ist es deshalb auch, die der hier im Vordergrund stehenden existenzialanthropologischen Konzeption zugrunde liegt. In der „Existenz“ dieses „vernünftigen Weltwesens“ sind beide Formen dieser „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ „in concreto“ aufgehoben. Diesbezüglich ist auch daran zu erinnern, dass solche fundamentalphilosophische Vertiefung zugleich eine denkwürdige Anknüpfung an ein schon in der „transzendentalen Dialektik“ der „ersten Kritik“ benanntes Motiv erkennen lässt, das wohl als ein früher Verweis auf die spätere Idee einer „moralischen Teleologie“ verstanden werden darf. Schon in dem „Von den Paralogismen …“ handelnden Abschnitt der „ersten Kritik“ heißt es nämlich bezeichnenderweise: „Nach der Analogie mit der Natur lebender Wesen in dieser Welt, an welchen die Vernunft es notwendig zum Grundsatze annehmen muss, dass kein Organ, kein Vermögen, kein Antrieb, also nichts Entbehrliches, oder für den Gebrauch Unproportioniertes, mithin Unzweckmäßiges anzutreffen, sondern alles seiner Bestimmung im Leben genau angemessen sei, zu urteilen, müßte der Mensch, der doch allein den letzten Endzweck von allem diesem in sich enthalten kann, das einzige Geschöpf sein, welches davon ausgenommen wäre. Denn seine Naturanlagen, nicht bloß den Talenten und Antrieben nach, davon Gebrauch zu machen, sondern vornehmlich das moralische Gesetz in ihm, gehen so weit über allen Nutzen und Vorteil, den er in diesem Leben daraus ziehen könnte, dass das letztere sogar das bloße Bewusstsein der Rechtschaffenheit der Gesinnung, bei Ermangelung aller Vorteile, selbst sogar des Schattenwerks vom Nachruhm, über alles hochschätzen lehrt, und sich innerlich dazu berufen fühlt, sich durch sein Verhalten in dieser Welt, mit Verzichttuung auf viele Vorteile, zum Bürger einer besseren, die er in der Idee hat, tauglich zu machen“ (II 357). Unüberhörbar klingt hier jene – in der Weltstellung des Menschen vereinte – zweifache „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ (und die darin gedachte Analogie der „Selbsterhaltung“ des „inneren Naturzwecks“ und der „Selbsterhaltung der Vernunft“) an; und zwar geschieht dies auf eine Weise, die seine spätere Begründung und Entfaltung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ geradezu als eine systematische Entfaltung desselben erscheinen lässt (s. dazu u. IV., 3). Es wird sich zeigen: Es geht um die „Selbsterhaltung der Vernunft“ – diejenige eines „vernünftigen, endlichen Wesens“, 26 Es wurde schon wiederholt darauf hingewiesen, dass in der Bestimmung des „vernünftigen Weltwesens“ beide Aspekte dieser „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ vereint sind. Eine in systematischer Hinsicht sehr bemerkenswerte Analogie von „Natur und Freiheit“ zeigt sich auch darin, dass nach Kant sowohl der „moralische Standpunkt der Freiheit“ als auch der Begriff des (inneren) „Naturzwecks“ „die Vernunft in eine ganz andere Ordnung der Dinge“ führt (vgl. V 489); zugleich manifestiert sich darin Kants kritizistisch gebrochene Analogie von „physischer“ und „moralischer Teleologie“. – Im Sinne dieser im Menschen gedachten Einheit der „zweifachen sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ erlaubt Bambauers treffende Charakterisierung noch eine Zuschärfung: „Die Idee des höchsten Guts kann in gewissem Sinne als zweckhafte Spiegelstruktur der phänomenal-noumenalen Doppelaspektivität des praktisch aufgefassten Menschen verstanden werden“ (Bambauer 2011, 284 f ).
32 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre das jene „zweifache sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ „existierend“ in sich vereint; es ist dieser elementare Sachverhalt, der auch in der Charakterisierung des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ mitzubedenken bleibt. Ebenso ist aber auch jene schon berührte denkwürdige Zweideutigkeit zu berücksichtigen, die schon jenem kantischen Verweis auf die „Beschaffenheit, mit der er [d. i. der Mensch als „vernünftiges Weltwesen“] wirklich ist“, innewohnt. Ist es doch diese „Beschaffenheit“, der gemäß er sich in der Einheit der zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ als „Natur und Freiheit“27 als „gesetzt“28 ergreift und insofern sich in seiner eigenen „Wirklichkeit“ (in dem schon wiederholt angeführten Sinne) „unbegreiflich“ bleibt. Zunächst sei bezüglich dieser als „leiblich daseiende Transzendentalität“29 bestimmbaren „Beschaffenheit“ noch einmal daran erinnert, dass auch jene Gewissheit des „Dass-ich-bin“ (II 152) (des „Subjekts der Apperzeption“, des „logischen Ich“, von dem „schlechterdings nichts weiter zu erkennen möglich, was es für ein Wesen, und von welcher Naturbeschaffenheit es sei“ [III 601f]), sich selbst in ihrer „Faktizität“ ebenso voraus-gesetzt ist wie auch die „Freiheit“ als jener „archimedische Punkt“, der im Anspruch des „moralischen Gesetzes“ erst „offenbar“ wird.30 Erweist sich Letzte27 Es ist in systematischer Hinsicht sehr beachtenswert, dass Kant die Idee einer „moralischen Teleologie“ und deren Gegenstand, den „Endzweck aller Dinge“, ausdrücklich „nach der Analogie mit der physischen Teleologie, welche letztere uns die Natur wahrnehmen lässt“ (III 647), versteht, obwohl wir die Idee der „Zweckmäßigkeit“ doch nur „aus uns“ kennen. 28 Wohl auch hier sachlich naheliegende Bezüge zu den Eingangspartien aus Kierkegaards „Krankheit zum Tode“ sind nicht näher zu verfolgen. 29 Ich übernehme diese Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen von E. Heintel, der damit auch die notwendige fundamentalphilosophische Verankerung der Frage „Was ist der Mensch?“ angezeigt hat; s. dazu die entsprechenden Kapitel: in Heintel 1984. 30 Weil für diese Perspektive bestimmend, sei hier auf den von Heimsoeth betonten besonderen „Individuierungs-Aspekt“ hinzuweisen, dem zufolge „auch das Bewusstsein des Sittengesetzes … durchaus nicht das Gegebensein einer abstrakt-idealen, vom individuellen Subjekt abgelösten Wahrheit und Wertinstanz für Kant darstellt, sondern eine unmittelbare Sollensbeziehung auf mich als existierendes Intelligenz- und Willenswesen sichtbar macht. […] Das Sittengesetz schwebt nicht ‚im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreis‘, sondern ich sehe es vor mir und verknüpfe es ‚unmittelbar mit dem Bewusstsein ‚meiner Existenz‘. […] Das einzelne Vernunftwesen also ist sich, als dieser zur Sinnenwelt gehörige Mensch, im Praktischen zugleich ‚als Wesen an sich selbst … bewusst‘“, weshalb eben auch das „Autonomie-Bewusstsein“ als „individuell“ zu denken sei (Heimsoeth 1971, 252), obgleich sich der Inhalt des Sittengesetzes natürlich an der Idee der „allgemeinen Gesetzgebung“ orientiert. Freilich, Heimsoeths Bemerkung, dass die „leere ‚unbedingte‘ Einheit des Ich-denke … hier einen Zuwachs von der Sollensseite her“ erhalte, ist, wie Ludwigs Hinweise (Ludwig 2010; 2011) es nahelegen, ein (eben durch jene Pistorius-Kritik inspirierter: s. dazu o. Einleitung Anm. 13) „zuwachsender“ Problemhinweis auf die notwendige Einheit und Differenz der „Einheit der Apperzeption“. Mit Recht merkt Ludwig im Blick auf die neue „Freiheitslehre“ Kants an: „Von nun an kann und muss also die Apperzeption, beziehungsweise die Spontaneität der Ideen, nicht mehr bemüht werden, wenn es darum geht, die Teilhabe des Menschen am Intelligiblen und damit die ‚Möglichkeit‘ seiner Freiheit aufzuzeigen. […] Stattdessen finden wir fortan immer neue Formulierungen, die gerade die Unabhängigkeit und das neue Selbstbewusstsein der reinen praktischen Vernunft dokumentieren“ (Ludwig 2010, 614). Ludwig resümiert die von Kant nunmehr eingenommene „praktische Freiheitsdeduktion“: „Er expliziert die (von ihm ja ohnehin niemals in Frage gestellte) Nötigung durch das Sittengesetz jetzt als ein ‚Factum der praktischen Vernunft‘ und macht dieses Gesetz zur nunmehr alternativlosen ratio cognoscendi der Freiheit“ (Ludwig 2010, 617). Und aus solchem Standpunkt des „Selbstbewusstseins der reinen praktischen Vernunft“ ist sodann auch die hier zu verfolgende „Existenz“-Perspektive und die darauf basierende Konzeption des „höchsten Gutes“ formuliert.
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re denkwürdigerweise doch als „Prinzip“ und als „archimedischer Punkt“ gemäß einer „Beschaffenheit“, die sich als solche nicht selbst „verdankt“ und insofern, in durchaus unterschiedlicher Weise, eben auch nicht über sich selbst „verfügt“.31 Die Kehrseite dieser spezifischen Weise der Erfahrung des „Für-sich-Seins“ ist also dies, dass sie nicht in sich selbst gegründet ist, zumal auch die jene „moralische Persönlichkeit“ konstituierende Positivität des „moralischen Gesetzes“ sich „durch keine Vernunft herausklügeln“ lässt (IV 673, Anm.),32 mithin auch Freiheit, als „ratio essendi“ des moralischen Gesetzes, vollends „unbegreiflich“ bleibt (s. auch IV 550); in dieser unhintergehbaren Faktizität ist „Für-sich-Sein“ (das freilich nicht „Selbsterkenntnis“ ist) und „Sich-entzogen-Bleiben“ in eigentümlicher Weise vereinigt. Deshalb ist auch jene (im eigentlichen Sinne „individualisierende“) Gewissheit des „eigentlichen Selbst“ mit dem „Faktum der Vernunft“ unauflöslich verbunden und bleibt zugleich auf das „dass“ seines vorausgesetzten konkret-leiblichen Daseins rückverwiesen.33 Jene von Kant thema31 In mancher Hinsicht sind Kant auch Motive nicht fremd geblieben, die in Kierkegaards Existenz-Erfahrung so eindringlich dargelegt sind – schon Kants „Orientierungs“-Metapher weist wohl in solche Richtung: „Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Land man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt das: die Welt? Was bedeutet dieses Wort? Wer hat mich durch seine Tricks in die ganze Sache hereingezogen und lässt mich nun damit allein? Wer bin ich? Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum wurde ich nicht gefragt, warum nicht mit Sitten und Gebräuchen bekanntgemacht, sondern in Reih’ und Glied gesteckt, so als wäre ich von einem Seelenverkäufer gekauft? Wie wurde ich Teilhaber an dem großen Unternehmen, das man die Wirklichkeit nennt? Warum soll ich Teilhaber sein? Ist einem das nicht freigestellt? Und wenn ich dazu gezwungen werden soll, wo ist dann der Diskussionsleiter, ich habe einen Einwand zu machen? Gibt es keinen Diskussionsleiter? Wohin soll ich mich mit meiner Klage wenden? Das Dasein ist ja eine Debatte, darf ich bitten, dass meine Überlegungen mit in Erwägung gezogen werden? Soll man das Dasein nehmen, wie es ist, wäre es dann nicht das beste, dass man erführe, wie es ist?“ (Kierkegaard 2000, 69 f ). 32 In dieser Anmerkung der „Religionsschrift“ (IV 673, Anm.) wird bekanntlich von Kant nicht nur die „Anlage für die Tierheit“ von derjenigen für die „Menschheit“ und diese wiederum von der „Anlage“ für die „Persönlichkeit, als eines vernünftigen und zurechnungsfähigen Wesens“ unterschieden; mit dem Aufweis der Wirklichkeit des „in uns gegebenen“ „schlechthin gebietenden“ moralischen Gesetzes sieht Kant (dies wird häufig ignoriert) auch den Nachweis erbracht, dass dieses uns „zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewusst macht“; diese Argumentation Kants verbietet übrigens eine „moralistische“ Engführung der Freiheit. – Kants frühe Bemerkung, der zufolge ich „die Freiheit selbst nicht in meiner Gewalt habe“ (Refl. 7171, in: AA XIX, 263), wäre wohl zunächst auf die Wirklichkeit dieses „durch keine Vernunft herauszuklügelnden“ „moralischen Gesetzes“ zu beziehen, sie gewinnt aber im näheren Kontext der kantischen Religionsphilosophie einen differenzierteren Sinn (s. u. V., 3.). 33 Ein gerade auch im Blick auf diese späte kantische Notiz denkwürdiger – und durchaus auch Kant-kritisch auzunehmender! – Aspekt jener angezeigten fundamentalphilosophisch relevanten „Doppelnatur“ (und damit ein wichtiger Fingerzeig auf das Problem „Transzendentalphilosophie und Monadologie“) ist vermutlich in dem berühmten Gedicht des Matthias Claudius angesprochen: „Ich danke Gott und freue mich wie’s Kind zur Weihnachtsgabe – dass ich bin, bin! Und dass ich dich, schön menschlich Antlitz habe!“ (in seinem Lied „Täglich zu singen“); möglicherweise zeigt M. Claudius in diesem „dass ich bin, bin!“, ein tieferes Bewusstsein von der transzendentalphilosophisch vorausgesetzten (d. h. uneinholbaren) „natürlichen Monadizität“ und somit von der geschöpflichen Uneinholbarkeit der „natürlichen Individualität“ („meine Leiblichkeit“) als Kant – ebenso von den damit verbundenen transzendentalphilosophischen Engführungen hinsichtlich der „Beschaffenheit, mit der es wirklich ist“ (IV 113). Das Claudius’sche „Dass ich bin, bin“ markiert so nämlich gewissermaßen den transzendentalphilosophisch uneinholbaren substanz-philosophischen Platzhalter (für) jenes „sum“ im „sum cogitans“: das „dass ich bin, bin“, insistiert (im Sinne der „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ gelesen) gleichsam darauf, dass die Wirklichkeit des Menschen nach der „Beschaffenheit, mit der er [als „vernünftiges Weltwesen“]
34 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre tisierte „Beschaffenheit“ des „vernünftigen Weltwesens“ erweist sich demnach als eine solche, deren „konkrete“ Identität nur als untrennbare Einheit dieser unterschiedlichen Aspekte der „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ wirklich ist. Dasjenige, für das (als „Vermittlung“) alles ist, sofern es „Erscheinung“ konstituiert, ist indes, als leiblich„daseiende Vermittlung“ desselben, selbst „in der Welt“ – und zwar von der besonderen Art, dass dieses nicht nur als Vorhandenes, sondern als „Lebendiges“ wirklich ist und als ein solches gemäß jener „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ „sich erhält“. Eine andere Frage ist es freilich, ob nicht Kant selbst den Blick auf diesen fundamentalphilosophisch bedeutsamen Sachverhalt wiederum verstellt, so wenn er gelegentlich betont: „Vermittelst der Vernunft ist der Seele des Menschen ein Geist (mens, nous) beigegeben [!], damit er nicht ein bloß dem Mechanism der Natur und ihren technisch-praktischen, sondern auch ein der Spontaneität der Freiheit und ihren moralischen Gesetzen angemessenes Leben führe“ (III 410). Denn abgesehen davon, was man sich denn unter diesem „vermittelst der Vernunft der Seele des Menschen beigegebenen Geist“ genauerhin zu denken hat, hat es doch den Anschein, dass solcherart die Kennzeichnung der den „objektiven Naturzweck“ auszeichnenden „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ völlig ausblendet bleibt.34 In eigentümlicher Weise suggeriert dieser soeben zitierte Passus eine Einheit des „vernünftigen Weltwesens“, die jedoch genauer besehen (mit diesem Bezug auf den „der Seele des Menschen beigegebenen Geist“) die traditionelle Unterscheidung der „Seele“ als „forma corporis“ und als „forma formarum“ nivelliert. So wird in diesem fundamentalphilosophischen Kontext erneut die Unumgänglichkeit einer zweifachen „Konkretisierung der Transzendentalität“ sichtbar, die sich genauer wirklich ist“, „innerhalb“ des in der „ursprünglichen synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption“ bewussten „Nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur dass ich bin“ (II 152) nicht hinreichend thematisierbar ist. Anders gesagt: Es zeigt sich, dass das zweit-angeführte „bin“ (in diesem „Dass ich bin, bin“) nicht von dem „dass ich bin“ der „ursprünglich synthetischen Einheit“ „absorbiert“ werden darf, weil andernfalls die „Beschaffenheit“, mit der der Mensch als „vernünftiges Weltwesen“ „wirklich ist“, nicht unverkürzt zu denken wäre und deshalb indirekt auch darauf verweist, „dass der Mensch den Menschen zeugt“. Jenes „Dass ich bin, bin“ wäre demzufolge als Hinweis auf eine uneinholbare Voraussetzung zu verstehen, die sich auch nicht in der nachkantisch geltend gemachten Einsicht erschöpft, dass „Subjektivität“ auf ein ihr uneinholbar Vorausliegendes verweist, sofern sie sich etwa immer schon im bzw. als „Selbstgefühl“ findet. Dieses „dass ich bin, bin“, kann deshalb gerade auch als Einspruch gegen jene kantische These verstanden werden, dass „im Bewusstsein seiner selbst“ selbst der „Organism enthalten“ sei (AA XXIII, 78). Dies impliziert so desweiteren wohl auch die Einsicht: „Auch von dem ‚ich handle‘ in seiner Freiheitlichkeit … erreiche ich mich nicht in meiner natürlichen Individualität und damit in der Aufhebung der ontologischen Differenz meines Menschseins. Weder in dem ‚ich bin‘ der ursprünglichen Synthesis der transzendentalen Apperzeption noch in dem ‚ich handle‘ der praktischen Vernunft werde ich im Rahmen der Vermittlung von transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus den nicht abweisbaren Motiven der traditionellen Ontologie gerecht: Transzendentalismus und Aristotelismus bleiben unversöhnt“ (Heintel 1984 II, 296). – Dies hat freilich auch Konsequenzen für den (deshalb nicht existenzphilosophisch aufzulösenden bzw. zu reduzierenden) „Existenz“-Begriff wie auch für unverzichtbare fundamentalphilosophische Aspekte der Postulatenlehre. 34 Noch Fichtes Bemerkung verweist (mit offenkundigem Bezug auf die leitende Thematik der Einleitung in die „Kritik der Urteilskraft“) auf diesen kantischen Problemhintergrund: „Die Vernunftwelt steht in Wechselwirkung, … und beide Welten stehen miteinander in gegenseitiger Wechselwirkung und erscheinen so: zuvörderst in artikulierten [!] Leibern greift Natur und Freiheit ineinander, vermittelst der Freiheit des Individuums und so wirkt die ganze Freiheit in die ganze Natur …“ (GA IV, 2, 260).
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besehen auch für die Grundlagen der kantischen Postulatenlehre (d. h. vor allem für die Bestimmung des „höchsten abgeleiteten Gutes“ als „Glückseligkeit“) als fundamental erweist. Es hat sich schon gezeigt (s. o. I., 3.2.1.): Das bloße Bewusstsein „Dass-ichbin“ der „transzendentalen Apperzeption“ wird so allein als bzw. im Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ als „Wirklichkeit der intelligiblen Welt, und zwar in praktischer Rücksicht bestimmt“, wenn doch „in dem ganzen Vernunftvermögen nur das Praktische dasjenige sein könne, welches uns über die Sinnenwelt hinaushilft“ (IV 232 f ). Der Sachverhalt, dass dieses „vernünftige Weltwesen“ – als jenes „Naturwesen, das als Freiheitswesen“ existiert – nicht selbst bloße „Erscheinung“, sondern selbst „Lebendiges“ ist,35 weist so noch eine andere Dimension der „Konkretisierung der Transzendentalität“ als unentbehrlich aus. Sie erfordert eine – über die Einheit von „Kausalität aus Natur“ und „Kausalität aus Freiheit“ hinausweisende – Vertiefung der zu bedenkenden Einheit von „Natur und Freiheit“ und hat wohl in der „dritten Kritik“ Kants (mit dem Thema „Natur und Freiheit“) ihren systematischen Ort; hier allerdings auf eine Weise, die über die von Kant vorgenommenen Differenzierungen zum „letzten Zweck der Natur“ und dem „Endzweck der Schöpfung“ sodann bezeichnenderweise in eine fundamentalphilosophisch verankerte Konzeption der Ethikotheologie einmündet. Im Blick auf den beabsichtigten Aufweis der fundamentalphilosophischen Verankerung der Konzeption des „höchsten Gutes“ in der Weltstellung des Menschen nach der „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“, darf auch daran erinnert werden, dass Kant die für die Eigenart des Lebendigen konstitutive „Selbstorganisation“ – als der in der „Spezies ursprünglich vorhandenen zweckmäßigen Anlage, zur Selbsterhaltung der Art“ (V 540) bzw. deren Fähigkeit zur „Selbsterhaltung nach den Umständen“ (V 486) – von der „moralischen Selbsterhaltung“ (V 551) als einer „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ (V 350) noch unterscheidet. Davon noch einmal abgehoben (und dennoch darin verwurzelt) ist die besondere Perspektive einer „Selbsterhaltung der Vernunft“ – derjenigen eines vernünftigen, aber endlichen Wesens, dessen Existenz „natürliche“ und „moralische Zweckmäßigkeit“ in sich vereint und die philosophische Reflexion auf diese besondere Weltstellung auf „Voraussetzungen“ ganz besonderer Art verweist: Die bloß „verständige“ Selbsterhaltung (besser: „Selbstbehauptung“) des Menschen als des „letzten Zwecks der Natur“ bleibt von jener „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ unterschieden, die den Menschen als „moralische Persönlichkeit“ auszeichnet; sie ist es wiederum, die auf eine „Selbsterhaltung der Vernunft“ verweist, die erst dem Menschen als „vernünftigem, aber endlichem Wesen“ genügt und auf eine „Selbsterhaltungs-Perspektive“ hinweist, die in der Idee des „höchsten Gutes“ angezeigt ist. Als existierender „Endzweck der Schöpfung“ erscheint dort jenes „Naturwesen, das als Freiheitswesen existiert“, sofern es nicht nur bewusster Zwecksetzungen fähig ist, sondern sich überdies in seiner moralischen Motivation gemäß der „Ver35 Als eine andere – aporetische? – Problemanzeige darf jene schon erwähnte beiläufige Notiz im „opus postumum“ verstanden werden: „Selbst der Organism ist im Bewusstsein seiner selbst enthalten“ (AA XXII, 78). Im „Bewusstsein meiner selbst“ (im „inneren Sinn“) bin ich bloß „Erscheinung“ – und eben die Beschränkung darauf muss die Differenz zu der das „Lebendige“ auszeichnenden „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ gerade nivellieren.
36 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre nunft als Vermögen der Zwecke“ an „unbedingten Zwecken“ zu orientieren vermag, die in einer philosophischen Ethik als einem „System der Zwecke der Freiheit“ auszuweisen und zugleich mit den „höchsten Zwecken der Vernunft“ auf eine Weise zu verbinden sind, welche die „Selbsterhaltung der Vernunft“ erst zum Abschluss bringt. Derart erweist sich die Weltstellung des Menschen, also seine „Existenz“ als „vernünftiges Weltwesen“ (im Sinne jener Einheit der zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“), auch als das nicht preiszugebende Fundament der kantischen Postulatenlehre und der darin maßgebenden Idee des „höchsten Gutes“. Im Blick auf die in dem „System der Zwecke“ sich realisierende „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ (im Sinne der „Selbsterhaltung der Vernunft“) bleibt, in bewusster Analogie zu dem in der „conditio humana“ zutage tretenden Voraussetzungsverhältnis und somit mit besonderer Rücksicht auf jene „Beschaffenheit“, mit welcher der Mensch als „vernünftiges, endliches Wesen“ wirklich ist (IV 113), noch dies anzumerken: Wenn sich das „vernunftbegabte Erdwesen“ in der „Realisierung“ der durch den „Weltbegriff der Philosophie definierten „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ (und den „Endzweck der Vernunft“), d. h. in diesen Sinnvollzügen, immer schon innerhalb des eigentümlich „faktischen“, d. i. gleichermaßen konstituierten und konstituierenden Vernunftbedürfnisses und Sinngefüges jener „Ideen“ orientiert,36 so mag auch dies bestätigen, dass der in diesem „Gefüge“ sich konkretisierende Existenz-Vollzug37 doch ein solcher ist, der in dieser ideen-geleiteten „Realisierung“ sich setzt – als „vorausgesetzt“.38 Eben deshalb 36 Auch in solchem Kontext darf Jaspers’ Bemerkung über die kantische Ideenlehre vergegenwärtigt werden: „Man kann Ideen nicht anders erfassen, als nur dadurch, dass man in ihnen lebt“ (Jaspers 1971, 477). Ganz ähnlich betont Th. Rentsch im Blick auf Kant: „Ein verdinglichtes und objektivistisches Verständnis von Ideen verkennt, dass diese auf praktische, existentielle Lebensformen nur hinweisen, ihr Leben also in konkreten Lebenssituationen und nur dort haben“ (Rentsch 2005, 132). 37 Naheliegende Bezüge zum frühen Heidegger sind hier nicht zu verfolgen. Eine solche Anknüpfung legt freilich schon Heideggers Hinweis nahe: „die menschliche Vernunft ist nicht nur endlich, weil sie die genannten drei Fragen stellt, sondern umgekehrt: sie stellt diese Fragen, weil sie endlich ist, und zwar so endlich, dass es ihr in ihrem Vernunftsein um diese Endlichkeit selbst geht. Weil diese drei Fragen diesem Einen, der Endlichkeit, nachfragen, deshalb ‚lassen sie sich‘ auf die vierte ‚beziehen‘: was ist der Mensch? Aber die drei Fragen lassen sich nicht nur auf die vierte beziehen, sondern sie sind in sich überhaupt nichts anderes als diese Frage, d. h. sie müssen ihrem Wesen nach auf diese Frage bezogen werden. Aber dieser Bezug ist nur dann ein wesensnotwendiger, wenn diese vierte Frage ihre nächstgegebene Allgemeinheit und Unbestimmtheit aufgegeben hat und zu derjenigen Eindeutigkeit gebracht ist, gemäß der in ihr nach der Endlichkeit im Menschen gefragt wird. Als solche Frage ist sie aber nicht nur den ersten dreien rechtmäßig nachgeordnet, sondern sie wandelt sich zu der ersten, die die übrigen drei aus sich entlässt“ (ebd. 217). – Vgl. Heidegger 1997, 37: „Alles Können, das sich fraglich ist, ist in sich endlich, durch ein Nicht-Können mitbestimmt. Allmacht braucht nicht nur, sondern kann überhaupt nicht fragen, was sie kann, d. h. was sie nicht kann. Alles Sollen stellt vor Aufgaben, die unerfüllt sind, ein Noch-nicht. Das Dürfen schränkt ein im bestimmten Umkreis des Berechtigtseins und des Nichtberechtigtseins“. – Diese naheliegenden Bezüge zu Heideggers Verständnis der kantischen Fragen als „Grunderfahrungen der Endlichkeit“ sind hier nicht näher zu verfolgen. Dies gilt nicht zuletzt auch für die das „Sein des Daseins“ kennzeichnende „Grundsein einer Nichtigkeit“, die Heidegger im Kontext der berühmten Ausführungen über „das Sein des Daseins“ als „Sorge“ thematisiert: „Seiend ist das Dasein geworfenes, nicht von ihm selbst in sein Da gebracht. Seiend ist es als Seinkönnen bestimmt, das sich selbst gehört und doch nicht als es selbst sich zu eigen gegeben hat“ (Heidegger 1957, 284). 38 Dies bezieht sich nicht zuletzt auf den Ausgang von den in der Ethikotheologie verhandelten „moralischen Zwecken“: „Eine Moraltheologie (Ethikotheologie) wäre der Versuch, aus dem moralischen
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muss dieser selbst in dem „moralisch“ begründeten „Sinn des Unbedingten“ verankerte, durch das „Gefüge“ dieser Ideen eröffnete Sinn-Horizont insofern „unbegreiflich“ bleiben, weil er in seinem faktischen „Dass“ reflexiv nicht eingeholt zu werden vermag. Die Wirklichkeit dieses vorausgesetzt-gefügten Sinn-Horizontes muss indes von dem darüber noch hinausgehenden Anspruch eines uneinholbaren „unbedingten Sinnes“ selbst – als „Begründungsinstanz“ jenes praktisch realisierten „Sinnhorizontes“ – noch unterschieden bleiben – eine Differenz, deren Ignorierung unweigerlich auf eine „Subreption“ besonderer Art hinausliefe. Auch dies markiert einen besonderen „teleologischen“ Aspekt der Idee des „Reichs der Zwecke“, von dem nun noch in einer anderen Hinsicht die Rede sein soll. 1.1.2 Anmerkung: Die Erweiterung der Idee des „Reichs der Zwecke“ als fundamentalphilosophische Explikation der Frage „Was ist der Mensch?“ – in religionsphilosophischem Kontext Hier ist zunächst eine dem „dritten Stadium“ der Metaphysik zuzuordnende Problemvertiefung zu vergegenwärtigen; eine solche legt sich auch schon durch die in systematischer Hinsicht gebotene Rücksicht darauf nahe, dass Kant die Weltstellung des (von ihm häufig als „vernünftiges Weltwesen“ bezeichneten) Menschen als konkrete Einheit der sich „selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ (im Sinne der den Organismus auszeichnenden „ursprünglichen Organisation“) und der in der „gewissen Organisation der (praktischen) Vernunft“ sich enthüllenden „Zweckverbindung“ ausgewiesen hat. Darin sind die das Lebendige auszeichnende „ursprüngliche Organisation“ und die „gewisse Organisation der praktischen Vernunft“ (als „System der Freiheit“) als in unauflöslicher Konkretheit vereint gedacht. Diese fundamentalphilosophisch-anthropologische Perspektive39 erweist sich nicht nur im Blick auf die aus dieser Weltstellung des Menschen resultierende „ganze Bestimmung“ desselben, sondern auch deshalb als besonders bedeutsam, weil darin eine bedeutsame Differenzierung der Idee des „Reichs der Zwecke“ sichtbar wird; sie macht die im engeren Sinne religionsphilosophischen Zusammenhänge explizierbar, die ebenfalls diesem „dritten Stadium der Metaphysik“ zuzuordnen sind. Ein in systematischer Orientierung erfolgender kritischer Rückbezug auf Leibniz erlaubt es, sowohl jene „zweifache sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ als auch die daran geknüpfte kantische Idee des „Reichs der Zwecke“ auf eine Weise aufzunehmen, die jedenfalls eine moralphilosophische Engführung dieser Idee vermeiden lässt. Dies macht den fundamentalphilosophischen Hintergrund sichtbar und vermag in dieser Hinsicht gleichermaßen die in kritischer Absicht erfolgende Verbindung von „physischer“ Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur (der a priori erkannt werden kann) auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ (V 560). Bekanntlich vertrat Kant – zuletzt (V 611) – die Auffassung, dass die Ethikotheologie die mangelnde Überzeugungskraft der Physikotheologie nicht nur „ergänzt“ (vgl. auch V 139), sondern eben „ersetzt“. 39 Das Zugeständnis, dass die „Ideen der Sittlichkeit nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich … ist, erfüllen“ (II 682), findet so eine fundamentalphilosophische Vertiefung.
38 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre und moralischer Teleologie“ als das allein tragfähige Fundament einer kritischen Religionsphilosophie auszuweisen. In einer solchen fundamentalphilosophisch ausgewiesenen Idee des „Reichs der Zwecke“ wäre somit nicht zuletzt der vernunftkritisch modifizierte Zusammenhang von Physikotheologie und Ethikotheologie begründet; gemäß der kritischen ethikotheologischen Konzeption wäre es doch erst diese „moralische Teleologie“ und die darin explizierte „moralisch konsequente Denkungsart“, die freilich auf die naturteleologische Begründungsperspektive zurückverweist und ihr derart – einer solchen „Ordnung der Zwecke“ gemäß – einen besonderen Stellenwert beimisst. In einem solchen fundamentalphilosophischen Problemzugang ist jedenfalls nicht zu übersehen, dass jene in der „dritten Kritik“ in den Vordergrund tretende – in der Idee der „moralischen Teleologie“ fundierte – ethikotheologische Thematisierung des Zusammenhanges von „Moral und Religion“ auf die schon in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft maßgebende Thematik der Einheit von „Natur und Freiheit“ (und ihrer beiden „Gesetzgebungen“) verweist und somit die von Kant ausdrücklich bekräftigte Unterscheidung und Einheit des „Reichs der Natur“ und des „Reichs der Gnaden“ aufnimmt. Ebendies führt zuletzt auf die in der „Existenz“ des Menschen konkrete Einheit „von physischer und moralischer Teleologie“ – konstitutiv für den Menschen als „vernunftbegabtes Tier“ (IV 594; III 406), das als solches, zwar Teil der Natur, dennoch nicht nur als (ein durch das bloße „Vermögen der Zwecke“ ausgezeichneter) „Zweck der Natur“ existiert. So wird die kantische Frage „Was ist der Mensch?“ auch als eine fundamentalphilosophische Perspektive auf die Weltstellung jenes „vernünftigen Weltwesens“ verstehbar, die in der unauflöslichen Einheit der beiden „Reiche“ verankert ist. Erneut erweist sich somit eine Verständigung darüber als erforderlich, ob und wie der Mensch auch als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ – sich gemäß einer „Ordnung der Zwecke“ denkend und handelnd orientierend – in das umfassende „System der Zwecke“ passt, das auch als ein „System der Zwecke der Freiheit“ gedacht werden muss40. Dies setzt somit eine systematische Differenzierung des „Reich der Zwecke“ schon voraus, die sodann in die späte Orientierung an einer umfassenden „Einheit aller Zwecke überhaupt“ als einem „Gedanken des Abschlusses“ einmündet. Folglich bleibt die für den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ maßgebende Idee der in der „moralischen Teleologie“ (als „Endzweck“) zu denkenden Einheit des „Moralischen … mit dem Physischen“ auch in dieser besonderen Akzentuierung aufzunehmen. Damit wird jene fundamental-anthropologische Perspektive einer – in der menschlichen „Existenz“ buchstäblichen konkreten – zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ (der „Natur“ und der „Freiheit“) noch entscheidend vertieft41;
40 In diesem Sinne wären wohl auch die aus den späten 70er-/frühen 80er-Jahren stammenden Vorlesungen zur Rationaltheologie genau zu berücksichtigen – vor allem die dort angeführte Idee der „Weisheit“ als „Vollkommenheit der Erkenntnis in der Ableitung eines jeden Zweckes aus dem System aller Zwecke“ (AA XXVIII, 1057). 41 Gemäß dieser „Doppelnatur“ bzw. der zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ bleibt hier jener von M. Theunissen angeregte Blick auf die Weltstellung des Menschen miteinzubeziehen (s. o. IV., Anm. 16).
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sie vereint die „Ideen“ der „physischen“ und der „moralischen Teleologie“ in sich42 und vermag so auch der in einen religionsphilosophischen Kontext einzubindenden Einheit des „Reichs der Natur“ und des „Reichs der Gnaden“ in der umfassenden Idee eines „Reichs der Zwecke“ wesentlich besser zu entsprechen.43 Es ist dies, wie sich zeigen soll, in der Tat der (nicht zu nivellierende) fundamentalphilosophische Kern der kantischen Lehre vom „höchsten abgeleiteten Gut“, das in der Weltstellung des Menschen als eines „Naturwesens, das als Freiheitswesen existiert“, seine Basis hat. In der Folge soll sich aber auch bestätigen, dass die fundamentalphilosophische Fundierung und Explikation der Idee des „Reichs der Zwecke“ das unumgängliche Fundament der maßgebenden existenzialanthropologischen Perspektive der Postulatenlehre darstellt; in ihr findet das fundamentalphilosophisch verankerte Existenz-Verständnis eine „subjekt“-zentrierte Entfaltung, worin der intendierte „Endzweck der Metaphysik“, nämlich der „Überschritt vom Sinnlichen zum Übersinnlichen“, in einer „existenzialanthropologischen“ Umwendung bzw. Konkretisierung eingelöst wird. Eben dies eröffnet eine in den folgenden Überlegungen näher zu entfaltende Problemperspektive: Die in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ behandelten Themen sollen, in gebotener Rücksicht auf diese „Beschaffenheit“, näherhin als existenzialanthropologische „Umwendung“ und Konkretisierung jener in der „dritten Kritik“ maßgebend gewordenen (letztlich auch die umfassende Idee des „Reichs der Zwecke“ konkretisierenden) Übereinstimmung von „physischer“ und „moralischer Teleologie“ ausgewiesen werden. Damit ist auch gesagt, dass diese in der Postulatenlehre vorrangig maßgebende „existenzialanthropologische“ Ausrichtung jene systematische und geltungstheoretische Begründung der Religion voraussetzt, wie dies ja auch in der Verbindung der maßgebenden Themen der „transzendentalen Methodenlehre“ der „Kritik der reinen Vernunft“ und der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ in transzendentalphilosophischer Ausrichtung angezeigt ist. Diese existenz-orientierte Übersetzung der metaphysischen Perspektive der Ethikotheologie macht eben, im Blick auf das „gelingende Ganze“ einer „moralischen Lebensgeschichte“, „Religion“ als eine allein in der individuellen Lebensführung verwurzelte Tiefendimension menschlicher Existenz sichtbar,44 die in solcher existenzialanthropologischen „Wendung“ von dem 42 U. Barths Befund wird sich in den nachfolgenden Überlegungen bestätigen und indiziert die von Kant systematisch vorgenommene „transzendentale Steigerung“: „Der Übereinstimmungsgarant von Natur und Moralität erweist sich jetzt als Übereinstimmungsgarant von physischer und moralischer Teleologie. Die einschlägigen Paragraphen der ‚Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft‘ lesen sich wie eine systematische Tieferlegung der Postulatenlehre der zweiten ‚Kritik‘. Sie vollziehen auf ganz eigene Weise eine Ausweitung des deutungstheoretischen Potenzials der religionstheoretischen Ausgangsformel“ (Barth 2005b, 301). Freilich, was sich hier einerseits tatsächlich als „systematische Tieferlegung“ der kritischen Metaphysik (der „Ethikotheologie“ als „Vernunftwissenschaft“) ausnimmt, erscheint in einer anderen Hinsicht als eine existenz-orientierte „Umwendung“ bzw. „Aufhebung“ derselben. – Zur „moralisch-teleologische(n) Version des Gedankens von der Möglichkeit und Realisierbarkeit des höchsten Gutes“ in der „dritten Kritik“ vgl. auch E. u. K. Düsing (2002, 112 ff ). 43 In der „Methodenlehre der Kritik der teleologischen Urteilskraft“ wird die früher (vgl. bes.: IV 70) angezeigte Idee des „Reichs der Zwecke“ erst expliziert und in den ethikotheologischen Rahmen integriert. 44 Die angezeigte „Übersetzung“ der Idee der „moralischen Welt“ („subjektiv betrachtet“) und ihre „moralisch-teleologische“ Entfaltung in eine existenzialanthropologisch begründete Hin-Sicht hat freilich
40 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre „schlechthin oder absolut Praktische(n)“ (III 518) ihren Ausgang nimmt;45 das von bloßer „Neigung“ unterschiedene existenz-umgreifende „Vernunftbedürfnis, aus einem objektiven Bestimmungsgrunde des Willens, nämlich dem moralischen Gesetze entspringend“ (IV 278), entspricht dem genau. Hatten die zunächst vor dem Zugriff einer dogmatischen Metaphysik durch die Vernunftkritik geretteten „transzendentalen“ Vernunftideen sodann eine kritische Übersetzung und „Bestimmung“ durch die „praktischen Vernunfidee“ gefunden, die in einer teleologischen Perspektive einen aussichtsreichen Ausblick auf einen „Endzweck der Metaphysik“ in einem „praktisch-dogmatischen Überschritt“ eröffnet, so findet Letzterer wiederum in dieser subjekt-zentrierten Perspektive eine notwendige Konkretisierung und „Realisierung“. Derart hat die auf den „Endzweck der Metaphysik“ ausgerichtete philosophische Reflexion in der auf den „Endzweck der menschlichen Vernunft“ abzielenden „Weisheitslehre“ lediglich eine existenz-orientierende Entsprechung. Demnach hat die in der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ gedachte Einheit von „physischer“ und „moralischer Teleologie“ in der im engeren Sinne so genannten „Postulatenlehre“ eine existenz-orientierte Übersetzung gefunden, die freilich nur dann vor Verkürzungen bewahrt bleibt, wenn die in systematischer Hinsicht unverzichtbare fundamentalphilosophische Basis dabei stets mitbedacht wird. Es soll sich zeigen: Dem im Kontext der Bestimmung des Ortes der „reflektierenden Urteilskraft“ (und des Aufweises des „unbegrenzte[n], aber auch unzugängliche[n] Feld[es] für unser gesamtes Erkenntnisvermögen, nämlich das Feld des Übersinnlichen“) als unentbehrlich angezeigten Rekurs auf den „Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält“ (V 247 f ), und den hierfür als unverzichtbar ausgewiesenen „Ideen“ und deren „Zusammenstimmung“ – die sodann ihre ethikotheologische „Explikation“ finden – korrespondiert die Begründung und Legitimation der existenzial-anthropologischen Perspektive, dass und wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“. In dieser – nunmehr subjekt-zentriert orientierenden – „existenzialen Teleologie“ sind die neue „Freiheitslehre“ und die in der „moralischen Teleologie“ verankerte Ethikotheologie sowie die (in der „Naturzweck“Thematik angezeigte) Dimension der „Leiblichkeit“ unauflöslich vereint. Der Idee des „höchsten Gutes“ kommt dabei bekanntlich ein besonderer Stellenwert zu.
auch nichts mit eudämonistisch-„eigennützigen“ Engführungen zu tun. Der gegen Kant gerichtete Eudämonismus-Vorwurf erweist sich schon deshalb als falsch, weil die gebotene Beförderung des „höchsten Gutes“ ein „moralisch gewirktes Bedürfnis“ schon voraussetzt und die Aussicht darauf nicht „zur“, sondern vielmehr selbst „durch Sittlichkeit“ (V 577) eröffnet ist, nur so aber auch den darin implizierten „Gerichts“-Gedanken verständlich macht. Gleichwohl findet, recht verstanden, das menschliche „Eudaimoniebedürfnis“ bei Kant auch seine „ethische Anerkennung“, weshalb in der „ebenso kritischen wie konstruktiven Integration des Eudaimoniegedankens eine der wesentlichen Pointen der Lehre vom Höchsten Gut“ zu erkennen sei (Barth 1994, 299 f ); sie muss dabei freilich für die fundamentalphilosophischen Kernfragen transparent bleiben. 45 Auch in solcher dem „Selbstdenken“ verpflichteten existenz-orientierenden Perspektive bleibt das „ungezweifelte Interesse … am allgemeinen Guten“ (IV 236) maßgebend.
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1.2. Zur unumgänglichen fundamentalanthropologisch-ethischen Basis der Postulatenlehre im engeren Sinne Vor dem angezeigten fundamentalphilosophischen Hintergrund liegt es nunmehr nahe, einige grundlegende Aspekte in Kants Verständnis menschlicher „Existenz“46 zu vergegenwärtigen, die sich auch für diesen religionsphilosophischen Kontext als besonders bedeutsam erweisen. Im Sinne einer „Selbstauslegung des Menschen“47 geben sie der Frage „Was ist der Mensch?“ eine Ausrichtung, die als eine Art „Existenz-Erhellung“48 vielleicht nicht unpassend zu charakterisieren wäre. Auch soll sich bestätigen, dass bzw. weshalb seine anthropologisch-praktische Kennzeichnung dieser „Existenz“ auf das Ganze der „moralischen Lebensgeschichte“ (IV 811) eines „vernünftigen endlichen Wesens“ – also auf dessen theoretische, praktische und hoffende Orientierung – abzielen muss und in diesen Ansprüchen durchaus der Eigenart „seines Vorstellens, Denkens und Handelns“ (VI 340) Rechnung trägt. In dieser existenzialanthropologischen Perspektive wären die „Vernunftpostulate“ sodann als jene der Vernunft „abgenötigten Vorausset46 Es wird sich bestätigen, dass dem kantischen „Existenz“-Begriff eine produktive Zweideutigkeit innewohnt, sofern er über bloßes „Dasein“ hinaus die spezifische Daseinsweise des Menschen anzeigt, der als „vernünftiges Weltwesen“ gemäß seiner „ganzen Bestimmung“ sein „Leben führen“ muss und darin in unabweislichen Ansprüchen eines „Sinns des Unbedingten“ steht, der indes nicht vorschnell religiös vereinnahmt werden darf. 47 Der Ansicht Gerhardts ist zuzustimmen, dass Kants ganze Philosophie letztendlich auf die differenzierte Beantwortung der Frage nach der „Bestimmung des Menschen“ als einem „intellektuellen Bewohner der Sinnenwelt“ (VI 185) abziele. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass mit „dem Übergang zur Kritik der reinen Vernunft … die Philosophie als ganze zu einer Selbstauslegung des Menschen“ wird, „deren höchster Zweck in nichts anderem liegen kann als darin, den Interessen des Menschen zu dienen. Die Philosophie wird nicht nur insgesamt auf den Zweck des Menschen bezogen, sondern sie wird auch aus diesem Zweck begründet. Darin liegt – paradoxerweise – die ‚kopernikanische Revolution‘ der kritischen Philosophie. Sie ist im Kern eine anthropologische Revolution, eine universelle Hinwendung zum Menschen“ (Gerhardt 1987, 140; vgl. dazu ders., 1990; zu Kants Frage „Was ist der Mensch?“ vgl. ders., 2002, bes. 295 ff ). Gerhardt sieht schon die Kosmologie des jungen Kant von dem „Eingeständnis“ bestimmt, „dass alles, was uns als Bewohner dieses Planeten betrifft, endlich ist. Alles, was wir sind, und vor allem alles, was wir unter diesen Bedingungen aus uns machen können, untersteht der Prämisse einer radikalen Endlichkeit“ (ebd. 142). Seine „kritische Philosophie“ im Ganzen sei deshalb „in ihrem Kern eine Anthropologie“, d. h. letztlich eben „eine begriffliche Selbstauslegung des tätigen Menschen“ (ebd. 148). Dass man alle vier berühmten Fragen Kants „im Grunde … zur Anthropologie rechnen“ könnte, „weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen“ (III 448), bestätigt wohl diese Sichtweise. Dies verlangt eine Besinnung auf den genauen Gehalt menschlicher „Existenz“, die offenbar nicht bloß dessen „empirische Faktizität“ meint. Das hat offenbar auch der (von Kant wohlwollend zitierte) junge Kantianer Wilmans schon gesehen: „Jetzt erschien die Kritik der Vernunft und bestimmte dem Menschen in der Welt eine durchaus aktive Existenz“ (VI 340 f ) – und dies damit begründet: „Der Mensch selbst ist ursprünglich Schöpfer aller seiner Vorstellungen und Begriffe, und soll einziger Urheber aller seiner Handlungen sein“. Zur Zusammenführung jener drei (Ich-)Fragen in der Frage „Was ist der Mensch?“ s. Henrich 2000a, bes. 39 ff. 48 Dieser bekanntlich von K. Jaspers stammende Terminus wird hier allerdings ohne jede engere sachliche Anlehung an ihn aufgenommen. – Ähnliches hat wohl auch Th. Rentsch vor Augen, wenn ihm zufolge die „Existenz“ des Menschen (als „Selbstzweck“) „als praktischer Sinnentwurf verstanden werden“ muss (Rentsch 1999, 326), der freilich darüber hinaus auf eine „praxis-transzendierende“ Sinndimension verweist. Während für die Frage „Was ist der Mensch?“ die „Naturkunde“ zuständig ist, zielt solche „Existenz-Erhellung“ („subjektiv betrachtet“) auf die menschliche „Existenz“, die in dem „Bewusstsein seiner [!] Freiheit, welche ihm durch den kategorischen Pflichtimperativ, also nur durch den höchsten praktischen Vernunft[gebrauch?] kund wird“ (VI 429, Anm.), in „Erscheinung“ tritt.
42 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre zungen“ (s. III 273, Anm.) zu explizieren, ohne die sich ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“ in dem Bedürfnis, sich „erkennend und denkend“, „handelnd und hoffend“ zu orientieren, in seiner „Existenz“ weder zurechtfinden noch sich bejahen könnte.49 Ohnehin manifestiert sich in diesen Fragen in differenzierter Weise ein Interesse der Vernunft an sich selbst (und somit an ihrer „Selbsterhaltung“), zumal sie darin, analog zur Kennzeichnung des „inneren Naturzwecks“ formuliert, im Sinne einer „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ (V 545)50 doch lediglich sich selbst erhält und derart die „Existenz“ des Menschen als des „vernünftigen Weltwesens“ konstituiert. Solcher „Existenz“-Vollzug orientiert sich nach Kant an den „Vernunftideen“, die als differenzierte Formen des „Unbedingten“ den Orientierungshorizont dieses „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ erst dimensionieren, sodass darin solche „Existenz“ gewissermaßen sich selbst „vermag“ – das heißt: sich gewinnt und bewahrt. Wie sich noch zeigen soll, hat Kant diese „Exis tenz“ des Menschen in sehr differenzierter Weise in ihren „Endlichkeitsaspekten“ und somit auch in ihrer Orientierungs-Not ausgewiesen.
49 Ein in einem ganz anderen Kontext, nämlich in dem „Beschluss“ der „Rechtslehre der Metaphysik der Sitten“ (IV 477), stehender Passus scheint auf den ersten Blick ebenfalls in diese Richtung zu weisen: „Wenn jemand nicht beweisen kann, daß ein Ding ist, so mag er versuchen zu beweisen, daß es nicht ist. Will es ihm mit keinem von beiden gelingen (ein Fall, der oft eintritt), so kann er noch fragen: ob es ihn interessiere, das eine oder das andere (durch eine Hypothese) anzunehmen, und dies zwar entweder in theoretischer, oder in praktischer Rücksicht, d. i. entweder um sich bloß ein gewisses Phänomen (wie z. B., für den Astronom, das des Rückganges und Stillstandes der Planeten) zu erklären, oder um einen gewissen Zweck zu erreichen, der nun wiederum entweder pragmatisch (bloßer Kunstzweck) oder moralisch, d. i. ein solcher Zweck sein kann, den sich zu setzen die Maxime selbst Pflicht ist. – Es versteht sich von selbst: daß nicht das Annehmen (suppositio) der Ausführbarkeit jenes Zwecks, welches ein bloß theoretisches und dazu noch problematisches Urteil ist, hier zur Pflicht gemacht werde, denn dazu (etwas zu glauben) gibt’s keine Verbindlichkeit, sondern das Handeln nach der Idee jenes Zwecks, wenn auch nicht die mindeste theoretische Wahrscheinlichkeit da ist, daß er ausgeführt werden könne, dennoch aber seine Unmöglichkeit gleichfalls nicht demonstriert werden kann, das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt. Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein … – denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll. Also ist nicht mehr die Frage: ob der ewige Friede ein Ding oder Unding sei, und ob wir uns nicht in unserem theoretischen Urteile betrügen, wenn wir das erstere annehmen, sondern wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist, auf Begründung desselben und diejenige Konstitution, die uns dazu die tauglichste scheint … hinwirken, um ihn herbeizuführen“ (IV 477 f ). Freilich darf nicht übersehen werden, dass die Idee des „Rechts“, der „Gerechtigkeit“, des „ewigen Friedens“ eine „praktische Idee“ ist, d. h. auf das „Praktische“ bezogen bleibt, als „was durch Freiheit möglich ist“, und deshalb nicht mit der Gottesthematik verglichen werden kann. Der späte Kant scheint hier selbst – auch durch eine nicht immer eindeutige Bestimmung des „Postulates“ (s. o. III., Anm. 287). – Missverständnisse zu begünstigen, zumal er gelegentlich die Kennzeichnung desselben dem Status der „praktischen Idee“ assimiliert und insofern auch die Idee des „höchsten Gutes“ als „Postulat“ zu bezeichnen scheint. 50 Deshalb ist die Bestimmung des „Vernunftglaubens“ als Fundament der „Selbsterhaltung der Vernunft“ (und die darin sich manifestierende bzw. erhaltende „teleologia rationis humanae) (s. dazu u. IV., 3.) in Analogie zu der Idee bzw. der „Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ (vgl. seinen Bezug auf Blumenbach: V 545) konzipiert, die bemerkenswerterweise auch seiner Bestimmung des „Naturzwecks“ zugrunde liegt. Leibnizens Idee der Einheit des „Reichs der Natur“ und des „Reichs der Gnaden“ wird darin offenbar in modifizierter Gestalt aufgenommen. Dem entspricht auch Kants Notiz: „Allgemeine Maxime der Vernunft ist, nur solche Prämissen gelten zu lassen, welche den größten Gebrauch der Vernunft möglich machen (natura sui conservatrix“) (Refl. 445, AA XV, 184). Hier wird die von Kant gelegentlich ausdrücklich erwähnte „Analogie zwischen Natur und Freiheit“ (AA XXI, 533) besonders deutlich.
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In dem mit der neuen „Freiheitslehre“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ verbundenen subjekt- bzw. existenz-zentrierten Perspektivenwechsel wird so auch deutlich, dass jene theoretischen Vernunftideen als unabweisbare „Aufgaben der Vernunft“ erst in solcher Existenz-Perspektive „praktisch bestimmend“ werden, d. h. solcherart auch erst ein lebensorientierendes Interesse an Selbstverständigung gewinnen können. Vornehmlich in solcher existenz-orientierenden Ausrichtung wäre die nachkantische Frage: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ aufzunehmen,51 worin sie sich an den unbedingten Anspruch des moralischen Gesetzes gebunden weiß bzw. ihm auch geschuldet ist und derart eine subjekt-zentrierte Übersetzung erfährt. Die der praktischen Metaphysik zugehörige Vernunftidee der „moralischen Welt“, der zufolge „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sei“ (II 680), hat somit selbst schon eine die neue Freiheitslehre voraussetzende existenzialanthropologische Wendung in die Erste-Person-Perspektive – in die darin verankerte „performative“ Einstellung – gefunden, die sich an der „Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut“ als des „ganzen Gegenstands der reinen praktischen Vernunft“ orientiert und eben gemäß der „ganzen Bestimmung“ des Menschen expliziert. Im Rahmen der in der „Religionsschrift“ maßgebenden Zielsetzung finden diese bekanntlich in der Entfaltung der Frage, wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“, eine direkte Weiterführung. Dass eine in programmatischer Hinsicht „ausführlich genug“ (IV 111) bestimmte „Kritik der praktischen Vernunft“ aber ebenso eine „Grenzbestimmung der praktischen Vernunft“ von besonderer Art erfordert, hat auch Kants kritische Auseinandersetzung mit den ethischen Konzeptionen der Antike – die genau dies nicht zu leisten vermochten – deutlich vor Augen geführt. Eine derart umfassend konzipierte „Kritik der praktischen Vernunft“, die freilich über Kants Auseinandersetzung mit der stoischen und epikureischen Bestimmung des „höchsten Gutes“ noch hinausweist und sodann in eine umfassende Ethikotheologie einmündet, muss die „Selbstgesetzgebung“ und „Selbstbegrenzung der praktischen Vernunft“ (nicht zuletzt im Sinne der Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“) als unauflöslich vereint ausweisen – und in der Tat sind es ja beiderlei Hinsichten, in denen sich Kant genauer besehen von den „Schulen der Alten“ abgrenzt (s. dazu u. IV., 2.1.). Hier verweisen diese Perspektiven einer „Kritik der praktischen Vernunft“ zurück auf die im Kontext der kantischen Ethikotheologie erfolgte Freilegung jener „Willensbestimmung von besonderer Art“ und ihres umfassenden „Beziehungspunktes“. Es gehört zur „Beschaffenheit, mit der er [als „Subjekt dieser [moralischen] Bestimmung] wirklich ist“ (IV 113), dass mit dem in jenem „Faktum der Vernunft“ sich manifestierenden „Sinn des Unbedingten“ für die Existenz des Menschen als eines „Vernunftwesens“ zwar eine „Sinndimension“ eröffnet ist, die sich für ihn als „vernünftiges Weltwesen“ (und d. h. eben auch: als leidsensibles und „vernünftiges Sterbewesen“) indes nicht schließen 51 Auch in einer solchen Ausrichtung liegt ein Blick auf das „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ nahe; dieses geht bezeichnenderweise von der „ersten Idee“, d. i. der „Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen“ aus, weil mit „dem freien, selbstbewussten Wesen … zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts“ hervortritt; über Natur, Recht, Staat und Geschichte kommen sodann „endlich … die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit“, ehe die alles vereinigende „Idee der Schönheit“ diesen Ideenkreis beschließt (Hegel I, 234 f ).
44 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre lässt: „conditio humana“. Deshalb bleibt an den (in der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“) geleisteten Aufweis, dass „reine praktische Vernunft wirklich“ und der Mensch, eben aufgrund der „Beschaffenheit dieses praktischen Vernunftvermögens“, „Subjekt dieser Bestimmung“ ist, der (in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ intendierte) Nachweis geknüpft, was denn für dieses „vernünftige, aber endliche Wesen“ im Blick auf das Ganze seiner „moralischen Lebensgeschichte“ als sein „vollständiges Wohl“ (IV 254, Anm.) gelten kann, sodass die im Menschen als moralischem Subjekt eröffnete „unbedingte“ Sinndimension ebenso einen seinem praktischen Vernunftbedürfnis angemessenen „Beschluss“ finden kann. Sowohl der Sachverhalt, dass das „gelingende Ganze seines Daseins“ (als „höchstes Gut“) „praktisch“ unverfügbar ist – eine besondere kantische Version der „fragility of goodness“ –, als auch dies, dass dem Menschen, als „Subjekt des moralischen Gesetzes“, gleichermaßen der „Grund“ dieser Freiheit, die der Mensch nicht „in seiner Gewalt hat“, verborgen („unerforschlich“) bleibt, sind Kant zufolge in der daraus resultierenden Sinnperspektive eines hierfür vorausgesetzten „Endzwecks der Schöpfung“ und seines „Grundes“ vereint; dieser enthält so notwendig all diese Momente in der besonderen Perspektive in sich, „dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (IV 652). Daran bzw. an die damit verbundene Affirmation, „dass ein solches Verhältnis (eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen)“ (VI 133, Anm.) sein soll, ist, wie sich noch zeigen soll, die „Selbsterhaltung der Vernunft“ gebunden und macht in solcher Voraussetzung auch einen besonderen Aspekt der „Endlichkeit der Vernunft“ sichtbar (vgl. dazu III., 2.1.). Das auf die Weltstellung des Menschen abzielende „Existenz“-Verständnis lässt sich im Blick auf Kant deshalb als die spezifische Daseinsform des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ verstehen, das in seiner Lebensführung und im Blick auf das „Ganze einer moralischen Lebensgeschichte“ Orientierung erst suchen muss – d. h. einer solchen bedürftig und zu der daraus resultierenden existenziellen Selbstvergewisserung auch fähig ist. Die darin maßgebende „ganze Bestimmung“ wird auch in der von Kant bezeichnenderweise gewählten Orientierungs-Metapher deutlich, die eine Transformation in den subjektverankerten Begründungskontext des praktischen „Vernunftglaubens“ geradezu nahelegt, ja im Grunde eine solche selbst anzeigt: „Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden“ (III 269). Jener „gegebenen Weltgegend“ entspricht offensichtlich recht genau der „archimedische Punkt der Freiheit“, der freilich erst im Anspruch des moralischen Gesetzes „offenbar“ wird; das derart jene Idee der Freiheit „offenbarende“ „moralische Gesetz“ (vgl. II 361) ist es, das gemäß einer Differenzierung des „Vernunftraumes“ sodann erst die übrigen „Weltgegenden“ zu erschließen vermag und so zuletzt „unumgänglich zur Religion führt“ – ohne dass freilich die solcherart eröffneten lebensorientierenden Perspektiven und die daraus gewonnenen zu denkenden Voraus-Setzungen als theoretische Einsicht missverstanden werden dürften.52
52 In ähnlicher Weise betont Weil, dass es dieser kantischen Orientierungs-Metapher zufolge für den Menschen „darum geht, sich zu orientieren, und zwar in den zwei Bedeutungen dieses Wortes: den Pol und
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Die von Kant erörterte sehr behutsam formulierte Frage: „Was heißt: sich im Denken [!] orientieren?“ bringt mit dieser „Orientierungs“-Metapher einerseits die Unumgänglichkeit des Rückbezugs auf den „Standpunkt der Freiheit“ zum Ausdruck. Andererseits wird zugleich der darin verankerte Existenz-Vollzug gerade durch solche un-bedingte „Subjekt“-Zentrierung vor aller Beliebigkeit bzw. Irrationalität der Willkür und des bloßen „Wünschens“ bewahrt und soll es demgegenüber erlauben, ohne „Vermessenheiten“ aller Art, im Denken, Handeln und Hoffen verbindliche Orientierung zu geben. Weil also „Existenz“ durch solches „Selbst-Verhältnis“ konstituiert ist, ist die Explikation desselben auch eine Voraussetzung für die vernunftorientierte Begründung des religiösen Verhältnisses, das die Religion – jenseits von skeptizistisch-psychologistischer Entlarvung und einer fideistischen Selbstbehauptung53 – auch nur so als „reine Vernunftsache“ (VI 338) zu legitimieren vermag. Demgemäß steht die umgreifende Frage „Was ist der Mensch?“ unter den Vorzeichen einer Orientierung und Verständigung dieser „Existenz“ über sich selbst, die nicht von „selbstbehauptungs“-fixierten Interessen besessen ist, sondern in reflexiver Selbstvergewisserung im Hinblick auf das „Ganze seiner Existenz“ an sich selbst „Interesse nimmt“.54 In den daraus aufkommenden Fragen verweist sie von selbst auf das unverkürzte Programm einer „Kritik der praktischen Vernunft“, das in einer solchen Hinsicht – eben im Ausgang vom Menschen „nach der Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ (IV 113) – auch als notwendige Differenzierung dieser existenz-orientierenden Koordinaten verstanden werden kann. Der dadurch eröffnete Sinn-Horizont findet in jenen berühmten Fragen nach dem Wissen-Können, Tun-Sollen und Hoffen-Dürfen und ihrer unauflöslichen Verbindung noch seine nähere Differenzierung und bestimmt so auch, im Sinne seines auf „Existenz-Erhellung“ abzielenden „Weltbegriffs der Philosophie“, die „Rangordnung der Zwecke“ dieses „endlichen vernünftigen Wesens“.55 In dem auf einem „Bedürfnis der Vernunft“ in ihrem „praktischen Gebrauch“ beruhenden „Vernunftglauben“, den Kant gemäß jener „Orientierungs“-Metapher bezeichnenderweise als einen „Weg-
die natürlichen Koordinaten seiner Existenz zu finden und sich in die richtige Richtung zu begeben“ (Weil 2002, 88), was wiederum mit der Etymologie des „Sinn-Begriffs“ zusammenstimmt (vgl. u. IV., Anm. 58). 53 Mit beiden Tendenzen sah Kant sich in seiner Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Positionen (Hume einerseits, neuplatonisierenden „vornehmen Tönen in der Philosophie“ andererseits) konfrontiert. 54 Es wird sich bestätigen: „Die systematische Einheit des Wissens ist ja beileibe kein Selbstzweck, sondern bekommt erst Sinn und Bedeutung von der Stellung des Menschen in der Welt und zur Welt, und zwar insofern in diesem Gedanken nicht nur einfach Wissen organisiert wird, sondern der tastende Versuch des endlichen Wesens unternommen wird, im Begreifen der Wirklichkeit sich selber im Ganzen dieser Wirklichkeit zu verstehen“ (Theis 2010, 214). 55 So ist nicht zu übersehen, wie jene Idee einer „von der Urteilskraft, zum Behufe ihrer Reflexion“ vorausgesetzten „Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen“ in transformierter Gestalt, d. h. eben praktischen Vernunftansprüchen gemäß und durchaus unter den Vorzeichen des „Primats der reinen praktischen Vernunft“, nunmehr mit Bezug auf die Idee der „moralischen Teleologie“ zutage tritt. Demgemäß könnte sich in der „systematischen Einheit der Zwecke nach moralischen Begriffen“ (ebd.) allein die Vernunft „wiederfinden“, weil sie nur so „mit den moralischen Vernunftprinzipien vollkommen zusammenstimmt“ (II 686). Ebendies verbietet eine (freilich von Kant selbst bisweilen begünstigte) Abspannung des Problems.
46 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre weiser oder Kompass“ (III 277) charakterisiert hat,56 ist es um eine Lebensdeutung57 als notwendiger „Orientierung“ eines Lebens zu tun, das aus Grundsätzen geführt werden muss und deshalb über die Notwendigkeit, sich „im Denken, d. i. logisch zu orientieren“ (III 270), noch hinausweist – offenbar eine Art sinn-orientierender „Wegweiser“, wodurch „der Mensch von gemeiner doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg, so wohl in theoretischer als praktischer Absicht, dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann“ (III 277).58 Diese „Kompass“-Metapher macht die existenzielle Wendung und Konkretisierung dieser Idee der „moralischen Teleologie“ lediglich besonders deutlich und gewinnt ihren spezifischen Sinngehalt erst aus der Abwehr der „Maxime“ des „Vernunftunglaubens“ (s. u. IV., 3.1.3.) In diesem subjekt-zentrierten umfassenden Orientierungs-Bedürfnis eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ ist der innere Zusammenhang der beiden Teile der wenig später erschienenen „Kritik der praktischen Vernunft“ schon angezeigt – und es wird auch noch näher zu verfolgen sein: Auch jener „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ auf dem ethikotheologisch beschrittenen Weg zum „Endzweck der Metaphysik“ hat in diesem hier von Kant geltend gemachten „Schritt, den man mit der reinen Vernunft tut“, eine existenzialanthropologisch gewendete Entsprechung gefunden. Jene das Thema des „Orientierungs-Aufsatzes“ in der Sache aufnehmende – und bezeichnenderweise zum „zweiten Teil“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ überleitende – bemerkenswerte These hätte so eine denkwürdige existenz-verankerte Einlösung gefunden – nämlich: „dass jeder Schritt, den man mit der reinen Vernunft tut, sogar im praktischen Felde … dennoch sich so genau und zwar von selbst an alle Momente der Kritik der theoretischen Vernunft anschließe, als ob jeder mit überlegter Vorsicht, bloß um dieser Bestätigung zu verschaffen, ausgedacht wäre“ (IV 233). Schon dies lässt erkennen: Es ist ein entscheidender Perspektivenwechsel, der somit, im Blick auf das „Subjekt des moralischen Gesetzes“ und den hierfür maßgebenden „Begriff der Freiheit“, in der „zweiten Kritik“ in den Vordergrund tritt. Dass erst diese – „vernunftbegründende“ – Subjekt-Zentrierung eine solche existenzialanthropologische Ausrichtung zu begründen vermag (diese aber auch unumgänglich macht), wird aus dem 56 Bemerkenswert ist freilich, dass Kant im Orientierungs-Aufsatz betont, dass „der Vernunftglaube, der auf dem Bedürfnis ihres Gebrauchs in praktischer Absicht beruht, ein Postulat der Vernunft heißen könnte“ (III 277), während später explizit von den Postulaten des „Vernunftglaubens“ die Rede ist. 57 U. Barths Befund über den Status der „Religion“ bei Kant weist eben in diese Richtung: „Religion ist für Kant die Selbstdeutung sich realisierender Freiheit nach deren theoretisch transzendenten, praktisch jedoch immanenten Ermöglichungsbedingungen“ (Barth 1994, 295). Solche „Selbstdeutung sich realisierender Freiheit“ ist freilich immer auch „Orientierung“ eines Lebens, das „geführt werden muss“ (s. nächste Anm.). 58 Kants Orientierungs-Metapher bzw. der Hinweis auf den „seinen Weg vorzeichnenden“ Menschen legt die Erinnerung daran nahe: Dass „Sinn“ etymologisch bekanntlich mit „Weg, Richtung“ verbunden ist („sinnan“: „sich auf den Weg machen [nach]“), passt auch recht gut zu Kants „Überschritt“-Metapher (gleichsam als „Sinn“-Vollzug), ebenso zur unumgänglichen „Orientierungsbedürftigkeit“ eines „bewussten Lebens“, das als solches geführt werden und dabei „seinen Weg vorzeichnen“ muss. Die von Kant verwendeten Bilder des „Wegweisers“ und des „Kompasses“ (vgl. III 277) entsprechen recht genau dieser Etymologie des Sinn-Begriffs und verweisen auch auf die von ihm so oft verwendete Metapher vom „sicheren Überschritt“; dies ist unschwer mit Kants späteren Differenzierungen der Idee des „Endzwecks“ in Verbindung zu bringen.
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schon angeführten Passus deutlich: „Der einzige Begriff der Freiheit verstattet es, dass wir nicht außer uns hinausgehen dürfen, um das Unbedingte und Intelligible zu dem Bedingten und Sinnlichen zu finden. Denn es ist unsere [!] Vernunft selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz, und das Wesen, das sich dieses Gesetzes bewußt ist (unsere eigene Person), als zur reinen Verstandeswelt gehörig … erkennt“ (IV 233).59 Dies bedeutet freilich, dass „unsere Vernunft“ darin ein unabweisliches Interesse an sich selber nimmt und auch nur darin sich „erhält“. Damit ist wohl auch jene kantische These begründet, dass „alles Interesse zuletzt praktisch ist“ (IV 252),60 sofern solches Interesse sich auf ein orientierungs-bedürftiges Leben bezieht, das als „durchaus aktive Existenz“ (VI 341) „geführt“ werden muss und so zu einer solchen existenziellen Vergewisserung buchstäblich nötigt. Dies ist freilich nur nach solchen Maßstäben möglich, die auch gemäß jener Bestimmung des „Praktischen“ – „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist“ (II 673) – ein Fundament darbieten, das jenen in der Bestimmung des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ verwurzelten „wesentlichen und höchsten Zwecken“ auch angemessen ist (II 701). Erst dadurch wird der menschliche Lebensvollzug als „Existenz“ bestimmbar,61 dessen Entwurf-Charakter in dem ausdrücklichen Bezug auf das „Ganze [und „Unteilbare“] seines Daseins“ bzw. „seines Zustandes“ ebenso deutlich zum Ausdruck kommt wie in dem antizipierenden Ausgriff auf ein „Glück des [ganzen] Lebens“ (IV 622; II 690), d. h. auf das Gelingen seines ganzen Daseins. Dass auch hier vielfache motivliche Erbschaften sichtbar werden und so auf die von Kant betonte durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ verweisen, soll sich noch in mehrfacher Hinsicht bestätigen (s. dazu u. V., 3.1.). Durchaus unterschiedliche Perspektiven sind hier in der „Kritik der praktischen Vernunft“ schon in programmatischer Hinsicht vereint und stellen dementsprechend auch die Verbindung ihrer beiden Teile her: Ausgehend von dem zunächst maßgebenden Blick auf den Menschen als „Subjekt“ des „praktischen Vernunftvermögens“ erfordert diese „Beschaffenheit, nach der er wirklich ist“, zunächst die Rücksicht darauf, dass sie diejenige 59 Hier wäre wohl an H. Barths Befund anzuknüpfen: „Wir blicken hinüber auf die ‚Kritik der praktischen Vernunft‘, wo uns der transzendentale und dabei existentiell verstandene Subjektbegriff im ‚Prinzip‘ oder in der ‚Idee‘ des ‚reinen‘ Willens entgegentritt. Ein Prinzip, das in derselben Weise des Übergreifens über das konkrete Wollen hinausgreift, wie die ‚Einheit der Apperzeption‘ über den Akt des Apperzipierens! […] Der ‚reine Wille‘ kann nur transzendentale Bedeutung haben: als Vernunft-Wille, der die transzendentale Voraussetzung alles vernünftigen Wollens ist. Dass die Bedeutung des ‚Existentiellen‘ im ‚reinen Willen‘ enthalten ist, dies ist unverkennbar. ‚Wollen‘ ist ein Modus der Aktualisierung der Existenz. ‚Reiner Wille‘, als dessen transzendentale Voraussetzung, als Wollen in transzendentaler Reinheit, kann sich einer existentiellen Bedeutung nicht entziehen“ (H. Barth 1965, 350 f ). Eben in diesem „reinen Willen“ ist sodann auch jenes „Ich will, dass ein Gott sei …“ begründet und qualifiziert so den moralischen Charakter desselben. 60 Gegenüber der „ersten Kritik“ hat sich Kants Argumentation (gemäß dem „Primat der praktischen Vernunft“) doch verschoben, denn dort hieß es bekanntlich noch: „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ (II 677). 61 Im Unterschied zur Bestimmung des „Lebens“ ist der Wille bestimmt als das „Vermögen …, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen“ (IV 59), wobei man „sich selbst“ eben „nach subjektiv bestimmenden Gründen, welche die Naturursachen seiner Handlungen sind“, bestimmt, oder auf „objektive Gründe, die bloß Ideen sind“, und ein vernunftgewirktes „Sollen“ indiziert (III 217 f ).
48 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre eines „endlichen Vernunftwesens, d. i. diejenige eines „Naturwesen [ist], an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) … erkennen können“ (V 558). Ebenso impliziert dies im Blick auf die in seiner „Existenz“ konkrete zweifache „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ den Ausblick darauf, dass ihr gemäß der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“ sich in der Moralität als dem zwar „obersten Gut“ noch nicht erschöpft. Auf dem Fundament der in der „zweiten Kritik“ maßgebend gewordenen „Freiheitslehre“ (in der „Analytik“ der reinen praktischen Vernunft“ und deren Eigenwert) und der darin verankerten Lehre vom „höchsten Gut“ (die in den Erörterungen zur „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ entfaltet wird), stellt sich der Zusammenhang mit der Gottesthematik auf eine Weise dar, die, wie erwähnt, den Rahmen des „Kanons der reinen Vernunft“ sprengen musste. Die neue „Freiheitslehre“ Kants und die in seinem „Orientierungs“-Aufsatz erläuterte „subjekt-perspektivische“ Begründung des „Bedürfnisses der Vernunft“, sich „zu orientieren“, fügen sich dergestalt zu einer bemerkenswerten Begründungsfigur.62 Der kantische Begründungsanspruch innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ scheint demnach seine nähere Entfaltung darin in gestufter Form zu finden: Die „Kritik der reinen Vernunft“ hat, über die bloße Kritik der Gottesbeweise hinaus, die Möglichkeit sowie die recht verstandene Unverzichtbarkeit der Gottesidee erwiesen (obgleich Kant vor damit verbundenen drohenden „Subreptionen“ nachdrücklich gewarnt hat); die „Kritik der praktischen Vernunft“ hat in der „Analytik“ des „Begriffs der Freiheit“ über den „Grundsatz der Sittlichkeit“ zunächst den Nachweis erbracht, dass „reine Vernunft selbst praktisch“ wirklich ist (und somit auch „Freiheit“ als „ratio essendi“ des Bewusstseins des „moralischen Gesetzes“); die „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ war über die kritische Auseinandersetzung mit der „Ethik der Alten“ zunächst hingegen um den Nachweis bemüht, dass in der Idee des „höchsten Guts“ der rechten Begründungsordnung zufolge durchaus „nichts Unmögliches“ und dessen praktische „Beförderung“ gemäß den menschlichen Möglichkeiten sogar „aufgegeben“ ist. Unter der Voraussetzung der Idee der „Freiheit“ und jenem erbrachten Nachweis, dass auch in den daran geknüpften „Ideen“ „nichts Unmögliches ist“, müsse sich, so Kant, im Blick auf das unbedingte „Urteilen-Müssen“ des praktischen Vernunftbedürfnisses die Vorstellung des bloß fiktionalen Charakters dieser Idee des „höchsten (vollendeten) Gutes“ (oder gar das dogmatische Urteil seines „Nichtseins“) geradewegs verbieten, weil andernfalls der (moralisch durchaus nicht belanglose) „moralische Unglaube“ doch die unvermeidliche Folge daraus wäre. Dieser entscheidende Schritt wird in dem späteren Aufweis des sich in dem „Ich will, dass ein Gott sei“ (IV 277; s. dazu u. IV., 3.2.) artikulierenden „Machtspruchs der Vernunft“ vollzogen, der dennoch nicht den Status einer „Einsicht“ für sich beanspruchen darf. Der im „Orientierungs“-Aufsatz (aus dem Herbst 1786) zwar angezeigte Weg wird gleichwohl erst auf dem Fundament der neuen „Freiheitslehre“ beschreitbar. Darin erfährt sich das „Subjekt des moralischen Gesetzes“ in seiner „Beschaffenheit“ als „vernünftiges, 62 Darin findet die notwendige Selbstvergewisserung eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ nach der „Beschaffenheit, mit der es wirklich ist“, ihre Entfaltung, die sodann auch für die „Kritik der praktischen Vernunft“ bestimmend wird; der „Orientierungs“-Aufsatz liefert hierfür „in nuce“ einen – existenz-orientierten – programmatischen Aufriss.
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aber endliches Wesen“ zugleich in unabweislichen Orientierungs-Aufgaben und Widerfahnissen verstrickt, die mit seiner „Existenz“ untrennbar verbunden sind und „unausbleiblich“ auf weitere Fragen führen. Es liegt nahe, den im zweiten Teil der „Kritik der praktischen Vernunft“ unternommenen Aufweis, wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“, auch als die nähere Entfaltung der im Orientierungs-Aufsatz verwendeten Orientierungs-Metapher auf dem Boden der neuen „Freiheitslehre“ zu verstehen. Dabei erweist sich für eine existenzialanthropologisch akzentuierte Lesart der Postulatenlehre wohl dies als besonders beachtenswert: Die in Kants „Orientierungs“-Aufsatz ausgesprochene Mahnung, „Bedürfnis“ nicht „für Einsicht“ zu halten (III 272, Anm.), enthält noch eine andere motivliche Stoßrichtung, die nicht übersehen werden darf. Der hier vorgenommene Rekurs auf einen „subjektiven Grund der Notwendigkeit, … das Dasein eines allerrealsten (höchsten) Wesens zum Grunde zu legen“ (ebd.), und die ausdrückliche Rechtfertigung desselben zielt in dieser Wendung offenbar auf den Aufweis der Unmöglichkeit ab – eben dies erläutert die von Kant hier angebotene Metapher der „räumlich-geographischen Orientierung“ –, in dieser Begründungsthematik von jener (praktischen) Subjekt-Zentrierung zu abstrahieren, d. h. ohne eine solche auskommen zu wollen. Dieser rechtfertigende Verweis auf die „subjektive(n) Gründe, etwas für den Gebrauch der Vernunft … vorauszusetzen“ (ebd.), indiziert so auch den entscheidenden Aspekt seiner moralisch-praktisch orientierten Verankerung der „metaphysica specialis“ und das leitende Interesse an ihren Themen; ein Absehen von dieser notwendigen „Subjekt-Zentrierung“ würde dem Menschen als „vernünftigem Weltwesen“ infolge der damit verbundenen „Existenz-Vergessenheit“ gerade keine vernunft-gemäße Orientierung erlauben. Demgemäß ist es also zu verstehen, wenn Kant betonte: „Sich im Denken überhaupt orientieren heißt also: sich, bei der Unzulänglichkeit [!] der objektiven Prinzipien der Vernunft, im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben bestimmen“ (III 270, Anm.);63 dies ist keinesfalls ein von Kant eröffnetes Einfallstor für einen bloßen „Relativismus“, sondern bringt lediglich zur Geltung, dass die Gottesthematik eben nur „in Bezug“ zur Existenz des „vernünftigen Weltwesens“ angemessen thematisierbar, d. h. „Gott“ als „Gegenstand der Religion“ bestimmbar wird. Es ist nicht zu übersehen, dass diese von Kant bezeichnenderweise in unmittelbarer zeitlicher Nähe, d. h. im „Vorfeld“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ entfalteten Orientierungs-Perspektiven sodann auf dem Fundament der neuen „Freiheitslehre“ in der „zweiten Kritik“ aufgenommen und näher expliziert werden, worin das „Interesse“ und der „Gegenstand der praktischen Vernunft“ ihre nähere Entfaltung finden. Bemerkenswerterweise knüpfte Kant gegen Ende der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“ mit jenem Hinweis auf den „einzigen Begriff der Freiheit“ als das „Unbedingte“ in uns einerseits an die in der Vorrede zur „zweiten Kritik“ geäußerte These von der „ihre und ihrer 63 „Ein gründlicher Beweis gilt nur für das theoretisch dogmatische Urteil [;] ein Argument kann aber auch für praktisch/dogmatisch gelten. Es begründet alsdann einen freien, nicht durch Demonstration abzudringenden, aber nichts desto weniger so fern gesicherten Beifall, dass der so es überlegt, sicher ist, von ihm in praktischer Absicht nicht abtrünnig zu werden. Ein solches findet in Ansehung jener drei Arten des Übersinnlichen statt. In Ansehung dieser Ideen mag er theoretisch betrachtet zweifelnd sein, aber sie als ob sie ihm vorleuchten, kann er nicht entbehren“ (AA XX 350).
50 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Begriffe Realität durch die Tat“ erweisende „reine praktische Vernunft“ an; andererseits bietet der damit geleistete (wie Kant betont: „von unserem eigenen Subjekt“ ausgehende) Aufweis, dass „nur das Praktische dasjenige sein könne, welches uns über die Sinnenwelt hinaushilft, und Erkenntnisse von einer übersinnlichen Ordnung und Verknüpfung verschaffe“ (IV 233), zugleich einen nahtlosen Anknüpfungspunkt für den daran anschließenden (sich „wie von selbst findenden“!) Aufweis, dass jedoch erst „das höchste Gut … der ganze Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft, d. i. eines reinen Willens“ sei (IV 237). Das dort bezüglich der Möglichkeit des „höchsten Gutes“ aufgewiesene „Fürwahrhalten“ als ein „Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Absicht“ nimmt noch einmal die motivlichen Fäden des Orientierungs-Aufsatzes auf, die dort dafür beansprucht werden, um sich, ungeachtet jener „Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft“, dennoch „im unermeßlichen und für uns mit dicker Nacht erfülleten Raume des Übersinnlichen“ (III 270 f ) denkend, handelnd und hoffend zurechtzufinden. Mit Blick auf die im „Weltbegriff der Philosophie“ maßgebende Orientierung an dem, „was jedermann notwendig interessiert“ sowie auf die auch diesbezüglich in der „Geschichte der reinen Vernunft“ durchschrittenen Läuterungs- und Bildungsprozesse sei noch dies angemerkt: Die darin ausgebildete bzw. in gereinigter Gestalt bewusst gewordene spannungsvolle Einheit theoretischer und praktischer (unbedingter) Vernunftansprüche und deren Zusammenhang, der einen „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“ erst erlaubt, legt nicht nur den „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ frei (IV 249); ebenso begründet dies Kants „vernunft-teleologischen“ Aufweis jener „der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (IV 281).64 Demzufolge zielt auch ein ganz besonderer Aspekt der Frage nach dem „Grund der Möglichkeit“ eines kategorischen Imperativs – ebenso wie ein der Idee einer „moralischen Teleologie“ immanentes Motiv – darauf ab, dass schon infolge des „zweckmäßigen Gebrauchs der Vernunft“, d. h. vornehmlich um der menschlichen Würde und der Autonomie der Moral willen, das „Dasein Gottes“ nicht „beweisbar“ sein kann, wenn der – ohne die Moralität dieses „vernünftigen Weltwesens“ gänzlich undenkbare! – Schöpfungssinn derart nicht geradewegs in Frage gestellt sein soll. In solcher Hinsicht impliziert der von Kant geltend gemachte Nachweis der Nichtbeweisbarkeit Gottes ebenso die „vernunft-teleologisch“ orientierte Einsicht, dass diese „Einschränkung“ doch allererst die Vernehmbarkeit des Unbedingtheitsanspruchs des Moralischen – im Sinne des „moralischen Selbstbewusstsein(s)“ (IV 574) der Person als eines „Vernunftwesens“ (IV 550)65 – ermöglicht; andernfalls, so Kants illusionslose Befürch64 Hier scheint sich zu bestätigen, dass dieser Hinweis vermutlich über die schon zitierte Bestimmung des „Vernunftglaubens“ noch hinausgeht, zumal er doch wiederum eher auf die „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ zielt (s. u. IV., 3.). 65 Demnach sei der Mensch auch ein „Vernunftwesen“ (eben „nicht bloß vernünftiges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte), „welches kein Sinn erreicht und das sich nur in moralisch-praktischen Verhältnissen, wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich durch den Einfluss der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht, erkennen lässt“ (IV 550). Deshalb ist dieses so verstandene bloß „vernünftige Wesen“ auch noch „gewissenlos“, sofern Kant das Gewissen bestimmt als das „Bewusstsein eines inneren
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tung, würden doch „die mehresten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen“ (IV 282).66 Insofern hat er die Abweisung überschwänglicher theoretischer Vernunftansprüche (aber auch des moralischen „Eigendünkels“) ausdrücklich als eine Implikation bzw. Voraussetzung der Idee einer „moralischen Teleologie“ geltend gemacht. Was auf den ersten Blick als „paradox“ erscheinen mag, erweist sich näher betrachtet lediglich als „moralisch konsequent“: Wenn die Weltstellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ an die „Moralität“ gebunden ist (die nach Kant wiederum seine „Ebenbildlichkeit“ begründet), dann ist dafür, jener kantischen Argumentation zufolge, die Nicht-Beweisbarkeit Gottes geradezu die unentbehrliche – moralische – Bedingung. Dass ein „vernünftiges Weltwesen“ allein in seiner moralischen Lebensführung Gerichtshofes im Menschen (vor welchem sich seine Gedanken einander anklagen oder entschuldigen)“ (IV 573). „Vernunft“ als „Vermögen der Zwecke“ kann nur als „reine Vernunft“ „für sich selbst praktisch sein“, andernfalls wäre sie von anderen Maßstäben bzw. Triebfedern abhängig. Jene offensichtlich in methodischer Absicht vorgenommene Unterscheidung („Vernunftwesen“ – „bloß vernünftiges Wesen“) zielt offenbar auf die beidseitige Unableitbarkeit der Verbindlichkeit von theoretischen und praktischen Vernunftansprüchen ab. Kant räumt mit dieser (terminologisch allerdings keineswegs konsequent beibehaltenen) Unterscheidung zwischen bloß „vernünftigem Wesen“ und „Vernunftwesen“ offenbar durchaus die Möglichkeit ein, dass Ersteres der Orientierung an einlösbaren Geltungsansprüchen und des entsprechenden Wahrheitsbegriffs fähig wäre, ohne indes derart eine „moralische Lebensorientierung“ leisten zu können. Ein solches „Wesen“ wäre zwar aller möglichen „hypothetischen Imperative“ fähig und auch durch diesbezügliche Lernfähigkeit ausgezeichnet. Analog dazu unterscheidet Kant auch „die Tierheit des Menschen als eines lebenden“ von der „Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen“, sowie „seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen, und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens“ (IV 675). – Zu den von Kant unterschiedenen „Anlagen“ und dem „Begriff der Menschheit“ s. Firla (1981, 56 ff ). 66 Offensichtlich mit viel Einfühlungsvermögen in den seelischen Haushalt eines – gerne Vernunft und Klugheit vermengenden – „endlichen Vernunftwesens“, formuliert Kants Refl. 5495 (AA XVIII, 198 f ) diesen „Zweckmäßigkeits“-Gedanken auf sehr einfache Weise, gleichsam in einer religionspädagogischen Akzentuierung: „Die Menschen möchten wohl gern eine theoretische Gewissheit vom Dasein Gottes haben, unabhängig von allen Gründen des Verhaltens, damit es ihnen frei bliebe: sich nach den Erkenntnissen zu richten, entweder den sittlichen oder den Gesetzen der Neigung gemäß zu verfahren, nachdem sie erkenneten, dass ein Gott sei oder nicht; aber die sittlichen Gesetze sind von der Art, dass bei ihnen keine Freiheit zu wählen ist; und es ist keine sittliche Reinigkeit möglich, wenn vor denen Entschließungen derselben Erkenntnisse vorhergehen, welche sie unnötig machen und alles auf Klugheit reduzieren. Daher ist uns nur so viel Licht gegeben, als mit der Ursprünglichkeit der sittlichen Bewegungsgründe und ihrer treibenden Gewalt zusammen bestehen kann. Wenn wir in Ansehung deren gleichgültig wären, so würden die Beweisgründe (logische) uns nicht allein überzeugen. Der freie Glaube an Gott ist ein Verdienst, die apodiktische Gewissheit und Zwangsglaube aus Furcht keines.“ – In diese Richtung weist auch die Bemerkung Kants: „Wenn die Tugenden der Menschen immer auf der Stelle mit einem gleichen Maße von Glückseligkeit belohnt würden, so würde die Moralität sich in eine Regel der Klugheit verwandeln“ (AA XXVIII, 1290). Unermüdlich hat Kant darauf hingewiesen, dass die Nichtbeweisbarkeit des Daseins Gottes für den „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ eines „vernünftigen [moralischen] Weltwesens“ unumgänglich, ja geradezu „heilsam“ ist: „Dieser Glaube ist daher auch nicht Wissen, und, Heil uns! Dass er es nicht ist denn eben darin erscheinet die göttliche Weisheit, dass wir nicht wissen, sondern glauben sollten, dass ein Gott sei. Denn gesetzt, wir könnten durch die Erfahrung … oder auf diese oder jene Art zu einem Wissen vom Dasein Gottes gelangen …, so würde alle Moralität wegfallen“, „der Mensch würde aus sinnlichen Antrieben tugendhaft sein“ (AA XVIII, 1083), was freilich auf einen Widerspruch in sich bzw. auf die „Euthanasie der Moral“ hinausliefe. Die „Autonomie des Moralischen“ als das „Heiligste auf Erden“ impliziere also – unter den Vorzeichen der moralischen Unvollkommenheit des Menschen – geradezu den vernunft-notwendigen Grund der Nichtbeweisbarkeit Gottes – und somit eine unumgängliche Bedingung menschlicher Würde; ein (freilich auch missbräuchlicher) Gedanke mit weitreichenden – nicht zuletzt auch die Theodizee-Frage berührenden – Konsequenzen.
52 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Gott die „Ehre“ zu erweisen vermag und diese „Ehre Gottes“ als „Endzweck der Schöpfung“ aus den genannten Gründen an die Nicht-Beweisbarkeit des Daseins Gottes gebunden ist, erwiese sich nunmehr als ein besonderer „teleologischer Aspekt“ und wäre so geradezu als eine Pointe der kantischen Argumentation anzusehen; seine Kritik an den einschlägigen traditionellen Konzeptionen erhielte so noch einen besonderen Akzent. Die deshalb als geradezu „moralisch zweckmäßig“ anzusehende Nichterkennbarkeit des Daseins Gottes wäre demzufolge also selbst in der „unerforschlichen Weisheit, durch die wir existieren“ (IV 282 f ), allein zureichend begründet – „da wir, mit aller Anstrengung unserer Vernunft, nur eine sehr dunkle und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer [!] uns sein Dasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken, oder klar beweisen lässt“. Darauf zielt offenkundig auch die späte Bemerkung Kants, die wohl im Sinne einer „moralischen Teleologie“ aufgenommen werden darf: „Wir wissen von der Zukunft nichts, und sollen auch nicht nach mehrerem forschen, als was mit den Triebfedern der Sittlichkeit und dem Zwecke derselben in vernunftmäßiger Verbindung steht. Dahin gehört auch der Glaube: dass es keine gute Handlung gebe, die nicht auch in der künftigen Welt für den, der sie ausübt, ihre gute Folge haben werde …“ (IV 831, Anm.). Auch diesbezüglich bleibt jene „Orientierungs“-Thematik der maßgebende Hintergrund und wird auch weiterhin in ihrer subjekt-zentrierten Verankerung noch näher zu entfalten sein. Hier sollte vorläufig nur darauf hingewiesen werden, dass die enge Verbindung der neuen „Freiheitslehre“ mit diesen aufschlussreichen Orientierungs-Motiven des „Orientierungs“-Aufsatzes sowie die daraus gewonnene Begründung und Differenzierung des „Vernunftbedürfnisses“ solcherart auch den „Leitfaden“ für den Zusammenhang der „Analytik“ und der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ darstellt. Letztere mündet bezeichnenderweise in die Rechtfertigung des Vernunftbedürfnisses als eines „Bedürfnis(es) in schlechterdings notwendiger Absicht“ (IV 276 ff ) und in den abschließenden orientierungs-begründenden Aufweis der „der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (IV 281 ff ). Ist im Orientierungs-Aufsatz die subjektzentrierte „Existenzialisierung“ der in der „moralischen Teleologie“ vorgenommenen metaphysischen Verknüpfung der „Ideen des Übersinnlichen“ unübersehbar vorbereitet, so findet sie in Kants berühmtem „Beschluss“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ wiederum einen – bis ins Terminologische zu verfolgenden – sehr bemerkenswerten sachlichen „Beschluss“. 1.2.1. Die gegenläufige Erfahrung des „bestirnten Himmels über mir“ und des „moralischen Gesetzes in mir“ – unmittelbar verknüpft „mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ Im Folgenden soll sich zeigen: Die für diesen Zusammenhang maßgeblichen Motive Kants lassen die Absicht erkennen, die als „copula von Endlichem und Unendlichem“ auslegbare „Existenz“ des Menschen in differenzierter Weise als eine praktisch sinnorientierte und hoffende auszuweisen, die als solche auf das, was als „praktischer Endzweck“ letztendlich und unbedingt „sein“ bzw. gelten soll, ausgerichtet ist. Nicht zuletzt
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ist es die so eindringliche Charakterisierung dieser Weltstellung des Menschen (in diesem „Beschluss“ seiner „zweiten Kritik“), die in solche Richtung weist: Es ist die Erfahrung des „moralischen Gesetzes in mir“, die „von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit“, anfängt und … mich … in einer Welt“ darstellt, „die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande [es müsste hier wohl „Vernunft“ heißen!] spürbar ist“ (IV 300).67 Der daran geknüpfte Hinweis, dass erst dies den Menschen als „moralische Persönlichkeit“ seines „eigentlichen Selbsts“ innewerden lässt, ist so notwendig mit einer Besinnung auf den besonderen Status menschlicher „Existenz“ verbunden: Genauer besehen verhält sich der Mensch solcherart selbst noch einmal zu diesem Verhältnis,68 das durch die „im Bewusstsein (s)einer Existenz“ (IV 300) verankerte unauflösliche Einheit von „empirischer“ und „intelligibler Existenz“ (vgl. IV 224) begründet ist; deshalb konstituiert erst ein solches differenziertes Selbst-Verhältnis menschliche Existenz und vermag auch nur so das seine Weltstellung umgreifende Selbstverständnis zu fundieren.69 Demgemäß ist die radikale Erfahrung des Menschen – als einer „unbedeutenden Kleinigkeit“, wie es in seiner Analyse des „Dynamisch-Erhabenen“ in der Natur auch heißt (V 349)70 – mit der innegewordenen „wahren Unendlichkeit“ unmittelbar und untrenn67 Auch hier stellt sich die Frage: Ist es die Diskrepanz zwischen dem „gewussten“ Anspruch des „moralischen Gesetzes“ und der „aber nur dem Verstande“ [besser wohl: der Vernunft] bloß „spürbaren“ „wahre(n) Unendlichkeit“ (IV 300), die auch jenem bemerkenswerten kantischen Rekurs auf die Bestimmung der „fides“ (V 603, Anm.) zugrunde liegt? – Es wäre eine reizvolle Aufgabe, die unter den Vorzeichen des „Primats des Praktischen“ stehende Bestimmung von „fides“ mit anderen philosophischen Konzeptionen bzw. Bestimmungen der „pistis“ zu vergleichen. 68 Diese von Kierkegaards einschlägigen „Selbst“-Bestimmungen inspirierte Lesart erfolgt vor allem im Blick auf dessen Bestimmung der „Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit“ in der „Krankheit zum Tode“; Kierkegaard war sich offenbar noch der anthropologischen Relevanz dieses existenz-konstituierenden Verhältnisses von „sichtbarem“ und „unsichtbarem“ („unendlichem“) „Selbst“ für die Beantwortung der Frage „Was ist der Mensch?“ bewusst, zumal solches „Selbst“ der menschlichen Existenz als „Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“, sich als „durch ein anderes gesetzt“ weiß (Kierkegaard 1991, 13) – d. h. als ein solches, das „doch sich selbst nicht gleichsam schafft“ (IV 87). Dabei ist nicht zu übersehen, dass Kants Bestimmung des „eigentlichen Selbst“ zunächst ja auch als ein bloßes „Moment der Synthese“ anzusehen ist. Die Bestimmung des „Sich-zu-sich-ins-Verhältnis-Setzen“ gehört nach Kant auch elementar zu seiner „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ – ebenso dies, dass er in diesem „Sich-zu-sich-ins-Verhältnis-setzen“Müssen sich selbst uneinholbar vorausgesetzt bleibt, was für dieses Verhältnis freilich konstitutive Bedeutung gewinnt. Diese naheliegenden Bezüge zu den Eingangspartien aus Kierkegaards Schrift „Krankheit zum Tode“ sind hier nicht näher zu verfolgen. – Dass man Kant „hinsichtlich der Freiheit als ursprünglicher Synthesis und der ethischen Fragestellung ‚existenzphilosophisch‘ interpretieren“ könne, hat auch Lehmann (1969, 145) betont. Schon H. Barth merkte mit Blick auf Kant an: „Allein bereits Kants Philosophie der praktischen Vernunft ist in ihren Grundpositionen Philosophie der Existenz“ (H. Barth 1965, 48). In solche Richtung weist wohl auch schon Kants Rekurs auf die im „moralischen Gesetz“ verspürte „Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz“ (IV 211). Auf den „existenziellen“ Hintergrund der einschlägigen kantischen Begründungsfiguren verweist wiederholt die Kant-Interpretation Gerhardts (2002, bes. 194 ff; 284 ff ), „auch wenn Kant über diesen Begriff [„existenziell“] noch nicht verfügt“ (ebd. 285). – Zu „exis tenzphilosophischen Zügen“ bei Kant s. Wenzel 1992, 61; 181; 221). 69 Auch in diesem Sinne bestätigt sich: „Der metaphysische Primat der göttlichen Existenz geht bei Kant in den nicht nur praktischen, sondern auch theoretischen Primat der Existenz des Menschen über: Wir haben in allem, was immer wir über die Welt und uns selbst ausmachen können, von uns selber auszugehen“ (Gerhardt 2009, 282). 70 Einiges spricht auch dafür, Kants Aufforderung, dasjenige, was nach den Maßstäben der äußeren furcht erregenden Natur „groß“ ist, „als klein abzuwürdigen und so das schlechthin Große nur in seiner (des
54 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre bar in „dem Bewusstsein (s)einer Existenz“ verknüpft und wirft so auch auf jene späte Kennzeichnung der Weltstellung des Menschen als „Copula von Endlichem und Unendlichem“ ein ganz besonderes Licht.71 Darin ist die dieses „eigentliche Selbst“ auszeichnende Gewissheit des – die Realisierbarkeit des moralisch Gesollten zugleich voraussetzenden – „Glaubens an die Tugend“ (s. u. IV., 3.) mit der abgründigen Erfahrung der eigenen Nichtigkeit und mit dem reflexiven Verhältnis zur Einheit beider Erfahrungen verbunden. In solcher spannungsvollen Einheit verwirklicht sich menschliche Existenz auf eine Weise, die in diesem Bezug auf den „bestirnten Himmel über mir“ und in dem Anspruch des „moralischen Gesetzes in mir“ (IV 300)72 in besonders eindringlicher Weise zum Ausdruck kommt.73 Dass demzufolge „ich“ – „In-dividuum“ – beide „unmittelSubjekts) eigenen Bestimmung zu setzen“ (V 359), im Blick auf die doppelte Erfahrung der kosmischen Nichtigkeit und der „wahren Unendlichkeit“ aus dem Beschluss der zweiten Kritik zu lesen. Denn auch hier klingt zweifellos schon das Motiv an: „… das Gefühl des Erhabenen stellt sich ein, wenn es gelingt, dem Eindruck der existenziellen Bedrohung gelassen zu widerstehen. Das Übermächtige und Schreckliche liegt nicht einfach in den ungebändigten Kräften der Natur. Es liegt wesentlich in uns selbst, weil wir selbst es erst dramatisch steigern und ins Ungeheure überhöhen … Wir geben uns selbst ein Exempel unserer moralischen Größe, die sich vor den selbsterzeugten Schrecken unserer eigenen Verfassung bewährt“ (Gerhardt 2002, 268 f ). In diesem Sinne heißt es bei Kant (V 353): „Also ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch der (sofern sie auf uns einfließt) außer uns, überlegen zu sein uns bewusst werden können“. – Mit Recht betont auch Hutter (2003, 182, Anm. 147): „Die Erfahrung des Erhabenen ist im Grunde keine Naturerfahrung, sondern eine Selbsterfahrung des zugleich lebenden und vernünftigen Menschen, in der er sich als Person entdeckt. Deshalb ist der ‚Übergang‘ zwischen Natur und Freiheit in der Erfahrung des Erhabenen eher ein ‚Übersprung‘“. – Indes, als ein bloßes „Vehikel der Selbstbewunderung“ (Schmitz 1989, 368) wäre diese die „wahre Bestimmung“ des Menschen manifestierende Erfahrung des „Erhabenen“ wohl missverstanden. Auch mit Rücksicht auf diesen angedeuteten „Existenz-Bezug“ und Kants (bekanntlich von E. Burke beeinflussten) Bestimmung des „Dynamisch-Erhabenen“ ist es wohl nicht uninteressant, dass seine Bestimmung der fides als „Zutrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ (V 603 f; s. u. IV., 3.1.) auf die „Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers“ (IV 652) gerichtet ist. 71 Insofern steht dieses Verständnis des Menschen als „Copula“ auch der von Konhardt bevorzugten Kennzeichnung des Menschen als „Zwischenwesen“ nahe: „Diese Zwischenstellung … ist die Position des Menschen im Spannungsverhältnis von Endlichkeit und Vernunftanspruch. Der Begriff des ‚Spannungsverhältnisses‘ indiziert eine in der Struktur des endlichen Vernunftsubjekts als solchen verankerte, nicht aufhebbare Ambivalenz“ (Konhardt 2004, 175), die eben menschliche Existenz konstituiert. – Der Sache nach scheint dies die ebenfalls auf die Ambivalenz der menschlichen Weltstellung abzielende Bemerkung Pascals noch zu radikalisieren, die den Menschen als jenes „zerbrechlichste Schilfrohr in der Welt“ charakterisiert, aber eben als „ein Schilfrohr, das denkt“; und genau darin sei die „ganze Würde des Menschen“ begründet (B. Pascal, Gedanken Nr. 128). 72 Es spricht in der Sache wohl vieles dafür, die von Kant betonte „Verknüpfung“ dieser gegenläufigen Erfahrungen mit Kants Aufweis der allein „in unserem Gemüte enthalten(en)“ „Erhabenheit“ (V 353) zu verbinden. Dann ist freilich das solcherart konstituierte „Bewusstsein meiner Existenz“ in engstem Zusammenhang damit zu sehen, dass ihm zufolge das auf das „Erhabene“ bezogene „ästhetische Urteil“ einem „Geistesgefühl“ „entspringt“ (V 267). – Brandt weist darauf hin, dass dieses „wohl bekannteste Diktum Kants … wortwörtlich vom römischen Stoiker Seneca“ stammt (Brandt 2007a, 52). – U. Santozki (2006, 225 ff ) hat gezeigt, dass in diesem berühmten Diktum Kants „in freier Wiedergabe genauerhin zwei Äußerungen Senecas zusammenfließen“. Vgl. Seneca, epist. 64,6: „hoc idem virtus tibi ipsa praestabit, ut illam admireris et tarnen speres. mihi certe multum auferre temporis solet contemplatio ipsa sapientiae: non aliter illam intueor obstupefactus quam ipsum interim mundum, quem saepe tamquam spectator novus video. veneror itaque inventa sapientiae inventoresque“. 73 An diesen so eindrucksvollen „Beschluss“ seiner „zweiten Kritik“ erinnert zwar eine berühmte Stelle in Jacobis Spinoza-Büchlein, deren Begründungsintention aber doch in eine andere Richtung weist: „Ich
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bar [!] mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ verbinde, verdeutlicht noch einmal, dass diese hier bestimmende existenzialanthropologische Perspektive in dem Bewusstsein des „Faktums“ des „moralischen Gesetzes“ (das jenes „eigentliche Selbst“ konstituiert) verwurzelt ist;74 dafür ist die (als „ratio essendi“ aufweisbare) „Idee der Freiheit“ vorausgesetzt, die als Gewissheit des „Übersinnlichen in uns“ sogar als ein „scibile“ gelten soll (V 599), das als solches auch jenes existenz-verankerte postulatorische „ich will, dass ein Gott sei … und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen“ (IV 278) erst fundiert und dem insofern wohl nicht selbst einfachhin der Status einer „Glaubenssache“ (als „Postulat“) zugeschrieben werden kann. Es wird sich noch zeigen, dass die eigentümliche Vergewisserung der allein im moralischen Gesetz offenbaren Wirklichkeit der „positiven“ Freiheit in jenem postulatorisch legitimierten „Ich will, dass ein Gott sei …“, das sich dergestalt erst als „Gott-setzend“ erweist, eine genaue Entsprechung hat. Anknüpfend an Kants Aufweis jenes „zweifachen Vernunftbedürfnisses“ (in ihrem „theoretischen“ und „ihrem praktischen Gebrauch“: III 274) bzw. eines gegenläufigen „Interesses der Vernunft“ wäre diese Wendung über „den bestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ nun auch dahingehend zu akzentuieren: Jenes zugrunde liegende Bewusstsein „von dem Platze …, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und … die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer“ (IV 300), wäre – erst recht in Erinnerung an Kants wiederholt erwähnte Unterscheidung zwischen „Vernunftwesen“ und dem „vernünftigen Wesen“ – auch im Sinne einer methodisch unverzichtbaren regulativheuristischen Forschungsperspektive zu explizieren. Derart manifestiert sich in jenem Bezug auf den „bestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ eine nehme den ganzen Menschen, ohne ihn zu teilen, und finde, dass sein Bewusstsein aus zwei ursprünglichen Vorstellungen, der Vorstellung des Bedingten und des Unbedingten zusammengesetzt ist. Beide sind unzertrennlich mit einander verknüpft, doch so, dass die Vorstellung des Bedingten die Vorstellung des Unbedingten voraussetzt, und in dieser nur gegeben werden kann. Wir brauchen also das Unbedingte nicht erst zu suchen, sondern haben von seinem Dasein dieselbige, ja eine noch größere Gewissheit, als wir von unserem eigenen bedingten Dasein haben“ (Jacobi 1789, 423 f ). Es ist bezeichnend, dass Kants Unterscheidung zwischen dem „relativen“ und „unbedingten“ Vernunftbedürfnis sich zunächst ja in seinem an Jacobi gerichteten „Orientierungs“-Aufsatz (III 267 ff ) findet. 74 Es ist nicht zu übersehen, dass diese im Rekurs auf den „bestirnten Himmel über mir“ und auf „das moralische Gesetz in mir“ „gegenläufig“ begründete Einheit des „unsichtbaren Selbst“ und des „tierischen Geschöpfs“ in besonderer Akzentuierung seine frühere Lehre vom „zweifachen Bewusstsein seiner selbst“ – das eben nicht als „doppelte Persönlichkeit“ missverstanden werden darf! – aufnimmt. – Der Rekurs auf das in jener gegenläufigen Einheit begründete „Bewusstsein meiner Existenz“ legt es aber auch nahe, dem Einwand gegen eine angeblich „abstrakte Entgegensetzung von Idealität und Realität im Sinne des Kantischen Zwiespaltes von Vernunft und Sinnlichkeit“ kritisch zu begegnen; ist es doch jene kantische Wendung selbst, die eine „substantielle Trennung“ unmöglich macht und sich offenbar eher an einer „Differenz von Momenten im Zusammenhang existierenden Selbstseins“ (Fahrenbach 1979, 230 f ) orientiert. Für die von Fahrenbach im Blick auf Kierkegaard favorisierte Version einer „dialektischen Einheit des existierenden Geistes“, die den „fixierten Zwiespalt zwischen Natur und Freiheit“ überwindet, finden sich bei Kant jedenfalls unübersehbare Anknüpfungspunkte; eine von Ricoeur (1979, 587) vermutete „tiefergehende Verwandtschaft zwischen Kierkegaard und Kant“ ist hier nicht zu verfolgen.
56 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre bedenkenswerte Verschränkung von Perspektiven bzw. „Standpunkten“,75 die so in eigentümlicher Weise die Weltstellung des Menschen gewissermaßen in der untrennbaren Einheit der „Dritte“- und „Erste-Person-Perspektive“ indiziert, beide „unmittelbar mit dem Bewusstsein (s)einer Existenz“ verknüpft“ (IV 300) und im Verhältnis zu dieser „unmittelbaren Verknüpfung“ sein besonderes „Selbstverhältnis“ fundiert: Sich selbst als „Erscheinung“ in der „Welt“ (als des „Inbegriffs der Erscheinungen“) – sowohl als Individuum und „Gattungswesen“ – hinsichtlich seines „Dass“ und „Wie“ in mannigfacher Weise „relativieren“ zu müssen, d. h. sich, einem „theoretischen Vernunftbedürfnis“ zufolge, in prinzipiell unabschließlicher Weise als „kontingent“ begreifen zu wollen, ist das eine; gegenläufig dazu sich, einem anderen Vernunftbedürfnis (also dem im „praktischen Vernunftgebrauch“ verankerten „Urteilen-Müssen“) gemäß, gleichermaßen im Anspruch der Idee der „moralischen Welt“ wahrnehmen zu müssen, um sich selbst verständlich zu bleiben und handelnd wie auch hoffend Orientierung finden zu können, dies ist indes das nicht nivellierbare andere. Solche Spannung in „bewusster Existenz“ und Lebensführung auszuhalten und „unmittelbar mit dem Bewusstsein seiner Existenz“ zu verknüpfen – dies wollte Kant dem Menschen als „vernünftigem, aber endlichem Wesen“ aber auch zumuten. In jener „Gegenläufigkeit“ und ihrer Verknüpfung „unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ ist „Religion“ nach Kant verankert; die systematische Explikation dieses „Existenz“-Verhältnisses soll aufweisen, dass und wie „Moral also … unumgänglich zur Religion“ führt (IV 652; 655 Anm.) – diese schon in der Vorrede zur „Religionsschrift“ wiederholt geäußerte These knüpft unmittelbar an jenen „Beschluss“ der „zweiten Kritik“ an. Es ist die Weltstellung des Menschen, dessen „Existenz“ diese gegenläufigen Perspektiven geradezu in sich verschränkt und eben daraus zu einer umfassenden Selbstverständigung nötigt. Darin sind die in äußerster objektivierender Selbstdistanzierung gewonnene Selbstrelativierung und die in äußerster Selbst-Zentrierung innegewordene Selbstvergewisserung unauflöslich vereint, d. h. eben: „unmittelbar mit dem Bewusstsein (s)einer Existenz“ verknüpft (IV 300). Beide gegenläufige „Welt“-Perspektiven sind so auch in jener Bestimmung des Menschen als „Copula von Endlichem und Unendlichem“ (bzw. der Charakterisierung des Menschen als „Mittelglied zweier Welten“) in eigentümlicher Weise miteinander verknüpft und verweisen so auf jene zugemutete „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ – eine durchaus „spannungsvolle“ und d. h. wohl auch: in „konfligierenden Tendenzen“76. Es ist wohl naheliegend, auch vor diesem kantischen 75 Dies findet in Kants Unterscheidung zwischen dem „Verstandes“- und dem „Vernunftbedürfnis“ bzw. in seiner schon wiederholt angeführten (terminologisch aber eher irreführenden) Abgrenzung des „Vernunftwesens“ vom „bloß vernünftigem Wesen“ (dessen „theoretisches Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte“: IV 550) eine bemerkenswerte Entsprechung. Denn auch darin artikuliert sich das – gleichwohl in der „Einheit der Vernunft“ vereinte – „gegenläufige“ Interesse, sich selbst einerseits als Teil der Natur (als „Naturwesen“) durchgängig zu erklären und sich gleichwohl andererseits als „vernünftiges Weltwesen“ in unabweislichen – und nicht naturalistisch zu entsorgenden – Vernunftansprüchen und „im Ganzen seiner Existenz“ selbst verständlich zu bleiben, d. h. sich nicht selbst – sei es in Berufung auf uneingeschränkte Wahrheitssuche und intellektuellen Redlichkeit – „wegzuerklären“: Wo bliebe dann das „wegerklärende“ Subjekt selbst? 76 Darauf hat D. Henrich in Bezugnahme auf einschlägige Motive Hölderlins wiederholt hingewiesen.
1. Die fundamentalphilosophische Verankerung der Postulatenlehre
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Hintergrund die näherhin auf „Platonisches“ verweisenden Sätze aus Hölderlins Vorrede zum „Hyperion“ zu lesen: „Wir sind zerfallen mit der Natur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, widerstreitet sich jetzt, und Herrschaft und Knechtschaft wechseln auf beiden Seiten. Oft ist uns, als wäre die Welt Alles und wir Nichts, oft aber auch als wären wir Alles und die Welt Nichts. Auch Hyperion teilte sich unter diese beiden Extreme“77 – wofür freilich deren Verknüpfung „unmittelbar mit dem Bewusstsein [s] einer Existenz“ vorausgesetzt ist. Es ist jedenfalls auch ein in religionsphilosophischer Hinsicht bedenkenswerter Sachverhalt, dass es die durch diese Synthese von „Endlichkeit“ und „wahrer Unendlichkeit“ (und ihrem reflexiven Verhältnis dazu) konstituierte „Existenz“ des „vernünftigen Weltwesens“ ist, welche (als „Geist“) nach Kant sodann selbst die „verbindende Mitte“ von „Welt und Gott“ darstellt (s. u. VI., Anm. 124).
1.3. Der Mensch als „vernünftiges, aber endliches Wesen“: Eine existenzialanthropologische Verankerung der „Geschöpflichkeit“ im engeren Rahmen der Postulatenlehre 1.3.1. Die grenzbegriffliche Idee „vollendeter Individuierung“ in religionsphilosophischem Kontext Nun erlaubt jene Orientierung am „Glück des ganzen Lebens“ (II 691; IV 622) im Blick auf das (ebenfalls von Leibniz aufzunehmende) Motiv der „vollendeten Individualität“ noch eine besondere fundamentalphilosophisch verankerte Nuancierung, die auch eine diesbezügliche Anknüpfung an Kants regulative Prinzipien der „Totalität“ und „Einheit“ nahelegt. Jedenfalls ist die Verbindung dieser „regulativen Idee“ mit jenem Leibniz’schen Motiv und dem „Ideal“ ihrer Erkenntnis bei Kant selbst noch rekonstruierbar und vermag so eine auch religionsphilosophisch höchst bedeutsame Gedankenfigur zu begründen, die als eine besondere, an der Idee der „Individualität“ (und ihrer „durchgängigen Bestimmung“) orientierte Version jener Idee einer „moralischen Welt“ gelesen werden darf. Eine Folge daraus wäre dies: Die dem praktischen „Weltbegriff“ gemäße umgreifende Vernunftidee der „moralischen Welt“ hätte so in der „Glückseligkeit“ als der Idee des „Zustand(s) eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Exi77 Hölderlin 1992, I 558. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass dieses Diktum sich einer Reminiszenz an den berühmten Beschluss der „zweiten Kritik“ verdankt und dies, ganz seinen frühen philosophischen Intentionen gemäß, mit einem Blick auf Platon verknüpft. (Für diesen Hinweis auf Hölderlin danke ich Klaus Müller.) – Es liest sich wie ein Kommentar zu jenem berühmten „Beschluss“ der „zweiten Kritik“, wenn Henrich (wohl gleichermaßen mit Blick auf Kant und Hölderlin) anmerkt: „Kein anderer als der exzentrische Ort ist als der dem bewussten Leben gemäße zu begreifen. Und nur das kosmisch Entbehrliche ist als solches wesentlich“ (Henrich 1982c, 40). Auch in diesem Sinne ist sodann die Aufforderung Kants zu nehmen, dass die Philosophie „nicht bloß zu zeigen“ hat, dass Natur und Freiheit in der Wirklichkeit des Menschen nicht nur „gar wohl beisammen bestehen können, sondern auch, als notwendig vereinigt, in demselben Subjekt gedacht werden müssen“ (IV 93). Gleichwohl bedarf diese angezeigte „Vereinigung“ einer fundamentalphilosophischen Vertiefung, die erst in der „dritten Kritik“ ins Blickfeld rücken kann, dann aber auch Konsequenzen für die genauere Bestimmung des „höchsten Gutes“ hat.
58 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre stenz [!], alles nach Wunsch und Willen geht“ (IV 255),78 und näherhin im Blick auf die ganze „moralische Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811) eine existenzialanthropologische Umwendung gefunden, die in der grenzbegrifflichen Idee einer „vollständigen Individuierung“ dieses „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ eine letzte Konkretisierung erhält und in dem von Kant ausgelegten „Gerichts“-Motiv sodann noch eine „symbolische Darstellung“ erlaubt (s. dazu u. IV., 1.3.1.), das freilich ausschließlich auf den „moralischen Lauf der Dinge in der Welt“ (VI 176) abzielt und so wie alle anderen „eschatologischen“ Bezüge bei Kant ausschließlich in dieser existenzialanthropologischen Perspektive thematisch werden.79 Es darf als ein besonderer Aspekt jener „moralischen Teleologie“ verstanden werden, dass die durch die Differenzierung der Idee des „höchsten Gutes“ legitimierte Rücksicht auf das „gelingende Ganze der Existenz“ dieses „vernünftigen Weltwesens“ (gemäß jenem darin auf dem Spiel stehenden „Bewandtnis“-Ganzen) nunmehr auch einen „Vorgriff auf ein Erfülltsein“80 ins Blickfeld rückt. Jenes „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ impliziert somit, dass das zeitliche Ende der individuellen „moralischen Lebensgeschichte“ in seiner immanenten Prozessualität jedoch nicht deren vollendete Individualität bedeute, für die vielmehr vorrangig das „moralische Ideal“ der „Heiligkeit“ maßgebend bleibt, zumal Kant in seiner späten Schrift über „Das Ende aller Dinge“ betont, „dass der Vernunft, in (praktischer) Absicht auf den Endzweck, auf dem Wege beständiger Veränderungen nie Genüge getan werden kann“ (VI 183).81 Darin wäre 78 Auch in dieser kantischen Bestimmung der Idee der „Glückseligkeit“ ist eine indirekte Anlehnung an Leibniz zu vermuten: „Denn die Glückseligkeit ist für Personen das, was die Vollkommenheit für die Wesen im allgemeinen ist. Und wenn das erste Existenzprinzip der physischen Welt der Entschluss ist, ihr die größte Vollkommenheit zu geben, die sie erlangen kann, so muss es das erste Ziel der moralischen Welt oder des Gottesstaates, der der edelste Teil der Welt ist, darin die meiste Glückseligkeit, die ihr möglich sein wird, auszubreiten“ (Leibniz, Metaphysische Abhandlung, Nr. 36). Kants Bezug auf die Idee des „Reichs der Zwecke“ bzw. die Idee der „moralischen Welt“ ist offensichtlich von diesen Motiven inspiriert. 79 In der so verstandenen Konkretisierung der kantischen Idee des „höchsten Gutes“ (als jenes „Zustandes“) wäre der in der vorigen Anm. zitierte Leibniz’sche Hinweis, dass „die Glückseligkeit für Personen das“ sei, „was die Vollkommenheit für die Wesen im allgemeinen ist“, mit seinem Motiv der „vollständigen Individuation“ in denkwürdiger Weise vereint. – Henrichs gelegentlicher Verweis auf eine Freiheit als „Zustand, in dem alle Bedrängnis aufgehoben ist“ (Henrich 2000, 77), darf wohl als eine behutsame Anlehnung an Kants Kennzeichnung der Idee der „Glückseligkeit“ gelesen werden. 80 Hier ist an Angehrns Hinweis auf den dem Erinnern innewohnenden „Vorgriff auf Erfüllung“ Anschluss zu finden: „Wenn als Grundlage des Erinnerungsaktes das Interesse am Bewahren, als sein irreduzibles Motiv das der Rettung der Vergangenheit gelten kann, so kommt mit jenem Vorgriff ein Besonderes hinzu. Es ist ein Vorgriff nicht nur auf ein späteres Bewahrtsein, sondern der Ausgriff auf ein Erfülltsein, in dem das Einzelne in seiner Integrität zu seinem Recht kommt“ (Angehrn 1985, 228). Es geht um die Idee jener „restitutio ad integrum“ als „Zielvorstellungen der Individualität“ (ebd. 321), ohne die Letztere bzw. „vollständig individuierte Wesen“ – ihre „haecceitas“ im „Ganzen ihres Daseins“ also – nicht zu denken wären: „Jeder ist nur er selbst, und keiner ein anderer.“ Jacobis Motiv der „Individualität“ hätte in diesem kantischen Kontext eine besondere Bedeutung: „Ein Unvergleichbares, ein Eines für sich und ohne anderes ist der Mensch sich selbst durch seinen Geist, den eigentümlichen, durch welchen er der ist, der er ist, dieser Eine und kein anderer“ (Jacobi 1968, Bd. 3, 234). 81 AA XXIII, 120. – Auch hier liegt wiederum, unter dem Vorzeichen des „Primats der praktischen Vernunft“ sowie der Idee der „moralischen Teleologie“ und des „moralischen Glaubens“, eine religionsphilosophische Rezeption der Leibniz’schen Gedankenfigur der Einheit des „Reichs der Natur“ und des
1. Die fundamentalphilosophische Verankerung der Postulatenlehre
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auch jener unverzichtbare Anspruch moralischer Subjektivität aufbewahrt, den Kant in dem – auf den ersten Blick aporetischen – Motiv der „unendlichen Annäherung“ an das „höchste Gut“ auf symbolische Weise zum Ausdruck gebracht hat und darin jenes Motiv der „vollständigen Individuierung“ mit dem (erhofften) „moralischen Ideal“ der „Heiligkeit“ vereint. Derart wäre die individuierte Existenz dieses „vernünftigen Weltwesens“ als „totum“ auf eine „grenzbegriffliche“ Weise angezeigt, die als solche durchaus „viel zu denken gibt“. „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ (die Idee der „Totalität“ und der „Individualität“ im Sinne ihrer „durchgängigen Bestimmung“ sowie die Idee der „ganzen Bestimmung des Menschen“) erwiesen sich derart selbst zu einem in sich differenzierten „Ganzen“ und der grenzbegrifflichen Idee einer „vollständigen Individuierung“ vereinigt – ein Sachverhalt, der, wie sich sogleich zeigen soll, in späten Bestimmungen der Gottes idee eine bemerkenswerte und durchaus konsequente Entsprechung hat. Der in den einleitenden Überlegungen zu diesem IV. Teil angezeigte fundamentalphilosophische Hintergrund und die angeführte Charakterisierung „menschlicher Existenz“ erlaubt es nun, im Sinne einer derartigen religionsphilosophisch gewendeten Rezeption dieser Idee der „Individualität“ jene Bestimmung der „Glückseligkeit“ als „Idee eines Zustandes“ (V 552) in besonderer Weise zu akzentuieren – das heißt: sie als „vollendete Individuation“ zu begreifen.82 Demgemäß wäre auch seine frühere Kennzeichnung des „vollständigen Wohls“ (IV 254, Anm.) im Blick auf das „Ganze seiner Existenz“ aufzunehmen. Jene (von Leibniz her naheliegende) „regulative“ Vernunftidee der „vollendeten Individualität“ könnte so als grenzbegrifflich gedachte „individuelle Totalität“83 in der Gestalt des „höchsten abgeleiteten Gutes“ (d. h. als „bonum consummatum“, eben als Idee „eines Ganzen“: IV 261), ebenfalls als „symbolische Darstellung“ derselben, ausgewiesen werden.84 „Reichs der Gnaden“ besonders nahe (vgl. diesbezüglich vor allem: §§ 62, 74, 112, 118, 247, 248 in der „Theodizee“ und § 88 der „Monadologie“). 82 Es ist bezüglich der in Kants Denkweg erkennbaren Entwicklung leitender Motive sehr interessant, dass er in Reflexionen der späten 70er bzw. Anfang der 80er-Jahre die „Selbstzufriedenheit (gleichsam apperceptio iucunda primitiva)“ als „Hauptstuhl“ der „Glückseligkeit“ bezeichnet, dem gegenüber „das übrige … accidentien“ seien (Refl. 7202, AA XIX, 278). In der späteren Kennzeichnung der Glückseligkeit als der „Idee“ eines „Zustandes eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht“ (IV 255), ist eine solche „accidentelle“ Bestimmung überwunden, ebenso die schiefe Alternative von „empirischer“ und „intellektueller Glückseligkeit“; in einem weiteren Schritt wäre diese „Idee eines Zustandes eines vernünftigen Wesens“ im Blick auf das „Ganze seiner Existenz“ als Idee „vollendeter Individuation“ noch zu konkretisieren. Derart könnte sich Albrechts Auffassung bestätigen, „dass sich beide Momente [des „höchsten Gutes“] vielleicht nicht alternativ gegenüberzustehen brauchen“ (Albrecht 1978, 66). 83 Vgl. zu diesem berühmten – in seiner Herkunft und in seinem Sinngehalt nach wie vor umstrittenen – Satz B. Sandkaulen 2012. – Sandkaulen verweist auf den ideengeschichtlichen Zusammenhang dieses Problems der Individualität, das über Leibniz auf die Kategorie der „haecceitas“ des Duns Scotus führt – ein thematischer Zusammenhang, der freilich auch im Blick auf Kant von besonderem Interesse ist; nicht zuletzt natürlich hinsichtlich des Status der „individuellen Persönlichkeit“. – Bezüglich dieser „Individualitätsthematik“ bei Kant wären besondere Anknüpfungspunkte auch bei Augustinus – eben im Sinne dieser „haecceitas“ – zu finden, die auch in dem Motiv des „Herzenskündigers“ anklingen. 84 Erst recht von diesen kantischen Motiven her betrachtet legt sich eine Bezugnahme auf Leibnizens Idee des „konkreten Individuums“ nahe, dem bekanntlich allein die „notion individuelle“ (Leibniz 1906, 144) entspricht und die auf die je konkrete „individuelle Substanz“ abzielt. – In diesem religionsphilosophischen Kontext ist auch daran zu erinnern, dass die Erkenntnis (und damit das Urteil darüber, was es gewesen ist
60 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Auch der von Kant her – im Sinne des traditionellen Motivs des „principium individuationis“ und der regulativen Idee der „vollendeten Individuation“ – aufzunehmende Begriff vom „Realwesen“ verdient, im Sinne der Konkretheit des je individuellen „intelligiblen Charakters“, für die nähere Bestimmung des Ideals der konkreten „Individualität“ und „Totalität“ jenes „vernünftigen Weltwesens“ besondere Beachtung. Nicht zuletzt gilt dies bezüglich des spezifischen Sinngehalts der Idee des „höchsten Gutes“ in Ansehung des „Ganzen“ einer „moralischen Lebensgeschichte“ sowie der darauf bezogenen vollständigen „Selbsterkenntnis“ – d. h.: was es, als „moralische Persönlichkeit“, als dieses je bestimmte Individuum in dieser konkreten „Totalität“ war bzw. nunmehr „gewesen“ ist: Es wäre dies eine gewissermaßen grenzbegriffliche Idee des „individuum est effabile“ in religionsphilosophischer Akzentuierung. Der darin maßgebende Gedanke einer über dieses „Bewusstsein seiner Existenz“ sich gleichsam sammelnden Selbst-Erfahrung impliziert so gleichermaßen den Bezug auf das identitäts-konstituierende „Selbstgeworden-sein“ und auf sein je individuiertes „Gewesen“sein; demnach wäre wohl auch dieses Motiv als „symbolische Darstellung“ einer „ganz gewordenen Lebensgestalt“ anzusehen, die so auch erst als ein wahrhaft in-dividuelles – d. h. ein un-geteiltes, einzigartiges und als solches end-gültig Gewordenes – gelten darf. Die an solcher Idee der „Totalität“ maßnehmende „bewandtnis“-orientierte Selbsterfahrung des Menschen als eines „moralischen Subjekts“ verbindet sich sonach mit der Orientierung dieses „vernünftigen Wesens in der Welt“ am gelingenden Ganzen seiner Existenz zu der Antizipation, „dass und wie er gewesen sein wird“85 – nicht zuletzt im Blick auf jene von Kant selbst angezeigte Hinsicht darauf, „wenn wir das ganz wären, oder einmal sein würden, was wir sein sollen und (in der beständigen Annäherung) sein könnten“ (IV 873, Anm.). Freilich impliziert die erst aus solcher Verbindung der Idee einer „vollendeten Individualität“ mit der Vernunftidee des (über das hinreichend differenzierte „Reich der Zwecke“ vermittelten) „Ganzen aller Zwecke“ resultierende Konstellation auch die unwiderrufliche Ablehnung aller dogmatistisch-metaphysischen Konzeptionen einer „Unsterblichkeit der Seele“. Dergestalt wird die grenzbegrifflich gedachte „durchgehend bestimmte“ und vollendete „Individualität“ des „vernünftigen Weltwesens“ thematisch, die in solcher Transbzw. sein wird) des Individuellen Gott vorbehalten ist, der allein als „Herzenskündiger in seiner reinen intellektuellen Anschauung“ (IV 720) diese „Existenz“ im „Ganzen ihres Daseins“ wirklich „beim Namen“ kennt und auch „ruft“ – und auch nur so das solcherart „ent-hüllte“ „In-dividuum“ „effabile“ wird. 85 Diese menschliche „Existenz“ „in Ansehung ihres ganzen Zustandes“ lässt sich nur denken gemäß dem gleichermaßen bewährungs- und „rettungs-orientierten“ Modus „wie es gewesen sein wird“; dies kommt wohl Schellings Motiv der „Essentifikation“ als „Sich-selbst-geworden-Sein“ nahe, das offensichtlich die für menschliche Individualität konstitutiven Momente der „Faktizität und unvertretbare(n) Einzelheit, die Idee der Ganzheit und Erfüllung“ und „das Streben nach Erhaltung und Überwindung der Vergänglichkeit“ (Angehrn 1985, 340) gleichermaßen in sich vereint. In der Tat spricht vieles dafür, dass dieses Motiv der „Essentifikation“ den „Horizont für die drei Hauptbestimmungen … Individualität, Ganzheit und Überwindung der Vergänglichkeit“ bildet (ebd. 368) und „Selbstsein, Erfüllung, Gegenwart“ als „Chiffren von Glück“ zugleich den Sinngehalt dieser („jemeinigen“) „Essentifikation“ explizieren. Darin ist dann wohl auch eine Dimension des Vergebens und Verzeihens mitenthalten, die andere interpersonal-moralische Dimensionen von Schuld und Versagen noch transzendiert und auch in dieser besonderen Hinsicht einen dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ korrespondierenden Sinnüberschuss indiziert, der wiederum, „an den Grenzen der bloßen Vernunft“ und als ein ihr „fremdes Angebot“, in dem Motiv des „Herzenskündigers“ „viel zu denken gibt“.
1. Die fundamentalphilosophische Verankerung der Postulatenlehre
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formation, gemäß der kantischen Bestimmung des „höchsten Gutes“ (IV 235),86 noch einen präziseren Sinn gewinnen könnte und so überdies wohl auch manche Schwierigkeiten in Kants Postulat der „Unsterblichkeit“ vermeiden ließe. Der angezeigten Lesart zufolge wäre jene Idee des „höchsten abgeleiteten Gutes“ als der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“ eines „vernünftigen, endlichen Wesens“ zu verstehen, an dem dieses, im Ausblick auf seine „ganze Bestimmung“, ein notwendiges Interesse nimmt. Seine Verankerung im „höchsten ursprünglichen Gut“ wäre so selbst als die symbolischdargestellte „Essentifikation“87 (und „Versöhntheit“) des „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ in seiner spezifischen Weltstellung aufzunehmen,88 die in solcher Hinsicht auch den Rekurs auf den „theoretischen Begriff von der Quelle“ rechtfertigt, woraus erst der „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ „entspringen kann“ (III 632). Tatsächlich ist auch nicht zu übersehen, dass diese Themen mit einer Explikation der kantischen Lehre vom „intelligiblen Charakter“ (in der praktischen „je-meinigen“ „Individualität“, mit Kants „Lehre vom Gewissen“89 sowie mit dem religionsphilosophisch gewendeten 86 Dieses als „unbedingte Totalität“ bestimmte „höchste Gut“ ist deshalb nichts anderes als die Idee „gelungener Existenz“ (als „vollendetes Gut“) in ihrer Vollendungsgestalt und steht so in einem unauflöslichen Bezug zu der als Idee verstandenen „vollendeten Individuation“, die solche „Individualität“ in dem „was es war, dies(er) zu sein“ als vollendet und als „erkannt“ begreift und dies in der angezeigten Weise eng mit der Idee eines weisen „Herzenskündigers“ verknüpft. Jedenfalls sind die bei Leibniz untrennbaren Aspekte des „Unteilbaren“ und der „unverwechselbaren Einzigartigkeit des des Individuums“ (Sandkaulen 2012, 160) auch bei Kant untrennbar vereint, wie sein Bezug auf die „moralische Lebensgeschichte eines jeden Menschen“ als einem „unteilbaren Ganzen“ verdeutlicht, die freilich von seiner Bestimmung als Glied des „Reichs der Zwecke“ nicht abtrennbar ist. 87 In einem ähnlichen Sinne heißt es bei Schelling, wohl mit unüberhörbarer Bezugnahme (auch) auf Kant: „Der Tod des Menschen möchte also nicht sowohl eine Scheidung, als eine Essentifikation sein, worin nur Zufälliges untergeht, aber das Wesen, das was eigentlich der Mensch ist, bewahrt wird. Denn kein Mensch erscheint in seinem Leben ganz als der er Ist. Nach dem Tode ist er bloß noch Er selbst“ (XIV, 207). Dieser „Er selbst“ wäre in kantischem Sinne wohl nichts anderes als die grenzbegrifflich gedachte „individuelle Totalität“ der einzigartigen „moralischen Persönlichkeit“ bzw. deren vollendeten Individuierung (Verwesentlichung). – Schellings Motiv der „Essentifikation“ erlaubt offenbar durchaus eine Interpretation der kantischen Idee des „höchsten Gutes“, die sich freilich unübersehbar aus motivlichen Vorgaben des Christentums speist; es spricht vieles dafür, dass sich dieser Begriff der „Essentifikation“ aus einer Verbindung der Leibniz’schen und kantischen Kennzeichnung der „Glückseligkeit“ rekonstruieren lässt, die jedoch keineswegs auf eine Verflüchtigung der „Leiblichkeit“ hinauslaufen darf, worauf offenbar auch Schellings Rekurs auf das „essentifizierte Physische“ (VII 476) abzielt. – Eine in dieser „Essentifikation“ nahegelegte Verbindung zu Kant wird auch durch seine gelegentliche Kennzeichnung der „Unsterblichkeit nach der Analogie … der völligen Entwickelung der Naturanlagen … eines jeden Geschöpfs“ (Refl. 3293, AA XVI, 761) unterstützt, die wohl auch in Schellings früher Notiz einen Anhaltspunkt findet: „Also nicht ein bloßer Teil des Menschen ist unsterblich, sondern der ganze Mensch seinem wahren Esse nach, der Tod eine reductio ad essentiam“ (Schelling VII, 476) – eben gleichsam ein auf das „Ganze einer moralischen Lebensgeschichte“ bezogenes eigentliches „principium individuationis“, bezogen auf das, was es gewesen ist und sein wollte (s. dazu, mit Blick auf Kant und Schelling, Klein 2006). – Entsprechend wäre gerade mit Bezug auf Schellings Motiv der „Essentifikation“ das Verhältnis von „empirischem“ und „intelligiblem Charakter“ noch näher zu bestimmen und letzterer dabei als „Willens“-Totalität (als „vollendetes Ganzes“: IV 720) im Sinne einer praktisch-regulativen Vernunftidee grenzbegrifflich näher zu differenzieren. Vgl. dazu die systematisch orientierten Ausführungen von Klein 2002, 35–82. 88 Vor allem diesen Fragen sind auch Kants Überlegungen zur „Auflösung der akademischen Aufgabe: Was für Fortschritte kann die Metaphysik in Ansehung des Übersinnlichen tun?“ (III 633 ff ) gewidmet. 89 Siehe dazu die erhellenden Ausführungen von Th. S. Hoffmann 2002.
62 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre kantischen Motiv einer „duratio noumenon“)90 aufs Engste zusammenhängen. Es spricht vieles dafür, Kants Charakterisierung der Idee der Glückseligkeit als eines „Zustandes“ auch mit diesem Gedanken der „duratio noumenon“ zu verbinden, zumal in Letzterem doch „der gänzliche Mangel alles Wechsels in ihrem Zustande angezeigt werden soll“ (VI 184). Es sind, wie sich noch näher zeigen soll, diese unverkennbar aus Leibniz’schen Vorgaben bzw. Intuitionen gespeisten kantischen Motive, die in religionsphilosophischem Kontext – eben in einer „existenzialanthropologischen“ Akzentuierung – wohl auch in jenem schon angeführten Schelling’schen Begriff der „Essentifikation“ ihren besonderen symbolischen Ausdruck gefunden haben: Diese Kennzeichnung greift vermutlich – neben motivlichen Anleihen bei Leibniz – ohnedies auf die Idee der Einheit von „empirischem“ und „intelligiblem Charakter“ sowie auf Kants Idee des „höchsten Gutes“ zurück und vereint so beide Aspekte in sich. Bemerkenswerterweise weist die – gleichsam „eschatologisch“ getönte – kantische Orientierung an der eben nicht in „Zeitabschnitte“ zerteilbaren „absoluten Einheit“, weil das „Leben … nur als Zeiteinheit, d. i. als ein Ganzes, in Betrachtung kommen“ kann (IV 725, Anm.), ebenso in solche Richtung wie sein später Hinweis, ein „Gott wohlgefälliger Mensch“ sei „bei uns im Erdenleben … immer nur im bloßen Werden“ (IV 730):91 Auch hier ist offenkundig der menschliche Existenzvollzug „im Ganzen einer moralischen Lebensgeschichte“ als eine prozesshafte Einheit des „Dasein(s) eines Wesen(s) in der Zeit“ (IV 721, Anm.) gedacht, die zur „Totalität“ eben darin erst wird, d. h. genauer: so erst in einem endgültigen Sinne dasjenige wird, „was es war, dies(er) zu sein“ – nämlich eine das Ganze einer „moralischen Lebensgeschichte“ umgreifende „individuelle Totalität“. Als eine solche bleibt sie sich selbst, als ihr unverfügbar, auch insofern entzogen, als es doch „vollständig individuiert“ und end-gültig erst ist, wenn „es gewesen“ sein wird (wie sich in Anlehnung an eine berühmte aristotelisierende Bestimmung des „Wesens“ vielleicht sagen ließe, die möglicherweise auch in jenem Schelling’schen Motiv der „Essentifikation“ nachklingt).92 Die Konsequenz daraus wäre dies: „Erhofft“ in dieser bestimmten Hinsicht wird Kant zufolge nicht „etwas“ in der Zeit, sondern ein „gelingendes Ganzes“, das nur als solche „Totalität“ gedachte „Zeiteinheit“ „terminus ad quem“ der Hoffnung ist (ohne dass damit, im Sinne des differenzierten „höchsten Gutes“, andere Aspekte „begründeten Hoffens“ ignoriert wären). 90 Wobei Kant freilich betont, dass diese darin gedachte „ununterbrochene Fortdauer des Menschen … als eine mit der Zeit ganz unvergleichbare Größe“ (VI 175) gemeint sein muss. Vgl. V 31: „beharrlich … ist das, was eine Zeit hindurch existiert, d. i. dauert“; darin schließt Kant offenbar an Baumgartens Bestimmung an: „existentiae continuatio est duratio“ (A. G. Baumgarten, Metaphysica § 299, zit. n. Sommer 1977, 28, Anm. 13). Gleichwohl steht dieses religionsphilosophische Motiv in engem Bezug zur „Selbsterhaltung der Vernunft“. 91 Hier wäre im Sinne dieses grenzbegrifflichen Motivs einer „vollständigen Individuierung“ auch an Benjamins „Namen“-Motiv anzuknüpfen. 92 Ebenso liegt freilich ein Einfluss Rousseaus nahe, wenn dieser seinen „savoyischen Vikar“ sagen lässt: „Ich ersehne den Augenblick, da ich, befreit von den Fesseln des Leibes, ohne Widerspruch und ungeteilt Ich sein werde und nur meiner selbst bedarf, um glücklich zu sein“ (Rousseau 1963, 599) – eine „Vorgestalt“ der kantischen Idee der „Glückseligkeit“ und wohl auch jener „Essentifikation“, von der beim späten Schelling die Rede ist? Auch Kants früher Bezug auf die „Identität des Ich in der vergangenen Zeit“ (Refl. 1482, AA XV, 658) verdient in diesem Kontext Interesse.
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Auch deshalb ist es unumgänglich, jene kantische Kennzeichnung der Idee der „Glückseligkeit“ (IV 255), in einem sehr präzisen Sinne auf das Ganze der „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811) zu beziehen. Auch jener kantische Rekurs auf eine „höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir jetzt schon sind“ (IV 235), die sich überdies an dem, „was dasein soll“ (II 557), orientiert, führt besonders deutlich den prozessualen Charakter dieser „aktualiter“ darauf ausgehenden – und doch zugleich auf den Tod zugehenden – „Existenz“ noch einmal vor Augen. Solche Orientierung ist mit der Idee des „intelligiblen Charakters“ als dem „transzendentalen“ Fundament der einzelnen Handlungen „in concreto“ untrennbar verbunden und verweist auf die darin implizierte Einheit und Ganzheit der „Existenz“ als einer „Lebensgeschichte“, mithin auf das „ganze un-geteilte Dasein“ (s. o. IV., Anm. 83–87), die so in ihrer „Individualität“ die unteilbare Ganzheit und Einzigartigkeit in sich vereint. Darin steht also eine die „moralische Lebensgeschichte“ sammelnde „Ganzheit“ auf dem Spiel, worin sich der Mensch nicht bloß als beiläufiger „Mitspieler“, sondern als ein in unabweislichen Ansprüchen stehendes „endliches Vernunftwesen“ erfährt, das auch in solcher rechenschaftspflichtigen „conscientia“ gemäß jener übernommenen „Selbstverpflichtung“ gleichsam „coram deo“ sein Leben zu führen hat und darin der Frage „Was hast du mit der Zeit deines Lebens gemacht?“93 standhalten muss.94 Erst recht dadurch 93 Diese Frage des Staatsanwaltes in Max Frischs Roman „Stiller“, die freilich über die „Moralität des Lebenswandels“ (VI 313) hinausweist, hat Kant auch vor allem mit Cicero (in der Übersetzung Garves von „de officiis“) geteilt: „Wir sind von der Natur nicht bloß zum Scherz und zum Zeitvertreib in die Welt gesetzt worden. Unsre Bestimmung ist ernsthaft; unsre Geschäfte sind groß und wichtig“, woraus sich ergibt: „so müssen wir dieser Bestimmung der Natur folgen“ (zit. n. Brandt 2007a, 150). Damit engstens verbunden ist Kants Motiv des „Herzenskündigers“ – nicht zuletzt in dem klaren Bewusstsein davon, dass keine irdische Instanz befähigt und befugt ist, solcherart diese „Existenz im Ganzen“ und die daran geknüpfte „Identität“ in Frage zu stellen bzw. zur Rechenschaft zu ziehen, sondern allein einem „Weltrichter als Herzenskündiger Rechenschaft [zu] geben“ ist (VI 272), der es auch allein vermag, „jedem, was seine Taten wert sind, zukommen zu lassen“ (IV 758). Diesen Aspekt thematisierte Kant auch beiläufig in dem Bezug auf ein in „unbedachtsamer Weise wider seine Pflicht“ verstoßendes Handeln des Menschen, „wodurch er doch eben nicht Menschen verantwortlich geworden ist“ und dennoch gleichsam sich genötigt sieht, „darüber Rechenschaft abzulegen“ (V 571), d. h. an das Urteil einer „teilnehmenden“ bzw. „unparteiischen“ Vernunft gebunden zu sein. In Kants Begründung des „Begriff(s) eines ethischen gemeinen Wesens“ als „Begriff von einem Volk Gottes unter ethischen [!] Gesetzen“ finden sich diesbezüglich motivliche Anknüpfungspunkte; auch dies verweist auf religionsphilosophisch unverzichtbare Aspekte des „Individualitätsbegriffs“. Nicht zuletzt in Kants pädagogischen Perspektiven spielt die leitende Orientierung, so zu leben, „als ob für das Ganze des Lebens“ Rechenschaft abzulegen sei, eine vorrangige Rolle, die auch aller pädagogisch vermittelten religiösen Hoffnung zugrunde liegen muss. Die in jener Frage „Was hast du mit der Zeit deines Lebens gemacht?“ sich manifestierende „schlechthinnige Abhängigkeit“ von dem (bzw. der Rechenschaftspflicht gegenüber dem) ihr allein korrespondierenden „Herzenskündiger“ hat als gleichsam „emanzipatorische“ Kehrseite die radikale Befreiung bzw. Unabhängigkeit von weltlichen Instanzen, zumal die „Innerlichkeit“ des „Gewissens“ in seiner „Absolutheit“ und Unvertretbarkeit keiner irdischen Richtinstanz untersteht, der eben nur die Idee eines „Herzenskündigers“ entspricht. 94 Mit jener Frage: „Was hast du mit der Zeit deines Lebens gemacht?“ rückt ein erst durch praktische Vernunftansprüche qualifizierter „existenzieller“ Aspekt von „Kreatürlichkeit“ bzw. „Geschöpflichkeit“ – und „Schuldigkeit“ – „coram deo“ ins Blickfeld, der sich offenbar nicht in bloßer „Kontingenz“ erschöpft, sondern sowohl über ein bloßes Verständnis von „Schöpfung“ als „Ursache vom Dasein einer Welt“ als auch im Sinne der „Voraussetzung einer freiwirkenden, folglich verständigen Ursache“ (V 576, Anm.) hinausweist. Dieser Aspekt des „cogitor, ergo sum“ stellt eine besondere Dimension der „Geschöpflichkeit“ in den Vordergrund, der jedenfalls auch in dem geforderten angemessenen „Begriff von einer Gott-
64 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre ist seine Weltstellung als „Mittelbegriff zwischen Gott und Welt“ charakterisiert und solcherart der Bogen von jener „sich nicht selbst in ihrer Gewalt habenden Freiheit“ bis zu der freilich „nicht ganz in unserer Gewalt“ stehenden „Erreichung des Endzwecks“ der „praktischen Vernunft“ (V 602) als des „höchsten Weltbesten“ (V 578) gespannt. So spricht vieles dafür, dass das in der „Allgemeinen Anmerkung zur Teleologie“ (die Kants „dritte Kritik“ beschließt) sodann angeführte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ die teleologische Perspektive einer kritischen Metaphysik (im Sinne der Idee einer „moralischen Teleologie“) mit der Frage nach sich selbst im Blick auf das individuelle „Ganze einer moralischen Lebensgeschichte“ in eigentümlicher Weise vereint: Die maßgebenden Begründungsfiguren einer „kritischen Metaphysik“ wären so mit jener existenzialanthropologisch orientierten „Erste-Person-Perspektive“ zusammengeführt und eröffnen solcherart aufschlussreiche religionsphilosophische Perspektiven.95 Begründet ist diese späte „Zusammenführung“, die auch seiner Verbindung von „Ethikotheologie“ und (moralisch begründeter) „Religion“ zugrunde liegt, offenbar in jenem von Kant als „sehr merkwürdig“ geltend gemachten Sachverhalt, dass eben die „Vernunftidee“ der Freiheit“ zugleich als „Tatsache“ „durch praktische Gesetze der reinen Vernunft“ (V 599) ausgewiesen werden kann. Diese zweifache Kennzeichnung der „Freiheit“ fungiert gleichsam als spätes „Scharnier“ dieser beiden Perspektiven. Jene damit in thematischer Hinsicht eng verbundene kantische Einsicht in die „Hermeneutik eschatologischer Aussagen“, wonach „die Idee eines Endes aller Dinge ihren Ursprung nicht von dem Vernünfteln über den physischen, sondern über den moralischen Lauf der Dinge in der Welt hernimmt, und dadurch allein veranlasst wird“ (VI 176), wäre demnach – „in praktischer Absicht uns … an die Hand gegeben“ (VI 181), also zum „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ – so zu lesen, dass sie solche Rede vom „Ende aller Dinge“ in diesem existenzialanthropologischen Kontext zugleich als eine Aussage über die existenz-konstituierende „Befristung der Lebenszeit“ verstehen lässt. Sie verbindet sich mit einer – ganz unsentimentalen – kantischen Version des „Memento mori“ und schärft so den Blick für unabweisliche religionsphilosophische Themen. Im Übrigen ist man, nach dem Vorbild Kants, ohnehin gut beraten, in religionsphilosophischer und theologischer Hinsicht das Thema „Das Ende aller Dinge“ und die damit verbundenen Fragen eher kurz zu halten – nicht zuletzt in kritischer Vergegenwärtigung jener von ihm selbst in all diesen Fragen beherzigten „docta ignorantia“. Dazu gehört jedoch auch die Sensibilität dafür, Letztere nicht mit jenem aus abgründigen Fragen aufkommenden „Stillschweigen der Vernunft“ zu verwechseln, dessen aus „teilnehmender Vernunft“ geheit“ mitzuhören bleibt. Kants motivliche Nähe zu dieser Frage verdeutlicht wohl besonders die schon angeführte Reflexion 5475 (AA XVIII, 193): „Der moralische Beweis sagt nicht, dass die Seele künftig leben werde, sondern dass der Rechtschaffene nicht vermeiden könne, dieses anzunehmen und wenigstens als möglich anzusehen“. Dieses frühe Motiv wird in einer beim späten Kant in den Vordergrund tretenden „Als-ob“-Perspektive noch eine besondere Akzentuierung gewinnen (s. dazu u. IV., 3.2.2.). 95 Vgl. auch III 628 f: „Freiheit der Willkür ist dieses Übersinnliche, welches durch moralische Gesetze, nicht allein als wirklich im Subjekt gegeben, sondern auch in praktischer Rücksicht, in Ansehung des Objekts, bestimmend ist, welches in theoretischer gar nicht erkennbar sein würde, welches dann der eigentliche Endzweck der Metaphysik ist.“
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speistes Interesse den Rückzug bzw. die Ausflucht in eine solche beanspruchte „gelehrte Unwissenheit“ geradewegs verbieten muss. Davon soll mit besonderer Bezugnahme auf Kants Theodizee-Abhandlung noch ausführlich die Rede sein (s. u. VI., 2.). Auch wenn nach Kant eine an vernünftigen Maßstäben orientierte Lebensführung in den „moralische(n) Verhältnissen vernünftiger Wesen … auf Liebe und Achtung zurück[zu]führen“ ist (IV 629) und in diesem interpersonalen Raum auch verantwortet und bewährt werden muss, so weist ihm zufolge jene Frage „Was hast du mit der Zeit deines Lebens gemacht?“96 dennoch darüber hinaus. Dies schon deshalb, weil für diese ein jedes „moralisches Sollen“ übersteigende – jedoch keineswegs „moral-neutrale“ – und unabweisliche existenzielle Frage keinerlei „irdische Autorschaft“ im Sinne einer Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht namhaft gemacht werden kann – vor allem aber auch: nicht geltend gemacht werden darf. Weder kann sich eine innerweltliche Instanz als „terminus a quo“ des darin artikulierten Anspruchs aufspreizen noch als angemessener „terminus ad quem“ einer auf diese Frage geschuldeten Antwort geltend machen97. Vielmehr bleibt dafür ein „Ort“ freizuhalten bzw. zunächst einmal grenzbegrifflich erst „einzuräumen“, der eine solche schlechthin individuelle und „individuierende Korrelation“ und daran geknüpfte „Entsprechungen“ erst denkbar macht. Begründet wäre die solcherart in den Vordergrund rückende „Geschöpflichkeit“ in der Weise einer „Selbstgegebenheit“, die als spannungsvolle Einheit des uneinholbaren „Sich-Voraussetzens“ und „Sich-aufgegeben-Seins“ wahrgenommen wird, wobei in solchem Verhältnis freilich der interpersonale Weltbezug und somit das näher zu differenzierende „objectum obligationis“ nicht ausgeblendet bleiben darf (s. o. I., 4.1.; Anm. 284). Gemäß dem kritischen kantischen Religionsverständnis wäre dies nunmehr im Sinne des „Als-ob“ eines „Anrufs“ durch jene – Rechenschaft fordernde – „Stimme eines Richters“ deutbar, auf die Kant (V 571) verweist; dies kommt der Bestimmung der 96 Im Lichte jenes „Alles, was Menschen widerfährt, das (be)trifft auch mich“, betrifft der Anspruch jener Frage: „Was hast du mit der Zeit deines Lebens gemacht?“ stets alle Mitglieder einer „moralischen Gemeinschaft“, in der alle füreinander „Fremde und Angehörige sind“ (s. o. I., Anm. 372): Jene Frage wird so auch zur Anfrage nach dem geleisteten Beitrag dazu, dass sie auch allen „vernünftigen Weltwesen“ ohne Zumutung für sie gestellt werden darf – nicht zuletzt im Blick auf jene Zahl- und Namenlosen, die jene Frage doch allein dadurch beantworten, dass sie tagtäglich den Kampf um das nackte Überleben (also eine „Selbsterhaltung elementarster Art“) führen und bestehen müssen – und so in Wahrheit geradewegs diejenigen zu den „Befragten“ macht, die sich vorrangig vor die Frage nach der „Selbsterhaltung der Vernunft“ gestellt wissen. Die in Kants „Weltbegriff der Philosophie“ implizierte Frage nach der „Rangordnung der Zwecke“ enthält so eine besondere Provokation; sein so entschiedenes Insistieren auf dem Anspruch der Rechtspflichten als „geschuldeten“ Pflichten hat auch in diesem Kontext und unter den Vorzeichen einer in vielerlei zur Einheit gewordenen Welt – so wie auch die Idee der einen „Menschheit“ – einen besonderen Stachel (und bezieht sich damit auch auf den elementaren, schon dem gerechten „Tausch“ immanenten „Gerechtigkeitssinn“) – nicht zuletzt gegen alle „moralische Schwärmerei“, agapistische Höhenflüge und superergoratorischen „Selbstgenuss“. Auch hier blieb Kant sensibel für vorrangige Ansprüche der „Rechtspflichten“. 97 Hier wäre vielleicht auch im Kontext der kantischen Religionsphilosophie die semantische Differenz zwischen „Schuld“ und „Sünde“ zu verorten, wobei für Letztere das „coram deo“ konstitutiv ist und hierfür auch Kants Motiv des „Herzenskündigers“ einen möglichen Anknüpfungspunkt bietet. Mit dieser Dimension des „coram deo“ wäre im Blick auf dieses Thema „Sünde“ die Frage nach einer Verfehlung menschlicher Existenz „im Ganzen“ und somit ein besonderer Aspekt von „Kreatürlichkeit“ zu verbinden.
66 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Religion(spflicht) als „Erkenntnis unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ (IV 579) auffällig nahe, ohne damit die Autonomie des „Moralischen“ zu unterbieten. Es spricht einiges dafür, jenen scheinbar eher „populärphilosophischen“ kantischen Rekurs auf die Erfahrung des „bestirnten Himmels über mir“ und des „moralischen Gesetzes in mir“ auch im Blick auf jene spannungsvolle Einheit zu interpretieren; die von Kant hier betonte – Ableitungen bzw. Schlussverfahren distanzierende – „Unmittelbarkeit“, in der „ich“ beide gegenläufigen Erfahrungen „mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ verknüpfe, impliziert offenbar doch, dass diese spannungsvolle Einheit im Verhältnis zu ihr „aufgehoben“ ist und das Verhältnis dazu „meine Existenz“ erst konstituiert. Es ist demnach selbst ein denkwürdiger Sachverhalt, dass Kant mit dieser Gedankenfigur seine „zweite Kritik“ nunmehr beschließt, die indes von der Thematisierung des Menschen als „Subjekt“ des „moralischen Gesetzes“, „nach der Beschaffenheit mit der e(s) wirklich ist“ (IV 113), ihren Ausgang nimmt (s. dazu o. I., 3.2.). Auf solche Weise wird eine Sinndimension von „Geschöpflichkeit“ sichtbar, worin die uneinholbare Faktizität des Daseins und die unbedingte Inanspruchnahme in eigentümlicher Weise als solche „Selbstgegebenheit“ vereinigt sind – im Blick auf diesbezüglich aufschlussreiche kantische Wendungen formuliert: Es wäre dies ein – einer transformierenden Deutung „radikaler Kontingenzerfahrung“ verdankter – Sinn von „Geschöpflichkeit“, der den Rekurs auf „die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren“ (IV 283), mit der eigentümlichen Erfahrung einer Rechenschaftspflicht verknüpft – nämlich angesichts dessen, dass jemand „sich etwa unbedachtsamer Weise wider seine Pflicht vergangen“ habe, „wodurch er doch eben nicht Menschen verantwortlich geworden ist: so werden die strengen Selbstverweise dennoch eine Sprache in ihm führen, als ob sie die Stimme eines Richters wären, dem er darüber Rechenschaft abzulegen hatte“ (V 571). Erst recht wird aus solcher Konstellation auch Kants späte Bestimmung verständlich: „Der Begriff von Gott ist der Begriff von einem verpflichtenden Subjekt außer mir“98; sein sehr später Rekurs auf den „Geist Gottes“ als den „eigentliche(n) Richter der Menschen (vor ihrem Gewissen)“ (VI 814), gewinnt so, als ein besonderer „Innerlichkeits“-Aspekt, noch eine bemerkenswerte Nuance. In solcher Deutungsperspektive wäre jener Aspekt der „Geschöpflichkeit“ mit der Idee der „Heiligkeit“ des „moralischen Gesetzes“ bzw. des ihm entsprechenden „Willens“ sowie der darin verankerten „Würde“ einerseits, mit jenem Begriff von „Gott … als einem 98 AA XXI, 15. – Die Kehrseite davon wäre wohl die Dimension eines „Verzeihens“, dem ein „Zeihen“ vorausgeht, das keine endliche Instanz sich gegenüber anderen Menschen anmaßen kann; deshalb kann solches „Verzeihen“ ohne Vermessenheit auch von keiner weltlichen Instanz gewährt werden. Hier tritt auch ein „Überschießendes“ der „Sünde“ gegenüber „moralischer Schuld“ ins Blickfeld, das eine besondere Dimension von „Geschöpflichkeit“ („coram deo“) sichtbar machen kann und mit der Kennzeichnung Gottes als „weiser Welturheber“ und „Herzenskündiger“ engstens verbunden ist. Gewiss, alle „moralische Schuld“ ist auch „Sünde“; gleichwohl erschöpft Letztere sich nicht in moralischer Schuld, sondern verweist wohl (um nochmals die oben zitierte Wendung Kants aufzunehmen) auf ein „Sichschuldig-Bleiben“, „wodurch er doch eben nicht Menschen verantwortlich geworden ist“ (V 571); sie übersteigt so auch noch die Idee einer „unversehrten Intersubjektivität“ und somit auch ein daran bemessenes Versagen; freilich, mit solchem „Mehrwert“ und der ihr korrespondierenden Instanz eines „Herzenskündigers“ berührt sie noch in ganz anderer Weise „die Identität eines sich zwanglos mit sich selbst verständigenden Individuums“ (Habermas 1988, 185).
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verpflichtenden Subjekt außer mir“ andererseits, unauflöslich verbunden. Derart findet eine Dimension von „Unbedingtheit“ ihre Verankerung, die auch in der Bestimmung des Sinngehalts von „Gottebenbildlichkeit“ bei Kant mitgedacht ist. Solcher Begründungszusammenhang lässt sich nunmehr auch als die grundlegende kantische Intuition rekonstruieren, dass die beiden benannten Aspekte von „Geschöpflichkeit“ im Blick auf die Gottesthematik jene „absolute Differenz“ implizieren, die in Kants Begründung für die Notwendigkeit angesprochen ist, Gott nicht als „Inbegriff“, sondern als „Grund aller Realitäten“ (III 390; s. dazu genauer o. I., 2.1.2.) zu denken. Dies darf wohl auch als eine besondere Facette jenes kantischen Anliegens angesehen werden, für den „Glauben“ und den ihm allein angemessenen „terminus ad quem“ „Platz zu bekommen“. Derart fügt sich in dieser existenzialanthropologischen Perspektive Kants Blick (a) auf das Ganze einer „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811), (b) auf das „Leben als Zeiteinheit, d. i. als ein Ganzes“ (IV 725, Anm.) sowie (c) jenes schon angeführte bemerkenswerte Motiv, „wenn wir das ganz wären, oder einmal würden, was wir sein sollen, und (in der beständigen Annäherung) sein könnten“ (IV 873), zu einer für seine „Vernunftreligion“ grundlegenden Motivkonstellation, die mithin von selbst (d) auf jenes Motiv eines „Herzenskündigers“ verweist. Jene im Kontext der Frage „Was darf ich hoffen?“ ins Blickfeld tretende Idee einer „ganz“ und end-gültig gewordenen Lebensgeschichte in ihrer je besonderen geschichtlichen „Identität“ und individuellen autobiographischen Einheit und „Totalität“ wäre einer solchen kantischen Sichtweise zufolge auch so zu verstehen, dass diese, gewissermaßen „definitiv“ geworden, eben nicht mehr in der Vorläufigkeit des „Umschreibens“ (damit aber auch nicht in der Widerrufbarkeit bzw. der Möglichkeit ihrer Selbstkorrektur) stünde.99 Wiederum in kritisch-grenzbegrifflicher Weise wäre solcherart das in einen religionsphilosophischen Kontext eingerückte Motiv des Ideals einer vollständigen „Erkenntnis seiner selbst, nicht, wie ich mir erscheine, sondern an sich bin“, aufzunehmen, das in dem darin gedachten „Offenbar-werden-seiner-Selbst“ gleichsam das religiöse „Gerichts“-Motiv „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ „übersetzt“ (das in der christlichen Tradition bekanntlich engstens mit dem Motiv der „Auferstehung“ verbunden ist) – eine in kantischem Geist erfolgte moralisch-„authentische Auslegung“ (s. u. V., 2.) des biblischen „Was wir sein werden, ist noch nicht offenbar“ (1 Joh 32,2)? In einer solchen – von einer kritischen „docta ignorantia“ geleiteten – behutsamen Rücksicht auf das darin eigentlich in Frage stehende gelingende „Ganze seiner Existenz“ („im Ganzen seines Zustandes“ als „vernunftbegabtes Erdwesen“) erledigen sich dann auch schiefe Kontroversen bezüglich des Status der Idee der „Glückseligkeit“ bei Kant, bzw. müssen diese als prinzipiell unangemessen erscheinen: Ist es doch in dieser „Idee“ 99 Kants Interpretation des „apokalyptischen“ Bildes darf wohl auch so verstanden werden: „In der Apokalypse (X, 5,6) ‚hebt ein Engel seine Hand auf gen Himmel, und schwört bei den Lebendigen von Ewigkeit zu Ewigkeit, der den Himmel erschaffen hat u.s.w.: dass hinfort keine Zeit mehr sein soll‘“ (VI 182); noch einmal sei es betont: Kant wusste freilich, dass „die Idee eines Endes aller Dinge“ allein auf „den moralischen Lauf der Dinge in der Welt“ (VI 176) abzielt. Dieses Beispiel verdeutlicht recht gut die grundlegende Intention der kantischen Religionsphilosophie, eine vernunft-orientierte Freilegung bzw. (Rück-)Übersetzung dessen zu leisten, was den „sinnlichen Darstellungen“ vernünftigerweise zugrunde liegt.
68 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre ebenso um eine Zurückweisung einer reduktionistischen „empirischen“ Glückseligkeit wie auch um die Vermeidung einer „spiritistischen“ Verflüchtigung derselben zu tun – denn, so der auch in diesen „letzten Dingen“ nüchterne und unbestechliche Kant, von „der bloß moralischen Glückseligkeit oder der Seligkeit verstehen wir nichts“.100 Mithin darf sie gerade auch im Blick auf die Idee der „vollendeten Individualität“ wohl als „ästhetische Darstellung“ genommen werden, die als solche zwar „viel zu denken gibt“ und überdies Scheinprobleme vermeiden lässt. In diesem religionsphilosophisch akzentuierten Motiv wäre, in Besinnung auf die fundamentalphilosophisch zu begreifende Einheit von „Natur und Freiheit“, die „praktisch-konkretisierte“, d. h. „individuierte“ und die „leiblich-daseiende“ „Transzendentalität“ sowie der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“ in eigentümlicher Weise vereinigt, die so selbst auf die notwendige „symbolische“ Darstellung verweist. Das christliche Motiv der „Auferstehung“ hätte Kant in solcher Hinsicht wohl selbst als „ästhetische“ Symbolisierung der Vernunftidee angesehen, worin – eben die „leibhafte Wirklichkeit der Erlösung“ (Adorno) symbolisierend – die besondere Einheit von „Natur und Freiheit“ als (ein „in individuo“ gedachtes) Ganzes als „Ideal“ gedacht wäre. Genauer besehen lässt sich vor diesem Hintergrund in Kants Kennzeichnung der (Idee der) „Glückseligkeit“ eine bemerkenswerte Stufung rekonstruieren, die, weil doch „alles Hoffen auf Glückseligkeit geht“ (II 677), ebenso den Status der Hoffnungsfrage in diesem engeren „existenz“-bezogenen Zusammenhang berührt, d. h. ihn verändert. Denn zweifellos weist jene angeführte Bestimmung der Idee der „Glückseligkeit“, die „auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen [!] Zwecke“ beruht (IV 155), über die in der „ersten Kritik“ vorgenommene Charakterisierung derselben noch hinaus: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)“ (II 677). Jene Bestimmung der „Glückseligkeit“ als „Idee eines Zustandes“ erscheint so, in Rücksicht auf jene spätere kantische Idee des als übergreifende „Zeiteinheit“ gedachten „Ganzen“ und die „duratio noumenon“ (VI 175), noch einmal in einem besonderen Licht, damit aber auch die Weltstellung des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ im Blick auf das „Ganze“ einer „moralischen Lebensgeschichte“. (Die von Kant freilich beiläufig geäußerte Sympathie für die „Hypothese des Spiritualismus vernünftiger Weltwesen“ [IV 793, Anm.], sein für diesen „Spiritualismus“ diesbezüglich geltend gemachtes „Vernunftinteresse“, ist jedenfalls bemerkenswert; jedoch scheint dies für sich genommen seinen eigenen fundamentalphilosophischen Perspektiven nicht gerecht zu werden, zumal diese eine entsprechende Fundierung der Idee des „höchsten Gutes“ geradezu unverzichtbar machen und, wie erwähnt, in der Bestimmung der „Glückseligkeit“ als „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt …, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht“ [IV 255], auch schon eine „Symbolisierung“ gefunden hätte.) Erst recht wird auch in diesem engeren Kontext die in diesem IV. Teil leitende Auffassung bestätigt: Die so resultierende Verknüpfung dieser Idee des „höchsten abgelei-
100 Refl. 6883, AA XIX, 191.
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teten Gutes“ und des „höchsten ursprünglichen Guts“ wäre, so wie die Frage nach dem „Ende aller Dinge“, in einer solchen religionsphilosophischen – existenzialanthropologisch verankerten – Perspektive selbst schon als die symbolisch-dargestellte Vollendung („Versöhntheit“) des „vernunftbegabten Erdwesens“ in seiner spezifischen Weltstellung zu verstehen,101 worin die kantische Leitidee einer „Zusammenstimmung des Reichs der Natur mit dem Reich der Sitten“ auch ihre „individualisierte“ Konkretheit bzw. Gestalt gefunden hat – nunmehr im Blick auf die konkrete Existenz „vernünftiger, aber endlicher Wesen“ und gemäß jener als „mitenthalten“ erhofften „eigenen Glückseligkeit“. Unschwer lässt sich auch diese (in jenem erwähnten inneren Zusammenhang der Vernunftideen grundgelegte) Perspektive sodann mit dem Urteil Kants verbinden, dass der praktischen Weltstellung des Menschen jedenfalls eine solche Bestimmung des „höchsten Gutes“ völlig unangemessen bleiben müsste, das, etwa im Sinne der aus der Religionsgeschichte geläufigen Vorstellung der „Ungeheuer von System des Laokiun“, „im Nichts bestehen soll; d. i. im Bewusstsein, sich in den Abgrund der Gottheit, durch das Zusammenfließen mit derselben und also durch Vernichtung seiner Persönlichkeit, verschlungen zu fühlen“ (VI 185).102 Eine derartige Vorstellung bliebe wohl mit der Idee 101 Nur bei völliger Ausblendung dieser fundamentalphilosophischen Verankerung der Vernunftidee des „höchsten Gutes“ wird eine Entlarvung in der Art Schopenhauers möglich: „Dieser Lohn, der für die Tugend, welche also nur scheinbar unentgeltlich arbeitete, hinterdrein postuliert wird, tritt aber anständig verschleiert auf, unter dem Namen des höchsten Guts, welches die Vereinigung der Tugend und Glückseligkeit ist. Dieses ist aber im Grunde nichts Anderes, als die auf Glückseligkeit ausgehende, folglich auf Eigennutz gestützte Moral, oder Eudämonismus, welche Kant als heteronomisch feierlich zur Haupttüre seines Systems hinausgeworfen hatte, und die sich unter dem Namen höchstes Gut zur Hintertüre wieder hereinschleicht“ (Schopenhauer 1977, 163 f ). – Habermas’ Hinweis auf den „moralischen Gehalt des Christentums“, den er mit einer Kritik an der bei Schopenhauer leitenden „abstrakte(n) Selbstaufhebung der Individualität, um das Aufgehen des Individuums im All-Einen“ verknüpft, kommt diesbezüglich den religionsphilosophischen Intentionen Kants zweifellos besonders nahe und lässt, wenigstens indirekt, Kants Motive auch in dieser Hinsicht (im Sinne der von ihm betonten „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete(n) praktische(n) Vernunft“: VI 186) – als „anamnetisch inspiriert“ erscheinen: „Die, die am Jüngsten Tage, in Erwartung eines gerechten Urteils, einer nach dem anderen, einzeln, unvertretbar, ohne den Mantel weltlicher Güter und Würden, also als Gleiche, vor das Angesicht Gottes treten, erfahren sich als vollständig individuierte Wesen, die Rechenschaft geben über ihre verantwortlich übernommene Lebensgeschichte. Gleichzeitig mit dieser Idee müßte die tiefe Intuition verloren gehen, dass das Band zwischen Solidarität und Gerechtigkeit nicht reißen darf“ (Habermas 1991d, 121). Das von Kant auf ein „moralisches Bedürfnis“ gestützte Gebot der „Beförderung des höchsten Gutes“ sowie die darin leitende postulatorische Perspektive, „so zu handeln, als ob ein Gott sei“ (III 523) und die daraus gespeiste Hoffnung zielt auf nichts anderes als auf jenes „gerechte Urteil“, das „vollständig individuierte Wesen“ betrifft, „die Rechenschaft geben über ihre verantwortlich übernommene Lebensgeschichte“; nur so ist, wie der späte Kant noch verdeutlicht, die Hoffnung eine solche auf „ein durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“ (III 412). In diesem Sinne ist die (schon erwähnte) frühe Notiz zu nehmen: „Die andere (intellektuale) Welt ist eigentlich die, wo die Glückseligkeit genau mit der Sittlichkeit zusammenstimmt: Himmel und Hölle […] Die andere Welt ist ein notwendig moralisches Ideal“ (Refl. 6838: AA XIX, 176, aus der Zeit 1776–1778); vgl. Refl. 6206, AA XVIII, 490). Schon darin ist die Idee der „moralischen Welt“ „in individuo“ gedacht und im Sinne einer „moralisch konsequenten Denkungsart“ konzipiert. 102 Das eigentliche Movens, das in diesen „sinnlichen Vorstellungsarten“ sichtbar wird, ist nach Kant dies: „Alles lediglich darum, damit die Menschen sich endlich doch einer ewigen Ruhe zu erfreuen haben möchten, welche denn ihr vermeintes seliges Ende aller Dinge ausmacht; eigentlich ein Begriff, mit dem ihnen zugleich der Verstand ausgeht und alles Denken selbst ein Ende hat“ (VI 185). – Ob Kants Vorstellung einer solchen Ver-Nichtung religionsgeschichtlich bzw. religionswissenschaftlich einigermaßen
70 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre einer „kreatürlichen“ Vollendung des „vernünftigen Weltwesens“, die diesem auch „gerecht“ werden soll, schlechthin unverträglich und wäre gewiss nicht als „Gottseligkeit“ zu bestimmen; eher liefe dies wohl auf jenen von Kant kritisierten „horror annihilationis“103 hinaus – im Sinne einer völligen Auslöschung („Vernicht(s)ung“) menschlicher Individualität, d. h. der Auflösung des „unsichtbaren Selbst“ im „Ozean der Gottheit“. Dies wäre freilich nach Kant der „ganzen moralischen Bestimmung“ nicht nur abträglich, sondern damit auch ganz unvereinbar und lädt deshalb, so wie im Falle vermutlich sehr verwandter „ozeanischer Gefühle“, wohl eher zu einer psychoanalytischen Aufhellung ein.104 Dass einer solchen „existenz“-vergessenen – „selbst“-zerstörerischen – Nivellierung der „individuellen Persönlichkeit“ und ihres „unendlichen Werts“ unvermeidlich auch ein völlig defizienter Gottesbegriff korrespondieren müsste, dies wird in einer anderen Hinsicht durch jene von Kant angezeigte Korrelation von „Theologie und Moral“ als den beiden „Beziehungspunkte(n) zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“ (II 709) lediglich bestätigt und erweist sich auch solcherart – erst recht im Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ – von besonderem Interesse. Dies bringt noch einmal in Erinnerung, dass jener in der „Idee des höchsten abgeleiteten Gutes“ – als dem „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ – symbolischdargestellten „Essentifikation“ des vernünftig-freiheitlichen Naturwesens Mensch doch nur eine solche „Sinnerfüllung“ (als „Versöhntheit von Natur und Freiheit“) zu genügen vermag, die letztendlich nichts anderes als der „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“, selbst sein kann, sofern jedenfalls – gewissermaßen „ex negativo“ – aus den schon wiederholt genannten Gründen nur ein theistisch ausgewiesener „moralischer Urheber aller Dinge“ als „moralische Weisheit“ (II 557) „ratio sufficiens“ jenes „moralischen Endzwecks“ sein kann. Dies vergegenwärtigt in solcher Akzentuierung erneut jene Mahnung Kants, den „Begriff von einer Gottheit“ nicht leichtfertig „an jedes von uns gedachte verständige Wesen“ zu verschwenden (V 562).105 Zugleich wird auch daraus noch einmal deutlich, weshalb nur für „vernünftige Weltwesen“, denen an ihrem vernunft-orientierten Existieren in unbedingter Weise gelegen ist, auch die Gottesthematik ein unbedingtes Interesse zu gewinnen vermag. zutrifft, oder dieses „Nichts“ durchaus „positive Züge“ trägt, ist hier nicht zu verfolgen – ebenso wenig dies, ob in diesen Motiven auch indirekte Bezüge auf die vornehmlich im englichen „Deismus“ vorherrschende Vorstellungen einer Art „kosmischen Einheitsgefühls“ sichtbar werden. Die kantische Verknüpfung des Unsterblichkeits-Gedankens, der vollständigen Selbsterkenntnis und des „Gerichts-Motivs“ ist eine „Übersetzung“ religionsgeschichtlicher Motive, für die sich freilich schon in Platons „Phaidon“ aufschlussreiche Anknüpfungspunkte finden und die gleichermaßen im Blick auf den sich ausbildenden „Vernunftbegriff in abstracto“ von Interesse sind. 103 AA XXI, 519. – Manches spricht übrigens dafür, Kants Lehre von der „Unsterblichkeit der Seele“ als eine indirekte „Übersetzung“ des christlichen Motivs des „Fegefeuers“ als „Purgatorium“ zu verstehen; denn um der sittlichen Verankerung der „Hoffnung“ willen kann das „vernünftige Weltwesen“ – im Blick auf das „Ideal der Heiligkeit“ und jenseits eines subtilen Narzissmus bloßer Selbstbehauptung – doch gar nicht wollen, sich anders als in geläuterter Weise end-gültig „affirmiert“ zu wissen; auch deshalb sind diese gegen Kant gerichteten „Eudämonismus“-Vorwürfe verfehlt. 104 Freud 1972, 65. 105 Gleichwohl steht Kant hier der thomistischen Idee durchaus nahe: „Beatitudo et Deus sunt idem“ (Thomas v. Aquin, Summ contra gentiles 1, 101).
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Im Blick auf die Existenz des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ und das darin verankerte Ideen-Gefüge eines „Sinns des Unbedingten“ sei – in Anlehnung an den erwähnten kritischen Rekurs auf die Gottesidee als „Grund aller Realität“ und im Sinne jener „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ – noch angemerkt: Die „Gottesidee“ wäre, über die Vermittlung der einzelnen „Endzweck“-Bestimmungen und die dem entsprechenden Momente des „höchsten Gutes“, auszuweisen als der zu denkende SinnGrund all dessen, was als Konstellation eines „Sinnes des Unbedingten“ gedacht werden muss, wobei freilich die daraus vermittelte Idee des Grundes eines „unbedingten Sinns“ allein „durch“ und „für uns“ Bestimmtheit gewinnt, d. h. nur in einer solchen – buchstäblichen – Hin-Sicht als „höchstes ursprüngliches Gut“, näherhin eben als „Urquell alles Guten in der Welt, als seinem Endzweck“ (III 636), gedacht werden kann. Letzterer wäre, gemäß jener angezeigten Gedankenfigur, als „Grund aller Realität“ zu denken, könnte allein auf solche Weise dem kritischen Anspruch jener „Analogie“-Konzeption genügen und auch nur aus dieser im „moralischen Gesetz“ verankerten „Zweckverbindung“ einen solchen „Begriff von Gott“ hervorgehen lassen. Bevor noch einige weitere diesbezügliche – vor allem auch religionsphilosophisch relevante – Problemaspekte zur Sprache kommen sollen, bleibt zu resümieren: In der Weltstellung des Menschen – als in der Natur existierender „Endzweck der Schöpfung“ – ist die im Sinne des „inneren Naturzwecks“ verstandene „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ (V 545) mit der in der „teleologia rationis humanae“ zutage tretenden „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ vereint. Es entspricht recht genau dem angezeigten zweifachen Sinn der „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“, dass sich Kants bemerkenswerte Charakterisierung des „Naturzwecks“ „als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“ (V 486) auch auf die Verfassung der „praktischen Vernunft“ als „Vermögen der Zwecke“ und das darin begründete „System der Zwecke“ bezieht; insofern charakterisiert dieser Bezug auf ein „organisiertes und [!] sich selbst organisierendes Wesen“ im Blick auf den Menschen ebenso die in seiner Weltstellung zu bedenkende zweifache „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“. Die Existenz des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ nach der „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“, erweist sich jedenfalls für eine fundamentalphilosophisch orientierte Reflexion demnach als der ausgezeichnete Ort im Ganzen der Wirklichkeit, worin die genannten teleologischen Bestimmungen: „objektiver Naturzweck“, „letzter Zweck“ und „Endzweck der Natur“, der „Endzweck der Schöpfung“ („Endzweck aller Dinge“),106 der darin verankerte „praktische Endzweck“ und die an der Vernunftidee der „individuellen Totalität“ maß-nehmende schlechthin „individualisierte Existenz“ unterschieden werden müssen – und zugleich als solche Momente der umgreifenden Vernunftidee des „Reichs der Zwecke“ erst ein „Ganzes aller Zwecke“ systematisch in gestufter Form zur Entfaltung bringen können. Daran ist freilich die Aufgabe geknüpft, diese zwar notwendigerweise zu
106 Von den auch systematisch höchst bedeutsamen Aspekten der „ästhetischen Zweckmäßigkeit“ wird hier abgesehen; zum Zusammenhang von Moralphilosophie und Ästhetik sowie den vielfältigen Bezügen der kantischen Ästhetik zur Hoffnungsfrage s. die Analysen v. Recki 2001; dazu auch Dörflinger 1988.
72 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre explizierenden Momente dennoch nicht einfachhin auseinanderfallen zu lassen bzw. sich nicht mit einem unvermittelten Nebeneinander derselben zu begnügen. Es sollte aus den voranstehenden Überlegungen vor allem deutlich geworden sein, dass die darin maßgebende Perspektive in den umgreifenderen systematischen Rahmen eingebunden bzw. darauf rückverwiesen bleibt und nur solche gebotene Rücksicht auch Missverständnisse zu vermeiden vermag. Die systematische Explikation des „Endzwecks der Metaphysik“, vom „Sinnlichen zum Übersinnlichen fortzuschreiten“, hat, wie zu zeigen versucht wurde, erst beim späten Kant in der vollendeten Idee der „moralischen Teleologie“ ihr Ziel und ihren Abschluss gefunden. 1.3.2. Die in der Idee des „höchsten (abgeleiteten) Gutes“ symbolisierte Einheit von „Natur und Freiheit“ Vor diesem Hintergrund liegt überdies eine andere Überlegung nahe: Bezüglich jener in der „Existenz“ des Menschen vereinten „Doppelnatur“ bleibt in systematisch-fundamentalphilosophischer Hinsicht (auch gegenüber problemnivellierenden Missverständnissen) darauf zu achten, dass das in der Idee des „höchsten Gutes“ aufgehobene Moment der „Glückseligkeit“ (der „Natur“) ebenso als der nicht nivellierbare Platzhalter der naturhaft-leiblichen – d. h. sich in seinem Dasein als lebendiger „Naturzweck“ „doch nicht selbst gleichsam schaffenden“ – Individualität dieses „vernünftigen Weltwesens“ fungiert, der sich nicht verflüchtigen darf.107 Eingerückt in diesen fundamentalphilosophischen Problemkontext erscheint natürlich erst recht die Auskunft Kants in einem besonderen Licht, wonach die menschliche „Vernunft [!] … einen nicht abzulehnenden Auftrag“ habe, „von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses, und, wo möglich, auch eines zukünftigen Lebens, zu machen“ (IV 179),108 zumal sich solche Rücksicht jedenfalls nicht in einem bloß „moral-anthropologischen Sinne“ erschöpfen kann. In einer anderen Hinsicht bestätigt dies lediglich Kants ausdrücklichen Standpunkt, dass die „Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit … darum nicht sofort Entgegensetzung beider“ bedeute (IV 217), d. h. „die reine praktische Vernunft“ auch nicht wolle, „man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben“ (ebd.). 107 Es ist hier nicht zu verfolgen, ob bzw. wie weit Schellings spätes Motiv der „Essentifikation“ (ebenso natürlich seine späte Bezugnahme auf den „persönlichen Gott“) auch als Einspruch gegen die mit Fichte einsetzenden Tendenzen zu lesen ist, um im Ausgang von Kants Moraltheologie über die Begründung „unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ jenen (von D. Henrich so meisterhaft nachgezeichneten) Tendenzen zu einem „Leitgedanken der nachkantischen Philosophie“ wiederum entgegenzutreten, nämlich von einem „all-einigen Prozeß …, in dessen Begriff die einzelnen in ihrer Einzelheit und auch in ihrer Selbstständigkeit einbegriffen sind“ (Henrich 2004 II, 1519). Siehe dazu die diesbezüglichen Überlegungen u. IV., 3.4.1. u. 3.4.2. 108 In der Tat: „Alles kommt aber darauf an, ob die Eudämonie und ihre Erfahrung in der Krisis der Exis tenzfrage steht oder ob sie die Glücks- oder Lusterfahrung als solche, in irgendeiner zufällig bevorzugten inhaltlichen Erfüllung, bezeichnet. Kants Kritik wendet sich gegen einen Eudämonismus, der die Existenz am ‚Glück‘ als solchem sich orientieren läßt“ (H. Barth 1965, 416).
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Jener „nicht abzulehnende Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit“ zielt in diesem religionsphilosophischen Kontext eben auf jene von der „Beschaffenheit, in der er wirklich ist“, unabtrennbare „Platzhalter“-Funktion der „Leiblichkeit“. Die auch in diesen religionsphilosophischen Kontext zu integrierende „Doppelnatur“ des Menschen ist wohl auch in seiner Kennzeichnung als „Zweck an sich selbst“ angesprochen, weil dies doch gleichermaßen auf dessen Bestimmung als „Naturwesen“ („innerer Naturzweck“) und als „Ich“ (als „Subjekt der Zwecke“), d. h. auf die untrennbare Einheit beider Momente abzielt, die der Bestimmung des „vernünftigen Weltwesens“ zugrunde liegt; sie ist es, die derart den „Zweck der Natur“ und die „Zwecke der Freiheit“ gemäß jener zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ – d. h. der „ursprünglichen Organisation des Organischen“ und des „Systems der Freiheit“ und deren „Zwecke“ – in sich vereint und dergestalt auch als „Kreatürlichkeit“ charakterisiert werden mag („sofern wir uns zugleich als … Geschöpfe ansehen“: IV 810). Erneut bestätigt sich in einer solchen religionsphilosophischen Akzentuierung: Es ist diese in der „Existenz“ des Menschen als „Zweck an sich selbst“ gedachte Einheit, die auf die Frage führt, wie für dieses „Naturwesen, das als Freiheitswesen existiert“, das „höchste Gut“ (als das „vollständige Wohl: IV 254, Anm.) angemessen bestimmt werden kann, d. h. dessen Möglichkeit als denkbar auszuweisen und darauf „begründet [zu] hoffen“ ist. Zudem mag eine solche fundamentalphilosophische „Übersetzung“ bzw. Fundierung wesentlicher Grundlagen der Postulatenlehre auch den Blick dafür schärfen, dass in dem vorgenommenen Bezug auf die „Natürlichkeit“ („Leiblichkeit“) eine nicht zu nivellierende Dimension der „Konkretisierung der Transzendentalität“ angezeigt ist, die es auch nicht erlaubt, das Thema „Leiblichkeit“ in diesem Kontext auf den Aspekt eines „Werkzeugs („Materials“) der Pflichterfüllung“ zu reduzieren. Auch daraus wird deutlich, dass die Frage nach dem als Endzweck existierenden „Zweck an sich selbst“ und nach dem „Endzweck der Schöpfung“ eng miteinander verbunden sind. In Anknüpfung an jene fundamentaltheologischen Perspektiven (zum Thema „Natur und Freiheit“ bzw. zu jener Einheit der zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“) mag nun auch plausibel werden, weshalb gegenüber dieser an der Frage „Was ist der Mensch?“ orientierten Perspektive auch jene von Kant verschiedentlich angezeigten „handlungstheoretischen“ Aspekte allesamt von vergleichsweise untergeordneter Bedeutung sind109 – so z. B. auch dies, dass wir „der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur, … gar nicht entbehren können“ (V 651), obgleich, was zuletzt den Erfolg („Effekt“) desselben betrifft, beide unweigerlich „auseinanderklaffen“. Gegenüber solchen, offenbar lediglich auf die praktische Realisierbarkeit der moralischen Freiheit in der natürlichen Welt abzielenden Aspekten erweist sich der beim späten Kant in den Vordergrund tretende Bezug auf die Einheit von „Natur und Freiheit“ (als die von ihm so bezeichneten „beiden Türangeln der Philosophie“) in 109 Darin ist es, allgemein formuliert, doch lediglich darum zu tun, wie menschliches Handeln, das als „Erscheinung“ zwar selbst „weltimmanent“ ist, als ein „Bewirkendes in der Welt“ gedacht werden kann, zumal dieses Handeln eben selbst nicht nur ein Geschehensablauf ist, damit also immer schon „vermittelt“ ist, ohne darin „aufzugehen“.
74 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre diesem engeren thematischen Umfeld als besonders aufschlussreich: Solche Einheit beschränkt sich keinesfalls etwa darauf, dass diese Zusammenstimmung in differenzierter Weise (also in Einbeziehung der „inneren Zweckmäßigkeit“, und nicht allein im Sinn der „Naturkausalität“ und der „Kausalität aus Freiheit“) auch in der Einheit des „homo phaenomenon“ und des „homo noumenon“ in allem menschlichen Handeln vorausgesetzt ist,110 sofern „der Freiheitsbegriff … den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen“ soll (V 247).111 Auch die nach Kant gebotene Rücksicht darauf, dass diese „unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen“, in allem zweckorientierten Handeln als konkreter Einheit der „Nomothetik der Natur und derjenigen der Freiheit“ immer schon – gewissermaßen in einer Art „moralisch-praktischen“ „ursprünglichen Glaubens“112 – überwunden ist, kann diese angezeigte Problemperspektive nicht übersehen lassen bzw. erübrigen. Ausgehend von der in der Weltstellung dieses „vernünftigen Weltwesens“, d. h. der „Beschaffenheit, mit der e(s) wirklich ist“, immer schon konkreten „Zweieinheit“ der „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ gewinnt mithin auch jener schon angeführte Hinweis Kants eine unübersehbare fundamentalanthropologische Vertiefung, wonach es „der Moral nicht gleichgültig sein“ könne, „ob sie sich den Begriff von einem Endzweck aller Dinge … mache oder nicht; weil dadurch allein der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können, objektive Realität verschafft werden kann“ (IV 651). Nicht zu „entbehren“ ist diese Verbindung deshalb, weil sie die „Beschaffenheit“ des „vernünftigen Weltwesens“ konstituiert und auch die Frage nach dem „ganzen Endzweck“ darin fundiert ist. In solchem 110 Für diese in allem absicht-geleiteten „Handeln“ nach Zwecken vorausgesetze Affinität von „Natur und Freiheit“ erweisen sich Momente bzw. Formen des „inneren Zeitbewußtseins“ (nicht zuletzt Zukunftsbezug und d. h. Vorwegnahme) als konstitutiv, die wesentliche Modifikationen im Handlungsbegriff bei Kant unumgänglich machen, ohne die sodann auch das „Ganze einer moralischen Lebensgeschichte“ nicht zu denken ist, ebensowenig der performative Ausgriff auf das „Ganze“ der moralischen Willensbestimmung, die der praktischen Orientierung am „Ich-Ideal“ zugrunde liegt. Schon die von Kant als selbstverständlich vorausgesetzte Rücksicht auf die Zwecksetzungen bzw. den Erfolg („Effekt“) der Handlungen und der daraus ermöglichte lern- bzw. besserungs-orientierte Rückbezug auf künftiges Handeln macht dies erforderlich und sprengt jedenfalls den in Kants „dritter Antinomie“ maßgebenden Handlungsbegriff; seine Konzeption einer „Kausalität aus“ bzw. „durch“ „Freiheit erfordert hier offenbar wichtige „handlungstheoretische“ Korrekturen, ohne die auch die ganz selbstverständlich bestimmende „Erste-Person-Perspektive“ nicht zu fundieren ist; vgl. zu der damit zusammenhängenden kantischen Lehre vom „intelligiblen“ und „empirischen Charakter“ auch H.-D. Klein 2006. 111 Dieser im Blick auf die Weltstellung jenes „Naturwesens, das als Freiheitswesen existiert“, wichtige (obgleich handlungs-orientierte) Passus lautet: „Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so dass von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluss haben kann: so soll doch diese auf jene einen Einfluss haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muss folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme“ (V 247). 112 Vgl. dazu die denkwürdige Anmerkung III 385 ff, bes. 387.
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systematischen Fundierungszusammenhang wird die fundamentalphilosophische Verankerung der Ethikotheologie besonders deutlich, die im Blick auf die Frage „Was ist der Mensch?“ jene „Glückseligkeits“-Thematik – und die gewissermaßen nur auf den „Weltbegriff der Philosophie“ konzentrierten Aspekte – der Postulatenlehre insofern schon als daraus „abgeleitete“ Problemstellungen erscheinen lässt. Problemgeschichtlich verweist dies in vielerlei Bezügen (auch im Sinne der in den „Weltbegriff der Philosophie“ übersetzten Idee des „Reichs der Zwecke“, der Idee der „moralischen Welt“) – obgleich „kritizistisch gebrochen“ – auf Leibniz. Eine Folgerung daraus ist dies: Bleiben die ethikotheologischen Kernthemen (im engeren Sinne) auch in einer solchen Hinsicht an die systematischen Leitideen der „dritten Kritik“ zurückverwiesen, so kann sich das Bedenken der für die Weltstellung des Menschen maßgebenden Einheit von „Natur und Freiheit“ freilich nicht einfachhin in der Perspektive der proportionierten Einheit von „Moralität und Glückseligkeit“ erschöpfen. Diese in der Ethikotheologie vorgenommene Begründung lässt zweifellos einen fundamentalphilosophischen Problemüberhang erkennen, der über jene bloße Vorstellung einer Einheit von „Tugend und Glückseligkeit“ offensichtlich hinausweist und auch in der hier intendierten „existenzialanthropologischen“ Transformation der „moralischen Teleologie“ nicht ausgeblendet werden darf; sie muss gleichermaßen in der „Postulatenlehre“ der „Dialektik der praktischen Vernunft“ mitbedacht werden, der zufolge „in dem Begriff des höchsten Guts, als dem eines Ganzen … die größte Glückseligkeit mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkommenheit, als in der genauesten Proportion verbunden vorgestellt“ wird (IV 261). Demnach muss die in der „Dialektik der praktischen Vernunft“ verhandelte Thematik der Einheit von „Tugend und Glückseligkeit“ – d. h. die der Idee des „höchsten Gutes“ zugrunde liegende Einheit von „moralischer Vernunftbestimmung“ und „natürlichem Glücksverlangen“ – und die so verortete Hoffnungsthematik auf jene angezeigten fundamentalphilosophischen Dimensionen der Ethikotheologie hin transparent bleiben, welche noch in seiner „dritten Kritik“, einer inneren Sachlogik entsprechend, dem Leitfaden der Frage „Was ist der Mensch?“ folgt und erst dergestalt genauer besehen die Idee des „Reichs der Zwecke“ hinreichend zu differenzieren vermag.113 Schon jener unumgängliche Bezug auf die in der Weltstellung des Menschen vereinte zweifache „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ sollte verdeutlichen, dass diese fundamentalphilosophisch akzentuierte Einheit auch jener zwiefachen Erfahrung des „bestirnten Himmels über mir“ und des „moralischen Gesetzes in mir“ zugrunde liegt, die, so Kants denkwürdige Wendung, „ich vor mir“ sehe und „sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ verknüpfe (IV 300). Schon dieser berühmte „Beschluss“ der „zweiten Kritik“ ist so, wie sich zeigen soll, auch als ein Problemverweis auf das fundamentalphilosophische Fundament der Ethikotheologie zu lesen.114 113 Dieser Hinweis auf eine in der „dritten Kritik“ Kants erkennbare fundamentalphilosophische Problemvertiefung setzt den Akzent doch anders als die Bemerkung Weils (2002, 92): „Neu ist in der KdU, dass sie die bis dahin getrennten Welten der Tatsache und des Sinns vereinen soll.“ 114 Die Abgrenzung wäre wohl naheliegend: Bekanntlich hat Kant die Grundfigur des „kosmologischen Gottesbeweises“ zunächst dahingehend erläutert: „Wenn etwas existiert, so muss auch ein schlechterdingsnotwendiges Wesen existieren. Nun existiere, zum mindesten, ich selbst: also existiert ein absolut-
76 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Derart wird die für eine hinreichend differenzierte Beantwortung der Frage „Was ist der Mensch?“ unumgängliche fundamentalphilosophische Problemverortung sichtbar, die auch für eine zureichende Verankerung der Ethikotheologie unverzichtbar ist: Ist ohne jene von Leibniz aufgenommene, „sehr fruchtbare“ Vernunftidee des „Reichs der Zwecke“ und deren Grund auf den „Endzweck der Vernunft“ gar nicht „begründet zu hoffen“, dann erhält die in einer solchen teleologischen Sinnperspektive („was sein soll“) konzipierte „Zusammenstimmung“ von „Natur und Freiheit“ einen besonderen systematischen Status. Dies gilt nicht zuletzt auch in dem schon angezeigten Sinn, dass darin eine bloß „handlungstheoretische“ Perspektive (d. h. die Rücksicht auf die in allem am „praktischen Endzweck“ orientierten Handeln, und zwar um seiner praktischen Sinnhaftigkeit willen) schon vorausgesetzte Affinität von „Natur und Freiheit“ – noch überholt bzw. in systematischer Absicht vertieft wird. Ihre von Kant betonte „unentbehrliche Verbindung“ erscheint im Blick auf die „ganze Bestimmung des Menschen“ vor diesem fundamentalphilosophischen Hintergrund in einem besonderen Licht. Dass auch die Differenz und die intendierte Einheit von „oberstem“ und „vollendetem Gut“ auf dieses fundamentalphilosophische Fundament der Postulatenlehre hin transparent bleiben muss, ist auch in seinem Hinweis darauf enthalten, dass „Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person … ausmachen“ (IV 238 f ). Erst recht ist es diese Wendung, die sich, näher betrachtet, wie eine „symbolische Darstellung“ jener fundamentalphilosophisch zu bedenkenden Einheit von „Natur und Freiheit“115 bzw. jener zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ ausnimmt; sie lässt die vorgestellte „Einheit“, „Übereinstimmung“, Proportioniertheit von „Glückswürdigkeit und Glückseligkeit“ in der Tat selbst schon als eine Art „ästhetische Darstellung“ jener „Vernunft idee“ im Sinne des „Weltbegriffs der Philosophie“ verstehen. In diesem Sinne wäre dann auch Kants Hinweis zu verstehen, „dass Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei spezifisch ganz verschiedene Elemente des höchsten Guts sind“ (IV 241).116 notwendiges Wesen“ (II 537). Nicht die von Kant geltend gemachte Unmöglichkeit dieses „kosmologischen Beweises“ ist jedoch hier von Interesse, sondern vielmehr dies, dass er in jenem Beschluss der „zweiten Kritik“ auf diese „unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ verknüpfte zweifache Erfahrung verweist: Ein nunmehr freilich gewandelter „Existenz“-Sinn, der so nach Kant zum Ausgang für einen freilich ganz anderen „Überschritt zum Übersinnlichen“ wird und der, in dieser hier verfolgten „existenzialanthropologischen“ Akzentuierung, zuletzt in Kants Bestimmung des „Postulates der reinen praktischen Vernunft“ zum Abschluss kommt. Diese „unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ verbundene „zweifache Erfahrung“ im „Beschluss“ knüpft in konkretisierender und „individuierender“ Absicht an jenes „doppelte Bewusstsein dieses Ich“ (als „Erscheinung von sich selbst“ und als „Wesen an sich selbst“) an, von dem auch in der langen Anmerkung der kantischen „Anthropologie“ in aufschlussreicher Weise die Rede ist (VI 425 ff ). 115 Von dieser im „höchsten Gut“ symbolisch vorgestellten Einheit von „Natur und Freiheit“ ist jene Einheit von „Natur und Freiheit“ zu unterscheiden, die Kant in der Einheit von „Achtung und Liebe“ denkt und als das anzustrebende Ideal anerkennt, „alle moralischen Gesetze völlig gerne zu tun“ (IV 206) – ein Motiv, das bekanntlich für Kants Antwort an Schiller und dessen Idee eines nicht nur „eigentlichen Selbst“, sondern des von ihm sogenannten „höheren Selbst“ bedeutsam bleibt. 116 Diese fundamentalphilosophische Perspektive wird freilich durch missverständliche Äußerungen wie der folgenden wiederum eher verstellt: „In diesem Endzwecke ist die Möglichkeit des einen Teils, nämlich der Glückseligkeit, empirisch bedingt, d. i. von der Beschaffenheit der Natur (ob sie zu diesem Zwecke übereinstimme oder nicht) abhängig, und in theoretischer Rücksicht problematisch; indes der andere
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Daraus folgt: Der maßgebende Übereinstimmungs- und Proportions-Aspekt (der von Kant so bezeichneten beiden „Elemente des höchsten Gutes“: IV 241) wird vor solchem Problemhintergrund einerseits selbst schon als „symbolische Vorstellungsart“ des grundlegenden fundamentalphilosophischen Problems von „Natur und Freiheit“ begreiflich – andererseits bleibt die „Schutzwehr“-Funktion dieses „Proportions“-Motivs gegenüber allen „eudämonistischen“ Abspannungen der Idee des „höchsten Gutes“ zu beachten, die der späte Kant in dem Verweis auf die „Vereinigung und Zusammenstimmung“ von „Moralität und Glückseligkeit“ (VI 132) ausdrücklich betont, ohne dass dies jedoch eine schiefe Vorstellung einer „Glückswürdigkeit“ begünstigen darf. Der in diesem Sinne akzentuierte unauflösliche Zusammenhang der (über das moralische „Sollen“ vermittelten) Fragen „Was darf ich hoffen?“ und „Was ist der Mensch?“ lässt sonach jene im „höchsten Gut“ vorgestellte Einheit („Proportioniertheit“) von „Tugend und Glückseligkeit“ wiederum als eine bloß „abkünftige“ Sichtweise – vielleicht als eine Art „populäre und weniger abstrakte Form“117 – erscheinen; sie lässt auch die darin vorgestellte „Harmonie der Naturgesetze mit denen der Freiheit“ (IV 279) als ein lediglich abgeleitetes Thema gelten, das jedenfalls, für sich genommen, an jene erwähnte fundamentalphilosophische Problemdimension von „Natur und Freiheit“ noch nicht heranreicht. Zugleich bestätigt sich aber auch: So sehr in einer metaphysisch-systematischen Hinsicht die Einheit von „physischer und moralischer Teleologie“ als eine systematische Tieferlegung zu würdigen ist, so sehr liegt es umgekehrt wiederum nahe, auch die in der Postulatenlehre im engeren Sinne vorgelegte Konzeption des „höchsten Gutes“ von der „dritten Kritik“ her zu lesen – d. h. das „höchste Gut“ auch in diesem Sinne als ein aus diesen systematischen Perspektiven „abgeleitetes“ Konzept zu verstehen.118 Teil, nämlich die Sittlichkeit, in Ansehung deren wir von der Naturmitwirkung frei sind, seiner Möglichkeit nach a priori fest steht und dogmatisch gewiß ist“ (V 581). 117 Als eine solche hat der junge Hegel die kantische Einheit von „Glückseligkeit und Moralität“ bestimmt (Hegel 2, 406); mit dieser Vorstellung, „dass Moralität und Glückseligkeit harmonieren“, habe Kant den spekulativen Gedanken lediglich in eine „humane Form umgegossen“ (ebd. 331). – Bei gebührender Beachtung der in der Idee des „höchsten Gutes“ (auch) symbolisierten Einheit von „Natur und Freiheit“ (im Sinne jener „zweifachen Zweckmäßigkeit“) hätte sich wohl auch Kants erstaunliches Urteil mildern bzw. korrigieren lassen: „Unter der letztern Voraussetzung (der des Spiritualismus) aber kann die Vernunft weder ein Interesse dabei finden, einen Körper, der so geläutert er auch sein mag, doch (wenn die Persönlichkeit auf der Identität desselben beruht) immer aus demselben Stoffe, der die Basis seiner Organisation ausmacht, bestehen muss, und den er selbst im Leben nie recht lieb gewonnen hat, in Ewigkeit mit zu schleppen, noch kann sie es sich begreiflich machen, was diese Kalkerde, woraus er besteht, im Himmel, d. i. in einer andern Weltgegend soll, wo vermutlich andere Materien die Bedingung des Daseins und der Erhaltung lebender Wesen ausmachen möchten“ (IV 794 Anm., siehe AA 28.2,1, 769). Darauf ist das Motiv der „Leiblichkeit“ (mit Blick auf die „Beschaffenheit“ des „ganzen“ Menschen) gewiss nicht zu reduzieren; andernfalls gerät freilich das Motiv des „Eingedenkens der Natur im Subjekt“ aus dem Blick, das auch in der Idee des „höchsten Gutes“ des „vernünftigen Weltwesens“ angezeigt ist. Vgl. dazu o. IV. 61, Anm. 87. 118 So gesehen ist es tatsächlich nicht zufällig, dass sich „im Rahmen seiner Postulatenlehre mit den Themen von Freiheit und Unsterblichkeit bei Kant auch die Frage nach Gott, der dritten (absoluten) Substanz bei Descartes, verbindet“ (Heintel 1984 II, 298). Kants Postulatenlehre lässt sich so zweifellos auch in der Perspektive betrachten, die E. Heintel wohl mit Recht auf das große fundamentalphilosophische Problem der Versöhnung von „Transzendentalismus (Philosophie der Freiheit)“ und „Aristotelismus“ (einem sich an dem traditionellen ontologischen Wesensbegriff orientierenden Denken) bezogen hat und bei Kant selbst auf die notwendig zu denkende Einheit von „physischer“ und „moralischer Teleologie“ verweist.
78 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Die kantische Bezugnahme auf die Einheit des „Reichs der Natur“ und des „Reichs der Gnaden“ bzw. auf die „Vereinigung des Reichs der Natur“ mit dem „Reich der Sitten“ in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ – worin „Natur und Sitten in eine jeder von beiden für sich selbst fremde Harmonie durch einen heiligen Urheber kommen, der das abgeleitete Gut möglich macht“ (IV 260)119 – findet erst dergestalt eine auch fundamentalphilosophischen Ansprüchen genügende Einlösung. So unübersehbar es tatsächlich ist, dass „Kant den Hauptbegriff seiner Metaphysik, den Begriff des höchsten Gutes, in Leibniz’ Lehre von der Harmonie vorgebildet“ sah,120 so sehr muss dies jedoch auch in dem bestimmten Sinne verstanden werden, dass damit zugleich dessen unverzichtbare fundamentalphilosophische Fundierung ins Blickfeld rückt. Daraus folgt dies: Ist das „höchste abgeleitete Gut“ in seinen „Komponenten“ („Bestandstücken“, wie Kant, wohl irreführenderweise, bisweilen sagt: IV 258) – d. h. Glückseligkeit in „Vereinigung“, „Zusammenstimmung“, „genauer Übereinstimmung“, „Ebenmaß“ u. Ä. mit Glückswürdigkeit – also selbst schon als „symbolische Darstellung“ einer „Vernunftidee“ zu denken, so ist in entsprechender Weise das „Ideal des höchsten ursprünglichen Guts“ demzufolge als Symbol des andernfalls „gänzlich leer“ bleibenden Begriffs des „metaphysischen Gottes“ (III 643) anzusehen – und demgemäß näherhin als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (III 636), zu bestimmen. Erst aus jener Selbstverständigung des Menschen über sich selbst und seine Weltstellung („nach der Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“), kann solche Bestimmbarkeit des andernfalls „leeren Begriffs“ eines „metaphysischen Gottes“ resultieren. In diesem Kontext bestätigt sich erneut jener schon im thematischen Zusammenhang des „symbolischen Anthropomorphismus“ erwähnte Sachverhalt: Das in einer fundamentalphilosophisch-systematischen Hinsicht noch präzisierte Verständnis dieser „Vernunft idee“ – d. i. die vernunftnotwendige „Einheit des Übersinnlichen“ als des „intelligiblen Substrats der Natur und desjenigen des Freiheitsbegriffes“ bzw. als „Beziehungspunkt aller Zwecke“ (IV 651) – hätte nach solcher Lesart in dieser Bestimmung des „Ideals des höchsten [ursprünglichen] Gutes“ selbst schon eine „symbolische Darstellung“ gefunden. Ebenso sei noch einmal darauf hingewiesen, dass einer kritischen Metaphysik zufolge, die ja als „Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft“ (II 708) gelten soll, dieser „metaphysische Gott“ selbst nur als „Gegenstand in der Idee“ gedacht werden kann – mit der Konsequenz, dass jenes „Ideal des höchsten ursprünglichen Guts“ bzw. die Bestimmung Gottes als „moralischer Welturheber“ (d. i. als „moralische Intelligenz“:
119 Die schon erwähnte Nähe zu Leibnizens Motiv der „Harmonie … zwischen dem physischen Bereiche der Natur und dem moralischen Bereiche der Gnade …“ (Leibniz, Monadologie Nr. 87), ist natürlich auch hier nicht zu übersehen; sie weckt Erinnerungen an die sowohl auf die Natur als auch die Freiheit zu beziehende und sich darin differenzierende „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“; vgl. die ausdrückliche – Leibnizens Motive in transformierter Gestalt (auch bezüglich der „moralischen Teleologie“) aufnehmende – Bezugnahme in der späten „Preisschrift“: III 646. In Refl. 6214 (AA XVIII, 501) unterscheidet Kant die „Welt als ein Reich der Natur, 2. der Zwecke. 3. der Gnaden“, wobei Letzteres hier offenbar schon die Einheit der beiden anderen thematisiert. Kants terminologische Kennzeichnung dieser „Reiche“ ist hier nicht einheitlich. 120 Wundt 1924, 394.
1. Die fundamentalphilosophische Verankerung der Postulatenlehre
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V 571) genauer besehen selbst schon als Symbolisierung jenes „Gegenstands in der Idee“ zu verstehen wäre. Derart hat auch jenes „Ideal des höchsten Gutes“ eine diesem verschiedenen Vernunftgebrauch entsprechende notwendige Differenzierung erfahren, die so auch erst einer systematischen Vertiefung der leitenden ethikotheologischen Perspektiven genügt. Die damit verbundene Wandlung des Sinngehalts der kantischen Bestimmung des „höchsten abgeleiteten Gutes“ als des „praktischen Endzwecks der Schöpfung“ (des Menschen, der eben allein durch seine besondere Weltstellung selbst der in der Welt existierende „Endzweck der Schöpfung“ ist) führt so – gemäß der in diesem „vernünftigen Weltwesen“ vereinten zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“121 und in Anknüpfung an jene differenzierte Idee des „Reichs der Zwecke“ – auf die weitere Frage, wie denn die Einheit der beiden ganz verschiedenen „Gesetzgebungen“ von „Freiheit und Natur“ in einer die Einheit von „Sinn“, Güte“ und Macht“ gewährleistenden „absoluten Instanz“122 (und einer darin sich manifestierenden „Verinwendigung der Gottesidee“)123 als möglich gedacht werden kann. Letztere wäre näherhin als „ratio essendi“ jenes „Endzwecks der Schöpfung“ auszuweisen, der wiederum „ratio essendi“ des „praktischen Endzwecks“ ist.124 Weil ohnehin Weisheit „in strikter Bedeutung nur Gott beigelegt werden kann und ein solches Wesen zugleich mit aller Macht begabt sein muß“,125 der als solches jenen „besondern Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ des Menschen markiert, genügt auch dies erst dem „theoretischen“ wie auch „praktischen Vernunftbedürfnis“ und kann so im „Zusammenschluss“ derselben als „Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält“ (V 248; vgl. V 461), bestimmt werden.126 121 Dieser zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ entspricht es unübersehbar, dass sowohl die im „moralischen Gesetz“ offenbar gewordene „Freiheit“ als auch der jener Erfahrung des „Organischen“ verdankte Begriff des „inneren Naturzwecks“ für das Denken, freilich auf unterschiedliche Weise, eine „ganz andere Ordnung der Dinge“ anzeigen, die gleichwohl zuletzt auf einen zu bedenkenden Einheitsgrund derselben verweist – ein Problemhintergrund, der besonders in den Einleitungen zur Kritik der Urteilskraft maßgebend ist. Erst im Sinne der in der Weltstellung des Menschen zu denkenden Einheit dieser „zweifachen sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ ist also die Einheit von Natur und Freiheit („Empirischem und Intelligiblem“) zureichend thematisiert. 122 Von diesen Gott beigelegten „verschiedenen Eigenschaften“ bleiben indes noch diejenigen unterschieden, durch die Gott erst im strengen Sinne „ein Gegenstand der Religion wird“ (vgl. IV 263 Anm.). 123 Damit charakterisiert K. Müller (2005, 147f ) die „Verinnerlichung“ des „Verhältnisses von Gott und Mensch“ in Kants Ethikotheologie. 124 Dass der „Endzweck … bloß ein Begriff unserer praktischen Vernunft“ sei (V 582), darf sodann auch in der zweifachen Hinsicht aufgenommen werden, dass dieser „Endzweck“ als „Endzweck der Schöpfung“ als „ratio essendi“ des „praktischen Endzwecks“ gedacht werden muss, während letzterer allein als unentbehrliche „ratio cognoscendi“ des Erstgenannten fungiert. 125 AA XXI, 149. 126 Auch hier bestätigt sich noch einmal besonders deutlich, dass die in Kants Idee eines „Reichs der Zwecke“ gedachte Einheit des „Reichs der Natur“ und des „Reichs der Gnaden“ und die darin explizierte Idee seiner „Ethikotheologie“ zu lesen ist als die durch den Kritizismus gebrochene – und im Sinne der Idee der „moralischen Teleologie“ korrigierte! – Gestalt jenes schon erwähnten Leibniz’schen Motivs einer „Harmonie“ „zwischen dem physischen Bereiche der Natur und dem moralischen der Gnade, d. h. zwischen Gott, dem Baumeister der Weltmaschine, und dem Gott, dem Monarchen des Geister-Staats“
80 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Den angeführten Äußerungen Kants zufolge wird die gestufte „Zwecke“-Begründung deutlich: Der „praktische Endzweck“ des Menschen (das „höchste Gut“) – der freilich nicht mit der „eigenen Glückseligkeit“ (als dem bloß „subjektiven Endzweck“) verwechselt werden darf127 – verweist selbst, wie schon dargelegt, auf den „Endzweck der Schöpfung“ als dessen Ermöglichungsgrund, weil erst dieser die „unumgängliche und zugleich zureichende Bedingung aller übrigen enthält“ (vgl. IV 653, Anm.). Indes, dieser zu jenem „praktisch-moralischen Endzweck“ des Menschen (der „existierender Endzweck der Schöpfung“ ist!) notwendigerweise affine „unbedingte Zweck“ ist selbst als in dem Willen eines „machthabenden moralischen Gesetzgebers“ – „dass eine Welt überhaupt existiere“ – verankert, d. h. zureichend begründet. Während also der Aufweis der Weltstellung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ und der dadurch legitimierte „praktische Endzweck“ hier offensichtlich als „ratio cognoscendi“ des „Endzwecks der Schöpfung“ und dessen Ermöglichungsgrundes fungiert – denn nur so „wird Gott Gegenstand der Religion“ –, wird dieser nunmehr als „ratio essendi“ jenes „praktischen Endzwecks“ thematisch. Abschließend sei diesbezüglich nochmals betont: Die voranstehend unternommene fundamentalphilosophische Verankerung bzw. Rückbindung der Idee des „höchsten Gutes“ als „Endzweck der praktischen Vernunft“ erweist sich nicht zuletzt deshalb als unverzichtbar, weil nur so diese Rücksicht auf das „höchste Gut“ der Weltstellung des Menschen als des existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ und seiner „ganzen Bestimmung“ nicht bloß „äußerlich“ bleibt. Demzufolge wäre die – selbst im Sinne der zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ zu verstehende – Wirklichkeit der „Existenz“ des „vernunftbegabten Erdwesens“ (VI 399) wiederum als die reale „copula“ all dieser Momente zu begreifen, die derart seine Weltstellung als „copula von Endlichem und Unendlichem“ (s. o. I., Anm. 131) erst in zureichender Weise zu differenzieren erlaubt. Überdies zeigt sich angesichts der so ausgezeichneten Weltstellung des Menschen als „copula“ – die nach Kant mit dem an einer „Selbstauslegung des Menschen“ orientierten „Weltbegriff der Philosophie“ untrennbar zusammenhängt –, dass und wie die auf die Bestimmung des Menschen abzielende Frage „Was ist der Mensch?“ unauflöslich mit der Gottesthematik verbunden ist – anders freilich, als eine dogmatistische Metaphysik (Leibniz, Monadologie Nr. 87). Sehr deutlich wird dies auch aus der in Leibnizens „Metaphysischer Abhandlung“ ausgesprochenen Forderung: „[M]an muss Gott nicht nur als Prinzip und die Ursache aller Substanzen und aller Wesen, sondern auch als Oberhaupt aller Personen oder intelligenten Substanzen und gleichsam als absoluten Monarchen des vollkommensten Staates oder Gemeinwesens, wie es das aus allen Geistern zusammen gebildete Weltall ist, betrachten, in dem Gott ebenso sehr der vollendetste aller Geister ist, wie er das größte aller Wesen ist“ (Leibniz, Metaphysische Abhandlung, Nr. 35). Mögliche Anknüpfungspunkte an das stoisch-ciceronische Motiv, das „Universum“ als einen „einzige(n), Göttern und Menschen gemeinsame(n) Staat“ zu begreifen, sind hier nicht weiter zu verfolgen. 127 Schon hier sei darauf hingewiesen: Die „eigene Glückseligkeit“ als der „subjektive Endzweck“, den ohnhin jeder Mensch als bedürftiges Wesen erstrebt, bleibt deshalb von jenem „Endzweck“ zu unterscheiden, den er „haben soll“; demgemäß ist jener „subjektive Endzweck“ abzugrenzen von der „subjektiv-praktischen Realität“ der Idee des „Endzwecks“, d. i. der deshalb zu befördernden Verbindung der „allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit“. Allein unter dieser Bedingung ist das „Hoffen-Dürfen“ darauf legitimiert, an diesem Endzweck „teilzuhaben“ –, wobei für diese „subjektivpraktische Realität“ der „Endzweck der Schöpfung“ vorausgesetzt ist.
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in einem „theoretisch-dogmatischen Überschritt“ dies für sich beanspruchen wollte;128 anders aber auch, als eine motivlich enggeführte – d. h. die fundamentalphilosophische Verankerung ausblendende – Postulatenlehre dies zu leisten vermag. Hat sich doch im Blick auf die Weltstellung des Menschen erwiesen, dass und wie in einer solchen fundamentalphilosophischen Vertiefung der Probemstellung die umfassende Frage „Was ist der Mensch?“ in diesen philosophischen Sinnhorizont eingerückt wird. In gewiss verschiedenen Nuancierungen verweisen diese Bestimmungen allesamt auf die Beantwortung jener schon wiederholt angeführten – durchaus kantischen – Frage: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“129 und somit auf die für Kants Gesamtsystematik bedeutsame fundamentalphilosophische Substanz dieser Fragestellungen im Rahmen einer motivlich erweiterten Postulatenlehre. Der Sachverhalt, dass Kants Lehre vom „höchsten Gut“ in wesentlichen Aspekten zweifellos durch seine kritische Auseinandersetzung mit der antiken Ethik (und deren Verständnis als „Weisheitslehre“) inspiriert war bzw. der Kritik an diesen „philosophischen Schulen“ (vorrangig deren Lehre vom „höchsten Gut“) ganz wesentliche Akzente verdankt, darf indes das fundamentalphilosophische Fundament dieser Themen nicht aus den Augen verlieren und somit auch ihre diesbezügliche Verankerung in der Frage: „Was ist der Mensch?“ nicht verdrängen. Die daran geknüpfte Forderung, die ethikotheologische Thematik auf diese grundlegenden Fragen hin transparent werden zu lassen, berührt in der Folge ebenso das Verhältnis von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ zueinander, desgleichen jene entscheidende Begründung des „Primat(s) der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249 ff ). Erst ein solcher Aufweis vermag auch dem „Weltbegriff der Philosophie“ als der „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen [und höchsten] Zwecke der menschlichen Vernunft“ (II 700) sein nicht relativierbares Eigenrecht – genauer: seine von Kant durchaus eingeräumte Vorrangstellung – zu sichern. In diesem Sinne zielten die voranstehenden Überlegungen vor allem darauf ab, dass die aus Kants Auseinandersetzung mit den antiken Glückseligkeitslehren hervorgegangene Begründung der Einheit von „Glückswürdigkeit und proportionierter Glückseligkeit“ jedenfalls auch als eine über die Idee einer „moralischen Teleologie“ konkretisierte analogisch-„symbolische Darstellung“130 der in seiner Leitfrage „Was ist der Mensch?“ grundgelegten philosophischen Leitperspektive verstanden werden darf. Dies mag aber auch bestätigen: So manchen der gegen Kants Postulatenlehre erhobenen Einwände ist 128 Demzufolge musste sich Kant nicht erst ermahnen lassen, es sei zu hoffen, dass er „mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat“ (Moses Mendelssohn 1974, 5). 129 Diese nach-kantische Frage nimmt offensichtlich – auch – die Bemerkung Kants auf, dass der „Freiheitsbegriff … den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen“ soll (V 247). Darauf hat zu Recht Recki (2006a, bes. 58 ff ) hingewiesen; gleichwohl weist jene Frage mit Blick auf das „gelingende Ganze menschlicher Existenz“, d. h. das Ganze einer „moralischen Lebensgeschichte“, über diese handlungsrelevanten Aspekte noch hinaus. 130 Zum Problem der „symbolischen Darstellung“ bzw. zu Kants Analogie-Konzept vgl. Munzel 1991, bes. 291 ff; siehe dazu auch Wimmer 2004a, 347–390; zu den unterschiedlichen Aspekten des kantischen Symbolverständnisses vgl. Bielefeldt 2003; auch Specht 1952 und die ausführliche Thematisierung dieser Fragen bei Maly 2012, die hier allerdings nicht mehr näher berücksichtigt werden konnte.
82 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre vermutlich am besten durch eine Freilegung des fundamentalphilosophischen Hintergrundes der Postulatenlehre zu begegnen, worin die schon erwähnte unzertrennliche Verbundenheit des „System(s) der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit“ begründet ist (II 680) und so erst die Konturen der darin maß-gebenden „Idee der reinen Vernunft“ sichtbar werden können. Dies betrifft vornehmlich den Gehalt und Anspruch der praktischen Vernunftidee des „höchsten abgeleiteten Gutes“ und der darin gedachten „Totalität“, die als der „ganze praktische Endzweck“ des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ und als „Endzweck der Schöpfung“ in dem „höchsten ursprünglichen Gut“ (als „ratio essendi“ desselben) ihre Voraussetzung und als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“, auch schon eine symbolische Konkretisierung gefunden hat. 1.3.3. Anmerkung: Eine Preisgabe der fundamentalphilosophischen Problemperspektive und eine Einebnung des ethikotheologisch begründeten Zusammenhangs von Moral und Religion bei Nachfolgern Kants? Eine noch zu Lebzeiten Kants berühmt gewordene Diskussion vergegenwärtigend sei noch dies angemerkt: Dass mit Rücksicht auf den „ganzen Zweck der praktischen Vernunft“ einer „moralisch konsequenten Denkungsart“ zufolge „Moral unumgänglich zur Religion“ führe, impliziert im Sinne der kantischen These freilich, dass Moral keinesfalls mit Religion einfachhin identifiziert werden darf. Obgleich Kant als das „wesentliche Fundament der Religion“ in der Tat das „Moralisch-Praktische“ ansah, bleibt demgemäß die an dem „obersten Gut“ praktisch orientierte „moralische Denkungsart“ von der moral-transzendierenden Perspektive auf das „höchste (vollendete) Gut“ im Sinne jener „moralisch konsequenten Denkungsart“ ausdrücklich unterschieden. Freilich, im Sinne dieses Fundierungsverhältnisses, jedoch keineswegs im Sinne einer undifferenzierten Gleichsetzung, ist wohl auch jene schon angeführte Auskunft zu verstehen: „Religion ist derjenige Glaube, der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt“ (VI 316) – sofern eben, wie schon erwähnt, die praktische Lebensführung nach moralischen Prinzipien derart im Hinblick auf das „Absolute“ ausgerichtet wird und erst dadurch, d. h. in solchem „Hin-Blick“, Gott ein „Gegenstand der Religion wird“. Offenkundig wurde eine Identifizierung von Moral und Religion jedoch in den unmittelbar auf Kant folgenden, den Atheismus-Streit eröffnenden Konzeptionen (Forbergs und in Fichtes „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“) – und zwar auf sehr folgenreiche Weise – bestimmend: „Moralität und Religion sind absolut [!] Eins; beides ein Ergreifen des Übersinnlichen, das erste durch Tun, das zweite durch Glauben.“131 Demzufolge führt hier nicht „Moral … unumgänglich zur Religion“ 131 So Fichte in seiner „Appellation an das Publikum“ (Fichte V, 209). – Von der alles moralische Wollen leitenden bzw. begleitenden „ursprünglichen Gewissheit“ bzw. der „Ursprünglichkeit des Glaubens“ ist bei Fichte im Rahmen seiner Rechtfertigung gegen den Atheismus-Vorwurf wiederholt die Rede; so heißt es beispielsweise: „Ich glaube, wenn ich es mir auch nicht so deutlich und nicht in dieser begriffsmäßigen Formel denke, an ein Prinzip, zufolge dessen aus jeder pflichtmäßigen Willensbestimmung die Beförderung des Vernunftzweckes im allgemeinen Zusammenhange der Dinge sicher erfolgt. Aber dies
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(wie eben bei Kant, im Sinne des unauflöslichen Zusammenhanges von „moralischer“ und „moralisch konsequenter Denkungsart“), sondern Religion wäre wohl mit Moral schlechthin gleichgesetzt, sofern Erstere schon den Glauben an die Realisierbarkeit des „moralisch Gesollten“ (als des „zu Tuenden“) in sich selbst enthält – denn: „Religion entsteht [!] einzig und allein aus dem Wunsch des guten Herzens, dass das Gute in der Welt die Oberhand über das Böse erhalten möge.“132 Gewiss, hinsichtlich des „Entstehens“ der Religion verhält sich dies auch bei Kant auf solche Weise; dennoch bleibt bei ihm von solchem „Glaube(n) an die Tugend, als dem Prinzip in uns“ (III 632), die „moralisch konsequente Denkungsart“ noch unterschieden, mithin auch der auf die vernünftige Begründung derselben gestützte (gleichwohl darüber hinausweisende) „Vernunftglaube“. Allein auf Letzteren bezieht sich nach Kant die Bestimmung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als Fundament desselben, während der von einem „vernünftigen Weltwesen“ beanspruchte „Vernunftunglaube“ als „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis (Verzichttuung auf Vernunftglauben)“ (III 282) sich hingegen in einen Selbstwiderspruch verstrickt (s. u. IV., 3.1.3.).133 Vermeidet die von Kant geltend Prinzip ist schlechthin unbegreiflich der Art und Weise seines Wirkens nach: doch wird es seinem Vorhandensein nach (auch hier fehlen Sprach- und Begriffsbestimmungen) absolut gesetzt, mit derselben Ursprünglichkeit des Glaubens, wie an die Stimme des Gewissens geglaubt wird. Beides ist nicht eins, aber schlechthin unabtrennlich voneinander“ (Fichte V, 365). (Sachlich vermutlich naheliegende Bezüge auch zu Jacobi sind hier nicht zu verfolgen; vgl. dazu E. Düsing 2000, 19–48). Eine gewisse Nähe dazu verrät bemerkenswerterweise eine Anmerkung des frühen Kant: „Der Atheismus kann in der puren Speculation sein, aber in der praxi kann ein solcher ein Theist oder ein Verehrer Gottes sein; dessen Irrtum erstreckt sich auf die Theologie und nicht auf die Religion“ (so Kant in einer frühen „Vorlesung zur Moralphilosophie“: Stark 2004, 125). 132 Forberg 140. „Ich denke mir die Art und Weise, wie Religion in einem guten Herzen entsteht, ungefähr so: Es ist eine ganz bekannte Sache, dass jeder wünscht, an dem, woran er selbst Interesse nimmt, möchten auch alle andern Menschen außer ihm Interesse nehmen – das, was er für seine Person als wahr und recht erkennt, möchten auch alle anderen Menschen außer ihm als wahr und recht erkennen. Dieser Wunsch ist tief in der menschlichen Natur gegründet, und durch nichts auszurotten. Er geht vielmehr nur zu oft in die heftigste Leidenschaft über. Ohne diesen in dem Innern der menschlichen Natur gegründeten Wunsch müßte es uns völlig gleichgültig sein, ob Andere unserer Meinung beistimmen, oder ob sie sie verwerfen; statt, dass uns dies jetzt keineswegs gleichgültig ist, sondern vielmehr das eine uns inniges Vergnügen, und das andere bitteres Missvergnügen verursacht. Die Idee einer künftigen möglichen Übereinstimmung aller Menschen in allen Urteilen schwebt jedem denkenden Menschen unablässig vor Augen. Jeder wünscht, dass seine Überzeugungen herrschend und allgemeingeltend werden möchten. […] Es ist der Endzweck aller denkenden Menschen, der Endzweck, warum sie einander ihre Gedanken mitteilen, sie gegenseitig bestreiten und berichtigen, jenen Zeitpunkt, so viel in ihren Kräften steht, zu beschleunigen, zu machen, dass das Reich der Wahrheit bald auf Erden erscheine. Alle denkenden Köpfe stehen durch diesen gemeinschaftlichen Endzweck miteinander in einer gewissen Verbindung, in einer gewissen Gesellschaft. Diese Verbindung, in welcher alle denkenden Menschen unwillkürlich und unabsichtlich, und selbst oft ohne zu wissen, stehn, und deren Zweck ist, alle Menschen in allen Urteilen nach und nach übereinstimmend zu machen, … diese Verbindung ist die Republik der Gelehrten, in der die Vernunft das Oberhaupt, und jeder denkende Mensch ein Bürger ist. […] Das Reich der Wahrheit ist indessen ein Ideal. Denn es ist bei der unendlichen Verschiedenheit der Fähigkeiten, in der sich die Natur so sehr gefallen zu haben scheint, niemals zu erwarten, dass je ein Einverständnis aller Menschen in allen Urteilen stattfinden werde“ (ebd. 140 f ). 133 Deshalb hätte Kant Forberg wohl auch die Reduktion des „Vernunftglaubens“ auf den „Glauben an die Tugend“ entgegengehalten, wie dies in Forbergs These zum Ausdruck kommt: „Religion ist nichts anderes, als ein praktischer Glaube an eine moralische Weltregierung“ (Forberg 137), ein Glaube, den For-
84 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre gemachte unauflösliche Einheit von „Moral und Religion“ damit zugleich deren bloßes „Einerlei“,134 so spricht in der Tat einiges dafür, dass Fichtes „Atheismus“-Schriften auch eine Preisgabe der von Kant übernommenen Leibniz’schen Perspektive doch wenigstens begünstigen und überdies auf eine Verkürzung der kantischen Idee der „moralischen Welt“ sowie des Gedankens des „Endzwecks der Schöpfung“ hinauslaufen. Deshalb sei der bei Kant maßgebende gestufte Begründungsgang hier noch einmal kurz vergegenwärtigt, der auch in seinem Hinweis darauf zutage tritt, dass „alles Hoffen … auf Glückseligkeit“ geht: „Geboten“ im Sinne des „unbedingten Sollensanspruchs“ ist „vernünftigen Weltwesen“ das gemäß der praktischen Idee der „moralischen Welt“ praktisch zu befördernde und sodann auch erhoffte „Weltbeste an anderen und uns“ als dasjenige, was „dasein soll“.135 Dass alles „Hoffen … auf Glückseligkeit“ gehe, ist also fürs Erste in der Tat auf dieses praktisch beförderte und insofern stets erhoffte „Weltbeste“ gerichtet, ebenso auf jenes daran geknüpfte, jedoch praktisch uneinholbare „Ganze“ jener „moralischen Welt“, „worin die größte Glückseligkeit mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkommenheit, als in der genauesten Proportion verbunden vorgestellt wird“ (IV 261). Erhofft wird demzufolge der gemäß der Idee der „moralischen Welt“ gedachte „Endzweck der Schöpfung“, weil der Ausfall dieser Sinnperspektive nicht affirmativ gedacht, d. h. auch nicht gewollt werden kann; zuletzt, so hat sich erwiesen, „darf“ der Einzelne, der „Glückseligkeit“ nicht „un-würdig“, ebenso in durchaus „uneigennütziger“ Absicht gleichermaßen darauf hoffen, dass, gemäß der „Ordnung der Zwecke“, in der „allgemeinen Glückseligkeit“ als dem erhofften „Hauptzwecke“ bzw. in der Idee des „Ganzen aller berg sodann als „Pflicht“ geltend gemacht hat. Insofern steht dies durchaus der kantischen Auffassung nahe: „Der Wunsch aller Wohlgesinnten ist also: ‚dass das Reich Gottes komme, dass sein Wille auf Erden geschehe‘; aber was haben sie nun zu veranstalten, damit dieses mit ihnen geschehe?“ (IV 760). 134 Missverständliche Formulierungen Kants (die ein solches „Einerlei“ von Moral und Religion begünstigen) sind freilich nicht zu leugnen – so, wenn es heißt: „… ist doch die reine moralische Gesetzgebung, dadurch der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben ist, nicht allein die unumgängliche Bedingung aller wahren Religion überhaupt, sondern sie ist auch das, was diese selbst eigentlich ausmacht“ (IV 764). Freilich, dass „in der Religion [alles] aufs Tun“ ankomme „und diese Endabsicht, mithin auch ein dieser gemäßer Sinn, … allen biblischen Glaubenslehren untergelegt werden“ müsse (VI 307), erlaubt dennoch keine Gleichsetzung von „Moral und Religion“, weil andernfalls Erstere auch gar nicht „unausbleiblich zur Religion“ führen könnte (IV 655, Anm.). Auch wenn es bei Kant heißt, dass Religion sich dem Inhalt nach „nicht … in irgend einem Stücke von der Moral“ unterscheide (VI, 301), so läuft diese – für sich genommen zweifellos irreführende und auch anderen Äußerungen Kants widersprechende – Bemerkung Kants doch nicht auf eine Gleichsetzung von „Religion und Moral“ im Sinne Forbergs hinaus; sie sind nach Kant „relativ eins“, sofern sie notwendig aufeinander bezogen bleiben – denn andernfalls wäre, die zentrale kantische These gar nicht aufrechtzuhalten, der zufolge „Moral unausbleiblich zur Religion führe“. Dass Moral, Ethik und Religion nicht getrennt werden dürfen, besagt im Grunde freilich nicht mehr als den Hinweis auf die für die Vermittlung derselben erforderlichen Differenzierungen. 135 Gleichwohl bereitet Kants Argumentation hier nicht geringe Verständnisprobleme, so etwa, wenn es heißt: „Denn in der Tat versetzt uns das moralische Gesetz, der Idee nach, in eine Natur, in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen [!] würde und bestimmt unseren Willen, die Form der Sinnenwelt, als einem Ganzen vernünftiger Wesen, zu erteilen“ (IV 157). Was heißt hier – und worauf bezieht sich genauer besehen – diese „Hervorbringung des höchsten Gutes“, wenn dies doch niemals mehr zu leisten vermag, als „das Weltbeste an uns und anderen zu befördern“?
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Zwecke“ die je „eigene Glückseligkeit“ „mitenthalten“ ist, d. h. auch der Mensch als „vernünftiges, aber endliches Wesen“, „in die Welt passt“. Daraus mag deutlich werden, dass dieses im Sinne der „Verheißung des moralischen Gesetzes“ verwurzelte „Hoffen“ durchaus in der angezeigten gestuften Form erfolgt; dass „Moral unausbleiblich zur Religion“ führen soll, bezieht sich daher bei Kant (im Unterschied zu Forberg/Fichte) weder auf den erstgenannten (praktischen) Hoffnungsaspekt, noch ist diese Auskunft auf die – lediglich „mitenthaltene“ – „eigene Glückseligkeit“ einzuschränken. Infolge der Ausblendung bzw. Nivellierung dieser Begründungsperspektiven in ihrer Differenziertheit wird auch der Status des „höchsten Gutes“ als eines „abgeleiteten“ verfehlt bzw. bloß auf die „Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit“ im Sinne des individuellen Glückseligkeits-Anspruches reduziert bzw. fixiert; derart bliebe unbeachtet, dass – und zwar durchaus gemäß der Idee einer „moralischen Zweckmäßigkeit“ – auch in dem zunächst eudämonismus-kritischen Motiv einer der „Tugend proportionierten Glückseligkeit“ ein von Kant ohnedies nie preisgegebener „moraltranszendierender“ „Sinn-Aspekt“ erhalten bleibt, der besonders deutlich in einer Bemerkung des „Theodizee-Aufsatzes“ begegnet: „Denn in einer göttlichen Regierung kann auch der beste Mensch seinen Wunsch zum Wohlergehen nicht auf die göttliche Gerechtigkeit, sondern muß ihn jederzeit auf seine Güte gründen: weil der, welcher bloß seine Schuldigkeit tut, keinen Rechtsanspruch auf das Wohltun Gottes haben kann.“ (VI 108). Es zeigt sich: In gebotener Rücksicht auf die in Kants ethikotheologischen Erkundungen maßgebenden Motive findet auch in solcher Hinsicht der gegen Kant erhobene Vorwurf eines von ihm angeblich nicht bewältigten bloßen „Eudämonismus“136 keinerlei Anhaltspunkte, zumal jene an der Idee des „Ganzen aller Zwecke“ orientierte „Willensbestimmung von besonderer Art“ ebenso der inhaltlichen Bestimmung des „höchsten Gutes“ zugrunde liegt – ein Motiv, das bei Forberg-Fichte jedoch bezeichnenderweise wohl zu kurz gerät. Näherhin bleibt bei ihnen die spezifische Intentionalität jener „Willensbestimmung von besonderer Art“ als der „moralisch konsequenten Denkungsart“ eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ offenbar ausgeblendet – allein so ist auch ihre Gleichsetzung (und Reduktion) der Religion mit (bzw. auf ) Moral aufrechtzuerhalten. Nicht zuletzt spricht einiges dafür, dass bei diesen unmittelbaren Nachfolgern Kants wohl auch jener schon erwähnte Sachverhalt übersehen bzw. das systematisch bedeut136 Deshalb unterliegt jedenfalls Kant nicht dem bissigen Spott Fichtes: „Ihr Endzweck ist immer Genuss, ob sie denselben nun grob begehren, oder noch so fein ihn geläutert haben, Genuss in diesem Leben, und wenn sie eine Fortdauer über den irdischen Tod hinaus sich gedenken, auch dort Genuss: – sie kennen nichts anderes, als Genuss. Dass nun der Erfolg ihres Ringens nach diesem Genusse von etwas unbekanntem, das sie Schicksal nennen, abhänge, können sie sich nicht verhehlen. Dieses Schicksal personifizieren sie – und dies ist ihr Gott“ (SW V, 218; vgl. SW VII, 31: „ein Gott wird ihm nur dazu dasein müssen, damit er unser Wohlsein besorge, und bloß unsere Bedürftigkeit wird es sein, die ihn ins Dasein gerufen“). – Kant wusste freilich so gut wie Jacobi darum, dass „Allmacht ohne Vorsehung … blindes Schicksal“ ist, „und Freiheit und Vorsehung sind voneinander unzertrennlich“. „Eine Macht aber, über welcher keine andere ist, und der nicht Erkenntnis, Weisheit und Güte regierend vorwalten, ist blindes Schicksal, und wird auf keine Weise dadurch, dass man sie mit dem Wortschalle einer absoluten Vernunft und Freiheit zu- oder vorbenamt, zu einem wahrhaft vernünftigen, mit Freiheit waltenden Wesen; das heißt: es wird dadurch nicht das Schicksal zu einem Gott“ (Jacobi 1968, Bd.1, 45 u. 51).
86 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre same Motiv vernachlässigt bleibt, wonach die in dieser Idee des „Ganzen aller Zwecke“ aufgehobene „eigene Glückseligkeit“ auch als unverzichtbarer „Platzhalter“ der „natürlichen Individualität“ („Leiblichkeit“) fungiert und somit in derlei Hinsicht, d. h. in Rücksichtnahme auf seine spezifische „Beschaffenheit“ als „vernünftiges Weltwesen“ (IV 113), auf der umfassenden (keinesfalls eudämonistisch zu entlarvenden) moral-transzendierenden Dimension des „höchsten Gutes“ insistiert. Dieser in der Idee des „höchsten Gutes“ enthaltene Aspekt der „Leiblichkeit“ wäre vielleicht, wie angedeutet, als eine besondere Art des kantischen „Eingedenkens der Natur im Subjekt“ auszuweisen, das sich so – eben im Blick auf jenes „Naturwesen, das als Freiheitswesen“ existiert – auch der Auflösung des Erhofften in das bloß Unabgegoltene vergangener Hoffnungen und den damit einhergehenden Abstraktionen von der welthaften „Beschaffenheit“ dieser „mit Vernunft begabten Erdwesen“ (VI 399) widersetzt. Jenes im Blick auf die menschliche „Doppelnatur in der Bestimmung des „höchsten Gutes“ aufzubewahrende Motiv einer „Platzhalter“-Funktion der „Leiblichkeit“ muss es mithin auch verbieten, den Tod des Menschen, genauer: sein Tot-Sein in das Sterben hinein gleichsam „aufzulösen“, d. h. zu „absorbieren“; es insistiert so gewissermaßen darauf, dass jenes „Naturwesen, das als Freiheitswesen existiert“, eben doch jenes „Freiheitswesen“ ist, das „im Leibe“ stirbt und sich deshalb auch nicht bei dem eindringlichen – gewiss bemerkenswerten – Trost von Fichtes „Gläubigem“ schon beruhigen kann, dass die „tote lastende Masse [des Leibes], die nur den Raum ausstopfte, … verschwunden [sei] und an ihrer Stelle fließt und woget und rauscht der ewige Strom von Leben und Kraft und Tat – vom ursprünglichen Leben“.137 Es sind nicht zuletzt die in diesen frühesten Rezeptionen der kantischen Religionsphilosophie ausgeklammerten (besser wohl: ignorierten) fundamentalphilosophischen Problemdimensionen der Postulatenlehre138 sowie der kantischen Religionsphilosophie überhaupt, die hier besondere Berücksichtigung verdienen und zur Vermeidung von andernfalls unvermeidlichen Engführungen und Missverständnissen zu beachten sind. 1.3.4. Ausblick: Kants Frage nach der „ganzen Bestimmung des Menschen“ – nunmehr mit Bezug auf die Bewandtnis des „Ganzen einer moralischen Lebensgeschichte“ Es hat sich gezeigt: In all diesen vorgestellten existenzialanthropologisch akzentuierten Bezügen Kants tritt vor allem auch der prozessuale Charakter dieser „Existenz“ als „bewusstes Leben“ in ihrem selbstreflexiven Totalitätsbezug deutlich zutage: Weil diese prozesshafte Einheit indes selbst noch keine Totalität ist, sondern in ihrer „Fragmentarität“ eine solche „dergestalt“ eben erst wird, verbleibt die Lebensführung in Ansehung der 137 Fichte, Die Bestimmung des Menschen: II, 315. 138 Vgl. zur frühen Rezeption der kantischen Postulatenlehre die Studien von K. Düsing (1973) und E. Düsing (2000) sowie die diesen Themen gewidmeten entsprechenden Kapitel in D. Henrich (2004), die auch weniger bekannte, aber sachlich höchst bedeutsame frühidealistische Kant-Rezeptionen präsentieren.
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„Existenz im Ganzen“ einer „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811) und die daran geknüpfte „autobiographische Identität“ (sowie der für diese konstitutive Form bzw. Einheit des „inneren Zeitbewusstseins) in einer „praktisch“ unaufhebbaren Spannung zu seiner „Existenz-Vollendung“ – eine Spannung, die auch den performativen Sinnanspruch der Frage „Was darf ich hoffen?“ konstituiert und die Rücksicht auf die in der Idee des „höchsten Gutes“ „mitenthaltene eigene Glückseligkeit“ impliziert. In Absehung davon wäre, diesen kantischen Denkbahnen folgend, für „bewusstes Leben“ auch die auf die „Existenz im Ganzen [!] seines Daseins“ abzielende „Selbsterhaltung der Vernunft“ nicht zu begründen. Ihr Gelingen weist über diese praktische Sinndimension im engeren Sinne selbst noch einmal hinaus; allein so vermag ein vernünftiges, aber endliches [das heißt: sich als sterblich wissendes] Weltwesen eine vernunft-orientierte Identität als „Persönlichkeit“ auszubilden bzw. diese auch aufrechtzuhalten.139 Es ist nicht zu übersehen, dass in dieser existenzialanthropologischen Akzentuierung auch eine bemerkenswerte Verbindung der Thematik der „moralischen Freiheit“ und der „moralischen Persönlichkeit“ im Blick auf dieses prozessual entfaltete „Ganze einer „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811) in den Vordergrund rückt, die jene Idee der „moralischen Teleologie“ und die darin maßgebenden Aspekte nun in eine existenziellbewandtnisorientierte Perspektive „bewussten Lebens“ „übersetzt“ und von Kant mit dem „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ benannt wird. Dies verweist noch einmal auf Kants so energischen Rekurs auf den nicht bloß „gewählten“ „praktisch notwendigen Zweck des reinen Vernunftwillens“ (IV 277) sowie auf die „ganze Bestimmung des Menschen“. Hier sei noch einmal auf einen wenig beachteten kurzen – sehr späten – Text Kants zur „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie“ (erschienen im Herbst 1796) hingewiesen, der auch manche der (mitunter von Kant selbst begünstigten) Missverständnisse wiederum korrigiert und wohl geeignet ist, einige der gegen Kant gerichteten Einwände zurechtzurücken bzw. aufzulösen: Unter der Überschrift „Von den übersinnlichen Gegenständen unserer Erkenntnis“ wird hier von ihm erneut auf die „archimedische“ Stellung der unzweifelhaften „Idee der Freiheit“ verwiesen: „Unter diesen Ideen [Gott, Freiheit und Unsterblichkeit] führt also die mittlere, nämlich die der Freiheit, weil die Existenz derselben in dem kategorischen Imperativ enthalten ist, der keinem Zweifel Raum lässt, die zwei übrigen in ihrem Gefolge bei sich; indem er, das oberste Prinzip der Weisheit, folglich auch den Endzweck des vollkommensten Willens (die höchste mit der Moralität zusammenstimmende Glückselig139 Darin wären notwendig die von Kant in unterschiedlichen Problemkontexten angezeigten Person-Aspekte – der logische, psychologische, moralische, empirische Begriff der „Person“ – „aufgehoben“. Hier ist noch einmal im Blick auf die je individuelle „moralische Lebensgeschichte“ der grundlegende Sachverhalt zu vergegenwärtigen: Für die Einheit des in der Gegenwart erinnerten Vergangenen und des in der Erwartung intendierten Zukünftigen ist „autobiographische Identität“ vorausgesetzt; „Erwartung“ ist darin somit ein konstitutives Moment innerhalb dieser Einheit selbst, wobei das tatsächliche Widerfahrene in den Erfahrungshorizont integriert wird und die in solchen Erfahrungen vollzogenen Lernprozesse den Erwartungshorizont zukunftsorientiert modifizieren. Hoffnung zielt hingegen auf das ungeteilte „Leben als Zeiteinheit, d. i. … ein Ganzes“ und ist nach Kant nur so „ein durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“, worauf sich auch sein „Gerichtsgedanke“ bezieht.
88 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre keit) voraussetzend, bloß die Bedingungen enthält, unter welchen allein diesem Genüge geschehen kann. Denn das Wesen, welches diese proportionierte Austeilung allein zu vollziehen vermag, ist Gott; und der Zustand, in welchem diese Vollziehung an vernünftigen Weltwesen allein jenem Endzweck völlig angemessen verrichtet werden kann, die Annahme einer schon in ihrer Natur begründeten Fortdauer des Lebens, d. i. die Unsterblichkeit [als „ein Zustand, in welchem dem Menschen sein Wohl und Weh in Verhältnis auf seinen moralischen Wert zu Teil werden soll“]. Denn wäre die Fortdauer des Lebens darin nicht begründet, so würde sie nur Hoffnung eines künftigen, nicht aber ein durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben bedeuten“ (III 411 f ). Ersteres würde demnach einer wahrhaft sinn-orientierten Grundlegung der Postulatenlehre bzw. der Konzeption des „höchsten Gutes“ vollends widersprechen, während der Rekurs auf „ein durch Vernunft … notwendig vorauszusetzendes Leben“ auf das „Offenbarwerden“ der „ganzen Existenz“ hinsichtlich seiner „Bewandtnis im Ganzen“ abzielt, d. h. nur die daran orientierte Hoffnung „vernünftig“ ist. Die zuletzt angeführte späte (eher nur beiläufige) Bemerkung stellt der Sache nach eine durchaus bedeutsame Präzisierung eines religionsphilosophischen Aspekts der kantischen Hoffnungskonzeption dar;140 sie korrigiert (bzw. präzisiert wenigstens) insofern auch die frühere (als „Kardinalsatz“ geltend gemachte) Frage „(I)st ein künftiges Leben?“, weil doch allein so aufrechtzuhalten ist, dass sie tatsächlich „das praktische Interesse der reinen Vernunft“ angeht (II 676). Unter diesen unverrückbaren moralischen Maßstäben ist es also nicht allein um ein „künftiges“, sondern um ein „durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“ zu tun,141 in Ansehung dessen – und im 140 Sie erläutert indirekt (Missverständnisse abwehrend) auch noch einmal den in Kants GlückseligkeitsIdee enthaltenen Bezug auf das „Ganze seiner Existenz“ bzw. darauf, dass alles „nach Wunsch und [!] Willen geht“ (IV 255). – Ebenso bestätigt sich: Kants Ablehnung einer (dem „Endzweck“ des Menschen unangemessenen) Hoffnung, die, ohne solchen Rückbezug auf eine „in ihrer Natur begründete Fortdauer des Lebens“, nur auf ein „künftiges Leben“ gerichtet wäre, hat demzufolge selbst einen unüberhörbar religionskritischen Ton. Gegenüber den auf Kant gemünzten Vorwürfen zeigt sich, dass seine Begründung des „Hoffen-Dürfens“ selbst durchaus unverkennbare „eudämonismus“-kritische Züge hat, die deshalb auch einschlägigen Motiven Fichtes entgegentritt. Kants Argumentation verwirft jedenfalls die Funktion Gottes als eines „bloßen Dieners der Begier“, weshalb er offenbar auch nicht durch die einschlägige Fichte’sche Kritik daran getroffen ist (s. o. IV., Anm. 136). Es bleibt überdies darauf zu achten, dass dieser „Kardinalsatz“: „Ist ein künftiges Leben?“ bzw. der darauf gerichtete „Glaube“ Kant zufolge sich allerdings genauer besehen auf die „Bedingung einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr möglichen Gut“ (III 636) bezieht, d. h. nicht selbst „das höchste Gut“ ist, wie manche Äußerungen Kants vermuten lassen könnten. 141 Damit korrigierte Kant offenbar stillschweigend seine in der „ersten Kritik“ vertretene These, dass „alles Hoffen … auf Glückseligkeit“ geht, zumal er hier diese erhoffte „Glückseligkeit“ sogleich bestimmt als „die Befriedigung aller unserer Neigungen (so wohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)“ (II 677); sie kann wohl auch nicht als der „praktisch notwendige Zweck des reinen Vernunftwillens“ gelten, „der hier nicht wählt, sondern einem unnachlasslichen Vernunftgebote gehorcht“ (IV 277). Indes bleibt anzumerken, dass jene späte Bezugnahme auf ein „durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“ hier eingebunden ist in einen Abschnitt „Von den übersinnlichen Gegenständen unserer Erkenntnis“ („Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“), die auch hier zwar als Postulate bezeichnet werden; jedoch passt die hier vorgenommene Kennzeichnung der „Unsterblichkeit“ doch eher zur Idee
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Blick auf die Bewandtnis des „Ganzen“ der „moralischen Lebensgeschichte“ „vernünftiger, endlicher Wesen“ – deren in mancher Hinsicht unverfügbares „Wohl und Weh“ (d. h. im Sinne jenes „von allen zufälligen Ursachen der Welt unabhängige(n) vollständige(n) Wohl(s)“ (IV 254, Anm.) auf dem Spiel steht: „… wenn wir das ganz wären, oder einmal sein würden, was wir sein sollen …“ (IV 873, Anm.). Damit ist freilich im Grunde ebenso einer schlechten „Seelen-Metaphysik“ und damit einhergehenden Vorstellungen eine unübersehbare Absage erteilt, desgleichen impliziert dieser späte Hinweis auf den Hoffnungs-Status eine Korrektur der von Kant selbst nahegelegten („anthropologisierenden“) Missverständnisse. Denn obgleich Kants – in anderer Hinsicht doch wiederum missverständliche – Charakterisierung des „höchsten Gutes“ als „proportionierte“ Einheit von „Glückswürdigkeit“ und „Glückseligkeit“ eudämonistische Kurzschlüsse abwehren will, so ist dennoch nicht zu übersehen, dass er einschlägige Missverständnisse gelegentlich selbst wenigstens begünstigt – so etwa auch durch den eher irreführenden Hinweis darauf, dass „kein Geschöpf … in Ansehung des Punktes der Glückseligkeit gleichgültig sein“ könne; denn „dieses ist der Natur jedes Geschöpfes gemäß“.142 Der angeführte Passus aus der späten „Verkündigung …“ sollte jedenfalls zeigen, dass noch der späte Kant unbeirrt daran festhielt: Erhofft wird keineswegs eine noch gleichsam „moral-neutrale“ „eigene Glückseligkeit“ als der „subjektive Endzweck vernünftiger Weltwesen (den jedes derselben vermöge seiner von sinnlichen Gegenständen abhängiger Natur hat“ (IV 653, Anm.), sondern ein „höchstes Gut“, das ohne die „Moralität“ als dessen „Vernunftbedingung“ (und das „Vornehmlichste“ darin) gar nicht gedacht werden kann – eben dadurch ist Kants Bestimmung des „subjektiven Endzwecks“ qualifiziert, der folglich auch nicht „eudämonistisch“ reduziert werden darf! So ist wohl auch seine Bemerkung zu verstehen, wonach dieser „Glaube an ein künftiges Leben … sich, kraft der allgemeinen moralischen Anlage in der menschlichen Natur, jedermann von selbst“ aufdrängt (IV 791). Damit ist auch dies gesagt: Eine moral-neutrale (und insofern „sinn-lose“) Hoffnung wäre eben keine „Hoffnung“ auf das „höchste Gut“, ist diese doch unzertrennlich an die „reine moralische Gesinnung“ gebunden, zumal der sittliche Charakter dieser Hoffnung zuletzt sich davon inspirieren lässt und gleichermaßen darauf abzielt, „dass eine solche [moralische] Welt sei“, weil eben nur dies „allen [!] sittlichen Gesetzen gemäß“ wäre (II 679). des „höchsten Gutes“. Aber auch die in der Anmerkung (III 411) vorgenommene Charakterisierung des „Postulates“ setzt hier unverkennbar andere Akzente. Diese Unausgeglichenheit hat darin eine unübersehbare Entsprechung, dass bei Kant (nicht nur in den „Reflexionen“ und Vorlesungen) fortwährend sowohl von dem „Glauben an ein künftiges Leben“ (vgl. z. B. II 356, 632, 676, 681, 692 f; IV 631 Anm., IV 791; V 579; VI 132), als auch von der „Hoffnung eines künftigen Lebens“ (II 34, 635, 640 f; III 412; IV 722; V 589) die Rede ist; dieses Schwanken verrät nicht nur eine terminologische Vagheit, sondern indiziert wohl auch ein (vermutlich auch noch in seiner späten Bestimmung des Glaubens als „fides“ erkennbares) Sachproblem im Sinne von nicht hinreichend geleisteten Differenzierungen. 142 AA XXVIII, 318. Diese missverständliche Argumentation Kants hat darin eine Entsprechung, dass er die „eigene Glückseligkeit“ den „subjektiven Endzweck“ nennt, dann freilich Letzteren – als denjenigen eines „vernünftigen Weltwesens“ – eben im Sinne der „Einheit von Tugend und Glückseligkeit“ bestimmt. Fichtes Eudämonismus-Kritik und Entlarvung der „Glückseligkeit“ als bloßes „Hirngespinst“ scheint demgegenüber einseitig den Aspekt der „empirischen Glückseligkeit“ zu betonen.
90 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Jener angezeigte Bezug auf ein „durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“ verdeutlicht erneut und in besonderer Ausdrücklichkeit, dass die solcherart besonders akzentuierte Hoffnungsperspektive auf eine „personale Identität, Individualität und Totalität“ abzielt, weshalb in einer solcherart begründeten Hinsicht auf das „Ganze“ einer „moralischen Lebensgeschichte“ die Idee des „Ich“ („Seele“) auch als „regulatives Prinzip“ verstanden werden darf. Sie ist von Kant selbst als die vernunftgeleitete „Aussicht in eine selige Zukunft“ angesprochen, in der Vernunft „ein von allen zufälligen [!] Ursachen der Welt unabhängiges vollständiges Wohl“ (IV 254, Anm.) anzeigt, das deshalb nicht nur unzulängliche „Glückseligkeits“Konzeptionen distanziert, sondern gleichermaßen eine ihm angemessene „ratio essendi“ dieses „höchsten Gutes“ verlangt. Darin hat Kant offenbar seinem zentralen Anliegen Ausdruck verliehen, dass allein dies den sittlichen Charakter dieser Hoffnung zu gewährleisten vermag, zumal auch lediglich eine im Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ verankerte „Hoffnung“ – in Abgrenzung von bloß illusionärem „Wunschdenken“ – als eine solche genannt zu werden verdient. Deshalb ist auch der so noch einmal besonders akzentuierte „Endzweck“-Bezug keinesfalls als ein bloßes menschlich-allzumenschliches Bedürfnis abzutun. Noch der späte Kant verwarf ausdrücklich eine lediglich wunschgeleitete „Hoffnung“ nicht nur als illusorisch, sondern auch als mit dem zu denkenden „Endzweck“ „vernünftiger Weltwesen“ vollends unvereinbar. Als „vernünftig“ darf die daran orientierte Hoffnungsperspektive lediglich insofern angesehen werden, als sie sich auf das „gelingende Ganze des Lebens“ (und somit auf die „höchste mit der Moralität zusammenstimmende Glückseligkeit“) bezieht; nur so bleibt sie unterscheidbar von der Hoffnung als einem bloß selbstfixiert-wunschgeleiteten „Affekt“ einer „unerwartete(n) Eröffnung der Aussicht in ein nicht auszumessendes Glück“ (VI 584). Folglich ist diese Hoffnung, jenem zitierten Passus zufolge, auch nicht bloß auf „Zukünftiges“ ausgerichtet, sondern bleibt an der moralischen Identität und Authentizität der „moralischen Persönlichkeit“ orientiert, d. h. auf die Idee des „Ganzen seines Zustandes“ bezogen. Nur als solche vermag sie in dem „obersten Prinzip der Weisheit“ einen der „Bestimmung des Menschen“ angemessenen „zureichenden Grund“ zu finden. Dies bestätigt erneut: Kants ausdrückliche Verwerfung einer bloßen wunsch-besetzten „Hoffnung eines künftigen, nicht aber … durch Vernunft … vorauszusetzenden künftigen Leben(s)“ (III 412) darf, ganz im Sinne seiner Verwerfung eines bloßen „Bedürfnisglaubens“, geradezu als direkte späte Antwort auf den gegen ihn nicht selten gerichteten Eudämonismus-Vorwurf gelesen werden, der ihm zufolge übersieht, dass in diesem erhofften „höchsten Gut“ „das moralische Gesetz als oberste Bedingung schon miteingeschlossen ist“ (IV 237). Die Pointe der kantischen Argumentation scheint doch dies zu sein, dass gerade an der unseligen Vorstellung eines „bloß künftigen Lebens“ die „Vernunft an sich selbst verzweifeln müsste“ und so von einem erhofften „vollständigen Wohl“ keinesfalls die Rede sein könnte. Kants Auffassung ist wohl unmissverständlich: Abgelöst von dieser Perspektive des „durch Vernunft … notwendig vorauszusetzenden künftigen Lebens“ und der darin zugrunde liegenden Idee der „moralischen Welt“, die sich beide allein an der Idee der „allgemeinen Glückseligkeit“ als dem „Weltbesten“ orientieren, erlischt vollends die Legitimierbarkeit dieser Hoffnung auf das „höchste Gut“;
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derart müsste solche Hoffnung in der Tat, dann „hoffnungslos“, auf die Ebene des bloß eudämonistischen Wunschdenkens zurückfallen. So zeigt sich erneut die jener Hoffnung auf die im „höchsten Gut“ mitenthaltene „eigene Glückseligkeit“ innewohnende Ambivalenz und gleichermaßen ihr eminent sittlicher Gehalt: Die Kehrseite dieses darin als „mitenthalten“ erhofften „höchsten Guts“ ist nach Kant das sensible Bewusstsein dafür, selbst den darin maßgebenden Ansprüchen zu unterstehen. „Hoffnung“ ist allein in der ursprünglichen Überzeugung des „moralischen Glaubens“ und seinem Impetus begründet, auf die Bedingungen der „Vernünftigkeit“ dieser Hoffnung zielt hingegen der darin verankerte „Hoffnungsglaube“ (s. dazu u. IV., 3.1.1.). Ausgehend von dem durch jene Einheit der „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft und praktischen Erweiterung derselben“ konstituierten Existenz-Vollzug dieses „vernünftigen Weltwesens“ gewinnt Kants „Existenz-Denken“ vor dem Hintergrund seines „Weltbegriffs der Philosophie“ noch weitere bedeutsame Akzente. Daran anknüpfend sollte nunmehr, wiederum in gestufter Weise, noch deutlicher werden, dass und wie seine anthropologische Kennzeichnung dieser „Existenz“ auf das Ganze der „moralischen Lebensgeschichte“ (IV 811) eines „vernünftigen endlichen Wesens“ – auf dessen theoretische, praktische und hoffende Orientierung – abzielt. Hat sich als die vorrangige Aufgabe jenes „Weltbegriffs der Philosophie“ doch dies erwiesen, in einem elementaren Sinn „bewusstes Leben“ zu einer „Klärung über sich“ selbst gleichermaßen zu provozieren und zu ermutigen, um so dem unverkürzten Programm der Aufklärung zu folgen: Ein Vorhaben, das nach Kant ohne eine differenzierte Besinnung auf die „höchsten Zwecke menschlichen Daseins“ nicht einlösbar ist. Dies wurde von ihm, wie gezeigt (s. o. III., 1.) schon ausdrücklich dem selbst in der „Geschichte der reinen Vernunft“ entwickelten „Weltbegriff der Philosophie“ als unabweisliche Aufgabe zugewiesen, zumal dieser, ganz gemäß der „praktischen Bestimmung des Menschen“, sich um eine „Erkenntnis dessen“ bemüht, „was zu seinen wahren und notwendigen Zwecken gehört“.143 Diese von Kant einer „aufgeklärten Denkungsart“ ausdrücklich zugemuteten Besinnung verbindet derart die Haltung, sich seines „eigenen Verstandes zu bedienen“ und seine „Überzeugungen“ am Urteil anderer zu überprüfen, zugleich mit der unbeirrbaren Forderung, jene Fragen nicht „szientistisch“ zu entsorgen, die nach Kant „jedermann notwendig interessieren“, weil sie mit der menschlichen Vernunft unzertrennlich verbunden sind. Nicht zuletzt darauf ist die kantische Absicht gerichtet, die „Artikulation (systematische Einheit) und Grenzen der Wissenschaft“ zu bestimmen und „ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen“, zumal erst dies eine umfassende „Architektonik al143 So schon in der frühen Refl. 2076, AA XVI, 222 f; s. dazu jetzt auch La Rocca 2008; vgl ders., 2009, 100. – Deshalb ist Kants „Sapere aude!“ aufs Engste mit den programmatischen Sätzen aus seiner Einleitung zur „Kritik der reinen Vernunft“ zu verbinden: „Und gerade in diesen letzteren Erkenntnissen, welche über die Sinnenwelt hinausgehen, wo Erfahrung gar keinen Leitfaden, noch Berichtigung geben kann, liegen die Nachforschungen unserer Vernunft, die wir, der Wichtigkeit nach, für weit vorzüglicher, und ihre Endabsicht für viel erhabener halten, als alles, was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen kann, wobei wir, sogar auf die Gefahr zu irren, eher alles wagen, als daß wir so angelegene Untersuchungen aus irgend einem Grunde der Bedenklichkeit, oder aus Geringschätzung und Gleichgültigkeit aufgeben sollten“ (II 49).
92 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre les menschlichen Wissens“ (II 697 f ) erlaubt, die sich indes nicht bloß darin erschöpft, in den „Wissenschaften Ordnung und Zusammenhang“ (III 450) herzustellen.144 Im Blick auf die „ganze Bestimmung des Menschen“ (und die daran geknüpften „Totalitäts-Aspekte“) sind die voranstehend verfolgten Perspektiven freilich in einen weiteren Problemkontext eingebunden. Denn die Unterscheidung der einzelnen „Komponenten“ bzw. Aspekte des „höchsten Gutes“ in den moral-, geschichts- und religionsphilosophischen Bezügen und deren daraus gewonnene systematische Verknüpfung explizieren letztendlich in differenzierter Weise doch nichts anderes als die „Bestimmung des Menschen“ – und zwar gleichermaßen im Blick auf sein „Gattungswesen“ sowie auf seine konkrete Individualität als „mit Vernunft begabtes Erdwesen“ (VI 399).145 Dies findet in jener vom frühen Kant nur beiläufig notierten Differenz zwischen der „Geschichte der Menschheit“ und der „Geschichte der Menschen“ nunmehr eine genaue, auch in sys tematischer Hinsicht durchaus bedeutsame Entsprechung. Zugleich markiert dies jene Stelle in Kants „Weltbegriff der Philosophie“ als dem System der „wesentlichen und höchsten Zwecke“, worin die leitenden geschichts- und religionsphilosophischen Motive Kants unauflöslich miteinander verbunden sind. Ebenso führt dies noch einmal die Unverzichtbarkeit vor Augen, die dem menschlichen „Gattungswesen“ korrespondierende geschichtsphilosophisch maßgebende Idee des „höchsten politischen Gutes“ (also den „ewigen Frieden“) von dem moralphilosophisch maßgebenden „obersten Gut“ („bonum supremum“) und dieses wiederum von dem religionsphilosophisch konzipierten „höchsten (vollendeten) Gut“ („bonum consummatum“) zu unterscheiden, das gemäß der „Idee der moralischen Welt“ und in Rücksicht auf die umfassende Idee des „Ganzen aller Zwecke“ einer genauen Differenzierung bedarf. Derart wird aber auch noch einmal deutlich, dass Kants Lehre vom „höchsten Gut“ und sein Hoffnungs-Motiv durchaus unterschiedliche – und auch entsprechend zu gewichtende – inhaltliche Akzentuierungen enthält, die in der Entfaltung der maßgebenden religionsphilosophischen Aspekte sei es eine Relativierung, sei es eine weitere Vertiefung finden. Indes soll sich zeigen, dass bedeutsame Sinn-Aspekte der Idee des „höchsten Gutes“ – als unabweisliche Themen des von Kant sogenannten „reflektierenden Glaubens“ (und dessen Ausblick „auf moralisch transzendente Ideen“) sowie als bedrängende Fragen im Kontext der Theodizee-Thematik – darüber noch hinaus führen (s. u. V., 3.; VI.).
144 Eine solche „Architektonik“ impliziert die Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Geltungsansprüche, die auch nur so ein unvermitteltes bloßes Nebeneinander verschiedener „Sprachspiele“ bzw. „Lebensformen“ zu überwinden vermag. 145 Bezüglich der hier zutage tretenden motivlichen Affinität zwischen Kant und Adorno sei auf den Abschnitt IV., 4.1.2. hingewiesen.
2. Die aus einer existenzialanthropologisch akzentuierten Idee der „moralischen Welt“ resultierende Bestimmung des „höchsten Gutes“
2.1. Das „höchste Gut“ als der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“ – „in individuo“ und „in concreto“ gedacht Schon zu Kants Lebzeiten war bekanntlich seine Lehre vom „höchsten Gut“ in besonderer Weise der Kritik ausgesetzt. Die bis in die Gegenwart nicht verstummenden Einwände dagegen – die sich vornehmlich auf die angebliche Preisgabe der kritischen Maßstäbe der Moralphilosophie, auf den mehr oder weniger ausdrücklichen Rückfall in einen autonomie-unverträglichen Eudämonismus sowie auf vermutete unstatthafte Zugeständnisse Kants an die Theologie beziehen – lassen jedenfalls die Bedeutung dieses Lehrstücks und die sachliche Stringenz der einschlägigen kantischen Argumente in deren kritischer Rezeption nach wie vor als sehr umstritten erscheinen. Obwohl nicht zu bestreiten ist, dass Kant einschlägige Missverständnisse in mancher Hinsicht selbst begünstigt, ja mitunter geradezu provoziert hat, darf dies dennoch nicht den systematischen Ort der Idee des „höchsten Gutes“ im Rahmen der gesamten Vernunftkritik übersehen lassen. Nur eine angemessene Verortung dieses Themas sowie die gebotene Rücksicht darauf, dass in verschiedenen thematischen Kontexten einzelne Aspekte dieser Lehre vom „höchsten Gut“ von Kant selbst auch durchaus unterschiedlich akzentuiert und modifiziert wurden, kann jene Engführungen bzw. Missverständnisse vermeiden, die den systematischen Status derselben überhaupt und auch die darin explizierte praktisch orientierte „Sinn-Logik“ verfehlen müssen. So manche dieser Einwände beruhen auf schiefen Fixierungen bzw. auf einer Einschätzung, die mangels einer Einbindung und Verortung des „höchsten Gutes“ innerhalb des Ganzen der kantischen Vernunftkritik den von daher zu bestimmenden Stellenwert der darin leitenden Ideen offenbar verkennen bzw. unterschätzen.146 So soll sich zeigen, dass und wie diese aus einem „Leben, das geführt werden muss“, aufsteigenden Fragen und Perspektiven, die sodann in dem „Weltbegriff der Philosophie“ ihre reflexive Entfaltung und Gestalt finden, aus der daraus gewonnenen „Aufklärung“ erneut „bewandtnishaft-orientierend“ in eben dieses „bewusste Leben“ zurückweisen, um so, wie Kant bezeichnenderweise am Ende dieser so konsequent durchschrittenen 146 Damit gerät bzw. bleibt der von K. Konhardt zu Recht betonte Sachverhalt außer Sicht, dass sich in der kantischen Konzeption des „höchsten Gutes“ die „teleologische Grundstruktur der Vernunft“ widerspiegle (Konhardt 1979, 269) und dass in der Orientierung an der „Idee des höchsten Gutes als Endzweck“ „das genuine Interesse der Vernunft an ihrer eigenen Verwirklichung“ (ebd. 228) zutage trete. Von daher, so wird sich zeigen, ist im Blick auf die notwendige Einheit der „theoretischen“ und „praktischen Vernunft“ auch der systematische Ort der Religion definiert.
94 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre „Kritik der praktischen Vernunft“ betont, „den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen, und … vor Irrwegen zu sichern“ (IV 302).147 Dass der „Endzweck der Metaphysik“, „vom Sinnlichen zum Übersinnlichen fortzuschreiten“, sich selbst aus den in der Lebensführung des „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ aufkommenden Fragen und Erfahrungen „speist“, und dennoch das darin leitende Interesse über solche systematische Reflexion und Explikation des „Endzwecks der Vernunft“ ebenso wiederum in dieses im Denken, Handeln und Hoffen orientierungs-bedürftige Selbstverständnis – gleichsam in „Teilnehmer-Perspektive“ – zurückführt, kommt eben darin zum Ausdruck. Dass „alles Interesse zuletzt praktisch ist“ (IV 252), gewinnt so einen besonderen Akzent. Jene ethikotheologischen Erörterungen der „praktischen Metaphysik“ werden in dieser Existenz-Perspektive notwendig „realisiert“ und solcherart auch bestätigt. Darin findet die sich in der Entfaltung des „Endzwecks der Metaphysik“ manifestierende „teleologia rationis humanae“ im individuellen Existenz-Vollzug – und in dem allein durch „spekulative Einschränkung der reinen Vernunft und praktische Erweiterung derselben“ ermöglichten „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ – eine unübersehbare Entsprechung. Von besonderem Interesse ist dieser in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ begründete „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ nicht zuletzt deshalb, weil in diesem „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“ jener berühmte frühe Hinweis darauf, dass „alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische)“ sich in den „drei Fragen: 1. Was kann ich wissen?, 2. Was soll ich tun?“, 3. Was darf ich hoffen?“ „vereinigt“ (II 677), nunmehr eine „teleologische“ Ausrichtung erhält, sofern – auf dem Fundament der jenen „Kanon der reinen Vernunft“ sprengenden neuen „Freiheitslehre“ – demgemäß erst jene „spekulative Einschränkung der reinen Vernunft und praktische Erweiterung derselben“ folgerichtig auf den ganzen „praktischen Endzweck“ führt. Nun ist es die derart zutage tretende „existenzialanthropologische Wendung“, der im Grunde auch erst jene Bezugnahme auf das „Interesse meiner [!] Vernunft“ entspricht. Wenn in jenem „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“ genauer besehen die „Ich-Förmigkeit“ jener „drei Fragen“ auch erst ihre Einlösung („Realisierung“) findet, so fällt von daher nicht zuletzt auf den Status des darin jeweils fragenden „Subjekts“ – in seiner darin sich manifestierenden orientierungsbedürftigen Selbstverständigung – ein besonderes Licht. Jene „zweckmäßig vereinten“ Fragen sind zweifellos in der „Einheit der Persönlichkeit“ begründet, die sich in der „logischen Einheit der Person“ freilich nicht schon erschöpft: In dem zwar in sich differenzierten Vernunftgebrauch erhält sich gleichwohl die „Einheit der Vernunft“, worin sich auch der Selbstbezug des Menschen als „Vernunftwesen“, als „vernünftiges Wesen“ (vgl. zu diesem Unterschied noch einmal IV 550) und als „ver147 In besonderer Weise wird sich in diesem existenzialanthropologisch orientierten Ausgang im Blick auf Kant die Einschätzung Henrichs bestätigen: „So kann man verstehen, wieso in Kants Begriff vom Verfahren der Philosophie Methodenbegriffe des Erkennens mit Begriffen der sittlichen Erfahrung verschmolzen werden konnten. […] Metaphysik … ist nicht nur Sache der Wissenschaft, sondern Bedürfnis des Menschen und als solche geheimes Motiv des Dogmatismus. So vollenden sich in ihr die Freiheit selbst ebenso wie ihre Kritik, – im ‚praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen‘, der dem Weg vom Wissen der Freiheit zur Kenntnis der Freiheit, die von sich selber weiß, gleichkommt. Das Ziel des Weges der Philosophie ist der Gang in den Grund der Vernunft, – Aufklärung der Freiheit“ (Henrich 1966, 58 f ).
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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nünftiges, aber endliches Wesen“ in unterschiedlicher Weise aktualisiert.148 Kant selbst hat jedenfalls, wie erwähnt, ausdrücklich betont, dass der über die „Kritik“ hinaus intendierte „Endzweck der Metaphysik“ in dieser Selbstvergewisserung „vernünftiger, aber endlicher Wesen“, die als solche ihr „Leben führen“ müssen, verankert ist. Eben diese nunmehr subjekt-zentrierte Perspektive ist es auch, die der am Leitfaden kritischer Metaphysik vollzogenen Explikation des inneren Zusammenhangs der Weltstellung des Menschen als des existierenden „Endzwecks der Schöpfung“ und des „Endzwecks der praktischen Vernunft“ sowie des (diesen begründenden) „Endzwecks der Schöpfung“ als Ausgangspunkt zugrunde liegt. Gemäß der Einheit und „Zweckmäßigkeit“ des differenzierten Vernunftgebrauchs ist in dieser nunmehr maßgebenden subjekt-zentrierten Perspektive die „Signatur endlicher Vernunft“ nicht zu übersehen: Demzufolge realisiert sich die Weltstellung des Menschen als „endliches, vernünftiges Wesen“ vornehmlich in den alle Erfahrungserkenntnis transzendierenden Vernunftansprüchen (die notwendigerweise die Reflexion auf die Begründung, Geltung und Reichweite seiner Erkenntnis voraussetzen: „Was kann ich wissen?“); im Sinne des „durch die Tat“ „praktisch erweiterten“ Vernunftgebrauchs erfährt er sich im Anspruch der Forderung des Sittengesetzes als eines unbedingten „Sollensgesetzes“ („Was soll ich tun?“) und sieht sich – um die Kontingenz und Gebrochenheit seines Exis tierens und um Schuld, „moralisches Unvermögen“ und Tod wissend – zudem mit der unabweislichen Frage „Was soll“ und „Was darf ich hoffen?“ konfrontiert:149 Der irritierenden Erfahrung, sich – durch unverzichtbare theoretische Vernunftansprüche genötigt – über die Grenzen der Erfahrungserkenntnis hinaus gezogen zu wissen, entspricht die Nötigung, unter dem unbedingten Sollensanspruch des „moralischen Gesetzes“ (als dem „wahrhaft Übersinnlichen in uns“) zu stehen, das als solches unbedingten „Gehorsam“ verlangt; derart sieht sich dieses „vernünftige, aber endliche Wesen“ darüber hinaus in eine moral-transzendierende – unbedingte – Sinndimension des „Hoffen-Dürfens“ verwiesen, die dabei selbst der vernunftgemäßen „Einheit“ und „Ordnung der Zwecke“ (bzw. der Idee der „moralischen Welt“) folgt und sich so an einem „praktisch-notwendigen Zweck des reinen Vernunftwillens“ orientiert, „der hier nicht wählt, sondern einem unnachlasslichen Vernunftgebote gehorcht“ (IV 277). Damit ist freilich lediglich die Vorstellung des „höchsten Gutes“ als eines „beliebigen Zwecks“ (im Sinne der „Willkür“) abgewiesen; keineswegs kann das diesbezüglich beanspruchte „Nicht-Wählen“ den performativen Charakter übersehen lassen, zumal dieser auch dem daran geknüpften „ich will, dass ein Gott sei …“ (IV 278) zugrunde liegt (s. u. IV., 3.2.). 148 „Darin steht ein Können, Sollen und Dürfen der menschlichen Vernunft in Frage“, die darin sich in unterschiedlicher Akzentuierung als eine endliche erweist (Heidegger 1991, 216). 149 Ausgehend von jener „radikalen Umgestaltung“ der „Freiheitslehre“ (gemäß der Unterscheidung von „ratio essendi“ und „ratio cognoscendi“ bezüglich des Begründungsverhältnisses von „Freiheit“ und „moralischem Gesetz“) in der „Kritik der praktischen Vernunft“ spricht vieles dafür, dass die in der „transzendentalen Methodenlehre“ der „ersten Kritik“ nebeneinander gestellten Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ sodann in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ ihren besonderen Ort finden mussten und, entsprechend jener neuen „Freiheitslehre“, erst hier „Freiheit, Gott und Unsterblichkeit“ nunmehr eben „praktisch-dogmatisch“ verknüpft sind.
96 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Einmal mehr wird daraus deutlich, dass die in der „metaphysischen Naturanlage“ des Menschen verankerten Fragen in diesem Sinne als nicht lediglich „von außen“ an ihn herangetragene ausgewiesen werden; sie werden vielmehr als solche expliziert, die sich aus dem vernunft-orientierten Interesse menschlicher Existenz an sich selbst ergeben, d. h. im „bewussten Leben“ selbst verwurzelt sind und daraus auch ihre Entfaltung finden. Derart ist jene teleologische Perspektive einer kritischen „praktischen Metaphysik“ in den Standpunkt des „bewussten Lebens“ und der darin erfahrenen „Existenz-Not“ des „vernünftigen Weltwesens“ aufgehoben. Die auf „diesem praktischen Felde“ (IV 233) zu leistende Entfaltung des eröffneten Vernunfthorizontes konnte deshalb auch erst auf der Basis der neuen „Freiheitslehre“ erfolgen – ebendies musste nicht nur den Rahmen der zunächst maßgebenden Konzeption der „Vernunftkritik“ sprengen, sondern weist zuletzt auch über den „praktisch-dogmatischen Überschritt“ des „dritten Stadiums der Metaphysik“ als einer „Vernunftwissenschaft“ noch hinaus. Dazu passt recht genau, dass jene (oben benannten) zunächst zwar vereinigten „drei Fragen“, die Kant bekanntlich andernorts zuletzt noch auf die Frage „Was ist der Mensch?“ (III 448) bezog, im „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ „realisiert“ und solcherart untrennbar „teleologisch“ verknüpft sind. Dies verweist nicht nur auf die Kennzeichnung der „Selbsterhaltung der Vernunft als Fundament des Vernunftglaubens“ (s. u. IV., 3.), sondern macht zudem deutlich, dass sich in genauer Entsprechung zu der aus jenen „drei Fragen“ resultierenden Frage „Was ist der Mensch?“ offenbar ergibt: Der in jener „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft und praktischen Erweiterung derselben“ begründete „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ (IV 275) eröffnet nicht allein den hoffenden Bezug auf das „höchste Gut“ als den „praktisch notwendigen Zweck des reinen Vernunftwilllens“ (IV 277), sondern mündet zuletzt in die – der Frage „Was ist der Mensch?“ entsprechende – performative Selbstvergewisserung: „Wer bin ich?“, die freilich keine Angelegenheit einer bloßen „Anthropologie des inneren Sinnes, d. i. Kenntnis unseres denkenden Selbst im Leben“ (V 590), ist. Eine solche unverkürzte „Selbsterkenntnis“ (als eine „geschöpfliche Selbstbesinnung“ besonderer Art) sah Kant bekanntlich in engster Beziehung zur „Weisheit“ als der „Zusammenstimmung des Willens zum Endzweck (dem höchsten Gut)“ (III 410). Findet die Frage „Was ist der Mensch?“ im Grunde erst in der Bestimmung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ innerhalb des „teleologischen Systems“ (V 567 ff ) ihre systematische Antwort, die so als Basis der eigentlichen Ethikotheologie fungiert, so entspricht dem, dass die Frage „Wer bin ich?“ über die „Moralität unausbleiblich zur Religion“ und zu einem für sie „tauglichen Begriff von Gott“ führt (VI 106 Anm.). Vor allem davon soll in den folgenden Überlegungen von der – in der „Selbstgesetzgebung der Vernunft“ und dem „individuell-persönliche(n) Vollzug des einzelnen Subjekts“150 verankerten – „existenzialanthropologisch“ gewendeten Postulatenlehre, von dem darin bestimmenden Orientierungs-Interesse sowie von den daran geknüpften 150 Heimsoeth 1971, 253. Es wird sich bestätigen: „Eine ‚absolute Position‘, das wird die Entdeckung der kritischen Ethik [Kants] sein, hat außer Gott nur der einzelne Mensch. Unter der Prämisse der Vernunftkritik muss man sogar sagen, dass es Gewissheit über das Unbedingte nur in der vernünftigen Selbsterfahrung des Menschen gibt“ (Gerhardt 2002, 44).
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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religionsphilosophischen Themen ausführlich die Rede sein.151 Dabei sind vorweg durchaus unterschiedliche Nuancierungen der Idee des „höchsten Gutes“ und somit auch der Frage „Was darf ich hoffen?“ zu beachten. 2.1.1. Ein zwar noch vorläufiger (und doch nie preisgegebener) Aspekt des „höchsten Gutes“: Die „in der Idee unserer praktischen Vernunft“ enthaltene „Strafwürdigkeit“ („Strafgerechtigkeit“) Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Kant in der „zweiten Kritik“ die Idee der „moralischen Welt“ als „praktische Vernunftidee“ (eng verwandt der Idee eines „Reichs der Zwecke“: vgl. IV 66; bes. aber auch IV 70, Anm.) in dieser „Existenz“-Perspektive, d. h. im Blick auf die „Beschaffenheit, mit der er [der Mensch] wirklich ist“ (IV 113), zunächst negativ akzentuiert hat. Es ist nicht zu übersehen, dass der sich an der Erfahrung der Ungerechtigkeit des „Weltenlaufs“ (und deren Endgültigkeit) entzündende Einspruch nämlich auf die „in der Idee unserer praktischen Vernunft“ verwurzelte „Strafwürdigkeit“ abzielt – und sie auch die erste – und in gewisser Hinsicht bemerkenswerterweise auch die vorrangige (s. u. VI.) – Gestalt der Hoffnung darstellt.152 Bemerkenswerterweise steht hier also dieses „die Übertretung eines sittlichen Gesetzes“ begleitende negative Bewusstsein hinsichtlich jener in Aussicht genommenen „Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit“ als Gegenstand der Hoffnung im Vordergrund, worin sich ein besonderes „Bewusstsein von dem, was fehlt“, artikuliert, das sich in dem darin „Erhofften“ aus den auch der „praktischen Weltweisheit“ immanenten „negativen Größen“ speist. Demgemäß zielte jene in moralischen Vernunftansprüchen begründete Idee einer „moralischen Welt“ zunächst lediglich darauf ab, dass – vermittelt durch jenen Einspruch – über die unmittelbare Erfahrung des unbedingten „moralischen Sollens“ „noch etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ ist, „welches die Übertretung eines sittlichen Gesetzes begleitet, nämlich ihre Strafwürdigkeit“ (IV 150).153 151 Notwendige sachliche Anknüpfungen an schon im III. Teil benannte Themen und damit verbundene Querbezüge sind unvermeidlich. 152 Auch diesbezüglich wäre mit Rücksicht auf Kants Begründung des „höchsten Gutes“ an seine Absicht, „die negativen Größen in die [praktische] Weltweisheit einzuführen“ (I 779 f ), anzuknüpfen. Schon hier sei auf den bemerkenswerten Sachverhalt hingewiesen: Diesem frühen Rekurs auf die „Strafwürdigkeit“ (als „etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft“: IV 150) entspricht in gewisser Weise noch die späte Bezugnahme auf die „Strafgerechtigkeit“, die im Theodizee-Kontext freilich auch noch andere Akzentuierungen nahelegt (s. u. VI. Teil). 153 Dann heißt es weiter: „Nun lässt sich mit dem Begriffe einer Strafe, als einer solchen, doch gar nicht das Teilhaftigwerden der Glückseligkeit verbinden. Denn obgleich der, so da straft, wohl zugleich die gütige Absicht haben kann, diese Strafe auch auf diesen Zweck zu richten, so muss diese doch zuvor als Strafe, d. i. als bloßes Übel, für sich selbst gerechtfertigt sein, so dass der Gestrafte, wenn es dabei bliebe, und er auch auf keine sich hinter dieser Härte verbergende Gunst hinaussähe, selbst gestehen muss, es sei ihm Recht geschehen, und sein Los sei seinem Verhalten vollkommen angemessen. In jeder Strafe als solcher muss zuerst Gerechtigkeit sein, und diese macht das Wesentliche dieses Begriffs aus. Mit ihr kann zwar auch Gütigkeit verbunden werden, aber auf diese hat der Strafwürdige nach seiner Aufführung nicht die mindeste Ursache sich Rechnung zu machen. Also ist Strafe ein physisches Übel, welches, wenn es auch
98 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Mit der in dieser „Idee der praktischen Vernunft“ enthaltenen gerechtigkeits-orientierten (deshalb auch nicht mit Rache zu verwechselnden) „Strafwürdigkeit“ („Strafgerechtigkeit“) hat also die Frage „Was darf ich hoffen?“ bzw. die Orientierung an der Idee des „höchsten Gutes“ zunächst diese negative Akzentuierung gefunden, die so einen zwar noch vorläufigen, gleichwohl nie ganz aufgegebenen Aspekt der Postulatenlehre bzw. der „moralischen Teleologie“ thematisiert.154 In dem so bestimmten „[E]twas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ bringt sich also das für den „moralischen Lauf der Welt“ sensible „Vernunftbedürfnis“ zur Geltung, dass das moralisch Unerhörte nicht auch end-gültig ungehört bleiben mag, weil andernfalls eine moralisch indifferente Welt eine bloße „Wüste“ bliebe, sofern darin „das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, … ganz und gar keine Bedeutung“ hat (II 498). Folglich muss solcher Anspruch „hoffend“ darauf „insistieren“, dass das „straf-würdige“ Böse nicht ungesühnt, d. h. nicht buchstäblich „ohne Belang“ bleiben mag – dass nicht ein dumpfes Schicksal im Leiden Unschuldiger Freiheit und Moralität, aber eben auch „himmelschreiendes Unrecht“, letztendlich überhaupt „vergleichgültigt“ und alle normativen Maßstäbe endgültig ad absurdum führte, d. h. zuletzt für „nichtig“ erklärt. Es ist vorab der Einspruch gegen eine alles in ihren Sog hineinziehenden und nivellierenden – eben in jeder Hinnicht als natürliche Folge mit dem moralisch Bösen verbunden wäre, doch als Folge nach Prinzipien einer sittlichen Gesetzgebung verbunden werden müsste“ (IV 150). Es ist bemerkenswert, dass Kants Rekurs auf die an „Prinzipien einer sittlichen Gesetzgebung“ orientierte Gerechtigkeitsforderung dies „ex negativo“, nämlich mit Verweis auf die „Strafwürdigkeit“, verdeutlicht. In diesem Sinn wäre jene Frage: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ so zu spezifizieren: „Strafe ist, was auf das Böse folgt. Und bös’ ist, worauf Strafe folgt“ (Hölderlin 1992, II 49). Mit nochmaligem Blick auf Kant würde dies bedeuten: Man muss um der Gerechtigkeit willen verlangen können, dass die „Folgen“ des „verfehlten Lebens“ als „Strafe“ zu verstehen sind, zumal auch nur dies es zu begründen vermag, dass der Rechtschaffene das unverfügbare „höchste Gut“ erhoffen darf (und dies nicht bloße Folge ist). 154 Darauf zielen vermutlich auch die Anfangspartien in Kants spätem Aufsatz über „Das Ende aller Dinge“ (die vielleicht auch als kantische „Übersetzung“ des platonischen „Unsterblichkeits“-Motivs: Phaidon 64 ff gelesen werden dürfen): „Es ist ein, vornehmlich in der frommen Sprache, üblicher Ausdruck, einen sterbenden Menschen sprechen zu lassen: er gehe aus der Zeit in die Ewigkeit“ (VI 175), ebenso die schon angeführte Bemerkung Kants über „das Begnadigungs- oder Verdammungs-Urteil des Weltrichters [als] das eigentliche Ende aller Dinge in der Zeit“: „Dieser Ausdruck würde in der Tat nichts sagen, wenn hier unter der Ewigkeit eine ins Unendliche fortgehende Zeit verstanden werden sollte; denn da käme ja der Mensch nie aus der Zeit heraus, sondern ginge nur immer aus einer in die andre fort. Also muss damit ein Ende aller Zeit, bei ununterbrochener Fortdauer des Menschen, diese Dauer aber … doch auch als eine mit der Zeit ganz unvergleichbare Größe (duratio noumenon) gemeint sein, von der wir uns freilich keinen (als bloß negativen) Begriff machen können. […] Indem wir nun den Übergang aus der Zeit in die Ewigkeit (diese Idee mag, theoretisch, als Erkenntniserweiterung, betrachtet, objektive Realität haben oder nicht), so wie ihn die Vernunft in moralischer Rücksicht selbst macht, verfolgen: stoßen wir auf das Ende aller Dinge, als Zeitwesen, und als Gegenstände möglicher Erfahrung: welches Ende aber in der moralischen Ordnung der Zwecke zugleich der Anfang einer Fortdauer eben dieser als übersinnlicher, folglich nicht unter Zeitbedingungen stehender, Wesen ist, die also und deren Zustand keiner andern als moralischer Bestimmung ihrer Beschaffenheit fähig sein wird. […] Allein, da die Idee eines Endes aller Dinge ihren Ursprung nicht von dem Vernünfteln über den physischen, sondern über den moralischen, Lauf der Dinge in der Welt hernimmt, und dadurch allein veranlasst wird; der letztere auch allein das Übersinnliche (welches nur am Moralischen verständlich ist), dergleichen die Idee der Ewigkeit ist, bezogen werden kann: so muss die Vorstellung jener letzten Dinge, die nach dem jüngsten Tage kommen sollen, nur als eine Versinnlichung des letztern samt seinen moralischen, uns übrigens nicht theoretisch begreiflichen, Folgen angesehen werden“ (VI 175 f ).
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sicht „widerspruchs-losen“ – „Faktenaußenwelt“, der auch die Ansprüche menschlicher Subjektivität – und damit „redlich oder unredlich“, „gut oder böse“, „Glück oder Not“ – „hier gleichviel“ gelten (V 579), besser: eigentlich gar nicht gelten, sondern eben, einem bloßen „Naturlaufe“ zufolge, „faktisch einerlei“ sind.155 Jenes bedeutende ethikotheologische Argument, wonach ohne den Menschen die Welt eine „bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck“ bliebe, hat Kant bemerkenswerterweise wenig später, im Kontext der von ihm beanspruchten „authentischen Theodizee“, noch dahingehend zugeschärft, dass es doch die „machhabende praktische Vernunft“ sei, „die, so wie sie ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin gebietend ist, als die unmittelbare Erklärung und Stimme Gottes angesehen werden kann, durch die er dem Buchstaben seiner Schöpfung einen Sinn gibt“ (VI 116). Indes, eben aus solcher „Sinngebung“ speisen sich freilich auch das daraus aufkommende „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ und näherhin jene sinn-orientierten Rückfragen derselben an jenen „Begriff von Gott als ein moralische[s] und weise[s] Wesen“ (VI 116) und dessen Dasein, der sich doch den Ansprüchen dieser Vernunft selbst verdankt. Es sind offenbar diese „moralischen Impulse“, die das freilich noch nicht explizierte Fundament des von ihm später (missverständlicherweise) so genannten „moralischen Beweises“ darstellen, welcher in der sich entwickelnden Sensibilität für „Recht und Unrecht“ verankert ist: „Dieser moralische Beweis ist nicht etwa ein neu erfundener, sondern allenfalls nur ein neuerörterter Beweisgrund; denn er hat vor der frühesten Aufkeimung des menschlichen Vernunftvermögens schon in demselben gelegen, und wird mit der fortgehenden Kultur desselben nur immer mehr entwickelt“ (V 586), und dabei auch zunehmend von archaischen Rache-Vorstellungen gereinigt. Näherhin ist es das geläuterte bzw. sensibilisierte Bewusstsein von „Negativität“, das sich in der für Kants Ethikotheologie maßgebenden Leitidee einer „moralischen Teleologie“ als ein der praktischen Vernunft eingeschriebenes „Bedürfnis“ artikuliert und sich in der „fortgehenden Kultur“ zuletzt zum „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ verschärft, dem infolgedessen auch ein „für eine Theologie hinreichender Begriff vom Urwesen“ (V 611) Rechnung tragen muss. Kant hat dies bekanntlich besonders eindringlich zum Ausdruck gebracht in Bezug auf jene „Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft“, die „unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sind und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt, und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der 155 Hier wird noch einmal besonders deutlich: Während die „theoretische Erkenntnis“ darauf abzielt, „was da ist“ und solche Welterklärung (des „Laufs der Natur“) darauf zu achten hat, dass dabei auch „alles mit rechten Dingen zugeht“, so lenkt die praktische Erkenntnis dessen, „was dasein soll“, hingegen den Blick auf den „moralischen Lauf der Dinge“ und darauf, dass auch dabei „alles mit rechten Dingen zugeht“; solche Perspektive liegt in unterschiedlichen Akzentuierungen der Hoffnungsthematik zugrunde und gewinnt zuletzt unter den Vorzeichen der „Theodizee“ besonderes Gewicht. Freilich wird es sich als aufschlussreich erweisen, dass Kant sich bezüglich dessen, dass „alles mit rechten Dingen zugeht“, in diesem Theodizee-Kontext vornehmlich an der „Strafwürdigkeit“ orientiert.
100 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Materie zurück wirft, aus dem sie gezogen waren“ (V 579).156 Der drohende Triumph einer solchen End- und Gleichgültigkeit der bestehenden abgründigen Ungerechtigkeiten ist es offenbar, der sodann – in freilich anders akzentuierter Weise – auch noch das in jenem „moralischen Beweis“ zugrunde liegende unbedingte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ inspiriert und noch in jener irritierten Erfahrung des „Es ist: als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen“ (V 587) nachklingt. Spiegelt sich etwas davon jedoch nicht auch in der Charakterisierung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“ wider, worin mit diesem Bewusstsein der „Negativität“ im Grunde schon jene Differenzierung der Hoffnungsfrage als „Hoffen- für“ und „Hoffen-auf“ vernehmbar wird? Demzufolge müsste die Hoffnung darauf, dass das „Un-Erhörte“ nicht un-gehört bleibe“, gegenüber jener zunächst maßgebenden „Strafgerechtigkeit“ nunmehr eine unübersehbare Neuakzentuierung gewinnen und derart jener kantischen Berufung auf das „einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt, ohne auf Vernünfteleien zu achten“ (IV 278), eine besondere Zuschärfung verleihen. Vor allem das in diesem unabweislichen „Vernunftbedürfnis“ sich artikulierende sollens-sensible Bewusstsein von „Negativität“ (und auch im Blick auf jenen Gesichtspunkt der „Strafwürdigkeit“) ist es, das noch Kants späte Notiz verstehen lässt, die, schon im engeren Theodizee-Kontext, einen fundamentalen Aspekt der Idee der „moralischen Welt“ und sodann auch einen vorrangigen Aspekt der „moralischen Teleologie“ anspricht: „Es ist merkwürdig, dass unter allen Schwierigkeiten, den Lauf der Weltbegebenheiten mit der Göttlichkeit ihre Urhebers zu vereinigen, keine sich dem Gemüt so heftig aufdringt, als die von dem Anschein einer darin mangelnden Gerechtigkeit. Trägt es sich zu (ob es zwar selten geschieht), dass ein ungerechter, vornehmlich Gewalt habender, Bösewicht
156 Diese Sätze zeigen wohl in eindringlicher Weise, dass dem Erfahrungshorizont Kants die vom philosophierenden Dichter benannten Beirrungen und „Abgründe“ durchaus nicht fremd waren: „Es fliehen die Schatten und Schemen geliebter Träume, und von der stillen Hoffnung gilt es Abschied zu nehmen, die im Leben der Sterbliche braucht, um Mut zu fassen. Dunkel und verlassen verbleibt das Leben. Ohne der Hoffnung Licht sucht vergeblich der Wandrer, verwirrt und verstört, des weiten, ihm bestimmten Weges Ziel und Zweck und erkennt, dass die Welt, die er für die seine hält, ihm nicht mehr und er ihr nicht mehr zugehört.“ (Aus: G. Leopardi, Monduntergang. In: Leopardi 1990, 231) „… Und denk ich an deine Lage hier unten, wie sie der Boden, auf dem ich stehe, bezeugt, und dann, dass du glaubst, als Endzweck der Schöpfung, zum Herrn seist du berufen, und wie viele Male und gern du das Märchen erzähltest, zu diesem dunklen Sandkorn, das man Erde nennt, stiegen die Schöpfer aller Dinge dir zuliebe hernieder und hätten mit deinesgleichen wieder und wieder vertrauten Umgang, und dass, diese lachhaften Träume erneuernd, auch unsere Zeit die denkenden Köpfe beleidigt, sie, die doch alle Zeiten an Kenntnis und bürgerlicher Gesittung zu übertreffen meint – was werd ich empfinden, unseliges Menschengeschlecht? Oder was muss ich denken? Was für ein Bild soll von dir der Betrachter sich machen? Ich weiß nicht, siegt das Mitleiden oder das Lachen?“ (aus: G. Leopardi, Der Ginster oder die Blume der Einöde. In: ebd., 245 f ). Die motivliche Nähe zu dem angeführten Kant-Passus ist nicht zu übersehen. – Eine angemessene Thematisierung der unübersehbaren sachlichen Bezüge zur kantischen Philosophie bei Leopardi (die vornehmlich auch in Leopardis „Zibaldone“ zutage treten), ist hier nicht zu leisten; dies gilt auch für seine Sichtweise des Themas „Religion“, die gleichermaßen Bezüge zur Religionstheorie Freuds nahelegt und jedenfalls in dem Befund über den hartnäckigen Fortbestand von „Illusionen“ („der Vernunft und dem Wissen zum Trotz“) offenbar noch wesentlich radikaler ist als Freuds einschlägige Diagnosen über die „Zukunft einer Illusion“.
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nicht ungestraft aus der Welt entwischt: so frohlockt der mit dem Himmel gleichsam versöhnte, sonst parteilose Zuschauer. Keine Zweckmäßigkeit der Natur wird ihn durch Bewunderung derselben so in Affekt setzen, und die Hand Gottes gleichsam daran vernehmen lassen. Warum? Sie [d. i. die „Zweckmäßigkeit“] ist hier moralisch, und einzig von der Art, die man in der Welt einigermaßen wahrzunehmen hoffen kann“ (VI 111, Anm.).157 Schon zuvor hatte Kant ja ausdrücklich (in indirekter Abwehr schiefer „Gerechtigkeits“-Vorstellungen) betont: „Daher geht auch die Klage über den Mangel einer Gerechtigkeit, die sich im Lose, welches den Menschen hier in der Welt zu Teil wird, zeige, nicht darauf, dass es den Guten hier nicht wohl, sondern dass es den Bösen nicht übel geht (ob zwar, wenn das erstere zu dem letztern hinzu kommt, der Kontrast diesen Anstoß noch vergrößert)“ (VI 108, Anm.).158 Demnach wäre die primäre Gestalt der „moralischen Zweckmäßigkeit“ diese „Strafgerechtigkeit“, auf die demzufolge bemerkenswerterweise – zunächst – auch die „Hoffnung“ (das „Hoffen-Dürfen“) gerichtet wäre; demgegenüber wären die anderen Aspekte der Idee der „moralischen Welt“ (des „höchsten Gutes“) auch insofern erst daraus „abgeleitet“, als hierfür sich gerade nicht die Idee der „göttlichen Gerechtigkeit“, sondern die göttliche „Güte“ als maß-gebend erweist (s. VI 108 Anm.) und damit freilich auch die Sinnintention der Frage „Was darf ich hoffen?“ entscheidend modifiziert. Auch in diesem Theodizee-Aufsatz bleibt also diese „Strafwürdigkeit“ bzw. Strafgerechtigkeit“ als Negativ-Gestalt der „moralischen Teleologie“ durchaus erhalten, obgleich sich die Akzente in der Bestimmung des „höchsten Gutes“ und somit auch der Hoffnungsfrage unverkennbar verschieben. Dieser Rekurs auf die „Strafgerechtigkeit“ als postulatorisches Fundament lässt ebenfalls Kants unbeirrbares Bemühen erkennen, der von Nietzsche erhobenen Forderung zu genügen: „rechtschaffen [zu] sein in geistigen Dingen“ – also dass „man streng gegen sein Herz ist, dass man die ‚schönen Gefühle‘ verachtet, dass man sich aus jedem Ja und Nein ein Gewissen macht“.159 Kant war gewiss sensibel genug gegenüber der Versuchung, den angeblichen „Beweis der Kraft“ in Wahrheit eher auf einen „Beweis der Lust“ zu stützen, denn – auch da hätte Kant natürlich Nietzsche zugestimmt: „Wäre Seligkeit – technischer geredet, Lust – jemals ein Beweis der Wahrheit?“ Obwohl sein wiederholter Rekurs auf die Denkungsart jenes „rechtschaffenen Menschen“ also in der Sache uneingeschränktes Verständnis für Nietzsches Mahnung verrät, „rechtschaffen [zu] sein in geistigen Dingen“, so hätte er sich gleichwohl geweigert, sich das in der Postulatenlehre explizierte „Vernunftbedürfnis“ (als „Bedürfnis der fragenden Vernunft“) als einen bloßen „Beweis der Lust“ ausreden zu lassen. Und auch in der späten Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten“ (in dem dortigen Hinweis auf die personifizierte „Idee einer göttlichen Strafgerechtigkeit“) tritt dieses „in der Idee 157 Denn: „Strafen sind in einer Welt, nach moralischen Principien regiert (von Gott), kategorisch notwendig (so fern darin Übertretungen angetroffen werden)“ (Brief an J. B. Erhard: 21.12, 1792: AA XI, 398). Dies ist hier offenbar das grundlegende Motiv der Idee der „moralischen Welt“. 158 Daraus wird auch nochmals deutlich: Die Frage nach dem „Hoffen-Dürfen“, die auf ihren Ermöglichungsgrund verweist, zielt gleichermaßen auf den „Gott der Religion“, und damit in unterschiedlichen Akzenten auf dessen Gerechtigkeit und Güte. 159 F. Nietzsche, Der Antichrist, Aphorismus Nr. 50.
102 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre der praktischen Vernunft“ verankerte Motiv der „Strafwürdigkeit“ unter einem religionsphilosophischen Aspekt entgegen: „Das Verbrechen kann nicht ungerächt bleiben; … geschieht’s nicht bei seinem Leben, so muss es in einem Leben nach dem Tode geschehen, welches ausdrücklich darum [!] auch angenommen und gern geglaubt wird, damit der Anspruch der ewigen Gerechtigkeit ausgeglichen werde“ (IV 630 f ).160 Die einschlägigen Bezüge Kants auf „philosophierende Dichter“ verbinden sich bei ihm offenbar mit einer Reminiszenz an das „Dies irae“-Motiv aus der christlichen Toten-Liturgie – das „Nil inultum remanebit“ –, nunmehr freilich in der Perspektive „vernünftigen Hoffens“ gelesen, die den für eine „Selbsterhaltung der Vernunft“ vorrangig maßgebenden Gesichtspunkt in einer unübersehbaren existenzialanthropologischen Akzentuierung darstellt: „Denn der Mensch, seiner Moralität nach betrachtet, wird, als übersinnlicher Gegenstand vor einem übersinnlichen Richter, nicht nach Zeitbedingungen beurteilt; es ist nur von seiner Existenz die Rede. Sein Erdenleben, es sei kurz oder lang, oder gar ewig, ist nur das Dasein desselben in der Erscheinung und der Begriff der Gerechtigkeit bedarf keiner näheren Bestimmung; wie denn auch der Glaube an ein künftiges Leben eigentlich nicht vorausgeht, um die Strafgerechtigkeit an ihm ihre Wirkung sehen zu lassen, sondern vielmehr umgekehrt aus der Notwendigkeit der Bestrafung auf ein künftiges Leben die Folgerung gezogen wird“ (IV 631, Anm.).161 Noch hier ist also die Begründung für die Unumgänglichkeit des „Kardinalsatzes der reinen Vernunft“: „Ist ein künftiges Leben?“ auf die „negative“ Gestalt der „Strafgerechtigkeit“ gestützt.162 Auch dieser wohl auffällige Hinweis auf die „Existenz“ des Menschen 160 Es verdient mit Blick auf dieses zunächst vorrangig maßgebende Motiv der Postulatenlehre durchaus Beachtung, dass Kant noch in der Schlussanmerkung der späten Tugendlehre (IV 630 ff ) die „Idee der Strafgerechtigkeit“ als die „Personifizierung“ der „Gerechtigkeit“ auswies – „gleich als Substanz (sonst die ewige Gerechtigkeit genannt), die, wie das fatum (Verhängnis) der alten philosophierenden Dichter, noch über dem Jupiter ist, spricht das Recht nach der eisernen, unablenkbaren Notwendigkeit aus, die für uns weiter unerforschlich ist“. Auch diesbezüglich (also hinsichtlich dieser „Personifizierungs“Gestalten in der Bestimmung des „höchsten ursprünglichen“ und des „höchsten abgeleiteten Gutes“ und deren Verhältnis zueinander) bleibt Kants Hinweis auf den – diesbezüglich religionsgeschichtlich maßgebenden – „natürlichen Fortschritt der Vernunft“ (II 523, Anm.) sehr bedenkenswert; dies erweist sich als ein unverzichtbares Motiv bzw. als Bestandteil jenes in der „Geschichte der reinen Vernunft“ zu explizierenden Verhältnisses von „Theologie und Moral“ als den beiden „Beziehungspunkte(n) zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat“ (II 709). 161 Mit Recht stellt H. Oberer bezüglich dieser Idee der „Strafgerechtigkeit“ bei Kant fest, dieser habe „guten Grund, Strafbarkeit und Strafvollzug im Staat an dieser Stelle nicht zu thematisieren, sondern ausschließlich die Strafwürdigkeit als ein unvermeidliches Element der Idee unserer praktischen Vernunft vorzustellen. Er befindet sich hiermit moralphilosophisch in genauer Korrespondenz der Begründung des Gottes- und des Unsterblichkeitspostulats, nur dass er dort die entsprechende Glückswürdigkeit und nicht die ‚Übel-Würdigkeit‘ argumentativ in den Vordergrund stellt. Da das Sittengesetz gilt, ist es vernünftig, dass unsere Vernunft, die notwendig mit der Sittlichkeit die Glücks- bzw. Strafwürdigkeit denkt, die Existenz Gottes und seine unerläßliche Funktion für den gerechten Ausgleich in einer duratio noumenon annimmt“ (Oberer 1997, 196). Der Sachverhalt, dass Kant jedoch bezüglich dieser „Straf“- und „Glückswürdigkeit“ einen wesentlichen Unterschied sieht (s. nächste Anm.), erlaubt es jedoch nicht, so ohne Weiteres von einem „gerechten Ausgleich“ zu sprechen. 162 „Die Gerechtigkeit ist bloß punitiva und nicht remunerativa. Gott bestraft aus Gerechtigkeit und belohnt nur mit Güte“ (AA XXVIII, 1292). Es ist die „Einschränkung der Güte durch Heiligkeit in der Austeilung“, die Kant als „Gerechtigkeit“ charakterisiert (AA XXVIII, 1074). Gleichwohl wird sich zeigen
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darf wohl in der besonderen Hinsicht aufgenommen werden, dass in solchem „Existenz“Verweis über die bloße Faktizität seines Daseins hinaus auch die „ganze Bestimmung“ des Menschen indirekt mitangesprochen ist und demgemäß auf die Einheit und Ganzheit des Selbstvollzuges dieses „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ abgezielt wird, sofern das „vernünftige Weltwesen“ – das ja doch „sein eigener letzter Zweck ist“ (VI 399) – sich darin zum „Ganzen seines Daseins“ verhält.163 Es wird sich noch näher bestätigen, dass diese in der „zweiten Kritik“ maßgebende Ausrichtung in der Sache jene schon in dem dritten Abschnitt des „Kanons der reinen Vernunft“ („Vom Meinen, Wissen und Glauben“) anklingenden Aspekte aufnimmt und diese gewissermaßen „existenzialanthropologisch“ übersetzt, wonach der Vernunftglaube „auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet“ und in den ihm zugrunde liegenden Fragen „kein Mensch … frei von allem Interesse“ ist, wenn doch die daran geknüpften Erkenntnisse „alle Menschen angeht“ (II 694 f ). Diese „alles Interesse der Vernunft“ beschäftigenden Fragen werden in der „Kritik der praktischen Vernunft“ neu akzentuiert – freilich nunmehr vor dem Hintergrund der umgestalteten „Freiheitslehre“ und dem darin vollzogenen Nachweis, dass „reine Vernunft“ im Menschen als „moralischer Persönlichkeit“ „unbedingterweise praktisch sei“ (IV 120). Vor diesem Hintergrund ist damit im Grunde freilich schon gesagt, dass diese großen Themen des „Kanons der reinen Vernunft“ genauer besehen doch erst in der „zweiten Kritik“ ihre existenz-orientierende Verankerung finden können. Folglich müssen sie gemäß der dort bestimmenden existenzialanthropologischen Perspektive „übersetzt“ werden: Ist zwar das „Subjekt des moralischen Gesetzes“ jener „archimedische Punkt“, in dem sich der „Sinn des Unbedingten“ erschließt (sofern in ihm von einem unbedingten „Soll die Rede ist“: VI 341), so ist im Menschen „nach der Beschaffenheit, mit der er [als „vernünftiges, aber endliches Wesen“] wirklich ist“ (IV 113), sodann auch – not-wendig – das „Bedürfnis“ der „praktischen“ und der „fragenden Vernunft“ verwurzelt und insofern auch als ein „radikales“ legitimiert. Denn zwar wissen sich „vernünftige Weltwesen“ – „durch die Tat“! – „in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind“ (IV 235), gestellt, sofern in ihr von einem „unbedingten Sollen die Rede ist“, das den „Naturlauf der Dinge“ transzendiert; gleichwohl machen sie in solchem Anspruch unausweichliche Erfahrungen, die auf bedrängende Fragen und Abgründe führen und diese „vernünftigen Weltwesen“ dazu nötigen, eine lebenstragende Balance erst finden zu müssen, die sich eben nicht als eine bloß lebensertragende Fiktion erweist. Vielmehr soll dies für solche „vernünftige, aber endliche Wesen“, (s. u. V., 3.), dass Kants Gnaden-Motiv ein „überschießendes“ Moment enthält, das sich in der Vorstellung einer „ausgleichenden Gerechtigkeit“ nicht nur nicht erschöpft, sondern diese Vorstellung geradewegs durchbricht; indiziert es doch eine „Affirmation“, die noch im Begriff Gottes als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (III 636), nachklingt. 163 Dieses „Selbstverhältnis“ und der darin enthaltene Bezug auf das „Ganze“ eines gelungenen Lebens kommt in Kants Bestimmung des Begriffs der „Glückseligkeit“ (als „Idee eines Zustandes“!) zum Ausdruck: „Der Begriff der Glückseligkeit ist nicht ein solcher, den der Mensch etwa von seinen Instinkten abstrahiert und so aus der Tierheit in ihm selbst hernimmt; sondern ist eine bloße Idee eines Zustandes, welcher er den letzteren unter bloß empirischen Bedingungen … adäquat machen will. Er entwirft sie sich selbst“ (V 552) – was zugleich bestätigt, dass „der Genuss der Sinne bei weitem kein echtes Stück der Glückseligkeit“ sein kann (Refl. 6910: AA XIX, 203).
104 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre auch eine solche „Aussicht“ in eine „unveränderliche Ordnung der Dinge“ eröffnen, die dieses „Ganze einer moralischen Lebensgeschichte“ auch als bejahbar ausweist und so diese „vernünftigen Erdbewohner“, die aufgrund jener „höheren, unveränderlichen Ordnung der Dinge … glauben konnten [und auch mussten!], Endzweck der Schöpfung zu sein“ (V 579), davor bewahrt, sich zuletzt und im Ganzen einer abgründigen Bewandtnislosigkeit und „Un-Ordnung“ ausgeliefert zu wissen. Vorausgesetzt ist dafür jener mit dem Programm der Aufklärung und dem „Weltbegriff der Philosophie“ verknüpfte Aufweis der notwendigen Unterscheidung zwischen dem uneingeschränkten „Bedürfnis des forschenden Verstandes“ und dem „Vernunftbedürfnis“, für das sich die Welt nicht in dem „Inbegriff der Erscheinungen“ (und ihrem „Bedingungszusammenhängen“) erschöpft, sondern diese „Welt“ auch als „Schöpfung“ zu begreifen sein soll, die diesem „vernünftigen Weltwesen“ nicht nur prinzipiell unbegrenzte Erforschung der „Gesetzmäßigkeiten der Naturerscheinungen“, sondern auch denkende, handelnde und hoffende Orientierung gewährt. In diesem Sinne wäre solchem „Vernunftbedürfnis“ zufolge die Frage „Wie muss die Welt für ein vernünftiges, aber endliches Wesen beschaffen sein?“ zu beantworten: Sie muss als „Schöpfung“ gedacht werden, damit es sie auch als „seine Welt“ und sich ihr „zugehörig“ zu verstehen und zu bejahen vermag – ein Sachverhalt, der in Kants denkwürdiger Bestimmung des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ vielleicht auch mitenthalten ist. Diese so ausgezeichnete Weltstellung ist indes auch der Ort, an dem in der Natur das Bewusstsein der „Negativität“ aufbricht, das es verbietet, die für den „Naturlauf“ maßgebende „Ordnung der Dinge“ als die allein maßgebende anzuerkennen, wenn der „Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung“ nicht preisgegeben, d. h. stillschweigend durch bloße naturhafte Selbstbehauptung ersetzt werden soll. Nicht zuletzt darin liegt aber auch ein wesentlicher Grund dafür, dass die Radikalität jenes „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ darüber sowie über die darin maßgebende Idee der „moralischen Teleologie“ notwendigerweise hinausweist (s. u. VI. Teil). 2.1.2. Die in dem „höchsten Gut“ „mitenthaltene eigene Glückseligkeit“ – als Idee des „Zustandes eines vernünftigen Wesens in der Welt … im Ganzen seiner Existenz“ Obgleich jene von Kant angeführte „moralische Zweckmäßigkeit“ auch in diesem zunächst negativ akzentuierten Gerechtigkeitsmotiv zur Geltung kommt, so ist sein energisches Urteil (das sich bekanntlich dem Einfluss jenes „Glaubensbekenntnisses des savoyischen Vikars“ in Rousseaus „Emile“ verdankt), es sei „ein unausstehlicher und ungereimter Gedanke“, „dass man wohl ein dupe der Tugend sein könne“,164 lediglich 164 Vgl. dazu Rousseau 2004, 596. – „Man nennt Vorliebe … den Wunsch, sich selbst oder einen andern glücklich zu sehen ohne Beziehung auf das Urteil, ob man dieser Glückseligkeit würdig sei. Wer ohne Vorliebe (ohne dabei interessiert zu sein) urteilt, urteilt unparteiisch. Unser Wunsch ist jederzeit in Ansehung unsrer selbst parteiisch (eigenliebig). Deswegen denken wir uns einen dritten als Richter, der mit uns und andern nichts zu schaffen habe. Aber ohnerachtet alles eigenliebigen und unablässigen Wunsches können wir doch das Vernunfturteil nicht unterdrücken, dass zwar die Begierde zur Glückseligkeit
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als die Kehrseite jenes negativ akzentuierten Gerechtigkeitsmotivs anzusehen; darin gewinnt jene Frage, der „inneren Zweckbestimmung des menschlichen Gemüts“ zufolge (V 587), nunmehr eine besondere Bedeutung. Es war die irritierende, aller Idee einer „moralischen Zweckmäßigkeit“ Hohn sprechende Vorstellung, dass der zeitlebens „Gerissene“, allen „Vernunftgründen“ zuwider, letztlich – d. h. aber auch: endgültig – „besser in die Welt gepasst“ haben sollte (die eben dann, wie erwähnt, sich als bloße „Wüste“ erwiese!), während der von Kant so gern herangezogene „Rechtschaffene“ – ebenso definitiv – hingegen „ein dupe der Tugend“ bliebe.165 Dieser Befund ist es, der auch die durchaus „unparteiische“, obgleich moralisch sensible menschliche Vernunft empören muss und jedenfalls jedes affirmative Einverständnis („So sei es!“, „So wollte ich es!“), aber auch jedes indifferente Schweigen verbietet. Ein solcher, alle moralisch-normativen Ansprüche nivellierender, d. h. für nichtig erklärender Ausgang wäre also wohl als „factum brutum“ (problematisch „geurteilt“: III 540) hinzunehmen, könnte jedoch keinesfalls willentlich bejaht werden, sondern bliebe jenem unbeirrbaren Einspruch „es müsse anders zugehen“ ausgesetzt. Schon dies, dass „eine solche Welt überhaupt existiere“, erschiene als sinnlose Zumutung; ein gar dazu einverstandenes „es sei so“ muss jener „Wohlgesinnte“ gemäß dem Einspruch des an praktischer Vernunft orientierten „moralischen Gemeinsinns“ als widersinnig verweigern, zumal andernfalls jene „Verzweiflung der Vernunft an sich selbst“ (III 668) die unabweisliche Folge daraus wäre, ja dies geradewegs auf eine gänzliche „Verkehrung der Vernunft“ selbst hinausliefe, die dieses „vernünftige Weltwesen“ seines affirmativen Selbstverständnisses vollends berauben müsste. In ähnlichem Sinne wäre wohl auch eine Antwort Kants auf die Frage Hölderlins zu erwarten, warum Menschen „sich den Zusammenhang zwischen sich und ihrer Welt gerade vorstellen, warum sie sich eine Idee oder ein Bild machen müssen, natürlich vor dem Wunsche es zu sein vorher gehe, gleichwohl das letztere vor dem ersteren in dem Urteil der Vernunft vorher gehen müsse: dass die erste Frage sein muß, ob die Person gut sei, und die zweite nur: ob ihr Zustand gut und glücklich sei. Wir würden eine Welt verachten und eine Regierung der Welt, worin es anders geordnet wäre. Die Würdigkeit glücklich zu sein ist zwar nicht unser unmittelbarer Wunsch, aber die erste und unnachlaßliche condition, unter welcher die Vernunft ihn billigt. Es scheint aber auch, als wenn die Vernunft uns in diesem Gebot auch etwas verspreche. Nämlich dass man hoffen könne glücklich zu sein, wenn man sich nur so verhält, dass man derselben nicht unwürdig ist. Denn da der ohne Zweifel ein Tor (Phantast, grillenhaft) sein würde, welcher sich eigensinnig einer Regel unterwürfe, ob er gleich wüsste, dass er seinen Zweck viel besser erreichen würde, wenn er gelegentlich Ausnahmen davon machte: so würde folgen, dass man auch wohl ein dupe … der Tugend sein könnte: ein unausstehlicher und ungereimter Gedanke. Es kommt daher mannigmal auch wohl denkenden Personen in den Sinn, … sich so zu entrüsten, vornehmlich über Menschen, dass sie der Tugend abtrünnig werden wollten, und, weil diese gleichsam ihnen nicht Wort hält, sondern sie hintergeht, ihre Anmahnungen nicht zu hören“ (Refl. 7059, AA XIX, 237 f; datiert für den Zeitraum 1776–1778). Kants spätere Bestimmung der „fides“ klingt hier unüberhörbar an; freilich ist das in dieser Reflexion erwähnte „Versprechen“ ein von uns „hineingelegtes“, obgleich aus „moralisch hinreichendem Grunde“, und dies deshalb, weil auch dieses „Hineinlegen“ selbst schon eine „moralische Denkungsart“ voraussetzt bzw. sichtbar macht. 165 In diesem Sinne betont auch H. Wagner, „dank solcher Religion“ ließe sich nach Kant hoffen, „dass einem in seiner Natur allenthalben bedingten, abhängigen, angewiesenen Vernunftwesen das ihm aufgrund dieser solchen Natur notwendig eigene Streben nach einer Glückseligkeit, deren es sich durch seine Sittlichkeit auch würdig gemacht hat, nicht absurderweise völlig ohne Erfüllung bleiben wird – trotz seiner eigenen Moralität sozusagen unmoralisch genarrt“ (H. Wagner 1975, 519).
106 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre von ihrem Geschick, das sich genau betrachtet weder recht denken ließe noch auch vor den Sinnen liege?“166 Schon jene Frage, „wie die Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein müsse“, bliebe in einem bloßen „Naturlaufe“, als der „einzigen Ordnung der Dinge“, im Grunde „ortlos“, ja müsste sich derart geradewegs als absurd erweisen. Der zwar moralisch verankerte „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ und der hierfür vorausgesetzte „Endzweck der Schöpfung“ entsprechen auch einer moralischen Intuition – eben gemäß einer „moralisch konsequenten Denkungsart“ –, zumal die Möglichkeit oder Unmöglichkeit derselben, durchaus aus moralischen Gründen, in einem ganz buchstäblichen Sinne nicht gleich-gültig sein kann – obgleich diesen Endzweck zu haben bzw. zu „befördern“, nicht einfach eine zu befolgende Pflicht unter den anderen ist. Als „moralisch geboten“ kann dieser „Endzweck“, so hat sich schon gezeigt, doch allein insofern gelten, als er auf das „als sein sollend“ Erhoffte (das „höchste Gut“) abzielt und eine diesbezügliche moralische Indifferenz des „moralisch Ungläubigen“ nicht nur selbstwidersprüchlich, sondern auch tatsächlich unmoralisch wäre; nur deshalb kann die bejahende Orientierung an diesem „Endzweck“, in der „moralischen Welt“ (d. h. einer „moralischen Denkungsart“) verankert, in solcher Hinsicht zugleich auch „geboten“ sein. Die moralische Intuition, dass eine „moralische Welt“ sein soll, d. h. „nicht allein wir einen uns apriori vorgesetzten Endzweck haben“ (V 581),167 ist lediglich eine „moralisch konsequente“ Sinnaffirmation und bedeutet so, gemäß der Idee einer „moralischen Welt“, allein dies, mit sich moralisch und im Blick auf seine „ganze Bestimmung“ einstimmig zu denken. Erst dies schließt die dann – mit Blick auf das „Ganze aller Zwecke“ erlaubte, 166 Hölderlin 1992, II 53. – Noch einmal sei darauf hingewiesen: Während das „absurdum logicum“ eine „Ungereimtheit in Urteilen“ meint, sei das „absurdum practicum“ dies (wie Kant gelegentlich in seinen Vorlesungen betont: AA XXVIII, 160), „wenn gezeigt wird, dass der ein Bösewicht sein müsste, der dies oder jenes leugnen wollte. Und das ist der Fall bei dem moralischen Glauben“. Es ist dies (für sich genommen) freilich eine missverständliche Bemerkung; vielleicht wäre das „absurdum practicum“ so zu bestimmen, „wenn gezeigt wird“, dass „dies oder jenes“ wohl zwar durchaus als Sachverhalt ohne „Ungereimtheit“ gedacht, aber eben nicht mit Zustimmung gedacht und als wirklich gewollt („es sei so“) werden darf – Kants „absurdum practicum“-Argument variiert wohl auch E. Weil in seiner Argumentation: „Wenn die Welt tatsächlich absurd wäre, dann würde die Erklärung, dass sie es nicht sein sollte, daran nichts ändern – im Gegenteil, in einer solchen Welt würde die Frage nach einem Sinn nicht einmal formuliert werden, da es den Begriff des Sinns für keine endliche Intelligenz gäbe“ (Weil 2002, 70). Indes, ist dieser Ausgang davon, dass die Absurdität der Welt doch gerade darin bestehe, dass es eben „den Begriff des Sinns für eine endliche Intelligenz“ gibt, nicht ein wesentliches Fundament der Idee der „moralischen Teleologie“? Der Begriff des „absurdum morale“ ist jedenfalls enger als derjenige des „absurdum logicum“. 167 Es ist hier nicht zu prüfen, ob in diesem Motiv eine „endzweck“-orientierte Modifikation des ciceronischen Gedankens der Einheit des „Vernunft“- und „Weltbürgerrechts“ zu erkennen ist: „Was aber ist – ich will nicht sagen: im Menschen, sondern im Weltall und auf der Erde – göttlicher als die Vernunft? […] Es existiert eine ursprüngliche Gemeinschaft der Vernunft zwischen Mensch und Gott. Wem die Vernunft gemein ist, dem ist auch die rechte Vernunft gemein. Da diese aber das Gesetz ist, müssen wir dafürhalten, dass die Menschen mit den Göttern auch durch das Gesetz vergesellschaftet sind. Zwischen denen eine Gemeinschaft des Gesetzes besteht, zwischen denen besteht auch eine Gemeinschaft des Rechts … Dieses Universum muss als ein einziger, Göttern und Menschen gemeinsamer Staat begriffen werden“ (Cicero, De legibus I 22 f; zit. n. Tuschling 2011, 153). Dabei wäre freilich gleichermaßen Kants ausdrückliche Kritik an der stoischen Konzeption des „höchsten Gutes“ mitzuberücksichtigen, sodass allein aus solcher Anknüpfung und „Brechung“ (und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchteten praktischen Vernunft“) auch Grundmotive der kantischen „Ethikotheologie“ rekonstruierbar sind. Für einschlägige Hinweise danke ich Burkhard Tuschling.
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aber auch nur so der „Ordnung der Zwecke“ entsprechende – Rücksicht auf die darin mitenthaltene „eigene Glückseligkeit“ ein: „Das moralische Gesetz gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstande alles Verhaltens zu machen. Dieses aber kann ich nicht zu bewirken hoffen, als nur durch die Übereinstimmung meines Willens mit dem eines heiligen und gütigen Welturhebers, und, obgleich in dem Begriffe des höchsten Guts, als dem eines Ganzen, worin die größte Glückseligkeit mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkommenheit, als in der genauesten Proportion verbunden vorgestellt wird, meine eigene Glückseligkeit mit enthalten [!] ist: so ist doch nicht sie, sondern das moralische Gesetz (welches vielmehr mein unbegrenztes Verlangen darnach auf Bedingungen strenge einschränkt) der Bestimmungsgrund des Willens, der zur Beförderung des höchsten Guts angewiesen wird“ (IV 261).168 In solcher – jenen „Rechtschaffenen“ leitenden – Motivation liegt auch der eigentliche Grund dafür, dass Kant für eine „moralisch konsequente Denkungsart“ die Hoffnung auf das „höchste Gut“ sogar als „moralisch geboten“ beansprucht hat – in jenem Sinne, dass die Annahme der „Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität“ eben „durch Sittlichkeit“ notwendig sei (V 577), wobei solche „Gemäßheit“ freilich vor weitere Fragen stellt.169 Jenseits bloßer „Selbstbesorgtheit“ kann aus moralischen Gründen auch nicht gewollt (und nicht nur nicht gewünscht) werden, Teil einer solchen Weltordnung zu sein („dass eine solche Welt sei“), weil andernfalls für ein „endliches Vernunftwesen“ ein „zweckmäßiger Vernunftgebrauch“ vollends unmöglich wäre. Es ist das lediglich an der Idee der „moralischen Welt“ orientierte „Urteil der unparteiischen Vernunft“ selbst, das – eben deshalb – auch nicht bloße Einheit, sondern das genaue „Zusammenstimmen“ (d. h. „ganz genau in Proportion“: IV 238 f; VI 132 f, Anm.) von „Tugend und Glückseligkeit“ in „praktischer Absicht“ fordert – zumal doch nur dies den moralischen Charakter dieser Hoffnung gewährleistet, worin sich die je individuelle „moralische Lebensgeschichte“ dieses „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ aufgehoben wissen kann170 und so auch erst zu einem „Lebensganzen“ zu sammeln vermag. 168 Auch die in dieser Idee gedachte „Zusammenstimmung“ legt einen Blick auf Wolffs Bestimmung der „perfectio“ als „consensus in varietate“ nahe, ebenso wie Kants Rekurs auf das „Glück des Lebens“ Erinnerungen an Wolffs Bestimmung des „vollkommenen Lebens“ weckt: „Vita hominis, quatenus denotat complexum actionum liberarum, dicitur perfecta, si singulae ad communem quendam finem tendant, ad quem tendunt naturales“ (Ch. Wolff, Philosophia prima sive Ontologia § 503). 169 Insofern weist R. Lauth mit Recht darauf hin: „Das höchste Gut wird Objekt der Sittlichkeit, wenn das Sittengesetz sich in einem endlichen Vernunftwesen manifestiert. […] Das höchste Gut ist nach Kant das, was geboten ist, wenn das Apriori des Sittengesetzes sich im endlichen Vernunftwesen auf Sinnlichkeit bezieht“ (Lauth 1963, 589). – Die Hoffnungsfrage („Was darf ich hoffen?“) wäre demnach selbst darauf gerichtet, was „sein soll“ und übersteigt doch die moralische Verfügbarkeit, während die „theoretische Erkenntnis“ darauf geht, „was da ist“, und die praktische Erkenntnis auf das „Sollen“ abzielte. Die (jenseits allen bloßen Wünschens) auf das „Sein-Sollen“ gerichtete Hoffnungsrationalität wäre demnach als „Sinnfrage“ von der „theoretischen“ und „praktischen Erkenntnis“, von der „Philosophie der Natur“ und der „Philosophie der Sitten“ (vgl. II 557; 701) und deren unterschiedenen Vernunftgesetzgebungen, noch einmal abzugrenzen und modifiziert in diesem Sinne die darin maßgebende Orientierung an dem, „was da ist“ und an dem, „was dasein soll“ (II 701). 170 Ebensowenig ist zu übersehen, dass die in dieser Idee der „Glückseligkeit“ gedachte „Totalität“ (als „höchstes Gut“) auf eine „perfectio“ abzielt, die sich nicht an einer „Summe“, sondern an der „Zusam-
108 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Über jenen bloß negativen Aspekt der „Strafwürdigkeit“ hinaus führt dies, in einem weiteren Schritt, auf den (gewissermaßen ins Positive gewendeten) Gedanken, dass es durchaus einer gerechtigkeits-orientierten umfassenden Vernunftperspektive entspricht, im Blick auf das „gelingende Ganze“ der Lebensgeschichte eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ sodann auch die Frage zu stellen, was denn, bei vorausgesetzter – gleichwohl doch nur negativ als Nicht-Unwürdigkeit bestimmter – „Glückswürdigkeit“,171 für dieses „vernunftbegabte Erdwesen“ als das „vollendete Gut“ gelten darf, d. h. „im Ganzen seines Zustandes“. Denn im Ausgang von dieser stets neu wahrgenommenen Diskrepanz, ja dem buchstäblichen „Wider-Sinn“, wonach das zwar moralisch unbedingt „Sinn-volle“ und Gebotene letztendlich eben doch ohne Erfüllung und Trost bliebe, expliziert diese Idee des „höchsten Gutes“, nun in einer positiven Wendung, jene unumgänglichen Bedingungen „in notwendig praktischer Rücksicht“, unter denen allein jene praktische Orientierung vor dem Schicksal bewahrt bleiben kann, sich als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ (IV 133) schlussendlich einer endgültigen (moralischen) Absurdität ausgeliefert zu sehen.172 Dies mag von jenem beherzten „Rechtschaffenen“ wohl zwar ertragen werden, keinesfalls kann sie jedoch gewollt (d. h. auch moralisch bejaht) werden: Zwar unbedingt sinnhaft, weil moralisch geboten, obgleich nicht sinnvoll – sondern letztendlich buchstäblich belanglos, d. h. mit Blick „auf den moralischen Lauf der Welt“ sowie auf „das Ganze seiner Existenz“ im Letzten doch ohne umgreifende und auch endgültige „Bewandtnis“.173 Dies bliebe das nolens volens zwar nüchternerweise zu akzeptierende Los, das jedoch nicht als auch sinnvoll affirmiert werden könnte – d. h. eben nicht so, dass dieses „vernünftige, endliche Wesen“ über alle moralische Bewährung hi-
menstimmung“ (consensus) orientiert, d. h. darin auch ihr Maß hat – eine Vorstellung, die sich an dem „Zweck“ als der „ratio perfectionis“ bemisst. 171 Vgl. auch Refl. 6857, AA XIX, 181: „Die Würdigkeit glücklich zu sein besteht im Verdienst, welches die Handlungen um die Glückseligkeit haben, die, so viel an der Freiheit liegt, auch wirklich, wenn sie allgemein wären, sich so wohl als andre glücklich machen würden.“ – Hier wäre beim späteren Kant selbst ein Anknüpfungspunkt für eine noch weiter reichende ethiko-theologische Differenzierung der Idee des „höchsten Gutes“ zu finden – gerade in Verbindung mit einem wichtigen (offensichtlich zeitlich nahe formulierten) religionsphilosophischen Motiv des „Gemeinspruch“-Aufsatzes. Freilich bleibt es dabei: „Meritum im negativen Verstande, da man nur nicht der Glückseligkeit unwürdig ist, findet nur in Verhältnis auf ein gütiges und vermögendes, aber nicht bloß gerechtes Wesen statt“ (Refl. 7109, AA XIX, 250). 172 Insofern weist Kants Religionsbegründung offensichtlich über den Anspruch Cohens noch hinaus: „Die Selbsterkenntnis seiner [des Menschen] Schwächen ist die Geburtsstätte der Religion“, wie er, wohl in einer Reminiszenz an (bzw. Abgrenzung von) Feuerbachs Bemerkung über das menschliche Ohnmachtsgefühl als „Geburtsstätte der Religion“ betont (Cohen 1996, 54). 173 Diese „Bewandtnis“-Orientierung spielt in Henrichs Buch „Denken und Selbstsein“ (2007, 130–141, hier: 136) eine bedeutsame Rolle; sie ist wohl auch in Kants – unverkürzter – Bestimmung der Idee der „Glückseligkeit“ wiederzufinden. Es spricht wohl einiges dafür, Henrichs wiederholten Rekurs auf die „Bewandtnis des Lebens“ im Blick auf Kants Überlegungen über Unterschied und Entsprechung von „subjektivem“ und „objektivem Endzweck“ zu lesen: Dabei bleibt freilich zu beachten, dass diese „Bewandtnis“-Bezüge diese „existenz“-orientierte Hinsicht voraussetzen; in ihr werden auch erst die kantischen Hinweise auf das „absurdum practicum“ verortbar, die sich im Falle der Negation bzw. des Ausfalls des „höchsten Gutes“ ergeben. Im Rahmen der metaphysischen Erörterung der Idee des „Endzwecks der Metaphysik“ selbst bleibt diese existenzielle Perspektive (diejenige jenes „Rechtschaffenen“, „subjektiv betrachtet“) noch ortlos.
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naus derart auch „des Lebens froh werden“ könnte (vgl. u. IV., 3.3.).174 Ebendies müsste aber auch das Dasein eines in moralischen Ansprüchen stehenden „vernünftigen Weltwesens“ als schlechthin absurd erscheinen lassen, der zugleich – aus moralischen Gründen – das Dasein einer moralischen Welt“ (was „da sein soll“) bejahen muss, weil die unhintergehbare und nicht relativierbare Faktizität des Bewusstseins des „moralischen Gesetzes“ dies verlangt. Moralisch anspruchsvoll, und doch, gleich „einem bloßen Naturlaufe“, letztendlich „belanglos“175: Ebendies erwiese sich zuletzt als die „einzige Ordnung der Dinge“ – und wäre dennoch zugleich unvereinbar mit jener „Ordnung der Dinge, in der wir [als moralische Wesen] jetzt schon sind“. So wäre eine – mit der Idee der „moralischen Welt“ gänzlich unvereinbare – „Weltordnung“ als end-gültig anerkannt, d. h. als solche geradwegs bejaht: Zwar (hinsichtlich theoretischer Vernunftansprüche) heilsam ent-täuscht, zugleich (im Sinne praktischer Vernunftansprüche) in eine „ganz andere Ordnung der Dinge versetzt“, die zwar akzeptiert, jedoch – und zwar aus moralischen Gründen – nicht affirmiert werden kann, zumal der in der praktisch-notwendigen „Idee einer moralischen Welt“ gedachte „Sinn des Ganzen“ und somit auch das „Glück des ganzen Lebens“ als bloße Illusion abzulegen wäre. Dies berührt den „Nerv“ der kantischen Kritik des „Vernunftunglaubens“ (s. dazu u. IV., 3.1.3.): Es darf nicht mit Zustimmung gedacht werden (und erlaubt auch nicht bloße Indifferenz), dass dieser „ganze Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“ sich als bloße „Chimäre“ erwiese und der Tugendhafte der „Dupierte“ sei – liefe dies doch zuletzt darauf hinaus, das „Interesse der Vernunft“ an sich selbst zu dementieren. „Moralische Selbstzufriedenheit“ (als ein bloß „negatives Wohlgefallen an seiner Existenz“: IV 247)176 und „selbst“-relativierende Gelassenheit bzw. ein gleichermaßen hilf- und trostloses „sittlich-elitäres stoisches Dennoch“177 – ebenso ein illusionsloses „Verstehen“ seines Lebens, „ohne zu trauern“ – dies bliebe das heroische letzte Wort, das den nicht zu vereinnahmenden „Sinn des Unbedingten“178 auch gegenüber einem 174 Freilich bleibt es dabei (und spiegelt so die unauflösliche Einheit von „moralischer“ und „moralisch konsequenter Denkungsart“ wider): „[D]ieses Ich, das sich will, kann sich nur dann so auf sich beziehen, wenn es sich nicht als Zufälliges gegen die Vernunft durchsetzt oder durch Vernunft als Mittel seine Identität sichert; vielmehr ist Reinheit und, was dasselbe ist, Ichlosigkeit die Bedingung, ohne deren Erfüllung es gar nicht möglich ist, dass ein Ich sich in seiner Zufälligkeit und Hinfälligkeit akzeptieren kann. Erst die moralisch geforderte Selbstpreisgabe ermöglicht Selbstannahme und Selbsterhaltung“ (Sommer 1988, 180). 175 Jener angeführte (gewiss irreführende) „anthropologisierende“ Bezug Kants auf die „unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines … praktischen Vernunftvermögens, sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg desselben umzusehen“ (IV 654, Anm.), muss demgemäß eben in dem Sinne verstanden werden, was aus solchem Handeln „erfolgt“, d. h. ob dieses sich letztlich als „belanglos“ erweist oder nicht. Auch hier ist nochmals an jene von Henrich aktualisierten Motive zu erinnern (Henrich 2007, 370). 176 Wenig später ist (was auch für diesen „Existenz“-Sinn nicht uninteressant ist) von einem „negativen Wohlgefallen mit seinem Zustande, d. i. Zufriedenheit“, die Rede, „welche in ihrer Quelle Zufriedenheit mit seiner Person ist“ (IV 248). 177 Brandt 2007b, 306. 178 Dass diese Dimension des „Sinns des Unbedingten“ wirklich (und damit in der „Welt von einem [unbedingten] Soll“ die Rede) ist, ist freilich voraus-gesetzt, sofern diese Sinndimension in ihrer Faktizität sich nicht selbst konstituiert; insofern ist dieser „Sinn des Unbedingten“, das Prinzip aller daraus abgeleiteten
110 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre versagten – oder doch wenigstens „verhüllten“ – „unbedingten Sinn“ bewahrt und bewährt. Auch wenn jene „moralische Selbstzufriedenheit“ es solcherart gewährleistet, mit sich und seiner „ganzen Bestimmung“ nicht in Widerspruch zu geraten, so weist das in jenem „Dass-eine-Welt-überhaupt-existiere“ sich bekundende affirmative „Mitsich-einstimmig-Sein“ darüber doch hinaus und indiziert so eine Zustimmung von ganz anderer Art.179 Andernfalls erfüllte der Mensch zwar die (moralische) Bedingung dafür, „Endzweck der Schöpfung“ zu sein, gleichwohl bliebe dabei ausgeblendet, was denn „Endzweck“ (d. h. die „ganze Bestimmung“) dieses als „Endzweck der Schöpfung“ exis tierenden „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ sein kann – solche Ausblendung wäre freilich mit der Idee einer „moralischen Welt“ auch ganz unverträglich. Die zugemutete Selbstbeschränkung einer unter dem Vorzeichen des „negativen Wohlgefallens“ (als „moralische Selbstzufriedenheit“) stehenden „Existenz“ hat Kant, noch einmal sei es betont, zwar immer wieder als möglich erwogen;180 sie blieb jedoch stets von jenem – am Maßstab der Idee der „moralischen Welt“ orientierten – Bewusstsein des Bestimmungen ist, selbst kontingent und verweist auf den Ermöglichungsgrund dieser Dimension des „Sinns des Unbedingten“; indes erschöpft es sich nicht darin, einfachhin „Prinzip“ desselben zu sein, ist also lediglich „partiell“ dadurch bestimmt. 179 Es sind vermutlich durchaus diese einschlägigen kantischen („Endzweck“-)Motive, von denen sich auch Henrichs eindringliche Erwägungen über den Zusammenhang von „sittlichem Bewusstsein“ und „Bewandtnis des Lebens“ der Sache nach leiten lassen. Dies zeigt sich wohl auch in seiner Argumentation: „Der Grund, der unser Leben ermöglicht, und das Ganze, dem auch dieser Grund zugehört, werden nunmehr in eine Beziehung zu der Welt gesetzt, in der die Menschen leben, und als Grund einer Sinnordnung in ihr verstanden. In einer solchen Welt würden unsere endlichen Ziele zu deren Verlauf im Ganzen in Übereinstimmung stehen. In einer solchen Welt würden dann auch die Leben, die scheinbar unvollendet und in Lebensnot zugrunde gehen, von einer Affirmation gedeckt sein, die als solche auch in jedem Leben zu erfahren ist. Enden sie so auch definitiv, so sind sie doch nicht verloren. Was immer das näher heißt – es spricht viel dafür, dass wir, haben wir alles bedacht, wirklich so denken müssen [!]“ (Henrich 2007, 135 f ). Solches „Müssen“ legt wohl auch einen Bezug auf das Motiv der gebotenen „Beförderung des höchsten Gutes“ nahe (s. u. IV., 2.2.3.). – Gleichwohl dürfen die Unterschiede zu Kant nicht übersehen werden, die besonders in Henrichs Interpretation der Entwicklung der kantischen „Moraltheologie“, näherhin der „Moraltheologie auf dem Weg zum Absoluten“, zutage treten. 180 Dieses Motiv hat Kant im Kontext seines Verweises auf die „Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit“ in besonderer Eindringlichkeit formuliert, die den Aspekt des im Sinne des „negativen Wohlgefallens“ verstandenen „Trostes“ und die verbleibende Spannung seiner verhängnisvollen „Unversöhntheit“ zu dem sinn-affirmativen „bonum consummatum“ betont: „Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im größten Unglücke des Lebens, das er vermeiden konnte, wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können, noch das Bewußtsein aufrecht, daß er die Menschheit in seiner Person doch in ihrer Würde erhalten und geehrt habe, daß er sich nicht vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache habe? Dieser Trost ist nicht Glückseligkeit, auch nicht der mindeste Teil derselben. Denn niemand wird sich die Gelegenheit dazu, auch vielleicht nicht einmal ein Leben in solchen Umständen wünschen. Aber er lebt, und kann es nicht erdulden, in seinen eigenen Augen des Lebens unwürdig zu sein. Diese innere Beruhigung ist also bloß negativ, in Ansehung alles dessen, was das Leben angenehm machen mag; nämlich sie ist die Abhaltung der Gefahr, im persönlichen Werte zu sinken, nachdem der seines Zustandes von ihm schon gänzlich aufgegeben worden“ (IV 211). Dieses bei Kant immer wiederkehrende (das „absurdum morale“ berührende) Motiv trifft zweifellos einen zentralen Aspekt der kantischen Frage nach dem „Hoffen-Dürfen“. Eigentümlich „untröstlich-unversöhnt“ bleibt solcher „Trost“ wohl vornehmlich deshalb, weil ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“ sich in solcher Selbsterfahrung nicht als „gewollt“ zu begreifen und zu bejahen vermag; s. dazu H. Blumenberg 2006 (Kapitel IX: Trostbedürfnis und Untröstlichkeit des Menschen: 623–655).
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„Etwas fehlt“ begleitet, das sich auch nicht als „eudämonistisch“ abtun lässt. Erst eine derart eröffnete „Aussicht in eine selige Zukunft“ als eine „von allen zufälligen Ursachen der Welt unabhängiges vollständiges Wohl“ (IV 254, Anm.) und die damit verbundene Sinnaffirmation vermag jene moralische „Selbstzufriedenheit“ auch mit einem „fröhlichen Herzen“ in Befolgung der Pflichten im „Bewusstsein seiner Existenz“ – und zwar ohne eudämonistischen Rückfall und wider den Anschein „prinzipieller Trostlosigkeit“ – zu verbinden, die ebenso in Kants Rekurs auf einen „praktischen Endzweck“ (bzw. in dem darauf gerichteten „moralischen Wunsch“, der beide Aspekte vereinigt) anklingt; sie liegt auch jener Kennzeichnung einer diesbezüglichen „Willensbestimmung von besonderer Art“ zugrunde, die sich mit einer Orientierung an der Idee der Glückseligkeit als der „Lust aus dem Bewusstsein seiner Selbstmacht zufrieden zu sein“, eben doch nicht begnügen konnte.181 Die hier maßgebende „Willensbestimmung“ zielt vornehmlich darauf ab, dass das „moralisch Gebotene“ selbstverständlich um seiner selbst willen befolgt werden muss und als alleiniger „Bestimmungsgrund“ jedoch auch als „sinnvoll“ bejaht werden kann – eben im Sinne jenes „dass eine Welt“, in der „von einem Soll die Rede ist“, existiere. Demgemäß macht der hierfür bestimmende Sinn-Horizont deutlich, dass solche Sinnorientierung sich jedoch nicht in der moralisch integren Lebensführung jenes „Rechtschaffenen“ (als „oberstem Gut“) schon erschöpft. Darüber hinaus sind damit auch die in der praktischen Idee des „Weltbesten“ enthaltenen Ansprüche auf ein „gelingendes Ganzes“ unter der Bedingung des „Moralischen“ anerkannt und erlauben so auch eine Zustimmung, „dass eine Welt sei“, wofür das daran orientierte – vom „zufriedenen Gemüt“ noch unterschiedene182 – „fröhliche Herz“ „Platz bekommt“: Allesamt Motive, die ohnehin in Kants existenz-orientierendem Bezug auf den „praktisch notwendigen Zweck des reinen Vernunftwillens“ (IV 277) impliziert sind. Es ist eben diese – moralisch begründete – sinn-affirmative Perspektive, die somit jede Aushöhlung bzw. Unterbietung der Autonomie des Moralischen abwehrt. Darauf zielt Kants differenzierungs-bedachter Hinweis darauf, „dass der Lehrer des Evangeliums, wenn er von der Belohnung in der künftigen Welt spricht, sie dadurch nicht zur Triebfeder der Handlungen, sondern nur (als seelenerhebende Vorstellung der Vollendung der göttlichen Güte und Weisheit in Führung des menschlichen Geschlechts) zum Objekt der reinsten Verehrung und des größten 181 Refl. 7202, in: AA XIX, 276. Dann ist eben dies zu bedenken: „Bestreitet nun jemand die Erreichbarkeit des höchsten Gutes als Endzwecks allen moralischen Handelns, dann kann selbst seine ganze Moralität als tätige Achtung vor dem Sittengesetz in Bezug auf das, was er sich je und je vorsetzt und ausführt …, nicht die Kraft einer Triebfeder haben“ (Geismann 2000, 470). Eben dies besagt Kants Verweis, dass wir jenen „Vernunft ideen … objektive Realität freiwillig geben, da wir versichert sind, dass in diesen Ideen kein Widerspruch gefunden werden könne, von der Annahme derselben die Zurückwirkung auf die subjektiven Prinzipien der Moralität und deren Bestärkung mithin auf das Tun und Lassen selbst wiederum in der Intention moralisch ist“ (III 636 f ) – eine auch aus der „Religionsschrift“ vertraute Argumentation. Freilich würde das moralische Gesetz deshalb seine Verbindlichkeit auch nicht verlieren, wenn praktische Vernunft dieserart mit dem „absurdum practicum“ konfrontiert wäre (zum „absurdum practicum“ s. o. IV., Anm. 166). 182 So Kant schon früh: AA XV 258. Kants spätere Bezugnahme auf das „fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht“ (IV 670 Anm. 2) klingt hier schon an; dieses „fröhliche Herz“ steht mit jenem „Ohne die Religion seines Lebens nicht froh werden Könnens“ in engem Zusammenhang.
112 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre moralischen Wohlgefallens für eine die Bestimmung des Menschen im ganzen beurteilende Vernunft habe machen wollen“ (IV 832). Dieser Rekurs auf das „größte moralische Wohlgefallen“ ist in diesem Kontext nicht zuletzt auch deshalb von besonderem Interesse, weil es einen bloß „anthropologisierenden Kurzschluss“ in der Begründung des „höchsten Gutes“ vermeidet (und sehr wohl das „anthroponome“ Fundament wahrt).183
2.2. Erforderliche weitere Differenzierungen innerhalb dieser Idee des „höchsten Gutes“. Zur Frage: „Was darf ich hoffen?“ Jener ein besonderes „Etwas fehlt“ anzeigende Hiatus zwischen einer solchen „moralischen Selbstzufriedenheit“ und dem gewollten „dass eine Welt existiere …“ führt die unterschiedliche Intention der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ lediglich besonders eindringlich vor Augen und knüpft so noch einmal an jene ethikotheologische Vermittlung des moralisch-„subjektiven“ und der „objektiven Realität des Endzwecks“ an. In dieser „subjekt-zentrierten“ Übersetzung des „Endzwecks der Metaphysik“ erfährt jene metaphysische Idee einer „moralischen Welt“ (Kants „praktischer Weltbegriff“) nunmehr eine besondere „existenzialanthropologische“ Akzentuierung, die sich vornehmlich in der „zweiten Kritik“ und in der „Religionsschrift“ als maßgebend erweist, zuletzt aber auch in jener „Zweckverbindung der Vernunftideen“ der späten „Preisschrift“ bestimmend ist. Dafür bleibt freilich jene angezeigte radikale Umgestaltung der kantischen Freiheitslehre der maßgebende Hintergrund, dem zufolge der Aufweis des „unbedingt Praktischen“ jetzt über das „Faktum der [für sich selbst praktischen] Vernunft“ der „Freiheit Realität verschafft“ (IV 110) und so die nunmehr bestimmende „subjekt-zentrierte“ Ausrichtung begründet. Daraus folgt: Der Weltstellung des Menschen gemäß wird die unter der Voraussetzung moralischer Ansprüche stehende „Glückseligkeit“ als der „ganze Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“ ausgewiesen. Denn für „vernünftige Weltwesen“, die als solche ihr Leben an Vernunftmaßstäben orientieren und allein so auch als „Endzweck der Schöpfung“ gelten dürfen, kann sich das „ganze und vollendete Gut“ nicht auf Moralität (als das „oberste Gut“, d. i. den gewiss „vornehmsten Teil“ des „vollendeten Gutes“) beschränken184; der Ausblick darauf legitimiert sich durch jene in der Idee der „moralischen Welt“ als dem „Ganzen aller Zwecke“ angezeigte Vernunftperspektive, woran nun auch das „höchste Gut“ als „eigene Glückseligkeit“ teilhat, d. h. darin „mitenthalten ist“ (IV 261). War es gemäß der Orientierung an der „Idee der allgemeinen Glückseligkeit“ die 183 Damit wird aber auch klar, dass die gewiss missverständliche einschlägige Rücksicht auf das, was der Mensch in dem „Zweckbezug“ „lieben kann“ (IV 655, Anm.), sich auf diese sinn-orientierte Perspektive des „größten moralischen Wohlgefallens“ bezieht, also keineswegs den „anthroponomischen“ Anspruch unterbietet. 184 „Diese ganze Bestimmung des Menschen … kann sich aber nicht nur auf jene unbedingte Selbstbestimmung einer reinen praktischen Vernunft beziehen, durch die das oberste Kriterium aller moralischen Intentionen gegeben ist. Die ganze Bestimmung des Menschen muss, wenn anders sie die ganze sein soll, auch den ganzen Menschen umfassen … Kants Ethik … trägt der conditio humana durchaus Rechnung“ (Stolzenberg 90).
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vorrangige Aufgabe, „das Weltbeste an uns und anderen“ praktisch als „gemeinschaftliche Aufgabe“ zu „befördern“, die – im Sinne der Frage „Was soll ich hoffen?“ – geradezu die geforderte Zuversicht impliziert, auch „mit Grund zu hoffen“, so ist es nunmehr jene Idee der „Glückseligkeit“, die – im Sinne der Frage „Was darf ich hoffen?“ – als in der Vernunftidee der „moralischen Welt“ „mitenthalten“ erhofft wird185, wohlgemerkt: gemäß der Idee des „Zustand(es) eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und [!] Willen geht“ (IV 255).186 Derart wird lediglich jene „in der Idee der reinen Vernunft“ unzertrennliche Verbindung des „System(s) der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit“ im Blick auf die je individuelle „Existenz“ hin konkretisiert – eine „Umwendung“, die nunmehr in „Erster-Person-Perspektive“ (ihrem „Interesse“) in der Frage „Was darf ich hoffen?“ zum Ausdruck kommt. 2.2.1. „Auch hier bleibt alles uneigennützig“: Zur Abwehr „eudämonistischer“ Verkürzungen des „höchsten Gutes“ Daraus mag deutlich geworden sein: Erst jenes erhoffte „Mitenthalten-Sein“ weist jedenfalls den präzisen Sinn dieses „Hoffen-Dürfens“ aus; und auch die Charakterisierung des „höchsten Gutes“ als „abgeleitet“ ist im Sinne dieses erhofften „Mitenthaltenseins“ zu verstehen, das gleichwohl ein „Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft“ ist und als solches von einem „Bedürfnis der Neigung“ unterschieden bleiben muss (IV 276, Anm.).187 185 Demgegenüber bleibt diesbezüglich zu beachten: „Zwar kennt nach Kant auch die christliche Sittenlehre ein persönliches Ideal: das Ideal der Heiligkeit; aber die Allgemeingültigkeit und Strenge des Sittengesetzes verbietet es dem Menschen, der seine ‚Gebrechlichkeit‘ und die Endlichkeit seiner Natur selbst nicht aufheben kann, nach sittlicher Vollkommenheit als privater innerer Vollendung unabhängig von den anderen zu streben, und verweist ihn an die Gemeinschaft. Das höchste Gut eines Einzelnen ist nur innerhalb des höchsten Gutes aller vernünftigen und freien Wesen möglich“ (K. Düsing 1971, 17 f ). 186 In dieser kantischen Bezugnahme auf das „Ganze menschlicher Existenz“ bzw. darauf, dass darin „alles nach Wunsch und Willen geht“, ist offenbar die (auch in seiner „Religionsschrift“ berührte) Idee einer auf das Ganze einer „moralischen Lebengeschichte jedes Menschen“ bezogenen „Totalität“ gedacht, in der es tatsächlich darum geht, „was ich werden will, was ich sein will, was ich gewesen sein will“ (Klein 2006, 96). 187 Solche eingeschlossene Rücksicht „für meine Hoffnung auf höchsteigenes Glück“ ist dann nicht nur eine solche – dann auch wieder zu überwindende – „per accidens“ (so Henrich 2004 II, 1490), sondern vielmehr durchaus vernunftgemäß an jener Idee eines „Ganzen aller Zwecke“ ausgerichtet, die sich auch darin auf eine „gemeinsame Welt“ bezieht, dabei jedoch keinen vorrangigen Gesichtspunkt ausmacht. – Vgl. IV 587: „[D]ie gesetzgebende Vernunft, welche in ihrer Idee der Menschheit überhaupt die ganze Gattung (mich also mit) einschließt, nicht der Mensch, schließt als allgemeingesetzgebend mich in der Pflicht des wechselseitigen Wohlwollens nach dem Prinzip der Gleichheit alle andere(n) neben mir mit ein, und erlaubt es dir, dir selbst wohlzuwollen, unter der Bedingung, dass du auch jedem anderen wohl willst.“ – Zur „Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts“ – als „einem gemeinschaftlichen Zweck“ (IV 756) – ist also die Gattung bestimmt; dies impliziert so auch die nachgeordnete Rücksicht auf die – in der „Idee des Weltbesten“ „mit enthaltene“ – „eigene Glückseligkeit“. Erhellend ist diesbezüglich ein früher Vorlesungs-Passus: „Die Glückseligkeit eines Geschöpfs kann nur in sofern stattfinden, wiefern seine Handlungen aus der Idee der allgemeinen Glückseligkeit abgezogen [!] sind, und mit der allgemeinen Glückseligkeit übereinstimmen“ (AA XXVIII, 337). „Die Würdigkeit, glücklich zu sein, ist die Möglichkeit, nach allgemeinem Gesetze der Glückseligkeit teilhaftig zu werden“ (Refl. 7049, AA XIX, 235). Kants Hinweis, dass die Vernunft den Zweck der „Glückseligkeit“ „nur dem mo-
114 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Darin erhält jene Idee des „Weltbesten“ bzw. der „moralischen Welt“, „so fern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre“ (II 679), demzufolge eine besondere existenzialanthropologische Wendung.188 Keineswegs eudämonistisch-wunschbesetzter Bedürfnisglaube,189 sondern die der „moralisch konsequenten Denkungsart“ verpflichtete „fragende Vernunft“ des „endlichen Vernunftwesens“ erhebt solchen Hoffnungsanspruch und konzentriert die in jener – nicht erst nachträglichen, sondern von Anfang an bestimmenden – Idee der „moralischen Welt“ maßgebende Sinnperspektive nunmehr auf das „gelingende Ganze“ einer je individuellen „moralischen Lebensgeschichte“, die so erst die durchaus „uneigennützige“ (IV 261; VI 133, Anm.) Rücksicht auf die „eigene Glückseligkeit“ miteinbezieht. Solches „Teilhaftigwerden“ ist deshalb, ebenso wie die Kennzeichnung des „höchsten Gutes“ als „abgeleitetes“, in dem präzisen – weil die rechte Begründungsordnung widerspiegelnden – Sinne zu nehmen, dass es in solcher Existenz-Perspektive allein um das „Anteil-Gewinnen des „vernünftigen Weltwesens“ an der „allen sittlichen Gesetzen gemäßen“ Idee einer „moralischen Welt“ (dem „Reich der Gnaden“ [vgl. II 682], dem „höchsten Gut“ [IV 253]) zu tun ist, die, als „Objekt“ und „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“, auf jenes („proportionierte“) „Ganze“ abzielt (IV 261). So bleibt, einer durchaus moralisch begründeten Perspektive (d. h. einem „moralischen Wunsch“) entsprechend, die Rücksicht auf die (in der „allgemeinen Glückseligkeit“ „mitenthaltene“) je „eigene Glückseligkeit“ auch für „unparteiische Vernunft“ gemäß der „Ordnung der Zwecke“ und im Blick auf das „Ganze aller Zwecke“ vor eudämonistischen Entlarvungen gesichert.190 ralischen Gesetz unterworfen, oder auch nach demselben allgemein gemacht wissen will“ (V 578), ist keine nachträgliche Korrektur der „dritten Kritik“, sondern die von Anfang an leitende Perspektive nach Maßgabe der Idee des „Weltbesten“. 188 So erweist sich Geismanns Rekurs auf den Stellenwert des „höchsten Gutes“ als besonders relevant: „Kants Lehre vom höchsten Gut ist der Abschluß und die Krönung seiner Lehre vom Menschen als einem unter Gesetzen der Freiheit stehenden natürlichen Wesen. Deswegen ist, freilich nur ‚in der Idee der reinen Vernunft‘, ‚das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit‘ unzertrennlich … verbunden“ (Geismann 2000, 454). In Abwehr drohender Verkürzungen der Idee des „höchsten Gutes“ hat Geismann wiederholt in diesen thematischen Bezügen darauf hingewiesen: „Wenn immer bei Kant vom ‚höchsten Gut‘ die Rede ist, also von einem Sachverhalt, ohne den seine Religionsphilosophie gar nicht zu verstehen ist, dann heißt es fast immer ‚in der Welt‘, manchmal auch ‚in einer Welt‘, niemals aber ‚in dieser Welt‘“ (so auch in Geismann 2001, 369). 189 Kant hat einschlägige Missverständnisse bzw. Verkürzungen der Idee des „höchsten Gutes“ und einen entsprechenden „Bedürfnisglauben“ in der abschließenden „allgemeinen Anmerkung zur Teleologie“ in besonderer Schärfe distanziert – und zwar im Ausgang von der Frage, „wozu ist diese gesamte Natur da, und was ist der Endzweck so großer und mannigfaltiger Kunst? Zum Genießen, oder zum Anschauen, Betrachten und Bewundern (welches, wenn es dabei bleibt, auch nichts weiter als Genuss von besonderer Art ist), als dem letzten Endzweck, warum die Welt und der Mensch selbst da ist, geschaffen zu sein, kann die Vernunft nicht befriedigen: denn diese setzt einen persönlichen Wert, den der Mensch sich allein geben kann, als Bedingung, unter welcher allein er und sein Dasein Endzweck sein kann, voraus“ (V 609 f ). – In ähnlicher Weise würde Kant wohl auch jenen gegenwärtigen Positionen antworten, die – so wie beispielsweise E. Tugendhat – die Religion in engste Nähe zu „Wunschdenken“ bringen, um davon die recht verstandene „Mystik“ abzugrenzen. 190 Auf ein „Postulat im Kantischen Sinne, eines letzten Horizonts von Sinngegebenheit, der nicht bloß ‚gemacht‘ ist“ (K. Düsing 2010b, 71), scheint doch Kants Bestimmung der „Glückseligkeit“ ebenso abzuzielen wie die postulatorisch vermittelte Einheit von „subjektivem“ und „objektivem Endzweck“ (V 581) – zumal doch der „subjektive Endzweck“ selbst schon die Einheit von „Moralität und Glückseligkeit“ enthält, während die grenzbegriffliche Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ sodann eben
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Überdies bestätigt sich: Obgleich ein solches auf den „vollständigen Zweck“ gerichtetes „Sollen“ gegenüber der „Moralität“ als dem „Vornehmsten“ in diesem „praktischen Endzweck“ nachgeordnet (d. h. auch in diesem Sinne: „abgeleitet“) bleibt, ist es jedoch keineswegs moralisch „neutral“191 oder gar als „eudämonistisch“ zu entlarven, sondern eben „durch Sittlichkeit“ notwendig.192 Erweist es sich doch in einem der Verfügbarkeit des „Moralisch-Praktischen“ entzogenen „Sein-Sollen“ begründet, d. h. in einer „Vernunft-Idee“, die „aus der Moral“ hervorgeht „als ein Zweck, welchen sich zu machen schon sittliche Grundsätze voraussetzt“ (IV 651);193 zwar moralisch verankert, ist dies als ein darüber noch hinausweisender „Endzweck“ anzusehen, dessen explizite Ablehnung (oder auch nur Indifferenz!) sich aus moralischen Gründen (und mit Rücksicht auf seine erweisbare Nicht-Unmöglichkeit) verbieten muss. Aus moralischen Gründen (obgleich in einer eben auf diesen „praktischen Begriff“ des „Sein-Sollenden“ gerichteten „Willensbestimmung von besonderer Art“) ist es geboten, die gedachte „Totalität des Gegendiese „nicht gemachte Sinngegebenheit“ intendiert; deshalb genügt auch allein dieser „Endzweck der Schöpfung“ der kantischen Bestimmung des „Endzwecks“ als desjenigen „Zweck(s), der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“ (V 557), und eben als solcher auch Ermöglichungsgrund des „praktischen Endzwecks“ ist. – Dass nach Kant die „eigene Glückseligkeit“ in dem auf die „Korres pondenz von Sittlichkeit und Glückseligkeit“ – im Allgemeinen! – abzielenden „subjektiven Endzweck“ lediglich als „mitenthalten“ (d. h. daraus „abgeleitet“) gedacht wird, dürfte den gegen Kant gerichteten Einwand Düsings doch relativieren. Die primäre Bestimmung des „höchsten Gutes“ ist indes keinesfalls darauf fixiert; gemäß der von Kant betonten „Ordnung der Zwecke“ bleibt die hoffende Perspektive auf die je „eigene Glückseligkeit“ in die Bestimmung der „moralischen Welt“ und in die darin verankerte Konzeption des „höchsten Gutes“ rückgebunden. 191 In diesem Sinne betonte Kant schon in der „Dialektik der reinen Vernunft …“ es sei „apriori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen“ (IV 241), wobei dieses „Hervorbringen“ natürlich nur bedeute, „auf das höchste in der Welt mögliche Welt mögliche Gut … nach allem Vermögen hinzuwirken“ (VI 132). 192 Noch im Kontext der kantischen Erörterung des „Straf- und Begnadigungsrechts“ klingt jener moralische Impuls nach, der Kants Auffassung zugrunde liegt, dass ohne den Menschen (durch den allein in der Welt „von einem Soll die Rede ist“) eine „Wüste“ wäre – weshalb gilt, dass, „wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben“ IV 453). 193 Es wird sich für eine „entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der Philosophie des kritischen Kant“ noch bestätigen, dass dem „Gestaltungsprozess der philosophischen Systematik eine Entwicklung bei der Bestimmung der Idee vom höchsten Gut selbst korrespondiert“ (so Krämling 1986, 275 f ). Es entspricht durchaus den in diesem Buch vorgestellten geschichts- und religionsphilosophischen Leitideen, wenn Krämling eine „personale, eine universale, eine immanente und eine transzendente Bedeutung“ der Idee des „höchsten Gutes“ unterscheidet (ebd. 277), die sich in der „Geschichte der reinen Vernunft“ entfaltet haben und in einem komplementären Sinne zu verstehen sind; jedoch widersprechen nicht zuletzt die späteren kleineren religionsphilosophischen Schriften Kants der von Krämling vertretenen Auffassung: „Kants abschließende Fassung der Theorie vom höchsten Gut exponiert die praktische Idee von vornherein in ihrer immanenten Bedeutung als ein in der empirisch vorfindlichen Welt zu realisierendes oberstes Handlungsziel aus praktischer Vernunft“ (ebd. 284). So bedeutsam das (in diesem Sinne zu verstehende) „höchste politische Gut“ auch in dem Sinne bleibt, dass „die Idee des höchsten Gutes in ihrer immanent-universalen Bedeutung sinnvollerweise nur in einem historisch fortschreitenden Prozeß kooperativen vernünftigen Handelns ‚befördert‘ werden“ kann (ebd.), so hat Kant die unterschiedlichen Perspektiven der „Geschichte der Gattung“ und der „Geschichte der Menschen“ und die entsprechenden unverzichtbaren Aspekte des „höchsten Gutes“ dennoch nie preisgegeben, wie vor allem auch die sehr späten (kleineren) religionsphilosophischen Texte belegen, die Kant noch nach der „Religionsschrift“ veröffentlicht hat. Deshalb bleiben auch die kulturphilosophischen Perspektiven, der „Ordnung der Zwecke“ gemäß, den „wesentlichen“, aber nicht den „höchsten Zwecken“ zugeordnet.
116 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre stands der praktischen Vernunft“, also den „ganzen Zweck“ derselben (IV 265), als eine „praktisch-moralisch“ fundierte und hoffnungs-orientierende Idee des „höchsten Gutes“ (als „Objekt der praktischen Vernunft“) nicht zu negieren oder ihr gegenüber indifferent zu bleiben – auch deshalb, weil, so vor allem der spätere Kant, solche Negation des als „sein-sollend“ Gedachten die „moralischen Kräfte“ lähmen würde, sofern der davon absehende hoffnungs-lose Mensch zwar beruhigt und moralisch-selbstzufrieden, aber doch, in dem vermissenden Bewusstsein jenes fehlenden „Sein-Sollenden“, nicht „seines Lebens froh werden“ (s. u. IV., 3.3.), d. h. Letzteres – aus „moralisch konsequenten“ Gründen – auch nicht bejahen könnte. Die Rückbindung dieser existenzialanthropologischen Wendung an den systematisch„teleologischen“ Leitfaden der kritischen Metaphysik stellt freilich auch eine unentbehrliche Schutzwehr dar. Denn derart wird auch jener in die Postulatenlehre der „zweiten Kritik“ gemäß der „Ordnung der Zwecke“ integrierte Gesichtspunkt der „in dem Begriff des höchsten Gutes“ mitenthaltenen „eigenen Glückseligkeit“ an ihren (d. h. ihr systematisch und auch im Sinne einer „moralischen Teleologie“ gebührenden) Platz in der Idee des „Ganzen aller Zwecke“ gestellt, wodurch auch die Frage „Was darf ich hoffen?“ ihre spezifische Zielrichtung gewinnt. Die auf dem Fundament der Freiheitslehre der „zweiten Kritik“ errichtete Lehre vom „höchsten Gut“ soll in ihrer existenzialanthropologischen Verankerung nicht zuletzt den Nachweis erbringen, dass jene eröffnete Aussicht auf die „Glückseligkeit“ nicht nur dem Verdacht der „Heteronomie“ entgeht und „alles uneigennützig“ bleibt (IV 261; VI 133, Anm.), sondern auch kurzschlüssige (reduktionistische) Glückseligkeits-Vorstellungen zu überwinden vermag. Dass jene „teleologische“ Perspektive auch den unverzichtbaren systematischen Hintergrund der in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ entwickelten Postulatenlehre bzw. der später sogenannten „Ethikotheologie“ darstellt, verdeutlicht bezeichnenderweise auch ein Passus aus dem (zeitgleich mit Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ erschienenen) Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ (der in der Sache auf Kants „Weltbegriff der Philosophie“ zurückverweist): „Weil aber eine reine praktische Teleologie, d. i. eine Moral, ihre Zwecke in der Welt wirklich zu machen bestimmt ist, so wird sie deren Möglichkeit in derselben, sowohl was die darin gegebene Endursachen betrifft, als auch die Angemessenheit der obersten Weltursache zu einem Ganzen aller Zwecke, als Wirkung, … nicht verabsäumen dürfen, um der praktischen reinen Zweckslehre objektive Realität, in Absicht auf die Möglichkeit des Objekts in der Ausübung, nämlich die des Zwecks, den sie als in der Welt zu bewirken vorschreibt, zu sichern“ (V 168). Es bleibt für die spezifische Intention dieses „Hoffen-Dürfens“ genau zu beachten: Erst die vorausgesetzte „proflexiv“-praktische Orientierung an dem zu befördernden „höchsten Gut“ als dem „Weltbeste(n)“ legitimiert gemäß der rechten „Ordnung der Zwecke“ die dann reflexive „Einbeziehung der eigenen Existenz“ im Sinne der Idee des „Ganzen seines Zustandes“, das nun als in jenem „Weltbesten“ als dem „Ganzen aller Zwecke“ „mitenthalten“ erhofft wird. Andernfalls wäre die Idee des „vollständigen höchsten Gutes“, gar als „Ideal des höchsten Gutes“, nicht zu begründen – auch aus dem „moralisch zureichenden Grund“, weil jenes „an uns und an andern“ zu befördernde
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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„Weltbeste“ ohne diesen Bezug auf diese „Willensbestimmung“ keinesfalls als ein solches bezeichnet zu werden verdiente. Nicht nur, dass andernfalls trivialerweise von einer „allgemeinen Glückseligkeit“ nicht zu reden wäre und, zufolge jener „moralisch konsequenten Denkungsart“ (V 577, Anm.), auch die darin intendierte „moralische Welt“194 keinesfalls „allen sittlichen Gesetzen gemäß“ (II 679) gelten könnte;195 erst recht bliebe der die rechte „Ordnung der Zwecke“ voraussetzende Rekurs darauf noch unverständlich, „was ich hoffen darf“. Zugleich ist damit angezeigt, dass dieser – insofern nachgeordnete – „mitenthaltene“ Aspekt des „praktischen Endzwecks“ jene Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ auch zur Voraussetzung hat, sofern die darin aufgehobene „Sinnhaftigkeit“ der „eigenen Existenz“ daran gebunden ist und beide Aspekte ohnedies untrennbar in der Idee der „moralischen Welt“ vereinigt sind. Genauer besehen folgt daraus: Der für diese Frage „Was darf ich hoffen?“ maßgebende „Logos“ ist fürs Erste davon bestimmt, dass eben jene moralisch motivierte Affirmation der „moralischen Welt“ – jenes vom späteren Kant denkwürdigerweise betonte Wollen, „dass eine Welt überhaupt existiere …“ (IV 652) – selbst ihrerseits immer schon vorgängig affirmiert, d. h. in einem „Endzweck der Schöpfung“ verankert ist. Darin ist sodann die Hoffnung darauf aufgehoben, an jener „moralischen Welt“ (als der Idee eines „Ganzen aller Zwecke“) auch „im Ganzen seiner Existenz“ (IV 255) „Anteil zu haben“ und lässt auch in dieser Hinsicht das „höchste Gut“ als ein aus der „Idee der moralischen Welt“ bzw. derjenigen eines „Endzwecks der Schöpfung“ „abgeleitetes“ begreifen.196 194 Mit Recht macht K. Düsing (1971, 17 f ) für diese Idee der „moralischen Welt“ geltend: „Im Unterschied zu den Idealen der Alten, in denen die Vollendung des einzelnen Menschen vorgestellt wird, ist damit das höchste Gut ein ethischer Weltbegriff. Es wird als ein Ganzes vernünftiger Wesen gedacht, in dem Sittlichkeit und Glückseligkeit harmonisch zusammenstimmen“. 195 Auch hier zeigt sich: Die Idee einer „moralischen Welt“ (und ihr Maßstab: was „dasein soll“ bleibt auf die frühe Bestimmung des „Reichs der Zwecke“ als einer „praktischen Idee“ rückbezogen bzw. darin verankert, weist gleichwohl darüber hinaus: In der „Grundlegungsschrift“ wird dieses „Reich der Zwecke“ auch als „praktische Idee“ bestimmt, „um das, was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß, zustande zu bringen“ (IV 70). Das in der Idee „moralischen Welt“ mitgedachte „Weltbeste“ geht eben über das, „was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann“ noch hinaus; dies markiert nach Kant auch einen wichtigen Punkt in der Differenzierung des „höchsten Gutes“ als „höchstes politisches Gut“ und „höchstes [vollendetes] Gut“. 196 Demzufolge überzeugt es in grundsätzlicher Hinsicht nicht, wenn Cheneval bei Kant eine „glücksindividualistische Variante“ des „höchsten Guts als Endzweck“ von einer „geschichtsphilosophischkosmopolitische(n) Perspektive“ abgelöst bzw. dadurch überwunden sieht (Cheneval 2002, 421). Es ist nicht so (wie beispielsweise auch seine Auseinandersetzung mit Garve im „Gemeinspruch“-Aufsatz, aber auch seine thematisch einschlägigen Bezüge im späten „Streit der Fakultäten“ verdeutlichen), dass der späte Kant eine „kosmopolitische Verbindung von bestimmten Aspekten der Natur und der Moral im Recht“ (ebd. 433) an die Stelle der früheren Konzeption des „höchsten Gutes“ als „Endzweck“ gesetzt habe. Die beim späteren Kant in den Vordergrund tretende Frage nach dem „kosmopolitischen Begriff des höchsten Guts und die Möglichkeit seiner Realisierung“ bedeutet keinesfalls, dass er die „existenzialanthropologische“ Perspektive des „höchsten Gutes“ aufgegeben hat; vgl. beispielsweise auch seine kleine Schrift „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie“ (aus dem Jahr 1796) (III 405 ff, bes. 410 ff ), die verdeutlicht, dass von einer „Transformation des höchsten Guts zu einem rechtlich-politischen Begriff“ (ebd. 443, Anm. 79) bei Kant nicht die Rede sein kann. Als „Glücksindividualismus“ (ebd. 513) ist diese (von ihm nie verabschiedete) Perspektive Kants wohl nicht angemessen bestimmt.
118 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Diese Perspektive „übersetzt“ die metaphysische Idee einer „moralischen Welt“ und ihre Implikationen somit auch im Blick auf das „Ganze einer moralischen Lebensgeschichte“. Auch so zeigt sich: Es ist dieses bloße „Mitenthaltensein“ als ein Moment der Idee der „moralischen Welt“ selbst, das in der besonderen Intentionalität jener „Willensbestimmung“ ebenfalls mitangesprochen ist und auch unter diesem Gesichtspunkt nicht einfach als eine „moralische“, sondern als „moralisch konsequente Denkungsart“ gekennzeichnet werden darf; sie verdankt sich in einer solchen Hinsicht durchaus einer von bloßer „Privatabsicht freien Vernunft“ (II 683) und erweist überdies die Haltlosigkeit des sich mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit erhaltenden Eudämonismus-Vorwurf gegen Kant.197 Nicht zuletzt in dieser Fundierung der Hoffnungsfrage bzw. des „höchsten Gutes“ bleibt seine ausdrückliche Kritik an jeder Gestalt eines „moralischen Egoismus“ maßgebend, „welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen worin sieht, als in dem, was ihm nützt“ (VI 410). Demgegenüber lässt sich eine solcherart erweiterte „Willensbestimmung“, gemäß dieser „Ordnung der Zwecke“, als eine moralisch begründete umfassende, d. h. „endzweck“-bezogene Sinn-Orientierung verstehen.198 Darin wäre es auch um die Ausbildung von „letzten Gedanken“ zu tun – solchen, „in denen sich ein Leben zu sammeln vermöchte“ und die für ein „vernünftiges Weltwesen“ schon deshalb unverzichtbar sind, weil sie dieses menschliche Dasein „in seiner Not und seiner Freiheit gleichermaßen bewegen“.199 Der schon erwähnte „prozessuale“ Charakter dieses „Ganzen einer moralischen Lebensgeschichte“ tritt so noch einmal besonders deutlich entgegen: Die nach Kant „durch eine besondere Art zu existieren“ (IV 810) ausgezeichnete Weltstellung des Menschen, der zwar „die Handlungen durch Freiheit, aber die Freiheit selbst nicht in (s)einer Gewalt“ hat,200 ist nicht zuletzt dadurch bestimmt, dass solche „Existenz“ im Vorgriff auf eine die mannig197 Vgl. in diesem Sinne auch noch einmal Refl. 7313 (AA XIX, 310). – Es ist zweifellos ein wichtiger Aspekt des kantischen „Existenz-Denkens“, den E. Heintel mit Blick auf Kant zum Ausdruck bringt: „das ‚Gewissen‘ weist zwar über die ‚Welt‘ hinaus, ist aber in dieser Art Wissen ein Wissen des Nichtwissens, das uns immer wieder zurückwirft auf diese Welt: die Spannung zwischen Immanenz, in der wir nicht aufgehen können und dürfen, und Transzendenz, die wir nicht erkennen können und dürfen, ist unsere ‚Bestimmung‘, heißt ‚Menschsein‘“ (Heintel 1988, 167). Diese „Spannung“ ist es auch, die in Kants später Kennzeichnung des Menschen als „Copula von Welt und Gott“ bzw. „Endlichem und Unendlichem“ zum Ausdruck kommt und in unterschiedlichen Gestalten konkret wird. 198 Zu Recht betonte I. Heidemann, „dass die allgemeine Gültigkeit des Ideals des höchsten Guts wie des Sittengesetzes ihre eigentliche Fundierung aus der Idee einer gemeinsamen Welt und gemeinschaftlicher Beziehung erfährt, gedacht als ein Reich der Zwecke, in dem unsere Existenz nur einen Teil des Ganzen ausmacht“ (I. Heidemann 1981, 246). Der Grund der Hoffnung auf die als „mitenthalten“ erhoffte „eigene Glückseligkeit“ liegt eben allein darin, dass wir dem „herrliche(n) Ideal eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst (vernünftiger Wesen) … als Glieder gehören können, wenn wir uns nach Maximen der Freiheit … sorgfältig verhalten“ (IV 100 f ). 199 So Henrich (1999a, 84), bezeichnenderweise mit direktem Bezug auf Kant. Im Blick darauf wäre zu sagen, dass jene „Willensbestimmung“ „von besonderer Art“ eben deshalb ist, weil sie nicht nur auf die Sinnhaftigkeit alles (moralischen) Handelns (und die hierfür vorausgesetzte Affinität von „Freiheit und Natur“) im menschlichen Leben abzielt, sondern auf die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens selbst „im Ganzen seines Daseins“, die in Kants Bestimmung des „höchsten Gutes“ (als der vollendeten Einheit von „Natur und Freiheit“) gedacht ist. 200 Refl. 7171, in: AA XIX, 263. Die Absicht, die auch in dieser Wendung anklingende uneinholbare Vorausgesetztheit mit jenem berühmten „Beschluss“ der „zweiten Kritik“ zu verbinden, wonach die zweifachgegenläufige Erfahrung des „bestirnten Himmels über mir“ und des „moralischen Gesetzes in mir“ „un-
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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fachen Selbstbezüge einigende personale Identität als der existierenden „absoluten Einheit“ der „ganzen Person“ (IV 391) steht,201 die sich darin zu einer „moralischen Lebensgeschichte“ formiert und sich im Ausgriff auf eine „gelingende Totalität“, also „im Ganzen seiner Existenz“, zu verstehen und auch zu bejahen vermag. Was dem als „vernünftiges Weltwesen“ existierenden Menschen dieser Perspektive zufolge – gemäß dem Primat jener „proflexiv“-praktischen Orientierung – somit „existentiell“ zugemutet ist, ist eine reflexivsinnorientierte Zustimmung zu dem, wozu er – zwar sich selber nicht „schaffend“ – ohne „Einwilligung [und gesunderweise deshalb zunächst unter energischem Schrei] auf die Welt gesetzt“ (IV 394), gleichwohl gewissermaßen schon vorgängig „zugestimmt“ hat, sofern er, als „Weltwesen“ „daseiend“, immer schon sich vorfindlich und „mitspielend“ war „im großen Spiel des Lebens“;202 es ist solche zugemutete sinnorientierte „Zustimmung“ menschlicher Existenz, die über bloße „Akzeptanz“ hinaus zuletzt an der Idee einer seinsollenden „moralischen Welt“ ihre endzweck-gemäße Ausrichtung findet. Mit dieser Bestimmung und Legitimation der Idee des „höchsten Gutes“ als des „ganze(n) und vollendete(n) Gut(s)“, als „Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen“ („in consequentia“) rückt aber auch ein häufig ignorierter bzw. missverstandener Aspekt der Hoffnungsthematik in besonderer Weise in den Vordergrund, der dem von Kant gesuchten Aufweis der „Antinomie der praktischen Vernunft“ sowie der daran geknüpften Vorstellung einer „genauen Proportion von Sittlichkeit und Glückseligkeit“ (IV 238) zugrunde liegt und hier eigens thematisiert werden soll.203 Denn diese von ihm betonte „Proportioniertheit“ („Ebenmaß“) bringt zum Ausdruck, dass darin eben nicht nur „Vereinigung“, sondern „Zusammenstimmung“ von Tugend und Glückseligkeit gedacht werden muss, weil nur dies (in strikter Vermeidung von bloß eudämonistischem Wunschdenken!) von dem „höchsten Gut“ als einem „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ zu sprechen erlaubt und ausschließlich auf solche Weise auch die darin verankerte „moralische Zweckmäßigkeit“ ihre moraltheologische Einlösung findet,204 d. h. nur in solcher Rücksicht „das vernünftige Geschöpf des Anteils am mittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ verknüpft ist (IV 300), konkretisiert noch einmal den indirekt angezeigten Seitenblick auf Kierkegaard. 201 Dieser Rekurs Kants auf die „ganze Person“ als „absolute Einheit“ findet sich allerdings in seinen Ausführungen zum „Eherecht“ als einem „auf dingliche Art persönlichen Recht“ (IV 388 f ). 202 Refl. 1502a, AA XV, 799 f. 203 Die von Kant geltend gemachte „Dialektik“ von „Thesis“ und „Antithesis“, d. h. der spezifische Charakter dieses angeblichen „Widerstreits“, wird auch von R. Wimmer (mit Verweis auf Albrecht 1978) angezweifelt und dahingehend resümiert: „Die These bezeichnet also die Begierde nach Glückseligkeit als hinreichende Bedingung für Maximen der Tugend, die Antithese jedoch die Maximen der Tugend lediglich als notwendige, aber nicht als hinreichende Bedingung der Glückswürdigkeit“ (Wimmer 2005c, 281). 204 Für die in dieser „Proportioniertheit“ gedachte moralische „Zweckmäßigkeit“ wäre freilich das Postulat der „Unsterblichkeit“ im Grunde nicht erforderlich, zumal der in Letzterem gedachte „unendliche Progressus“ doch allein auf „die völlige Angemessenheit der Gesinnungen“, also auf das „Ideal der Heiligkeit“, abzielt. Eine gelegentliche Äquivokation in Kants Rekurs auf die „Unsterblichkeit der Seele“ ist ohnehin nicht zu übersehen, wird doch die „Unsterblichkeit der Seele“ mitunter selbst mit dem „höchsten Gut“ identifiziert, während andernorts diese „Unsterblichkeit der Seele“ als Bedingung der Möglichkeit des „höchsten Gutes“, als dessen „notwendige Voraussetzung“ (unter Einbeziehung der „Heiligkeit“), postulatorisch beansprucht wird. Wird der Bezug der „Unsterblichkeitsidee“ von der Idee
120 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre höchsten Gute [auch] würdig werden“ kann (IV 282 f ). Diese häufig (vielfach jedoch in Verkennung des leitenden Motivs) kritisierte Vorstellung der „Proportioniertheit“, die auch dem „Hoffen-Dürfen“ seinen besonderen Gehalt verleiht, stützt sich so vielmehr auf einen unbestechlichen „Machtspruch der Vernunft“, der allem bloßen „Wunschdenken“ geradewegs zuwiderläuft, gleichwohl – Kehrseite dieses „Machtspruches“, der nicht anmaßend ist – auch selbst „Geduld“ verlangt und auch nur so „Hoffnung“ zu begründen vermag. Jene vielfach variierte Gedankenfigur einer „Proportion“ von „Glückswürdigkeit und Glückseligkeit“ ist vornehmlich davon inspiriert, einerseits den Vorwurf eines simplen „Bedürfnisglaubens“ geradewegs abzuwehren, ebenso jedoch die Vorstellung eines alle moralischen Maßstäbe ignorierenden Willkür-Gottes im Sinne eines theologischen „Nominalismus“ zu vermeiden, zumal in beiden Fällen die Orientierung an der Idee eines „mundus optimus“ preisgegeben wäre. Dies findet nun eine einfache Entsprechung darin, dass Kant mit dem Bezug auf die „Strafwürdigkeit“ vor allem wohl auch „eudämonistische“ Assoziationen bezüglich der Gottesthematik zerstreuen wollte. Zugleich wird über diese gedachte „Zusammenstimmung“ von „Tugend und Glückseligkeit“ auch eine Grenzbestimmung praktischer Vernunftansprüche sichtbar, die so jener Frage „Was darf ich hoffen?“ noch besondere Akzente verleiht; sie begegnen zunächst schon in Kants kritischer Auseinandersetzung mit der „Ethik der Alten“ und werden sodann in den einschlägigen Themen der „Religionsschrift“ und seiner Thematisierung des „reflektierenden Glaubens“ noch näher entfaltet (s. dazu u. V., 3.). So wie bezüglich jener „der praktischen Vernunft“ immanenten „Strafwürdigkeit“ hat sich nun auch in der näheren Kennzeichnung des „höchsten Gutes“ ein gewissermaßen „reines Interesse-Nehmen“ des „vernünftigen Weltwesens“ an dem „ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft“ – d. i. eben „ganz parteilos, gleich als von einem Fremden gefället“ (IV 652)205 – als maßgebend erwiesen und macht deshalb die Orientierung an jener Aufgabe, das „Weltbeste an uns und an andern [zu] befördern“ (II 687), unumgänglich. Unter der Bedingung, dass jene „Ordnung der Begriffe von der Willensbestimmung“ (IV 238)206 dabei gewahrt bleibt, d. h. der unbedingte „Bestimmungsder „Heiligkeit“ abgelöst, so wird ihr Stellenwert wohl in der Tat sehr fragwürdig, ja aporetisch im Sinne „schlechter Metaphysik“. Bezeichnenderweise kommt Kants später Rekurs auf die „Hoffnung eines
durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzende(n) künftigen Lebens“ (III 412) ganz ohne diese „Unsterblichkeitsidee“ aus. – Zur Korrektur der gegen Kant erhobenen „Eudämonismus“-Vorwürfe (vor allem auch neuprotestantischer Provenienz) und zum unauflöslichen Zusammenhang des „Unsterblichkeits“-Motivs mit der für Kants Postulatenlehre konstitutiven Idee der „Heiligkeit“ vgl. die erhellenden Ausführungen v. U. Barth 1994, 288 ff. Es trifft zweifellos zu: „Was zunächst das Postulat der Unsterblichkeit der Seele anbelangt, so kann von einem eudaimonistischen Hauch desselben nicht entfernt die Rede sein. Eine solche Interpretation verkennt vollständig den systematischen Anknüpfungspunkt der Postulatenlehre als ganzer und speziell dieses Postulats an den Begriff des Gegenstands der praktischen Vernunft, wie er in der ‚Dialektik‘ entfaltet wird“ (ebd. 289). 205 Darin ist sodann auch begründet, dass die in der Folge im „Ganzen aller Zwecke“ als „mitenthalten“ erhoffte Proportion von „Tugend und persönlicher Glückseligkeit“ ebenfalls als „uneigennützig“ gelten darf, d. h. gleichsam durch ein „parteiloses Urteil“ nicht nur gedeckt, sondern auch unterstützt wird. 206 Vgl. dazu auch Geismann 2000, 464 f. Mit Recht beruft sich Geismann gegenüber einschlägigen Miss verständnissen auf den von Kant so unmissverständlich herausgestellten Sachverhalt der rechten „Ordnung der Begriffe von der Willensbestimmung“: „Mithin mag das höchste Gut immer der ganze Gegen-
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grund des Willens“ von der „unbedingte(n) Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (eines „vernünftigen Weltwesens“) genau unterschieden bleibt – also bei Beachtung des im Falle der Verkehrung des Begründungsverhältnisses drohenden „heteronomistischen“ Rückfalls207 –, wollte Kant indes die Charakterisierung des „höchsten Gutes“ als „Objekt“ sowie als „Bestimmungsgrund des reinen Willens“ als ganz unbedenklich erscheinen (IV 237 f ).208 Denn recht verstanden sei ohnehin „im Begriffe des höchsten Guts das moralische Gesetz, als oberste Bedingung, schon mit eingeschlossen“ (IV 237), zumal eine moral-lose „Glückseligkeit“ für ein „vernünftiges Weltwesen“ auch gar nicht als solche zu bezeichnen wäre.209 Dies bestätigt erneut den Sachverhalt, dass für diese Charakterisierung des „höchsten Gutes“ gerade nicht der „natürliche“ („physische“) Zweck der „Glückseligkeit“ maßgebend ist, sondern jene an der Idee der „moralischen Welt“ orientierte „Glückseligkeit“ – wobei schon dieser darin enthaltene „Willensbezug“ eine eudämonistische Verstümmelung verbieten muss und der in dem „höchsten Gut“ gedachte „ganze Zweck“ (gleichsam „in individuo“ und in der „Idee des Ganzen aller Zwecke“ aufgehoben) gleichermaßen der „Kreatürlichkeit“ des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ Rechnung trägt. In stand einer reinen praktischen Vernunft, d. i. eines reinen Willens sein, so ist es darum doch nicht für den Bestimmungsgrund desselben zu halten, und das moralische Gesetz muss allein als der Grund angesehen werden, jenes, und dessen Bewirkung oder Beförderung, sich zum Objekte zu machen.“ Sehr deutlich hat Kant dies auch in seiner Vorlesung über Religionslehre ausgesprochen: „Die Erkenntnis von Gott muss daher die Moral vollenden, aber nicht erst bestimmen, ob etwas Pflicht für mich sei, oder ob etwas moralisch gut sei! Dies muß ich schon aus der Natur der Sachen, nach der Möglichkeit eines Systems aller Zwecke beurteilen, und dann so gewiß sein können, als dass ein Triangel drei Ecken haben müsse“ (AA XXVIII, 1116 f ). 207 Gegen eine Vermengung der verschiedenen Problemstellungen in der von Kant behaupteten „Antinomie der praktischen Vernunft“ mit dem „dilemma practicum“ argumentiert plausibel Milz 2002; s. bes. Kap. 6. Milz’ instruktive Analysen widmen sich auch der grundlegenden (schon von Kants Zeitgenossen K. H. Heydenreich aufgeworfenen) Frage, ob denn in diesem Begründungszusammenhang der Idee des „höchsten Gutes“ von einer „Antinomie der praktischen Vernunft“ bei Kant rechtens überhaupt die Rede sein kann. – Zur strittigen Eigenart der „Antinomie der reinen praktischen Vernunft“, der Bestimmung der „Glückseligkeit“ und den mit der Idee des „höchsten Gutes“ verbundenen Fragen vgl. auch die einschlägigen Interpretationen von K. Düsing (1972), Albrecht (1978) und Himmelmann (2003). 208 Auch deshalb verfehlt offenbar Schopenhauers Einwand die kritische Intention Kants: „… wenn man es streng nehmen wollte, so hätte auch Kant den Eudämonismus mehr scheinbar, als wirklich aus der Ethik verbannt. Denn er lässt zwischen Tugend und Glückseligkeit doch noch eine geheime [!] Verbindung übrig, in seiner Lehre vom höchsten Gut, wo sie in einem entlegenen und dunkeln Kapitel zusammenkommen, während öffentlich [!] die Tugend gegen die Glückseligkeit ganz fremd tut“ (Schopenhauer 1950, 118). Dass diese Beziehung von „Sittlichkeit“ und „Glückseligkeit“ von Kant durchaus nicht „geheim“ angelegt war, macht schon seine frühe „Vorlesung über Ethik“ deutlich: „Die Sittlichkeit hat notwendige Beziehung auf die Glückseligkeit, denn das moralische Gesetz führt natürliche Verheißung mit sich; habe ich mich so verhalten, dass ich der Glückseligkeit würdig bin, so kann ich auch hoffen, dieselbe zu genießen“ (Menzer 1924, 97). Indes ist Kants Argumentation bezüglich dieser „Würdigkeit“ später zweifellos ungleich differenzierter. Und die von Kant kritisierte wechselseitige „Subordination“ von „Tugend und Glückseligkeit“ zeigt, dass die Tugend recht verstanden gerade nicht „gegen die Glückseligkeit“ „ganz fremd tut“. 209 Noch in seiner kritischen Antwort auf Garve im späten „Gemeinspruch“-Aufsatz betonte Kant ausdrücklich, „dass dieser Begriff von Pflicht keinen besondern Zweck zum Grunde zu legen nötig habe, vielmehr einen andern Zweck für den Willen des Menschen herbei führe“: nämlich: „auf das höchste in der Welt mögliche Gut (die im Weltganzen mit der reinesten Sittlichkeit auch verbundene, allgemeine, jener gemäße, Glückseligkeit) nach allem Vermögen hinzuwirken“ (VI 132).
122 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre gebotener Rücksicht auf diese vorausgesetzte „Beschaffenheit“, nach der dieses „vernünftiges Weltwesen“ „wirklich ist“, sowie im Blick auf das allein darin begründete „Ganze seiner Existenz“ ist mit Kants Kennzeichnung der Idee der „Glückseligkeit“ nicht nur jede bloß „äußerlich und hedonistisch gemeinte Glückseligkeit“ distanziert. Ebenso erweist sich damit wohl auch die Alternative „empirische“ oder „intellektuelle Glückseligkeit“210 als im Grunde immer schon überholt, zumal in der zugrunde liegenden Einheit von „Freiheit und Natur“ offenkundig ein grundsätzlicheres – d. h. in systematischer Hinsicht viel bedeutsameres – Problem angezeigt ist,211 das jene schiefe „Glückseligkeits“-Alternative als einem „vernünftigen Weltwesen“ prinzipiell unangemessen erscheinen lässt.212 Infolgedessen kann das „höchste Gut“ ihm zufolge in der Tat auch nicht einfachhin Angelegenheit des bloßen „eudaimonein“ sein – ein Begriff, der „in seiner Verbalstruktur direkt auf das Moment des Handelns“ verweist, wobei also „die Vollendung des Handlung im Blick ist […]“;213 wenigstens in der bestimmten Hinsicht kann dies nicht der Fall sein, dass 210 Zu Kants eigenen frühen diesbezüglichen Unterscheidungen zwischen „empirischer“ und „intellektueller Glückseligkeit“ vgl. auch Düsing 1971, 23 ff. – Dass Kant den Begriff der „Glückseligkeit“ in unterschiedlicher Weise verwendet und damit Missverständnisse begünstigt, zeigt sich beispielsweise schon darin, dass er einerseits betont, „Glückseligkeit allein“ sei „für unsere Vernunft bei weitem nicht das vollständige Gut“ (II 682); gewissermaßen korrigierend bestimmt er in der „zweiten Kritik“ die Glückseligkeit als jene Idee des „Zustand(es) eines vernünftigen Wesens …“ (IV 255); sie erschöpft sich jedenfalls auch nicht in der „Befriedigung aller unserer Neigungen“ (II 677). 211 In einer besonderen fundamentalphilosophischen Akzentuierung darf wohl auch der Hinweis von H. Barth aufgenommen werden: „Unbeschadet seiner Scheidung von theoretischer und praktischer Vernunft vollzieht Kant in seiner Lehre vom ‚höchsten Gute‘ jene viel angefochtene Ehrenrettung der ‚Glückseligkeit‘, in der die kosmisch ungeschützte ethische Existenz so etwas wie eine letzte Bestätigung findet. In dieser Lehre ist es offenbar Kants Anliegen, gegen ein absolutes Auseinanderbrechen von Natur und Sittlichkeit in aller Behutsamkeit ein Korrektiv zu schaffen“ (H. Barth 1965, 55). 212 Vgl. dazu auch Kants unmissverständliche Distanzierung einer Simplifizierung des Glückseligkeitsbegriffs: bes. V 552; AA XXVII, 644; 178; Refl. 6973: AA XIX, 276 f. Dahin weist freilich auch schon IV 245: „Der Mensch wird, wenn er tugendhaft ist, freilich, ohne sich in jeder Handlung seiner Rechtschaffenheit bewußt zu sein, des Lebens nicht froh werden, so günstig ihm auch das Glück im physischen Zustande desselben sein mag.“ 213 Pleines 1991, 187. – Daraus folgt nach Pleines: „Erst durch die Christianisierung des Gedankens [der eudaimonia] wurde aus der ehemals handlungsorientierten eudaimonia das Gefühl einer momentanen oder künftigen Zufriedenheit mit sich und seinen Verhältnissen; und aus der Angst vor dem Tod und einem künftigen Gericht ging dann die Hoffnung auf ein künftiges Leben im Zustand ewiger Seligkeit hervor. […] Wenn also Kant vor dem genannten Hintergrund von Eudämonie oder wahlweise von Glückseligkeit sprach, dann knüpfte er an eine jüngere Entwicklungsgeschichte des Wortes an, ohne dessen griechischen Ursprung eigens in Betracht zu ziehen“ (Pleines. 2007, 262). – Vor allem hat Pleines (in Berufung auf Pohlenz, Kamlah und Sandvoss) wiederholt Zweifel darüber geäußert, ob Kants „Kritik am Standpunkt des typisch neuzeitlichen Eudämonismus“ nicht doch zu kurz greift – d. h. „ob Kant mit seiner typisch neuzeitlichen Kritik am Eudämonismus wirklich den Aristotelischen Gedanken jemals gerecht wurde […] Es war … zu prüfen, ob der die Kritik leitende ‚moralische‘ Aspekt nicht in der Gefahr stand, das ursprüngliche Motiv einer Handlungsteleologie zu unterschätzen oder sogar im Prinzip zu verkennen“ (Pleines 1991, 172 f ). Im Besonderen stellt, worauf Pleines völlig zu Recht hinweist, „schon die Übersetzung von eu-daimonia mit Glückseligkeit und deren Gleichsetzung wiederum mit ‚Selbstliebe‘ vor interpretatorische Probleme, die nicht so leicht von der Hand zu weisen sind“. – Zu Kants (problematischer) Kennzeichnung der aristotelischen Glückseligkeits-Konzeption vgl. auch die erhellenden Ausführungen von Forschner 1989. – Der Vorwurf einer „naturalistische(n) Depotenzierung der Glückseligkeit durch Kant“ scheint jedenfalls dort nicht unberechtigt zu sein, wo Kant „Glückseligkeit“ vorrangig auf die „Bedürfnisse und Neigungen“ bezieht, d. h. sie mit der Befriedigung der „Selbstsucht“
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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das „ganze Objekt der praktischen Vernunft“ in der Verfügbarkeit dieses „eudaimonein“ stünde und deshalb auch den Rekurs auf die „Glückswürdigkeit“ (als Bestimmung der „Tugend“) vor Missverständnissen bewahren muss. Damit gewinnt jene schon wiederholt angezeigte kantische Perspektive eine nochmalige Legitimation bzw. Bestätigung: In einer solchen gleichsam existenzialanthropologisch akzentuierten Lesart wäre die kantische Postulatenlehre auch als Entfaltung und Beantwortung der Frage zu verstehen: „Wie muss eine Welt für vernünftige, aber endliche Weltwesen beschaffen sein?“ In diesem Sinne buchstabiert sie gewissermaßen jenes „System“ der „notwendigen Voraussetzungen in theoretischer und praktischer Hinsicht“, ohne die dieses „vernünftige, endliche Wesen“ – d. h. als erkennendes, (sittlich) handelndes und hoffendes Wesen in hinreichender Differenziertheit all dieser Aspekte – sich nicht zureichend verstehen, d. h. sich in seiner Lebensführung nicht angemessen orientieren und mithin auch nicht bejahen könnte.214 Die demgemäß subjekt-zentriert fokussierten und sodann als Postulate „assertorisch“ (im „Ich will …“: s. u. IV., 3.2.) zur Geltung gebrachten praktischen „Vernunftideen“ wären also als jene Bedingungen anzusehen, die es „vernünftigen“, aber „endlichen Wesen“ allein erlauben, ungeachtet ihrer vorausgehenden praktischen Orientierung an der Idee des „Weltbesten“, in Anbetracht des „Gelingens des ganzen Lebens“ sich letztendlich nicht selbst als die endgültig Geund Ent-Täuschten durchschauen und ihr an dieses „Existieren“ geknüpftes Vernunftbedürfnis nicht endgültig dementieren zu müssen. Lediglich eine daran orientierte radikale Vernunftkritik kann so auch davor bewahren, „die Menschen … inkonsequent“ zu machen oder sie anderen „Vermessenheiten“ auszusetzen.215 identifiziert. Eine diesbezügliche Äquivokation wird schon daraus ersichtlich, dass Kant „Glückseligkeit“ im Kontext der Bestimmung des „höchsten Gutes“ (wie schon angeführt) als den „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt“ ausweist, „dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht“ (IV 255), also was „in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d. i. gut und nützlich ist“ (II 575). Jedoch darf nicht vergessen werden, dass Kant von der „Idee der Glückseligkeit“ als einer selbstgemachten „Idee eines Zustandes“ spricht (so V 552), die als solche aber doch von der „Glückseligkeit“ als einem auf „bloß empirische Gründe“ gestützten „Ideal der Einbildungskraft“, nicht von einem „Ideal der Vernunft“ (IV 48), genau zu unterscheiden bleibt. 214 Darauf zielt wohl auch Rentschs plausibler Hinweis: „Die Analysen Kants zur Gottesfrage verbinden … Negativität, Praxis und Freiheit mit der anthropologischen Grundfrage nach einem authentischen exis tentiellen Selbstverständnis, einem Verständnis des ganzen Lebens angesichts von dessen unverfügbaren Sinnbedingungen“ (Rentsch 2005, 131; ähnlich ders., 2011, 42 ff ). Rentsch möchte, in Vermeidung von „vordergründig rationalistischen und moralistisch erscheinenden metasprachlichen Engführungen“, die „eigentliche Stärke“ der „philosophischen Theologie“ darin erkennen, dass diese als „radikale Sinngrenzreflexion und Sinngrundreflexion auf die transpragmatischen und transethischen Bedingungen humanen Lebens verstanden“ werden müssten und eben daraus sich auch „Kants Thematisierung des Geheimnisbegriffs“ erschließe (ebd. 134). 215 Vgl. Refl. 6317, AA XVIII, 626. – In einer vermutlich ähnlichen Begründungsfigur lässt J. Ebbinghaus den Bezug auf das Gottespostulat darauf beruhen: „Man darf nur darauf achten, wie Gott sich auf diesem Grunde dem Menschen ursprünglich darstellt. Einfach als dasjenige Wesen, durch dessen Dasein bewirkt wird, dass ich durch meinen Gehorsam gegen ein Gesetz, dem zu gehorchen eine mit meiner Personalität unverbrüchlich verbundene Notwendigkeit für mich ist, nicht in die Lage komme, das Schicksal vernünftiger Wesen in die Hand des blinden Zufalles zu spielen. Ich glaube an Gott, heißt hier nichts anderes als: ich lasse mir unter gar keinen Umständen denjenigen als nichtexistierend ausreden, bei dessen spekulativ gar nicht erweisbarer Nichtexistenz … ich verzweifeln müsste, nicht weil mir diese oder jene
124 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Dass diese postulatorisch eröffnete kritische „Erweiterung der reinen Vernunft“ und der daran geknüpfte Begriff des „praktisch-schlechthin notwendigen Objekts des höchsten Guts“ nicht als „Erweiterung der Spekulation“ taugt, sondern ausschließlich „Eröffnung [!] … in Ansehung des praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft“ (IV 287) ist, muss freilich in diesem bestimmten Sinne genommen werden: Erst so rückt das in der Frage „Was darf ich hoffen?“ Erfragte als unabweisliches Thema der Vernunft – und zwar in einer dem differenzierten Sinnhorizont des vernünftigen Weltwesens angemessenen und hinreichend differenzierten Weise – ins Blickfeld und vermag so einen Sinnanspruch zu „eröffnen“, ohne dass dieser Sinnhorizont indes von „reiner praktischer Vernunft“ selbst schon ausgefüllt werden könnte. Erneut zeigt sich: „Kritik der Vernunft“ meint auch auf dem Felde der „praktischen Vernunft“ die „Legitimation“ der „reinen Vernunft“ (ihrer „Prinzipien“) und gleichermaßen die Verwerfung von vermessenen Ansprüchen. Dieser Sachverhalt, dass der umfassenden Thematik des „höchsten Gutes“ das vorrangige Interesse einer „Kritik der praktischen Vernunft“ gilt, darf jedenfalls nicht dadurch verdeckt werden, dass Kant in seiner „zweiten Kritik“ fürs Erste einmal „dartun“ will, „dass es reine praktische Vernunft gebe“ (IV 107), also der Mensch als „vernünftiges Weltwesen“ tatsächlich als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ existiert. Darin ist begründet, dass der zwar durchaus ursprüngliche Bezug der praktischen Vernunft auf das „höchste Gut“ als ihren „ganzen Gegenstand“ unter der unumgänglichen einschränkenden Bedingung des Unbedingtheitsanspruchs der reinen praktischen Vernunft steht und dies die Moralität auch als den „vornehmsten Teil“ dieses „ganzen Gegenstandes“ als „oberstes Gut“ qualifiziert. In solcher Begründung der differenzierten Einheit des „höchsten Gutes“ (des „obersten“ und des „vollendeten Gutes“) tritt nun auch der zweifache Richtungssinn besonders deutlich zutage, der sich („in regressu“) auf das „Unbedingte der reinen praktischen Vernunft“ als „Prinzip“ rückbezieht und gleichermaßen („in progressu“) sich auf den „ganzen Gegenstand“ derselben (als den „Folgen der Moralität“) erstreckt, weil eben „Sittlichkeit doch nicht allein das ganze höchste Gut“ ist, „sondern die höchste Bedingung“.216 In solchem Ausblick hätte die „teleologia rationis humanae“ in der dies gewährleistenden umfassenden Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ wohl ihre endgültige Gestalt erreicht und im Blick auf das daraus abgeleitete „gelingende Gan-
Absicht verunglückt ist, verunglücken kann und verunglücken wird, sondern weil ich gewissermaßen als ein eine vernünftige Natur habendes Wesen selbst verunglückt wäre. Indem mir alsdann der Befehl der reinen praktischen Vernunft nicht durch sich selbst, sondern durch den Zufall der Konstruktionsgesetze des Universums zum Befehl des Verzichtes auf etwas wird, worauf ich für mich und meinesgleichen mit Vernunft nur verzichten könnte, wenn ich selber Gott wäre. Ist nun aber Gott mir gar nicht anders ursprünglich gegeben als eben als das Wesen, durch dessen Willen und Macht ich aus dieser Verzweiflung gerettet bin, so ist es objektiv unmöglich, dieses Wesen nicht zu lieben“ (Ebbinghaus 1990, 67). Berührt – und radikalisiert – diese Begründungsfigur nicht Adornos Diktum: „Das Geheimnis der Kantischen Philosophie ist die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung“ – nämlich diejenige der Vernunft an sich selbst? (Adorno 1966, 378) –, das so auch mit Rücksicht auf Kants Gesamtsystematik einen recht präzisen Sinn gewinnt? Gegen die „Ausdenkbarkeit der Verzweiflung“ steht die Hoffnung, die sich dergestalt eben als eine „Hoffnung wider alle Hoffnungslosigkeit“ erweist und sich vornehmlich darauf gründet, dass jene „Ausdenkbarkeit“ jedoch nicht mit Einverständnis dazu gedacht werden darf. 216 Refl. 7241, in: AA XIX, 292; vgl. die schon angeführte Refl. 7313 (AA XIX, 310).
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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ze einer individuellen moralischen Lebensgeschichte“ zugleich eine legitime Fokussierung im „Existenz“-Vollzug jenes „Rechtschaffenen“ selbst „in individuo“ gefunden. Diese existenzialanthropologische Akzentuierung der Idee der „moralischen Welt“ macht die postulatorische Ausrichtung besonders deutlich: Dass das „Absolut-Gute … als Prinzip“ selbst in einer „praktisch“ unaufhebbaren Differenz zu dem „Ganzen“ verbleibt, „was zum höchsten Gut erforderlich ist“,217 und Letzteres als das „ganze Objekt der praktischen Vernunft“ über die Tugend (als das freilich unangetastete „oberste Gut“) noch hinausweist, wird dem Menschen solcherart als ein „durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem“ (IV 133) bewusst und führt so, in durchaus differenzierter Weise, notwendig auf die Fragen „Was soll“ und „was darf ich hoffen?“218 – ebenso freilich auf deren unauflösliche Einheit als so erst „vollendetes Gut“. Auch daraus wird nochmals deutlich, dass sich die Wirklichkeit des „moralischen Gesetzes“ in zweierlei Hinsicht als unverzichtbares Fundament erweisen muss: Würdigte Kant das „moralische Gesetz“ zunächst als das „Übersinnliche in uns“ (im Sinne einer „ratio cognoscendi“), das „Kreditiv“ nicht „bloß [für] die Möglichkeit, sondern [für] die Wirklichkeit“ der Freiheit (als des „praktisch-Unbedingten“) (IV 162) ist, so ist es gleichermaßen (als „ratio essendi“) „Kreditiv“ für die Möglichkeit des „höchsten Gutes“. Ist doch nur auf solche Weise zu vermeiden, dass das zwar schlechthin nicht relativierbare „obers te Gut“ (und der darin eröffnete „Sinn des Unbedingten“) mit dem „vollendeten Gut“ gleichgesetzt wird; zwar hat der ethische Sinnhorizont im Anspruch des „Moralischen“ seine unumgängliche Voraussetzung, ohne dass er sich „in der Bestimmung des Willens, in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks“ (IV 250), für dieses „moralische Erdwesen“ jedoch schon erschöpft, sondern in einer nicht nivellierbaren Differenz zur „grenzbegrifflich“ bedachten Idee eines „unbedingten Sinns“ verbleibt (vgl. dazu o. III., 1.3.2.). Die „religiöse“ Dimension dieses „Existenz“-Entwurfes ist darin als jener aus dem unbedingten moralischen Sollens-Anspruch eröffneten „Sinnhorizont“ zu begreifen, der jener umfassenden Idee des „Ganzen aller Zwecke“ und der daraufhin ausgerichteten tätigen Hoffnung entspricht: Es ist nach Kant allein der im „moralischen Sollen“ erfahrene „Sinn des Unbedingten“, der einen hoffenden Ausblick auf einen „unbedingten 217 Refl. 7313, AA XIX, 310. 218 Eine amüsante und gleichermaßen unzutreffende Charakterisierung bietet das Resümee von Schmitz, das – in diesem Fall – jedoch vermutlich mehr über sein tiefenhermeneutisches Interesse als über Kant selbst verrät (und wohl nicht bloß „gewagt“ ist): „Wenn ich hiernach eine zusammenfassende Formel für den ‚Geist‘ der kantischen Philosophie wagen darf, so sollte sie lauten: Es ist der prometheische Trotz des aufstrebenden kleinen Mannes, der keine Privilegien duldet, Kampf und Arbeit zur Bewältigung eigener robuster, herkulischer Tüchtigkeit sucht, ruhige Freude nur als zeitweilige Entspannung am Feierabend kennt und auf künftiger Belohnung seiner Mühen besteht“ (Schmitz 1989, 369). – Noch die Auffassung: „Der wirkliche Zweck ist: glücklich zu sein. Bedingungen sind Sittlichkeit und Geschicklichkeit“ (Refl. 6889, AA XIX, 194), hat nichts mit einem „krassen Eudämonismus“ zu tun, wie Schmitz (1989, 85) vermutet; auch das Gottespostulat ist nicht als ein „Erbe“ desselben (ebd. 114) zu entlarven. Ähnlich wie Schmitz äußerte auch F. Wagner den Vorwurf gegen Kant: „der Gedanke des höchsten Gutes, von dem die Moraltheologie abhängt, … korrumpiert die Reinheit des Moralbegriffs“, was letztlich nur noch die Alternative erlaube: „Entweder wird die Autonomie der Moral durch die Zulassung des Gottesgedankens ruiniert, oder durch die festzuhaltende Reinheit der Moral wird der Gottesgedanke verurteilt, eine moralisch nicht verbindliche, also beliebige Annahme zu sein“ (F. Wagner 1989, 46).
126 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Sinn“ gleichermaßen begründet und legitimiert – dazu aber auch, „um der Selbsterhaltung der Vernunft“ willen, im Sinne eines unabweislichen „Vernunftbedürfnisses“ nötigt, ohne dabei dieses Vernunftbedürfnis mit „Einsicht“ zu verwechseln. In diesem Abschnitt sollte deutlich geworden sein, wie im Ausgang von der Weltstellung des Menschen als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ und in gebotener Rücksicht auf die „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ (d. h. im engeren Kontext der sogenannten „Postulatenlehre“) die Idee des „höchsten Guts“ ins Zentrum rückt. Darin erhält jene Idee einer „moralischen Welt“ mit Blick auf die je individuelle und „ganze moralische Lebensgeschichte“ lediglich eine besondere Fokussierung bzw. eine der „Ordnung der Zwecke“ gemäße praktische Konkretisierung, die nunmehr der angezeigten existenzialanthropologischen Perspektive entspricht. Aber auch Kants Kennzeichnung der Tugend als „Glückswürdigkeit“ ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen – ist doch nicht zu übersehen, dass diese Kennzeichnung der Moralität als „Glückswürdigkeit“ selbst schon einen moral-transzendierenden „Problemüberhang“ erkennen lässt, d. h. sich genauer besehen aus der Einbindung in einen erweiterten Sinnhorizont ergibt.219 2.2.2. Diesseits moralischer „Vermessenheit“: Der klärungsbedürftige Status der „Moralität“ als „Glückswürdigkeit“ Im Anschluss an die voranstehenden Überlegungen und im Vorblick auf später zu verfolgende Themen ist es beachtenswert – weil für den Status und Anspruch der Idee des „höchsten Gutes“ höchst bedeutsam –, dass schon die Bestimmung der Tugend als „oberstes Gut“ (des „absolut Guten“) und ihre nähere Qualifikation als „Glückswürdigkeit“ genauer besehen eine Einrückung in einen erweiterten Sinnhorizont sichtbar macht (bzw. diese voraussetzt), dessen nähere Explikation in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ geleistet wird. Derart gewinnt nämlich, gemäß der „Ordnung der Zwecke“, jene Kritik „in Ansehung ihres ganzen praktischen Vermögens“ erst ihren spezifischen Gehalt und bereichert so auch das kantische Vorhaben einer „Grenzbestimmung der Vernunft“ um wichtige Aspekte. Denn auch im existenz-orientierten Blick darauf gilt, dass „Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche“ „zu dem praktisch-Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht) ebenfalls das Unbedingte“ suche, „und zwar 219 Deshalb dürfen „Tugend … und Glückswürdigkeit“ auch nicht einfach identifiziert werden: „Tugend bekommt die Bedeutung von Glückswürdigkeit erst mit Bezug auf den durch sie bedingten und vermittelten Endzweck“ (Geismann 2000, 461, Anm. 160), so wie in einer anderen Hinsicht auch erst infolge solcher „Einrückung“ die „sittlichen Gesetze“ als „göttliche Gebote“ lesbar werden. So wie Religion unsere moralischen Pflichten als „göttliche Gebote“ deutet, so ist, analog dazu, auch die Bestimmung der Tugend als „Glückswürdigkeit“ in einer solchen Deutung fundiert. Erst im Ausgang von dem „höchsten abgeleiteten Gut“ als dem „vollendeten Gut“ wird die Moralität als „oberstes Gut“ (und somit als „Glückswürdigkeit“) und die philosophische Gottesidee als „höchstes ursprüngliches Gut“ bestimmbar. Innerhalb der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“ gibt es freilich (noch) keinen Grund, die „Moralität“ als „Glückswürdigkeit“ zu bestimmen, zumal dies erst im Blick auf die „Existenz“-Perspektive eines „vernünftigen, endlichen Wesens“ resultiert. Zur „Glückswürdigkeit“ bei Kant s. u. Barth 1994, 296 ff.
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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nicht als Bestimmungsgrund des Willens, sondern, wenn dieser auch (im moralischen Gesetze) gegeben worden, die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts“ (IV 235). Zielte jener Nachweis, „dass reine praktische Vernunft wirklich ist“, zunächst zwar auf die „Beschaffenheit“ des Menschen als „Subjekt des moralischen Gesetzes“, so ergibt sich aus der Rücksicht darauf, dass dieses „Subjekt des moralischen Gesetzes“ nach seiner „Beschaffenheit“ als „vernünftiges Weltwesen“ wirklich ist, die Kennzeichnung der „Tugend“ als „Würdigkeit, glücklich zu sein“ (IV 238). Eine solche Perspektive eröffnet sich für eine „Kritik der praktischen Vernunft“ im Ausgang von dem an das „Subjekt des moralischen Gesetzes“ ergehenden Anspruch und führt so, im ebenfalls gebotenen Blick auf seine Weltstellung als „vernünftiges, aber endliches Wesen“, über die derart ins Blickfeld tretende Frage nach der „ganzen Bestimmung des Menschen“, konsequenterweise auf eine Auseinandersetzung mit den klassischen Konzeptionen der Idee des „höchsten Gut(es) einer möglichen Welt“ (IV 239), der sich eine „Kritik der praktischen Vernunft“ in der rechten Begründungsordnung auch gar nicht entziehen kann. Im Rückblick auf Kants „erste Kritik“ bleibt diesbezüglich genau zu beachten: Dort stand im Kontext der Bestimmung des „Ideals des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft“, die praktische Orientierung an der Idee des „Weltbesten“ (als Voraussetzung für die Hoffnung) im Vordergrund – „nämlich unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen, indem wir in das System aller [!] Zwecke passen“ (II 687). Damit hatte Kant bekanntlich eine an dem systematischen „Ganzen nach den Zwecken der Vernunft“ (II 697) orientierte Perspektive eröffnet, die gemäß der „Ordnung der Zwecke“ zunächst von der Begründung und Verbindung der beiden „Fragen der reinen Vernunft“: „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ ausgeht; sie werden jedoch sogleich auf eine Weise zueinander in Beziehung gesetzt, durch die sich die erstgenannte „Sollens“-Frage stillschweigend dahingehend transformiert: „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein.“ An diese „Prinzipien der reinen Vernunft, welche apriori das Gesetz vorschreiben“, wird nun bemerkenswerterweise sogleich die Frage geknüpft: „(W)ie, wenn ich mich nun so verhalte, dass ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sei, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch teilhaftig werden zu können? Es kommt bei der Beantwortung derselben darauf an, ob die Prinzipien der reinen Vernunft, welche apriori das Gesetz vorschreiben, auch diese Hoffnung notwendigerweise damit verknüpfen“ (II 679).220 Obgleich Kant später dieses „Tue das, wodurch … du würdig wirst, glücklich zu sein“ als ein „moralisches Gesetz“ verwarf, gewinnt es innerhalb des religionsphilosophischen Begründungzusammenhanges im Blick auf die Begründung des „höchsten Gutes“ als „bonum consummatum“ dennoch einen gewandelten Stellenwert. 220 Es ist in diesem kantischen Argument nicht zu übersehen: Während der erste Satz die unverzichtbare moralische Orientierung an der Idee der „Heiligkeit“ betont, bringt der zweite Satz sogleich, in negativer Wendung („nicht unwürdig“), die moralische Unverfügbarkeit des „höchsten Guts“ zum Ausdruck; dass nach Kant die „ihre Vorschrift rein und unnachsichtlich“ einrichtende „christliche Moral … dem Menschen [zugleich] das Zutrauen“ nimmt, „wenigstens hier im Leben“ der „Idee der Heiligkeit“ „völlig adäquat zu sein“ (IV 259, Anm.), und so auf das später aufgenommene Gnadenmotiv verweist, ergänzt jenes Motiv der bloßen „Nicht-Unwürdigkeit“.
128 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Somit zeigt sich schon in dieser in der „ersten Kritik“ vorgenommenen Bestimmung des „Ideal(s) des höchsten Guts“: Erst eingerückt in die Perspektive des „moralischen Endzwecks“ – mithin in das, was gemäß der praktischen Idee der „moralischen Welt“ „sein soll“ – wird die Tugend als „Glückswürdigkeit“ deutbar221 und zieht so die entsprechende Hoffnungsfrage: „(W)ie, wenn ich mich nun so verhalte …“ nach sich. Erst daraus wird auch die Bestimmung der Religion als „Erkenntnis unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ (IV 579) verständlich; und erst auf solcher Basis wird jenes noch bestimmungslose „metaphysische Gut“ als „Ideal des höchsten Gutes“ und näherhin als „höchstes ursprüngliches Gut“ deutbar, dem sodann auch die Auslegung jener „Beschaffenheit“, nach der dieses „vernünftige, endliche Wesen“ wirklich ist (IV 113), als „Geschöpflichkeit“ bzw. überhaupt ein entsprechender „Schöpfungsbegriff“222 korrespondiert. Weil sich das „Vernunftbedürfnis“ in „Ansehung des Endzwecks“ auf einen „Erfüllungsanspruch“ erstreckt, den dieses „mit Vernunft begabte Erdwesen“ (VI 399) indes selbst nicht zu gewährleisten vermag,223 ist es sodann wohl unumgänglich, jene kantische Bestimmung des „Praktischen“ als dasjenige, „was durch Freiheit möglich ist“ (II 673), auch in einem limitierenden Sinne aufzunehmen; demgemäß wäre das Programm einer „Kritik der praktischen Vernunft“ gleichermaßen als Grenzziehung „praktischer Vernunftansprüche“ anzusehen. Das unverkürzte Programm dieser „Kritik“ ist im Grunde gar nicht zu bestimmen ohne die Rücksicht darauf, dass sie auch auf die „Vermessenheit“ praktischer Vernunftansprüche abzielt – und zwar nicht etwa allein in einer heteronomisierenden Verkehrung des Begründungsverhältnisses zwischen Moral und Religion, sondern auch im Sinne einer grenz-vergessenen und deshalb buchstäblich „vermessenen“ Bestimmung des „höchsten Gutes“. 221 Dass die Kennzeichnung der „Würdigkeit, glücklich zu sein“, sich schon der teleologischen Perspektive der Zusammenstimmung der „gesetzgebende(n) Vernunft zu allen [!] Zwecken dieser Person“ verdankt, hat Kant in besonderer Deutlichkeit in seiner Antwort auf Garve betont (VI 131, Anm.); recht deutlich auch in Refl. 5477 (AA XVIII, 193), wo er anmerkt, die moralischen Postulate seien darin begründet, dass das „Wohlverhalten die einzige Bedingung ist, unter der man würdig ist, glücklich zu sein“. – Auch im Blick auf den von Kant mitunter in einem weiten Sinne verwendeten Begriff der „Moral“ bleibt darauf zu achten, dass seine spätere Bestimmung des „moralischen Gesetzes“ von jedem Bezug auf „Glückswürdigkeit“ bzw. „Glückseligkeit“ absieht, während die stoische Konzeption des „Moralischen“ durch diesen Bezug auf die „Glückswürdigkeit“ gerade definiert ist. 222 Denn dieser ethikotheologisch bestimmte Begriff der „Schöpfung“ besagt so nicht mehr lediglich „die Ursache vom Dasein einer Welt“ (V 576, Anm.), sondern zielt nunmehr in der Tat auf die „Voraussetzung einer freiwirkenden, folglich verständigen Ursache“ (ebd.), ist also immer schon „endzweck-“, d. h. „sinnorientiert“, wie dies sich, in analogem Sinne, ja auch für die Charakterisierung der „Moralität“ als „Glückswürdigkeit“ bzw. in der Bestimmung der „moralischen Pflichten als göttlicher Gebote“ zeigt. So ist in diesem Kontext kantischer Motive unschwer für einen von Blumenberg geäußerten Gedanken Anschluss zu finden: „Mit dem [erst „Trost“ ermöglichenden] Schöpfungsgedanken wurde der Welt angeboten, aus einer Handlung und aus einem Willen hervorgegangen zu sein. Darin musste allemal die Chance liegen, auf Herstellung der möglichen Identität mit diesem Willen zu bestehen oder danach zu fragen, weshalb sie nicht gewährt worden sei“ (Blumenberg 2006, 652). 223 In dieser existenzialanthropologischen Perspektive lässt sich jener Zusammenhang von „moralischer“ und „moralisch konsequenter Denkungsart“ in der Tat ansehen als die „Verbindung zwischen dem, was wir sollen, und dem, was wir, über das Sollen hinaus, zu bedenken nicht lassen können“ (Sommer 1988, 141) – und zwar aus durchaus moralischen Gründen! Und wenn wir schon wissen, dass es „nicht notwendig“ ist, „dass wir existieren“ (AAXIX, 644), dann stellt sich offenbar nach Kant die Frage, wie solche derart erfahrende Kontingenz eben nicht akzeptiert, sondern bejaht werden kann – und damit eben auch, „dass eine Welt sei“.
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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Es spricht einiges dafür, dass auch diese aus dem „moralischen Lauf der Dinge“ hergeleitete – gleichwohl nicht einfachhin gerechtigkeits-orientierte – Konzeption des höchsten Gutes in Kants „zweiter Kritik“ bei genauerem Hinsehen gleichsam gestuft verläuft und dies deshalb auch eine entsprechende Differenzierung der Hoffnungsfrage erfordert. Auch der spätere ethikotheologische Rekurs auf das „Glück des Tugendhaften“ (V 587) und die ihm durchaus entsprechende „Affirmation“ jenes „dass eine Welt überhaupt existiere“ (IV 652) sowie der unterschiedlich akzentuierte hoffende Ausblick darauf, dass der Mensch auch als „endliches Vernunftwesen“ „in das System der Zwecke passe“, impliziert eine überschießende „Sinn“-Dimension bzw. eine „Zustimmungs“-Perspektive, die durch einen solchen – auch von Kant her keineswegs legitimierten – Gerechtigkeits-Aspekt noch nicht abgedeckt ist, bzw. darin nicht „aufgelöst“ werden darf. Dass Kant eine solche schiefe „Gerechtigkeits“-Perspektive für seine Lehre vom „höchsten Gut“ offenbar gerade vermeiden wollte, zeigt sich auch schon in seinem unüberhörbar behutsamen Hinweis auf die „Hoffnung“, „der Glückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein“ (IV 261) – eine Formulierung, die offensichtlich alle Vorstellungen einer „moralisch“ geltend zu machenden „Verdienstlichkeit“ und einer entsprechenden belohnenden „Gerechtigkeit“ fernhalten will.224 In Analogie zu Kants denkwürdigem „gnaden-theologischem“ Rekurs auf eine „Gütigkeit …, die doch der Gerechtigkeit nicht Abbruch tut“ (IV 807, Anm.) – eine Bestimmung, die sich unverkennbar aus einer besonderen „docta ignorantia“ speist225 – wäre es 224 Mit Recht gibt Albrecht zu bedenken: „Wird das höchste Gut … als (belohnende) Gerechtigkeit verstanden, so erscheint die Befolgung der Pflicht als verdienstlich, d. h. sie ergibt einen ‚gerechten‘ Anspruch auf Glückseligkeit – was zu den Ansichten Kants genau im Widerspruch steht“ (Albrecht 1978, 81). In der Tat: „Die Deutung des höchsten Gutes als ‚Idee der Gerechtigkeit‘ scheitert schon daran, dass Gerechtigkeit für Kant im allgemeinen Strafgerechtigkeit bedeutet. Das höchste Gut ist nicht Gegenstand der Furcht; es kann, wenn seine Möglichkeit erweisbar ist, die ‚Hoffnung‘ begründen, dass Tugend mit einer ihr angemessenen (‚proportionierten‘) Glückseligkeit verbunden wird. Diese Hoffnung stellt allerdings keinen Anspruch dar. Die Glückseligkeit ist nicht einklagbar“ (ebd. 185); sie verweist infolgedessen, „an den Grenzen der bloßen Vernunft“, auf einen moraltranszendierenden Sinnüberschuss, der freilich unter der Moralität als der unumgänglichen „Vernunftbedingung“ steht und den spezifischen Charakter des „Hoffen-Dürfens“ bestimmt. Anders steht es freilich wiederum mit der besonderen Akzentuierung des „höchsten Gutes“ im Blick auf das „Leid des Gerechten“ – eine Perspektive, die über die Dimension des „moralischen Unvermögens“ (und des darüber „reflektierenden Glaubens“) noch hinausweist. – Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass Kant bezüglich des „höchsten Gutes“ auf die „Güte Gottes“ rekurriert, so wenn es heißt: Das „höchste Gut“ beruht „auf seiner „Gütigkeit, eingeschränkt und bestimmt durch seine Heiligkeit, d. i. darauf, daß die Welt ein Schauplatz des sittlichen Wohlverhaltens für sie sei, um sich der Gütigkeit Gottes würdig zu machen. Dadurch allein wird er geehrt; und, weil das Gute, das dadurch allein bewirkt wird, nicht auf ihn fließt, sondern in der Welt immanent ist, so wird dadurch zwar Gott gedient, d. i. wir handeln als im Dienste Gottes zum Weltbesten, aber Gott wird nicht bedient, d. i. durch irgend einen Cultus irgend ein Zweck oder Wirkung außer der Welt und in Gott intendiert“ (Refl. 6154, AA XVIII, 470). 225 Indirekt klingt hier auch Kants Bewusstsein davon an, dass andernfalls ein selbst an der Idee der „moralischen Welt“ orientierter „Sinn der Schöpfung“ nicht zu denken wäre, ja das von Kant so oft betonte Motiv eines „Endzwecks der Schöpfung“ sich geradewegs ins Gegenteil verkehren müsste: „Denn, bei der etwaigen großen Menge der Verbrecher, die ihr Schuldenregister immer so fortlaufen lassen, würde die Strafgerechtigkeit den Zweck der Schöpfung nicht in der Liebe des Welturhebers (wie man sich doch denken muss), sondern in der strengen Befolgung des Rechts setzen (das Recht selbst zum Zweck machen, der in der Ehre Gottes gesetzt wird), welches, da das letztere (die Gerechtigkeit) nur die einschränkende Be-
130 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre dabei um eine „Gerechtigkeit“ zu tun, die dennoch mehr als bloße „Gerechtigkeit“ ist.226 Sie enthält „in nuce“ jedoch auch eine Antwort auf die Frage: Gehört zu den Früchten jener „größeren Bearbeitung sittlicher Ideen, die durch das äußerst reine Sittengesetz unserer Religion notwendig gemacht wurde“ (II 685 f ), dann nicht auch die unumgängliche Ent-Täuschung jener „natürlichen Erwartung“ (als einer Art „natürlichen Scheins“) und somit die Sensibilisierung dafür, dass hier gerade voreilige „Gerechtigkeits“-Vorstellungen hintanzustellen bzw. subtile „Verdienst“-Aspekte227 eben durch jene „Bearbeitung“ selbst zu überwinden sind – ohne dass damit freilich auch die Perspektive des „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ infrage gestellt wäre? Es soll sich im Folgenden auch noch erweisen, dass Kant die Idee der „moralischen Welt“ und auch die Hoffnungsfrage durchaus unterschiedlich akzentuiert hat: Dem Gesagten zufolge soll eine „allen sittlichen Gesetzen“ gemäße „moralische Welt“ und die „objektive Realität eines „Endzwecks der praktischen Vernunft“ im Blick auf die zu befördernde „allgemeine Glückseligkeit“ gehofft werden; es darf eben, so hat sich erwiesen, nicht mit Zustimmung gedacht, d. h. nicht „gewollt“ werden, dass der bloße „Weltenlauf“ und Ungerechtigkeit endgültig über den „Rechtschaffenen“ und den „Ungerechten“ gleichermaßen das letzte Wort behält (und für diese Hoffnungsfrage so gesehen tatsächlich vornehmlich eine Art Gerechtigkeitsperspektive maßgebend ist). In diesem Sinne orientiert sich die nachgeordnete Frage „Was darf ich hoffen?“ zunächst an der in dem „Ganzen aller Zwecke“ mitenthaltenen „eigenen Glückseligkeit“. Sodann gewinnt diese Frage in dieser existenzialanthropologischen Perspektive angesichts der (ebenfalls in der „Geschichte der reinen Vernunft“) bewusst gewordenen moralischen Unverfügbarkeit des „höchsten Gutes“ (die Kant in der „zweiten Kritik“ vorrangig in seiner Absetzung von den „ethischen Schulen“ der Tradition betont) freilich einen besonderen Gehalt, der auch in jenem angeführten Hinweis auf eine „Gütigkeit, die doch der Gerechtigkeit nicht Abbruch tut“, einen sehr problemsensiblen Ausdruck fand, sofern Kant damit doch lediglich darauf insistiert, dass auch ein „Verzeihen“ nicht einfachhin dingung des ersteren (der Gütigkeit) ist, den Prinzipien der praktischen Vernunft zu widersprechen scheint, nach welchen eine Weltschöpfung hätte unterbleiben müssen, die ein, der Absicht ihres Urhebers, die nur Liebe zum Grunde haben kann, so widerstreitendes Produkt geliefert haben würde“ (IV 632). Im Kontext der kantischen „authentischen Theodizee“ gewinnt dies natürlich noch einmal besonderes Gewicht. 226 Darauf verweist auch schon Kants Rekurs darauf, „die Hoffnung auf die Lossprechung des Menschen von seiner Schuld mit der göttlichen Gerechtigkeit zu vereinigen“ (IV 731). Besondere Beachtung verdient hier auch die Refl. 6100, in der ein sinn-überschießender Aspekt besonders deutlich wird: „Die Gerechtigkeit ist Einschränkung der Gütigkeit durch Heiligkeit. Sie ist also eigentlich nicht belohnend (denn wäre die Belohnung bloß der Gerechtigkeit gemäß, so würden wir wenig erwarten können), sondern nur die Gütigkeit belohnt. – Denn wo die … Gerechtigkeit die Gütigkeit nach Prinzipien der Heiligkeit nicht einschränkt, da wirkt Gütigkeit. Eigentlich schränken wir selbst die göttliche Gütigkeit durch unsere Schuld ein, und Strafen dürfen nicht als positiv angesehen werden“ (AA XVIII, 453). 227 Darauf zielt Kants lapidare Erklärung: „Denn so tugendhaft jemand auch sei, so ist doch alles, was er immer Gutes tun kann, bloß Pflicht; seine Pflicht aber tun, ist nichts mehr, als das tun, was in der gewöhnlichen sittlichen Ordnung ist, mithin nicht bewundert zu werden verdient.“ (IV 700) – Missverständliche Formulierungen sind freilich nicht zu übersehen, so wenn es z. B. heißt: „Wir würden eine Welt tadeln, wo keine Quellen der Glückseligkeit herrschten oder sich keiner derselben würdig machen würde … Wer sich wohl verhält, verdient sich wohl zu befinden“ (AA XXVII 101).
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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auf Maßstäbe der Gerechtigkeit verzichten darf. Die Frage: „Was darf ich hoffen?“ weist in solcher (nunmehr auch) „transmoralischen“ Perspektive eines „gelingenden Lebens“ über jene gerechtigkeits-orientierten Aspekte noch hinaus und führt mit diesem ganz besonderen „Selbstbegrenzungs-Aspekt“ gleichermaßen auf die christliche Konzeption des „Begriff(s) des höchsten Guts (des Reichs Gottes), der allein der strengsten Forderung der praktischen Vernunft ein Gnüge tut“ (IV 259; IV 58, Anm.). Dabei verdient Kants Hinweis wohl besonderes Interesse, dass nicht nur die Lehre vom „höchsten Gut“ im engeren Sinne, sondern ebenso die in der „Ethik der Alten“ vorgenommene Begründung der Prinzipien der Moralphilosophie vom Christentum klar unterschieden bleibt; denn nur so werde die Differenz der „christliche(n) Vorschrift der Sitten … in Ansehung ihrer Reinigkeit“ gegenüber dem „moralischen Begriffe der Stoiker … doch sehr sichtbar“ (IV 258)228, und nur so sah er das Bewusstsein der moralischen „Unverfügbarkeit“ des Heiles (und dasjenige der daran geknüpften „Nicht-Heiligkeit“) gewahrt. Damit korrigierte Kant ausdrücklich, was „gemeiniglich dafür“ gehalten werde – nämlich die angebliche große Nähe oder gar Übereinstimmung der „christliche(n) Vorschrift der Sitten“ zur bzw. mit der stoischen Ethik; dagegen insistierte er auf dem korrektiven Potenzial, das der Vorstellung der „Idee der sittlichen Vollkommenheit“ als dem Ideal der „Heiligkeit“229 gegenüber dem stoischen „Bewusstsein der Seelenstärke“, 228 Zur Unterscheidung zwischen dem „christlichen Ideal der Heiligkeit“ und dem „stoischen Ideal der Weisheit“, das geradezu „Eigendünkel erregt, der sehr schädlich ist und den Fortschritt hindert“, vgl auch die schon (s. o. I., Anm. 241) zitierte Refl. 7312 (AA XIX, 309). Ergänzend sei zu Kants diesbezüglicher Abgrenzung des Christentums noch angeführt: „Die christliche Religion sagt: wir können niemals hoffen, durch eigenes Verdienst die Würdigkeit zu erlangen. Sie fordert die größte Reinigkeit des Herzens“ (Refl. 6836, AA XIX, 175). In diesem Sinne verlangt Kant auch die der „demütigen Rechtschaffenheit“ gemäße „Aufopferung eines moralischen Eigendünkels wegen vermeintliches Verdienstes“, die den „stoischen Stolz zwar nicht zur Kleinmut [,] aber der Demut abgestimmt haben“ würde (AA XXIII, 120). Vgl. Refl. 6832, AA XIX, 174 f: „Das Christentum hat dieses Besondere an sich, dass, da alle andre vorgeben, der Mensch könne aus eigenen Kräften dahin gelangen, dasselbe die Schwäche der menschlichen Natur nicht vorschützt, sondern zur Schärfe der Selbstprüfung braucht und von Gott Hilfe.“ Sehr prägnant ist diese Distanz gegenüber den „philosophischen Sekten“ auch in der frühen Refl. 6872 (AA XIX, 187) ausgesprochen: „Das summum bonum der philosophischen Sekten konnte nur stattfinden, wenn man annahm, der Mensch könne dem moralischen Gesetze adaequat sein. Zu dem Ende musste man entweder seine Handlungen mit moralischem Eigendünkel vorteilhaft auslegen oder das moralische Gesetz sehr nachsichtlich machen. Der Christ kann die Gebrechlichkeit seines persönlichen Werts erkennen und doch hoffen, des höchsten Gutes selbst unter Bedingung des heiligsten Gesetzes teilhaftig zu werden.“ Deshalb gilt für Kant: „Wenn die Hoffnung der Glückseligkeit unserer sittlichen Würdigkeit soll gemäß sein, so ist der Weise des Evangelii das wahre sittliche Ideal. Der nämlich die natürliche Tugend und das natürliche Glück nicht vor hinreichend hält, sondern beides als ergänzungsbedürftig sowohl zur Würdigkeit als auch den Besitz der Glückseligkeit“ (Refl. 6882, AA XIX, 191). Denn: „Kein einziges Geschöpf außer Gott ist sibi ipsi sufficiens. – Die Stoiker sagten, dass der Mensch den Grad erreichen kann, es ist aber falsch“ (AA XXVII, 165). Von der recht verstandenen „Glückseligkeit“ schlechterdings abstrahieren zu wollen, scheint nach Kant tatsächlich eher „den Hochmut des Stoikers“ widerzuspiegeln, „der seine immer auch endliche Natur nicht anerkennen will“ (Weil 2002, 104); vgl. dazu auch Himmelmann 2008, bes. 117 f. 229 In der Tat: „Die Fortdauer … ist nicht das zeitinvariante Beharren eines sich gleichbleibenden Wesens, sondern der unendliche Prozess seiner ethischen Vervollkommnung. Das Postulat der Unsterblichkeit der Seele formuliert somit nichts anderes als die dem religiösen Bewusstsein sich nahelegende Antwort auf die dem Freiheitsbewußtsein sich aufdrängende Frage nach den Ermöglichungsbedingungen eigener ethischer Perfektibilität. Das sittliche Bewusstsein würde sich selbst missverstehen – und damit letztlich zerstören –, wenn es sein reales Streben nach dem moralischen Endzweck als durch die ethische
132 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre d. i. dem Ideal der Tugend als dem „gewisse(n) Heroism des über die tierische Natur des Menschen sich erhebenden Weisen, der ihm selbst genug ist“, innewohnt. Dies verdeutlicht, nebenbei bemerkt, auch die Differenz zwischen (stoischer) Autokratie und Autonomie, wobei Kant die Sensibilität für diese Themen dem Sinnpotenzial der „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchteten praktischen Vernunft“ zugeschrieben hat.230 Dies bewog ihn auch zu seiner sehr entschiedenen Korrektur bzw. Abkehr von jenen ethischen „Ideen der griechischen Schulen“ und inspirierte ihn dazu, dem solcherart neu ent-deckten „eigentlichen Selbst“, über das Selbstbewusstsein des „Herrseins über sich selbst“ hinaus, noch einmal in ganz anderer Weise den „Spiegel vorzuhalten“ – ein Anliegen, das auch in der näheren Bestimmung der Gottesidee als „Gegenstand der Religion“ und auch derjenigen des „Unsterblichkeits“-Motiv unübersehbar ist. Es wird sich zeigen, dass die höchst bemerkenswerte – freilich auch fundamentalphilosophisch zu akzentuierende und hier in Gestalt des „Unsterblichkeits-Postulates“ auftretende – Perspektive des kantischen Vernunftglaubens hierfür einen unübersehbaren Anknüpfungspunkt bietet, nämlich „dass, wenn wir das ganz [!] wären, oder einmal sein würden, was wir sein sollen und (in der beständigen Annäherung) sein könnten, die Natur unseren Wünschen, die aber selbst alsdenn nie unweise sein würden, gehorchen müsste“ (IV 873, Anm.). Dies weist wohl auch über den engen Rahmen des (ohnehin in mancherlei Hinsicht auch) irreführenden) „Postulats der Unsterblichkeit“ noch hinaus. Auch diese späte Perspektive der „Religionsschrift“ macht wohl deutlich, dass und weshalb sich das Programm einer „Kritik der praktischen Vernunft“ keineswegs mit jenem (zunächst gewiss vorrangigen) Aufweis der Wirklichkeit der „reinen praktischen Vernunft“ (IV 107)231 schon begnügt; darüber hinaus kritisiert sie „ihr ganzes praktisches Zufälligkeit des physischen Todes begrenzt und relativiert ansehen müsste. Insofern entspringt der praktische Glaube an die Fortdauer der Seele der Selbstvergewisserung ethischer Unbedingtheitsgewissheit angesichts der Erfahrung von Endlichkeit. Mit dem eudaimonistischen Vergeltungsmotiv eines vulgären Jenseitsglaubens hat Kants Unsterblichkeitspostulat nicht das Geringste zu tun“ (U. Barth 1994, 291). Es ist jene „ethische Perfektibilität“, die in solcher Hinsicht die Hoffnungsfrage fundiert. – Die „Idee der Unsterblichkeit“ entstehe uns nach Kant (so Cassirer), „indem wir den Gedanken von der Unendlichkeit unserer Bestimmung, von der Unabschließbarkeit der Aufgabe, die dem Vernunftwesen gesetzt ist, in die zeitliche Form der Dauer und Ewigkeit kleiden“ (Cassirer 1977, 282). Indes, für die Idee der „proportionierten“ Übereinstimmung von „Tugend und Glückseligkeit“ bedarf es der Idee der „Unsterblichkeit der Seele“ auch gar nicht – bzw. nur insofern, als darin die die moralische „Unverfügbarkeit“ anzeigende „Idee der Heiligkeit“ mitangesprochen ist. In diese Richtung weist jedenfalls ausdrücklich auch Kants Bemerkung, der ohnedies lediglich „negative“ Begriff von der „ewigen Dauer“ besage doch lediglich, „dass der Vernunft, in (praktischer) Absicht auf den Endzweck, auf dem Wege beständiger Veränderungen nie Genüge getan werden kann“ (VI 183). 230 S. dazu u. V., 3.1. – Dieser motivliche Hintergrund bleibt jedenfalls für die rechte Einschätzung des kantischen Unsterblichkeits-Motivs (und seiner immanenten „produktiven Aporetik“) zu beachten. Gegenüber einer vorkritischen Seelen-Metaphysik als einer theoretisch-dogmatischen Doktrin wird dieses Unsterblichkeitspostulat als ein solches ausgewiesen, aus dem sich wohl „etwas Praktisches machen“ lässt. 231 Um diesen auch auf die praktischen Vernunftansprüche zu beziehenden Begrenzungsaspekt darf Henrichs Befund (mit Blick auf Kants Auseinandersetzung mit den antiken philosophischen Schulen) vielleicht noch ergänzt werden: „Der Kritik der praktischen Vernunft hat er die Aufgabe gestellt, diejenigen zu widerlegen, die meinen, dass unsere Vernunft praktisch nur dann sein könne, wenn sie zugleich empirisch bedingt ist. Während die Kritik der reinen Vernunft die Möglichkeit der Erkenntnis auf Erfahrung begrenzt und sich somit gegen einen Gebrauch der Vernunft nur aufgrund ihrer selbst richtet, will die
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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Vermögen“ und zielt solcherart auf eine – auch in jener Auseinandersetzung mit antiken Ethik-Konzeptionen vorgenommene – Grenzziehung derselben ab. Dies bedeutet letztendlich, dass sie ohne eine so verstandene „Kritik der praktischen Vernunft“(-ansprüche) selbst einer Maßlosigkeit – und zwar sowohl einer „Vermessenheit“ wie auch einem moralischen „Eigendünkel“ – verfiele und so, dem kantischen „Weltbegriff der Philosophie“ gemäß, auch dem unnachgiebigen Verdikt der kritischen Philosophie ausgeliefert wäre. Eine „Geschichte der reinen Vernunft“ befördert also – im Sinne des Programms einer „Vernunftkritik“ – in ihrem reflexiven „Zu-sich-Kommen“ gerade auch solche „Vermessenheit“ praktischer Vernunft zutage, zumal Kants Kennzeichnung von „vermessen“ sich zweifellos auch diesbezüglich als zutreffend erweist: „Das deutsche Wort vermessen ist ein gutes bedeutungsvolles Wort. Ein Urteil, bei welchem man das Längenmaß seiner Kräfte … zu überschlagen vergißt, kann bisweilen sehr demütig klingen, und macht doch große Ansprüche, und ist doch sehr vermessen. Von der Art sind die meisten, wodurch man die göttliche Weisheit zu erheben vorgibt, indem man ihr in den Werken der Schöpfung und der Erhaltung Absichten unterlegt, die eigentlich der eigenen Weisheit des Vernünftlers Ehre machen sollen“ (V 497, Anm.; IV 829, Anm.). Auf solche „Vermessenheit“ zielt wohl sein Vorwurf bezüglich der einschlägigen Ansprüche der „philosophischen Schulen“ betreffend das „höchste Gut“.232 Derart findet aber gleichermaßen eine Bestätigung, dass die Themen des „zweiten Buches“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ (über die „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“) durchaus zu einer – beim Wort genommenen – „Kritik der praktischen Vernunft“ (und den davon unablösbaren „Selbstbegrenzungsaspekten“) gehören und keineswegs lediglich einen sachfremden Anhang darstellen. Obgleich also Kants „zweite Kritik“ zwar „das reine Vermögen selbst nicht zu kritisieren“ brauche, „um zu sehen, ob sich die Vernunft mit einem solchen, als einer bloßen Anmaßung, nicht übersteige (wie es wohl mit der spekulativen geschieht)“ (IV 107), so enthält auch sie, wie schon das Beispiel der „ethischen Schulen der Alten“ zeigt, bezüglich der zureichenden Bestimmung und Verfügbarkeit des „höchsten Gutes“ dennoch ein unumstößliches „Haltesignal“. Nur beiläufig sei noch erwähnt, dass interessanterweise der späte Kant jene beiden im „praktischen Endzweck“ enthaltenen Aspekte in der „Preisschrift“ ausdrücklich verei nigt: Ist dieser „Endzweck“ doch derjenige, den der Mensch „hat und haben soll“ (III 645), also gleichermaßen seinem „Wunsch und Willen“ genügt, deshalb auch als der „besondere Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (IV 651) fungiert und auch
Kritik der Vernunft in ihrer praktischen Gestalt gerade ihren empirisch bedingten Gebrauch treffen. Die Titel der beiden Werke sind also nicht einfach analog, sondern eher gegensinnig zu lesen. Die reine theoretische und die empirisch bedingte praktische Vernunft erheben unberechtigte Ansprüche und zwingen zur Kritik“ (Henrich 1982a, 12). Indes, eben auch die „Kritik der praktischen Vernunft“ tritt darüber hinaus diversen „Vermessenheiten“ im „praktischen Vernunftgebrauch“ entgegen. 232 Freilich kannte Kant auch eine dem „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ zuwiderlaufende „Vermessenheit“ ganz anderer Art, „denn der Gebrauch der Vernunft ist nicht unser Vorwitz, sondern unsere Pflicht, ja der Zweck der Schöpfung selbst. Es ist also keine Demut, sondern Vermessenheit, den Gebrauch der Vernunft aufzugeben“ (AA XXVIII, 344). Im Kontext der Theodizee-Thematik gewinnt dies noch besonderes Gewicht. S. u. den VI. Teil.
134 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre nur so der „ganzen Bestimmung des Menschen“ genügt. Weil die (im Blick auf ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“) schon als „Glückswürdigkeit“ qualifizierte „Moralität“ auf die „Totalität des Gegenstandes der praktischen Vernunft“ verweist (diese also nicht selbst „einzuholen“ vermag), darf dieser moralisch begründete bzw. ausgewiesene (im engeren Sinne „ethische“) Bezug auf den „Endzweck“ als ein solcher gelten, der auch allen gegen Kant erhobenen „Eudämonismus“-Einwänden standhalten kann, sofern dieser „Endzweck“ derart moralisch verankert ist. So wäre auch noch entschiedener dem Einwand zu begegnen, wonach „die Moraltheologie zu einem am Ende gar entbehrlichen Anhang einer Ethik der Autonomie“ verkomme233 und Kants Lehre vom „höchsten Gut“ in Wahrheit ein Fremdkörper in seiner Ethik bleibe. Es hat sich erwiesen: Obgleich der Anspruch des „moralischen Gesetzes“ als „archimedischer Punkt“ für die Existenz-Orientierung davon völlig unangetastet bleibt, so weist die gebotene Aussicht auf den „praktischen Endzweck“ über das Moralische also in mehrfacher Hinsicht hinaus. Erst dies eröffnet einem solchen existenzialanthropologischen Zugang zufolge die noch umfassendere – durchaus im traditionellen Sinne als „ethisch“ zu bezeichnende – Perspektive einer „Philosophie des Glücks“.234 Es ist demzufolge dieser (von seiner kritischen Auseinandersetzung mit den traditionellen Ethik-Konzeptionen ausgehende) ethische Gesichtspunkt, der diese besondere Orientierung an dem „gelingenden Ganzen menschlicher Existenz“ gleichermaßen motiviert und legitimiert. Derart zeigt sich in besonderer Weise, dass und wie eine solche Perspektive jene „moralische Teleologie“ (und die darin vollzogene Differenzierung der „Endzweck-Aspekte“) gewissermaßen in die individuell-existenzielle Dimension des „Lebenssinnes“ wendet, die auch in jenem kantischen Verweis auf die – „Wunsch und Willen“ gleichermaßen befriedigende – „Glückseligkeit“ (IV 255) maßgebend ist. Indes, entsprechend zur „Strafwürdigkeit“ als jenem besonderen „[E]twas in der Idee unserer praktischen Vernunft, welches die Übertretung eines sittlichen Gesetzes begleitet“ (IV 150), wird sich noch zeigen, dass es zuletzt das durch die empörende Erfahrung des „Leids des Gerechten“ irritierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ ist, das dazu nötigt, die maßgebende ethikotheologische Perspektive noch einmal besonders zuzuschärfen (s. dazu auch u. VI., 1.; vgl. o. III., 4.) und hier in der Tat einen besonderen Aspekt der „Gerechtigkeit“ in den Vordergrund rückt. Die voranstehenden Überlegungen bestätigen, dass auch Kants Kennzeichnung des „höchsten abgeleiteten Gutes“ (im Sinne der Übereinstimmung von „Glückswürdigkeit und Glückseligkeit“) in einem zweifachen Sinne verstanden werden darf: „Abgeleitet“ be-
233 Henrich 1967b, 50. Diese Sicht hat Henrich offensichtlich revidiert; anders wäre die in seinen jüngsten Arbeiten ausdrücklich bekundete Absicht, „die Grundlinien der Lehre von den Postulaten der Vernunft, die Kant und Fichte … entwickelt haben, im gegenwärtigen Denken neu zu artikuieren und auf neue Weise überzeugend werden zu lassen“ (Henrich 2007, 370), nicht verständlich. 234 Dass nach Kant eine „Ethik“ als „Zwecklehre“ freilich von der Frage nach dem „Glück“ des „vernünftigen, endlichen Wesens“ nicht absehen kann und insofern auf religionsphilosophische Bezüge führen muss, ist evident (vgl. dazu U. Barth 1994, bes. 300 ff ). – Zu „Kants Ethik als Philosophie des Glücks“ s. den gleichnamigen Aufsatz von Römpp (1991); zu den unterschiedlichen Facetten des kantischen GlückBegriffs und den damit verbundenen notwendigen Differenzierungen vgl. die instruktive Studie von Himmelmann 2003.
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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sagt natürlich zunächst einmal, dass diese Bestimmung einerseits diejenige des „obersten Gutes“ (als des „vornehmsten Teils“: IV 254) voraussetzt und somit auch an jene vorrangige praktische Orientierung an der Idee des „Weltbesten“ (dem darauf abzielenden „Interesse der Vernunft“) gebunden ist;235 ebenso bleibt sie auf die hierfür vorauszusetzende Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ als die Idee des „Weltbesten“ (V 581) verwiesen und darf in dieser Rücksicht als eine solche verstanden werden, die darin als „mitenthalten“ (und auch insofern als daraus „abgeleitet“) erhofft wird. „Eigene Glückseligkeit“ als der „subjektive Endzweck vernünftiger Weltwesen“ („den jedes derselben … hat“: IV 653) ist insofern in dieser Idee eines „mundus teleologicus, d[es] größte[n] Ganze[n] aller Zwecke – die beste Welt im teleologischen Verstande“236 miteingeschlossen, der als zu befördernder „Endzweck“ nicht zuletzt (gemäß jenem „moralischen Wunsch“) auch als ein solcher bejaht werden kann. Zuletzt verweist diese Charakterisierung des „höchsten Gutes“ als „abgeleitet“ wohl auch auf den allein „zureichenden Grund“ (die „ratio essendi“) desselben, d. h. auf das als „moralische Weisheit“ des „Welturhebers“ gedachte „höchste ursprüngliche Gut“, das selbst schon als „symbolische Darstellung“ der fundamentalphilosophischen Idee einer obersten „übersinnlichen“ Ursache fungiert und worin, als dem „besondern Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“, die „Gesetzgebung der Natur und der Freiheit“ vereint und auch „letztbegründet“ ist. In recht unterschiedlichen Bezügen treten solcherart ebenso verschiedende Aspekte der Idee des „höchsten Gutes in der Welt“ zutage (worin sich zugleich auch einzelne Phasen der Entfaltung der kantischen Religionsphilosophie widerspiegeln); gleichwohl bleiben sie allesamt in die späte umfassende teleologische Perspektive eines „mundus teleologicus“ (als „mundus optimus“, als das „Ganze aller Zwecke“) eingebunden. Kants gestufter, d. h. der „Ordnung der Zwecke“ gemäßer Begründungsgang darf nunmehr dahingehend resümiert werden: Ausgehend von der in der Kritik der praktischen Vernunft maßgebenden Frage: Wie ist der Mensch als „Subjekt des moralischen Gesetzes“ beschaffen? – und dem darauf bezogenen Aufweis der Freiheit als „ratio essendi“ führt dies sodann auf die Frage, wie eine Welt für ein solches „Subjekt der Moralischen“, das selbst Teil derselben ist, „beschaffen sein muss“, um sich in ihr, handelnd und hoffend, und im Blick auf das „Ganze seines Daseins“ vernünftig orientieren und auch sein Dasein in ihr bejahen zu können. Eben in solcher Perspektive richtet sich das leitende Interesse der Vernunft darauf, „wie die Welt für ein vernünftiges, aber endliches Wesen“ beschaffen sein muss und erlaubt es Kant zufolge, den hoffenden Bezug auf das „höchste 235 Geismann verwirft (missverständliche Formulierungen Kants allerdings einräumend) den in der Kantliteratur häufig geäußerten Einwand, Kant stütze die Verbindlichkeit bzw. den Verpflichtungscharakter des moralischen Gesetzes letztendlich doch allein auf das hierfür in Anspruch genommene Dasein Gottes, u. a. mit dem berechtigten Hinweis: „Doch auch diese aus dem Glauben an Gott und an die durch diesen ermöglichte Realisierbarkeit des höchsten Gutes erfließende Kraft hat ihre letzte Quelle in moralischer Gesinnung und nicht etwa in dem Bedürfnis nach eigener Glückseligkeit. Wie ja auch jener Glaube zunächst nur der – das je eigene künftige Schicksal unmittelbar gar nicht in Betracht ziehende – Glaube an eine Welt austeilender Gerechtigkeit und also an die Wirksamkeit der moralischen Gesetze ist“ (Geismann 2000, 498). In Kants Frage „Was darf ich hoffen?“ sind freilich auch noch andere Akzentuierungen mitzuhören (s. u. IV., 4.1.1.). 236 Kowalewski 1965, 585.
136 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Gut“ als den „ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft“ als moralisch legitim, ja sogar als „notwendig“ zur Geltung zu bringen; die Sinnhaftigkeit des so begründeten Rekurses auf das „höchste Gut“ kann nicht ohne Selbstwiderspruch dementiert werden, obgleich sich ein solcher Bezug darauf nicht selbst als „praktische“ Pflicht im strengen Sinne geltend machen lässt – ebendies liegt ja auch im Anspruch jener „Willensbestimmung von besonderer Art“. Maßgebend bleibt hierfür die Orientierung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ für ein „endliches Vernunftwesen“, die zufolge einer solchen Perspektive freilich gerade nicht als eudämonistischer Rückfall Kants abgetan werden kann. Jene „moralisch-teleologische“ und die „existenzialanthropologische Perspektive“ vereinigend ist festzuhalten: Genauer besehen expliziert die späte moraltheologische Perspektive eine von Kant im Grunde schon früh angezeigte „teleologische“ Intention. So betonte er im „ersten Abschnitt“ der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: „In den Naturanlagen eines organisierten, d. h. zweckmäßig zum Leben eingerichteten, Wesens nehmen wir es als Grundsatz an, dass kein Werkzeug zu irgend einem Zwecke, in demselben angetroffen werde, als was auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten angemessen ist“ (IV 20). Ein „endliches Vernunftwesen“, das die unbedingten Ansprüche „reiner praktischer Vernunft“ zu vernehmen vermag und mithin alle bloßen „Selbsterhaltungs- und „Glückseligkeitsansprüche“ relativiert und transzendiert, wäre solcherart unausweichlich mit der Frage konfrontiert, ob und wie es, jenseits dieser bloß „natur-bedingten“ Maßstäbe, „in die Welt passe“ – ein Gesichtspunkt, der zuletzt auch in jenem schon angeführten Motiv der „moralischen Zweckmäßigkeit“ im Theodizee-Aufsatz (VI 111, Anm.) nachklingt. Dies lässt es lediglich als „recht und billig“ erscheinen, dass dieses „endliche Vernunftwesen“ auch darauf hoffen darf, „in die Welt zu passen“, d. h. zu dem „Ganzen aller Zwecke“ (als dem „besonderen Beziehungspunkt“: IV 650) zu gehören. Der angeführte Passus aus dem ersten Abschnitt der „Grundlegungsschrift“ über den auch der „reinen praktischen Vernunft“ bzw. dem „guten Willen“ einzuräumenden „teleologischen“ Status hat sowohl in der Idee der „moralischen Teleologie“ als auch in der nunmehr in den Vordergrund gerückten existenzialanthropologischen Perspektive nicht nur eine unterschiedliche Entfaltung gefunden: Die Erwägung, dass die ein „bewusstes Leben“ bestimmende Realität des „guten Willens“ (jener teleologischen Perspektive der „Grundlegungsschrift“ zufolge) in der kein unbedingtes „Sollen“ kennenden Natur als ganz und gar sinnlos-„umsonst“ erscheinen müsste, verschärft sich in der hier verfolgten Perspektive der „Glückswürdigkeit“ nunmehr zu dem drohenden end-gültigen „absurdum morale“, d. h. zu einer schlechthinnigen (moralischen) „Sinnwidrigkeit“. Dieses „absurdum morale“ wäre also nicht allein „Abwesenheit von Sinn, wo wir ihn erwarten“ (s. u. IV., Anm. 275), sondern Negation von Sinn, sofern moralisch begründeter und deshalb erhoffter Sinn sich als „chimärisch“ und somit als vergeblich erweist. Die moralisch verankerte Hoffnung unterscheidet sich deshalb in solcher Hinsicht auch „prinzipiell“ von allem bloß moral-neutralen Bewusstsein sei es des Ausstandes, des Ersehnens und auch und des „absurden Wartens“ und gewinnt deshalb auch nur gegenüber dem „absurdum practicum“ – d. h. als Negation desselben – in differenzierter Weise Gestalt.
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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2.2.3. Die gebotene „Beförderung des höchsten Gutes“: Eine notwendige Affirmation dessen, was gemäß der „Idee der moralischen Welt“ „dasein soll“ Vor diesem Hintergrund mag auch der Stellenwert der nach Kant gebotenen „Beförderung des höchsten Gutes“ noch einmal deutlicher werden: Dass sich jenes in der Idee der „moralischen Welt“ (als „mundus optimus“) gedachte „Sein-Sollende“ weder auf die moralisch-praktische Frage „Was soll ich tun?“ einschränken noch als bloßes „Wunschdenken“ abtun lässt, sondern durchaus selbst einen moralisch-normativen Kern in sich trägt, zeigt sich wohl auch in jenem angezeigten schlichten Sachverhalt: Die Negation der Wirklichkeit des „höchsten Gutes“ als „Zweck an sich selbst“, dessen widerspruchsfreie Denkbarkeit als „Vernunftidee“ vorgängig ausgewiesen wurde, kann aus moralischen Gründen kein zustimmendes „So sei es“ finden, fordert also einen moralisch inspirierten Einspruch: Es darf nicht gewollt werden, dass dies das endgültige „letzte Wort“ behält, zumal dem ein „Mangel an moralischem Interesse zum Grunde“ liegt: „Moralisch ungläubig ist der, welcher nicht dasjenige annimmt, was zu wissen zwar unmöglich, aber voraus zu setzen moralisch notwendig ist. Dieser Art des Unglaubens liegt immer Mangel an moralischem Interesse zum Grunde. Je größer die moralische Gesinnung eines Menschen ist: desto fester und lebendiger wird auch sein Glaube sein an alles dasjenige, was er aus dem moralischen Interesse in praktisch notwendiger Absicht anzunehmen und vorauszusetzen sich genötigt fühlt“ (III 499).237 Hier ist nochmals daran zu erinnern: Die bleibende Orientierung an der „Vernunft idee“ der „moralischen Welt“ ist es, welche die Zustimmung dazu geradewegs verbieten muss, dass das „Weltbeste, welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an demselben, d. i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit“ (V 580), als chimärische „Idee ohne Realität“ negiert wird und somit auch das Dasein jener „vernünftigen, aber endlichen Wesen“ als existierende „Endzwecke der Schöpfung“ letztendlich ohne Bewandtnis, also belanglos, wäre.238 Eben darauf, dass dies weder im Sinne des „So-sei-es“ zu bejahen noch mit bloßer Gleichgültigkeit zu erwägen ist, stützt sich offenbar auch 237 Vgl. dazu auch Kants ausdrückliche Kritik eines „Vernunftunglaubens“ (IV., 3.1.3.), der auch hier unüberhörbar anklingt. Freilich, im Sinne des „theoretischen Fürwahrhaltens“ sind das „Dasein Gottes“ und die „Unsterblichkeit der Seele“ als „Sachverhalte“ nicht einmal als „real-möglich“ auszuweisen. 238 Es verdient wohl besondere Beachtung, dass genau diesem eigentlichen „Kern“ des kantischen Motivs der „Beförderung des höchsten Gutes“ (dem darin maßgebenden „Sein-Sollen“) und der kantischen „Willensbestimmung von besonderer Art“ in dem schon angeführten (von Adorno zustimmend aufgenommenen) Gedanken Benjamins indirekt Rechnung getragen ist, „daß die letzte Hoffnung niemals dem eine ist, der sie hegt, sondern jenen allein, für die sie gehegt wird. […] So rechtfertigt am Ende die Hoffnung den Schein der Versöhnung, und der Satz Platons, widersinnig sei es, den Schein des Guten zu wollen, erleidet seine einzige Ausnahme. Denn der Schein der Versöhnung darf, ja er soll [!] gewollt werden; er allein ist das Haus der äußersten Hoffnung. […]“ (so W. Benjamin in dem schon zitierten [s. o. II., Anm. 350] „Wahlverwandtschaften“-Aufsatz; diesen „Schein des Guten“ nicht zu wollen, d. h. ihn zu negieren („so sei es nicht“) liefe selbst der dieser Hoffnung zugrunde liegenden Moralität zuwider. Benjamins (und Adornos) Motiv weckt geradezu Assoziationen zur kantischen Rechtfertigung jenes „Bedürfnisses in schlechterdings notwendiger Absicht“, wonach darin „mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf [!], mein Urteil unvermeidlich bestimmt, ohne auf Vernünfteleien zu achten“ (IV 277 f ).
138 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre der seinem sogenannten „moralischen Beweis“239 (V 586 f ) zugrunde liegende eindringliche Befund, dem zufolge „sich das Urteil unvermeidlich einfinden“ müsse: „daß es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewalttätig verhalten habe. Es ist: als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen …“ (V 587). Dies war nach Kant ja auch der Grund dafür, weshalb das Geschick der durch „ein weites Grab“ verschlungenen „Rechtschaffenen“ „insgesamt ([denn] redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel)“ nicht gleichgültig lassen kann, sondern, dabei lediglich dem „Rufe seiner sittlichen inneren Bestimmung anhänglich [!] bleiben[d]“ (V 580), notwendigerweise verlangt, dass wir, als „vernünftige Weltwesen“, daran als einer besonderen „moralischen Zweckmäßigkeit“ (vgl. VI 111) Interesse nehmen; ebendies darf erst recht nicht als bloßes „Wunschdenken“ belächelt bzw. unbedachterweise als bloß eigennützige Rücksicht abgetan werden. Weil – unter den Vorzeichen der theoretisch einzuräumenden Möglichkeit desselben (weil „nichts dawider“ ist: IV 280) – das Nicht-Sein jenes an der praktischen Idee der „moralischen Welt“ bemessenen „Weltbesten“ und damit auch das Auseinanderfallen von „Moralität und Glückseligkeit“ aus moralischen Gründen nicht „mit Zustimmung gedacht“ werden darf, also kein „freies Annehmen“ erlaubt und somit buchstäblich unannehmbar – und keineswegs etwa lediglich aus dem psychologischen Grund der „Entmutigung“ unerträglich – ist, indiziert dieser „moralische Grund“ eine darauf gestützte sinn-orientierte Hoffnung: „(d)enn der durch das Sittengesetz sich bestimmende Wille kann inhaltlich nicht wollen, dass der moralisch Gesinnte und Handelnde ebendarin und ebendadurch erfolglos und unglücklich wird“.240 Auch in diesem bestimmten Sinne führt „Moral unumgänglich zur Religion“, d. h. es ist (und zwar nur in einer solchen Hinsicht) also „moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen“ (IV 256), weil nur dadurch jene alles resignative – prinzipiell trostlose – Hinnehmen überwindende „affirmative“ Hoffnung legitimiert werden kann, also auch ein „begründetes Hoffen“ ist. Demzufolge wäre jenes vernunft-geleitete „Mit-Zustimmung-urteilen-Können“ auf das Dasein jener „moralischen Welt“ in der dreifachen Hinsicht zu beziehen – dass ein „moralisches Sollen“ und das Subjekt dieses „Sollens“, als ein in der Welt selbst existierender „Endzweck der Schöpfung“ und der beiden angemessene „Endzweck der Schöpfung selbst“ sein soll. Auch die „moralisch“ begründete Annahme der Möglichkeit des „höchsten Gutes“ und das daran geknüpfte Gebot der „Beförderung“ lässt jene analoge Begründungsfigur nun besonders deutlich erkennen: Jene vorausgesetzte (weil Erfahrung erst ermöglichende) Eben dies darf nach Kant freilich nicht als ein „unmäßig gewordener Sinnanspruch“ abgetan werden, dem gegenüber „eine Diät in Sachen Sinnerwartung“ zu empfehlen wäre (Marquard 1986, 40 f.). 239 Genauer besehen zielt dieser sogenannte „moralische Beweis“ auf den Aufweis der Rationalität des sogenannten „Vernunftglaubens“, in dem bzw. durch den die „Vernunft sich selbst erhält“ – eben im Unterschied zu jener „moralisch ungläubigen“ Haltung. 240 K. Düsing 2010b, 65. Es ist durchaus eine Art „Kanon der moralischen Beurteilung“, dass nicht im Sinne eines „Weltenlaufs“ als „allgemeines Gesetz gewollt werden kann“, jene „Rechtschaffenen“ seien zugleich und endgültig die „Dupierten“; in diesem Sinne ist es wohl zu verstehen, dass das „praktische Gesetz … die Existenz des höchsten in der Welt möglichen Guts gebietet“ (IV 266 f ), weil andernfalls die praktische Idee der „moralischen Welt“ negiert wäre, was jenes „praktische Gesetz“ jedoch explizit verbietet.
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„Zweckmäßigkeit“ in dem Sinne, dass die Natur mit dem „Interesse der forschenden Vernunft“ „stimmig ist“ (ihrem „Bedürfnis“ gleichsam „entgegenkommt“), hat offenbar eine von Kant intendierte Entsprechung in der unterstellten Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ – und zwar in dem Sinne, dass dieser dem Interesse der praktischen Vernunft und ihrem „Endzweck“ gleichsam „entgegenkommt“, d. h. „unserem“ („subjektiven“) „Endzweck“ ein „objektiver Endzweck“ korrespondiert. Nur so ist nach Kant folglich auch jener auf das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ gestützte Rekurs auf die Idee Gottes als eines „weisen Schöpfers“ zu rechtfertigen, der seine eigene Version des „Grund(es) unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ legitimieren soll und ebenso seiner Bestimmung der Religion als „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ (IV 261) zugrunde liegt. Im Vorblick auf den später noch aufzunehmenden Hinweis, wonach es „der Vernunft [!] doch unmöglich gleichgültig sein“ könne, „wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserem [das bezieht sich aber auf alle „vernünftigen Weltwesen“] Rechthandeln herauskomme und worauf wir … als auf einen Zweck unser Tun und Lassen richten können“ (IV 651), sei zu dieser „Beförderung des höchsten Gutes“ noch einmal ausdrücklich betont: Damit ist freilich in der Tat keine „zusätzliche Pflicht“ auferlegt;241 dass diese „Beförderung“ „geboten“ sei und insofern die Idee des „höchsten Gutes“ aus der Moral „hervorgehe“, besagt somit eher jene erwähnte For241 Kants Argumentation verwischt hier vermutlich keineswegs (wie Habermas einwendet: Habermas 2007, 377) „die Grenze zwischen den Zuständigkeiten von praktischer Vernunft und teleologischer Urteilskraft“, sondern zeigt – ein wesentlicher Aspekt einer „Kritik der praktischen Vernunft“ –, dass der „ganze Gegenstand“ derselben (als „besonderer Beziehungspunkt“: IV 651) über das „moralische Sollen“ hinausweist auf das, was gemäß einer „moralisch konsequenten Denkungsart“ „dasein soll“; dieses steht zwar nicht einfach im moralischen Vermögen des Menschen, gleichwohl ist es ohne moralische Freiheit auch nicht zu denken. Deshalb unterscheidet Kant auch die vorgängige, im engeren Sinne moralische Rücksicht auf das „Wie“ des Handelns von dem, „wohin sie zu wirken habe“ (IV 650). Indes, wenn (so Habermas selbst andernorts) die „praktische Vernunft ihre eigene Bestimmung [!]“ verfehlt, „wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten“ (Habermas 2008, 30 f ), so geht dieses der „praktischen Vernunft“ Zugemutete doch selbst über die „Begründungsleistung des kantischen Moralprinzips“, d. h. die „Verallgemeinerbarkeit von Normen zu prüfen“ (Habermas 2007, 374) hinaus und orientiert sich offensichtlich selbst an einer „praktischen Idee“ in kantischem Sinne. Es hat den Anschein, dass nicht Kant „die Grenze zwischen den Zuständigkeiten von praktischer Vernunft und teleologischer Urteilskraft“ verwischt, sondern dass Habermas womöglich die Ansprüche der (auf das moralische „Sollen“ abzielenden) „reinen praktischen Vernunft“ (in der „Analytik“ der „zweiten Kritik“ Kants) mit darüber hinausgehenden Perspektiven der „praktischen Vernunft“ verwechselt. In eine andere Richtung weist indes wiederum die von Habermas selbst beiläufig eingefügte Erwägung in seiner „Replik“ auf die Beiträge des Wiener Symposiums: „Aber vielleicht gibt es für die vernünftige Moral tatsächlich ein hintergründiges ethisches Motiv, ein Bedürfnis, das erklärt, warum Kant die praktische Vernunft nicht ganz [!] auf das Vermögen moralischer Gesetzgebung einschränken wollte“ (Habermas 2007, 381). Diese (von Habermas sehr behutsam angefügte) Vermutung trifft wohl schon deshalb zu, weil die „praktische Vernunft“ über die im engeren Sinne so verstandene „Moral“ hinaus „hintergründig“ auf ihren Gegenstand, also auf das, „was dasein soll“ (II 557), abzielt, der zwar den Maßstäben des Moralischen (der „reinen praktischen Vernunft“) als unumgänglicher Bedingung untersteht, darüber hinaus aber ein „moralisch gewirktes Bedürfnis“ indiziert, das sich nicht zuletzt an der (von Habermas gelegentlich angesprochenen) Idee einer „rettenden Gerechtigkeit“ orientiert – ein „Bedürfnis“, das freilich nicht auf „bloße Wünschbarkeit“ (ebd. 407) reduziert werden darf.
140 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre derung, dass, über die praktische Befolgung der Rechts- und Tugendpflichten hinaus, die Stellung zu diesem „praktischen Endzweck“ (der ja selbst alle bloß eudämonistische Fixiertheit verwirft!) eine diesbezügliche „moralische Indifferenz“ verbieten muss.242 Dies muss infolgedessen auch für die – nicht zuletzt durch „teilnehmende Vernunft“ sensibilisierte – sinn-orientierte „Ausschau“ darauf gelten, was denn „aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme“ (d. h. daraus letztlich „erfolgt“), und weist solchen „Ausblick“ als ein durchaus „moralisch gewirkte(s) [!] Bedürfnis“ aus, „zu seinen Pflichten sich noch einen Endzweck, als den Erfolg derselben, zu denken“ (IV 652).243 Deshalb fungiert diese Orientierung an dem über die praktische „Beförderung“ noch hinausweisenden „Dasein-Sollen“ des „höchsten Weltbesten“ (gemäß der in dem „Endzweck der Schöpfung“ gedachten „moralischen Welt“) als der unumgängliche „besondere Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (IV 651); als zwar moralisch verankert (d. h. derart inspiriert und auch legitimiert) transzendiert ein solcher „Beziehungspunkt“ in der Tat die moralische Sphäre im engeren Sinne. Andernfalls müsste eine keineswegs
242 Deshalb geht es in dieser gebotenen „Beförderung des höchsten Gutes“ auch nicht um eine (in der Tat „nichtssagende“) „Superpflicht“ (Habermas 2005, 234), sondern um eine den „moralischen Glauben“ selbst auszeichnende „Sinn-Affirmation“, die es gebietet, dem „Vernunftunglauben“ als der „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis“ (III 282), entgegenzuwirken (weil solcher „Vernunftunglaube“ als „Maxime“ nicht affirmiert werden darf und auch keine Indifferenz erlaubt). Wohl auch im Sinne einer solchen moral-transzendierenden Intention darf Kants Hinweis verstanden werden: „Es ist von der moralischgesetzgebenden Vernunft außer den Gesetzen, die sie jedem einzelnen vorschreibt, noch überdem eine Fahne der Tugend als [gemeinschafts-bildender] Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben, ausgesteckt, um sich darunter zu versammeln, und so allererst über das sie rastlos anfechtende Böse die Oberhand zu bekommen.“ (IV 752). Dies besagt mehr als ein „schwaches Sollen“ (Habermas 2005, 226), meint aber eben auch nicht ein „übermoralische Gebot“ im Sinne einer Verpflichtung „auf ein überschwengliches, d. h. die moralischen Gesetze überbietendes Ziel, die Herbeiführung eines idealen Zustandes in der Welt“ (ebd.). In diesem Sinne lässt sich dann sagen: „Daher konnte auch die merkwürdige ‚Pflicht‘ zur Mitwirkung an der Realisierung des Endzwecks keinen direkten Einfluss auf die Orientierung des Handelns, sondern allenfalls auf die Motivation zum Handeln haben. Orientierende Kraft haben allein die moralischen Gesetze, nach denen jede Person für sich entscheidet, was die Pflicht in jeder Situation zu tun gebietet“ (Habermas 2005, 234); gleichwohl orientiert es sich dabei freilich daran, „was dasein soll“ (II 557) – gemäß dem, was „praktisch“, d. h. „durch Freiheit möglich ist“. Noch einmal sei betont: Das kantische „moralische Gesetz“ sieht (im Unterschied zu demjenigen der Stoa, dem Kant zunächst selbst nahe stand) in der Tat vom „höchsten Gut“ ab, gleichwohl ist Letzteres ein solches, das „moralisch“ verankert ist, weshalb die bloße Indifferenz ihm gegenüber „moralisch inkonsequent“ bliebe und dieses deshalb vielmehr „zu befördern“ ist. – Von der unbedingten „Verbindlichkeit“ des „Moralischen“ bleibt wohl die umfassende „Orientierungs“-Perspektive genau zu unterscheiden. 243 Der Gedanke liegt nahe: So wie die Bestimmung der Tugend als „Glückswürdigkeit“ keine zusätzliche „moralische Qualifikation“ darstellt, sondern sich der Einrückung in die „Endzweck“-Perspektive verdankt, so ist auch die gebotene „Beförderung des höchsten Gutes“ eine solche, die vom umfassenden „Endzweck der Vernunft“ her erfolgt, aber keine moralische „Zusatzpflicht“ bedeutet. Dabei darf eben nicht vergessen werden, dass Kant die „praktische Vernunft“ als die Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“ bestimmt, weshalb die Ansprüche desselben zwar den Maßstäben der „reinen praktischen Vernunft“ als dem „moralischen Gesetz“ unterstehen, gleichwohl darüber hinausweisen und auf das abzielen, was „dasein soll“ – das sich eben nicht auf die moralische Frage „Was soll ich tun?“ reduziert; Letztere zielt als Frage nach dem „Sittlichguten“ gleichermaßen darauf, „was“ und „wie“ etwas getan werden soll, wobei Kants Argumentation bekanntlich insbesondere darauf abstellt, „dass das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme“ (IV 191).
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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auf „Eigennützigkeit“ verengte Sinnperspektive, die selbst zwar „sittliche Grundsätze voraussetzt“ (IV 651), zuletzt „aufgegeben“ werden, weil „phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt“ (IV 243). Ebendies kann – und zwar wiederum aus durchaus moralischen Gründen – nicht affirmiert werden, weshalb diese vernunftgeleitete Orientierung an dem, was „dasein soll“, nach Kant einen zwar praxis-transzendierenden und dennoch „gesollten Zweck“ darstellt! In dieser Hinsicht, d. h. aus solcher „moralischen Gesinnung entsprungen“, mag der „reine praktische Vernunftglaube“ ihm zufolge zwar „öfters selbst bei Wohlgesinnten bisweilen ins Schwanken, niemals aber in Unglauben geraten“ (IV 280 f ), d. h. sich nicht zu einer „Maxime“ verfestigen – eine Auffassung, die Kant in seinem späteren Hinweis auf das „überwiegende praktische Fürwahrhalten“ des „Zweifelglaubens“ (V 604) aufgenommen und noch einmal zugeschärft hat (s. dazu u. VI., 1.1.2.).244 Die explizite und zum Grundsatz gefestigte Negation der „Möglichkeit“ des „höchsten Gutes“ wäre nach Kant in theoretischer Hinsicht von einem unkritischen „Szientismus“ nicht so ohne Weiteres zu unterscheiden und liefe in praktischer Hinsicht zugleich darauf hinaus, die motivationalen Kräfte in der moralischen Befolgung der „Rechts- und Tugendpflichten“ zu lähmen. In seiner ausdrücklichen Charakterisierung und Verwerfung des „Vernunftunglaubens“ als eines „misslichen Zustands des Gemütes“ hat Kant vornehmlich den letztgenannten Aspekt hervorgehoben. Es ist offensichtlich, dass ein solches „überwiegendes praktisches Fürwahrhalten“ des „Zweifelglaubens“ (und die ihm eigentümliche „Gewissheit“) über die Kennzeichnung des „Glaubens“ als „nur subjektiv zureichend und … objektiv unzureichend“ (II 689) hinausgeht. Es wird sich noch zeigen: Das „Überwiegende“ dieses praktischen Fürwahrhaltens ist nicht zuletzt in der bleibenden Irritation darüber begründet, dass andernfalls jener „Vernunftunglaube“ (III 282) die unvermeidliche Konsequenz daraus wäre, der gegenüber dem jener Idee der „moralischen Welt“ innewohnenden Anspruch gleichgültig bliebe und die „Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis“, somit von ihren „moralischen Zwecken“, bejahen müsste; eben solche Zustimmung liefe unweigerlich darauf hinaus, dass die Vernunft mit sich selbst „inkonsequent“ werden müsste. Ebenso soll sich erweisen: Es ist das „überwiegende Fürwahrhalten“ dieses „Zweifelglaubens“, welches das vom frühen Kant – als „Unrichtigkeit“, die er „in der Tat auch niemals beheben will“! – eingeräumte Übergewicht der „Hoffnung auf Zukunft“ auf der eben doch nicht ganz unparteiischen „Verstandeswaage“ (I 961) durch das Schwergewicht des „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ ersetzt. Deshalb muss die „Vernunftwaage“ die „Verstandeswaage“ ersetzen, weil allein sie die Last dieser Fragen zu ertragen – und auch zu tragen? – vermag. Schon früh hat Kant offenbar eingesehen (ganz ausdrücklich dann 244 Insofern weisen die hier „im Ausgang von Kant“ entworfenen Perspektiven, die seine Ethikotheologie mit seiner Idee einer „authentischen Theodizee“ zu neuer Gestalt zu verbinden suchen, über den von Wimmer vorgeschlagenen Weg noch hinaus: „Ich glaube zeigen zu können, dass diese praktische Philosophie, die für Kant in der transzendentalen Theologie ihren letzten Bezugspunkt hat, auf eine kritische Religionsphilosophie hin ausgelegt nichts anderes als eine auf den Punkt gebrachte Philosophie der Existenz und des Lebens ist, in der unausgesprochen das Staunen über das Wunder des menschlichen Daseins sowohl am Anfang als auch am Ende steht und die Frage nach seinem Sinn, recht verstanden, gar nicht mehr aufkommen kann“ (Wimmer 1992, 9).
142 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre auch in seinem Rekurs auf das „Urteil einer unparteiischen Vernunft“: IV 238), dass eine solche eingeräumte „Unrichtigkeit“ bzw. „Bestechlichkeit“ des menschlichen Gemüts kein tragfähiges Fundament des „Glaubens“ sein kann, und im „Vernunftglauben“ nicht weniger als die „Selbsterhaltung der Vernunft“ auf dem Spiele steht. Eine Folge daraus ist dies: Die in der moralischen Befolgung der Achtungs- und Tugendpflichten allein zu leistende praktische „Beförderung des höchsten Gutes“ steht in einer praktisch unaufhebbaren Spannung zu dem, was gemäß der Idee der „moralischen Welt“ und ihrem Richtmaß der „allgemeinen Glückseligkeit“ „dasein soll“; eben diese Spannung ist es zunächst, die den Sinnhorizont der Hoffnungsthematik allererst eröffnet und die Intentionalität dieser Hoffnung derart als eine solche ausweist und legitimiert, die „moralische Grundsätze“ schon voraussetzt. Es ist dieses Band, das die „moralische“ und die „moralisch konsequente Denkungsart“ verknüpft und sodann, wie sich zeigen soll, auch dazu nötigt, die Hoffnungsfrage im Sinne der Fragen „Was soll und was darf ich hoffen?“ zu differenzieren, wobei die Frage „Was darf ich hoffen?“ darüber noch hinaus auf besondere Sinnaspekte „an den Grenzen der bloßen Vernunft“ verweist, die „viel zu denken“ geben. In der Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ spiegelt sich demnach bemerkenswerterweise eine spannungsvolle Einheit wider: Auch wenn jenes moralische „Sollen“, von dem in der Natur noch „nicht die Rede ist“, eine nicht reduzierbare Dimension des „Normativen“ eröffnet, so übersteigt das in dem „Endzweck der praktischen Vernunft“ angesprochene „Sein-Sollen“ die Ebene des „moralischen Sollens“ – eine Differenzierung, die bei Kant explizit auch in derjenigen zwischen „moralischer“ und „moralisch konsequenter Denkungsart“ bzw. in derjenigen zwischen dem „Glauben an die Tugend“ und dem „Vernunftglauben“ zum Ausdruck kommt. Der dem „vernünftigen Weltwesen“ vernunftbegründet – d. h. „apriori durch die Vernunft gemacht(e)“ (III 632) – „apriori vorgesetzte Endzweck“ (V 581) verweist demgemäß auf die hierfür unumgängliche Voraussetzung eines „Endzwecks der Schöpfung“;245 dieser wiederum wird als „ratio cognoscendi“ des „Begriffs einer Gottheit“ gedacht, der „für uns“ allein dadurch auch in „Bestimmtheit“ zu denken ist. Letzterer wird dergestalt als die dem „Endzweck der Schöpfung“ und dem „Endzweck der praktischen Vernunft“ vorausgesetzte „ratio essendi“ bestimmbar,246 der als (allein vertrauens-würdiger) „weiser 245 Die Frage nach dem „Endzweck der Schöpfung“ bestimmte Kant als diejenige: „Wozu haben Menschen existieren müssen?“ (V 559, Anm.); solche Kennzeichnung setzt den Akzent doch anders als diejenige, die auf den „Ermöglichungsgrund“ des „praktischen Endzwecks“ abzielt. 246 In diesem Sinne hat es die Metaphysik nach Kant also mit dem „a priori durch die Vernunft gemachten“ Endzweck als ihrer letzten und eigentlichen Aufgabe zu tun (III 605). Im Grunde wären – gemäß der Unterscheidung zwischen „praktischem Endzweck“ und dem „Endzweck der Schöpfung“, dem „Ideal der Weltvollkommenheit“ (III 647) – also zwei „objektive Zwecke“ (d. i. solche, die der Mensch „haben soll“) zu unterscheiden, die beide, freilich je auf ihre Weise, „von der bloßen Vernunft als solcher aufgegeben“ sind. Erst der „das Ganze aller Zwecke unter einem Prinzip befassende Endzweck“ (VI 132, Anm.) ist sodann auch Thema und eigentlicher „Gegenstand der moralischen Teleologie“ (III 647). – Mit Recht hat K. Düsing (1968, 230, Anm. 89) darauf hingewiesen, „dass dieser Begriff des Endzwecks des Daseins der Welt als Begriff der teleologischen Urteilskraft, sofern sie die Welt als ein teleologisches Ganzes entwirft, nicht identisch ist mit dem Endzweck als Objekt der praktischen Vernunft, das
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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Welturheber“ (V 584) – und näherhin in der „Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen“ (IV 652) bzw. als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (III 636)247 – als letzter „terminus ad quem“ in „symbolischer Darstellung“ im zweifachen Sinn des Wortes vor-gestellt wird und so als ein „zur Religion tauglicher Gottesbegriff“ fungiert.248 Auch jene frühe kantische Charakterisierung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich, so, dass das Praktische nur als ein Leitfaden zu Beantwortung der theoretischen, und, wenn diese hoch geht, spekulativen Frage führet“ (II 677), wäre dann wohl dahingehend aufzunehmen, dass sich in der darauf abzielenden „Endzweck“-Idee eine auf den unbedingten Sollensanspruch der reinen praktischen Vernunft gestützte Sinn-Forderung des Menschen zur Geltung bringt, die über den moralischen „SollensAnspruch“ hinaus auf eine „Sein und Sollen“ in sich vereinende eigenständige Sinndimension verweist: Diese wäre, zwar im moralischen Sollens-Anspruch verankert, selbst als Verweis auf die Einheit von „Sein und Sollen“ zu verstehen – buchstäblich als das, „was da sein soll“ (II 701), worauf Kants Idee der „moralischen Welt“ abzielt. In dem zu „befördernden Weltbesten an uns und anderen“, so hat sich gezeigt, ist die Hoffnung auf das „höchste Gut“ („die im Weltganzen mit der reinesten Sittlichkeit auch verbundene, allgemeine, jener gemäße, Glückseligkeit“) verankert.249
wir verwirklichen sollen“, nämlich dem des „höchsten durch Freiheit möglichen Gut(s) in der Welt“ (V 423). Dies bleibt auch bezüglich des hinreichend differenzierten Themas „Hoffnung“ (ihres „terminus ad quem“) und ihres Ermöglichungsgrundes im Sinne des „Hoffnungsglaubens“ (s. dazu u. IV., 3.1.1.) zu beachten. 247 Diese interessante Bestimmung als „Urquell“ findet sich in der späten Abhandlung Kants über die „wirklichen Fortschritte in der Metaphysik“; das ist eben jenes „summum bonum originarium“, in dem der „Endzweck der Schöpfung“ (als „Endzweck aller Dinge“) begründet ist, welches wiederum als „höchstes Gut“ (die „Idee eines Ganzen“ und als „Zweck an sich“) dem „praktischen Endzweck“ als das „höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“ zugrunde liegt. In diesem Sinne verwies Kant noch im „opus postumum“ auf den „Urquell alles dessen, was unbedingt Zweck sein mag (summum bonum) das Ideal der moralisch-praktischen Vernunft“ (AA XXI, 33). 248 Diese Kennzeichnung Gottes als „Urquell alles Guten, als sein Endzweck“, fände in jenen (schon in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“) „ausschließungsweise“ Gott zugeschriebenen (moralischen) „Eigenschaften“ nach „der Ordnung derselben“: d. i. als „der heilige Gesetzgeber (und Schöpfer), der gütige Regierer (und Erhalter) und der gerechte Richter“ ihre nähere Entfaltung: „Drei Eigenschaften, die alles enthalten, wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird [!], und denen angemessen die metaphysischen Vollkommenheiten sich von selbst in der Vernunft hinzufügen“ (IV 263, Anm.). Diese Bestimmungen gewinnen, in Berücksichtigung der angezeigten gestuften Vermittlungsschritte, freilich allein in der offen gehaltenen Spannung von „via negationis“ und „eminenter“ Bestimmung ihren spezifischen Gehalt – d. h. auf eine Weise, die jenen Hinweis darauf, wonach in der ausgesagten Verhältnisbestimmung Gottes zur Welt in Wahrheit doch lediglich das Verhältnis der Welt zu Gott in Wahrung der „absoluten Differenz“ ausgesagt wird, besonders akzentuiert. 249 Auch dieser Hinweis auf das „genaue Verhältnis“ von „Sittlichkeit und Glückseligkeit“ macht deutlich, dass die Bestimmung des „vollendeten Gutes“ („bonum consummatum“) zunächst (gemäß der „moralischen Welt“) im Sinne der „allgemeinen Glückseligkeit“ zu verstehen bzw. darauf bezogen ist, während sich daran, in einer besonderen Akzentuierung der „moralisch konsequenten Denkungsart“, sodann explizit noch die Hoffnung knüpft, dass die „eigene Glückseligkeit“ in dieser Idee des „ganzen aller Zwecke“ „mitenthalten“ ist; dadurch gewinnt die Frage „Was darf ich hoffen?“ noch einen spezifischen Akzent „an den Grenzen der Vernunft“ (s. u. V., 3.), der nicht „eudämonistisch“ ausgelegt werden darf.
144 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Es hat sich gezeigt: Dieses „höchste (abgeleitete) Gut“ zu befördern kann also, über die moralisch-praktische Beförderung des „Weltbesten“ hinaus, freilich nur in dem indirekten Sinne geboten sein, dass auch von einem völlig „parteilosen“ Vernunfturteil das endgültige Auseinanderfallen von „Sittlichkeit und Glückseligkeit“ als „Weltordnung“ weder mit Zustimmung gedacht (d. h. bejaht), noch in moralischer Indifferenz akzeptiert werden kann. Anders noch: In diesem „Gebot“ der „Beförderung des höchsten Gutes“ scheint insofern einerseits zunächst nicht mehr als die Pflicht der „Beförderung des Weltbesten an uns und anderen“ benannt zu sein; darüber hinaus ist darin jedoch implizit mitenthalten und nun auch ins „Affirmativ-Positive“ gewendet, dass das Nicht-Sein des „Weltbesten, welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an demselben, d. i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit, besteht“ (V 580), nicht mit Zustimmung gedacht, d. h. nicht gewollt werden darf, d. h. ihr „Zusammenstimmen“ vielmehr „durch Sittlichkeit“ als notwendig zu denken ist. Sofern das „durch die Vernunft allen vernünftigen Wesen ausgesteckte Ziel aller ihrer moralischen Wünsche“ (IV 244) als „Sein-Sollendes“ nicht negiert werden darf, d. h. dies mit einem „moralisch bestimmten Willen“ unverträglich wäre, ist umgekehrt – zumal seine Unmöglichkeit auch theoretisch „unerweislich“ ist – seine Bejahung und praktische Beförderung indirekt „geboten“.250 Die in dieser Idee einer „moralischen Welt“ gedachte „Gemäßheit“ von „Sittlichkeit und Glückseligkeit“ ist – eben als ein bezwecktes „Sein-Sollendes“ – deshalb aus moralischen Gründen zu „befördern“, weil dieses selbst unter der reinen „Vernunftbedingung“, d. h. der „obersten Bedingung alles Guten“, steht und seine „Realisierung“ zu hoffen ist (und andernfalls das diesbezügliche Gebot des „Hinwirkens“ auch widersprüchlich wäre), folglich die auf jenes „Sein-Sollende“ gerichtete Intention auch nicht auf bloße „Wünschbarkeit“ herabzustufen ist. „Praktische Vernunft“ geht als „Vermögen der Zwecke“ eben auf das, „was sein soll“, und orientiert sich gemäß dieser maßgebenden Idee der „moralischen Welt“ an der Idee der „allgemeinen Glückseligkeit“ als dem „Ideal der reinen Vernunft“. Daran geknüpft 250 Auch mit Blick auf die Kontroverse zwischen L.W. Beck (1960) und J. Silber (1963; 1966) sei schon hier angemerkt (ähnlich wie zu Habermas’ Einwand, s. o. IV., Anm. 241 u. 242): Becks ablehnender These bezüglich der „gebotenen Beförderung des höchsten Gutes“ ist zwar insofern zuzustimmen, als ja tatsächlich der moralisch Handelnde selbst in der „Beförderung des Weltbesten an uns und anderen“ gewissermaßen „moral-immanent“ das „höchste Gut“ „praktisch“ befördert und anstrebt. Gleichwohl ist davon noch die spezifische – moralisch keineswegs „neutrale“ – Intention unterschieden, die in der gedachten Idee dieser der „Sittlichkeit gemäßen Glückseligkeit“ als dem „subjektiven Endzweck“ besteht; von ihm als „sein sollend“ abzusehen (oder diese gar explizit zu negieren), wäre insofern gerade nicht (weil jenes „Sein-Sollende“ notwendig einschließend) „allen sittlichen Gesetzen gemäß“. – Im Sinne dieser „moralisch konsequenten Denkungsart“ und deren spezifischer (auf „Sein-Sollendes“ gerichteten) „Willensbestimmung“ relativiert sich auch Becks entschiedener Einspruch gegen diese „Pflicht, das höchste Gut zu befördern“. – Es ist auch für das Verständnis des mit dieser „Beförderung des höchsten Gutes“ verbundenen Anspruchs wichtig, darauf zu achten: Kant kritisiert schon in der „Kritik der praktischen Vernunft“ das im Sinne der Stoa verstandene „moralische Gesetz“: „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“, weil dieser Zweck im „moralischen Gesetz“ selbst nicht enthalten ist; gleichwohl ist die Orientierung am „höchsten Gut“ eben notwendig im Sinne des „ganzen Gegenstands der praktischen Vernunft“ und als solche keineswegs moralisch „neutral“, sondern „moralisch konsequent“.
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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ist die in der „reinen praktischen Vernunft“ begründete Pflicht, praktisch das „Weltbeste an uns und anderen“251 zu befördern, die freilich indirekt im Vorgriff auf jenen „vollständigen Zweck“ steht; als ein nicht lediglich „akzeptabler“, sondern durchaus „moralischer“, d. h. „gesollter“ Zweck“, der als solcher selbst „sittliche Grundsätze“ voraussetzt, muss er (auf das „Sein-Sollen“ gerichtet) implizit mitbejaht werden. Nur insoweit lässt sich mit Kant aufrechterhalten, dass das Absehen davon mit „Moralität“ unvereinbar bliebe, d. h. es ein „Gebot“ der reinen praktischen Vernunft sei, „zu dessen [des „höchsten Gutes“] Hervorbringung alles Mögliche beizutragen“ (IV 249). Bezüglich des Gebots der „Beförderung“ des „höchsten Gutes“ im Blick auf den „ethischen Weltbegriff“ bleibt sonach in besonderer Weise darauf zu achten, dass die ideen-geleitete „praktische Vernunft“ als „Vermögen der Zwecke“ sich nicht zuletzt an dem „objektiven Zweck“ (den „wir haben sollen“: IV 653, Anm.), d. h. an dem, „was sein soll“, orientiert und insofern 251 Freilich, schon dies weist das „höchste Gut“ als ein „gemeinschaftliches“ aus; dass dieses die vereinigten Kräfte aller unter der „Fahne der Tugend“ (IV 752) Vereinten zur Erreichung dieses Zieles bedarf, ist lediglich ein zusätzlicher Gesichtspunkt, der so eine besondere „Pflicht des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ (IV 756) impliziert und einen besonderen „motivationalen Aspekt“ anzeigt. Er bezieht sich nicht zuletzt darauf, dass Menschen stets auch (nicht zuletzt angesichts der Widerfahrnisse des „Naturlaufs der Welt“) den Anfechtungen durch jenen „Vernunftunglauben“ als einem „missliche(n) Zustand des menschlichen Gemüts“ ausgesetzt bleiben, „der den moralischen Gesetzen … alle Kraft der Triebfedern auf das Herz, mit der Zeit so gar ihnen selbst alle Autorität benimmt“ (IIII 282). Dies stellt so einen ganz besonderen Aspekt dessen dar: Schon mit dem Dasein „unter Menschen“ ist die Erfahrung verbunden, dass sie sich „wechselseitig in ihrer moralischen Anlage … verderben und sich einander böse … machen“; insofern sind sie auf eine „bestehende, und sich immer ausbreitende, bloß auf die Erhaltung der Moralität angelegte Gesellschaft“ (IV 751 f ) verwiesen und macht so die Zugehörigkeit zum „ethischen Gemeinwesen“ unentbehrlich. – Im Vorblick auf spätere Überlegungen darf gesagt werden: Kants frühere (missverständliche) Ansicht, wonach erst durch den Gottesbezug die moralischen Gesetze auch „Antrieb“ erhalten, wird in der „Religionsschrift“ zur Kennzeichnung der Gottesidee als des gemeinsamen Bezugspunktes der unter der „Fahne der Tugend Versammelten“ transformiert; Letztere gewinnt derart also eher eine solidaritätsstiftende Bedeutung, die auch noch in dem späten Verweis auf einen „allgemeinen Vater, der aller Glückseligkeit will“ (IV 613) zum Ausdruck kommt. Der Rekurs auf Gott zielt somit nicht primär auf die motivationale Antriebskraft in der Befolgung des moralischen Gesetzes; eher fungiert der Gottesgedanke, was in dem Verweis auf die „unter der Fahne der Tugend Versammelten“ zum Ausdruck kommt, als „Quelle der Solidarität“, die so einen jedoch nicht auf vormoralischen Bedingungen beruhenden Zusammenhalt fundiert. Dieser Rückbezug auf eine solche inspirierende und ermutigende „Quelle“ bedeutet in der rechten Begründungsordnung indes keineswegs einen Rückfall hinter die in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ erst durchgesetzte „Autonomie der Moral“. – Es spricht demzufolge vieles dafür, die kantische Perspektive auf die „unter der Fahne der Tugend Versammelten“ und deren Orientierung am „höchsten Gut“ als einer „gemeinschaftlichen Aufgabe“ auch mit seinem Hinweis auf die „größere Bearbeitung sittlicher Ideen“ in Verbindung zu bringen; in diesem Sinne wäre diese „Versammlung unter der Fahne der Tugend“ unter einem gemeinsamen „symbolum“ als eine späte Entwicklungsstufe einer zunächst gemeinschaftlichen – identitätsstiftenden bzw. -stabilisierenden – rituell-kultischen Praxis (und der darin bestimmenden normativen Bindungen) zu verstehen; erst in deren Verlauf werden statutarische Verbindlichkeiten und moralische Pflichten zunehmend entflochten und auch damit zunächst verbundene soziale „Exklusionen“ überwunden. Zuletzt wäre das jener „größeren Bearbeitung sittlicher Ideen“ verdankte, in einem „freien Annehmen“ verankerte „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ (III 636) die aus diesem Prozess erwachsene identitätsstiftende Gestalt der unter der „Fahne der Tugend Versammelten“ und einander im praktischen Engagement, der „Hoffnung“ sowie im Glauben an den „weisen Welturheber“ Ermutigenden, in dem die „gemeinschaftlich geübte Kultpraxis“ und entsprechende rituelle Normen überwunden wären.
146 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre etwas „moralisch Überschießendes hat“; dabei untersteht sie zwar dem durch die „Prinzipien der reinen praktischen Vernunft“ bestimmten unbedingten „Sollensanspruch“ der Moralität, erstreckt sich jedoch in ihren „Ansprüchen“ und „Vernunftzwecken“ über das „Praktische“ (als das, „was durch Freiheit möglich ist“: II 673) hinaus und begründet dieserart eine „moralisch konsequente Denkungsart“, die sich auch in diesem Gebot der „Beförderung des höchsten Gutes“ widerspiegelt und in der Idee der „moralischen Welt“ letztbegründet bleibt.252 Kants Aufweis dieses – vielfach problematisierten – Gebotes lässt sich somit folgendermaßen zusammenfassen: Die in dem „ethischen Weltbegriff“ verankerte Idee des „höchsten Gutes“ als „proportionierte Glückseligkeit“ kann als „Folge der Sittlichkeit“ theoretisch als möglich gedacht werden (weil theoretische Vernunft … nichts dawider hat“: II 280) und erweist sich nach „praktischen Grundsätzen“ sogar als „eine natürliche und notwendige [!] Verbindung“ (IV 248) – es soll also sein, weil es auch allein als das moralisch begründete „vollständige“ Gut anzusehen ist. Insofern die Nicht-Realität des „höchsten Gutes“ nicht nur nicht gewünscht, sondern aus moralischen Gründen ebenso wenig gewollt werden kann, das „höchste Gut“ die Moralität jedoch zur unumgänglichen Voraussetzung hat, ist die – ohnedies nur moralisch mögliche – Beförderung des „höchsten Gutes“ in solcher Hinsicht nach Kant auch geboten. Daraus mag auch verständlich werden, weshalb er das „höchste Gut“ als den „notwendigen praktischen Zweck des reinen Vernunftwillens“ geltend gemacht hat, „der hier nicht wählt, sondern einem unnachlasslichen Vernunftgebote gehorcht“, und dies insofern, gegenüber allem bloß neigungsbedingten „Wünschen“, als ein „Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Absicht“ legitimiert wird (IV 277).253 Dieser Rekurs auf jene – „sein sollende“ – „moralische Welt“ darf aus den genannten Gründen nicht (so Kant ausdrücklich: IV 651) als eine „die Zahl der Pflichten“ vermehrende, das heißt als eine „zusätzliche Pflicht“ missverstanden werden,254 sondern zielt als ein „moralisch gewirktes Bedürfnis“ – ganz 252 Es ist nicht zu übersehen, dass Kant hier jene frühere Bestimmung der „konsequenten Denkungsart“ (d. h. „jederzeit mit sich einstimmig zu denken“) (V 390) als „Maxime der Vernunft“ aufnimmt; dies geschieht auf eine Weise, die erkennen lässt, dass dieses „moralisch konsequent denken Wollen“ untrennbar mit der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als dem „Fundament unseres Vernunftglaubens“ verknüpft ist und so erst eine besondere „Affirmation“ begründet. Die darauf bezogene „Willensbestimmung“ stünde demzufolge der Wittgenstein’schen Frage bzw. Antwort recht nahe: „Was weiß ich über „Gott und den Zweck des Lebens? [
] Dass etwas an ihr [d. i. „dieser Welt“] problematisch [im kantischen Sinne] ist, was wir ihren Sinn nennen“ (Tagebuch-Aufzeichnung v. 11.6. 1916, in: Wittgenstein 1969, 165). 253 Dabei ist zu beachten, dass schon hier der besondere Charakter dieses „schlechterdings notwendigen Vernunftbedürfnisses“ nicht allein auf eine „erlaubte Hypothese“, sondern ein „Postulat in praktischer Absicht“ abzielt – eine gesteigerte Verbindlichkeit, die, wie sich zeigen wird, besonders in dem „Ich will, dass ein Gott sei …“ (IV 277) zum Ausdruck kommt. Der besondere Charakter dieses „Wollens“ wird von Kant später noch deutlicher bestimmt. 254 Ebendies scheint jedoch die darauf gerichtete Kritik von Habermas vorauszusetzen (vgl. Habermas 2007, 373 ff ): Er kritisiert die in Kants Lehre angesprochene Pflicht des zu befördernden „höchsten Gutes“ als eine „problematische Pflicht“ – ein Einwand, den Kant durch den angeführten Passus wohl entkräftet. Er war wohl nicht so sehr von dem Vorhaben geleitet, „dass er die Idee des höchsten Gutes ‚im Urteil der unparteiischen Vernunft‘ rechtfertigen muss“ (ebd. 375); eher war es ihm offenbar darum zu tun, dass, auch gemäß dem durchaus „unparteiischen Urteil der Vernunft“, der moralische Mensch diesen Endzweck nicht nur de facto hat, sondern ihn – und zwar aus moralischen Gründen, an denen er selbst
2. Die Idee der „moralischen Welt“ und das „höchste Gut“
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im Sinne jener „Willensbestimmung von besonderer Art“ (s. o. III., 1.3.) – eben auf den (schon „sittliche Grundsätze“ voraussetzenden) „Endzweck der Vernunft“ als Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und des „Vermögens der Zwecke“; die „Moral“ habe deshalb auch auf „einen solchen Zweck eine notwendige Beziehung“, der folglich auch nur um den Preis eines Selbstwiderspruchs negiert werden könne. Obgleich „Moralität“ in ihrer „Unbedingtheit“ (als „absolut Gutes“) recht verstanden sich selbst genügt, steht „praktische Vernunft“ als „Vermögen der Prinzipien“ und der „Zwecke“ gleichwohl in einer „notwendigen Beziehung“ zu diesem „ganzen Zweck“ als dem „vollendeten Gut“. Dies war ja auch der Grund dafür, dass die Idee der „allen sittlichen Gesetzen [!] gemäß(en)“ „moralischen Welt“ die Rücksicht auf die „mitenthaltene“ Perspektive des „höchsten Gutes“ (in „eigener Person“) nicht nur als „faktisch“ legitimiert, sondern als einen solchen „Endzweck“ bestimmt, „den der moralische Mensch hat, und haben soll“ (III 645), wie noch der späte Kant ausdrücklich betont. Es ist dies ohnehin lediglich die Kehrseite seines sensiblen Bewusstseins davon, auch selbst dem mit jener „Proportioniertheit“ angezeigten „Urteilsspruch“ der „reinen praktischen Vernunft“ zu unterstehen.
gemessen wird! – als „besonderen Beziehungspunkt aller Zwecke“ (IV 651) auch „haben soll“ (und zwar entsprechend dem durchaus „unparteiischen“ – gleichwohl durch das „Bewusstsein von dem, was fehlt“ genötigten – Urteil). Auf das „Sollen“ des moralischen Anspruchs und auf das moralisch begründete (nicht gewünschte!) was „nach den notwendigen Gesetzen der Sittlichkeit sein soll“ (II 679), d. h. „was da sein soll“, – und somit auf das „Sein-Sollen“ des moralischen Endzwecks – bezieht sich jene von Habermas als problematisch verworfene „Willensbestimmung von besonderer Art“ (vgl. dazu die treffende Kennzeichnung des im „höchsten Gut“ von Kant Intendierten bei K. Düsing: s. o. IV., Anm. 5).
3. Die im „Glauben an die Tugend“ verankerte „Selbsterhaltung der Vernunft“ – und ihre Bestimmung als „Fundament des Vernunftglaubens“
Anknüpfend an Kants Bestimmung der „moralisch konsequenten Denkungsart“ (s. o. III., 1.3.2.) sei noch einmal vergegenwärtigt: Der kantischen Idee einer „moralischen Teleologie“ liegt offensichtlich folgende Auffassung zugrunde: Obgleich der „moralische Endzweck“ in der Tugend selbst nicht „analytisch“ enthalten ist (vgl. auch IV 652, Anm.), so besteht dennoch eine unauflösliche Verbindung zwischen beiden: Ist es doch der jener „moralischen Denkungsart“ immanente „Glaube an die Tugend, als das Prinzip in uns“ (III 632; vgl. IV 715; VI 181), der sich selbst zur „moralisch konsequenten Denkungsart“ erweitert, indem dieser auch den „moralischen Endzweck“ des „vernünftigen Weltwesens“ als möglich erhofft und sich hierfür unvermeidlich auf die Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ verwiesen sieht, der indes selbst nur unter der Voraussetzung eines „weisen Welturhebers“ zu denken ist.255 Im Blick auf die Weltstellung des Menschen zielt Kants „moralisch konsequente Denkungsart“ darauf ab, „dass, wenn er moralisch konsequent denken will, er die Annehmung dieses Satzes [„dass ein Gott sei“] unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen müsse“ (V 577; v. Verf. hervorgeh.) – eben deshalb ist diese Hoffnungsfrage „praktisch und theoretisch zugleich“ (II 677). Schon die moralisch-praktische Orientierung an der – als „gemeinschaftlicher Zweck der Gattung“256 wahrzunehmenden – gebotenen Beförderung des „Weltbesten“ (der „allgemeinen Glückseligkeit“) impliziert somit die Rücksicht auf die „Bedingung der Möglichkeit“ derselben, d. h. den Rekurs auf den „Endzweck aller Dinge“ als den unentbehrlichen „Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (IV 651) und deren Ermöglichungsgrund. Es ist nicht zu übersehen: Diese „moralisch konsequente Denkungsart“ spezifiziert offensichtlich lediglich die „konsequente Denkungsart“ als die Maxime, 255 Auffällig (und wohl auch nicht konsistent) ist freilich, dass Kant, eine Einebnung des Unterschieds der „Hoffnung“ und des „Glaubens“ begünstigend, im § 91 der „dritten Kritik“ „das höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut in der Welt“ ebenfalls als „Glaubenssache“ geltend gemacht und davon die beiden weiteren „Glaubenssachen“ als die „einzigen für uns denkbaren Bedingungen ihrer Möglichkeit, nämlich [das] Dasein Gottes und [die] Seelen-Unsterblichkeit“ (V 599) unterschieden hat. 256 In der „Religionsschrift“ hat Kant die „Beförderung des Weltbesten“ in diesem Sinne als eine „Pflicht“ des „menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ formuliert: „Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objektiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt“ (IV 756; vgl. auch Kants Rekurs auf den „ursprünglichen Kontrakt, auf den allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemeinsames Wesen errichtet werden kann“ als einer „Idee der Vernunft“: VI 153). Schon dieser Bezug auf einen „gemeinschaftlichen Zweck“ verbietet in der Folge auch eine Engführung der Hoffnungsthematik.
3. Selbsterhaltung der Vernunft – Fundament des Vernunftglaubens
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„jederzeit mit sich selbst einstimmig [zu] denken“ (V 390), weil darin der Vernunft an ihrer „Selbsterhaltung“ gelegen ist. Es ist nicht zuletzt Kants Kennzeichnung der „fides“, durch die seine Bestimmung „der Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben“ (im § 91 der „Kritik der Urteilskraft“)257 die Tiefenstruktur des „Vernunftglaubens“ näherhin als diejenige eines „Hoffnungsglaubens“ ausweist (s. u. IV., 3.1.1.). Jene in der „moralischen Teleologie“ grundgelegte „moralisch konsequente Denkungsart“ findet nun, wie sich zeigen soll, in der Entfaltung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ eine systematisch bemerkenswerte Entsprechung. Zur Bestimmung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunft glaubens“258 sei vorweg, möglichen Missverständnissen vorbeugend, dies angemerkt: Der Umstand, dass die theoretische Vernunft bezüglich der Bedingungen der Möglichkeit dieses „praktisch notwendigen Zwecks“ nach Kant unentschieden bleibt – besser wohl: diesbezüglich auch gar nicht zuständig ist – und gegenüber dem nur in solcher Hinsicht zu verstehenden „Schwanken der spekulativen Vernunft“ folglich allein „ein moralisches Interesse … den Ausschlag gibt“ (IV 279 f ), darf keineswegs als Indiz für eine zurückgestufte Verbindlichkeit angesehen werden; dies gilt in ähnlicher Weise für Kants wiederholte Mahnung, Vernunftbedürfnis nicht mit „theoretischer Einsicht“ zu verwechseln. Dafür sind vielmehr die moralisch inspirierten Vernunftansprüche eines „vernünftigen Weltwesens“ verantwortlich, die, gegenüber einem eben auch diesbezüglich im „Indifferent-Gleichgültigen“ verharrenden (bloß „meinenden“) Dafürhalten des theoretischen Kalküls eines womöglich „allervernünftigste(n) Weltwesen(s)“, darauf auch insistieren. Erst vor diesem Hintergrund kann die systematische Bedeutung vollends ersichtlich werden, die Kant der Verbindung der daraus resultierenden „Einschränkung der spekulativen Vernunft“ mit dem Aufweis der „praktischen Erweiterung derselben“ – im Sinne des von der „Wirklichkeit lediglich am weitesten entfent scheinenden“ praktischen „Ideal der Vernunft“ – beimisst, zumal solche Motivkonstellation nunmehr selbst gemäß dem darin 257 Vgl. dazu: K. Ameriks 2008. 258 „Das Prinzip der Selbsterhaltung der Vernunft ist das Fundament des Vernunftglaubens, in welchem das Fürwahrhalten eben den Grad hat als beim Wissen, aber von anderer Art ist, indem es nicht von der Erkenntnis der Gründe im Objekt, sondern von dem wahren [!] Bedürfnis des Subjekts in Ansehung des theoretischen so wohl als praktischen Gebrauchs der Vernunft hergenommen ist. Es bleibt immer Glauben, niemals wirds Wissen und ist auch als das erstere für Geschöpfe am zweckmäßigsten. Das Wissen bläht auf (wenn es Wahn ist), aber das Wissen bis zu den Grenzen desselben (Sokrates) macht demütig“ (Refl. 2446, AA XVI, 371 f ); Letzteres ist erst der „praktischen Bestimmung“ des Menschen angemessen. Wohlgemerkt: Nur dadurch, dass jenes „Fürwahrhalten des Vernunftglaubens“ „niemals Wissen wird“, erhält „endliche Vernunft“ sich selbst; denn nicht auf bloße „Zweckmäßigkeit“ (im Sinn von: der Moral „förderlich“) scheint jene Bemerkung über die der „praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessene Proportion seiner Erkenntnisvermögens“ abzuzielen bzw. sich damit zu begnügen; eher zielt Kants Argumentation darauf ab, dass der Mensch (als ein endliches, eben nicht heiliges Vernunftwesen) allein „unter moralischen Gesetzen“ – nicht „nach moralischen Gesetzen“ – „Endzweck der Schöpfung“ sei; darüber hinaus sei für ein solches „unter moralischen Gesetzen“ stehendes, von Neigungen, bloßen „Imperativen der Klugheit“ und Gefühlen der Furcht motiviertes Wesen die „Autonomie des Moralischen“ eben ausschließlich unter der Voraussetzung einer theoretischen Ungewißheit des Daseins Gottes gewährleistet. Denn: „Statt zu hoffen und zu glauben, würde er erkennen; nicht der Vernunft und also sich selbst würde er gehorchen, sondern den Anweisungen eines Tyrannen, dessen Wille unverständlich und willkürlich wäre“ (Weil 2002, 54). S. o. IV., Anm. 66.
150 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre eröffneten „praktisch-dogmatischen Überschritt“ das Fundament für eine entscheidende religionsphilosophische Begründungsfigur bereit stellt. Die auf die unauflösliche Einheit der „Einschränkung theoretischer Vernunft“ und der „praktischen Erweiterung derselben“ abzielende kantische Perspektive, die durch diese Einheit erst einen „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ ermöglichen und der dadurch ins „Gleichgewicht“ gebrachten Vernunft auf sicherem Boden einen „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ eröffnen soll, gewinnt in solcher Hinsicht noch besondere Bedeutung. Sie vermag auf der Basis jenes „moralischen Interesses“ zu einem grundsatz-orientierten „Entscheidungsgrund“ zu gelangen, der alles „Schwanken“ (IV 279 f ) des theoretischen Vernunftvermögens überwinden lässt. Dabei muss sie alles Kalkül über Möglichkeit oder Unmöglichkeit des „höchsten Gutes“ „nach allgemeinen Gesetzen“, also „nach einem bloßen Naturgange in der Welt“ (ebd.),259 schon aus der grundsätzlichen Erwägung abschneiden, dass dies dem moralischen Anspruch und dem Ernst jenes aus den Tiefen menschlicher Existenz (und ihrer Not-Wendigkeit) gespeisten „Ich will, dass ein Gott, dass mein Dasein … noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt sei“ nicht „gerecht“ werden könnte und auch von solchem „Interesse nichts nachlassen darf“ (IV 277 f ), ohne die „Selbsterhaltung der Vernunft“ aufs Spiel zu setzen. Schon hier wird einsichtig, dass und weshalb die von Kant hier (wohl nicht ganz unmissverständlich) bezüglich der Möglichkeit des „höchsten Gutes“ eingeräumte „Wahl“ keinesfalls eine „beliebige“ sein kann, sondern in der Tat einen besonders ausgewiesenen – moralischen – „Entscheidungsgrund“ anzeigt, der es auch allein rechtfertigen kann, dass die Postulate „einem apriori unbedingt geltenden praktischen Gesetz unzertrennlich“ (IV 253) anhängen sollen. Allein so ist es auch zu verstehen, dass, um „die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden [muss], unter dessen Vorsorge [!] dieses geschieht“ (IV 655, Anm.). Eine schiefe, d. h. die erforderliche Differenzierung und Vermittlung verschiedener Vernunftansprüche verkennende Gegenüberstellung von „Vernunft und Glaube“ soll nach Kant dadurch vermieden bzw. überwunden werden, dass die „Selbsterhaltung der Vernunft“260 – nicht: die „Erhaltung des Lebens“ (Nietzsche) – als das „Fundament des 259 Es wird sich noch zeigen: Die Vorstellung, dass der „genau angemessene und durchgängig zweckmäßige Zusammenhang“ von „Tugend und Glückseligkeit“ „nach einem bloßen Naturlaufe“ auch nur denkbar (und in diesem Sinne „angemessen“) sein könnte, erscheint als gänzlich unangemessen; die von Kant erwogene alternative „Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes“ ist nicht nur „der Moralität allein zuträglich“ (IV 280), sondern wohl auch den „praktischen Vernunftansprüchen“ allein erträglich, zumal allein dies der Idee einer „moralischen Welt“ genügt. 260 Kants Motiv der „Selbsterhaltung der Vernunft“ knüpft zwar zunächst an stoische Motive an – ihre Kennzeichnung als „Fundament des Vernunftglaubens“ löst sich indes zugleich von diesem stoischen Hintergrund, zumal dies gleichermaßen seine Kritik am stoischen Moralprinzip und am stoischen Begriff des „höchsten Gutes“ voraussetzt. Genauer besehen zeigt sich hier eine bemerkenswerte Stufung: Das autokratische „Herr sein über sich selbst“ ist die Grundlage für die moralisch begründete „Selberhaltung von ganz anderer Art“ (und das ihm erst entsprechende „eigentliche Selbst“); von dieser „Selbsterhaltung von ganz anderer Art“ bleibt indes jene „Selbsterhaltung der Vernunft“ – derjenigen eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ – noch unterschieden, die Kant als das „Fundament des Vernunftglaubens“ bestimmt hat und als solche auf jene „Selbsterhaltung“ abzielt, die ihre nähere Bestimmung gefunden
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Vernunftglaubens“ ausgewiesen wird.261 Sofern dieser „Vernunftglaube“ die der Vernunft „abgenötigten“ Voraussetzungen dessen expliziert, was moralisch begründeter „Gegenstand“ der Hoffnung ist, mag dessen Charakterisierung als „Hoffnungsglaube“ als durchaus zutreffend erscheinen (s. u. IV., 3.1.1.). Wohlgemerkt: Es ist die vernunft-begründete Nötigung des „Urteilen-Müssens“262, die auf diese der Vernunft „abgenötigte Voraussetzung“ des „Daseins Gottes“ führt. Ein solcher Rekurs auf das Postulat des „Daseins Gottes“ als einer „abgenötigten Voraussetzung“, die eben nicht „für freie Einsicht“ ausgegeben werden darf, indiziert gleichermaßen einen bedeutsamen Aspekt einer „Selbstbegrenzung der Vernunft“; denn auch wenn die „praktische reine Vernunft“ dazu nötigt, einen entsprechenden Gottesbegriff „zu machen“ (III 391 Anm.), wodurch der andernfalls noch „unbestimmte“ Gottesbegriff der „theoretischen Vernunft“ erst „bestimmbar wird“ (d. h. in diesem Sinne „objektive Realität“ gewinnt), so bleibt die der „Vernunft abgenötigte“ Voraussetzung des „Daseins Gottes“ als „Postulat“ davon noch einmal zu unterscheiden – gleichsam als die durch Ansprüche der praktischen Vernunft vermittelte und bestimmte „absolute Position“ („objektive Realität“ in diesem Sinne!). Der Idee der „moralischen Teleologie“ gemäß führt die Moral auf die Hoffnung, die wiederum nur durch die der Vernunft „abgenötigten“ „Postulate“ als notwendige „Voraussetzungen der Vernunft“ „begründet“ ausgewiesen werden kann. Der Vernunft „abgenötigt“ sind diese „Voraussetzungen“, weil in diesem „Satz“: „Es ist ein Gott“ die Vernunft sich gleichsam „außer sich setzt“ und solche „Nötigung“ nach Kant erst in dem im „Urteilen-Müssen“ der praktischen Vernunft verankerten „Ich will, dass ein Gott sei“ ihre – buchstäblich not-wendige – Legitimation finden soll (s. dazu u. IV., 3.2.). Indes, dies ist lediglich die eine Seite. Denn für diese – der Vernunft „abgenötigte“ – Voraus-Setzung des „Daseins Gottes“ erweist sich ebenso der Rückgriff auf jenen das „kritische Geschäft der Vernunft“ vollendenden „ziemlich subtilen“ „Unterschied der Denkungsart“ zwischen „suppositio relativa“ und „suppositio absoluta“ (II 587) als unhat in jener auf die „ganze Bestimmung des Menschen“ abzielende Idee der „Glückseligkeit“ (IV 255). – Bemerkenswerterweise ist jene frühe Bestimmung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ (Refl. 2446, 371 f, datiert für den Zeitraum 1764–1768) auch noch beim späten Kant ausdrücklich wiederzufinden, so wenn er bezüglich des „höchsten Gutes“ betont: „Diese praktisch notwendige Voraussetzung eines Objekts ist die der Möglichkeit des höchsten Guts als Objekts der Willkür, mithin auch der Bedingung dieser Möglichkeit (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit). Dieses ist eine subjektive Notwendigkeit, die Realität des Objekts um der notwendigen Willensbestimmung halber anzunehmen. Dies ist der casus extraordinarius, ohne welchen die praktische Vernunft sich nicht in Ansehung ihres notwendigen Zwecks erhalten kann, und es kommt ihr hier favor necessitatis zu statten in ihrem eigenen Urteil“ (III 497 f Anm.). 261 Bis zum Aufweis des Anspruchs und der kritischen Begrenzung des Geltungsanspruchs dieses „Hoffnungsglaubens“ (s. u. IV., 3.1.1.) reicht demnach solche transzendentalphilosophisch begründete „Kritik“. 262 Mit diesem „Urteilen-Müssen“ schließt Kant offenbar an Jacobis Hinweis an, demzufolge „die Vernunft den Menschen“ hat, während das „relative Urteilen-Wollen“ in einem bedingten, der theoretischen Vernunft verdankten (obgleich nicht willkürlichen) Urteilen-Wollen verankert ist. Dieses im unbedingten Vernunftbedürfnis“ verankerte „Urteilen-Müssen“ verweist schon auf die Lehre vom Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ als „Faktum der Vernunft“ – „das einzige Faktum der reinen Vernunft …, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend … ankündigt“ (IV 141 f ), sofern sie sich darin (bzw. in dieser innegewordenen „Nötigung“) selbst als einen unbedingten Anspruch „vernehmend“ erfährt und sich derart in solchem „Faktum“ zugleich in eigentümlicher Weise „entzogen“ bleibt.
152 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre umgänglich: Ist es doch der darin vom „Gegenstand in der Idee“ abgegrenzte „Gegenstand schlechthin“, der als diese „der Vernunft abgenötigte Voraussetzung“ gleichsam wiederkehrt, sofern er innerhalb dieser Begründungsfigur für die Legitimation dieser „abgenötigten Voraussetzung“ unverzichtbar bleibt. Er sichert „ex negativo“ jene „absolute Position“, die nunmehr als diese „der Vernunft abgenötigte Voraussetzung“ thematisch wird. Derart wird die durch jene „ziemlich subtile Unterscheidung“ zwischen „Gegenstand in der Idee“ und „Gegenstand schlechthin“ erreichte „Vollendung des kritischen Geschäfts“ in der Postulatenlehre gewissermaßen in umgekehrtem Richtungssinn also insofern bedeutsam, als dieser darin (im Sinne einer „suppositio absoluta“) unterschiedene „Gegenstand schlechthin“ als eine vernunft-immanent nicht einholbare, sondern lediglich als eine der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“ ins Blickfeld rückt – d. h. eben als eine solche, die ohne Rückfall in „dogmatischen Trotz“ nunmehr in postulatorischer Brechung „behauptet“ wird.263 Dies markiert einerseits eine entscheidende grundsätzliche Wendung gegenüber den Ansprüchen der traditionellen „philosophischen Theologie“, andererseits erweist sich dies auch als höchst bedeutsam für die nachkantische Entwicklung der Religionsphilosophie – nicht zuletzt mit Blick auf den vom späten Schelling ausdrücklich erhobenen Anspruch einer kritischen Weiterführung kantischer Motive. Jenes schon früh geäußerte, gleichwohl noch in Kants Ethikotheologie maßgebende Motiv der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ lässt sich, einer solchen Perspektive zufolge, offensichtlich von Reflexionen aus einem „negativitäts“-sensiblen Leben inspirieren und ebenso irritieren,264 welches – trotz des Bewusstseins jenes drohenden Auseinanderfallens von „subjektiver“ und „objektiver Realität des Endzwecks“ (V 580 f ) – an der moralischen Gewissheit jener wahrgenommenen Stimme „es müsse anders zugehen“ dennoch unbeirrt festhält. Hier bestätigt sich überdies jener unauflösliche – obgleich abgestufte – Zusammenhang dieser unterschiedlichen Endzweck-Bestimmungen noch einmal besonders deutlich: Ist es fürs Erste das dem moralischen Gesetz unterstehende „vernünftige Weltwesen“, das, als existierender 263 Derart wird nicht nur erneut jene Zweideutigkeit der kantischen Bestimmung der „objektiven Realität“ sichtbar, sondern auch der unauflösliche Zusammenhang beider Aspekte. Dies bedeutet näherhin im Sinne der notwendigen Unterscheidung der zu vermittelnden Einheit dieser beiden Aspekte der „objektiven Realität“: Dass Gott „Gegenstand der [Vernunft-]Religion wird“ (IV 263 Anm.) setzt einerseits die moralisch verankerte „Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht“ (IV 628), voraus, wodurch die grenzbegriffliche Idee des „höchsten metaphysischen Gutes“ erst „bestimmbar“ wird; zugleich bleibt dies auf jenen komplementären Aspekt dieser „der Vernunft abgenötigten VorausSetzung“ („objektive Realität“ im Sinne des „Daseins Gottes“) verwiesen. Auch die (der „Kritik der Urteilskraft“ zeitlich nahe) Refl. 6317 (AA XVIII, 626) bringt diese Stufung und Einheit deutlich zum Ausdruck: „Also muss ich mir einen [„ethikotheologisch“ bestimmten] Gott denken und [!] ihn annehmen, aber ich kann sein Dasein nicht beweisen und ihn nicht begreifen.“ „Ethikotheologie“ und „Reli gion“ sind derart aufeinander bezogen. 264 Kants Satz: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ (Menzer 1924, 66), fügt sich durchaus noch in diesen späteren Kontext des von ihm sogenannten „moralischen Beweises“ und erlaubt sogar in solchem Ausgang, wie sich zeigen soll, noch eine besondere Akzentuierung. Dieses „Gott will die Glückseligkeit …“, expliziert nun freilich in denkwürdiger Weise die These: „Gott will, nach seinem allgemeinen Willen, das Glück der ganzen Welt“ (AA XXVIII, 335; vgl. AA XXVII, 285 f; AA XXVII, 1435) – ein Satz, der alle Aspekte bzw. Momente des „Endzwecks der Schöpfung“ in sich vereint.
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„Endzweck der Schöpfung“, der sein eigenes Dasein relativierenden Frage, „wozu e(s) hat existieren müssen“, enthoben ist, so bedeutet dies, dass es den solcherart begründeten Endzweck-Status moralisch zu bewähren hat und dadurch auch schon den „praktischen Endzweck“ praktisch „befördert“ – wie denn sonst? Letzterer ist freilich nur unter der Voraus-Setzung eines „Endzwecks der Schöpfung“ (als dem „Endzweck aller Dinge“) begründetermaßen zu behaupten und führt so das unabweisliche „praktische Vernunftbedürfnis“ auf die Idee eines „weisen Welturhebers“ als des „vollkommensten Wesens“, der allein als „ratio sufficiens“ dieses „Zusammenstimmens“ gelten darf. Schon aus diesen Überlegungen sollte deutlich geworden sein, dass in der kantischen Bezugnahme auf den „Grundsatz der Vernunft: ihre Selbsterhaltung“ (bzw. auf die „Selbsterhaltung der Vernunft“) der Aspekt ihrer Entfaltung und „Vollendung“ stets mitzuhören ist; allein dies macht den Ausblick auf die „wesentlichen Zwecke“ und zuletzt auf den „höchsten Zweck der Vernunft“ verständlich und demonstriert so den engen Zusammenhang mit der Kennzeichnung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“, worin Kants systematisch-teleologische Vernunftkonzeption unübersehbar bestimmend ist.
3.1. Die auf die moralisch „konsequente Denkungsart“ abzielende Bestimmung von „fides“ als „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ Schon die durch jenen „Glauben an die Tugend“ qualifizierte „moralische Denkungsart“ – eine Variante des Fichte’schen „ich kann, denn ich soll“ – selbst sah Kant durch ein elementares „Vertrauen“ und Zuversicht ausgezeichnet. Die solchem Vertrauen265 innewohnende „Verheißung“ erweist sich freilich von der Art, dass sie – und dies markiert den wesentlichen Unterschied zur „moralisch konsequenten Denkungsart“! – in diesem Falle allerdings tatsächlich schon „in demselben enthalten“ ist; sie ist also nicht eine solche, die erst „ich hineinlege [obzwar] aus moralisch hinreichendem Grunde“ (V 603 Anm).266 Das zunächst diesen „Glauben an die Tugend“ als eigentümliche „Vergewisse265 Diesem „Glauben an die Tugend“ liegt ein „Vertrauen“ als eine selbst nicht mehr begründbare „Gewiss heit“ zugrunde, die sich zwar aus jener „Daseinsgewissheit“ „dass ich bin“ speist und in seinem spezifisch „moralischen Interesse“ damit doch nicht einfachhin identisch ist; dieses hat in der Bestimmung des „Glaubens“ als „fides“ eine unverkennbare Entsprechung. Schon hier sei auf eine mehrfache Bedeutung dieses „moralischen Glaubens“ hingewiesen: Vom „moralischen Glauben“ im Sinne des „Glaubens an die Tugend“ bleibt der „moralische Glaube“ im Sinne des „Vernunftglaubens“ zu unterscheiden, über den der auf die Ergänzung unseres „moralischen Unvermögens“ abzielende „moralische Glaube“ noch hinausweist (s. u. V., 3.3.). In diesem Sinne wäre auch die Kennzeichnung von „fides“ als „Vertrauen auf die [von uns „hineingelegte“] Verheißung des moralischen Gesetzes“ zu differenzieren. 266 Diese Charakterisierung von „fides“ klingt auch noch, zwar ein wenig verschlüsselt, in folgendem Hinweis an: „Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes … kann nun der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden; d. i. der, welcher sich einer solchen moralischen Gesinnung bewusst ist, dass er glauben und auf sich [d. h. wohl: auf die „moralische Gesinnung“] gegründetes Vertrauen setzen kann, er würde unter ähnlichen Versuchungen und Leiden (so wie sie zum Probierstein jener Idee gemacht werden) dem Urbilde der Menschheit unwandelbar anhängig, und seinem Beispiel in treuer Nachfolge ähnlich bleiben“ (IV 714). Dann ist es freilich lediglich eine Forderung der gebotenen
154 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre rung“ beseelende „Vertrauen“ impliziert für diese vorausgesetzen „zukommenden“ Möglichkeiten eine grundlegende „Affinität“ von „Natur und Freiheit“, weil andernfalls auch ein gebotenes vernünftig-moralisches Handeln (im Sinne der Frage „Was soll ich tun?“) gemäß der „objektiven Realität“ der „Prinzipien der reinen Vernunft“ (II 679) unmöglich wäre. Solche Affinität ist Kant zufolge in allem notwendig zweckbezogenen Handeln „immer schon“ vorausgesetzt,267 insofern sich dieses vernünftige Weltwesen am Erfolg („Wirkung“, „Effect“) desselben orientiert, d. h. die moralische Motivation stets von der impliziten – „ursprünglichen“ – Zuversicht geleitet ist, dass das moralisch Gesollte auf der Ebene der handelnden Realisierung auch tatsächlich „erfolgt“ gemäß dem, „was dasein soll“. Freilich, der allen Ansprüchen des „Praktischen“ überhaupt immanente, weil gleichsam handlungssinn-konstituierende Zukunfts-Bezug bliebe derart, d. h. im Sinne des spezifischen Anspruchs der „moralischen Freiheit“, nicht nur zu konkretisieren, sondern weist über eine solche „handlungstheoretisch“ relevante Perspektive (und die darin bestimmenden pragmatisch-zweckrationalen Aspekte) grundsätzlich hinaus. Zunächst ist also, von dieser bloß pragmatisch-erfolgsorientierten Ebene unterschieden, die der „moralischen Denkungsart“ innewohnende „Verheißung des moralischen Gesetzes“ in ihrem nunmehr erst praktisch-moralischen „Hoffnungs-Sinn“ auszuweisen: Denn auch der schon in jenem „moralischen Sollen“ sich realisierende „Glaube an die Tugend“268 lässt so eine „praktische Zweckmäßigkeit“ im hoffenden „Aussein“ auf das „moralisch Gesollte“ und das daraus „Erfolgte“ (den „Effekt“, wie Kant gelegentlich sagt) erkennen. Solche Antizipation des in diesem Sinne verstandenen „Erfolgs“ erweist sich in dieser Hinsicht tatsächlich als ein konstitutives Moment des „Glaubens an die Tugend, als „Aufrichtigkeit“, dass dem hohen Anspruch des so bestimmten „praktischen Glaubens an diesen Sohn Gottes“ (als „auf eine moralische Vernunftidee bezogen“: IV 782) sogleich die notwendige Selbstbescheidung des „Herr, ich glaube, hilf’ meinem Unglauben“ folgt … 267 In wohl ähnlichem Sinne betont O’Neill, „dass, sofern wir überhaupt handeln, wir zumindest eine minimale Festlegung – eine minimale [und so durchaus auch noch moral-neutrale] Hoffnung auf eine Zukunft – unterstellen, in der irgendein Handeln stattfinden und Ergebnisse hervorbringen kann. Dass wir in uns so etwas wie ein Vertrauen vorfinden in eine Zukunft, die für das Handeln, in einiger Hinsicht, offen ist, ist nicht nur für das moralische Leben konstitutiv, sondern für das handelnde Leben insgesamt und somit, Kants Auffassung zufolge, auch für das Denken“ (O’Neill 2003, 103). Vielleicht wäre jedoch gerade im Sinne Kants diese zukunftsbezogene (praxis-leitende) „Erwartung“ von der im engeren Sinne so zu nennenden (praxis-transzendierenden) „Hoffnung“ zu unterscheiden; Fichtes „Glaube an die moralische Weltordnung“ speist sich bekanntlich aus ähnlichen Motiven. Vgl. dazu auch Henrich 2000a, bes. 26 ff. 268 So nennt Kant schon früh einen „Gläubigen“ denjenigen, „der gern glaubt, was zum moralischen Interesse beiträgt, e.g. Glaube an die Tugend“ (Refl. 2782, AA XVI, 508). Von diesem „Glauben an die Tugend“ sowie vom „Vernunftglauben“ im engeren Sinne unterschied der späte Kant indes ausdrücklich jenen „moralischen Glauben“, „dass Gott den Mangel unserer eigenen Gerechtigkeit, wenn nur unsere Gesinnung echt war, … ergänzen werde“ (VI 219, Anm. vgl. u. V., Anm. 224). Genauer besehen zeigt sich, dass sowohl die Bestimmung des „Glaubens an die Tugend“ als auch diejenige des „moralischen Glaubens“ (im Sinne der „fides“) durchaus unterschiedliche Nuancen enthält (vgl. dazu u. V., 3.3.). Der „Glaube an die Tugend“ bezieht sich bei Kant sowohl auf die unbedingte Anerkennung des Anspruchs des moralischen Gesetzes als auch auf die Zuversicht hinsichtlich der möglichen moralischen Besserung, ebenso aber auch auf die in der Anerkennung des moralischen Anspruchs schon implizierte Voraussetzung der Realisierbarkeit des moralisch „Gesollten“ im Sinne einer „moralischen Gewissheit“. Zu Kants Bestimmung des „praktischen Glaubens“ s. die erhellenden Analysen von Lütterfelds (2006), die allerdings auch einige Unausgeglichenheiten und Widersprüche in Kants Argumentation sichtbar machen.
3. Selbsterhaltung der Vernunft – Fundament des Vernunftglaubens
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das Prinzip in uns“ (III 632); darin manifestiert sich ein „Sinn des Unbedingten“, der dem „moralischen Vernunftglauben“ im engeren Sinne noch vorausgesetzt ist. Bleibt zwar die „durch die Tat“ erwiesene „praktische Erweiterung“ der reinen Vernunft von der im Sinne der „moralisch konsequenten Denkungsart“ verstandenen „Erweiterung der Vernunft“ genau zu unterscheiden, so sind der „moralische Glaube“, „sich seiner Freiheit gesetzmäßig“ zu bedienen, und die darüber hinausgehende Zuversicht, sich dadurch „seiner auch zweckmäßig zum Weltbesten zu bedienen“ (III 283), dennoch vereint. Nur um den Preis eines drohenden „Widerspruchs der Vernunft mit sich selbst“, durch den freilich die Vernunft an sich selbst irrewerden müsste, sind beide voneinander zu trennen; mit Blick auf den „ganzen Gegenstand“ müsste dies eine moralisch „konsequente Denkungsart“ im Sinne jenes „jederzeit mit sich selbst einstimmig Denkens“ (vgl. V 390) geradewegs vereiteln. Schon die gebotene praktische Orientierung an der Idee des „Weltbesten an uns und an andern“ (II 687) impliziert einer derart maßgebenden „Logik der Hoffnung“ zufolge ebenso die Zuversicht, dass die darin gebotene Beförderung der „allgemeinen Glückseligkeit“ als dem „allgemeinen höchsten Zwecke“ (V 572) auch realiter möglich ist. Dass in jenem praktisch-moralischen „Glauben an die Tugend“ die Realisierbarkeit des moralisch Gebotenen (worin „Freiheit ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat erweist“) vorausgesetzt, d. h. „praktisch“ affirmiert ist (vgl. V 247 f ), bleibt, im Blick auf die Idee der „moralischen Welt“ sowie auf das „Ganze“ der „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811) und auf die darin artikulierten Vernunftansprüche, von der „moralisch konsequenten Denkungsart“ (und der hierfür konstitutiven „fides“) noch einmal abzugrenzen. Letztere sei als „die moralische Denkungsart der Vernunft“ „ein Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes; aber nicht als eine solche, die in demselben enthalten ist, sondern die ich hineinlege, und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde“ (V 603, Anm.)269, der in der moralisch-„subjektiven“ Gewissheit bzw. Überzeugung verwurzelt ist. Diese Kennzeichnung der „fides“ (in der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“) ist vor allem deshalb von besonderem Interesse, weil sie in eigentümlicher Weise ein „Vertrauen“ mit einer (in dem „Hineinlegen“ aus „moralisch hinreichendem Grunde“ zum Ausdruck gebrachten) darin begründeten „Selbstverpflichtung“270 verknüpft; die derart implizierte „Bezeugung“ ist selbst von je-
269 Diese unverkennbar behutsame Formulierung legt es nahe, dass Kant sich der diesbezüglich drohenden „Subreption“ offenbar durchaus bewusst war, die ungeachtet des angezeigten Umwegs auch über dieses nachgeschobene „und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde“ noch nicht bewältigt ist. Diese Schwierigkeit wollte er später vermutlich durch den Rekurs auf die selbst moralisch gestützte, obgleich über praktische Vernunftansprüche im engeren Sinne hinausweisende Vernunftidee des „Ganzen aller Zwecke“ überwinden, um auch die „eigene Glückseligkeit“ als darin „mitenthalten“ begreifen zu können. 270 Es ist die am Anspruch des moralischen Gesetzes orientierte „Selbstverpflichtung“, die solches Vertrauen impliziert, und damit der Wittgenstein’schen Kennzeichnung der „pistis“ vielleicht gar nicht so fern steht (s. dazu Theunissen 2004, 109 f ). Es wird sich noch zeigen, dass auch der kantischen Kennzeichnung der „fides“ ein Verpflichtungs-Moment innewohnt; es ist durchaus ein kantisches Motiv, das Theunissen geltend macht: „Mit dem Glauben an das Dasein Gottes oder an ein letztes Gericht verpflichten wir uns auf ein Leben, das sich dem göttlichen Blick und Urteil aussetzt“ (ebd. 109). Gleichwohl liegt in jenem Vertrauen in die „Verheißung des moralischen Gesetzes“ noch etwas, das die moralische Verpflichtung selbst überfordert und so ein „überschießendes“ Sinn-Motiv indiziert; mit jener „Selbstverpflichtung“ ist
156 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre ner im „praktischen Glauben“ verankerten „Überzeugung“ des vorausgesetzten „Daseins Gottes“ unterschieden und gleichermaßen – d. i. eben in der „Vernunft, Herz und Gewissen“ umgreifenden „Existenz“ – damit verbunden.271 Derart bringt sich die Zuversicht und gewissermaßen die „Bürgschaft“ dafür zur Geltung, dass sich im Blick auf das „gelingende Ganze des Daseins“ der Bezug auf die „Verheißung des moralischen Gesetzes“ auch als Hoffnung bewährt und eben als solche sich endgültig – gemäß jener Idee einer „moralischen Welt“ – bewahrheiten wird. Freilich, solche „Verheißung“ liegt nach Kant nunmehr jedoch nicht im „moralischen Gesetz“ selbst, sondern wird – und zwar aus moralischen Gründen! – von „endlichen Vernunftwesen“ „in es hineingelegt“;272 das auf diese „Verheißung des moralischen Gesetzes“ gerichtete „Vertrauen“ geht – einer analogen teleologischen Begründungsfigur gemäß – darauf, dass dem „subjektiven Endzweck“ des rechtschaffenen Menschen gewissermaßen ein „Endzweck der Schöpfung“ entspricht. Dieses in Kants „fides“-Bestimmung nunmehr bestimmende „performative“ „Hineinlegen“ zielt also darauf ab, dass der selbst moralisch begründete „subjektive Endzweck“ eine seinem moralischen Anspruch adäquate Entsprechung in einem „Endzweck der Schöpfung“ findet, wobei auch diese „Entsprechungs“-Perspektive selbst durchaus eine „moralische“ ist, die deshalb ohne Selbstwiderspruch der Vernunft nicht negiert werden darf (s. u. IV., 3.1.3.). eine „Sollens-Dimension“ angezeigt, die von dem „moralischen Sollen“ im interpersonalen Raum noch unterschieden (wenngleich davon nicht abzutrennen) ist. 271 Es ist gewiss bemerkenswert, dass Kant in ethikotheologischem Kontext die besondere „Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben“ (§ 91 der „Kritik der Urteilskraft“) als ein besonderes „Zutrauen“ ausweist, d. h. in Anlehnung an die christliche „fides“-Bestimmung und ihn so als den ganzen ExistenzVollzug „durchwirkend“ bzw. umgreifend charakterisiert. Indes wird für dieses „vernünftige Weltwesen“ ein in den „Winken“ der ästhetischen Naturerfahrung enthaltenes „Glücksversprechen“ (das darin erfahrene „Entgegenkommen“ der Natur und die erfahrbare „Zweckmäßigkeit“ ohne Zweck“) und der damit verbundene affirmative „ruhige heitere Genuss seines Daseins“ sowie das daraus gespeiste „Bedürfnis, irgend jemand dafür dankbar zu sein“ (V 570), zum „Vorschein“ jener auf das „Ganze seiner Existenz“ gerichteten „Glückseligkeit“. Daraus ist sodann auch das „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ gespeist, „die ich [!] hineinlege, und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde“ (V 603), sofern dies auf unser „durchs moralische Gesetz“ bestimmte „eigne(s) Subjekt“ (IV 233) verweist. Es ist wohl jener „Vorschein“, der die in diesem „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ sich manifestierende Sinn-Antizipation inspiriert. Die in jener ästhetischen Erfahrung grundlegende „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ und die Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ (als eines „Sinns aus sich selber“), „dass eine Welt sein soll“, indizieren in gewisser Hinsicht eine analoge Struktur, die wohl auch noch in Kants Bestimmung des „Schönen“ als „Symbol des Sittlichen“ zum Ausdruck kommt. 272 Solche „Verheißung“ kann eben auf nichts anderes abzielen als darauf, „der Glückseligkeit wirklich teilhaftig zu werden, wenn man sich ihrer würdig gemacht hat“ (AA XVIII, 318); auch hier wird deutlich, dass eine unaufhebbare Sinn-Differenz zwischen der „Nicht-Unwürdigkeit“ und einer „Gerechtigkeits-Forderung“ bestehen bleibt. Diese gesollte Perspektive auf das „erhoffte Ganze“ einer „moralischen Lebensgeschichte“ klingt auch in Kants pädagogischer Forderung an: „Auf die Notwendigkeit endlich der Abrechnung mit sich selbst an jedem Tage, damit man am Ende des Lebens einen Überschlag machen könne, in betreff des Werts seines Lebens“ (VI 761). Sie verleiht der von Cicero übernommenen Überzeugung „Unsre Bestimmung ist ernsthaft; unsre Geschäfte sind groß und wichtig“ (s. o. IV., Anm. 93) noch einen besonderen Akzent und knüpft in solcher geschichtlichen Vermittlung durchaus an die Überzeugung des Aristoteles an: „Die Glückseligkeit besteht mithin nicht in den Vergnügungen, nicht in Spiel und Scherz. Es wäre ja ungereimt, wenn unsere Endbestimmung Spiel und Scherz wäre, und wenn die Mühe und das Leid eines ganzen Lebens das bloße Spiel zum Ziele hätten“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, X. Buch, 1176b, 25ff ).
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Mit Blick auf die von Kant – ungeachtet der unverzichtbaren Idee des „transzendentalen Ideals“ – im „theoretischen Vernunftgebrauch“ als unentscheidbar ausgewiesene Frage des Daseins Gottes bleibt daran zu erinnern, dass seine Begründung für eine mögliche „Vergewisserung“ des ersten „Kardinalsatzes: Es ist ein Gott …“ eine bemerkenswerte Differenzierung erkennen lässt. Dass die Gottesfrage nicht als ein theoretisch-logisches Wahrscheinlichkeitskalkül (als „logische Gewissheit“) gelten darf, sondern die Einnahme des moralischen „Standpunkts der Freiheit“ voraussetzt und somit allein im Sinne der moralischen Gewissheit des „Ich bin moralisch gewiss“ sowie des sie belebenden „Interesses“ angemessen thematisiert werden kann, dies läuft ihm zufolge jedoch keineswegs etwa auf einen herabgestuften Verbindlichkeitsanspruch hinaus: „Nein, die Überzeugung ist nicht logische, sondern moralische Gewißheit, und, da sie auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muss ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiss, dass ein Gott sei etc., sondern, ich bin moralisch gewiss etc. Das heißt: der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, dass, so wenig ich Gefahr laufe, die letztere einzubüßen, ebenso wenig besorge ich, dass mir der erste [273] jemals entrissen werden könne“ (II 693 f ). Das unaufhebbare Manko des nur „subjektiv“, aber „objektiv unzureichenden“ „Glaubens“ (im „theoretischen Fürwahrhalten“) ist folglich dadurch kompensiert, dass die „subjektiv“ bestimmende praktische „Überzeugung“ und das darin bestimmende „Interesse“ ein in der Unbedingtheit des moralischen Anspruches verankertes „praktisches Überzeugtsein“ und ein darauf gestütztes postulatorisches „Wollen“ darstellt, das freilich jenes „objektiv Unzureichende“ des Fürwahrhaltens (als eines [psycho]logischen „Überzeugtseins“) damit nicht behebt und auch selbst „nie zum Wissen sich erheben kann“. Gleichwohl sei aufgrund der moralischen Verankerung dieses „Ich bin gewiss“ diese „Überzeugung oder dieser moralische Vernunftglaube … oft fester als alles Wissen. Beim Wissen hört man noch auf Gegengründe, aber beim Glauben nicht; weil es hierbei nicht auf objektive Gründe, sondern auf das moralische Interesse des Subjekts ankommt“ (III 501 f ).274 Indes, als „irrational“ oder „dezisionistisch“ ist solche „Festigkeit“ nach Kant schon deshalb nicht abzutun, weil ein „vernünftiges Weltwesen“ von diesem – keineswegs selbst-fixierten – „moralischen Interesse“ nichts nachlassen darf (vgl. IV 278) und diese sich insofern von aller bloßen „Überredung“ (bzw. dem „Meinen“) unterscheidet. 273 In der Weischedel-Ausgabe steht hier irrtümlich statt „erste“ „zweite“. Jenes gegenüber der „logischen Überzeugung“ des „Es ist moralisch gewiß“ von Kant schon in der „transzendentalen Methodenlehre“ der „ersten Kritik“ geltend gemachte „Ich bin moralisch gewiß etc.“ kann freilich erst innerhalb der neuen „Freiheitslehre“ eine feste Verankerung finden. Gleichwohl bleibt die von Kant so bezeichnete „moralisch konsequente Denkungsart“ als solche gegenüber jenem „Ich bin moralisch gewiss“ noch in einer gewissen „reflexive Distanz“. 274 Dass in diesen Sätzen aus Kants „Logik“ noch eine indirekte Anknüpfung an Jacobis berühmte (an Mendelssohn gerichtete) Sätze über die „unmittelbare Gewissheit“ nachklingt, ist hier nur zu vermuten: „Lieber Mendelssohn, wir alle werden im Glauben geboren und müssen im Glauben bleiben … Dieses führt zu dem Begriffe einer unmittelbaren Gewissheit, welche nicht allein keiner Gründe bedarf, sondern schlechterdings alle Gründe ausschließt … Wenn nun jedes für Wahr halten, welches nicht aus Vernunftgründen entspringt, Glaube ist, so muss die Überzeugung aus Vernunftgründen selbst aus dem Glauben kommen und ihre Kraft von ihm allein empfangen“ (Jacobi 2000, 113).
158 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Es hat sich schon erwiesen, dass der spezifische Hoffnungs-„Logos“ sich jedenfalls weder in jener „natürlichen Erwartung“ erschöpft noch in einer im Sinne einer „Aussicht in die Zukunft“ verstandenen „Vorempfindung, d. i. Ahndung (praesensio) [als „gleichsam einem verborgenen Sinn für das …, was noch nicht gegenwärtig ist“] oder Vorhererwartung (praesagitio)“ (als „ein durch Reflexion über das Gesetz der Folge der Begebenheiten nach einander … erzeugtes Bewusstsein des Künftigen“) (VI 492). Die demgegenüber erforderliche Vertiefung hat in der angezeigten Verankerung jenes „Hoffnungsglaubens“ eine genaue Entsprechung gefunden. So wie im Falle des in praktischen Vernunftansprüchen verankerten (mithin „ent-psychologisierten“) „Hoffnungslogos“ ist mit jenem kantischen Rekurs auf das „moralische Interesse des Subjekts“ (als einer gleichsam „unwankenden Grundlage“) gleichermaßen eine bloß psychologische Version des „Glaubens“ (als eines zwar „subjektiv zureichend“, aber „objektiv unzureichend“ begründeten „Fürwahrhaltens“: III 496) bzw. einer darauf beruhenden „Überzeugung“ überwunden. Der darin begründete besondere Geltungsanspruch wird noch zu verfolgen sein. Demgegenüber bringt sich darin – ineins mit jenem Hinweis auf die „der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessene Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (IV 281) – die dieser moralischen Gewissheit innewohnende Sinnintention zur Geltung, die bezeichnenderweise auch in Kants Bestimmung der „fides“ einen denkwürdigen Ausdruck findet und sich infolgedessen von allen überschwänglichen „Ahnungen“ und bloßen „Erwartungshorizonten“ distanzieren muss. Ihrer Verwurzelung in der „reinen praktischen Vernunft“ verdankt Hoffnung ihren Status bzw. ihren besonderen moralisch qualifizierten Anspruch, während dem bloß „Praktischen“ als dem, „was durch Freiheit möglich ist“ (II 673), die – sei es auch „wohlgemeinte“ – „Erwartung“ entspricht. Die in diesem Sinne verstandene „Hoffnung“ sprengt eine prinzipiell verifizierbare „Erwartungs“- und „Erfüllungs“-Relation; dem entspricht sodann auch die daran orientierte Bestimmung von „fides“. Freilich, dem kritischen Status der Postulatenlehre und der in ihr maßgebenden „Hoffnung“ bzw. ihrem „Hoffnungsglauben“ entspricht es allein, dass schon diesbezüglich der hoffende und glaubende Mensch zufolge einem „Machtspruch der moralisch-gläubigen Vernunft“ „zur Geduld verwiesen“ ist (VI 113), eben dies jedoch auch allein der „Besonderheit“ des darin „Erhofften“ angemessen ist und insofern für ihn durchaus nicht bloß „unbefriedigend“ bleibt. Schon hier sei darauf hingewiesen: Dass auch bezüglich der postulierten Wirklichkeit des „höchsten Gutes“ der darauf Hoffende sich selbst „zur Geduld verwiesen“ sieht, gewinnt in einer theodizee-orientierten Lesart der Postulatenlehre noch eine besondere Bedeutung, die mit dem derart gewandelten Anspruch der Frage „Was darf ich hoffen?“ auch das darin Erhoffte sowie die Frage nach der hierfür der „Vernunft abgenötigten Voraussetzung“ als den letzten „terminus ad quem“ entscheidend modifiziert (s. dazu u. VI. Teil). Auf spätere Überlegungen vorausweisend sei schon hier angemerkt: So wenig Verzweiflung (de-speratio) auf eine Variante des Zweifels zurückzustufen ist,275 so wenig 275 Wenn, einem Wort Spaemanns zufolge, „absurd … Abwesenheit von Sinn dort“ meint, „wo wir ihn erwarten“ (Spaemann 1999, 777), so meint demgegenüber wohl „Verzweiflung“ (de-speratio) „Abwesenheit von Sinn“ dort, wo wir ihn erhoffen müssen, weil andernfalls unsere gebotene Orientierung an
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ist Hoffnung (spes) als besondere Version einer bloßen „Erwartung“ misszuverstehen. Dem kantischen Hinweis darauf, dass die Frage „Was darf ich hoffen?“ in ihrer spezifischen Intentionalität doch anderes meint als eine „Erwartung von Geheimnissen“ bzw. als bloße „Ahnung“ (als „dunkle Vorerwartung“: III 386), entspricht es auch recht genau, dass nach Kant einer bloßen „Hoffnung, als Affekt, durch die unerwartete Eröffnung der Aussicht in ein nicht auszumessendes Glück“ (VI 584), eine bloße „Sehnsucht“ als „der leere Wunsch, die Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können“ (VI 579), korrespondiert. Es soll sich zeigen: Von solchen „Krankheiten des Gemüts“ unterschied Kant ausdrücklich den „Logos“ der Hoffnung als eine in der Tiefenstruktur der praktischen Vernunft verwurzelte mit-gesetzte Sinndimension. Den im „Urteilen-Müssen“ des unbedingten „Vernunftbedürfnisses“ verankerten „Hoffnungsglauben“ sah er von einem bloß neigungs-bedingten „Bedürfnisglauben“276 abgegrenzt; denn dem in jenem „Hoffnungsglauben“ bestimmenden „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ zufolge ist hier nichts zu erwarten, vielmehr bleibt zuletzt alles zu erhoffen, wenn solche Zukunft doch allein als ein in dem „unbedingten Vernunftbedürfnis“ verwurzeltes „Hoffen für“ gegenwärtig ist – und ausschließlich dies wird jener dem umfassenden Endzweck der „reinen praktischen Vernunft“ angemessenen „fides spei“ gerecht.277 der „Idee des Weltbesten“ unmöglich und die „Verzweiflung der Vernunft an sich selbst“ die Folge wäre. – Auch im Kontext dieser kantischen Bestimmung des „Vernunftunglaubens“ ist Theunissens Hinweis bedeutsam: „Hoffen und Verzweifeln verweisen aufeinander. Der Gegensatz, den die Hoffnung, spes, in der Verzweiflung hat, ist nicht einfach Hoffnungslosigkeit, sondern sozusagen Ent-Hoffnung, de-speratio. Das lateinische Wort … bringt zum Ausdruck, dass wir die Hoffnung verlieren, alle Hoffnung fahren lassen. Wie so oft verdeutlicht auch hier erst der Verlust, was verlorengeht. Im Deutschen gibt das Ver- in ‚Verzweiflung‘ zu erkennen, dass diese gleichsam eine negative Totalisierung ist. Wer über etwas Bestimmtes verzweifelt, verzweifelt im Grunde über das Ganze“ (Theunissen 1999, 268). 276 Andernfalls wäre Kant zur Stützung eines solchen „Bedürfnisglaubens“, die Gott zum bloßen Erfüllungsgehilfen menschlicher Neigungen degradiert bzw. funktionalisiert (darauf zielte bekanntlich ein maßgeblicher Einwand Jacobis; vgl. dazu jedoch Kants Antwort an Jacobis Schüler Wizenmann), tatsächlich nicht über das Ansinnen hinausgekommen, „den Zusammenhang von Glaube und Bedürfnisnatur des endlichen Wesens selbst als vernünftig zu begreifen“ (Kodalle 1985, 405). In sachlicher Hinsicht muß deshalb – wenngleich philosophiehistorisch zweifellos zutreffend – die offenkundig zustimmend angeführte Bemerkung Kodalles als problematisch erscheinen: „Schon Zeitgenossen [Kants] wie Fr. H. Jacobi verweigerten mit großer Entschiedenheit diesem ,Bedürfnisglauben‘ ihre Zustimmung, entdeckten in Kants Glaubenspostulat die teleologische Struktur einer durchgängigen Zweckmäßigkeit alles Endlichen – doch die Physikotheologie hatte Kant in der ,Kritik der reinen Vernunft‘ als unzulänglich entlarvt“ (ebd.). 277 M. Albrecht hat insofern zu Recht auf den zu berücksichtigenden Sachverhalt hingewiesen, dass für Kant „die Tugend selber nie ein Besitz, sondern ein dauerndes kämpferisches Streben nach dem Urbild ist. Und daraus ergibt sich kein Verdienst und damit keine Forderung gegenüber einer göttlichen Gerechtigkeit, sondern eine Hoffnung.“ Deshalb ist in solcher Hinsicht auch der Hinweis berechtigt, „dass der Begriff der Gerechtigkeit … an keiner Stelle zur Definition des Begriffs des höchsten Gutes verwendet wird“ (Albrecht 1978, 83). – Es ist interessant, dass nur bezüglich dieses noch vorläufigen Aspekts des „höchsten Gutes“ (d. h. der „Strafwürdigkeit“) der „Gerechtigkeitsaspekt“ maßgebend ist, während dieser, wie sich zeigen soll, den Sinngehalt der Idee des „höchsten Gutes“ keinesfalls überlagern darf; die „positive“ Bestimmung des „höchsten Gutes“ enthält ein „überschießendes“ Moment, das durch „Gerechtigkeit“ nicht eingeholt wird. Jedenfalls insistierte Kant entschieden auf einer Gerechtigkeit, die von der Güte nicht einfach aufgehoben (aufgesogen) wird – ohne freilich zu vergessen, dass und wie eben dies gleichwohl noch einmal Rückfragen an den Schöpfer selbst unumgänglich macht – und zwar gemäß „den Prinzipien der praktischen Vernunft –, „nach welchen eine Weltschöpfung hätte unterbleiben
160 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Die Besonderheit dieses in einem „moralischen Interesse des Subjekts“ verankerten „Fürwahrhaltens“ liegt eben vornehmlich darin, dass solche Überzeugung eine existenzumfassende „Selbstverpflichtung“ und „Authentizität“ in sich birgt, die auch in Kants gelegentlichem Hinweis auf das „Wetten“ (und „Schwören“) zum Ausdruck kommt; dies impliziert ein existenziell verwurzeltes „Einstehen“ und „Verantworten“, das den „moralischen Vernunftglauben“ als „praktische Überzeugung“ (III 502) auszeichnet und auch deren „Bezeugung“ einschließt. Nach Kant wird solche „Selbstverpflichtung“ von daher für dieses „vernünftige Weltwesen“ so deutbar, als ob seine „moralische Lebensgeschichte“ auch vor diesem „lebendigen Gott“ (und „weisen Welturheber“) als „Herzenskündiger“ (und dessen „intellektueller Anschauung“: IV 253) verantwortbar sein müsse. Eben dies ist offensichtlich in der kantischen Bestimmung von „Gewissenhaftigkeit (welche auch religio genannt wird) als Verantwortlichkeit vor einem von uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen (der moralischgesetzgebenden Vernunft)“ (IV 575), angesprochen. Gemäß jener Unterscheidung der „Bezeugung“ von der Überzeugung des „Dass Gottes“ als einer der „Vernunft abgenö tigten Voraussetzung“ wäre nunmehr auch die Kennzeichnung des Postulats des „Daseins Gottes“ mit jener (schon angeführten) späteren Bestimmung in eigentümlicher Weise vereint: Ihr zufolge wäre auch das als „notwendige Annahme“ verstandene „Postulat des Daseins Gottes“ (als „theoretischer Satz“) ein jenem „ich will …“ korrespondierender „apriori gegebene(r), keiner Erklärung seiner Möglichkeit (mithin auch keines Beweises) fähiger, praktischer Imperativ. Man postuliert also nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein irgend eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjekts“ (III 411).278 Schon hier sei auch darauf hingewiesen, dass diese späte Kennzeichnung des Postulats als „Maxime der Handlung eines Subjekts“ in der früheren Bestimmung des „Vernunft unglaubens“ als der „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis“ (III 282) eine gewiss denkwürdige Entsprechung hat (s. u. IV., 3.1.3.). Es scheint sich jedoch auch zu bestätigen, dass beim späten Kant in religionsphilosophischem Kontext durchaus unterschiedliche Bestimmungen des „Postulates“ zutage treten und damit verbundene „Als-ob“-Perspektiven ineinander laufen, die von ihm jedoch offenbar nicht hinreichend unterschieden werden (und wohl auch nicht so ohne weiteres miteinander vereinbar sind). müssen, die ein, der Absicht ihres Urhebers, die nur Liebe zum Grunde haben kann, so widerstreitendes Produkt geliefert haben würde“ (IV 632). – Das „Gerechtigkeitsmotiv“ kehrt indes im Kontext der Frage nach dem „Leid des Gerechten“ im Kontext der „authentischen Theodizee“ erneut und freilich auch in gewandelter Form wieder (s. u. VI. Teil). 278 Indes sei nochmals darauf hingewiesen (vgl. o. III., Anm. 287), dass Kant damit offensichtlich die von ihm zunächst ausdrücklich betonte notwendige Unterscheidung zwischen der postulierten „Möglichkeit einer Handlung, deren Gegenstand man apriori theoretisch mit völliger Gewissheit als möglich voraus erkannt hat“ („Postulate der reinen Mathematik“) und der postulierten „Möglichkeit eines Gegenstandes (Gottes und der Unsterblichkeit der Seele)“ als „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ in gewisser Weise revidiert hat; es spricht freilich einiges dafür, dass dies mit der von Kant thematisierten „postulierten Möglichkeit des Gegenstandes“ und mit der auch noch vom späten Kant geltend gemachten Notwendigkeit der Vernunftideen nicht so ohne Weiteres vereinbar ist.
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Jene Begründung der in praktischen Vernunftansprüchen (und deren „Urteilen-Müssen“) verwurzelten „fides“ weist demnach auf die Idee einer „moralischen Teleologie“ zurück, dass das „Weltbeste an uns und an anderen“ zu befördern ist (II 687) und dies zuletzt – ungeachtet der in diesem gebotenen Hinwirken darauf stets widerfahrenden Irritationen durch den „moralischen Lauf der Dinge“ und der unaufhebbaren Ermangelung der Heiligkeit – auch ein „zu guter Letzt“ finden wird. Der ethikotheologisch gestützte Gottesglaube ist in diesem Sinne ja auch aus diesem „moralischen Lauf der Welt“, d. h. nicht aus demjenigen „der Natur“, gewonnen, worauf auch schon Kants (von Leibniz inspirierte) Notiz abzielt: „Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe ist der Endzweck, der … existieren soll“ (V 271).279 Daran lässt es sich die Sinn-Orientierung der „sich selbst erhaltenden“ Vernunft in besonderer Weise – und buchstäblich „not-wendig“ – gelegen sein, verbunden mit der nüchternen Absage an eine leere „Sehnsucht, uns außer unserem Kreise zu verlieren und andre Welten zu beziehen“.280 Demgegenüber bleibt einem an diesem „Endzweck“ orientierten „Vernunftglauben“ stets eine „theoretische Erkenntnis“ verwehrt, „denn da ist das objektiv unzureichende Fürwahrhalten bloß Meinung. Er ist bloß eine Voraussetzung der Vernunft in subjektiver, aber absolutnotwendiger praktischer Absicht. […] Fides ist eigentlich Treue im Pacto oder subjektives Zutrauen zu einander, dass einer dem andern sein Versprechen halten werde – Treue und Glauben [281]. Das erste, wenn das Pactum gemacht ist; das zweite, wenn man es schließen soll. – Nach der Analogie ist die praktische Vernunft gleichsam der Promittent, der Mensch der Promissarius, das erwartete Gute aus der Tat das Promissum“ (III 498, Anm.).282 Was aber wäre dann ein solches „Versprechen“ der „praktischen Vernunft“ ohne „Vorgriff“ auf den „ganzen Gegenstand“ derselben?
279 Noch (besser wohl: erst recht) in Kants später ethikotheologischer Explikation der „moralischen Teleologie“ bleibt freilich der Leibniz’sche Hintergrund erhalten (ja wird dort sogar noch deutlicher unter kritischen Vorzeichen entfaltet), den er in der ersten Kritik (hinsichtlich der Idee des „mundus optimus“) angesprochen hat und dabei auf ein Motiv Leibnizens rekurriert, das an die traditionelle Unterscheidung von „causa efficiens“ und „causa finalis“ anknüpft. 280 Refl. 5073: AA XVIII, 80. 281 Dies unterscheidet sich freilich von jenem (von Kant in anthropologischem Kontext erwähnten) sicherheits-orientierten „Vertrauen zwischen Menschen, die miteinander an einem Tische speisen, mit alten Gebräuchen, z. B. des Arabers, bei dem der Fremde, sobald er jenem nur einen Genuss (einen Trunk Wasser) in seinem Zelt hat ablocken können, auch auf seine Sicherheit rechnen kann“ (VI 619). 282 Gleichwohl steht diese späte Kennzeichnung von „fides“ noch in einer unübersehbaren Spannung zur frühen Feststellung Kants: „Aber das moralische Gesetz für sich verheißt doch keine Glückseligkeit; denn diese ist, nach Begriffen von einer Naturordnung überhaupt, mit der Befolgung desselben nicht notwendig verbunden“ (IV 260). Eine ausdrückliche Erklärung für diese Abweichung, die ja im Grunde zugleich eine „Entwicklung“ in Richtung „moralische Teleologie“ darstellt, bietet letztlich erst jenes schon erwähnte Argument aus Kants später „Religionsschrift“ (IV 650 f ). Das moralische „Sollen“ bleibt auf das darin begründete „Sein-Sollen“ bezogen; wollte die „Moral“ gegenüber dem „Begriff des Endzwecks gleichgültig“ sein, so verfiele sie selbst einer „Einäugigkeit“, weil sie sich einseitig (als „Vermögen der Prinzipien“) setzen, dabei von sich selbst als „Vermögen der Zwecke“ jedoch „abstrahieren“ würde. Demgegenüber insistierte Kant auf der „Ordnung der Zwecke“. Dass Kant später sogar von einem „von der Sittlichkeit diktierten Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht“ [der Erreichung des „höchsten Gutes“] spricht (III 638), ist eben darin fundiert.
162 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Überdies liegt hier wohl die noch grundsätzlichere Frage nahe: Vermag „praktische Vernunft“ als solche (wie der zuletzt angeführte Passus jedenfalls suggeriert) – über die in Aussicht gestellte „Möglichkeit“ und die Notwendigkeit des moralischen „Strebens“ danach noch hinaus – tatsächlich eine (sei es auch „von mir hineingelegte“) „Verheißung des moralischen Gesetzes“, gar ein ihr selbst zugeschriebenes „Versprechen“, zu legitimieren? Bleibt von der zwar „theoretisch“ („ex negativo“) eingeräumten „Möglichkeit“ und der „praktisch“ auch vorausgesetzten „Erreichbarkeit“ des „höchsten Gutes“ nicht ein „Vertrauen in die Verheißung des „moralischen Gesetzes“ und gar ein beanspruchtes „Versprechen der praktischen Vernunft“ noch abzugrenzen, um so dem „Überschießenden“ der „Hoffnung“ – und somit auch der zu bewahrenden Differenz zwischen dem „Hoffen-Sollen“ und dem „Hoffen-Dürfen“ Rechnung zu tragen? Die „Tiefenstruktur“ dieser kantischen Begründung und Bestimmung der „fides“ lässt demnach dies erkennen: Erstrebt wird der „praktische Endzweck“, soweit er praktisch, „d. h. durch Freiheit möglich“ und die „Beförderung des höchsten Gutes“ insofern auch moralisch geboten ist; erhofft wird, dass dieses moralisch inspirierte, an der Idee der „moralischen Welt“ bzw. des „Weltbesten“ orientierte Streben zuletzt nicht vergebens bleibt und die Aussicht über dieses „Praktische“ hinaus sich nicht zuletzt als sinn-los erweist. Hierfür ist die Idee des zu diesem „praktischen Endzweck“ „zusammenstimmenden“ Endzwecks der Schöpfung“ vorausgesetzt, auf den die „fides“ sich als „Vertrauen“ bezieht. Somit bleibt also diese auf „das gelingende Ganze seiner Existenz“ abzielende Perspektive des „praktischen Endzwecks des Menschen“ auf die in dem „höchsten (abgeleiteten) Gut“ schon „symbolisch dargestellte“ Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ rückverwiesen. Dass der „Endzweck der praktischen Vernunft“ und derjenige der „Schöpfung“ zwar notwendig aufeinander bezogen bleiben, eben deshalb jedoch auch unterschieden werden müssen, macht schon Kants Hinweis deutlich: „Es ist kein Gebrauch von diesem Begriffe [des „Endzwecks“] möglich, als lediglich für die praktische Vernunft nach moralischen Gesetzen; und der Endzweck der Schöpfung ist diejenige Beschaffenheit der Welt [!], die zu dem, was wir allein nach Gesetzen bestimmt angeben können, nämlich dem Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft, und zwar so fern sie praktisch sein soll, übereinstimmt. […] Also haben wir einen moralischen Grund, uns an einer Welt auch einen Endzweck der Schöpfung zu denken“ (V 582 f ). Schon jener erwähnte Sachverhalt, dass die umfassende Idee einer „moralischen Welt“ (als Einheit des „Reichs der Natur“ und der „Gnaden“) auf die „zweckmäßige Einheit aller Dinge, die dieses große Ganze ausmachen“ (II 684), verweist, sollte in diesem Sinne verdeutlichen, dass die demgemäß gedachte Idee des „höchsten abgeleiteten Gutes“ als „zweckmäßige Einheit“ auf das „Ganze aller Zwecke“ ausgerichtet bzw. darin eingebunden war. Kants Charakterisierung der „fides“ als „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ darf nun (in Anlehnung an eine von Kant in anderem Problemkontext gebrauchten Wendung) vielleicht auch so verstanden werden, dass darin eine „Zustimmung“ dazu, „dass eine Welt überhaupt existiere“ (IV 652), gewissermaßen „angesonnen“ wird, die, obzwar durchaus moralisch inspiriert, dennoch nicht moralisch eingeholt werden kann, sondern die ethikotheologisch auszuweisende Voraussetzung einer „Affinität“ zwischen den einzelnen angezeigten „Endzweck“-Dimensionen anzeigt.
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Ebendies kann wiederum nur unter der notwendigen (insofern der Vernunft „abgenötigten“) Voraus-Setzung, d. h. dem postulierten „Dasein Gottes“ gedacht werden283: Geglaubt wird im Sinne des „moralisch“ verankerten „Vernunftglaubens“ deshalb an das „Dasein Gottes“, sofern jene Hoffnung nur hinreichend begründet ist unter dieser Voraus-Setzung Gottes – ein „Glaube“, den Kant als „freies Fürwahrhalten“ deshalb bestimmt, weil seine Verbindlichkeit eben – „niemals wird’s Wissen“ – nicht diejenige des Wissens sein kann, ohne dass dies indes auf eine Zurückstufung seines Verbindlichkeitsstatus bzw. zuletzt auf bloße Dezision hinausliefe. Weist diese „fides“ auf die praktische „Beförderung des Weltbesten an uns und anderen“ zurück, so führt sie zugleich auf jene Voraussetzungen, die dieses „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ allein als vernünftig erscheinen lassen. Darin ist sodann, als „ratio sufficiens“ jenes „Endzwecks der Schöpfung“, die ethikotheologische Bestimmung der Gottesidee als des „einigen Gott[es], als … Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (III 636) begründet, der als solcher als „terminus ad quem“ dieses „Vernunftglaubens“ fungiert; diese Kennzeichnung resultiert freilich schon aus einer „symbolischen Darstellung“ jenes „Vernunftideals“, ist also „die Vorstellung des Gegenstandes nach einer Analogie“ (III 613). Demzufolge erweist sich jenes „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ zunächst als jenes moralisch verwurzelte Vertrauen auf den nicht bloß „subjektiven“ Charakter der Idee des „höchsten Gutes“ (die andernfalls eine „Idee ohne Realität“ bliebe), welche selbst, „was hier das Vornehmste ist, … aus der Moral hervor[geht]“ (IV 651), und aufgrund ihres so fundierten „moralischen Charakters“ auch nicht aufgegeben werden darf; eben darauf stützt sich also einerseits jener „Verheißungscharakter“ und weist zugleich auf die daran geknüpften, d. h. gleichsam „mitgesetzten“ Voraussetzungen. Schon hier ist diesbezüglich eine eigentümliche Modifikation bzw. Zuschärfung in Kants Argumentation nicht zu übersehen: Zunächst betonte Kant – nach Überwindung des prinzipiell unzureichenden „theoretischen Fürwahrhaltens“ – in der „Dialektik der praktischen Vernunft“ ausdrücklich, dass „in dem moralischen Gesetz [selbst] nicht der mindeste Grund zu einem notwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit eines zur Welt als Teil gehörigen, und daher von ihr abhängigen Wesens“ sei (IV 255); daran knüpft sich der Hinweis darauf, dass, obzwar „das moralische Gesetz für sich … keine Glückseligkeit“ verheißt, jedoch die „christliche Sittenlehre … diesen Mangel … durch die Darstellung der Welt, darin vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetz von ganzer Seele weihen, als eines Reichs Gottes“ ergänzt (IV 260). Diese – offenbar Kant nicht recht zufriedenstellende – Auffassung wird sodann (so in jener aufschlussreichen Schlussanmerkung der „dritten Kritik“) gleichsam überholt, zu283 Genau dieser angezeigten Stufung folgt Kants Argumentation: „Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d. i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, … die … als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen, weil wir nur von einem moralisch-vollkommenen …, zugleich auch allgewaltigen Willen das höchste Gut, welches zum Gegenstande unserer Bestrebungen zu setzen uns das moralische Gesetz zur Pflicht macht, und also durch Übereinstimmung mit diesem Willen dazu zu gelangen hoffen können“ (IV 261).
164 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre mal hier explizit von einem „Vertrauen“ in die – in das „moralische Gesetz“ erst hineingelegte – „Verheißung“ desselben die Rede ist, worin nunmehr jene „moralische Teleologie“ als maßgeblich zutage tritt (V 603). In dieser – von uns – „aus moralisch hinreichendem Grunde“ hineingelegten „Verheißung“ findet also die Hoffnung Ausdruck, dass der erhoffte Endzweck der Schöpfung“ und dessen „mitgesetzter“ „Sinngrund“ in demselben Maße „wirklich“ (und in diesem Sinne „bedeutend“) sind, wie die „durch praktische Gesetze“, das heißt „durch die Tat“ ihre Realität erweisende „Idee der Freiheit“ (V 599). Solche „fides“ ist gleichsam aus der Zuversicht gespeist, dass jenes „Hineinlegen aus moralisch hinreichendem Grunde“ gewissermaßen in dem suchend-hoffnungsvollen Vorgriff darauf steht, dass dieses in einer ursprünglichen „Zusammenstimmung“ („Einigung“) der unterschiedlichen „Endzweck“-Dimensionen verankert ist und ebendies sich zuletzt auch „bewahrheiten“ wird. Dann impliziert jenes „Hineinlegen“ doch vornehmlich die „Vergewisserung“ darüber, dass allein die Moralität die zureichende und tragfähige Voraussetzung sein kann für die Erreichbarkeit des „höchsten Gutes“, zumal doch „Religion“ jener sichere „Glaube“ ist, „der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt“ (VI 316). Allein auf solche Weise ist diese „fides“ selbst als eine Vernunftgestalt ausweisbar, die mit der „praktischen Bestimmung des Menschen“ und der ihr „weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ nicht bloß verträglich, sondern hierfür auch unentbehrlich ist. Und nur auf solche Weise ist die in der Geschichte der reinen Vernunft sich entfaltende – und für die Explikation der Idee der „teleologia rationis humanae“ entscheidende – Verbindung einer „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft und praktischen Erweiterung derselben“ zu erreichen und „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ zu denken möglich. Was in solchem existenz-orientierenden Ausgang zu hoffen ist bzw. worauf solch vertrauende Hoffnung sich richtet, ist also dies, dass jene „Verheißung des moralischen Gesetzes“ eben nicht allein – obgleich durchaus aus „moralisch hinreichendem Grunde“ – eine von uns „hineingelegte“ ist, also nicht nur praktischen „Sinn“, sondern auch eine moral-transzendierende Bedeutung („objektive Realität“) erhält: Solche „fides“, als eine „subjektive Überzeugung“ von besonderer Art, speist sich aus der moralisch begründeten Zuversicht, dass die zwar durch den eingenommenen „moralischen Standpunkt der Freiheit“ implizit bejahte „ganz andere Ordnung der Dinge“ auch als ein „ordo ordinatus“ „objektive Gültigkeit“ hat und so einen gegenüber dem „Praktischen“ uneinholbaren – gleichwohl von diesem vorausgesetzten – Sinnüberschuss enthält, d. h. ihm eben ein „Endzweck der Schöpfung“ korrespondiert. Der zwar selbst durchaus „vernunftgewirkte“ Endzweck („das höchste Gut“) bliebe andernfalls eine „Idee ohne Realität“,284 praktische Vernunft wäre in der Folge unweigerlich dazu verurteilt, „mit sich selbst in Widerspruch zu kommen“ (V 602, Anm.), zumal die moralisch authentische Lebensführung letztendlich doch eine getäuschte bliebe. Jenes „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ liegt mithin, als unverzichtbare Voraussetzung der „Selbsterhaltung der Vernunft“, auch jenem kantischen Rekurs auf das Gottespostulat als einer „prak284 AA XXI, 149. Nur ein „göttlicher Gesetzgeber“ als „Herzenskündiger“ genügt auch dem Anspruch bzw. einer „Gesellschaft nach Tugendgesetzen“, der deshalb nicht bloß „Oberhaupt in einem Reich der Zwecke“ ist.
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tisch notwendigen Voraussetzung“ zugrunde, weil andernfalls – und hier ist wiederum die analoge Bestimmung einer „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ in wünschenswerter Deutlichkeit ausgesprochen – „die praktische Vernunft sich nicht in Ansehung ihres notwendigen Zwecks erhalten kann“ (III 498, Anm.).285 Wiederum ist es diese zuletzt auf die Bestimmung der „fides“ hinführende ethikotheologische Begründungsfigur, dass die in dem „moralischen Willen“ begründete moralische „Ordnung der Dinge, in der wir jetzt schon sind“, in einer vorgängigen „Ordnung der Dinge“ grundgelegt ist, die sich nicht in dem blinden „Weltlauf“ als der „einzigen Ordnung der Dinge“ erschöpft (V 587). Darin war ja auch das vorgestellte Vorhaben begründet, die kantischen Explikationen der „transzendentalen Steigerung“ als Antizipation jener nach-kantischen Frage „Wie muss die Welt für ein moralisches Wesen geschaffen sein?“ auszuweisen. Jedoch ist nicht zu übersehen, dass der in der „Preisschrift“ vorgenommene Bezug auf „das von der Sittlichkeit selbst diktierte Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht“ (III 638), also dem „höchsten in der Welt zu befördernde(n) Gut“ (als „Endzweck“) (ebd.), gegenüber jener „fides“-Bestimmung (als „Vertrauen“ in die – „von uns“ – „aus moralisch hinreichendem Grunde“ hineingelegte „Verheißung des moralischen Gesetzes“) offenbar noch einmal eine wesentliche Zuschärfung bedeutet. Dies findet in der ebenfalls in dieser „Preisschrift“ zu einer „Zweckverbindung“ gefestigten ethikotheologischen „Verknüpfung“ der „Vernunftideen“ des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ eine bemerkenswerte Entsprechung, weshalb dieses „von der Sittlichkeit selbst diktierte Vertrauen“ nunmehr auch für den jenen „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ auszeichnenden Anspruch bestimmend wird. Bezüglich der von uns „aus moralisch hinreichendem Grund“ hineingelegten „Verheißung des moralischen Gesetzes“, die Kant also in seiner „Ethikotheologie“ geltend macht, bleibt auch darauf hinzuweisen: Diese späte Argumentation stützt sich in der Sache offenbar indirekt auf Kants frühere Auskunft, der zufolge das „moralische Gesetz, wenngleich keine Aussicht“, so aber doch „auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen lässt“ (IV 156); später verweist Kant freilich doch auf eine „Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir [als moralische Wesen] jetzt schon sind“ (IV 235). Es ist offenbar die Anknüpfung an solche „Anzeigen“ und „Aussichten“, die sich sodann mit jenen ermutigenden „Winken“ in der Erfahrung des „Naturschönen“ verbindet, das so „anzeigt“, dass „der Mensch in die Welt passe“.286 Diese „praktischen“ und 285 S. dazu noch einmal o. IV., Anm. 260. – Gerade auch im Blick auf diese analoge Bestimmung der „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ ist besonders Kants Aufforderung aufschlussreich, „man kann und soll die Welt nach der Analogie mit der physischen Teleologie, welche uns die Natur wahrnehmen lässt …, apriori als bestimmt, mit dem Gegenstande der moralischen Teleologie, nämlich dem Endzweck aller Dinge nach Gesetzen der Freiheit zusammen anzutreffen, annehmen, um der Idee des höchsten Gutes nachzustreben“ (III 647 f ). Auch so wird jene angeführte Kennzeichnung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament unseres Vernunftglaubens“ plausibel, obgleich diese Thematik in systematischer Hinsicht noch andere Perspektiven eröffnet. 286 Erweist sich die „Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen“ im Sinne einer sys tematischen Naturforschung als „günstig“ und wenigstens als ein in regulativem Sinne zu nehmendes Indiz, so gibt uns nach Kant die „in ihren schönen Formen figürlich zu uns“ sprechende Natur (V 308) in
166 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre „ästhetischen“ Sinnmotive sind es, die so zuletzt in jene „fides“-Bestimmung als „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ einmünden, die sich daraus speist und dergestalt sich gewissermaßen zu einer „Willlensbestimmung von besonderer Art“ noch verdichtet (vgl. dazu o. III., 1.3.). Demzufolge erweist sich im erweiterten Rahmen jener „moralisch konsequenten Denkungsart“ ein auf ein unbedingtes Bedürfnis der Vernunft gestütztes „Urteilen-Müssen“ von gänzlich anderer Art als unvermeidlich, worin freilich nicht weniger als die „Selbsterhaltung der Vernunft“ im eigentlichen Sinne auf dem Spiel steht: Die Vernunft als „Vermögen der Prinzipien“ und als „Vermögen der Zwecke“ fiele andernfalls in diesem „vernünftigen Weltwesen“ – buchstäblich hoffnungslos – auseinander, jene „Selbsterhaltung der Vernunft“, die schon der frühe Kant ausdrücklich als „Fundament des Vernunftglaubens“ bestimmte, worin also der Vernunft an nichts anderem als an ihr selbst gelegen ist –, wäre keineswegs noch gewährleistet. Ausgehend von diesen erweiterten ethikotheologischen Ansprüchen bleibt der von Kant daran geknüpfte Verweis auf den „Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ nunmehr allerdings auf das unbeirrbare „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ zu beziehen und gewinnt von daher auch erst seinen besonderen Stellenwert. Jenes frühe kantische Diktum: „Ich rufe allem Geschöpfe zu, welches sich nicht selbst unwürdig macht, so zu heißen: Heil uns, wir sind! Und der Schöpfer hat an uns Wohlgefallen“ (I 594) findet in Kants Bestimmung der „fides“ und in der daran geknüpften Charakterisierung eines „Endzwecks der Schöpfung“ (als eines „Sinns aus sich selber“ und dessen „Ermöglichungsgrundes“) nunmehr eine Einlösung, die freilich auch unumgängliche „kritizistische Brechungen“ erkennen lässt. In diesem Problemkontext wird wohl auch deutlich: Der in dieser „fides“ antizipierte „Endzweck der Schöpfung“ und der darin wiederum verankerte „praktische Endzweck“ resultieren keineswegs aus der bloßen Rücksicht auf die „unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines … praktischen Vernunftvermögens“ (wie Kant in einer auffälligen anthropologischen Engführung insinuiert: IV 654, Anm.) (s. dazu u. IV., 3.3.). Gegenüber dieser wohl teilweise irreführenden, weil verschiedene Problemaspekte vermengenden Argumentation Kants in der zweiten langen Anmerkung der Vorrede der „Religionsschrift“ bleibt zu vergegenwärtigen: Zwar ist die „Moralität“ (als „oberstes Gut“) selbst „praktisch“ auf die Beförderung des „Weltbesten“ gerichtet; gleichwohl schließt dies die Hoffnung ein, dass auch die „eigene Person“ in „Ansehung ihres ganzen Zustandes“ in diesem erhofften „höchsten Gut“ als dem „Weltbesten“ mitenthalten ist; entsprechend hat die gebotene „Beförderung des höchsten Gutes“ einen durchaus unterschiedlich akzentuierten Richtungssinn. Sie impliziert offenbar auch die – zwar moralisch inspirierte – praxis-transzendierende Orientierung, dass die Vernunft an ihren eigenen Zwecken nicht verzweifeln darf, stellt sich also gegen eine „Verzweiflung der Vernunft an sich selbst“, die freilich nicht als „Zustand des gestörten Kopfes“ (als eine „Krankheit“ desselben) abgetan werden darf, d. h. als ein bloß „vorübergehender Unsinn eines Hoffnungslosen“ (I 898). Auch daran ist zu erinnern: Wenn nach Kant alles solcher Erfahrung des „Naturschönen“ überdies wenigstens einen flüchtigen „Wink“, „dass der Mensch in die Welt passe“.
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Handeln notwendig zweck-bezogen ist (sofern es eine „Materie“ hat), dann ist der Bezug darauf (und zuletzt auf einen „Endzweck“) eben nicht eine bloße „unvermeidliche Einschränkung“ des Menschen, sondern in moralischer Hinsicht ein durchaus notwendiger Gesichtspunkt. Ein solcher Rekurs auf eine „unvermeidliche Einschränkung“ (im Sinne von „Gebrechlichkeit, „Bedürftigkeit“) könnte doch nur verständlich sein, wenn der Zweckbezug (a) nicht ein der Handlung immanentes Moment und (b) die Einbindung der Perspektive der „eigenen Glückseligkeit“ lediglich „moral-neutral“ wäre; jedoch ist ihre Eingebundenheit in das „Ganze aller Zwecke“ selbst durchaus moralisch verankert. Also keineswegs in einem bloß anthropologischen Rekurs auf „unvermeidliche Einschränkungen des Menschen und seines praktischen Vernunftvermögens“, sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus denselben umzusehen“ (IV 654, Anm.), ist die Begründungslogik von „fides“ verwurzelt; vielmehr spiegelt sich darin die an einer „Ordnung der Zwecke“ orientierte „sinn-theoretische“ Begründung wider, die hierfür freilich ohne theoretische „Vergewisserung“ auskommen muss. Sie wäre vielleicht zu charakterisieren als eine der „Sinnintention“ des (moralischen) Handelns immanente, diese geradezu konstituierende, von dem „Mut, der das Wesen der Tugend ausmacht“ (IV 857), getragene Zuversicht – d. h. eines gleichsam „ursprünglichen Glaubens“ an die Möglichkeit, „das Weltbeste an uns und an andern zu befördern“. Darauf geht wohl auch jener späte kantische Hinweis auf den der „Vernunft“ selbst innewohnenden „Glauben an die Zukunft“ (IV 793, Anm.), soll dies doch zuletzt „eine Aussicht in eine selige Zukunft“ (IV 254, Anm.) bedeuten, die freilich auf das „vollständige Wohl“ abzielt. Ist es also zunächst die Überzeugung jenes „Glaubens an die Tugend“, die jene praktische Intention bzw. Pflicht, „das Weltbeste … nach allen Kräften zu befördern“ (V 580), in den konkreten Ansprüchen der Rechts- und Tugendpflichten beseelt, so besagt „objektive Realität“ bezüglich dieses möglichen „Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ in solcher Hinsicht den in aller moralisch-praktischen Orientierung implizit voraus- bzw. mit-gesetzten – obgleich unsere moralischen Bemühungen überfordernden – möglichen „Erfolg“ des durch reine praktische Vernunft Gebotenen, was freilich im Grunde schon in der Kennzeichnung von „Glückswürdigkeit“ (s. dazu o. IV., 2.2.2.) selbst liegt. So wie diese bzw. die Forderung: „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“ (II 679), sich selbst schon der stillschweigend vollzogenen Einbettung in die durch die Idee des „höchsten Gutes“ bezeichneten „Sinnperspektive“ verdankt (d. h. so ganz „moralisch rein“ nicht ist, zumal darin doch von „Glückseligkeit“ die Rede ist), so muss auch die Qualifikation des „Endzwecks“ (bzw. dessen „Beförderung) als „geboten“ allein gemäß diesem ethisch erweiterten Gesichtspunkt verstanden werden und bliebe ohne diese besondere Rücksicht unausgewiesen. Während also in aller „moralischen Denkungsart“ die Zuversicht in solche prästabilierte Harmonie „praktisch“ implizit („antizipativ“) mitgesetzt ist – eben in dem Sinne, dass die unbedingte praktisch-moralische Aufgabe de facto nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt und insofern als „praktisch absurd“ erscheint –, zielt hingegen jenes in der „fides“ als dem „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ begründete Hoffen als „moralisch konsequente Denkungsart“ auf eine endgültige – gewissermaßen „poststabilierte“ – Harmonie als den endgültigen „Endzweck der Freiheit“
168 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre und den ihn erst gewährleistenden „Endzweck der Schöpfung“.287 Eben solche Rücksicht kommt in der an das Gebot der „Beförderung“ jenes „Weltbesten“ als der „moralischen Welt“ – „welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen, d. i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit“ (V 580) – rückgebundenen Voraussetzung besonders deutlich zum Ausdruck, worin sich an die gebotene praktische „Beförderung“ des „Weltbesten nach allen Kräften“ die Hoffnung auf die Wirklichkeit dieses „Weltbesten“ knüpft. Dem Anspruch des „praktisch-dogmatischen Überschrittes“ zufolge bleibt die praktische Orientierung an dieser „Idee“ geboten „unerachtet des Einwurfes, den der Lauf der Welt als Erscheinung gegen jenen Fortschritt in den Weg legt“; sie zielt so auf „eine solche moralisch-teleologische Verknüpfung, die auf den Endzweck, als das übersinnliche Ziel seiner praktischen Vernunft, das höchste Gut, nach einer für ihn unbegreiflichen Ordnung der Natur hinausgeht“ (III 647 f ). So bestätigt sich: Derart bringt sich für die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete Vernunft“ (vgl. dazu u. V., 3.1.) ein – übrigens auch aus Kants „Übersetzung“ der „fides“ vernehmbarer – Sinn-Vorschuss zur Geltung, der zwar notwendig auf die unabweislichen, an den „Glaube(n) an die Tugend“ (III 632) geknüpften Ansprüche der „reinen praktischen Vernunft“ des „vernünftigen Weltwesens“ rückbezogen bleibt, in dem sich ein Vertrauen in die „Wahrhaftigkeit“ als der aller „Moralität“ innewohnenden Vernünftigkeit manifestiert. Gleichwohl weist solcher „Sinnvorschuss“ darüber hinaus und lenkt den Blick auf eine für sie uneinholbare Totalität als „Ideal der Vernunft“. Sie betrifft jene moral-transzendierenden Aspekte dieses „mit Vernunft begabten Erdwesens“, die der späte Kant zuletzt in der Idee des „Ganzen aller Zwecke“ formuliert, welche nunmehr erst – durchaus analog zu jenem „Bedürfnis der spekulativen Vernunft“ – die leitende Idee einer „moralischen Teleologie“ „abschließt und krönt“. Jene Kennzeichnung von „fides“ als „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ (bzw. das dann sogar von der „Sittlichkeit selbst diktierte Vertrauen“ [III 638] hierzu) besagt demnach mehr und anderes als jenen „Glauben an die Tugend“, d. i. die in allem (moralischen) Handeln vorausgesetzte Kraft des Vertrauens in die Zukunft. Der solchem „Vertrauen“ innewohnende Anspruch weist über jene stets vorausgesetzte pragmatische Sinndimension hinaus und fordert so zweifellos ein anderes Maß der Bewährung für die je individuelle und umfassende „moralische Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811), die so nunmehr hinsichtlich ihrer End-Gültigkeit vor Augen steht. Das darin entfaltete Leitmotiv einer „moralisch konsequenten Denkungsart“ lässt es durchaus als plausibel (und in der Sache auch als unverzichtbar) erscheinen, dass Kant den – zu287 Im Grunde sind beide Aspekte in Kants bemerkenswerter Bezugnahme auf den der „Vernunft“ immanenten „Glauben an die Zukunft“ (IV 793, Anm.) enthalten. Auch bestätigt sich: Die gestufte „moralisch konsequente Denkungsart“ (die sich „teleologisch“, als „moralische Notwendigkeit“, in der „dritten Kritik“ in der Idee der „moralischen Teleologie“ gemäß dem „Endzweck der Metaphysik“ entfaltet) findet in der „zweiten Kritik“ eine an der individuellen Selbstverständigung und Selbstbejahung orientierte („subjektiv betrachtete“) Übersetzung: „Nun war es Pflicht für uns, das höchste Gut zu befördern, mithin nicht allein Befugnis, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfnis verbundene Notwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen, welches, da es nur unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der Pflicht unzertrennlich verbindet, d. i. es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen“ (IV 256).
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nächst – nur in moralphilosophischem Begründungskontext akzentuierten Begriff eines „Reichs der Zwecke“ (IV 66), in der „Kritik der Urteilskraft“ aufgreift und in einer systematischen Hinsicht erweitert, d. h. in der Idee der „moralischen Teleologie“ näher expliziert und im Grunde so erst wirklich „fruchtbar“ macht. Vor dem Hintergrund der skizzierten besonderen Eigenart dieser „moralisch konsequenten Denkungsart“ sowie im Blick auf jene kantische „fides“-Bestimmung und auf den der „Idee der Freiheit“ zuerkannten besonderen Status (in ihrer darin begründeten „Verknüpfungs“-Funktion) bleibt wohl der entscheidende Sachverhalt zu beachten: Allein dies, dass das „moralische Gesetz“ als ein „Prinzip der Deduktion der Freiheit als einer Kausalität der reinen Vernunft“ fungiert, sofern es darin selbst eine „Art von Kreditiv“ der Wirklichkeit der Freiheit (IV 161 f ) darstellt, vermag jenes „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ zu legitimieren, das für das „vernünftige Weltwesen“ noch eine weitere Sinnperspektive eröffnet. So wie sich dem „Kreditiv des moralischen Gesetzes“ die Voraussetzung der „objektiven Realität“ der Freiheit verdankt, so bleibt indes die Begründung der „objektiven Realität“ des „Endzwecks“ und seiner „schlechterdings notwendigen Voraussetzung“, obgleich in umgekehrtem Richtungssinn, doch in diesem vorgängigen „Kreditiv des moralischen Gesetzes“ (IV 162) verankert. Schon das von Kant früher angeführte „einzige Bedenkliche“, dass sich der „Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet“ (II 694), setzt im Grunde die Schlüsselfunktion jenes „Kreditivs des moralischen Gesetzes“ für die interne Verknüpfung der Vernunftideen voraus.288 Bezüglich dieser unumgänglichen Verankerung des „Vernunftglaubens“ in „moralischen Gesinnungen bleibt freilich in besonderer Weise dies zu beachten, dass in diesem von Kant für das „menschliche Gemüt“ im Sinne einer „vernünftigen Selbsterhaltung“ geltend gemachten „natürlichen Interesse an der Moralität“ eine Selbstaffirmation als „moralischer Persönlichkeit“ vorausgesetzt ist;289 sie ist selbst wiederum Voraussetzung für die Selbstbejahung eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“, auf deren Möglichkeitsbedingung das „System des Vernunftglaubens“ abzielt. Eben darin ist auch begründet, dass solchem Anspruch des „Vernunftglaubens“ aus prinzipiellen Gründen kein „kosmologisch“ orientierter Ausgang von der Welterfahrung genügen kann. Allein die in jenem „Standpunkt der Moralität“ vollzogene Selbstaffirmation als „vernünftiges“ Wesen“ erlaubt die Fundierung eines „Endzwecks der Schöpfung“ und kann es zuletzt auch vermeiden, den „Begriff der Gottheit“ leichtfertig zu „verschwenden“ (V 562). Ebenso wird daraus noch einmal deutlich: In der spannungsvollen Einheit zwischen dem „Glau288 Im engeren Kontext dieser kantischen Rezeption der „fides“ wird so wohl noch einmal besonders die „Ordnung der Zwecke“ deutlich, dass die im „Glauben an die Tugend“ verankerte, gleichwohl darüber hinausweisende „Sinngebung“ (auf das erhoffte „höchste Gut“) die Anerkennung einer darin vorausgesetzten „Sinngabe“ „von sich her“ (als des „Zwecks an sich selbst“, d. i. des „Endzwecks der Schöpfung“) und deren Ermöglichungsgrund impliziert. 289 Sie kommt übrigens auch in der beiläufigen Bemerkung Kants zum Ausdruck, in der er jenen „Rechtschaffenen“ sagen lässt: „Ich will, dass ein Gott, dass mein Dasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüpfung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt“ hat (IV 277 f ); wobei, genauer besehen, letzteres „Wollen“ und sein „Standpunkt“ dem gewollten „dass ein Gott sei“ zugrunde liegt.
170 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre ben an die Tugend“ (als der „moralischen Denkungsart“) und der „fides“ als dem „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ treten offenbar recht unterschiedliche Aspekte von „Unbedingtheit“ zutage, deren systematische Vermittlung der Leitidee der „moralischen Teleologie“ folgt. Auch so zeigt sich, dass jener „Glaube an die Tugend“ der „fides“ als „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ zugrunde liegt, die ihrerseits das „credere in deum“ fundiert, worin der so bestimmte Gottesbegriff wiederum als vorauszusetzende „ratio essendi“ jenes „Glaubens an die Tugend“ wie des „Vertrauens in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ ausgewiesen werden soll. Auf diese in der Idee des „Reichs der Zwecke“ angezeigten umfassenden Vernunftperspektiven zielt also zuletzt das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“, ohne dabei jenes zweifache kantische Haltesignal ignorieren zu wollen – nämlich weder „Bedürfnis für Einsicht“ zu halten (III 272, Anm.) noch jenes „Vernunftbedürfnis auf ein bloßes „Bedürfnis der Neigung“ herabzustufen. Jedenfalls bleibt die Legitimation des kantischen Programms, „das Wissen aufzuheben, um für den Glauben Platz zu bekommen“,290 an diese zweifache limitierende Rücksicht gebunden. Näherhin ist diese berühmte programmatische Forderung – ein häufig vernachlässigter Aspekt derselben – einerseits daran gebunden (und setzt hierfür den „negativen Nutzen der Kritik“ voraus), diesem „Glauben“ zunächst einmal, in grenzbegrifflicher Behutsamkeit, seinen „terminus ad quem“ zu sichern, wofür sich nach Kant eben die „rationale Theologie“ (als das „Substrat aller Theologie“) als unverzichtbar erweist; andererseits ist für dieses „Für den Glauben Platz Bekommen“ der Aufweis jener „Ordnung der Dinge“, in der moralische Wesen „jetzt schon sind“, und das gemäß der Idee der „moralischen Welt“ begründete (erhoffte) „höchste Gut“ vorausgesetzt, das in jener moralischen Selbstvergewisserung verankert ist. Beide Aspekte sind in dem schon wiederholt angeführten kantischen Hinweis auf den „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ vereint, der sich allein aus jener „spekulative(n) Einschränkung der reinen Vernunft und praktische(n) Erweiterung derselben“ (IV 275) ergibt. Der frühe Gedanke, dass erst aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ Religion ent stehe (II 338), ist darin, nunmehr auf dem sicheren Fundament der neuen „Freiheitslehre“, aufgenommen und derart zu dem begründeten „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ weitergeführt. Schon hier sei angemerkt: Dass erst aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ Religion hervorgehe, wird sich für Kants spätere Religionsphilosophie insofern als sehr bedeutsam erweisen, als dies jede „psychologistisch“-reduktionistische – und damit „geltungsblinde“ – Abspannung dieser Themen verbietet: Themen, die sich offenbar immer noch (oder schon wieder?) als höchst aktuell erweisen. Ein solcher – erst aus der „Geschichte der reinen Vernunft“ resultierender – Aufweis darf wohl als ein besonderer Aspekt dieser „teleologia rationis humanae“ angesehen 290 Weil dieses „Für den Glauben Platz Bekommen“ bei Kant bekanntlich – nach der Verabschiedung der Ansprüche der traditionellen „rationalen“ und „natürlichen Theologie“ – über die Verbindung bzw. Vermittlung der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ geht und zuletzt auf ein „begründetes Hoffen“ abzielt, ist der von Kant legitimierte Glaube wohl eher als „Hoffnungsglaube“ (s. dazu IV., 3.1.1.) zu kennzeichnen, der als solcher erst auf dem Fundament der „Freiheitslehre“ „Platz bekommt“ (wie es bezeichnenderweise in der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV [II 33] heißt), sofern er die Bedingungen „vernünftigen Hoffens“ expliziert.
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werden, zumal der solches Bedürfnis auszeichnende, von allen bloß „subjektiven Privatbedingungen“ freie „Verbindlichkeitsanspruch“ darin sich „gleichsam an die gesamte Menschenvernunft“ hält. In dem in einem unbedingten „Urteilen-Müssen“ begründeten „moralisch gewirkten Bedürfnis“ (IV 652) nach dem „Endzweck der Vernunft“ artikuliert sich die sinn-affirmierende Hoffnung auf seine „Erfüllung“, die auch jener kantischen „fides“-Bestimmung zugrunde liegt. Derart unterscheidet sie sich in dieser spezifischen Intentionalität durchaus von einer durch ein „Urteilen-Wollen“ bedingten, uns „erfreuenden“ Erfahrung einer dem „subjektiven Prinzip (Maxime) der Urteilskraft“ verdankten „Zweckmäßigkeit“ der Natur in einer solchen anzutreffenden „systematische(n) Einheit unter bloß empirischen Gesetzen“, worin wir, so Kants bemerkenswerte beiläufige Auskunft, „eigentlich eines Bedürfnisses entledigt [!]“ werden (V 257). Es spricht auch in diesem Kontext einiges dafür, diesen „Vernunftglauben“ im Sinne der Einheit von „genitivus subjektivus“ und „genitivus objektivus“ zu verstehen – d. h. als „Glaube“ („Vertrauen“) der „Vernunft“ und als „Glaube an die Vernunft“ und infolgedessen eben als den „Glaube(n) der Vernunft an sich selbst“. Das darin artikulierte „Vertrauen der Vernunft“ in ihre eigene „Vernünftigkeit“ manifestiert sich vornehmlich als Widerstand gegen einen „Vernunftunglauben“ sowie gegen eine aus solcher Orientierungs- und Haltlosigkeit drohende „Verzweiflung der Vernunft an sich selbst, allen Anspruch auf Gewissheit aufzugeben, welches man den Zustand des dogmatischen Skeptizismus nennen kann“ (III 668). Allein so erhält (d. h. eben: gewinnt und bewahrt!) diese sich selbst auch in der bestimmten Hinsicht, dass das „Prinzip der Selbsterhaltung der Vernunft“ als „das Fundament des Vernunftglaubens“ gelten darf. Diese denkwürdige – frühe – Charakterisierung des „Prinzips der Selbsterhaltung der Vernunft“ gewinnt im Kontext seiner Begründung des „Primat(s) der reinen praktischen Vernunft“ noch besondere Nuancen und führt so im Sinne einer umfassenden „teleologia rationis humanae“ (als dem „System der Zwecke“) vor Augen, weshalb seine Bezugnahme auf die „Selbsterhaltung der Vernunft“ zuletzt auf alle diese genannten Aspekte auszudehnen ist. Freilich, schon jener Hinweis auf diese von uns in das „moralische Gesetz“ „hineingelegte“ „Verheißung“ lässt Kants Absicht erkennen, jene Konzeption einer „moralischen Teleologie“ vor naheliegenden Einwänden zu schützen. Vornehmlich darauf sind wohl auch seine einschlägigen späten Ausführungen über deren Stellenwert und Anspruch gegenüber den „vermeinte(n) theoretisch-dogmatische(n) Fortschritte(n) in der moralischen Teleologie, während der Leibniz-Wolffischen Epoche“ (III 646 ff ) gerichtet: Dem Vorwurf einer unkritischen „Erschleichung“ vermag wohl auch die Idee einer „moralischen Teleologie“ allein dann zu entgehen, wenn der besondere Charakter dieser praktischen Voraus-Setzung gegenwärtig bleibt; denn nur so bleibt sie vor jener Versuchung bewahrt, ein zwar durchaus vernunft-begründetes „Bedürfnis für Einsicht“ zu nehmen. Gleichwohl weiß jenes von Kant betonte „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ auch darum, dass „Hoffnung auch enttäuschbar“ – und ebendies mit unserer „moralischen Bestimmung“ auch „unzertrennlich verbunden“ ist. Jener Hinweis auf die „Verheißung des moralischen Gesetzes …, die ich hineinlege, und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde“ (V 603, Anm.), betont so noch einmal den besonderen Charakter dieses „Vernunftglaubens“ als eines „freien Fürwahrhaltens“. Mit solcher
172 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Kennzeichnung ist indes nicht primär ein eingeräumter „Entscheidungsspielraum“ und natürlich erst recht nicht bloße Beliebigkeit gemeint – vielmehr eine moralisch begründbare Verbindlichkeit, die dennoch nicht „zwingend“ sein kann, zumal dies nicht moralisch begründbar wäre (V 603), nur so aber auch „sinnvoll“ sein kann. 3.1.1. Der besondere Status dieses „Vernunftglaubens“ als „Hoffnungsglaube“ Es entspricht durchaus jener in der „Geschichte der reinen Vernunft“ explizierten „teleologia rationis humanae“, dass dieser im Fortgang der „moralischen Kultur“291 von allem „Aberglauben“ gereinigte „Vernunftglaube“ letztendlich als „Hoffnungsglaube“ konkrete Gestalt gewinnt.292 Dies vor allem deshalb, weil dieser Glaube sich nicht mehr, im Sinne einer selbstverständlichen und entsprechend unbefragten Voraus-Setzung, auf einen für sich bestehenden „Gegenstand in der Realität“ stützen bzw. richten kann, sondern vielmehr selbst auf die Hoffnung bzw. das in ihr Erhoffte verwiesen ist, während der Glaube auf den Ermöglichungsgrund desselben abzielt. Die nähere Bestimmung bzw. Vermittlung dieses Glaubens als „Hoffnungsglaube“293 erweist sich nach Kant deshalb als geradezu naheliegend, weil dieser beanspruchte „Vernunftglaube“ eben nicht lediglich in einer unbefragten Voraussetzung (als vermeintlicher „Gegenstand in der Realität“) verankert werden soll. Vornehmlich darauf war ja auch jene kritische Absicht gerichtet, „für den Glauben Platz zu bekommen“, um daran sodann den Nachweis dafür zu knüpfen, dass die „Erkenntnis des Übersinnlichen (das, in theoretischer Absicht, allein ein wahres Geheimnis ist) …, zu enthüllen in praktischer Absicht … möglich ist“ (III 377). Denn jenes „Vertrauen“ auf die von uns hineingelegte „Verheißung des moralischen Gesetzes“ bzw. in das von der „Sittlichkeit diktierte Vertrauen“ in die Erreichbarkeit des praktischen „Endzwecks“ vermag nicht selbst auch jene „Zuversicht“ auf die tatsächliche Erreichung zu geben bzw. zu stützen, die ihre postulatorische Verankerung erübrigen könnte. Eine bekannte kantische Gedankenfigur variierend, wäre jenes hoffnungs-vermittelte „Für-den-Glauben-Platz-Bekommen“ nun auch so zu bestimmen, dass doch erst die „Hoffnung“ für den „Glauben Platz“ einräumt; das „Erhoffte“ ist „ratio cognoscendi“ 291 Nach Kant ist der hauptsächlich durch „Furcht und Leidenschaft“ verursachte Hang zum „Aberglauben“ „dem Vernunftgebrauch, Schwärmerei dem Erfahrungsgebrauch entgegengesetzt und zuwider“ (AA XXVIII, 1326 f ). 292 Es wird sich bestätigen: Wittgensteins Bemerkung: „Religiöser Glaube und Aberglaube sind ganz verschieden. Der eine entspringt aus Furcht und ist eine Art falscher Wissenschaft. Der andere ist ein Vertrauen“ (Vermischte Bemerkungen, in: Wittgenstein 1997, 551), stimmt so gesehen zwar durchaus mit Kant überein und erinnert offensichtlich geradezu an seine „fides“-Bestimmung; gleichwohl hat Kant sich damit noch nicht begnügt, sondern nach der „Vernünftigkeit“ dieses „Vertrauens“ gefragt, also näherhin nach den „Bedingungen der Möglichkeit“ vernünftigen Hoffens. 293 Sehr deutlich ist dieser „Hoffnungsglaube“ vom späten Kant ausgesprochen: An einen „moralischen Weltherrscher“ „moralisch-praktisch glauben heißt nicht seine Wirklichkeit vorher theoretisch für wahr annehmen, damit man jenen gebotenen Zweck [des höchsten Gutes] zu verstehen Aufklärung und zu bewirken Triebfeder bekomme: denn dazu ist das Gesetz der Vernunft schon für sich objektiv hinreichend; sondern um nach dem Ideal jenes Zwecks so zu handeln, als ob eine solche Weltregierung wirklich wäre“, wobei jener „Imperativ … nicht das Glauben sondern das Handeln gebietet“ (III 387, Anm.).
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des Geglaubten, während Letzteres, als zu postulierende Voraussetzung desselben, „ratio essendi“ des „Erhofften“ wäre, die insofern im „Logos der Hoffnung“ selbst „affirmiert“ ist und darin ihr „Kreditiv“ hat. Für jene differenzierte Begründung des „Hoffnungsglaubens“ ist die Explikation der dem „theoretischen“ und „praktischen Vernunftgebrauch“ immanenten „Unbedingtheits“-Momente und ihre Verknüpfung vorausgesetzt, weil nur so die darin sich manifestierende „Einheit der Vernunft“ gewahrt bleiben kann. Schon aus der unauflöslichen Verbindung der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ wird deutlich, dass nach Kant die in der „Verheißung des moralischen Gesetzes“ gegründete Hoffnung sodann erst den („abgenötigten“: VI 132) Vernunftglauben und dessen „moralische Gewissheit“ fundiert. So zeigt sich: Nicht die Hoffnung ist (wie in der theologischen Tradition) auf „Verheißungen Gottes“ gestützt,294 sondern die postulatorische Fundierung des „Vernunftglaubens“ ist im Aufweis „begründeten Hoffens“ verankert.295 Die kantische Begründung des „Vernunftglaubens“ zielt vorrangig auf den Nachweis ab, dass solcher Glaube das vernünftigerweise „Erhoffte“ voraus-setzt und dies zugleich als begründet ausweist.296 Die unverrückbare Begründung ist dies: „Moral“ erweitert sich zunächst gemäß der „Hoffnungsfrage“ zur „moralisch konsequenten Denkungsart“ (die das „höchste Gut“ als den „ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft“ postuliert), die sich wiederum, im Sinne ihres Ermöglichungsgrundes, „postulatorisch“ zur „Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers“ als einer „notwendigen Voraussetzung“ erweitert, und so auch eine notwendige immanente Differenzierung des „Postulates“ anzeigt. Allein aus der vorgängigen Unabhängigkeit der Moralität von einer religiösen Fundierung gewinnt Kants religionsphilosophische Leitthese, dass „Moral unumgänglich zur Religion“ führe, ihr besonderes Gewicht. Ein nicht selten übersehener Punkt ist doch dies: Allein im Ausgang von dem auf die Begründung des „höchsten Guts“ abzielenden – in „moralischen Gesinnungen“ verankerten – „Vernunftglauben“ als einem „Hoffnungsglauben“ wird der Rekurs auf einen „lebendigen Gott“ (und somit ein „theismus moralis“) allererst möglich, zumal schon in der „ersten Kritik“ jenes „höchste Gut“ gleichsam als „ratio cognoscendi“ des „höchsten ursprünglichen Guts“ fungiert. Genauer besehen wäre also „das höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut in der Welt“ nicht als „Glaubenssache“ (wie Kant allerdings vorschlägt: V 599),297 sondern zunächst noch eher als „Hoffnungssache“ zu bestimmen, während das 294 Dies indiziert freilich einen prinzipiellen Unterschied zwischen dem geschichtlichen „Offenbarungs“Glauben (und dem darin freilich immer schon vorausgesetzen „Dasein Gottes“) und dem moralischen „Vernunftglauben“. 295 In der Tat: „Der Kern dieser Hoffnung ist nun der, mein Handeln werde nicht vergeblich sein“ (Henrich 2004, 1490) – und eben deshalb ist dieser Hoffnung etwas voraus-gesetzt, was wiederum auf die Konzeption eines „Hoffnungsglaubens“ führt. 296 Auch für die in Kants „Hoffnungsglauben“ bestimmende „Anordnung von Glauben und Hoffnung“ gilt, was M. Theunissen (1999, 264) für Hebr 11,1 betont: „Erst die Hoffnung, dann der Glaube“. 297 Wenn Kant hier das „höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut in der Welt“ als „Glaubenssache“ bestimmt, so hat dies wiederum eine merkwürdige Entsprechung in seiner Kennzeichnung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich [!]“ (II 677); denn genauer besehen zielt die Hoffnung doch allein auf das „höchste Gut“ als das „ganze Objekt der praktischen Vernunft“, während „das Theoretische“ sowohl auf die inhaltliche Bestimmung desselben als auch auf die Vorausetzungen der Möglich-
174 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre „Dasein Gottes“ und die „Seelen-Unsterblichkeit“, als die „einzigen für uns denkbaren Bedingungen“ des „höchsten Gutes“, hingegen als „Glaubenssachen“ charakterisiert werden müssten. Der „Glaube an die Tugend“ ist die unumgängliche Voraussetzung für die Möglichkeit des als bzw. im „höchstes Gut“ „Erhofften“, während der durch solche Hoffnung vermittelte „Vernunftglaube“ als „freies Annehmen“ auf die Realität dieser der Vernunft „abgenötigten Voraussetzungen“ zielt.298 Die in dem „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ sich manifes tierende spezifische Sinnintention der Hoffnungsfrage führt demnach darauf, dass allein Gott als die jenem „unbedingten Vernunftbedürfnis“ angemessene „ratio sufficiens“ und auch als letzter „terminus ad quem“ dieses auf den „Endzweck der Schöpfung“ gerichteten „Hoffens“ genügt, also nur so „mit Grunde [zu] hoffen“ ist. Folglich kann, in einer noch näher zu differenzierenden Weise, die Idee „Gottes“ nunmehr auch erst als ein „Gott der Hoffnung“ besondere Gestalt gewinnen und als „zur Religion tauglich sein“ (VI 106, Anm.). Auch der zentralen These der „Religionsschrift“ wäre andernfalls keineswegs Genüge getan, dass nämlich die Hoffnung auf die Realisierung dessen, „was … der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (IV 652)299 ihren hinreichenden – und d. h. der praktischen Weltstellung des Menschen angemessenen – Grund ausschließlich in der Idee eines „machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen“ (ebd.) findet und allein so dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ zu genügen vermag. So bestätigt sich: „Anstatt die Hoffnung im Glauben zu begründen, stellt Kant die Basis des Glaubens als eine Form der Hoffnung dar.“300 Es ist das unstillbare „Bewusstseins der fragenden Vernunft“ und die Erfahrung des „moralischen Unvermögens“, worin die Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“ begründet ist; somit ist es der „Glaube dieser Hoffnung“, der in diesem dem Postulat des „Daseins Gottes“ innewohnenden Anspruch seinen „terminus ad quem“ artikuliert.301 Deshalb ist es auch sehr gekeit des dergestalt „Erhofften“ gerichtet ist. Kants Kennzeichnung der „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ (IV 252 f ) entspricht dem genau, sofern diese die theoretischen Voraussetzungen „vernünftiger Hoffnung“ thematisieren. – Es ist freilich nicht zu übersehen, dass Kant das Verhältnis bzw. die genauere Bestimmung von „Glaube und Hoffnung“ mitunter doch unterschiedlich akzentuiert hat. 298 Es ist in diesem genauen Sinne zu nehmen, dass Kant (in diesbezüglicher Gefolgschaft Descartes’) allein das „Dasein Gottes“ und das „künftige Leben“ als die „zwei Glaubensartikel“ (II 695) (bzw. „Kardinalsätze“) bezeichnete, während die „Hoffnungsfrage“ hingegen „vorgängig“ auf das „höchste Gut“ zielt. Eine bemerkenswerte spätere Formulierung Kants im „Gemeinspruch“-Aufsatz macht dies besonders deutlich: Weil auf das „höchste in der Welt mögliche Gut“ nach „allem Vermögen hinzuwirken“ zwar geboten, jedoch nicht einfach „in unserer Gewalt ist“, d. h.: zwar nicht ohne Freiheit, gleichwohl nicht „durch sie möglich ist“ (II 673) – deshalb folgt daraus, dass dies „der Vernunft den Glauben an einen moralischen Weltherrscher und an ein künftiges Leben in praktischer Absicht abnötigt“ (VI 132) und so erst, im Sinne eines solchen „Hoffnungsglaubens“, auf jene beiden gleichsam „abgenötigten Glaubensartikel“ führt. 299 Damit betrifft es eben „die Frage nach dem Zweck aller moralischen Zwecksetzung und Zweckverfolgung als solcher und also nach dem Sinn, den die Unterwerfung des menschlichen Handelns unter das Sittengesetz überhaupt hat. Dies ist die Frage nach dem Endzweck als der ‚unbedingte[n] Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts‘“ (Geismann 2004, 451). Für wichtige Hinweise zu diesen Themen danke ich Georg Geismann. 300 O’Neill 2003, 102. 301 Darin, wie auch in der kantischen Bestimmung des „Postulates der reinen praktischen Vernunft“ als eines „theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satzes, so fern er einem apriori unbedingt geltenden
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nau zu nehmen, wenn Kant das „Postulat“ der reinen praktischen Vernunft als „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz …, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich [!] anhängt“ (IV 252 f ), bestimmt. Demzufolge wäre die aus dem internen Zusammenhang von „Hoffnung“ und „Glaube“ resultierende Bestimmung des „Hoffnungsglaubens“ nunmehr auch so zu bestimmen: Die Hoffnung auf das „höchste Gut“ geht auf dasjenige, „was … der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ – gesetzt wird solches Hoffen aus den genannten Gründen zuletzt auf Gott.302 In solchem Begründungskontext wird jene kantische Bestimmung des Postulates des „Daseins Gottes“ als eine der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“ ausweisbar; gleichermaßen gewinnt die Charakterisierung des kantischen „Vernunftglaubens“ als „Hoffnungsglaube“ noch einmal an Plausibilität. In diesem „System der Postulate“ des „Vernunftglaubens“ wird Letzterer demzufolge als ein aus der Explikation der Hoffnungsfrage (als „praktisch und theoretisch zugleich“) resultierender „Hoffnungsglaube“ ausgewiesen, weil darin die „theoretischen“ Voraussetzungen der Möglichkeit „vernünftigen Hoffens“ erst postulatorisch differenziert werden müssen, d. h. jener „Hoffnungsglaube“ (im Sinne der kritischen Unterscheidung von „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“: II 601), eben nicht schon vorgängig in einem „Gegenstand in der Realität“ verankert gedacht werden kann. Ist es doch jenes darin grenzbegrifflich Gedachte, das aber erst über den aufgewiesenen HoffnungsStatus als Fundament der (eben nicht in sich selbst feststehenden) Hoffnung legitimiert wird und nur so die „Annehmung“ dieses „Gesetzten“, d. i. das zwar praktisch vermittelte Für-wahr-Halten des „Es ist ein Gott“, auch zu rechtfertigen vermag. „Für den Glauben Platz zu bekommen“ bedeutet demzufolge, ihn als unumgängliche Voraussetzung der Hoffnung auszuweisen – näherhin besagt dies, dass dieser als moralischer „Vernunftglaube“ selbst aus der Verknüpfung der „spekulative(n) Einschränkung der reinen Vernunft und der praktische(n) Erweiterung derselben“ erwächst, weil der darin sich manifestierende „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ genauer besehen den (wiederum auf dem „Primat der reinen praktischen Vernunft“ beruhenden) „Primat der Hoffnung“ fundiert, worauf die notwendigen Postulate des „Glaubens in moralisch-praktischer Rücksicht“ gestützt sind und so jenen „Vernunftideen“ erst „objektive Realität“ verleihen. Seinen
praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (IV 252 f ), und solcherart „Platz bekommt“, wird die Umkehrung der traditionellen „Glaubenshoffnung“ in einen „Hoffnungsglauben“ deutlich erkennbar, zumal in traditionellen Konzeptionen die Hoffnung in dem darin schon vorausgesetzten Glauben fundiert wird (vgl. Theunissen 1999, 258 ff ). Nach der Zurückweisung der Ansprüche der traditionellen Gottesbeweise stellt sich eben auch die Begründung des Verhältnisses von Hoffnung und Glaube anders dar – ein Umstand, dem Kant offenbar durchaus Rechnung tragen wollte. 302 Diese Postulate als – der „Vernunft abgenötigte“ – „notwendige theoretische Voraussetzungen in praktischer Hinsicht“ zielen eben (in freier Variation von Hebr 11,1) auf die Beantwortung der Frage ab: „Wie kann man auch feststehen in dem, worauf man hofft?“ – was also sind die „Voraussetzungen für das Standhalten in der Hoffnung?“ Diesbezüglich sei noch einmal auf die erhellenden Analysen von Theunissen (Theunissen 1999) hingewiesen. – Mit Blick auf Hebr 11,1 und im Verweis auf Kant betont Höhn zu Recht: „Die Sache der Religion – ‚sich festmachen in dem, was man erhofft‘ (Hebr 11,1) – bezeichnet zugleich ein Vernunftpostulat, dessen Erfüllung die Vernunft nicht aus eigener Kraft sichern kann, wohl aber voraussetzen muss, wenn sie an ihrer eigenen Sache festhalten will.“ (Höhn 2010, 52 f ).
176 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre „Platz“ und seine nähere Bestimmung gewinnt dieser „Glaube“ demnach durch die enge Verbindung der „Aufhebung“ der Wissensansprüche mit der Freilegung der Tiefenstruktur menschlicher Hoffnung sowie der Legitimation der Frage nach dem ihrem Anspruch erst genügenden Ermöglichungsgrund. Die Grundstruktur dieses „Hoffnungsglaubens“ sei rückblickend noch einmal folgendermaßen resümiert: Der moralisch begründete „praktische Endzweck“ des Menschen (also das als möglich erhoffte „höchste Gut“), der es allein vermeiden lässt, dass die Vernunft gemäß jenem „absurdum practicum“ einer „Verzweiflung der Vernunft über sich selbst“ verfällt, setzt einen „Endzweck der Schöpfung“ voraus, der selbst nur unter dieser der „Vernunft abgenötigten Voraussetzung“ des Daseins Gottes zu denken ist – eine Voraussetzung freilich, die selbst (auch der Kritik der praktischen Vernunft zufolge), wiederum auf den „problematische(n), aber doch unvermeidliche(n) Begriff … eines schlechterdings notwendigen Wesens“ verweist, der als „ratio essendi“ des „Endzwecks der Schöpfung“ ein „zur Religion tauglicher Gottesbegriff“ und so näherhin auch als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (III 636), bestimmbar wird. Ohne diesen vorausgesetzten „problematischen Begriff“ müsste auch dieser „Hoffnungsglaube“ seinen „terminus ad quem“ verlieren, der deshalb auch nicht selbst auf dem Boden der „Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch“ erwachsen und ausgewiesen werden kann. Indes, von jenem „problematischen Begriff“ und seiner erst über den „praktischen Endzweck“ möglich gewordenen Bestimmung als „höchstes ursprüngliches Gut“ (eben als „Urquell alles Guten in der Welt“) bleibt das Postulat des „Daseins Gottes“ als eine „der Vernunft“ für die Vernunft und ihre „Selbsterhaltung“ „abgenötigte Voraussetzung“ noch unterschieden. In dem aus dieser Gedankenfolge resultierenden Rekurs auf das „Dasein Gottes“ als einer der „Vernunft abgenötigten Voraussetzung“ ist das kantische Motiv des „Primats der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ mit jener frühen „subtilen Unterscheidung“ zwischen dem „Gegenstand schlechthin“ und dem „Gegenstand in der Idee“ (II 583), die das „kritische Geschäft der reinen Vernunft“ vollendet hat, in eigentümlicher Weise vereint. Jener „grenzbegrifflich“ dennoch als unverzichtbar angesehene „Gegenstand schlechthin“, der sich nicht in dem „Gegenstand in der Idee“ aufhebt, kehrt so im Grunde über diesen unvermeidlichen Umweg wieder und gewinnt dergestalt auch einen neuen Status: Der „Gegenstand schlechthin“ kann also nur über die „praktische Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ als eine solche der Vernunft „abgenötigte Voraussetzung“ thematisch werden – eine Voraussetzung, in der die „spekulative Vernunft“ eine Begrenzung erfährt und so das „kritische Geschäft“ vollendet; dies verweist auf einen besonderen Aspekt der „objektiven Realität“, während jener „Gegenstand in der Idee“ selbst erst über die „praktischen Vernunftansprüche“ „objektive Realität“ erhält, sofern die spekulative Gottesidee so als ein „Begriff von Gott“ bestimmbar wird, „der für die Religion tauglich“ ist (VI 106 Anm.). Erst darin hat die der „Einheit der Vernunft“ und gleichermaßen ihrer „Selbstbegrenzung“ Rechnung tragende Begründungsfigur ihren systematischen Abschluss gefunden.
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3.1.2. „Wir glauben gern, was wir wünschen“ (Kant): Weshalb die Hoffnung auf „ein durch Vernunft [!] notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“ dennoch kein bloßes „Wunschdenken“ ist Nicht zuletzt legen die Einwände, die gegen jenen von Kant erhobenen Anspruch einer gebotenen Beförderung des „höchsten Gutes“ häufig erhoben wurden, die nochmalige Erinnerung daran nahe: Als Begehrungsvermögen eines „vernünftigen Weltwesens“ ist „praktische Vernunft“ überhaupt auf das „höchste Gut“ bezogen, das den „ganzen Zweck“ eines „vernünftigen Weltwesens“ ausmacht, d. h. „was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d. i. gut und nützlich ist“ (II 675), also „im Ganzen seiner Existenz … [seinem] Wunsch und Willen“ (IV 255) entspricht. Solche Aussicht bleibt damit freilich dem unverrückbaren Maßstab des moralischen Gesetzes als der „einschränkenden Bedingung“ der „reinen praktischen Vernunft“ unterstellt und qualifiziert das dadurch bestimmte Handeln dieser umgreifenden Perspektive zufolge als „obers tes Gut“ („bonum supremum“), der sich auch jene Kennzeichnung des Moralischen als „Glückswürdigkeit“ verdankt. Solche „Glückswürdigkeit“ besagt, genauer besehen, freilich nicht mehr als die erforderliche moralische Verankerung, ohne die für ein „vernünftiges Weltwesen“ von einem „höchsten Gut“ nicht die Rede sein kann. Bezüglich des Stellenwerts bzw. der spezifischen Sinnintention dieser Frage „Was darf ich hoffen?“ ist auch daran zu erinnern, dass sich „ein ‚eigenes‘ höchstes Gut unabhängig von dem aller anderen vernünftigen Weltwesen nicht einmal denken“ lässt,303 weil die Idee des „höchsten Gutes“ „notwendig das je eigene und das aller anderen Vernunftwesen“ enthält. Denn: „In einer Freiheitsgesetzen gehorchenden ‚Natur‘ wird das höchste Gut notwendig ineins und zumal als das je eigene und das aller anderen Vernunftwesen verwirklicht. Und Triebfeder eines dieses Gut befördernden Willens ist gar nicht der Zweck der Glückseligkeit, sondern die Pflicht der Beförderung einer Welt proportionierter, also unter der Bedingung der Sittlichkeit stehenden allgemeinen Glückseligkeit.“304 Eben deshalb muss nach Kant gelten: „Wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muss) zu befördern suchen“ (IV 255) und dürfen sodann auch hoffen, dass die „eigene Glückseligkeit“ in der beförderten „allgemeinen Glückseligkeit“ mitenthalten ist; 303 Geismann 2000, 458. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass Kants Bestimmung der „allgemeinen Glückseligkeit“ als „Hauptzweck“ (II 709) sich darauf bezieht, dass allein durch das primär negative, „Irrtümer verhütende“ (II 670) Zensoramt der Metaphysik die Wissenschaft ihre Aufgabe erfüllt, d. h. wohl sich auf ihre Ansprüche, aber auch auf ihre immanenten methodischen Grenzen besinnt, die sie gleichermaßen vor einem Szientismus und vor vermessenen Verheißungen bewahren – Themen, die ohnehin der Sache nach in der berühmten „Aufhebung“ des Wissens, „um für den Glauben Platz zu bekommen“, angesprochen sind. 304 Geismann ebd. – Vgl. auch Refl. 6971 (AA XIX, 216 f ): „Die Glückseligkeit, die aus der Beziehung von allem in der Welt auf den Privatwillen der Person nur möglich ist, ist auch nur möglich … nach einer Idee. Darin aber muss doch auch jedermanns Privatwille enthalten sein, folglich wird ein allgemeingültiger Wille nur den Grund der Versicherung der Glückseligkeit abgeben können; also können wir entweder gar nicht hoffen glücklich zu sein, oder wir müssen unsere Handlungen zur Einstimmung mit dem allgemeingültigen Willen bringen. Denn alsdenn sind wir nach der Idee, d. i. der Vorstellung des Ganzen, allein der Glückseligkeit fähig, und weil diese Fähigkeit eine Folge unseres freien Willens ist, derselben würdig. Der Umfang unserer Glückseligkeit beruhet auf dem Ganzen, und unser Wille … wird dem originario substituiert werden müssen“.
178 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre folglich muss auch die gebotene „Beförderung des höchsten Gutes“ als ein selbst schon moralische Gesinnung voraussetzendes – deshalb „moralisches“ – „Bedürfnis“ verstanden werden,305 das als ein solches weder mit „Vernunfterkenntnis“ noch mit einem „moralisch Gebotenen“ im engen Sinne gleichgesetzt werden darf. In jener im praktisch-moralischen Stand-Nehmen realisierten „Subjekt-Perspektive“ (bzw. dem sich darin manifestierenden Interesse) zeigt sich erneut: Die – gemäß jenem „Glaube(n) an die Tugend, als das Prinzip in uns“ (III 632) – schon der Moralität als dem „obersten Gut“ innewohnende endzweck-orientierte Frage „Was soll ich hoffen?“ stellt in diesem Sinne lediglich die Voraussetzung für die im engeren Sinne religionsbegründende Frage: „Was darf ich hoffen?“ dar. Erst solche „Denkungsart“ legt nämlich die Rücksichtnahme darauf nahe, dass das an jener Idee des „höchsten Weltbesten“ orientierte „vernünftige Weltwesen“ sich auch zu jener „Willensbestimmung von besonderer Art“ berechtigt wissen darf und solcherart, wie sich erweisen soll, auch erst dem unbedingten, in dem „moralischen Gesetz“ wurzelnden „Vernunftbedürfnis“ (IV 278, Anm.) genügt. Erneut erweist sich: Die diesbezügliche Hoffnung zielt also allein darauf ab, dass die „gelingende Existenz“ des Einzelnen selbst in jener „Totalität des Gegenstandes der praktischen Vernunft“ aufgehoben ist; sie darf deshalb nicht als bloß illusions-verdächtiger bzw. selbstbezüglicher Wunsch abgetan werden, sondern wäre wohl nur um den Preis einer affirmierten Sinnwidrigkeit als „sein sollend“ zu negieren, ohne dass dabei beanspruchte „Einsicht“ das darin leitende „Vernunftbedürfnis“ verdrängt werden könnte. Im Blick darauf sei noch einmal die alles bloße „Wunschdenken“ abweisende Pointe dieser kantischen Argumentation vergegenwärtigt, die auch der in der Postulatenlehre maßgebenden existenzialanthropologischen Umsetzung der Idee der „moralischen Welt“ entspricht: Es ist das dieser Vernunftidee immanente Maß, das – allem Wunschdenken zuwider – den Einzelnen solcherart mit der möglichen Konsequenz konfrontiert, dabei jedoch „für seine Person an Glückseligkeit sehr einzubüßen“ (vgl. IV 652). Denn, wie schon erwähnt, gerade das darin zu „befriedigende“ Vernunftbedürfnis kann nicht darüber hinwegsehen lassen, dass jene „Idee der praktischen Vernunft“ (IV 150) doch gleichermaßen die Provokation des „Sich-in-Frage-gestellt-Wissens“ impliziert; ohne das Bestreben, ein „Gott wohlgefälliger Mensch“ zu sein (IV 725, Anm.), wäre dieses von bloß infantilem Wunschdenken (einem bloßen „Bedürfnisglauben“) nicht zu unterscheiden. Schon deshalb muss jene ersehnte „Befriedigung der Vernunft“ und die daran geknüpfte „Hoffnung“ stets eine solche mit „Furcht und Zittern“ (vgl. IV 722) bleiben und führt so die menschliche Freiheit selbst vor unabweisliche Fragen und „Geheimnisse“ (IV 805), die zwar aus ihr selbst entspringen (s. u. V., 3.3.) und sie dennoch „ins Stocken“ geraten lassen. Das noch vom späten Kant eingeschärfte Anliegen, die religiöse „Hoffnung“ nicht einfach als eine solche „eines künftigen“ Lebens, sondern als eine solche auf „ein durch Ver305 Und nur deshalb kann es „der Vernunft [!] doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserem Rechthandeln herauskomme“ (IV 651); vgl. dazu noch einmal die o. in III., Anm. 81 u. 218 angeführte Reflexion 6451. Es ist jene „Willensbestimmung von besonderer Art“, die als moralisch verankerte „Gesinnung“ über diese hinaus verweist: „Das Dasein Gottes anzunehmen ist die Folge des moralischen Gesetzes und der Gesinnung nach demselben; denn nur durch diese wird das höchste Gut Obiekt des Willens“ (Refl. 6107, AA XVIII, 455).
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nunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“ (III 412) anzusehen, zielt nicht nur darauf ab, auch in solcher Hinsicht Religion als „Vernunftsache“ (VI 338) auszuweisen – und damit insbesonders darauf, dass doch nur eine solche Hoffnung eines „vernünftigen Weltwesens“ würdig ist (und als solche bezeichnet zu werden verdient). Eine nur auf den ersten Blick paradoxe Konsequenz daraus, die gerade auch in den späteren Texten Kants (in Abwehr allen Wunschdenkens“) besonders herausgestellt wird, ist dann freilich dies: Sinn-orientierte Hoffnung zielt darauf ab, dass die existenz-orientientierenden praktischen Vernunftideen „Sinn und Bedeutung“ haben – eben dies impliziert gleichwohl die moralische „Aufmerksamkeit“ für die damit durchaus verträgliche „Gefahr“, dabei „für seine Person an Glückseligkeit sehr einzubüßen“ (IV 652). Nur so bleibt diese Hoffnung, wie Kant ausdrücklich betont, eine solche auf „ein durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“ und verkommt nicht zu einer selbstbehauptungs-fixierten (wunschbesetzten) bloßen „Hoffnung eines künftigen Lebens“ (III 412). Billiger bzw. „bequemer“ ist nach Kant eine moralisch verankerte Hoffnung jenseits eudämonistischer Kalküle jedenfalls nicht zu haben. In diesem Sinne wäre „Geist“, nunmehr auch in einer „religiösen“ Bedeutung, als das diesbezüglich „belebende Prinzip im Menschen“ zu verstehen – in schärfster Abgrenzung zu jenen von Kant so energisch kritisierten spirituellen „Kraftmännern“ (bloßen „Psychikern“) und den sie beseelenden „Triebfedern“ und „Bedürfnissen“; demgemäß ist der „in alle Wahrheit leitende Geist Gottes“ nach Kant eben „derjenige, der, indem er uns belehrt, auch zugleich mit Grundsätzen zu Handlungen belebt“ (IV 773). Zur Erinnerung: Auch die Pointe jener These, dass ein „vernünftiges Weltwesen“ jenen „Endzweck“ eben nicht nur hat, sondern daran auch ein vernunft-verankertes Interesse nehmen soll, war ja dies, dass dies eben deshalb gelten muss, weil der Mensch – und zwar infolge dieses Endzwecks selbst! – sich durchaus auch für sich selbst mit der „Aussicht“ konfrontiert wissen muß, vor dem an den Maßstäben der praktischen Vernunft orientierten „Gericht“ über das Ganze seiner „moralischen Lebensgeschichte“ nicht zu bestehen306 – eben darauf geht die Hoffnung eines „vernünftigen Weltwesens“ auf eine „Bewandtnis“ der ganzen „moralischen Lebensgeschichte“, die deshalb notwendig das fortwährende Streben nach moralischer Vervollkommnung impliziert. Andernfalls wäre die diesem „Hoffnungslogos“ innewohnende „moralische Zweckmäßigkeit“ verfehlt, d. h. auch nicht den Ansprüchen der Idee der „moralischen Welt“ angemessen. Der in Kants Unterscheidung zwischen „moralischer“ und „moralisch konsequenter Denkungsart“ verankerte „moralische Wunsch“ und zuletzt auch sein Rekurs auf eine „Willensbestimmung von besonderer Art“ indizieren genau dieses Begründungsverhält306 In diesem Sinne gewinnt Kants Reflexion (über Moralphilosophie) einen genauen Sinn und bestätigt zugleich, wie wenig es Kant dabei um bloßes Wunschdenken zu tun ist: „Der moralische Beweis sagt nicht, dass die Seele künftig leben werde, sondern dass der Rechtschaffene nicht vermeiden [!] könne, dieses anzunehmen und wenigstens als möglich anzusehen“ (Refl. 5475, AA XVIII, 193) – also durchaus „mit Furcht und Zittern …“. Andernorts betonte Kant in diesem Sinne, dass das „Räsonnement“ des „moralischen Vernunftglaubens“ durchaus „etwas anzunehmen gebieten“ kann, „was der Mensch selbst sich nicht wünschen mag“ (zit. n. Blumenberg 2006, 645). „Hoffnung“ orientiert sich eben durchaus an einem „durch Vernunft … notwendig vorauszusetzende(n) künftige(n) Leben“ (III 412).
180 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre nis. Diese moralisch qualifizierte „Willlensbestimmung von besonderer Art“ wird noch einmal besonders deutlich in seinem späteren Hinweis auf die Orientierung an der „Idee jenes Zwecks … wozu uns eine Pflicht obliegt“ (IV 478). Also allein unter jener Voraussetzung bzw. Affirmation, dass „das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“, ist (jenseits eines „moralischen Egoismus“) die Rücksicht darauf erlaubt, ob man denn hoffen dürfe, auch selbst der „Glückseligkeit teilhaftig“ zu werden. Es ist also nicht nur die „an den Grenzen der bloßen Vernunft“ aufkeimende Zuversicht des um einen tugendhaften Lebenswandel bemühten „Rechtschaffenen“, dass im Blick auf das „Ganze“ seiner „moralischen Lebensgeschichte“ die stets „im Wandel befindliche“ und doch „fragmentarisch“ bleibende moralische Lebensgestalt end-gültig für ein „Ganzes“ genommen wird. Schon gegenüber zeitgenössischen Einwänden wurde von Kant selbst – mit Verweis auf jene zu beachtende „Ordnung der Zwecke“ – geltend gemacht, dieses Vernunftbedürfnis keinesfalls mit einem bloßen „Privatbedürfnis“ zu verwechseln, d. h. damit auf eine Stufe zu stellen (vgl. IV 278, Anm.). Freilich: Darauf, dass die eigene Glückseligkeit in der Idee der zu befördernden „allgemeinen Glückseligkeit“ als dem „Ideal des höchsten Gutes“ „mitenthalten ist“, darf gemäß dieser zu wahrenden „Ordnung der Dinge“ gehofft werden – eine häufig ignorierte Akzentuierung der Hoffnungsfrage.307 Dies entspricht solcherart jener „Denkungsart“, die in jenem von Kant oftmals beigezogenen „Rechtschaffenen“ eine exemplarische Verkörperung gefunden hat und in dieser bestimmten Hinsicht seine (andernfalls freilich irreführende) These rechtfertigen soll, es sei „moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen“ (IV 256) – eine deshalb als „subjektiv, d. i. Bedürfnis“ charakterisierte „moralische Notwendigkeit“, weil sie eben die „Erste-PersonPerspektive“ der „moralischen Selbstvergewisserung“ als „Standpunkt“ voraus-setzt. Die Verankerung in der umgreifenden Perspekte der „allen sittlichen Gesetzen“ gemäßen „moralischen Welt“ bleibt jedenfalls zu beachten, wenn die – durchaus differenzierungsbedürftige – Frage „Was darf ich hoffen?“ vor eudämonistischen Schwundstufen und praktisch-„solipsistischen“ Missverständnissen bewahrt bleiben soll. Kants Wachsamkeit dafür, dass sich die Hoffnungsfrage allzu leicht auf eine mehr oder weniger subtile Wiese in ein bloßes „Prinzip der eigenen Glückseligkeit“ verkehren könnte, wird übrigens auch aus seiner (in der „zweiten Kritik“ ausgesprochenen) treffsicheren Charakterisierung der Verkehrung des Gebots der Nächstenliebe sichtbar, zu dem das „Prinzip der eigenen Glückseligkeit, welches einige zum obersten Grundsatz der Sittlichkeit machen wollen“, freilich in einem „seltsamen Kontrast“ stehe: „Dieses würde so lauten: Liebe dich selbst über alles, Gott aber und deinen Nächsten um dein selbst willen“ (IV 205, Anm.). Von jener pflicht-begründeten Orientierung an der „allgemeinen Glückseligkeit“ als dem „höchsten Gut“ aus betrachtet gewinnt mithin jenes frühe Argument, dass, wer „sich 307 In diese Richtung weist wohl auch die Bemerkung von F. Ricken: die Postulatenlehre „antworte auf die engere und strengere Frage ‚Was soll ich hoffen?‘, während die „Religionsschrift“ auf die weitere Frage antworte ‚Was darf ich hoffen?‘“ (so F. Ricken in seiner Einleitung zu F. Ricken/F. Marty 1992, 12); in diesem Sinne wurde von dem im engeren Sinne so verstandenen „Vernunftglauben“ der auf die Ergänzung unseres „moralischen Unvermögens“ abzielende „moralische Glaube“ unterschieden.
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als der Glückseligkeit nicht unwert verhalten hatte“, auch müsse „hoffen können, ihrer teilhaftig zu werden“ (II 683), einen unverdächtigen Sinn und verleiht so der gemäß der Übereinstimmung von „Tugend und Glückseligkeit“ verstandenen Kennzeichnung des „höchsten Gutes“ als eines „abgeleiteten“ noch einen besonderen Akzent. Dies verbietet ebenso eine Engführung dieses „abgeleiteten höchsten Gutes“ und stellt so das Programm einer „Kritik der praktischen Vernunft“ vor die Aufgabe, auch diese Idee des „höchsten Gutes“ im Sinne jener Idee der „moralischen Welt“ als „praktischen Endzweck“ und „Endzweck der Schöpfung“ näher zu differenzieren, weil allein dadurch ein zureichendes Verständnis dieses „höchsten Gutes“ – als ein in durchaus mehrfachem Sinne „abgeleitetes“! – zu erzielen ist. Dabei wird freilich auch jene in der „Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft“ maßgebende Orientierung an der „natürliche(n) und notwendige(n) Verbindung zwischen dem Bewusstsein der Sittlichkeit, und der Erwartung einer ihr proportionierten Glückseligkeit, als Folge derselben“, auch insofern als eine bloß „vorläufige“ ausgewiesen, weil die Eigenart dieses spezifischen HoffnungsAnspruchs alle lediglich zukunfts-orientierten „Erwartungshorizonte“ sprengt.308 Auch diese Überlegungen lassen keinen Zweifel darüber zu, dass Kant nicht erst religionskritisch darüber belehrt werden musste: „Wir glauben gern, was wir wünschen“ (III 503).309 Von solchem leicht entlarvbaren „Wunschdenken“ bleibt indes der Anspruch des (freilich nicht mit theoretischer Einsicht zu verwechselnden) „in einem objektiven Bestimmungsgrunde des Willens“ verankerten „Vernunftbedürfnisses“ noch ganz unberührt.310 Freilich, wenn das im Moralischen verankerte (obgleich darüber hinausweisende) „höchste Gut“ von vornherein als unmöglich erwiesen wäre, so wäre der „ganze Gegenstand der praktischen Vernunft“ in Wahrheit doch bloß „eingebildet“; und nur in diesem Sinne wäre die als Voraussetzung dieses „vollendeten Gutes“ fungierende „Mo308 Die „handlungssinn“-konstituierende und selbsterhaltungs-orientierte „überlegte Erwartung des Künftigen“ (VI 90) ist deshalb von der auf das „gelingende Ganze einer Lebensgeschichte“ begründeten Hoffnung auf „ein durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“ (III 412) unterschieden. Ebenso bleibt die „einzige tröstende Aussicht“ darauf, in der „Nachkommenschaft zu leben, die es vielleicht besser haben, oder auch wohl, als Glieder einer Familie, ihre Beschwerden erleichtern könnten“ (VI 90), von dieser der Weltstellung des Menschen als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ genügenden Hoffnungsfrage abzugrenzen. 309 Vgl. die für die ersten 1790er-Jahre datierte Reflexion 2503 (AA XVI, 395 f ): „Glaube – was ich wünsche, glaube ich gern, wenn ich nur Grund dazu hätte (aber darum nicht leicht, sondern ich suche mich zu überreden, daß ich es auch hoffen könne, welches in praktischer gebotener Absicht gut ist.). – Ist es aber Pflicht es zu wünschen (denn zu glauben gibt es keine Pflicht), so habe ich Recht es zu glauben, wenn ich kann. – Kann ich aber es nicht glauben (z. B. das künftige Leben), so habe ich doch Grund genug so zu handeln, als ob ein solches bevorstände. – Also gibt es einen in praktischer Absicht hinreichenden Grund zu glauben, wenn gleich der theoretische für mich unzureichend ist, und, was den letzteren betrifft, so mag ich immer zweifeln.“ Hier klingt unüberhörbar auch das Motiv des „Zweifelglaubens“ an. Schon in der frühen Refl. 7060 (XIX, 238 f, datiert für die Jahre 1776–1778) grenzte Kant die „Hoffnung der Glückseligkeit von phantastischen Aussichten“, vom „kindischen Leichtsinn leerer Hoffnung“ ab. 310 Vgl. Refl. 2508, AA XVI, 398: „Der Wille hat keinen unmittelbaren Einfluß aufs Fürwahrhalten, das wäre auch sehr ungereimt.“ Damit korrigiert schon diese ebenfalls sehr frühe Reflexion jene zunächst von Kant verteidigte „Ungereimtheit“, die in jenem frühen Bild von der parteilichen „Verstandeswaage“ zum Ausdruck kommt, weshalb sich auch schon die daran geknüpfte Auskunft: „Wir glauben gern, was wir wünschen“ (ebd., vgl. III 503), gegen seine eigene frühe Auffassung richtet.
182 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre ralität“ – nämlich im Sinne der vermeintlichen „Glückswürdigkeit“! – als „chimärisch“ anzusehen. Gerade weil auch Kant jene Einsicht nicht verborgen blieb, dass „wir gern glauben, was wir wünschen“, wehrte er sich jedoch sehr entschieden dagegen, jenes moralisch inspirierte „Bedürfnis“ der „fragenden Vernunft“ einer sinn-nivellierenden psychologisierenden Relativierung preiszugeben.311 Der notwendigen „Entpsychologisierung“ der Hoffnung entspricht diejenige des „Glaubens“ und seines Geltungsanspruchs; in jenem beanspruchten Aufweis der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“ brachte Kant solche „Entpsychologisierung“ auch gegen vordergründige Entlarvungsansprüche einer sich selbst missverstehenden „Aufklärung“ zur Geltung – geradezu als Ertrag einer hinreichend „aufgeklärten Denkungsart“, die ein bewusstes Leben auch erst umfassend zu orientieren vermag und eben deshalb, wie erwähnt, von dem Bezug auf die „wahren und notwendigen Zwecke der Vernunft“ gerade nicht „abstrahieren“ kann (s. o. I., 2.2.2.).312 311 Es ist beachtenswert, dass die Ablösung dieser zwar nicht unsympathischen, aber eben doch auch nicht unproblematischen „psychologischen Argumentation“ durch die spätere Konzeption des differenzierten Vernunftinteresses eine recht genaue – und denkwürdige – Entsprechung in Kants Verständnis bzw. in seiner Wiedergabe des Terenz’schen „Homo sum. Nihil humani a me alienum puto“ findet. Es hat sich schon gezeigt: Die dem praktischen Vernunftinteresse verpflichtete Version: „Ich bin ein Mensch. Alles, was Menschen widerfährt, trifft auch mich“ (IV 598), ist an die Stelle jenes – gewissermaßen bloß „selbst“-besorgten – Erschreckens darüber getreten, das sich in seiner frühen Version des „Ich bin ein Mensch …“ verrät – eine Differenz übrigens, die vielleicht auch in derjenigen zwischen dem bloßen (empirischen) „Interesse Haben“ und dem (moralischen, und in diesem bestimmten Sinne gleichsam interesse-losen) „Interesse Nehmen“ wiederzuerkennen ist. Die frühe (und später bemerkenswerterweise verabschiedete) Lesart: „Ich bin ein Mensch, und was Menschen widerfährt, kann auch mich treffen“ (AA II, 40) – steht offenbar eher der primär für die eigene „Schicksalsanfälligkeit“ sensiblen Lesart des auch in der Stoa geläufigen: „Homo, qui in homine calamitoso est misericors, meminit suo“ nahe (Publilius Syrus, zit. n. Hinske 1999, 53 Anm. 13), nahe, die ihrerseits wohl auf die aristotelische affektorientierte Mitleidskonzeption (vgl. Rhetorik 1385 b 13 ff ) zurückgeht und primär aus der Betroffenheit bzw. Irritation darüber herrührt, es könnte ja schließlich auch einem selbst jederzeit ein ähnliches Schicksal widerfahren. Dass Kant diese verkürzende Lesart dieses Diktums ansatzweise freilich schon in den wenige Jahre später erschienenen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ korrigiert hat, zeigt der o. I., Anm. 396 zitierte Passus (I 841). – Während jene frühe Version offenbar der noch in Hobbes’ Mitleid-Verständnis maßgebenden Irritation durch die „Vorstellung, dass das fremde Unglück einem selbst zustoßen könnte“ (Hobbes 1966, 158) durchaus nahesteht, ist vermutlich diese spätere Version des „Ich bin ein Mensch; alles was Menschen widerfährt [!], das trifft auch mich“ (der Kant noch in der „Metaphysik der Sitten“ folgt: IV 598), nicht nur dem geliehenen Licht der durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchteten praktischen Vernunft“ geschuldet (VI 186), sondern von einer ganz bestimmten Lesart der Leibniz’schen „harmonia universalis“ inspiriert, „wonach jeder kleinste Vorgang Aus- bzw. Rückwirkungen auf das Ganze hat (wie die Ozean-Welle)“ (Leibniz 1968, § 9). Entsprechend bliebe der bei Leibniz maßgebende Gottesgedanke aufzunehmen: „Nun kann nur Gott … Ursache dieser wechselseitigen Entsprechung sein und schöpferisch bewirken, dass das, was einem Einzelnen zugeordnet ist, allen gemeinsam ist. Anders gibt es keine gemeinsame Welt“ (Leibniz 1906, 14). Bei Leibniz wird „fatum“ als „harmonia universalis“ bestimmt: „Fatum“, „id est per harmoniam rerum“; „… denn es kommt auf dasselbe heraus, ob etwas durch Schicksal oder Los oder wegen der Universalharmonie geschieht“ (Leibniz 1967, 93) – obgleich bei Leibniz die nähere Differenzierung des Schicksals-Begriffs eine wichtige Rolle spielt (s. dazu die Einleitung zu seiner „Theodizee“). 312 Gemäß einer solchen Verbindung der von Kant vollzogenen „Entpsychologisierung“ der Hoffnung und des Glaubens und der Verknüpfung mit der „Selbsterhaltung der Vernunft“ im Sinne der Aufklärung der Vernunft über sich selbst erweist sich eine Notiz von Ch. Türcke durchaus als „kantianisch“: „Den religiösen Kinderwunsch noch in seinen verstohlensten Formen als unausrottbares Moment des Denkens
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3.1.3. Kants Kritik des „Vernunftunglaubens“: Eine sich selbst widerstreitende „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis“ Es hat sich schon gezeigt: Dass mit „Schöpfung“ von Kant nicht bloß die „Faktizität“ bzw. „Ursache des Daseins einer Welt“ bezeichnet wird, sondern für den als „Endzweck der Schöpfung“ existierenden Menschen diese „Schöpfung“ zudem unter dem Anspruch der praktischen Idee einer „moralischen Welt“ steht – und es besser sei, dass eine in solchem Sinn-Anspruch stehende Welt „ist“, als dass sie nicht sei –, ebendies stand vermutlich auch der kantischen Affirmation, „dass eine Welt überhaupt existiere …“ (IV 652), vor Augen. Es lässt sich, so Kant, nicht mit Zustimmung denken (d. h. eben: in moralisch begründeter Weise nicht „wollen“), dass eine Welt, in der von einem „Soll die Rede ist“, d. h. Moralität in ihr möglich und auch wirklich ist, besser nicht sein sollte und ihr eine von normativen Ansprüchen freie „Faktenaußenwelt“ als „endzweck-lose“ Wüste vorzuziehen sei. In negativer Wendung (und in Anlehnung an eine andere einschlägige Argumentation Kants) wäre dies vielleicht auch so zu formulieren: „Dass keine Welt existiere“, dies kann – wenn denn in unbedingten „Sollensansprüchen“ stehende „vernünftige Weltwesen“ wirklich sind – nicht gewollt (d. h. nicht mit Zustimmung gedacht) werden, eben weil „Moralität“ sein soll, somit aber auch die in dieser „moralischen Denkungsart“ begründete vernunft-bestimmte Aussicht auf das „höchste Gut“ gemäß der Idee der „moralischen Welt“; „dass keine Welt existiere“ wäre demnach nicht nur mit dem „moralischen Glauben an die Tugend“ unverträglich, sondern liefe auf eine besondere Form des „Vernunftunglaubens“ hinaus – gewissermaßen auf eine Negation der Vernunft im Namen der Vernunft, d. i. auf eine potenzierte Gestalt einer „Verzweiflung der Vernunft an sich selbst“ (vgl. III 668). Analog zu einer schon erwähnten kantischen Argumentation (vgl. VI 133 Anm.) wäre zu sagen: Dass, wenn dieses „vernünftige, aber endliche Wesen“ gemäß jenem „Faktum der Vernunft“ in unabweislichen moralischen Anspüchen steht, dann ist daran, im Sinne jener „praktischen SinnFaktizität“ als „Faktum der Vernunft“, ebenso „moralisch konsequent“ dieser „praktische Endzweck“ geknüpft; als „schlechterdings notwendig“ sei er deshalb, so Kant, in solcher Hinsicht auch nicht „gewählt“ und könnte auch nur um den Preis der Selbstaufgabe der Vernunft negiert werden – deshalb führt die gestufte „moralische Denkungsart“ auf jenes „ich will, dass ein Gott … sei, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt“ (IV 278). Dass die in der „moralischen Denkungsart“ begründete Verweigerung, dem Gedanken, es sei keine „moralische Welt“, zuzustimmen, indes selbst noch „vernünftigerweise“ an Bedingungen geknüpft ist, verweist so direkt auf Kants Befund über die immanente Widersprüchlichkeit des „Vernunftunglaubens“ bzw. des „absurdum practicum“ (III 282). Diesen „Vernunftunglauben“ charakterisierte er näherhin als jenen „missliche(n) aufzuspüren und in Vernunft zu übersetzen: das ist Aufklärung.“ (Türcke 1992, 12) Ebendies liefe nämlich auf nichts anderes als darauf hinaus, „als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen?“ Dies bedeutet, „sich seiner eigenen Vernunft bedienen“, d. h. ist „Aufklärung“ (III 283 Anm.).
184 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Zustand des menschlichen Gemüts, der [wenigstens] den moralischen Gesetzen … alle Kraft der Triebfedern auf das Herz, mit der Zeit so gar ihnen selbst alle Autorität benimmt, und die Denkungsart veranlaßt, die man Freigeisterei nennt“ (ebd.).313 Dies ist auch der Hintergrund für sein später sogenanntes „argumentum ad hominem“, das aus jener so eindringlichen Bezugnahme auf jenen „rechtschaffenen Menschen“ (V 579 f; IV 651 f ), vernehmbar wird und in seiner Radikalität über ein in der „Idee unserer Vernunft“ liegendes untröstliches „Etwas fehlt“ wohl noch hinausweist. Während nach Kant dieses Thema des Vernunftglaubens engstens mit der „Selbsterhaltung der Vernunft“ verknüpft ist314, gerate jener „Vernunftunglaube“315, mit Rücksicht auf die Ansprüche eines „vernünftigen, endlichen Wesens“, hingegen in einen unübersehbaren Selbstwiderspruch: Die solchem „Unglauben“ immanente Paradoxie wird nach Kant vornehmlich darin sichtbar, dass dieser geradewegs dasjenige negieren wolle, was das praktische Vernunftbedürfnis indes ausdrücklich intendiert – nämlich den „vollständigen Zweck der praktischen Vernunft“, ohne die wiederum die „Selbsterhaltung der Vernunft“ nicht zu denken wäre. Die in Berufung auf einen kritischen Vernunftgebrauch geltend gemachte Maxime des „Vernunftunglaubens“ würde also im Namen der Vernunft selbst die „Selbsterhaltung der Vernunft“ geradewegs verhindern bzw. dementieren – ebendies markiert den immanenten Widerspruch, dem zufolge derart solche „Maxime“ die Vernunft als „Vermögen der Prinzipien und der Zwecke“ als „nicht sein sollend“ zugleich negieren müsste. Ein solcher „Vernunftunglaube“ setzt als solcher den Glauben an sich einerseits selbst voraus, worin die Vernunft sich selbst als sein-sollend realisiert. Indes, wenn „Vernunft“ nur in diesen (d. i. ihren) Zwecken „sich selbst erhält“ und so eine umfassende „Existenz“-Orientierung erlaubt, dann läuft die im Namen der Vernunft (als dem „Ver313 Die Nähe dieser auf die „Triebfedern“ abzielenden, keineswegs jedoch die „Verbindlichkeit“ des moralischen Gesetzes“ berührenden Argumentation zu Rousseaus savoyischem Vikar ist nicht zu übersehen, wenn dieser betont: „Das Vergessen aller Religion führt zum Vergessen der Menschenpflichten. Im Herzen des Freigeistes war dieser Prozess schon mehr als zur Hälfte vollzogen“ (Rousseau 1963, 539); zu dieser „Triebfeder“-Funktion vgl. auch Kants Refl. 6110, AA XVIII, 457 f. – Indes, diese Bestimmung des „Vernunftunglaubens“ als „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis“ ist mit der späteren Kennzeichnung des „dogmatischen Unglaubens“ nicht einfachhin identisch; Letzterer könne „mit einer in der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime nicht zusammen bestehen (denn einem Zwecke, der für nichts als Hirngespinst erkannt wird, nachzugehen, kann die Vernunft nicht gebieten)“ (V 604); hier ist der Akzent doch wiederum anders gesetzt. 314 Schon hier klingt ein besonderer Aspekt der „teleologia rationis humanae“ im Sinne der „moralisch-teleologischen Verknüpfung“ an (die auch die durchaus verschiedenen Dimensionen des „höchsten Gutes“ expliziert). – Diese kantische Kennzeichnung des „Vernunftunglaubens“ bestätigt in solcher Hinsicht die von Adorno vertretene Interpretation: „Der Geist der Kantischen Philosophie ist eigentlich der Geist der metaphysischen Verzweiflung, und die Versuche, die er dann gemacht hat, um schließlich doch auf einem über Abgründe hinwegführenden Weg die Existenz Gottes zu retten, sind eigentlich Versuche der Rettung im emphatischen Sinn; sie sollen über diese Verzweiflung hinausweisen“ (Adorno 1973, 111). 315 Dieser „Vernunftunglaube“ bleibt auch von jenem andernorts benannten „moralischen Unglauben“ zu unterscheiden, den Kant als „Mangel des Glaubens an die Tugend“ (IV 715) bestimmt. Schon in der Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“ ist von der Aufgabe die Rede, (auch) „dem freigeisterischen Unglauben … die Wurzel“ abzuschneiden (II 35); damit ist eben dieser – eine verkehrte „moralische Denkungsart“ verratende – „Vernunftunglaube“ gemeint. Ebenso ist von Letzterem der im Namen der „Aufklärung“ erhobene („szientistische“) „Unglaube“ zu unterscheiden. Ebenso ist der „Vernunftunglaube“ von jenem sich keine „Gewissheit“ anmaßenden „negativen Glauben“ unterschieden (II 694).
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mögen der Zwecke“) erfolgende Distanzierung derselben augenfällig auf einen Selbstwiderspruch schon deshalb hinaus, weil darin praktische „Vernunft“ als „ihr eigener letzter Zweck“ (s. u. IV., Anm. 591) sich selbst aufheben müsste. Es wäre dies, in diesen Kontext übersetzt, eine ausdrücklich beanspruchte Selbstnegation bzw. ein Selbstverlust der Vernunft als „Vermögen der Prinzipien“ und der „Zwecke“ und somit auch die Bestreitung der „Realmöglichkeit“ ihres „unbedingten Gegenstandes“ – und zwar im Namen bzw. in Berufung auf die Vernunft selbst!316 Unweigerlich liefe dies auf eine Variante dessen hinaus, was Kant andernorts als „Verzweiflung der Vernunft an sich selbst“ (III 668) benannt hat. „Verzweiflung der Vernunft an sich selbst“: Eine gewiss bemerkenswerte Wendung Kants, die wohl auch dies enthält, dass die Vernunft als „Vermögen des Unbedingten“ – d. h. sowohl als „Vermögen der Prinzipien“ als auch der „Zwecke“ – nicht über etwas anderes (d. i. bloß „Bedingtes“), sondern allein „an sich selbst“ (als „Unbedingtes“) verzweifeln müsste. Jenes ausgemessene „Land der Wahrheit“ wäre als das „Reich“ dessen, was „der Fall ist“, schlechterdings alles; auch die vermeintlichen „Glieder eines Reichs der Zwecke“ wären so lediglich eines Selbstmissverständnisses – bzw. einer Selbsttäuschung – überführt. Eine „moralisch inkonsequente Denkungsart“ wäre die unvermeidliche Folge; sie ließe freilich einen „Mangel an moralischem Glauben“ (III 499) zutage treten und müsste den Menschen zuletzt „mit sich selbst inkonsequent“ machen. Dieser „dogmatische Skeptizismus“ steht so der von Kant andernorts so genannten „moralischen Ungläubigkeit“ sehr nahe – eine „Art des Unglaubens“, die eben einen „Mangel an moralischem Interesse“ verrate (III 499). Demgegenüber ist es nach Kant jedoch der jedweder „Vermessenheit“ ferne „Zweifelglaube“ und der ihn belebende „moralische Impetus“, der sich den Anmaßungen eines solchen „Vernunftunglaubens“ ebenso unbeirrbar entgegenstemmt wie er die vermeintlich fraglosen – in Wahrheit jedoch haltlosen – Ansprüche eines dogmatischen Glaubens verwirft. „Selbstwidersprüchlich“ ist jener – den Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ mit sich „inkonsequent machende“ – „Vernunftunglaube“ also nicht zuletzt insofern, als er – den Aufweis der Nicht-Unmöglichkeit des „höchsten Gutes“ vorausgesetzt – eine Implikation des ursprünglichen „moralischen Glaubens“, nämlich die Orientierung an der Idee einer „allen sittlichen Gesetzen“ gemäßen Welt (II 679), doch selbst explizit, d. h. „grundsätzlich“, negieren würde. Dies liefe in solcher Hinsicht zuletzt darauf hinaus, sich einer „moralisch konsequenten Denkungsart“ nicht nur zu verweigern, sondern deren Gegenteil geradewegs zu affirmieren, d h. sogar zum „Grundsatz“317 – das heißt zur „Maxime der Unabhängigkeit der 316 So wie zur „Beförderung des höchsten Gutes“ das sinnorientiert motivierte Bewusstsein dieser „Beförderung“ gehört, so ist die „Maxime [!] der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis“ eine motivierte Reflexionsgestalt, in der Vernunft sich gewissermaßen selbst dementiert – nicht einfach jener von Kant erwähnte „schwankende“ Zustand, in den sie mitunter gerät, sondern eine „Denkungsart“ – das gerade Gegenteil der „Selbsterhaltung der Vernunft“, eine Art „Versündigung“ der Vernunft an sich selbst. 317 Im Vorblick auf jenes später noch zu verfolgende postulatorische „ich will, dass ein Gott sei …“ und den darin enthaltenen Anspruch (s. u. IV., 3.2.) ist diese Bestimmung des „Unglaubens“ als „Grundsatz“ von Interesse: Darin ist dieses „reflektierte“ und affirmierte „Wollen“ als „performativer“ Anspruch besonders beachtenswert. Der „Vernunftunglaube“ liefe dieser kantischen Bestimmung zufolge indes auf die Maxime eines „Selbstmordes der Vernunft“ hinaus (AA XVIII, 509) und stünde, als ein solcher „Grundsatz“, zu der aufklärungs-verpflichteten Prüfung im („performativen“) Widerspruch, „bei allem dem,
186 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis“ (III 282) – zu erheben. Eben dadurch müsste das „moralische Subjekt“ mit sich „inkonsequent“ werden, im prinzipiellen Unterschied zu jenen zwar unvermeidlich widerfahrenden, ja mitunter sogar moralisch inspirierten Anfechtungen eines „Zweifelglaubens“ (V 604; s. dazu u. VI., 1.1.2). Weil also das Urteil, „dass das höchste Gut nicht existiert“, schon aus moralischen Gründen nicht auch „assertorisch gesetzt“ (vgl. III 540), also affirmiert werden kann – und überdies (mit Rücksicht auf die mitenthaltene „eigene Glückseligkeit“) einem durchaus „moralischen Wunsch“ widerspricht –, deshalb kann auch nur gewollt und gehofft werden, dass ein „höchstes Gut“ existiert, d. h. als Urteil auch „objektive Gültigkeit“ hat. In nochmaligem Blick auf die kantische Kennzeichnung des „Vernunftunglaubens“ wäre ergänzend noch anzumerken: „Unausdenkbar“318 ist die Realität der „Verzweiflung“ zwar keineswegs, jedoch kann sie nicht mit „Zustimmung“ gedacht, d. h. auch als „Grundsatz“ bejaht („so sei es“) werden, ohne dass dies dem unbedingten „UrteilenMüssen“ radikal zuwiderliefe und die Vernunft als „Vermögen der Zwecke“ sich dergestalt selbst negierte – sei es, dass sie sich darin selbst widersprechen müsste, sei es, dass sie sich die Untugend geradewegs zur Maxime machen wollte. Dass die von der Idee der „moralischen Welt“ inspirierte, auf das „höchste Gut“ als den „ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft“ zielende Hoffnung zuletzt ins Leere geht, – dies ist es, was nach Kant nicht mit Zustimmung gedacht werden darf und so auch seinen Kerneinwand gegen den „Vernunftunglauben“ markiert, der die „Zwecke der Vernunft“ und damit auch das „Interesse der Vernunft an sich selbst“ letztendlich – und eben grundsätzlich – für „eitel“ erklärt. Es wäre dies die grundsätzliche Erklärung der „Nichtigkeit“ dessen, was die an „unbedingten Zwecken“ orientierte Idee der „moralischen Welt“ als „sein sollend“ affirmiert. Die diesem „Vernunftunglauben“ nach Kant immanente Widersprüchlichkeit wäre somit auch dahingehend zu bestimmen, dass sich die in ihrer Faktizität und internen „Verfassung“ voraussetzende „Vernunft“ in ihrer Zweck-Orientierung grundsätzlich (als „Maxime“) aufheben würde. Dass die an der Idee des „mundus optimus“ orientierten moralischen Zwecke des Menschen vergeblich sind – zwar moralisch sinnhaft, ja notwendig und dennoch letztendlich bedeutungslos, prinzipiell trostlos bleiben, dies ist, weil „ungereimt“, ja „unausstehlich“, eben nicht zu wollen (also nicht mit Zustimmung zu denken, d. h. als Urteil: „so sei es“). Allein dies genügt dem im „praktischen Gebrauch der Vernunft“ verankerten „Bedürfnis“ des „Urteilen-Müssens“; Letzteres ist in der Tat gleichsam verpflichtet auf den „einen Ausdruck für die Wahrheit: den Gedanken, der das Unrecht verneint“.319 Dies impliziert sodann die Anerkennung der hierfür „mitgesetzwas man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen?“ (III 283 Anm.). 318 Damit wird natürlich indirekt auf Adornos berühmtes Diktum über die „Unausdenkbarkeit der Verzweiflung“ als das „Geheimnis der kantischen Philosophie“ (Adorno 1966, 378) Bezug genommen; vgl. dazu u. VI., 1.1.1. 319 M. Horkheimer/Th.W. Adorno 1969, 195 f. – Eben deshalb könnte sich jener von „Vernunft, Herz und Gewissen“ geleitete „Rechtschaffene“ auch nicht bei der von Fichte dem „Gläubigen“ in den Mund gelegten Auskunft beruhigen: „Ich bin ruhig bei allen Ereignissen in der Welt, – denn sie sind in deiner
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ten“ (in den „Postulaten der reinen praktischen Vernunft“ artikulierten) „notwendigen theoretischen Voraussetzungen in praktischer Hinsicht“, die in dem in dieser gestuften Begründungsordnung fundierten – „Gott-setzenden“ – „Ich will, dass ein Gott sei …“ in unüberbietbarer Zuschärfung zum Ausdruck kommt. Gewiss muss es auch als eine aus jener „Geschichte der reinen Vernunft“ gewonnene und durch nichts relativierbare Einsicht gelten, dass der unbedingte Anspruch des „moralischen Gesetzes“ von jener „Begründung“ des „Hoffnungsglaubens“ zwar noch ganz unberührt bleibt. Jedoch müsste dieses „Gesetz“ hinsichtlich der „Pflichtbefolgung“ ohne – moralisch durchaus legitimierte – sinngebende Ermutigung bleiben, wie auch Kants bemerkenswerter Verweis auf die Konsequenzen jenes „Vernunftunglaubens“ verdeutlicht. Dass die Idee des durch ein „Gesetz der Vernunft“ gebotenen Endzweckes auch dies impliziere, „dass dieser zugleich die Erreichbarkeit desselben, wenngleich ungewiss, verspreche“ (V 603, Anm.),320 weil andernfalls die im moralischen Gesetz artikulierte „praktische Bestimmung“ sich unweigerlich – zugleich – als „bloße Täuschung unserer Vernunft“ erwiese, wird erst vor diesem Hintergrund verständlich und lässt nur so auch bisweilen von Kant selbst begünstigte Missverständnisse vermeiden (s. u. IV., 3.4.). Gegenüber diesem von ihm als „mißlicher Zustand des menschlichen Gemüts“ bezeichneten „Vernunftunglauben“321 hält Kant, wie gezeigt, daran fest: Die Idee einer „moralischen Welt“ ist aus moralischen Gründen zu affirmieren und fordert deshalb die praktisch-moralische Beförderung des „höchsten Gutes“ sowie die darüber noch hinausgehende Orientierung an dem „allgemeinen Weltbesten“ (VI 189) als dem „besonderen Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (IV 651), der sich nach Kant sodann als eine an der „Idee des Ganzen aller Zwecke“ orientierte „Willensbestimmung von Welt. Nichts kann mich irren, oder befremden, oder zaghaft machen, so gewiss du lebst, und ich dein Leben schaue. Denn in dir, und durch dich hindurch, o Unendlicher, erblicke ich selbst meine gegenwärtige Welt in einem anderen Lichte“ (Fichte II, 305 f ). 320 Vgl. dazu Refl. 7059: AA XIX, 237 f. – Kant hat diesen Zusammenhang selbst unmissverständlich – obgleich mit unüberhörbarer Zurückhaltung – in seiner Bestimmung des „Dasein(s) Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft“ ausgesprochen (IV 261): „Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen. Nur denn, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein“; nach Kant kann, dies ist ein nicht selten übersehener Punkt, nur „der sich auf ein Gesetz gründende moralische Wunsch, das höchste Gut zu befördern“, es erlauben, „diese Sittenlehre auch Glückseligkeitslehre“ zu nennen, „weil die Hoffnung dazu nur mit der Religion allererst anhebt“ (IV 261 f ) – ohne dass dies freilich die Verbindlichkeit jenes moralischen Gesetzes berührt. In diesem Sinne ist auch seine Bemerkung zu verstehen: „Die Gottseligkeitslehre kann also nicht für sich den Endzweck der sittlichen Bestrebung ausmachen, sondern nur zum Mittel dienen, das, was an sich einen besseren Menschen ausmacht, die Tugendgesinnung, zu stärken“ (IV 857); s. dazu auch Kants Erörterungen darüber, dass allein durch Religion der Mensch „seines Lebens froh werden könne“ (u. IV., 3.3.). 321 Entsprechend der kantischen Lehre, dass das Böse nicht („privativ“) als bloßer „Mangel“ an Tugend zu bestimmen sei, sondern als „Untugend“ „Verkehrung des Guten“ ist (vgl. IV 668 f ), wäre der „Vernunftunglaube“ nicht bloßer Mangel an „Vernunftglauben“, sondern eben Negation desselben; in Kants Charakterisierung des „Vernunftunglaubens“ als „Maxime“ ist wohl dieses „Grundsätzliche“ angezeigt. Im „Dogmatismus der Metaphysik“, d. h. dem „Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen“, sah Kant „die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit sehr dogmatisch ist“ ((II 33).
188 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre besonderer Art“ (VI 133 Anm) zur Geltung bringt. Vor dem Hintergrund dieses „Vernunftunglaubens“ bestätigt sich erneut: Die gebotene „Beförderung des höchsten Gutes“ ist eine „praktische“, soweit sie durch „Freiheit möglich ist“; „geboten“ (und in diesem Sinne zu „befördern“) ist die „Hoffnung“ auf die Möglichkeit des „höchsten Gutes“ in dem bestimmten Sinne, dass andernfalls der „Vernunftunglaube“ als „Widerspruch der Vernunft mit sich selbst“ das letzte Wort behielte, d. h. die Vernunft als „Vermögen der Prinzipien“ und als „Vermögen der Zwecke“ an sich selbst verzweifeln müsste – und eben dies, so Kant, kann aus moralischen Gründen nicht „affirmativ“ gedacht werden. Die daran orientierte Sinnintention besagt folglich keine zusätzliche „praktische Pflicht“, sondern zielt als praxis-transzendierende Sinn-Perspektive – die deshalb jener „Willensbestimmung von besonderer Art“ genau entspricht – darauf ab, dass die Vernunft an ihren eigenen – notwendigen – Zwecken nicht verzweifeln muss. Aus „Vernunftgründen“ zu einer moralisch verankerten Hoffnung nicht allein berechtigt, sondern dazu vielmehr verpflichtet zu sein – dies ist es, was Kant jener Maxime des „Vernunftunglaubens“ und in anderer Akzentuierung auch dem Vorwurf bloßen „Wunschdenkens“ entgegenhält und überdies erklärt, weshalb ihm zufolge der „moralische [!] Mensch“ als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ diesen „Endzweck hat, und haben soll [!]“ (III 645). Über die „praktisch“-moralische „Beförderung“ gemäß dem Anspruch der „Rechts“- und „Tugendpflichten“ hinaus impliziert die „Beförderung des höchsten Gutes“ somit den sinn-affirmierenden Bezug auf die Idee der „moralischen Welt“, der die Verwerfung des „Vernunftunglaubens“ als „Maxime der Unabhängigkeit von ihrem eigenen Bedürfnis (Verzichttuung auf Vernunftglauben)“ jedenfalls gebieten muss. Damit ist nach Kant freilich nicht bestritten, dass jener aus der „moralischen Gesinnung“ entsprungene „Vernunftglaube“ nicht auch „öfters selbst bei Wohlgesinneten bisweilen in Schwanken … geraten“ könne (IV 281); indes, auch solche eingeräumte „Krisis des Vernunftglaubens“ kann Kant zufolge nicht in dem Sinne „in Unglauben“ (ebd.) führen, dass dies sich zu jener – gewählten, d. h. frei affirmierten – praktischen „Maxime des Vernunftunglaubens“ verfestigen dürfe. Der diese „fides“ beseelende spezifische Anspruch findet in dem noch späteren „durch Sittlichkeit diktierten Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht“ (d. i. der Ermöglichung des „höchsten Gutes“) (III 638) eine unverkennbare Zuschärfung; darin erhält jener kritische „Zweifelglaube“ gerade als „Negation“ der dem „Vernunftunglauben“ immanenten „Negation“ (als jene „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis“) noch einmal ein spezifischeres Profil. So bestätigt sich auch noch einmal im Rückblick auf jene gestufte Einheit des „moralischen Glaubens an die Tugend“ mit der „moralisch konsequenten Denkungsart“ sowie der darin verwurzelten kantischen Bestimmung von „fides“: Jener mit dem Offenbarwerden des „Übersinnlichen in uns“ (im vernommenen Anspruch des „moralischen Gesetzes“) gleich-ursprüngliche „Glaube an die Tugend, als das Prinzip in uns“ (als „actus“) begründet und legitimiert so auch jenen „Glauben“ als „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ (als „habitus“)322. Jener fundamentale, weil in der Idee des „Gott 322 Kants Kennzeichnung der „fides“ als „habitus“ könnte eine Herkünftigkeit aus der Tradition des Duns Scotus anzeigen: „Fides non est habitus speculativus […] sed practica“ (Johannes Duns Scotus, Über
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wohlgefälligen Menschen in uns“ verwurzelte „Glauben an die Tugend“ ist nicht zuletzt von der Ermutigung und dem Zuspruch beseelt, dass ein „richtiges Leben“ auch noch im „falschen“ möglich – und gleichermaßen zugemutet – ist. Deshalb verweist jene „moralische Denkungsart“ im engeren Sinne auf die – „moral-transzendierende“ – „moralisch konsequente Denkungsart“, die als „Vernunftglaube“ sich artikuliert und in reflexiver Gestalt sodann die Bedingungen der „Selbsterhaltung der Vernunft“ – derjenigen eines „vernünftigen, endlichen Wesens“ – expliziert. Kants „fides“-Bestimmung impliziert, jener Stufung gemäß, nicht zuletzt dies, dass jenes Programm, „für den Glauben Platz zu bekommen“, auch bedeutet, dass der „Glaube an Gott“ genauer besehen eben ein „Glaube an den Gott der Hoffnung“ ist. Eben diese der Bestimmung von „fides“ zugrunde liegende „moralisch konsequente Denkungsart“ hat Kant im späteren „Gemeinspruch“-Aufsatz explizit als jene „Willensbestimmung von besonderer Art“ ausgezeichnet (VI 133, Anm.), sofern diese sich von der „Idee des Ganzen aller Zwecke“ leiten lässt (vgl. dazu o. I., 1.3.). Die praktische Orientierung an der Beförderung der „moralischen Welt“ (dass „eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen, existiere“) ist von dem Vertrauen begleitet, dass diese als umfassendes „höchstes Gut“ gedachte „Idee des Ganzen aller Zwecke“ nicht „Chimäre“ ist, sondern als „Endzweck der Schöpfung“ „objektive Realität“ hat. Andernfalls bliebe zwar der Anspruch des „moralischen Gesetzes“ uneingeschränkt in Geltung und auch der „Glaube an die Tugend“ gefordert; dennoch wäre zugleich zugemutet, von der daran geknüpften Perspektive darauf, was der „praktischen Vernunft“ zufolge „dasein soll“ und somit von der praktischen Idee der „moralischen Welt“ – „sofern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre“ (II 679) – nicht nur im moralischen Handeln abzusehen, sondern sie auch explizit, als „phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt“, zu verwerfen. Die „Maxime des Unglaubens“ wäre die direkte Negation des „Grundsatzes der Vernunft: ihre Selbsterhaltung“; den Menschen „mit sich moralisch inkonsequent zu machen“, wäre lediglich die unvermeidliche Folge. Daraus folgt nunmehr: Als Negation der Negation des „Vernunftzwecks“, welche sich als „Vernunftunglaube“ artikuliert, realisiert („setzt“) sich die dem „Vernunftglauben“ immanente Affirmation – „affirmatio est negatio“ – in einem widerständigen „Machtspruch der Vernunft“ und erweist dieserart als „Willensbestimmung von besonderer Art“ in reflektierter Form den unzertrennlichen Zusammenhang mit der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als „Fundament des Vernunftglaubens“, in dem sich ein unabweisliches „Interesse der Vernunft an sich selbst“ behauptet und eine gestufte Entfaltung findet. Es ist die – nach Kant allein vernunftgemäße – Maxime des Vernunftglaubens, die sich als „ich will, dass ein Gott … sei“ jener widervernünftigen Maxime des Vernunftunglaubens widersetzt. Noch in der
die Erkennbarkeit Gottes. Hamburg 2000, 42) (zit. n. Rentsch 2011, 313). Sie stünde dann wohl auch in einem denkwürdigen Zusammenhang mit dem scotistischen „Deus vult alios condiligentes“ (s. u. IV., Anm. 528; Anm. 543), an das Kants frühes Diktum „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ und auch sein spätes Motiv des „sich nach der Analogie mit dem aus sich heraustretenden Gott verstehenden Menschen“ (VI 133, Anm.) erinnert (s. dazu u. IV., 4.2.).
190 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre von uns in das moralische Gesetz „hineingelegten Verheißung“ (V 603 Anm.) ist dieser Zusammenhang nicht zu übersehen.323 Auch Kants Fundierung jener „Willensbestimmung der besonderen Art“ wäre nunmehr im Blick auf diese Kennzeichnung des „Vernunftunglaubens“ noch einmal dahingehend zu akzentuieren: Dass eine „moralische Welt“ (im kantischen Sinne dieser „Idee“) sein soll, muss in der angezeigten Weise vorausgesetzt werden, weil das Gegenteil (nämlich: die Behauptung der „Idee“ einer „moralischen Welt“ als einer bloßen „Chimäre“) zwar als „problematisches Urteil“ widerspruchsfrei gedacht, unter den kritizistischen Vorzeichen der Abwehr „arroganter Ansprüche“ (II 35) positiver und negativer Art jedoch – aus moralischen Gründen durchaus gemäß jener „unparteiischen Vernunft“ – nicht „assertorisch“ „gesetzt“ werden kann und folglich erst recht nicht als „apodiktisches Urteil“ (dies wäre: die Idee des „Endzwecks der praktischen Vernunft“ muss als illusorisch negiert werden) vertreten werden darf.324 Andernfalls wäre jene angezeigte Selbstwidersprüchlichkeit des von Kant so bezeichneten „Unglaubens“ unausweichlich, der zufolge die Vernunft im Namen der Vernunft sich selbst dementiert.325 Damit bestätigt sich erneut, dass jene „Willens323 Es fällt jedenfalls auf, dass Kant in allen drei „Kritiken“ die „Arten des Fürwahrhaltens“ ausdrücklich und in zunehmend differenzierter Weise thematisiert hat. Dabei zeigt sich, dass gegenüber der kantischen Bestimmung des an die Einstellung der „ersten Person“ gebundenen „Fürwahrhaltens“ in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ (IV 276 ff ) die in der „dritten Kritik“ vorgenommene Charakterisierung des „Glaubens“ als „Fürwahrhalten in reiner praktischer Absicht“ und die daraus gewonnene Bestimmung von „fides“ (V 597 ff, bes. 603 ff ) noch einen besonderen Akzent setzt. Näherhin sind diese „Arten des Fürwahrhaltens“ (durchaus gemäß der „teleologia rationis humanae“) auch als die innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ selbst entfalteten „Stadien“ des „theoretischen“ und „praktischen Vernunftgebrauchs“ zu begreifen, in denen „ein und dieselbe Vernunft“ sich auseinanderlegt – und dieserart sich gleichermaßen erhält, indem sie „Schul“- und „Weltbegriff der Philosophie“ vereint. 324 Es wäre dies also keineswegs ein „absurdum logicum“, zumal das „Chimärische“ des „höchsten Gutes“ als des „Endzweckes“ wohl keine bloße „Ungereimtheit in Urteilen“ wäre, sondern einen moralisch fundierten Einspruch provoziert; gleichwohl ist nach Kant der „moralische Glaube … ein praktisches Postulat, wodurch der, welcher es verleugnet, ad absurdum practicum gebracht wird“ (AA XXVIII, 1083), sofern dies eben nicht mit Zustimmung gedacht, d. i. bejaht (gewollt) werden kann, weil Letzteres also auf eine „moralische Ungereimtheit“ hinausliefe und mit der „praktischen Bestimmung des Menschen“ vollends unverträglich wäre. Dies hat Kant in der Charakterisierung des „moralisch Ungläubigen“ besonders betont (III 499). – Vermutlich wäre daraus auch eine kantische Antwort auf Horkheimers insistierenden Einwand zu rekonstruieren: „Der Gedanke, dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not, dass die der Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen, dass die letzten Hoffnungen auf eine übermenschliche Instanz kein Ziel erreichen und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich. […] Aber ist Ungeheuerlichkeit je ein stichhaltiges Argument gegen die Behauptung oder Leugnung eines Sachverhaltes gewesen, enthält die Logik das Gesetz, dass ein Urteil falsch ist, wenn seine Konsequenz Verzweiflung wäre?“ (Horkheimer 1968, 372) Die von Horkheimer erwogenen abgründigen „Sachverhalte“ sind, ungeachtet der damit verbundenen Irritationen, natürlich widerspruchsfrei (und im kantischen Sinne als „problematisch“) denkbar, sie können jedoch nicht mit Zustimmung, d. h. im Sinne eines bejahenden Urteils, gedacht werden und erlauben auch keine „Indifferenz“ – das ist wohl die primäre Intuition des kantischen „Zweifelglaubens“ als „überwiegendes praktisches Fürwahrhalten“; dies hätte Kant jener Frage Horkheimers entgegnet, ob denn die „Logik das Gesetz“ enthalte, „dass ein Urteil falsch ist, wenn seine Konsequenz Verzweiflung wäre?“ 325 Die nahezu zeitgleich mit jener Charakterisierung des „Vernunftunglaubens“ notierte Refl. 6038 (AA XVIII, 430) besagt genau dies: „Der Theismus ist also nicht eine dogmatische Behauptung, sondern eine notwendige Hypothese des durchgängig einstimmigen Gebrauchs der Vernunft, vornehmlich der Selbstgenugsamkeit derselben.“ Dies wäre wohl auch die behutsame Antwort Kants auf das von Adorno
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bestimmung von besonderer Art“ nicht auf eine zusätzliche moralische Pflicht abzielt (obgleich sie durchaus moralisch inspiriert und insofern selbst nicht einfachhin moral-neutral ist), zumal sich in ihrem besonderen affirmativen Anspruch doch der Widerstand gegen den – selbst keinesfalls moral-neutralen – „Vernunftunglauben“ artikuliert. Vor dem Hintergrund dieser geforderten Negation des „Vernunftunglaubens“ wird auch Kants Kennzeichnung des „Vernunftglaubens“ als „Postulat der Vernunft“ (III 277) plausibel, die sich bezeichnenderweise auch nur in diesem Kontext findet. Die Beachtung des Status dieses „Vernunftglaubens“, der sich – auf dem Fundament jener „Willensbestimmung von besonderer Art“ in Gestalt des „ich will, dass ein Gott … sei“ – als reflektierte Form des „affirmatio est negatio“ expliziert und sich so gegenüber dem „Vernunftunglauben“ (als der selbstwidersprüchlichen „Unabhängigkeit der Vernunft [als „Vermögen der Zwecke“] von ihrem eigenen Bedürfnis“) behauptet, erlaubt noch einen ergänzenden Gesichtspunkt: Denn vor dem Hintergrund jener Bestimmung der „Maxime des Vernunftunglaubens“ wäre dieser in der „Beschaffenheit“ des „vernünftigen Wesens in der Welt“ verankerte kantische „Vernunftglaube“ in einer „Kurzformel“ vielleicht auch so pos tulatorisch zu bestimmen, dass, indem dieses „vernünftige Weltwesen“ als „Selbst“ „sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will [d. h. sich als „vernünftiges Weltwesen“ bejaht] das Selbst durchsichtig in der Macht“ gründet, „die es setzte“326, und dergestalt den „Vernunftunglauben“ als „Missverhältnis der Verzweiflung“ [als „misslichen Zustand des menschlichen Gemüts“ in dem von Kant genannten Sinne) überwindet. In diesem „Selbst-sein-Wollen“ wäre also das dem kantischen „Vernunftglauben“ zugrunde liegende „Vernunftbedürfnis“ (und die Selbstaffirmation als „vernünftiges Weltwesen“ und somit der Vernunft als „Vermögen der Zwecke“) ebenso enthalten wie der kantische Bezug auf das „Ganze seiner Existenz“ sowie auf die der „Vernunft abgenötigten Voraussetzungen“. Anknüpfend an die schon im III. Teil (bes. 1.3.1.) vorgestellten Überlegungen und im Vorblick auf das nachfolgende Kapitel sei vor dem Hintergrund dieser kantischen Kennzeichnung bzw. Kritik des „Vernunftunglaubens“ noch einmal folgender motivlicher Zusammenhang vergegenwärtigt: Wenn eine Welt existiert, die nicht eine bloß normativ gleich-gültige „Faktenaußenwelt“ (d. h. im Sinne Kants: nicht eine „bloße Wüste“) ist, sofern der Mensch als „Endzweck der Schöpfung“ in ihr existiert und als solcher „zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen steht“ (VI 133 Anm.), dann muss „Moralität“ in der Welt (im Sinne des „Glaubens an die Tugend“) als „sein sollend“ angeführte Argument Nietzsches gewesen, „dass Hoffnung mit Wahrheit verwechselt werde; dass die Unmöglichkeit, ohne ein Absolutes zu denken, glücklich zu leben oder überhaupt nur zu leben, nicht für die Legitimität jenes Gedankens zeuge“ (Adorno 1951, 122). 326 Kierkegaard 1991, 14. – Kants Charakterisierung des „Vernunftunglaubens“ als ein „misslicher Zustand des menschlichen Gemüts, der den moralischen Gesetzen zuerst alle Kraft der Triebfeder auf das Herz, mit der Zeit sogar ihnen selbst alle Autorität benimmt“ (III 282), hätte so vielleicht auch eine gewisse Entsprechung in Kierkegaards Bezugnahme auf das „Missverhältnis der Verzweiflung“ als ein „Missverhältnis in einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (Kierkegaard 1991, 14). Auch mit Blick auf den kantischen „Gegen-Satz“ zwischen „Vernunftglauben“ und „Vernunftunglauben“ und auf seine späte Kennzeichnung des „Zweifelglaubens“ verdient auch Kierkegaards These besonderes Interesse: „Wenn Nichtverzweifeltsein weder mehr noch weniger ist, als als nicht verzweifelt zu sein, so ist es gerade Verzweifeltsein. Dies, nicht verzweifelt sein, muss die vernichtete Möglichkeit dessen bedeuten, es sein zu können“ (ebd. 15).
192 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre bejaht werden; indes, dann ist nicht nur diese „Moralität“ in der Welt „praktisch“ zu bejahen, sondern auch die Idee der „moralischen Welt“ (was „da sein soll“, d. h. nicht zuletzt die Idee der jener „Tugend gemäßen Glückseligkeit“); als deshalb selbst aus moralischen Gründen notwendig „gewollte“ bringt sie sich somit als Einspruch gegen den „nihilistischen“ „Vernunftunglauben“ zur Geltung. Es ist offenbar diese Begründungsfigur, die der Sache nach auch noch der behutsamen kantischen Charakterisierung der „fides“ zugrunde liegt (und so wohl auch das darin gewissermaßen vorsichtig „nachgeschobene“: „… und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde“ [V 603 Anm.] erklärt). Es sollte aus den beiden letzten Abschnitten und ihre Einheit deutlich geworden sein: Sowohl gegenüber dem pseudo-aufgeklärten Gestus und seinem bloß entlarvenden Befund: „Wir glauben gern, was wir wünschen“ als auch gegenüber dem von Kant so genannten „Vernunftunglauben“ als einem „misslichen Zustand des menschlichen Gemüts“ (III 282) insistierte Kant auf dem Anspruch des die Bedingungen „vernünftigen Hoffens“ explizierenden „Vernunftglaubens“, der in dem – demnach durchaus unterschiedlich zu akzentuierenden – „Ich will, dass ein Gott sei …“ zur Sprache kommt.
3.2. Das existenzialanthropologisch akzentuierte „Ich will, dass ein Gott sei …“ und die darin begründete Bestimmung der „objektiven Realität“ In systematischer Hinsicht (und somit im Blick auf die thematische Einheit des III. und IV. Teiles) ist es durchaus bemerkenswert, dass Kant die als „Ethikotheologie“ (in den §§86–89 der „dritten Kritik“) entfaltete „moralische Teleologie“ sodann (in den §§ 90f ) in nochmalige Erörterungen über die „Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben“ einmünden lässt, die zuletzt auf jene Kennzeichnung der „fides“ als „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ führen. Damit knüpfte Kant nun unübersehbar an jenes „ich will, dass ein Gott …“ sei an, das somit auch seiner späteren „fides“Bestimmung zugrunde liegt. Es ist nicht zu übersehen, dass jenes „Ich will, dass ein Gott sei …“ in der „zweiten Kritik“ als ein „Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft“ (IV 276 ff ) ausgewiesen wurde und dergestalt das jenem „Rechtschaffenen“ zugestandene „Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Absicht“ (das beharrliche „ich will, dass ein Gott sei …“, „fester als alles Wissen“: III 502) auch in der Kennzeichnung der „fides“ der Sache nach aufgenommen wird – genauer besehen freilich so, dass dieses „ich will, dass …“ diejenigen Bedingungen (das „Dasein Gottes“, die „Wirklichkeit“ der Freiheit bzw. die „Unsterblichkeit der Seele“) näher expliziert, unter denen sich das zwar aus „moralisch hinreichendem Grunde“ vollzogene „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ erst als „vernünftig“ erweist. Die „objektive Realität“ der in ihrem Zusammenhang und zuletzt als „Zweckverbindung“ systematisch dargestellten „Ideen des Übersinnlichen“ wird so in – ex negativo „kritizistisch“ gesicherter – „praktischer Rücksicht“ ausweisbar und bestätigt im Sinne solcher Verankerung der „fides“, gewissermaßen rückblickend, die hierfür unverzichtbare Voraussetzung der „drei theoretische(n) Begriffe (für die sich … auf dem theoretischen Wege … keine objektive Realität finden lässt) …: nämlich Freiheit, Unsterblichkeit und Gott“ (IV 266) und die allein dadurch
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eröffnete „Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht“. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der darauf rekurrierende spätere Hinweis Kants, dass ohne jene „fides“ die „moralische Denkungsart bei dem Verstoß gegen die Aufforderung der theoretischen Vernunft zum Beweise … keine feste Beharrlichkeit“ hätte, „sondern schwankt zwischen praktischen Geboten und theoretischen Zweifeln“ (V 604). Derart sind also in den Endpartien der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ – einerseits – die in jener Analogisierung der Wissens- und Hoffnungsfrage fundierten ethikotheologischen Leitthemen des „dritten Stadiums der Metaphysik“ (die differenzierten „Endzweck“-Bestimmungen) und – andererseits – die durch die „Freiheitslehre“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ maßgebenden existenzialanthropologischen Perspektiven („oberstes“ und „vollendetes Gut“, „Glückswürdigkeit“ und „Glückseligkeit“) einer individuellen Lebensgeschichte im Blick auf das „Ganze des Daseins“ in denkwürdiger Weise, wie „in einem Kreis“, zusammengeschlossen. Wenn erst mit der Existenz dieses „vernünftigen Weltwesens“ in der Wirklichkeit von einem „unbedingten Soll die Rede“ ist und darin ein Anspruch bzw. Sinn des Unbedingten“ sich artikuliert, so stellt sich ihm selbst eben auch die unabweisliche Frage, wie diese Wirklichkeit als eine solche gedacht werden kann, dass dieses „bewusste Leben“ nicht nur als „praktisch“-sinn orientiert geführt werden muss, sondern auch (unter Voraussetzung dieser Dimension eines „Sinns des Unbedingten“) von ihm, als „vernünftigem, aber endlichem Wesen“, „im Ganzen seiner Existenz“, in einer „Ordnung der Zwecke“ zu bejahen ist. Es wäre dies die Frage nach einer „begründeten Hoffnung“ darauf, dass jenes der Idee der „moralischen Welt“ entsprechende „dass eine Welt sein soll“ sich nicht als bloße Chimäre und auch das bewusste und „praktisch bewährte“ Leben der Menschen in ihr sich nicht endgültig als ein „in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie“ (V 585 f ) zurückgeworfenes, das heißt letztendlich doch als bloß faktisch-„bewandtnisloses“ Dasein erweist. Hatte Kant im Kontext seiner Abgrenzung zwischen „doktrinalem“ und „moralischem Glauben“ vorweg die bloß „logische Überzeugung“ von der „moralischen Gewissheit“ unterschieden, so gewinnt diese als unauflöslich behauptete „Verknüpfung“ des Gottesglaubens mit der „moralischen Gesinnung“ in seiner „zweiten Kritik“ noch eine weiterführende existenz-verankerte Akzentuierung: Die darin begründete bzw. hierfür beanspruchte „moralische Gewissheit“, die „auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht“, erweist sich nunmehr als ein „Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Absicht“, in dem sich ein von jenem „eigentlichen Selbst“ zu eigen gemachter, d. h. von ihm eingenommener Standpunkt artikuliert. Es sind die (auch) eine „Selbstbegrenzung“ indizierende „Kritik der praktischen Vernunft“ und die daraus gewonnene Sinnvermittlung des Glaubens für ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“, die nun auch jenen Anspruch fundieren, den Kant dem moralischen Wollen jenes von ihm so gerne beigezogenen „Rechtschaffenen“ zugrunde legt: „Ich will, dass ein Gott, dass mein Dasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüpfung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch dass meine Dauer endlos [327] sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht 327 Es bleibt auch hier zu beachten, dass die angeführte gewollte „endlose Dauer“ sich offenbar an der Idee der „Heiligkeit“ orientiert. Als dieserart „gewollte“ zielen sie eben auf jene Voraussetzungen, ohne die
194 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre nehmen“ (IV 277 f ). Dieses – „Gott-setzende“ – „Ich will, dass ein Gott sei …“ setzt freilich den Aufweis des „tranzendentalen Begriffs von Gott“ schon voraus; solches „Wollen“ lässt sich vielleicht in dem schon angezeigten Sinne verstehen, dass das Auseinanderfallen von „subjektivem“ und „objektivem Endzweck“ wohl zwar als möglicher „Sachverhalt“ gedacht, jedoch nicht als Tatsache mit „Zustimmung gedacht“ werden kann.328 In diesem „Ich will, dass ein Gott sei
“ artikuliert sich zunächst die in die „Erste-Person-Perspektive“ übersetzte (bzw. dahin zugeschärfte) „notwendige Annahme“: „Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns gemäß dem moralischen Gesetz einen Endzweck vorzusetzen; und so weit das letztere notwendig ist, so weit (d. i. in demselben Grade und aus demselben Grunde) ist auch das erstere notwendig anzunehmen: nämlich es sei ein Gott“ (V 577). In der diesen „Glauben“ auszeichnenden „Beharrlichkeit“ manifestiert sich zugleich ein mit jenem moralischen Standpunkt der Freiheit verbundenes „Einstehen“, ein „bewährendes Verantworten“, das offenbar in jener schon angeführten späteren Bestimmung des Glaubens als „habitus“ anklingt und so auch derjenigen der „fides“ zugrunde liegt (s. o. IV., Anm. 323).329 Erst so sieht Kant die Gottesfrage in einer der „ganzen Bestimmung des Menschen“ angemessenen Weise – weil wirklich „authentisch“ – gestellt. In jenem dreifachen – auf das „Dasein Gottes“, die Wirklichkeit der „Freiheit“ und der „Unsterblichkeit der Seele“ gerichteten „Ich will, dass …“ wird die existenzialanthropologische Verankerung der Postulate besonders deutlich, die jenem grenzbegrifflich gedachten, jedoch als „bloßes Ideal unbestimmt“ gelassenen „theologischen Begriffe des Urwesens“ nun Bedeutung („in praktischer Absicht“ gibt: (IV 265), d. h. als einen zur „Religion tauglichen Gottesbegriff“ bestimmbar und in diesem Sinne das für „spekulative Vernunft Transzendente“ „immanent“ macht. Dass der Gott der Ethikotheologie (als „weiser Welturheber“) auch „zur Religion tauglich“ ist und so „Theologie auch unmittelbar zu Religion“ führt (V 614 f ), setzt freilich voraus, dass beide nicht einfachhin identisch sind; auch damit ist einerseits der Perspektivenwechsel angezeigt, der in jenem „ich will, dass ein Gott sei“ zum Ausdruck kommt, andererseits ist damit ebenso gesagt, dass diese Ethikotheologie keineswegs sich selbst genügt. Die leitende teleolodas „höchste Gut“ nicht als möglich gedacht werden kann. – Die von Kant vorgenommene Verbindung der Frage des „Daseins Gottes“ mit dem Wollen, dass „mein Dasein in dieser Welt … noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt“ habe (IV 277 f ), verdeutlicht noch einmal das in seinem (der Auseinandersetzung mit Jacobi gewidmeten) Orientierungs-Aufsatz beanspruchte „Urteilen-Müssen“ (s. o. I., 2.2.1.) und erinnert so auch an eine Jacobische Gedankenfigur in seinem Spinoza-Büchlein, an die Kant möglicherweise indirekt anknüpft (vgl. Jacobi 2000, 118 ff, Anm. bes. 121). 328 Dieses „mit Zustimmung denken“ besagt im Blick auf Kant doch etwas anderes als die thomistische Bestimmung des Glaubens: „credere est cum assensione cogitare“ (Thomas v. Aquin, De veritate, qu. 14, a. 1); die gleichwohl bestehenden Bezüge und damit verbundene Analysen zur Glaubens- bzw. Hoffnungskonzeption sind hier nicht zu verfolgen. Jenes „Ich will, dass ein Gott sei …“ setzt moralische Bewährung voraus, ohne dass diese indes mit dem Anspruch einer „Einsicht“ auftreten könnte; darin klingt indes recht deutlich auch jene erwähnte Selbstverpflichtung nach, wonach wir uns „mit dem Glauben ans Dasein Gottes oder an ein letztes Gericht … auf ein Leben“ verpflichten, „das sich dem göttlichen Blick und Urteil aussetzt“ (Theunissen 2004, 109; vgl. o. IV., Anm. 270). 329 In diesem Sinne bestätigt sich Kants früher Hinweis darauf, dass man sich in solchem „assertorischen“ Glauben gewissermaßen „erklärt“ (Refl. 2449, AA XVI, 372): „Bei der Meinung ist man noch frei (problematisch), beim Glauben assertorisch (man erklärt sich).“
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gische Perspektive, wie die Welt für ein endliches Vernunftwesen beschaffen sein muss, damit dieses sich darin denkend und handelnd zu orientieren vermag, findet so gleichsam ihre – „bewandtnishaft“ gewendete – „existenzialanthropologische Aufhebung“. Wiederum zeigt sich eine bemerkenswerte Stufung: War die grenzbegriffliche Idee des absolut notwendigen Wesens (als „Substrat aller Theologie“) allererst durch die Ethikotheologie bestimmbar geworden, die derart auf einen dem Menschen angemessenen Gottesbegriff führt, so ist dieser selbst noch in der Religion „aufgehoben“; dass die Ethiko-„Theologie auch unmittelbar zur Religion“ führt, bestätigt diesen – schon in der Bestimmung der „fides“ als „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ („die ich hineinlege“: V 604 Anm.) manifesten – Wechsel am Ende der „dritten Kritik“ erneut. Dieser Zusammenhang wäre näherhin auch so zu verstehen, dass die theoretisch-teleologische Perspektive der Ethikotheologie performativ in einem praktisch-konstitutiven „Alsob“ – „Lebe und handle so, als ob …“ – selbst „aufgehoben“ ist und so erst bewährt werden muss. Dies zeigt sich in Kants bemerkenswertem Hinweis (in der die „dritte Kritik“ abschließenden „Allgemeine[n] Anmerkung zur Teleologie“), wonach eine (Ethiko-)„Theologie“ nicht zu „irgend einer Theorie, sondern lediglich zur Religion, d. i. dem praktischen, namentlich moralischen Gebrauch der Vernunft in subjektiver Absicht nötig sei“ (V 616) – eine Argumentation, in der seine späte Zusammenführung der „Ethikotheologie“ mit der hier als „existenzialanthropologisch“ bezeichneten „Wende“ wohl besonders deutlich wird. Dieser späte Rekurs auf die „subjektive Absicht“ nimmt jene „existenzialanthropologische Wendung“ auf eine Weise auf, die offenbar direkt an jenen Aufweis des „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“ anschließt, der erst aus jener Verbindung der „spekulativen Einschränkung und praktische(n) Erweiterung derselben“ (IV 275) hervorgeht. In diesem gestuften Begründungsgang gewinnt nun auch Kants Auskunft offenbar einen besonders präzisen Sinn: „Alles läuft zuletzt auf das Praktische hinaus; und in dieser Tendenz [!] alles Theoretischen und aller Spekulation in Ansehung ihres Gebrauchs besteht der praktische Wert unserer Erkenntnis“ (III 518). Zudem darf ja nicht vergessen werden, dass der ethikotheologische Ausgang von dem „moralischen Zwecke vernünftiger Wesen“ (V 560) selbst auf diese Zwecksetzung des Subjekts zurückverweist, die wiederum zuletzt auf die Moralität als „ratio cognoscendi“ der Freiheit und somit auf Letzere als „ratio essendi des moralischen Gesetzes“ führt, weil ohne „Freiheit das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen“ (IV 108) wäre, das wiederum der „fides“ als „Vertrauen in die Verheißung“ desselben zugrunde liegt. Die Vorrede zur „Religionsschrift“ resümiert den inneren Zusammenhang dieser Motivlinien noch einmal in dem knappen programmatischen Hinweis, dass und wie „wie Moral unausbleiblich zur Religion führt“ (IV 652; IV 655 Anm), die solcherart freilich allein „in uns“ wirklich ist und nicht „außer uns“ zu suchen sei (IV 838), wie Kant sodann in seiner Auseinandersetzung mit bzw. der Abgrenzung von den „historischen Glaubensarten“ betonte. Der frühe Hinweis, dass aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ „Religion hervorgehe (II 338), hätte derart – zunächst – seine Einlösung gefunden, obgleich die im V. und VI. Teil in den Vordergrund rückenden Themen darüber noch hinausführen. Auch in diesem Kontext des in praktischen Vernunftansprüchen postulatorisch gestützten „Ich will, dass ein Gott sei …“ und des daraus gewonnenen „genau bestimmten
196 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Begriff(s) dieses Urwesens“ (IV 273) bestätigt sich übrigens jene erwähnte Mehrdeutigkeit in Kants Bestimmung der „objektiven Realität“;330 sie macht es unumgänglich, die diesbezügliche postulatorische Argumentation Kants als eine solche zu rekonstruieren, die in der angezeigten gestuften Form verläuft. Dies lässt sich in diesem Kontext am einfachsten vielleicht folgendermaßen verdeutlichen: In der Entfaltung der Lehre vom „höchsten Gut“ gewinnt jenes „negativitäts-sensible“ „[E]twas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ über jene „Strafwürdigkeit“ hinaus zwar unverkennbar einen positiven Akzent, ohne dass damit bezüglich des „Dass Gottes“ indes schon etwas entschieden wäre. Darin ist lediglich zum Ausdruck gebracht – und schon dies verrät die von Kant wiederholt begünstigte Zweideutigkeit der Wendung „objektive Realität“331: Allein unter jener Voraussetzung des „Dass Gottes“ müssen in der „objektiven Realität“ (d. h. eben: der „Sachhaltigkeit“) dieser Idee notwendigerweise (gemäß dem kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“: III 233 ff ) auch „Verstand und Wille“ mitgedacht, d. h. in kantischer Wendung: „beigelegt werden“; dies ist dann freilich nicht lediglich, wie Kant bemerkt, der „Bedingung meiner Fasslichkeit“ (vgl. IV 719, Anm.) zuzuschreiben, sondern bleibt durchaus für die „Sache selbst“ insofern geltend zu machen, weil dies doch allein jenem Vernunftbedürfnis genügt, das auch auf einen „moralisch bestimmten Monotheismus“ führen und ihn legitimieren soll. Ob, mit Kant gesprochen, jenem zwar resultierenden „genau bestimmten“ Gottesbegriff auch tatsächlich ein „Objekt entspricht“, dies muss, ohne sich dem Vorwurf einer unkritischen „Subreption“ auszusetzen, jedoch noch ganz unentschieden bleiben. Es hat sich gezeigt: Dieses „Ich will, dass ein Gott sei …“, ist, obzwar (gegenüber bloßem „Wunschdenken“: s. dazu u. IV., 3.1.2.) moralisch verankert,332 offensichtlich 330 Auch folgende Reflexion Kants lässt die Zweideutigkeit dieses Begriffs der „objektiven Realität“ deutlich erkennen: „Nur durch und für das moralische Gesetz bekommen die theoretische Ideen von Gott und Unsterblichkeit ihre (praktische) Realität“ (Refl. 6357, in AA XVIII, 682). Freiheit ist das einzige „Scibile“, ebendies sichert ihre Sonderstellung; denn bezüglich der Gottesthematik gilt dies gerade nicht, besagt diese „objektive Realität“ hier doch lediglich, dass dadurch „ein genau bestimmer Begriff“ von Gott „für uns“ ermöglicht wird. – Schon dies verweist im Grunde auf die unaufhebbare Einseitigkeit des „symbolischen Anthropomorphismus“, wonach eben „alle inneren Bestimmungen dieses Urgrundes, wodurch er nach seinem Wesen erkannt würde, wegfallen und nichts als das Verhältnis, ein Urgrund … der Welt nach solchen Gesetzen zu sein, übrig bleibt, bei welcher Vorstellung wir uns zwar immer noch der Ausdrücke … unserer subjektiv bedingten Vorstellungsart solcher Verhältnisse bedienen können, aber nur, um ein objektiv uns gänzlich verborgenes Wesen zum Behuf des praktischen Gebrauchs der Vernunft nach einer Analogie zu denken“ (Refl. 6317a, AA XVIII, 632). 331 Sie zeigt sich auch noch in Kants „opus postumum“: „Der kategorische Imperativ realisiert [!] den Begriff von Gott, aber nur in moralisch/praktischer Rücksicht, nicht in Ansehung der Naturgegenstände“ (AA XXI, 51), weil nur so von einem „theismus moralis“ die Rede sein kann. Schon in seiner Vorlesung (Religionslehre Pölitz) hat er diesen „theismus moralis“ folgendermaßen charakterisiert: „Wie wird man aber die Theologie nennen, wo Gott gedacht wird als summum bonum, als das höchste moralische Gut? Diese hat man bis jetzt noch nicht recht unterschieden, und daher auch keinen Namen für sie erdacht. Man kann sie Theismus moralis nennen, wo man sich Gott als den Urheber unserer moralischen Gesetze denket, und dies ist die eigentliche Theologie, die zum Fundament der Religion dienet“ (AA XXVIII, 1002). 332 Genauer besehen verweist dieses „Ich will, dass ein Gott … sei“, ohnehin auf jenen in der „Vorrede“ zur „Kritik der praktischen Vernunft“ erwähnten „Sachverhalt“ zurück, „dass es reine praktische Vernunft gebe“ – der freilich eben kein „Sachverhalt“ ist, sondern vielmehr auf die (auf das „Faktum der Vernunft“ verweisende) kantische Version der „Tat-Handlung“ rekurriert: „Denn wenn sie [die Vernunft], als reine Vernunft, wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und alles
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selbst kein (im streng „praktischen“ Sinne) gebotenes Wollen. Es entspringt vielmehr, als ein „keinen Imperativ“ gestattendes „freies Fürwahrhalten“ (III 636), dem in jener gestuften kantischen Differenzierung der Idee des „Endzwecks“ anklingenden – keinesfalls moral-neutralen – moral-transzendierenden Sinnbedürfnis eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“, das von dieser „Vernunft, Herz und Gewissen“ (IV 813) in sich vereinenden Hin-Sicht indes nicht abzulösen ist. Der darin zutage tretende moral-transzendierende „Sinnüberschuss“ ist mit der Einsicht verbunden, dass solchem aus „Vernunft, Herz und Gewissen“ gespeisten – sowie der Idee einer „moralischen Welt“ innewohnenden – Anspruch letztendlich nur das „höchste ursprüngliche Gut“ (und zwar als „weiser Welturheber“) als adäquate, die Idee des „Ganzen aller Zwecke“ begründende Instanz zu genügen vermag und somit auch als „terminus ad quem“ dieses Vernunftglaubens unentbehrlich ist. Jenes „Ich will, dass ein Gott sei …“ bringt das „wahre Bedürfnis des Subjekts in Ansehung des theoretischen so wohl als praktischen Gebrauchs der Vernunft“333 in besonderer Weise zum Ausdruck; dabei bleibt erneut zu beachten, dass die besondere moralische „Verankerung“, die jenes „Fürwahrhalten des Vernunftglaubens“ auszeichnet, folglich keinesfalls mit Unverbindlichkeit bzw. bloßer „Privatheit“ verwechselt werden darf, zumal darin durchaus eine „Nötigung der Vernunft“ vernehmbar wird – näherhin in der zweifachen Hinsicht, dass für diesen Vernunftglauben „bloß reine Vernunft (sowohl [!] ihrem theoretischen als praktischen Gebrauche nach) die Quelle ist, daraus er entspringt“ (IV 257). Dieser Hinweis auf die „reine Vernunft (sowohl ihrem theoretischen als praktischen Gebrauche nach)“ als „Quelle des Vernunftglaubens“ erweist sich in mehrfacher Hinsicht als höchst aufschlussreich: Ist damit doch zunächst gesagt, dass der „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“ (der deshalb „in der Philosophie nicht umgangen werden“ kann: III 389) den „eigentlichen Inhalt“ der Vernunft ausmacht“, freilich im Sinne einer radikal „negativen Theologie“. Hingegen ist das „Dasein Gottes“ in diesem Sinne nach Kant nicht selbst „Inhalt der Vernunft“, sondern eine der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“, die in dem Gott-setzenden „Ich will, dass ein Gott sei“ fundiert ist, das wiederum im Aufweis, „dass es reine praktische Vernunft gebe“, seine Verankerung hat.334 Erst die zu leistende (und dann als unauflöslich erwiesene) Einheit Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich“ (IV 107); eben diese „Ursprünglichkeit“ ist – einerseits – jenem dreifachen „ich will, dass …“ voraus-gesetzt, während diese zunächst einfach aneinander gereihten Inhalte dieses „ich will …“ sich zuletzt zu einer in sich „zusammenstimmenden“ „Zweckverbindung“ verfestigen. Wenn nach Kant durch den „Selbsterweis“ der „reinen praktischen Vernunft“, die „ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat erweist“, nunmehr „auch die transzendentale Freiheit“ erst feststeht, so ist dieser gewissermaßen in „Erster-Person“-Perspektive erbrachte (bzw. darin rückgebundene) „Freiheitserweis“ das Fundament der Postulatenlehre und für das postulatorische „Immanent-Werden“ der „nachgezogenen“ Ideen, die den Status jener Freiheitsidee freilich nie einholen (wie Kant dann auch noch in den Schlusspartien der „dritten Kritik“ einschärft). 333 Refl. 2446, AA XVI, 371 f. 334 Es bleibt dabei: Nicht die Vernunftideen selbst sind „unbegreiflich“, zumal sie doch in der Vernunft selbst begründet sind, sondern einerseits das „Dasein“ des in ihnen Gedachten als einer uneinholbaren und „abgenötigten Voraussetzung der Vernunft“, die als „Postulat“ (als ein „theoretische(r), als solche(r) aber nicht erweislicher Satz“: IV 252 f ) ausgewiesen, d. h. legitimiert wird – andererseits freilich die „Realität“ der Vernunftideen und ihre „teleologische“ Konstellation als reflexiv uneinholbares „Faktum
198 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre dieser beiden Aspekte führt also auf den aus diesen „Quellen“ entspringenden „Vernunftglauben“, dessen „Fundament“ Kant deshalb mit der „Selbsterhaltung der Vernunft“ unauflöslich verbunden sah. Kants früher Bezug auf „Theologie und Moral“ als den „zwei Triebfedern, oder besser, Beziehungspunkte(n) zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher gewidmet hat“ (II 709), findet dieserart noch eine bemerkenswerte Einlösung bzw. Bestätigung. Im Blick auf jene frühe Kennzeichnung der „Selbsterhaltung der Vernunft“ als dem „Fundament des Vernunftglaubens“ sei bezüglich der hier bestimmenden „Existenz“Perspektive nochmals ausdrücklich betont: Die teleologische Tiefenstruktur dieses „Vernunftglaubens“, in dem „bloß reine Vernunft (sowohl ihrem theoretischen als praktischen Gebrauche nach) die Quelle ist, daraus er entspringt“ (IV 257), hat Kant in konzentrierter Form in zweifacher Hinsicht dahingehend formuliert, dass erst die durch die unauflösliche Verbindung der „(s)pekulativen Einschränkung der reinen Vernunft und praktischen Erweiterung derselben“ konstituierte „teleologia rationis humanae“ für ein „endliches Vernunftwesen“ die „Selbsterhaltung der Vernunft“ gewährleistet.335 Die so begründete Vernunftverfassung ist es aber auch, die im Sinne einer „Erweiterung der reinen Vernunft, in praktischer Absicht, ohne damit ihr Erkenntnis, als spekulativ, zugleich zu erweitern“ (IV 266),336 eine der „moralisch konsequenten Denkungsart“ adäquate Fundierung der Gottesidee zu leisten vermag. Verdanken sich doch die für einen „genau bestimmte(n) Begriff dieses Urwesens“ (IV 273), d. i. zum „bestimmten Denken des Übersinnlichen“ (IV 275) unentbehrlichen Prädikate – wohlgemerkt: allein dies bedeutet hier „objektive Realität“! (s. o. III., 3.1.2.) – jener entscheidenden Verknüpfung der „spekulative(n) Einschränkung der reinen Vernunft“ und der „praktische(n) Erweiterung derselben“; diese
der Vernunft“. Während also in den „Vernunftideen“ Vernunft sich selbst „realisiert“, bleibt das Dasein des darin Gedachten der Vernunft „abgenötigt“; begründet ist dies in der eigentümlichen, „Idee und Exis tenz“ vereinigenden „Freiheit“ als „absoluter Position“. Bedenkenswert ist dabei freilich dies: Es ist demzufolge offenbar das „Dasein Gottes“ als eine der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“, in der die „Selbsterhaltung der Vernunft“ (also gewissermaßen „außerhalb ihrer selbst“) „letztbegründet“ ist. 335 Treffend bemerkt Brandt (2007a, 24): „In der ‚teleologia rationis humanae‘ ist offenbar die theoretische Vernunft apriori auf das praktische Ziel gerichtet und erfüllt das Desiderat der praktischen Vernunft so, wie die Postulatenlehre der KpV die objektive praktische Realität von Gott und Unsterblichkeit nur auf Grund des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft nachweist.“ 336 Gleichwohl bleibt hier genau darauf zu achten, dass Kant bezüglich dieser „Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht“ und näherhin im Kontext der Bestimmung des Verhältnisses der Vernunftideen zu den „Postulaten der reinen praktischen Vernunft“ eine wichtige Unterscheidung anzeigt – nämlich zwischen einer beanspruchten Erkenntnis „von gegebenen übersinnlichen Gegenständen“ und der begründeten Voraussetzung, „dass es solche Gegenstände gebe“: „Also war es keine Erweiterung der Erkenntnis von gegebenen übersinnlichen Gegenständen, aber doch eine Erweiterung der theoretischen Vernunft und der Erkenntnis derselben in Ansehung des Übersinnlichen überhaupt, sofern als sie genötigt wurde, dass es solche Gegenstände gebe, einzuräumen, ohne sie doch näher zu bestimmen …“ (IV 268). Dies ist freilich durch den (kurz davor geleisteten) kantischen Aufweis geschehen, wodurch zufolge einem kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ Gott „ein Gegenstand der Religion wird“ (IV 263, Anm.) und als „Postulate“ jene Vernunftideen „immanent“ und „konstitutiv“ werden. Gegenüber überschwänglichen Erkenntnisansprüchen soll dieserart lediglich gesichert sein, dass jene Ideen „überhaupt Objekte haben“ (können) (IV 269).
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Prädikate sind mithin „solche, … die notwendig zur reinen apriori gegebenen praktischen Absicht und deren Möglichkeit gehören“ (IV 275). Es war jene unauflösliche innere Verknüpfung der auf dem Weg der „Einschränkung“ der spekulativen Vernunftansprüche gewonnenen „negativen Theologie“ mit der aus dem „Quell von positiven Erkenntnissen …, welche ins Gebiet der reinen Vernunft gehören“ (II 670)337, gespeisten Erweiterung derselben, worin der postulatorische Ausgriff auf diesen „terminus ad quem“ als einen „Gott der Hoffnung“ – einen „machthabenden moralischen Gesetzgeber außer dem Menschen“ – verankert ist. Erneut zeigt sich: Der „Begriff von Gott, der für die Religion tauglich sein soll“ (VI 106, Anm.) ist allein derjenige, der als „Gott der Hoffnung“ bestimmbar wird: „Gegenstand der Religion“ wird Gott ohne Preisgabe jener kritizistischen Errungenschaften erst aus der Verbindung von „Theologie und Moral“, auf dessen „Dasein“ sich sodann erst der „moralische Vernunftglaube“ bezieht. Nicht zuletzt für die nähere Begründung und Legitimation des dieses „Ich will, dass ein Gott … sei“, inspirierenden Anspruchs erweist sich diese Erinnerung an jenes in der „Dialektik der praktischen Vernunft“ maßgebende Motiv als höchst bedeutsam, dem zufolge doch erst jene Verknüpfung der „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft“ und praktischen Erweiterung derselben … dieselbe allererst in dasjenige Verhältnis der Gleichheit“ bringen, „worin Vernunft überhaupt zweckmäßig gebraucht werden kann“ (IV 275). 3.2.1. Kants spätes „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“: Eine „existenzialanthropologisch“ übersetzte Kurzformel der Ethikotheologie? Vor diesem Hintergrund – und mit nochmaligem Blick auf jene von Kant ausgezeichnete „Willensbestimmung von besonderer Art“ – erweist sich das in diesem „Ich will, dass ein Gott sei …“ bestimmende „Wollen“ als ein solches, das weder als ein leicht durchschaubares bloßes „Bedürfnis der Neigung“ verabschiedet noch als ein „moralisches“ Wollen im strengen (und engen) Sinne geltend gemacht werden kann, sondern eine besondere – aus moralischen Quellen gespeiste – „Affirmation“ zutage treten läss. In gewisser 337 Eine den unterschiedlichen Vernunftgebrauch betreffende – von Kant vermutlich durchaus intendierte – Analogie lässt sich vielleicht folgendermaßen benennen: Sein Hinweis, es müsse doch einen „Quell von positiven Erkenntnissen geben, welche ins Gebiete der reinen Vernunft gehören“ (II 670), führt ja darauf, dass dieser „Quell von positiven Erkenntnissen“ (der „Anspruch des moralischen Gesetzes“) dennoch noch nicht den „ganzen Gegenstand der praktischen Vernunft“ abzudecken bzw. einzuholen vermag und für die als möglich zu denkende „Übereinstimmung“ beider als „Endzweck“ auf einen „moralischen Welturheber“ sowie auf einen entsprechenden (affirmierbaren) Schöpfungsbegriff verwiesen bleibt. In einer gewissen Analogie dazu rekurrierte Kant auf den Verstand als „Quell der Gesetze der Natur, und mithin der formalen Einheit der Natur“ (II 181), der freilich nicht über die Zusammenstimmung der mannigfachen, d. i. „besonderen empirischen Gesetze“ zu einem „System der Erfahrung“ verfügt und insofern auf ein „uns unbekanntes Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen“ verweist – d. h. als ob ein „Verstand (wenngleich nicht der unsrige)“ dies erst als „Quelle“ ermögliche. Freilich gilt auch hier: „Nicht, als wenn auf diese Art wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müsste, (denn es ist nur die reflektierende Urteilskraft, der diese Idee zum Prinzip dient, zum Reflektieren, nicht zum Bestimmen); sondern dieses Vermögen gibt sich dadurch nur selbst, und nicht der Natur, ein Gesetz“ (V 253).
200 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Hinsicht weist dieses „Ich will, dass ein Gott … sei“, auch über den von Kant erhobenen Anspruch, dass „Moral unumgänglich zur Religion“ führe, „wodurch sie [die Moral] sich zur Idee [!] eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert“ (IV 652), noch hinaus. Ist doch darin eine moral-transzendierende Sinnaffirmation schon voraus-gesetzt, die im Sinne des maßgebenden Hoffnungs-Logos darauf abzielt, dass eine der Idee der „moralischen Welt“ korrespondierende „Schöpfung“ wirklich sein soll und so auch das moralische Verhältnis zu dieser Welt fundiert; erst darin ist auch jener zunächst bestimmende neutrale „Schöpfungs“-Begriff – also „die Ursache vom Dasein einer Welt, oder der Dinge in ihr“ (V 576) – überschritten. Dieses auf praktische Vernunftansprüche (bzw. deren „Selbsterhaltung“) gestützte „Ich will, dass ein Gott sei …“, das im späteren „Gemeinspruch“-Aufsatz ausdrücklich in die so genannte „Willensbestimmung von besonderer Art“ integriert wird, rückt erst mit dem in solchem „Wollen“ ursprünglich affirmierten „Schöpfungssinn“ das eigentliche „Objekt der praktischen Vernunft“ als den „praktischen Endzweck“ in den Vordergrund; Kants früher Bezug auf jenes „etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft“ (IV 150) erhält von daher noch einen besonderen – eben moral-transzendierenden – Sinn. Allein eine solche Explikation der jene „Willensbestimmung von besonderer Art“ auszeichnenden Sinnintention lässt es auch vermeiden, dass das postulatorisch ausgewiesene Vernunft-„Bedürfnis“ sich indes zur „Einsicht“ aufspreizt (wie Kant gegen den Cartesianischen Gottesbeweis betont: III 272, Anm.) und die der praktischen Bestimmung des Menschen angemessene „moralische Gewissheit“ des „Ich will, dass ein Gott sei“, sich unversehens in die Vermessenheit einer theoretisch-„logischen Gewissheit“ des „Es ist ein Gott“ verkehrt, die ebenso den grenzbegrifflichen Charakter der „theologischen Idee“ verkennen bzw. ignorieren müsste wie sie gleichermaßen „existenz-vergessen“ bliebe. Ausschließlich diese Verbindlichkeit, die das „Urteilen-Müssen“ jenes unbedingten Vernunftbedürfnisses auszeichnet, vermag mithin die jenes „Ich will, dass ein Gott sei …“ auszeichnende „Unbedingtheit“ zu begründen, das deshalb auch nicht auf ein – sei es noch so inniges – „Bedürfnis der Neigung“ (IV 276, Anm.) reduziert werden darf. Folglich wird es sich auch nicht mit der in bloß regulativer Absicht intendierten Denkbarkeit des Postulierten begnügen, sondern weiß sich zu solcher „Annahme“ vielmehr berechtigt und gleichermaßen genötigt. In einer solchen Hinsicht erscheint jener im theoretischen Aufweis einer „transzendentalen Steigerung“ begründete „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ (im „dritten Stadium der Metaphysik“) lediglich als eine philosophisch-nachträgliche Explikation und als eine am „Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ ausgerichtete Legitimation dieses im „Ich will, dass ein Gott sei …“ artikulierten „ErstePerson-Aspekts“ in postulatorischer Gestalt – nichts anderes als die Authentizität jenes „einfältig mit seinem Gott“ lebenden „Rechtschaffenen“ findet darin ihre dem „Weltbegriff der Philosophie“ gemäße Entfaltung. Mit solcher Explikation wollte Kant (um an eine analoge Gedankenfigur anzuknüpfen) keinesfalls eine neue Grundlegung der Vernunftreligion beanspruchen, sondern, analog zum „Moralprinzip“, lediglich in philosophisch-reflexiver Gestalt gleichsam eine „neue Formel aufstellen“. Dabei ist auch nicht zu übersehen: Kants Hinweis, der „moralische Beweis“ sei „nicht etwa ein neu
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erfundener, sondern allenfalls nur ein neuerörterter Beweisgrund“, der sich im „Urteil“ der moralisch kultivierten Menschen „unvermeidlich einfinden“ musste (V 586), variiert ja genauer besehen ohnehin lediglich in entsprechender Weise jene bezüglich des „Prinzip(s) der Moralität“ geltend gemachte Einsicht, es sei abwegig, „einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen, und diese gleichsam zuerst erfinden“ zu wollen (IV 113, Anm.). Es sind verschiedene Ebenen, deren Differenz und notwendige Vermittlung hier gebührende Beachtung finden müssen – die vorausgesetzte „Wirklichkeit des Lebens“ und die ihr nach-denkende Reflexion. In jenem performativen „ich will, dass ein Gott … sei, vollzieht sich, in einer existenz-verankerten „Umkehrung“ besonderer Art, ein „praktisch-dogmatischer Überschritt zum Übersinnlichen“, während der in Kants „Preisschrift“ so bezeichnete „praktisch-dogmatische Überschritt“ auf die im „dritten Stadium der Metaphysik“ (III 629 ff ) beschrittene Neubegründung der „Metaphysik“ (auf dem vorausgesetzten gesicherten Fundament der „Kritik“) innerhalb der „Vernunftwissenschaft“ abzielt. Dieses „Ich will, dass ein Gott … sei“ indiziert somit besonders eindringlich die Verankerung der „Postulate der praktischen Vernunft“ im orientierungs-bedürftigen ExistenzVollzug dieses „eigentlichen Selbst“. Dass dem späteren Kant zufolge in jenem – freiheits-verankerten – Gefüge der Vernunftideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ eine „Zweckverbindung“ von „letzten Gedanken“ zutage tritt, demonstriert den besonderen Stellenwert dieses „Ich will, dass ein Gott sei …“ und legt es zudem nahe, dass in dieser existenz-bezogenen „Zweckverbindung“ diese Ideen nicht lediglich „vereinigt“ sind. Dergestalt schließen sie sich vielmehr zu einem in dem „Gott in uns“ begründeten „Ganzen“ auf eine Weise zusammen, die dies in der schon angezeigten Weise auch als ein „Zusammenstimmen“ ausweist und so zuletzt jenes affirmative Verhältnis der „Zustimmung“ begründet, dem zufolge jener „Rechtschaffene“ „wohl sagen darf“: „Ich will, dass ein Gott sei“, das so erst menschliche Existenz „mit sich einstimmig“ macht.338 Dahin hat sich also jene frühere Unterscheidung zwischen „logischer“ und „moralischer Gewissheit“ nunmehr verdichtet: Es ist allein der durch das „Übersinnlichen in uns“ „durch die Tat“ gesetzte Überschritt in diese „neue Ordnung der Dinge“, und das darin gründende „Kreditiv des moralischen Gesetzes“ (IV 162), die in diesem „Ich will, dass ein Gott sei …“ vornehmlich den hoffenden Einspruch dagegen artikulieren, dass der „Weltlauf“ als die „einzige Ordnung der Dinge“ bleibt (V 587). Die in jenem „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ implizit zugemutete „Bewährung“ übernimmt darin gleichsam die „Verantwortung“ für jenen „Kardinalsatz: es ist ein Gott“, der sich sodann 338 In dieser „kantianischen“ Lesart findet ein leitendes Motiv von D. Henrich eine modifizierte Aufnahme, dem zufolge eine „letztbegründete Affirmation des bewussten Lebens“ „vom Bewusstsein eines Gerechtfertigtseins getragen [ist], das die Sammlung der gegenläufigen Tendenzen zum Verstehen eines Ganzen begleitet und das die Möglichkeit der Nichtigkeitserfahrung des Lebens zu seinem Gegenbild hat. Dabei ist der Grund, von dem her sie sich letztlich vollzieht, für diese Sinnaffirmation so wenig durchsichtig wie die Möglichkeit von Selbstsein überhaupt es ist. Alle Religionen sind aber in ihr fundiert. Sie geben dem Bewusstsein von Belang und Lebenssinn Halt in ihren Erklärungen vom Ursprung und von der Wandlung alles Wirklichen. Die großen Systeme der Metaphysik sind wiederum nur ebenso viele Versuche gewesen, den Grund der Möglichkeit und in einem damit den Rechtsgrund einer solchen Selbstaffirmation zu explizieren“ (Henrich 2009, 59 f ).
202 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre zu dem bzw. als – „Gott-setzendes“ – „Ich will, dass ein Gott sei …“ noch unüberhörbar verschärft. Die schon erwähnte spätere diesbezügliche Klarstellung Kants über den Anspruch jenes „moralischen Argumentes“, es sei nicht „zur Sittlichkeit notwendig, die Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität anzunehmen; sondern es ist durch sie notwendig“ (V 577, Anm.), macht dies noch einmal deutlich. Für das Verständnis dieser existenz-anthropologischen Begründungsfigur ist es erforderlich, sich den genauen Wortlaut der kantischen – gestuften – Argumentation zu vergegenwärtigen, zumal darin durchaus unterschiedliche existenzialanthropologische Aspekte in konzentrierter Form Ausdruck finden und so dieses zugrunde liegende „Wollen“ unterschiedlich akzentuieren – damit aber auch in differenzierter Weise das menschliche Selbstverständnis berühren: „[I]ch will, dass ein Gott, dass mein Dasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüpfung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch dass meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen; denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt“ (IV 277 f ). Besagt der zweitgenannte „Wollensaspekt“ das notwendige Interesse an sich selbst als „moralischer Persönlichkeit“, nämlich sich selbst als „vernünftiges und der Zurechnung fähiges Wesen“ (IV 673) in seinen Lebensvollzügen verstehen und auch wollen zu können, so besagt der drittgenannte Aspekt, dass eine „vernünftige Hoffnung“ gerade dies impliziert, dass sie dabei das Ganze der eigenen „moralischen Lebensgeschichte“ gleichermaßen unter die moralische Forderung des „Gerichts“ gestellt weiß. Ebendies ist nicht nur zu „akzeptieren“, sondern (gemäß den Ansprüchen einer „unparteiischen Vernunft“) aus moralischen Gründen auch zu „wollen“ – und bleibt nach Kant auch nur so ein Gegenstand der „vernünftigen Hoffnung“. Nicht zuletzt zehrt jenes differenzierte „ich will …“ von jener schon wiederholt berührten elementaren Intuition, dass eben nicht „geurteilt“, d. h. mit Zustimmung gedacht (und mithin nicht gewollt) werden darf, dass die an jener Idee der „moralischen Welt“ bemessene Idee des „höchsten Gutes“ keine „objektive Realität“ habe – d. h. hier: weder „sachhaltige Bedeutung“ noch das darin Gedachte „Dasein“ habe; nur unter dieser vorgängigen Voraussetzung darf sodann auch „gehofft“ werden, dass die „eigene Glückseligkeit“ in diesem „höchsten Gut“ gemäß jener „moralischen Welt“ „mitenthalten“ sei. Es sind diese durchaus verschiedenen Aspekte des subjekt-zentrierten „Urteilen-Müssens“, des „Hoffen-Sollens“ und des „Hoffen-Dürfens“, die dem „Ich will, dass ein Gott sei“, als darin postulatorisch „mitgesetzt“ zugrunde liegen. Die Verbindlichkeit bzw. „Wahrheit“ dieser als „Ich will, dass ein Gott sei“ ausgewiesenen „moralischen“ Gewissheit beruht nach Kant demzufolge nicht zuletzt auf der „moralischen Gewissheit“: Es kann nicht gedacht – das heißt: geurteilt, also „affirmiert“ – werden, dass zugefügtes bzw. erlittenes Leid und Unrecht das letzte – also endgültige – Wort behalten; als Einspruch dagegen erhebt sich schon jenes „Etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft“, das in jener Idee der „Strafwürdigkeit“ eine Gestalt gefunden hat, gleichwohl im Blick auf den Theodizee-Aufsatz noch einmal eine besondere Nuancierung nahelegt: Dass dies nicht „assertorisch“ gedacht werden kann, also ein einverstandenes „So sei es“ infolge jenes unbedingten „Urteilen-Müssens“ verweigert und solcher Einspruch auch moralisch bezeugt werden muss –, ebendies wird somit, im Blick auf je-
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nes „Ich will, dass ein Gott sei“, als ein solcherart „übersetzter“ Aspekt der „moralischen Teleologie“ (und der hierfür maßgebenden „Willensbestimmung von besonderer Art“) sichtbar, zumal darin nach Kant nicht weniger als eine „Selbstbehauptung der Vernunft“ auf dem Spiele steht, die allein jene faktisch-blinde „Ordnung“ des Weltlaufs durchbricht und auch jenem „Vernunftunglauben“ (als einem „Dementi“ der „Vernunftzwecke“) widerspricht – nur so aber der „Ordnung der Zwecke der Vernunft“ entspricht339. Dergestalt findet die darauf begründete „moralisch konsequente Denkungsart“ ihren Abschluss – und eben darauf stützt sich auch die schon angeführte These Kants, dass aus „dem moralischen Gesetz, welches uns unsere eigene Vernunft mit Autorität vorschreibt, … der Begriff [!] von Gott hervor[geht], welchen uns selbst zu machen die praktische reine Vernunft nötigt [!]“ (III 390 f, Anm.). Hier seien noch einmal kurz die in verschiedener Weise vernunft-verankerten „Nötigungs“-Aspekte vergegenwärtigt, die in diesem gestuften Begründungsverhältnis zusammenfließen: Der durch „Nötigung“ der „praktischen reinen Vernunft“ gemachte „Begriff von Gott“ setzt jene „theologische Idee“ der „rationalen Theologie“ als „Substrat“ selbst schon voraus, indem sie dergestalt erst jene „Idee“ zu einem „für die Religion tauglichen Gottesbegriff“ weiterbestimmt; indes, von diesem so erst gewonnenen Gottesbegriff bleibt sodann das auf das „Dasein Gottes“ abzielende Postulat als eine „abgenötigte Voraussetzung“ zu unterscheiden, auf das jenes „ich will, dass ein Gott sei …“ abzielt. Diese durchaus unterschiedlichen Nötigungs-Aspekte entsprechen jener Stufenfolge, die Kant bezüglich der „objektiven Realität“ Gottes auch im engeren Kontext der Postulatenlehre geltend gemacht hat: Das in der grenzbegrifflich gedachten „theolo339 Es ist deshalb wohl als eine Anknüpfung an kantische Leitgedanken zu lesen, wenn Henrich (offenbar auch mit Blick auf Fichtes „Glauben an die moralische Weltordnung“ und mit Verweis auf Platon und Rousseau) auf Motive hinweist, „die von sittlich-praktischen Überlegungen und Erfahrungen freigesetzt werden und die dazu führen, Annahmen über die Verfassung der Welt, in der Subjekte existieren, zu machen und zu akzeptieren“, und dies sodann folgendermaßen erläutert: „Ein solches Motiv ergibt sich aus der Besorgnis, aller Aufwand guten Willens, auch bei der Wahrnehmung seiner Verantwortung, könne wirkungslos bleiben. Ein anderes stützt sich auf die Empörung über den Anschein, im Geschick der Menschen gebe es keinerlei Ausgleich gegenüber Zufallsgunst und Durchsetzungskraft. Wer ein Ziel ernsthaft verfolgt, kann nicht zugleich meinen, dass er ihm nicht einmal nahe kommen kann. Wer also aus sittlicher Verantwortung handelt, kann dabei nicht davon ausgehen, dass dies Ziel in der Welt auf keine Weise begünstigt ist und alles ihm entgegenwirkt. Wer Menschen, gar Kinder, um einer Lustbefriedigung willen Leiden unterworfen oder um ihr Leben gebracht sieht, muss als sittliche Person wollen, dass er auf diese Situation anders reagieren kann als mit resignierten Gedanken über den Weltlauf, in dem die Leben von Opfer und Täter nun einmal gleichermaßen letztlich sinnleere Fakten sind – nur dass der eine eben leidet, während der andere den Lustgewinn, zu dem es ihn treibt, erreicht. Wer aber mehr unterstellt, bekundet damit einen wie immer bangen Glauben an eine Konkordanz zwischen den Menschenleben und einer Art von Sinnordnung im Weltgefüge“ (Henrich 2007, 134 f ). Beide hier von Henrich genannten Motive liegen offenbar in der Linie der kantischen Vermittlung des „subjektiven“ und „objektiven Endzwecks“ und deren notwendiger „Voraussetzung“ im Kontext seiner Ethikotheologie (vgl. bes. §§ 87 u. 88 der KU). Was Henrich in eindringlicher Weise aus der inneren Zuordnung von „sittlichem Bewusstsein und Subjektivität“ thematisiert, ist bei Kant offenkundig in dem unauflöslichen Zusammenhang mit der „Selbsterhaltung der Vernunft“ formuliert – zuletzt bemerkenswerterweise auch in der besonderen Gestalt einer „ex negativo“ gedachten „moralischen Zweckmäßigkeit“ angesichts der Erfahrung des „Zweckwidrigen in der Welt“; darauf zielt nicht zuletzt eben jener Verweis auf den „Endzweck aller Dinge“ als „Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (IV 651).
204 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre gischen Idee“ (dem „Begriff des Urwesens“) vorausgesetzte „Substrat aller Theologie“340 wird zunächst als „höchstes ursprüngliches Gut“ bestimmbar, führt also auf solche Weise lediglich auf einen „genau bestimmten Begriff dieses Urwesen(s)“, sofern das „moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als Gegenstandes einer reinen praktischen Vernunft, den Begriff des Urwesens als höchsten Wesens“ allererst hervorbringt (IV 273). Dass „Gott“ erst über die Vermittlung der Postulatenlehre „ein Gegenstand der Religion wird“, setzt jenes „Substrat aller Theologie“ unumgänglich voraus, ohne das auch die Postulatenlehre ihren „terminus ad quem“ verlieren müsste. Ohne den vorausgesetzten Aufweis der „Nichtunmöglichkeit“, ja sogar der angezeigten grenzbegrifflichen Notwendigkeit der „theologischen Idee“ erwiese sich auch die Postulatenlehre als haltlos, zumal in diesem Fall das Postulat des „Daseins Gottes“ als eine unerweisliche bloße „Ad-hoc-Annahme“ erscheinen müsste; dies liefe freilich zuletzt darauf hinaus, sich auch über jenen frühen kantischen Hinweis auf „Theologie und Moral“ als die beiden „Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat“ (II 709), einfach hinwegzusetzen. Im Kontext des Aufweises jenes performativ-postulatorisch geltend gemachten Begründungsanspruches sei noch einmal die schon thematisierte Mehrdeutigkeit des Begriffs der „objektiven Realität“ erwähnt, die sich hier deshalb als besonders bedeutsam erweist, weil dieses postulatorische „Ich will, dass ein Gott sei …“ genauer besehen doch beide Aspekte von „objektive Realität“ in sich vereint. Es hat sich schon gezeigt: Noch einer denkwürdigen späten Bestimmung zufolge erhält erst durch die „Beziehung der [praktischen] Vernunft auf die Idee [!] von Gott, welche sie sich selber macht“ (IV 628), diese (als „transzendentaler Begriff von Gott“ zwar vorausgesetzte: IIII 389, Anm.) noch unbestimmte spekulative „theologische Vernunftidee“ – wohlgemerkt: erst vermittels bzw. „angesichts“ des „religiös“ bestimmten Verhältnisses des Menschen „auf die Idee von Gott“! – gewissermaßen Konturen als „Welturheber von höchster Vollkommenheit“, „denn die analytischen Prädikate, d. i. die, welche mit dem Begriffe der Notwendigkeit einerlei sind, z. B. die Unveränderlichkeit, Ewigkeit, auch sogar die Einfachheit der Substanz, sind keine Bestimmungen, daher auch die Einheit eines solchen Wesens gar nicht bewiesen werden kann“ (III 643).341 Demgemäß besagt der von Kant schon 340 Refl. 5528 (AA XVIII, 209) erläutert diesen unverzichtbaren „Substrat“-Status (und zugleich dessen Vorläufigkeit) noch näher: „Die transcendentale Theologie hat das vorzügliche, dass in ihr allein die Notwendigkeit eines höchsten Wesens erkannt werden kann. Daher sie auch allein es durchgängig bestimmen kann als Einheit etc. etc. Sie reinigt allein die theologia naturalis vom Einfluss empirischer Prädikate, Anthropomorphism. Der Nachteil ist, dass der Beweisgrund nur subjectiv ist; denn das Dasein lässt sich völlig apriori nicht erkennen. Aber als Voraussetzung kann sie doch im praktischen Gebrauch des Verstandes notwendig sein“ – auch wenn „transcendentale Theologie … bloß negativen Nutzen“ hat (Refl. 6030, in: AA XVIII, 427). Dies wäre wohl auch Kants Antwort auf Jacobi gewesen, denn freilich wusste Kant darum: „Der Gott der Bibel ist erhabner als der Gott, welcher nur ein Absolutes ist, wie sehr man dieses auch schmückte, und mit Flitterwerk der Phantasie umgebe“. Für seine zentrale These, dass die Frage nach Gott „Wer ist Gott; nicht was ist er?“ lauten muss (F. H. Jacobi, Vorbericht zu Band IV der Ausgabe seiner Werke (1819), in: W. Jaeschke 1994, 403), bezieht sich Jacobi durchaus zu Recht auf Kant, obgleich auch hier dessen Verweis auf das unverzichtbare „rational-theologische“ „Substrat aller Theologie“ zu bedenken bleibt. 341 Dergestalt gewinnt ein berühmtes Motiv der klassischen „negativen Theologie“ – und zwar ganz ohne „Schwärmerei“ – auch im Kontext der kantischen Postulatenlehre einen guten Sinn: „Wir sind es, die in
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in seiner „ersten Kritik“ betonte Sachverhalt, dass „Theologie, Moral, und durch beider Verbindung“ zur Religion führe (II 338, Anm.), und insofern „Gott ein aus der Moral hervorgehender Begriff“ sei, zunächst nicht mehr als dies, dass jener (im „spekulativen Vernunftgebrauch“) „unerreichbare problematische Begriff“ Gottes solcherart lediglich „erreichbar“, d. h. eben: „bestimmbar“ („immanent“) wird,342 also eine „significatio“ erhält343 – nicht mehr ist fürs Erste mit „objektiver Realität“ gemeint!344 Auch Kants ethikotheologischer Hinweis, dass die Gottesidee als lediglich „regulatives Prinzip“ indes, wenn „es aber auf das Praktische ankommt“, zugleich „konstitutiv, d. i. praktisch bestimmend“ werden soll (V 586), besagt dann lediglich, dass darin das praktische Verhältnis des „vernünftigen Weltwesens“ zu jenem „Gegenstand in der Idee“ zum Ausdruck kommt, woraus dieser gewissermaßen ein „Antlitz“ gewinnt. Auch in solcher Hinsicht korrespondiert hier gewissermaßen jener „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft“ die „praktische Erweiterung“ derselben, die sich nunmehr in jenem noch weiterführenden praktisch-konstitutiven „Handle, als ob …“ manifestiert. Der in dem „Ich will, dass ein Gott sei …“ artikulierte postulatorisch-„positive“ Bezug auf das „Dasein Gottes“ setzt eben diese „objektive Realität“ schon voraus. Es sind jene der Vernunft „abgenötigten Voraussetzungen“, die auf einem „freien Annehmen“ basieren, das („objektive Realität“ in diesem Sinne“) wiederum in jenem moralisch inspirierten bzw. gestützten „ich will, dass ein Gott sei …“, verankert ist. War jener zwar notwendige, jedoch unbestimmte Begriff des „metaphysischen Gottes“ in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ „für uns“ bestimmbar und damit erst „ein Gegenstand der Religion“ geworden (und hat solcherart – zunächst – lediglich in diesem Sinne „objektive Realität“ gewonnen), so ging Kants Postulatenlehre gleichwohl darüber noch hinaus. Während Letztere also zunächst lediglich auf einen „genau bestimmte(n) Begriff unseren Geburtsnöten nicht wissen, wie wir es bezeichnen sollen; wir sprechen über ein Unsagbares und geben ihm Namen, um es uns selber [!] zu bezeichnen, so gut wir es vermögen“ (Plotin, Enneaden 5,6, 22–26). – In der Tat: „Die Position Kants kann man paradox kennzeichnen als negative Theologie ohne Mystik bzw. ohne mystische Schau. Die Vernunft drängt auf den Urgrund, das Unbedingte und in sich Notwendige, das der endliche Verstand nicht sachhaltig zu bestimmen vermag. […] Wenn in praktischer Hinsicht jener Urgrund als moralischer Welturheber gedacht wird, der Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes ist, wird die negative Theologie als Grundlage nicht verlassen“ (E. Düsing 2004, 463). Vermutliche sachliche Anknüpfungspunkte an die von Meister Eckhart vorgestellte Differenz und Einheit von „deitas“ und „deus“ sind hier nicht zu verfolgen. 342 Damit wird natürlich keineswegs von Kant behauptet, dass „die praktische Vernunft die Existenz [Gottes] verbürgen“ soll – und ebenso wenig wollte er mit der „praktischen Vernunft … wie mit einem Zauberstäbchen den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getötet“ hatte, wiederbeleben, wie H. Heines berühmtes Diktum über Kant und den „alten Lampe“ suggeriert (s. Heine 1966, 163). 343 Röd 1992, 34. 344 Damit ist freilich gerade noch nicht eingelöst, was Kant schon in seiner „ersten Kritik“ im Vorblick auf die Moraltheologie in Aussicht stellen wollte: „Das höchste Wesen bleibt also für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet, dessen objektive Realität [!] auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann, und, wenn es eine Moraltheologie geben sollte, die diesen Mangel ergänzen kann, so beweiset alsdenn die vorher nur problematische transzendentale Theologie ihre Unentbehrlichkeit, durch Bestimmung ihres Begriffs und unaufhörliche Zensur einer durch Sinnlichkeit oft genug getäuschten und mit ihren eigenen Ideen nicht immer einstimmigen Vernunft“ (II 563).
206 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre dieses Urwesens“ (IV 273) führte, stützt sich der beanspruchte „Realitäts-Bezug“ allein auf einen „Machtspruch der (praktischen) Vernunft“, der über jenen in der „objektiven Realität“ dieser Idee angesprochenen Aspekt der „Sachhaltigkeit“ noch hinausgeht. So wird erneut jene schon im Kontext des „symbolischen Anthropomorphismus“ erörterte Mehrdeutigkeit des Begriffs „objektive Realität“ sichtbar: Dies besagt zunächst lediglich, dass der spekulativ unbestimmt (leer) bleibende Begriff des „metaphysischen Gottes“ erst über jene praktischen Vernunftansprüche „Bestimmtheit“ gewinnt und dieserart seine nicht nur „logische“, sondern „reale Möglichkeit“ erweist. Darüber hinaus meint „objektive Realität“ auch dies, dass „die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft allerdings einen Zuwachs bekommt, der aber bloß darin besteht, dass jene für sie sonst problematische(n) (bloß denkbare[n]) Begriffe jetzt assertorisch für solche erklärt werden, denen wirklich Objekte zukommen, weil praktische Vernunft die Existenz derselben zur Möglichkeit ihres, und zwar praktisch-schlechthin notwendigen, Objekts des höchsten Guts unvermeidlich bedarf, und die theoretische dadurch berechtigt wird, sie vorauszusetzen“ (IV 267). Erst so werden diese „gedacht und [!] angenommen“345 – haben also, dem kantischen Sprachgebrauch zufolge, nicht allein „Sinn“, sondern gewinnen in dieser Hinsicht überdies „Bedeutung“ (IV 269). Solcher „Zuwachs“ verweist somit auf einen anderen Aspekt dieser „objektiven Realität“; in diesem Sinne, der allerdings jene im Sinne von „Sachhaltigkeit“ verstandene „objektive Realität“ der Ideen schon voraussetzt, ist es offenbar zu verstehen, wenn Kant sodann ausdrücklich bekräftigt, dass jene „drei Ideen der spekulativen Vernunft … an sich noch keine Erkenntnisse“ sind, „doch sind es (transzendente) Gedanken, in denen nichts Unmögliches ist. Nun bekommen sie durch ein apodiktisches praktisches Gesetz, als notwendige Bedingungen der Möglichkeit dessen, was dieses sich zum Objekte zu machen gebietet, objektive Realität, d. i. wir werden durch jenes angewiesen, dass sie Objekte haben, ohne doch, wie sich ihr Begriff auf ein Objekt bezieht [d. h. „dass ein solches wirklich sei“: IV 269], anzeigen zu können, und das ist auch noch nicht Erkenntnis dieser Objekte“ (IV 267; vgl. ebd. 269). Der Bezug darauf, dass jene „transzendenten Ideen“ nunmehr zwar auch „Objekte haben“ sollen (ohne sich indes auf „Objekte beziehen“ zu können), besagt also gerade nicht, dass dies auch schon als „Erkenntnis dieser Objekte“ gelten dürfte; dass jene Ideen derart zwar wohl „Sinn und Bedeutung“ erhalten, also „immanent und konstitutiv“ werden, „indem sie Gründe der Möglichkeit sind, das notwendige Objekt der reinen praktischen Vernunft (das höchste Gut) wirklich zu machen“, wäre somit von der „Erkenntnis dieser Objekte“ noch abzugrenzen.346 Obgleich jene beiden „Realitäts“345 Dass „in Ansehung des Übersinnlichen schlechterdings gar nichts theoretisch (als lediglich nur negativ) bestimmt werden könne“ (V 589), ist demzufolge auf beide Aspekte der „objektiven Realität“ zu beziehen (s. dazu o. III., 3.1.2.). – Diese – jenem „Ich will, dass ein Gott sei“ genau entsprechende – Zweideutigkeit tritt, genauer besehen, auch noch in der späten Reflexion 8104 (AA XIX, 646) entgegen: „Religion ist das Erkenntnis des Menschen von seinen Pflichten als (tanquam) göttlichen Geboten.“ Sodann betonte Kant allerdings: „Hiezu wird nicht erfordert, daß man glaube, es sei ein Gott, sondern es ist gnug, eine Idee von einem solchen sich zu machen, welches in Ansehung der Freiheit des Menschen so wohl der Schicksale desselben ohne Schranken machthabend ist. […] Aber es ist doch der Moralität halber nötig, ihn als ein moralisch vollkommenes Wesen anzunehmen.“ 346 Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen: „Allein es ist hier auch nicht um das theoretische Erkenntnis der Objekte dieser Ideen, sondern nur darum, daß sie überhaupt Objekte haben, zu tun. Diese Realität
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Aspekte („gedacht und angenommen“) genau unterschieden werden müssen, sind sie dennoch auch nicht zu trennen und bleiben, obwohl „immanent und konstitutiv“ geworden, von Erkenntnisansprüchen „spekulativ-theoretischer“ Art abzugrenzen. In Anknüpfung an eine schon vorgestellte Begründungsfigur (vgl. o. III., 2.2.) sei hier nochmals darauf hingewiesen: Näher betrachtet lässt dieses „dritte Stadium der neueren Metaphysik“, das nach Kant „Vernunftkritik und kritische Metaphysik“ in sich vereint, eine bemerkenswerte Stufung erkennen, die zuletzt in der „Erste-Person-Perspektive“ des performativen „Credo“ aufgehoben ist: Hatte also die „Kritik“ die Themen „Gott, Freiheit, Unsterblichkeit“ als den „eigentlichen Gegenstand der Metaphysik“ geltend gemacht, so war zunächst jedoch die kritische Zurückweisung der diesbezüglichen Ansprüche der „dogmatischen Metaphysik“ die vorrangige Aufgabe; der Aufweis des unverzichtbaren grenzbegrifflichen Status dieser „transzendentalen Vernunftideen“ knüpfte daran an. Die auf solcher Basis neubegründete Metaphysik und die dieserart beabsichtigte Legitimation eines „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ verankert jene Sätze der Metaphysik „Es ist ein Gott …“ und die Begründung des „Vernunftglaubens“ (als „freies Fürwahrhalten“ bzw. „freies Annehmen“) – in Abhebung vom „Dritte-Person-Aspekt“ des „doktrinalen Glaubens“ – in dem „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses [!] der reinen praktischen Vernunft“ (und lässt so eine besondere „Tiefenstruktur“347 erkennen): „Ich glaube an einen einigen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck; – Ich glaube an die Möglichkeit, zu diesem Endzweck, dem höchsten Gut in der Welt, so fern es am Menschen liegt, zusammenzustimmen; – Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben, als der Bedingung einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr möglichen Gut“ (III 636), in dem die „eigene Glückseligkeit“ als „einem solchen Ganzen“ zugehörig erhofft wird. Dieses „dreistufige Credo“ nimmt offenbar eine maßgebende Begründungsfigur der „dritten Kritik“ in subjekt-zentrierter Wendung (sowie in Anknüpfung an ein Argument der „Religionsschrift“) auf und schärft dieses in jener „praktisch“-konstitutiven „Alsob“-Perspektive noch zu: Der handlungskonstitutive Zweckbezug und die darauf beruhende Idee, dass „der Freiheitsbegriff … den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnwelt wirklich machen“ soll (V 247) sowie die daran geknüpfte Frage, wie die verschafft reine praktische Vernunft, und hiebei hat die theoretische Vernunft nichts weiter zu tun, als jene Objekte durch Kategorien bloß zu denken“ (IV 269). 347 Dieser höchst bemerkenswerte kantische Rekurs auf ein „Bekenntnis der reinen praktischen Vernunft“ ist gleichermaßen erhellend und verdeckend: Indiziert dies doch den von Kant unausgewiesenen Perspektivenwechsel von der ethikotheologisch-teleologisch begründeten kritischen Metaphysik (entsprechend des „Weltbegriffs der Philosophie“) als „Vernunftwissenschaft“ zur existenzialanthropologisch maßgebenden „Erste-Person-Perspektive“. Genauer wäre wohl zu sagen: Bemerkenswert ist diese späte Bezugnahme Kants auf ein solches „Bekenntnis“ vor allem deshalb, weil darin die ethikotheologisch begründete Perspektive in eigentümlicher Weise mit dem existenzialanthropologischen „Standpunkt“ verschmilzt. – Es soll sich noch bestätigen: Der „theoretische [Kardinal]-Satz: Es ist ein Gott …“ erweist sich in seiner Tiefenstruktur als „Ich glaube an einen einigen Gott …“, der (als „freies Annehmen“) wiederum auf dieses fundierende „Ich will, dass ein Gott … sei“ verweist, das selbst freilich in einem moralisch begründeten unbedingten „Urteilen-Müssen“ (der „moralisch konsequenten Denkungsart“) verwurzelt ist, an das sich jene Einstellung anschließt, „so zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegenstände [„Gott“ und „Unsterblichkeit der Seele“] wirklich wären“ (III 636).
208 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre „moralischen Zwecke“ (gemäß der Idee der „moralischen Welt“) und die Orientierung an einer „Idee des Ganzen aller Zwecke“ „realisierbar“ sein soll, führt auf die Frage nach der „Bedingung der Möglichkeit“ derselben und findet nunmehr in den diese „Als-ob“Perspektiven entfaltenden „Credo“ seine „subjektzentriert“-performative Explikation. Jener bemerkenswerte späte Rekurs auf ein performativ (als „Glaube in moralischpraktischer Rücksicht“) expliziertes „Bekenntnis der reinen praktischen Vernunft“ vereint offenbar unterschiedliche „Als-ob“-Aspekte, deren Zusammenhang indes genau zu beachten bleibt: Von dem zu befördernden „höchsten Gut“ als einer „praktischen Idee“ muss demzufolge – jenseits eines praktischen „Fiktionalismus“ – gelten, dass das „vernünftige, aber endliche Wesen“ nach seinen Möglichkeiten „so handeln“ muss, „als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist“; insofern ist diese „praktische Idee“ des „höchsten Gutes“, in der „nichts Unmögliches ist“, selbst „praktisch bestimmend“ und deshalb also durchaus von „konstitutiver Bedeutung“; davon unterschieden ist indes die daran geknüpfte „theoretische Annahme“ als jene Voraus-Setzung, „als ob“ auch Gott als Ermöglichungsgrund der in jener „praktischen Idee“ gedachten Wirklichkeit sei, die als solche Voraussetzung auch nicht einfachhin als „theoretische Fiktion“ abgetan werden darf: „Die Realität der [also keineswegs „praktischen“] Idee von Gott kann nur durch diese und also nur in praktischer Absicht, d. i. so zu handeln, als ob ein Gott sei, – also nur für diese Absicht bewiesen werden“ (III 523); im Grunde wird auch erst auf dieser Basis die späte Kennzeichnung der „Religion“ als „Erkenntnis aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ (IV 579) verständlich: Für dieses „instar“ ist jenes praktisch-konstitutive „Als-ob“ schon vorausgesetzt. Dies ist aber auch als eine indirekte Problemanzeige insofern zu lesen, als darin die Verankerung jenes „Credo“ in dem performativen „Ich will, dass ein Gott sei …“ mit der metaphysisch-ethikotheologischen Perspektive in eigentümlicher Weise gleichsam „verschmilzt“ und dergestalt das ethikotheologische „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ mit dem „Gemüt“ – „in Vernunft, Herz und Gewissen“ – vereint. Dass der späte Kant dieses „Credo in den drei Artikeln“ nun sogar als „Bekenntnis der reinen praktischen Vernunft“ charakterisierte, bringt dies in geradezu paradoxer Weise zum Ausdruck. Hat also „der Glaube“ in Gestalt dieses „Credo“ zuletzt in besonderer Weise „Platz bekommen“, so eröffnet indes der „reflektierende Glaube“ darüber hinaus noch das Blickfeld für weitere „an die Vernunft anstoßende Fragen“ (s. u. V., 3.) und führt so (wie Kants Auseinandersetzung mit der „Ethik der Alten“ und seine Aneignung christlicher Motive zeigt) auch innerhalb einer „Kritik der praktischen Vernunft“ auf unabweisliche Grenz-Themen, die sodann in der „Religionsschrift“ „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ angesprochen werden.348 In genauer Entsprechung dazu erweist sich, in einem weiteren Schritt der Explikation der „Tiefenstruktur“ dieses „Glaubens“, das „ich glaube“ (jenes dreifachen „Credo“) fundiert in jenem „Ich will, dass ein Gott, dass mein Dasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüpfung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich 348 Von diesem „reflektierenden Glauben“ ist freilich ein im „Gemeindeleben“ verankerter „reflektierter Glaube“ noch genau zu unterscheiden, der „sich zu anderen Religionen in ein Verhältnis setzt, der die falliblen Erkenntnisse der institutionalisierten Wissenschaften respektiert und die Menschenrechte akzeptiert“ (Habermas 2012, 99).
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auch dass meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen, denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich [!] bestimmt“ (IV 277 f; Hervorhebungen v. Verf.). „Unvermeidlich“ bestimmt „mein Urteil“ freilich deshalb, weil es selbst in dem sich im „kategorischen Pflichtimperativ“ kundtuenden „Bewusstsein seiner Freiheit“ (VI 429, Anm.) „subjektiv [letzt-]begründet“ ist, d. h. sich als ein „Urteilen-Müssen“ (gemäß der „Vorschrift der moralischen Gesetze“ durch den „reinen praktischen Gebrauch der Vernunft“: III 274) artikuliert.349 In diesem kantischen „Ich will, dass ein Gott … sei“, wird, obgleich noch unexpliziert, jener angezeigte existenzialanthropologisch eröffnete Sinnhorizont als maßgebend sichtbar;350 darin wird nunmehr, gleichsam „nachträglich“, jenes früher bestimmte „Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft“ in seinem spezifischen „performativen“ Charakter noch einmal bestätigt, das, ein wenig genauer besehen, die beiden Aspekte des „Vertrauens“ und der Authentizität solcher „Selbstverpflichtung“ in sich vereint. In der jenes „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ leitenden Überzeugung (als „fides“)351 bleiben jener ursprüngliche „moralische Glaube“ und das daran geknüpfte „Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Absicht“ unauflöslich vereint. Gerade in der diese existenz-orientierte Wendung anzeigenden „Erste-Person-Perspektive“ findet es eine aufschlussreiche Bestätigung, dass Kants Überlegungen zum „Weltbegriff der Philosophie“ (und seine Orientierung an dem, „was jedermann notwendig interessiert“) sich offensichtlich ganz „in den Dienst einer unverkürzten Möglichkeit des Menschenlebens … stellen“.352 349 Auch so wird also nochmals besonders deutlich, dass dieses „Ich will, dass ein Gott sei
“ an jene These rückgebunden bleibt, dass, wo „Vernunft“ als „reine Vernunft wirklich praktisch ist“, „sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat“ erweist (IV 107); darin ist jenes „freie [!] Interesse der reinen praktischen Vernunft für die Annehmung eines weisen Welturhebers“ (IV 280) fundiert, die deshalb als ein „freies Fürwahrhalten, und auch nur als ein solches mit der Moralität des Subjekts vereinbar“ (V 600, Anm.) geltend gemacht wird. In diesem Sinne konstatiert Gerhardt im Blick auf Kant eine „existenzielle Wendung vom Wissen zum Glauben“ (Gerhardt 2002, 288), die, im Ausgang vom „eigentlichen Selbst“, gegenüber der maßgebenden „teleologischen Perspektive“ der „dritten Kritik“ in der „Kritik der praktischen Vernunft“ eine besondere Gestalt gewinnt. Sie wird am Ende der Entfaltung der „moralischen Teleologie, in den beiden Schlussparagraphen der „dritten Kritik“ (über die besondere „Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben“: V 597 ff u. 590 ff ), noch einmal aufgenommen und führt hier auch zu der bemerkenswerten Kennzeichnung der „fides“. 350 Adornos Rekurs auf den „Begriff des Sinns“ steht der Sinnintention der kantischen „Willensbestimmung von besonderer Art“ bzw. des „Endzwecks der Schöpfung“ und der „transzendentalen Steigerung“ in solcher Hinsicht wohl durchaus nahe: „Der Begriff des Sinns involviert Objektivität jenseits allen Machens; als gemachter ist er bereits Fiktion, verdoppelt das sei’s auch kollektive Subjekt und betrügt es um das, was er zu gewähren scheint“ (Adorno 1966, 369). 351 Es ist bemerkenswert: Diese Kennzeichnung von „fides“ knüpft an Kants frühe Charakterisierung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“ an und geht zugleich insofern über sie hinaus, als dieses „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ nunmehr auch den Anspruch jener These, dass „alles Hoffen auf Glückseligkeit“ (II 677) ebenso modifiziert wie den Gehalt dieser „Glückseligkeits“-Idee. 352 So D. Henrich (1996, 114), in der Sache (wenngleich nicht in ausdrücklichem Bezug) nahe bei Kant. – Dass der junge Hölderlin (Brief an Niethammer v. 24. Februar 1796) im Kontext der von ihm erwähnten eingehenden Beschäftigung mit „Kant und Reinhold“ und in seiner Aufmerksamkeit darauf, sich „vor Abstraktionen [zu] hüten“, ein „Prinzip finden“ will, das ihm „die Trennungen, in denen wir denken und
210 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre In diesem Sinne sei rückblickend noch einmal daran erinnert bzw. resümiert: Jenes „Credo“ erweist sich in solcher Hinsicht als spätes Resultat der Entfaltung und Legitimation der selbst im Subjekt verwurzelten „Ideen“ im „theoretischen“ und „praktischen Vernunftgebrauch“; ihre daran geknüpfte systematische Vermittlung als „Gedanken des Abschlusses“ findet zuletzt als „Zweckverbindung“ der Vernunftideen ihre Vollendung, die nunmehr, einem Kreisgang gemäß, in der „praktischen Weisheit“ (dem „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“) des konkreten Existenz-Vollzuges aufgehoben ist, und sich zuletzt in diesem performativen „Credo“ artikuliert. Genauer noch wäre zu sagen: Es sind jene existenzialanthropologisch verankerten „Selbst“-Aussagen, die sich selbst einer „Übersetzung“ des metaphysischen Überschritts vom „Sinnlichen zum Übersinnlichen“ verdanken und sich nunmehr in jenen (gewiss missverständlicherweise so genannten) „drei Artikeln des Bekenntnisses [!] der reinen praktischen Vernunft“ artikulieren. Dies markiert in der Tat einen sachlich entscheidenden Punkt: Denn nur so ist das von Kant ausdrücklich gebilligte (und nicht lediglich als „problematisches [mögliches] Urteil“ eingeräumte) „Ich will, dass ein Gott sei …“ auch als „assertorischer Satz“ legitimiert, der als ein solcher „gegründet“ sein muss (III 305, Anm.).353 Dies setzt die im moralischen Gesetz vernommene Gewissheit, „dass reine praktische Vernunft wirklich ist“, und das darauf gegründete „dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (IV 652), voraus, weil sonst der „assertorische“ Charakter des „Ich will, dass ein Gott sei …“ (im Unterschied zu einem „bloß möglichen Urteil“) unausgewiesen bliebe.354 Die hierfür vorausgesetzte subjekt-zentrierte Perspektive führt lediglich noch einmal vor Augen, dass der hier maßgebende Gesichtspunkt des „Ganzen der menschlichen Existenz“ andernfalls unbegründet wäre und die daran geknüpften Vernunftthemen zwar notwendige „Aufgaben“ für sie existieren, erklärt“ (Hölderlin 1998 3, 614; Hervorhebung v. Verf.), gibt gewiss auch in diesem engeren Kontext in besonderer Weise zu denken; dies weist offenbar auf die Einheit des „theoretischen“ und „praktischen Vernunftgebrauchs“ bzw. auf das von Kant differenzierte „Bedürfnis der Vernunft“ zurück. 353 Vgl. dazu auch die diesbezüglich besonders bedeutsame Argumentation Kants zur Frage: „Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, in praktischer Absicht, ohne damit ihr Erkenntnis, als spekulativ, zugleich zu erweitern, zu denken möglich ist“ (IV 266 f ). Hier wird auch noch einmal deutlich, dass die Orientierung an dem „praktisch-schlechthin notwendigen“ „höchsten Gut“ einerseits das „apodiktische praktische Gesetz“ zur Voraussetzung hat und, daraus abgeleitet, auf die „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ als nunmehr „assertorisch“ bestimmbare Sätze verweist: Dies bestätigt erneut Kants Begründung des „Primats der praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“. 354 So wäre das Verhältnis des theoretischen Satzes: „Es ist ein Gott“ zu dem postulatorischen „Ich will dass ein Gott sei“, vielleicht im Blick auf die Peirce’sche Unterscheidung von Satz und Aussage durchaus in der Spur Kants zu charakterisieren: „Unterscheiden wir zwischen dem Satz [proposition] und der Aussage [assertion] jenes Satzes. Wir gestehen gerne zu, dass der Satz selbst bloß ein Bild ist mit einem Etikett oder einem Zeiger, der ihm beigegeben ist. Aber jenen Satz aussagen, heißt für ihn die Verantwortung übernehmen, zwar ohne jedes klar bestimmte Pfand, aber doch mit einem Pfand, das dadurch, dass es nicht fest umrissen werden kann, nicht kleiner wird“ (Peirce 1976, 329 f ). Auch darin wird die „praktische Fundierung“ dieser so verankerten Aussage sichtbar, die an Kants Verankerung des „Ich will, dass ein Gott sei …“ in meinem „Interesse“ anknüpft, von dem ich, aus durchaus moralischen Gründen, „nichts nachlassen darf“ (IV 278). Jene Peirce’sche Unterscheidung zwischen „proposition“ und „assertion“ hat übrigens eine bemerkenswerte Entsprechung in der kantischen Unterscheidung zwischen dem „problematischen“ und dem „assertorischen Urteil“ (vgl. II 114 f; III 304 f, Anm.).
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wären, ohne dass diese jedoch ihre „Auflösung“ finden könnten (IV 265). Mag es für den „theoretischen Gebrauch“ der Vernunft „um etwas anzunehmen, noch nicht genug“ sein, „dass kein positives Hindernis dawider ist“ (II 585), so ist hingegen ein aus moralischen Impulsen gespeistes „praktisches Interesse“ hinsichtlich des „ganzen Objekts“ der praktischen Vernunft bestimmend und in jenem „Urteilen-Müssen“ begründet.355 Eine allerdings bedeutsame Folgerung wäre dies: Wenn jener erste Artikel des „Credo“: „Ich glaube an einen einigen Gott als den Urquell alles Guten in der Welt“ in dem performativen „Ich will, dass ein Gott sei …“ verankert ist, so gewinnt damit auch die noch spätere – freilich in einem anderen Kontext stehende – Auszeichnung des Menschen als „copula“ von „Welt und Gott“ (s. o. I., Anm. 131), die in dieser „teleologia rationis humanae“ fundiert ist, einen unverzichtbaren religionsphilosophischen Stellenwert. Solche Verankerung des „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ macht auch die Eigenart des darin maßgebenden Vernunftinteresses sichtbar: Ist es doch offenbar die eigentümliche Verbindung jenes „Ich will, dass ein Gott sei“ mit der „subjektiv-, und zwar praktisch-gültige(n), und in dieser Absicht hinreichende(n) Belehrung, so zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegenstände [also „Gott, Freiheit, Unsterblichkeit“] wirklich wären“ (III 636; vgl. III 523), aus der ein besonderer Anspruch – gewissermaßen im Sinn eines bewandtnis-konstitutiven „Als ob“ („so zu handeln, als ob …“) – resultiert; dieser bringt sich wohl auch in jenem „Machtspruch der Vernunft“ zur Geltung, auf den Kant gelegentlich ausdrücklich rekurrierte (vgl. IV 393; VI 113)356 – auch hier gewissermaßen zwischen „skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“. Demnach fungiert dieses „Als-ob“ hier nicht als ein regulatives Beurteilungsprinzip, sondern erweist sich nunmehr gewissermaßen als „sinn-konstitutiv“, worin praktische Vernunft sich in ihrem letzten Zweck selbst erhält357; freilich ist dabei erneut Kants Mah355 M. Forschner gibt dieses gestufte Begründungsverhältnis treffend wieder: „Das kritisch aufgeklärte Selbstverständnis der theoretischen Vernunft eröffnet nach Kant die Möglichkeit, das kritisch aufgeklärte Selbstverständnis der praktischen Vernunft zeigt die Notwendigkeit eines Gottesbezugs für das menschliche Subjekt. Der Glaube an Gott und das Setzen auf Gott ist für Kant ein wesentliches Element der Struktur kritischer Selbsterfassung, Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung menschlicher Vernunft“ (Forschner 2010a, 109). Sodann stellt Forschner fest: „Kants Religionsphilosophie ist Teil seiner Moralphilosophie; seine Religionsphilosophie ist demnach nicht theologisch fundiert, ist nicht von einem vorgängigen Gottesbegriff abgeleitet; vielmehr führt ihn das moralische Selbstverständnis zu Gott“ (ebd.); diese Alternative hat Kant vermutlich insofern vermieden, als ihm zufolge erst aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ Religion resultiert (II 338, Anm.); zudem bleibt jedenfalls zu beachten, dass der Gottesbegriff der „transzendentalen Theologie“ „Schutzwehr“ und „Substrat aller Theologie“ und „Religion ohne Theologie“ nichts als ein Produkt des „Wahnes“ sei, vor dem und dessen „großer Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels“ (I 896) schon der frühe Kant auch in seinem „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“ gewarnt hat. 356 Auch dies bestätigt: In diesem „Machtspruch der Vernunft“, der sich eben von aller Willkür unterscheidet, ist offenbar die jenes „Ich will, dass ein Gott sei …“ auszeichnende „Beharrlichkeit“ mit einer moralisch begründeten „Selbstverpflichtung“ unauflöslich vereint und begründet auch nur so seine Legitimation. 357 Hier sei noch einmal auf jenen späten Passus Kants hingewiesen, dem zufolge allein in diesem Sinne die in der moralisch „qualifizierten“ Freiheit begründeten „praktischen Vernunftideen“ moralisch-praktische Realität erhalten: „nämlich uns so zu verhalten, als ob ihre Gegenstände (Gott und Unsterblichkeit), die man also in jener (praktischer) Rücksicht postulieren darf, gegeben wären“ (III 408 f ). Dieses „Als-
212 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre nung zu beherzigen, ein solches Vernunftbedürfnis nicht mit (theoretischer) „Einsicht zu verwechseln“. Demnach spricht einiges dafür, dass der späte Kant nach der kritischen Begründung bzw. Legitimation des „Als-ob“ im Sinne eines „regulativen Prinzips“ für den „theoretischen Gebrauch“ der Vernunft nunmehr ein unverzichtbares (freilich nicht mit Einsicht zu verwechselndes) „bewandtnis“-konstituierendes und lebens-orientierendes „Als-ob“ für den „praktischen Vernunftgebrauch“ rechtfertigen wollte, das in jenem postulatorischen „Ich will, dass ein Gott sei …“ letztbegründet ist und so jenen zwar schon ethikotheologisch bestimmbar gewordenen „Vernunftideen“ in solchem SelbstVollzug noch auf andere Weise „Sinn und Bedeutung“ verleiht. Die daraus resultierende Problemperspektive scheint mit der hier verfolgten existenzialanthropologischen Wendung offenbar recht gut vereinbar zu sein. Folglich sollten auch die „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ als „Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht“ (IV 264) solcherart noch einen besonderen Stellenwert erhalten. Freilich bleibt es dabei: Auch wenn diese „Denkungsart“ als „moralisch konsequent“ und die innere „Rationalität“ jenes performativen „Als ob“ durchaus ausweisbar ist, so ist damit – „niemals wird’s Wissen“, wie schon der frühe Kant wusste (s. o. IV., Anm. 258) – der „terminus ad quem“ jenes „Credo“ (als „Gegenstand in der Realität“) doch nicht eingeholt und entspricht auch nur so der der „praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (IV 281). Indes macht gerade jenes „Als-ob“ noch einmal deutlich, dass die darin angezeigte „Lebensdeutung“ an die „Erste-Person“-Perspektive gebunden ist und solcherart eben auf die „Orientierung“ eines Lebens, das „geführt werden muss“, abzielt. Die metaphysisch-ethikotheologische Explikation der „moralischen Teleologie“ ist so in den „Standpunkt des Lebens“ rückübersetzt, in dem sie doch zugleich ihr Fundament hat.358 So wird nochmals besonders deutlich: Es ob“ setzt hier offenbar noch einen besonderen Akzent. Interessant ist besonders der von Kant daran geknüpfte Hinweis darauf, dass durch diese hier leitende – durch die „kritische Philosophie“ erst eröffnete – Perspektive ein „ewiger Frieden unter den Philosophen“ und dennoch die Erreichbarkeit des „Endzwecks der Metaphysik“ in Aussicht gestellt sei – gleichermaßen jedoch auch dies, „die Kräfte des durch Angriffe in scheinbare Gefahr gesetzten Subjekts immer rege zu erhalten“ (III 409): Ein durchaus bemerkenswerter Aspekt der „Selbsterhaltung der Vernunft“ in „existenzialanthropologischer“ Akzentuierung. – Dass jenes „sinn“- bzw. „bewandtnis“-konstitutive „Als-ob“ gerade in Kants späten Schriften in besonderer Weise bestimmend ist, zeigt auch ein Passus in seiner späten Schrift „Das Ende aller Dinge“: „Mithin müßten wir uns auch der jenem Verdienst oder dieser Schuld angemessenen Folgen, unter der Herrschaft des guten oder des bösen Prinzips, für die Ewigkeit gewärtigen; in welcher Rücksicht es folglich weise ist, so zu handeln, als ob ein andres Leben, und der moralische Zustand, mit dem wir das gegenwärtige endigen, samt seinen Folgen, beim Eintritt in dasselbe unabänderlich sei“ (VI 179). Dies ist nun lediglich als eine gleichsam „existenzialanthropologische Übersetzung“ jener vorangehenden Bemerkung Kants zu buchstabieren, wonach „die Idee eines Endes aller Dinge ihren Ursprung nicht von dem Vernünfteln über den physischen, sondern über den moralischen Lauf der Dinge in der Welt hernimmt, und allein dadurch veranlasst wird“ (VI 176), d. h. von existenziellem „Inter-esse“ ist. 358 Diese nicht als fiktionalistisch entlarvbare praktische „Als-ob“-Perspektive begegnet vornehmlich auch in sehr späten Reflexionen Kants, so auch in der für „frühestens Oktober 1797“ datierten Refl. 6351 (AA XVIII, 678), wo er besonders betont: „(V)om synthetisch praktischen Erkenntnis apriori heißt es auch, dass es bloß subjektiv sei; (des Willens) Freiheit ist das erste, – und die transzendentalen [?] Begriffe von Gott und Unsterblichkeit gehen nur auf die Prinzipien meiner Handlungen. Ich soll so handeln, also ob ein Gott und künftig Leben sei.
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ist das „bewusste“, ein „Interesse an sich selbst“ nehmende „Leben“ (der „Lebenswandel“: III 390 Anm.), aus dem jene ethikotheologischen Fragen aufsteigen, darin ihre systematische Explikation finden und daraus sodann, in solcherart reflektierter Gestalt, wiederum in die konkrete Orientierung im „Ganzen einer moralischen Lebensgeschichte“ eingehen, worin die „Vernunfterkenntnis“ als „Weisheitslehre“ aufgehoben ist (s. u. IV., Anm. 581). Die in der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ von Kant in „teleologisch“ gestufter Form verfolgte Absicht, am Leitfaden der differenzierten Zweck- bzw. Endzweck-Bestimmungen des „Natürlichen“ und „Menschlichen“ „das Leben zu denken“, führt dergestalt gewissermaßen in reflektierter Gestalt „denkend ins Leben“ zurück. Auch die hier angeführten Aspekte verdeutlichen es nun noch einmal in dieser besonderen existenzialanthropologischen Akzentuierung: Nicht zuletzt im Blick auf die Wirklichkeit dieses „Gefüges“ der Vernunftideen, d. h. auf ihre innere Verfassung (die darin erkennbare „gewisse Organisation“: III 650) und den daran orientierten „ExistenzEntwurf“ bleibt Kants Diktum über das „Unbegreifliche des Wirklichen“ aufzunehmen (III 223, Anm.).359 Gehört doch der durch dieses vorausgesetzte „Gefüge“ eröffnete Vernunfthorizont, innerhalb dessen das „vernünftige Weltwesen“ immer schon freiheits- und sinnorientiert gemäß jenen leitenden Fragen Kants existiert, selbst zu seiner spezifischen „Beschaffenheit“ und erweist sich insofern in seiner Faktizität und „inneren Zweckmäßigkeit“ als ebenso kontingent wie das vorausliegende „Dasein einer Welt“ (V 576, Anm.) selbst. „Unbegreiflich“, so hat sich gezeigt, ist demnach nicht allein die im Faktum des „Bewusstseins des moralischen Gesetzes“ „offenbare“ Wirklichkeit dieser Freiheit (vgl. II 361), sondern das in diesem „archimedischen Punkt“ verankerte (und von ihm „bei sich geführte“: vgl. III 411) ganze „Gefüge der Vernunftideen“; dieses erweist sich als ein „Zusammenstimmen“, dessen immanente „Teleologie“ freigelegt wird und derart nunmehr eine ganz besondere – weil konstitutive – „Als-ob-Perspektive“ eröffnet. Es ist die in der „Zweckverbindung jener Vernunftideen“ sich entfaltende „Organisation“ als „zweckmäßige und in ihrer Form beharrliche Anordnung der Teile“ (VI 257), in welchem Gefüge die Idee des „Übersinnlichen außer uns“ freilich selbst schon als ein mit den anderen „Ideen“ verbundenes „Element“ integriert ist. Dieses – selbst aus der „Kritik“ der „Fakta der Vernunft“ (II 646) hervorgegangene! – erst freigelegte „Faktum der
Wie sind synthetische Sätze des Übersinnlichen möglich? Als regulative Prinzipien des Praktischen, nicht als konstitutive des theoretischen Erkenntnisses“ (vgl. auch Refl. 6358: AA XVIII, 683; ebenso die erhellende Refl. 6360: AA XVIII, 689 f ). Dass sie nicht „konstitutiv“ werden können, schmälert indes nicht ihren Anspruch. – Demnach wäre also, gemäß der im kategorischen Pflichtimperativ offenbar werdenden „Freiheit“, der „postulatorische“ Sinn – ganz gemäß der jener „fides“-Bestimmung immanenten „Selbstverpflichtung“ – folgendermaßen zu bestimmen: „Handle so, als ob du vor einem ‚Herzenskündiger‘ Rechenschaft über das ‚Ganze deiner Lebengeschichte‘ ablegen müsstest“ – wobei dieses „als ob“ derart eine „praktisch konstitutive“ Bedeutung gewinnt und in Kants ausdrücklichem Bezug auf eine „Hoffnung“ eines nicht nur „künftigen“, sondern auf „ein durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“ (III 412) eine genaue Entsprechung hat. 359 Das hängt freilich auch schon für Kant „damit zusammen, dass kein Teil unserer Erfahrung auch a priori ist. Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein. Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori“ (L. Wittgenstein, Tractatus 5.634). Und: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist“ (ebd. 6.44).
214 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Vernunft“ gibt so erneut „viel zu denken“ und verweist über jene „Als-ob-Perspektive“ die Vernunft erneut in ihren „Abgrund“. Nun legt es jene Charakterisierung des „Credo“ als „subjektiv-, und zwar praktischgültige … Belehrung, so zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegenstände … wirklich wären“, selbst nahe, den kantischen „Vernunftglauben“ in einer solchen „Alsob“-Hinsicht gleichsam als einen „reflektierenden Glauben“ der besonderen Art aufzufassen, der als solches „Credo“ freilich über die bloße Bestimmung „seine(s) Begriff(s) als den eines moralischen Gesetzgebers“ (IV 855) hinausführt, obgleich die berühmte kantische Kennzeichnung der „Religion als (instar) Erkenntnis unserer Pflichten“ das sinn-konstitutive „Als ob“ jenes „Credo“ voraussetzt. Dieses „Credo“ verknüpft so in eigentümlicher Weise Aufforderung und Erlaubnis zugleich. Indes, von dieser „Als-ob“Perspektive bleibt, wie erwähnt, Kants Bezugnahme auf jenen von ihm explizit so genannten „reflektierenden Glauben“ (in der beinahe zeitgleich erschienenen „Religionsschrift“: IV 704, Anm.) noch genau zu unterscheiden, der (bzw. dessen „Als-ob“) über den Anspruch des „Vernunftglaubens“ hinaus, sich „auf der Grenze haltend“, noch auf besondere religionsphilosophische Grenzgänge führt. Mit Rücksicht auf den spezifischen Charakter des dieses „Credo“ auszeichnenden „freien Fürwahrhaltens“ sei hier noch einmal – überleitend zum folgenden Abschnitt – auf die darin implizierten bemerkenswerten Differenzierungen hingewiesen: Ein solches „Credo“ „verstattet also keinen Imperativ (kein crede), und der Beweisgrund dieser seiner Richtigkeit ist kein Beweis von der Wahrheit dieser Sätze, als theoretischer betrachtet, mithin keine objektive Belehrung von der Wirklichkeit der Gegenstände derselben, denn die ist in Ansehung des Übersinnlichen unmöglich, sondern nur eine subjektiv-, und zwar praktischgültige, und in dieser Absicht hinreichende Belehrung, so zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegenstände wirklich wären …“ (III 636). Dies präzisiert offenbar nicht nur jene von Kant schon im Kontext der Postulatenlehre eingeschärfte Unterscheidung zwischen der unmöglichen „Erweiterung der Erkenntnis von gegebenen übersinnlichen Gegenständen“ und der vernunftgeleiteten Nötigung der Voraussetzung, „dass es solche Gegenstände gebe“ (IV 268); darüber hinaus darf jene kantische Erläuterung zu dem dieses „Credo“ auszeichenden Anspruch als ein impliziter Hinweis auf die unumgängliche Differenzierung von Geltungsansprüchen gelesen werden – und damit auch als eine indirekte Rechtfertigung von Vernunftansprüchen, die gleichwohl nicht als ein Geltungsanspruch auf „Wahrheit“ im Sinne des „theoretischen Vernunftgebrauchs“ angesehen werden bzw. gelten dürfen. Jener „Belehrung, so zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegenstände wirklich wären …“, entspricht nun in solcher Sinnperspektive die „praktisch“ inspirierte und legitimierte Hinsicht, „als ob“ die Welt „Schöpfung“ wäre – gleichermaßen eine Aussage, die nicht einer „Theorie der Natur der Dinge an sich selbst“ entspringt (III 391), sondern allein auf „praktische Vernunftansprüche“ gestützt ist – so aber doch „ganz zureichend“ ist. Die diesen „Vernunftglauben“ leitende Überzeugung kann zwar „Wahrheit“ nicht einfachhin für sich beanspruchen; gleichwohl mag sie „wahr“ sein und wird – in Anbetracht des „klärsten Beweis(es) der Unwissenheit der Gegner“ (II 33) – durch die als denknotwendig legitimierte rational-theologische Gottesidee darin sogar gestützt. Davon soll, obgleich in besonderer Akzentuierung, im folgenden Abschnitt noch näher die Rede sein.
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3.2.2. Im Rückblick: Ein kleiner, jedoch bedeutsamer Schritt: Vom „Ich bin moralisch gewiss, dass ein Gott sei“ zum „postulatorischen“ „Ich will, dass ein Gott sei“ Ein vermutlich verfolgenswerter Problemaspekt, der den dieses „Ich will, dass ein Gott sei …“ auszeichnenden Status betrifft, sei hier wenigstens noch anmerkungs- und vermutungsweise benannt:360 Dieser von Kant jenem „Rechtschaffenen“ in den Mund gelegte postulatorische Anspruch wäre vielleicht auch als die ihm erst mit zunehmender Klarheit bewusst gewordene – über jene Unterscheidung des „doktrinalen“ und „moralischen Glaubens“ in der „ersten Kritik“ (II 691 ff ) noch hinausweisende – Einsicht zu verstehen, dass in der Freilegung seiner „Tiefenstruktur“ der „Kardinalsatz“: „Es ist ein Gott …“ – und zwar auch über die „moralische Gewissheit“ des „Ich bin moralisch gewiss“ noch hinaus – sodann als „Ich will, dass ein Gott sei“, begegnet. Allein in dieser postulatorisch gebrochenen Gestalt ist er letztendlich auch zu rechtfertigen, während er als Behauptung, „dass Gott ist“, gemäß den „Modi des Fürwahrhaltens“ der theoretischen Vernunft (des „Meinens, Glaubens und Wissens“) in dem damit verbundenen Wahrheitsanspruch dem kritischen Unternehmen Kants zufolge bekanntlich gerade nicht ausweisbar ist und auch jene zunächst geltend gemachte „moralische Gewissheit“ („ich bin moralisch gewiss, dass ein Gott sei“) offenbar noch diese „postulatorische“ Explikation des „Ich will, dass ein Gott sei“ unentbehrlich macht. Der diesem sinnaffirmierenden „ich will …“ immanente Geltungsanspruch ist allein dadurch legitimiert, dass darin – unter dem Vorzeichen des reflexiv uneinholbaren „Dass eine Welt ist“ – nicht nur von einem „Soll die Rede sein soll“ (vgl. II 498), sondern darüber hinaus auch eine diesem „moralischen Gesetz gemäße Welt“ sein soll. Es ist dies selbst eine „moralische Idee“, die deshalb auch aus moralischen Gründen nicht negiert werden kann; eben darauf ist auch die dieses „Ich will, dass ein Gott sei …“ auszeichnende „Beharrlichkeit“, ihr „Urteilen-Müssen“, gestützt, die in solcher Affirmation die Negation jenes (von Kant bezeichnenderweise ebenso als „Grundsatz“ bestimmten) „Unglaubens“ vollzieht. Eine wohl bemerkenswerte Konsequenz daraus wäre also, dass Kant mit jenem „Ich will, dass ein Gott … sei“ in der „Kritik der praktischen Vernunft“ („Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft“: IV 276 ff ) im Grunde eine Transformation des Status bzw. des Anspruchs jenes „Kardinalsatzes“ vorgenommen hat – und zwar näherhin durch das explizite Bewusstmachen der spezifischen „Tiefenstruktur“ und des darin zutage tretenden „performativen Anspruchs“, der „behauptend“ weder als dezisionistisch-„vermeinendes“ Privaturteil noch als Wahrscheinlichkeits-Erwägung und auch nicht als „Wahrheitsanspruch“ auftritt. Demgegenüber kommt dem in diesem „Ich will, dass ein Gott sei“, gleichwohl geltend gemachten Anspruch, „dass ein Gott ist“, ein anderer – nach Kant nicht bloß legitimierbarer, sondern auch als „freies Annehmen“ rational ausweisbarer – Status zu, der schon um der Wahrung seines spezifischen Eigensinns 360 Inspiriert ist diese Anmerkung von Überlegungen Apels zu „Austin und die Sprachphilosophie der Gegenwart“, die gegenüber einseitig-verkürzenden Rezeptionen der Austin’schen Sprechakt-Theorie auf die „performativ-propositionale Doppelstruktur der menschlichen Sprache“ abzielen (s. Apel 1982).
216 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre willen daran festhalten muss: „Niemals wird’s Wissen“, und andernfalls den Stellenwert eines „Kardinalsatzes“ geradewegs verlieren müsste. Man könnte geradezu vermuten, dass Kant auf dem langen Weg von jener zunächst noch vermeintlich „wichtigste(n) aller unserer Erkenntnisse: Es ist ein Gott“ (so im frühen „Einzig möglichen Beweisgrund …“: I 621) und dem später (in der „ersten Kritik“: II 633) so genannten „Kardinalsatz“: „Es ist ein Gott“ über jenes „Ich bin moralisch gewiss, dass ein Gott sei“, sodann eben über jenes „Ich will, dass ein Gott sei“ (IV 277), zunehmend ein Bewusstsein von der dieses „Dass ein Gott sei …“ auszeichnenden eigentümlichen „performativ-propositionalen“ Doppelstruktur gewonnen hat; dies wäre zuletzt auch noch in jener bemerkenswerten Charakterisierung des „Credo“ als „freies Annehmen“ bzw. als „Bekenntnis der reinen praktischen Vernunft“ nachvollziehbar. Ebenso bleibt jedoch darauf zu achten, dass Kant es als ein grobes Missverständnis zurückgewiesen hätte, die aus diesem „Credo“ abgeleitete „subjektiv-, und zwar praktisch gültige, und in dieser Absicht hinreichende Belehrung, so zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegenstände wirklich wären“ (III 636), im Sinne eines bloß fiktionalen „Als ob“ zu diskreditieren. Der solcherart in diesem „Credo“ angesprochene Rekurs darauf, „so zu handeln, als ob wir [!] wüssten“, enthält auch einen denkwürdigen indirekten Verweis auf das „ethische gemeine Wesen“ und das seine Mitglieder verbindende – und verpflichtende – „symbolum“. Demzufolge wäre in solcher Freilegung des „performativen Gehalts“ dieses „Ich will, dass ein Gott sei“ auch so zu lesen, dass jener „Rechtschaffene“ in diesem „ich will, dass …“ eben „nicht nur will, sondern auch sagt, dass er will“361 – und solches selbstreflexiv-grundsätzliche „Sagen“ – dies ist entscheidend – doch allererst jene beanspruchte „Authentizität“ begründet, die auch in dem von jenem „Rechtschaffenen“ geäußerten Anspruch zum Ausdruck kommt, „wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt, ohne auf Vernünfteleien zu achten“ (IV 278). In dem sich darin manifestierenden „Selbstverhältnis“ wäre jedoch nicht ein subjektiver Wahrheitsanspruch im Sinne einer diskursiv einlösbaren Einsicht zum Ausdruck gebracht, sondern ein „existenzieller“ Wahrhaftigkeitsanspruch; darauf verweist wohl der von Kant benannte „subjektive Grund“, etwas „vorauszusetzen“ bzw. „an[zu]nehmen“ (vgl. III 271 f ), der so als der „unwankende Grund“ des „Vernunftglaubens“ geltend gemacht wird und sodann auch seiner Bestimmung des „Postulats der reinen praktischen Vernunft“ zugrunde liegt, das in einem „beharrlichen Grundsatz des Gemüts“ (V 603) verankert ist. Solcher „Anspruch“ läuft Kant zufolge jedoch gerade nicht auf einen blinden „Dezisionismus“ hinaus und müsste, wie er unermüdlich einschärfte, in seiner eigentümlichen Verbindlichkeit – nämlich als ein zwar „selbsterhaltungs“-orientierter „Machtspruch der Vernunft“ – von beanspruchter „Einsicht“ gleichwohl genau unterschieden bleiben.362 361 Diese Formulierung lehnt sich an eine Erläuterung von J. Searle an, die sich auf die „semantische Bedeutung“ des „performativen Teilsatzes“ bezieht: „Jemand, der sagt, ‚ich verspreche hiermit‘, verspricht nicht nur, sondern er sagt, dass er es tut“ (Searle 1971, 108). 362 In diesem Sinne wäre dann wohl auch die schon angeführte einschlägige Bemerkung aus Kants Logik auszubuchstabieren: „Das komplette Fürwahrhalten aus subjektiven Gründen, die in praktischer Beziehung so viel als objektive gelten, ist aber auch Überzeugung, nur nicht logische, sondern praktische (ich
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Mit Rücksicht darauf, dass es doch „ein und dieselbe Vernunft“ in der Unterschiedlichkeit ihres Gebrauchs ist und das „Denken“ der Vernunftideen vom „Annehmen“ des darin „Gedachten“ indes unterschieden werden muss, wären in der Tiefenstruktur jenes resultierenden „Ich will, dass ein Gott sei …“ demnach offensichtlich mehrere Stufen zu unterscheiden: Dass in dem Gottesgedanken als einer Idee der „spekulativen Vernunft“ nicht nur „nichts Unmögliches“ ist (IV 267), sondern deren grenzbegrifflicher Status für die Vollständigkeit des Vernunftgebrauchs sogar unverzichtbar sei, lässt sich argumentativ einlösen; zurückgewiesen wird der darüber hinausgehende Anspruch, jenen Kardinalsatz „Es ist ein Gott“ in dem Sinne, dass man „wisse, dass ein Gott … sei“ (II 693), auch behaupten zu können. Indes enthält jenes reflexiv-„postulatorische“ „ich will, dass ein Gott … sei“, als „performative Äußerung“ in dem auf das „Dass Gottes“ abzielenden Postulat (als ein „theoretischer, als solcher aber nicht erweislicher Satz, so fern er einem apriori unbedingt geltenden praktischen Gesetz unzertrennlich anhängt)“ (IV 252 f ) zwar gewissermaßen eine postulatorisch gebrochene „Sachverhaltsreferenz“, obgleich sich der in dem „ich will, dass ein Gott … sei …“ explizierte „performative Anspruch“ jedenfalls nicht in einem theoretischen „Wahrheitsanspruch“ erschöpft; vielmehr ist er in einem – interesse-geleiteten – unbedingten „Urteilen-Müssen“ anderer Art begründet, in dem sich ein unabweislicher „Machtspruch der Vernunft“ zur Geltung bringt. In diesem „Ich will, dass ein Gott sei“, scheint somit dieser „Sachverhaltsbezug“ zugleich in eigentümlicher Weise an einen – über den Wahrheitsanspruch noch hinausweisenden – „selbstreflexiven“ Bezug von besonderer Art rückgebunden zu sein, der über die beanspruchte Wahrheit („ich behaupte, dass …“) bzw. die „selbstreflexive Verantwortung des Wahrheitsanspruchs“ hinaus noch auf eine besondere Dimension der Authentizität und Wahrhaftigkeit verweist, worin auch die hier verfolgte „existenzialanthropologische“ Verankerung der Postulatenlehre fundiert ist. Erst mit dem Aufweis des diesem „Ich will, dass ein Gott sei“ immanenten Geltungsanspruchs (bzw. dessen „performativpropositionaler“ Struktur) kann im Blick auf die „Ideen von Gott und Unsterblichkeit“ nunmehr auch die These eingelöst werden, dass die „Möglichkeit, die vorher nur Problem war, hier Assertion wird“ (IV 109), und derart der besondere Charakter dieser „Assertion“ (und ihrer „Setzung“) erwiesen ist.363 Jenes selbstreflexiv-postulatorische „ich bin gewiss). Und diese praktische Überzeugung oder dieser moralische Vernunftglaube ist oft fester als alles Wissen. Beim Wissen hört man noch auf Gegengründe [muss man freilich auch, wenn es denn „Wissen“ sein soll], aber beim Glauben nicht; weil es hierbei nicht auf objektive Gründe, sondern auf das moralische Interesse des Subjekts ankommt“ (III 501 f ). Nun klingt diese Unterscheidung zwar schon in der „ersten Kritik“ in der Abgrenzung der „moralischen Gewissheit“ von der „logischen Gewissheit“ an („[S]o muss ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei etc., sondern, ich bin moralisch gewiß“: II 693); mit jenem ausdrücklichen „Ich will, dass ein Gott sei …“ hätte es jedoch erst gegenüber dem „Ich behaupte, dass ein Gott sei“ eine explizite Abgrenzung gefunden, die sich an der besonderen „Tiefenstruktur“ orientiert, d. h. sich auf den impliziten Anspruch des „performativen Teilsatzes“ besinnt. Diese hier nur anmerkungsweise vorgestellten Vermutungen bedürfen freilich einer eingehenden „sprechakttheoretischen“ Analyse, die hier nicht zu leisten ist. 363 Es spricht vieles dafür, im Lichte dieser bei Kant rekonstruierbaren Problementwicklung auch einen Passus aus Hegels frühen Entwürfen über „Moralität, Liebe, Religion“ zu lesen: „Was ist: Begriff von Moralität? Die moralischen Begriffe haben nicht in dem Sinne Objekte, in dem die theoretischen Begriffe Objekte haben. Das Objekt jener ist immer das Ich; das Objekt dieser das Nicht-Ich. – Das Objekt des
218 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre will, dass ein Gott sei …“ wäre demnach (mit Blick auf den jungen Hegel gesprochen) eine „reflektierte Tätigkeit“364, die so alle schlechte selbst-vergessene „Positivität“ (und die durch den „falschen Schein“ bedingten „Hypostasierungen“) als solche durchschaut und somit vermeiden lässt. Diese bemerkenswerte Verschiebung in Kants Argumentation lässt auch eine sachliche Differenzierung und Zuschärfung vermuten: Hatte Kant zwar schon in jenem Abschnitt „Vom Meinen, Wissen und Glauben“ auf das vermeintlich „Bedenkliche“ der Verankerung des „Vernunftglaubens“ in der „Voraussetzung moralischer Gesinnungen“ (II 694) aufmerksam gemacht und daran den Hinweis auf die besondere Eigenart dieses „moralischen Glaubens“ geknüpft, so zeigt sich, genauer betrachtet, doch auch dies: Das zunächst gegenüber einem beanspruchten „Es ist moralisch gewiss“ geltend gemachte „Ich bin moralisch gewiss etc.“ (II 693) erfährt in dem „Ich will, dass ein Gott sei“ offenbar selbst noch einmal eine – eben „postulatorische“ – Brechung, die indes zugleich eine Zuschärfung bedeutet,365 zumal die in diesem „ich will, dass ein Gott sei …“ sich bekundende „Authentizität“ doch jene angeführte Reflexions-Differenz gerade voraussetzt, der zufolge der „Rechtschaffene“ eben nicht nur „will, sondern auch sagt, dass er will“. Die diese „Authentizität“ erst konstituierende Differenz ist in jenem „Ich bin moralisch gewiss etc.“ offenbar noch nicht enthalten – sie ist es jedoch, die erst auf solche Weise den eigentlichen postulatorischen Anspruch in solcher gestuften Vermittlung zu begründen vermag.366 Es spricht wohl einiges dafür, dass die – gegenüber jenem „ich bin moralisch gewiss …“ – in jenem „Ich will, dass ein Gott sei …“ zutage tretende „postulatorische Brechung“ auch eine besondere Selbstvergewisserung der darin beanspruchten „Authentizität“ anzeigt, die in Kants Bestimmung der „fides“ insofern (in noch einmal zugeschärfter Form) moralischen Begriffs ist eine gewisse Bestimmung des Ich, die, um ein Begriff zu werden, um erkannt, um Objekt werden zu können, dem Ich anders bestimmt entgegengesetzt wird, als ein Akzidens des Ich betrachtet, von der Bestimmung des Ich, das jetzt erkennt, ausgeschlossen wird. – Begriff ist eine reflektierte Tätigkeit. Ein moralischer Begriff, der nicht auf diese Art entstanden [ist], ein Begriff ohne die Tätigkeit ist ein positiver Begriff; doch soll er zugleich [!] praktisch werden; er ist nur etwas Erkanntes, ein Gegebenes, etwas Objektives und erhält seine Macht, seine Kraft, seine Wirksamkeit. […] Der positive moralische Begriff ist fähig, den Charakter der Positivität zu verlieren, wenn die Tätigkeit, die er ausdrückt, selbst entwickelt wird und Kraft bekommt, – aber das, was man gewöhnlich positiv nennt, ist von der Beschaffenheit, dass es nicht eine reflektierte Tätigkeit unserer selbst ist, sondern etwas Objektives und diesen Charakter nie ablegen kann.“ (Hegel 1, 239 f ). 364 S. vorige Anm. Das „Ich sage: ich will, …“ zeigt so selbst indirekt den „subjektiven Grund dieses Fürwahrhaltens“ an. 365 Entscheidend scheint dabei allerdings auch hier zu sein, dass noch der in dem „Ich will, dass ein Gott sei …“ angezeigte Schritt über das „Ich bin moralisch gewiss, dass ein Gott sei …“, hinaus selbst genau jene „teleologische Tiefenstruktur“ widerspiegelt (bzw. ein bedeutsames Moment derselben darstellt), auf die Kant selbst nachdrücklich „aufmerksam“ machen wollte – bezeichnenderweise genau am Übergang von der „Analytik“ zur „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ – dass nämlich „jeder Schritt, den man mit der reinen Vernunft tut, sogar im praktischen Felde … genau und zwar von selbst an alle Momente der Kritik der theoretischen Vernunft anschließe, als ob jeder mit überlegter Vorsicht, bloß um dieser Bestätigung zu verschaffen, ausgedacht wäre“ (IV 233). 366 Erst dergestalt vollendet sich diese gewissermaßen „existenzielle Wendung“ und das darin bestimmende „Interesse-Nehmen“. Das „Ich will, dass ein Gott sei …“ weist über die von Kant zunächst geforderte Einnahme des „moralischen Standpunktes“ im Sinne der „Voraussetzung moralischer Gesinnungen“ (II 694) offenbar noch hinaus.
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nachklingt, als das darin geltend gemachte „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ sogleich als ein solches charakterisiert wird, dass diese „Verheißung“ indes nicht im „moralischen Gesetz“ selbst liegt, sondern von mir, „und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde“, „hineingelegt“ wird (V 603, Anm.). Die Reflexion auf dieses subjektive „Hineinlegen“ entspricht offenbar recht genau jenem erwähnten Sachverhalt, dass die „moralische Gewissheit“ des „ich bin moralisch gewiss“, sich nunmehr als ein „ich will, dass ein Gott sei“ erweist und so erst den (im „ich will …“ angezeigten) postulatorischen Charakter dieser beanspruchten „moralischen Gewissheit“ näher entfaltet. In diesem „Vertrauen auf die [von mir „aus moralisch hinreichendem Grunde“ hineingelegte] Verheißung des moralischen Gesetzes“ sind „Selbstverpflichtung“, „Authentizität“, aber auch die behutsam angezeigte reflexive Selbstrelativierung gegenüber einem überzogenen Anspruch in konzentrierter Weise vereinigt; sie weisen so den besonderen Charakter dieser „fides“ als „subjektives Zutrauen“ aus, das damit gerade vor dem Vorwurf der „Irrationalität“ bzw. des bloßen „Dezisionismus“ bewahrt wird. Lässt sich also schon der früheren Differenzierung des „Meinens, Wissens und Glaubens“ zufolge weder rechtens behaupten, man „wisse, dass ein Gott sei“, noch dies: „Es ist moralisch gewiss“, so relativiert offenbar das jetzt erst postulatorische „Ich will, dass ein Gott sei …“ sogar auch noch einmal jenes zunächst (gegenüber einem „Es ist moralisch gewiss“) durchaus beanspruchte „Ich bin moralisch gewiss“ und verleiht so dem zuletzt allein in dem „Ich will …“ verankerten „dass ein Gott sei“, die ihm eigentümliche Spannung, die doch erst den postulatorischen Charakter desselben begründet. Die damit einhergehende Modifikation der Verankerung des „Dass ein Gott sei“ bringt lediglich zum Ausdruck, dass erst in solcher „postulatorischen“ Hinsicht die sie beseelende „Authentizität“ gewährleistet ist, „wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt“ (IV 278).367 Was dem Anschein nach an die „Festigkeit des Vernunftglaubens“ rührt, dies erweist sich, ein wenig genauer besehen, vielmehr als eine in dem „Ich will, dass ein Gott sei“ vollzogene Freilegung des postulatorischen Gehalts dieses Vernunftglaubens, der sich dergestalt an die „ich-förmigen“ Sätze des „Tun-Sollens“ und „Hoffen-Dürfens“ ebenso „ich-fömig“ anschließt. Damit erhält jenes performative „Ich will …“ einen Anspruch bzw. eine Sinnrichtung, die eine „selbstreflexive Verantwortung des Wahrheitsanspruchs“ im Sinne des „Ich behaupte, dass …“ hinter sich lässt, ohne sich damit indes bloßer Irrationalität auszuliefern. In dem ausdrücklichen Sinne des „Ich will, dass ein Gott … sei“, hat Kant jenen „Kardinalsatz“ eben erst in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ (als „Fürwahrhalten aus einem Bedürfnis der reinen Vernunft“: IV 276 ff ) vorgestellt, der sodann auch in dem späteren (dreifachen „Ich glaube“ des) „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses [!] der reinen praktischen Vernunft“ als „freies Annehmen“ (III 636) schon vorausgesetzt ist und darin gleicher367 Es ist übrigens sehr bemerkenswert, dass bei Kant erst in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (jedoch noch nicht in den thematisch einschlägigen Bezügen der „ersten Kritik“) von den „Postulaten“ im Sinne der „Postulatenlehre“ die Rede ist. Auffallend ist, dass Kant im „Orientierungs-Aufsatz“ den „Vernunftglauben“ selbst als ein „Postulat der Vernunft“ bezeichnet (III 277), während dann in der „Kritik der praktischen Vernunft“ von den „Postulaten“ des „Vernunftglaubens“ als notwendigen bzw. „abgenötigten Voraussetzungen“ gehandelt wird.
220 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre maßen zur Entfaltung kommt. Darin findet der Kerngehalt jenes „Ich will, dass ein Gott sei“, einen abschließenden und formelhaften Ausdruck: In diesem „ich will …“ artikuliert sich der „Hoffnungsglaube“, dass dieser „Gegenstand in der Idee“, dem sodann „symbolisierend“ Prädikate zugeschrieben werden (durch die „Gott ein Gegenstand der Religion wird“), sich auch als in dem „Gegenstand in der Realität“ begründet erweist. Dergestalt hätte jener ethikotheologische Gedanke nicht nur eine entsprechende Aufnahme gefunden: Dort betonte Kant die zu denkende Übereinstimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ als die „Beschaffenheit der Welt“, die „zu … dem Endzweck unserer reinen praktischen Vernunft … übereinstimmt“ (V 582); denn wir können einen möglichen „Endzweck der Schöpfung
nicht anders denken, als so, dass er mit dem moralischen … übereinstimmen müsse“ (V 581) – eine „Zusammenstimmung“, die zuletzt (wie erwähnt) nur als in einem diese Endzweck-Bestimmungen letztfundierenden und umfassenden Sinn-Grund verankert gedacht werden kann.368 Jene ethikotheologische Begründungsfigur, in der jene „transzendentalen Vernunftideen“ „objektive Realität“ gewonnen haben, erweist sich nunmehr auch als das unverzichtbare „metaphysische“ Fundament der existenzialanthropologisch gewendeten Postulatenlehre und des darin intendierten Aufweises jener der „Vernunft abgenötigten Voraussetzungen“ in „praktischer Absicht“. Wohl in diesem Sinne ist auch in der nahezu zeitgleich mit Kants „Preisschrift“ erschienenen „Religionsschrift“ von der geforderten Erweiterung „zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen“ die Rede, „in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (IV 652 f ).369 Offensichtlich noch ganz in der Spur jener ethikotheologischen Begründung der „subjektiven Realität“ und der „objektiven theoretischen Realität … des Begriffs von dem Endzwecke“ (V 580 f ) wird hier der „praktische Endzweck“ des Menschen von dem ihn ermöglichenden „Endzweck der Schöpfung“ unterschieden, der selbst wiederum im Willen eines „weisen Welturhebers“ letztbegründet gedacht werden muss. Die in dieser kantischen Argumentation zutage tretende gestufte „Endzweck“-Bestimmung scheint noch einmal darauf hinzuweisen, dass diese Idee eines „machthabenden moralischen Gesetzgebers“ als Ermöglichungsgrund des „Endzwecks der Schöpfung“ als eines „Sinns aus sich selber“ gedacht wird, aus dem auch jenes von jenem „Rechtschaffenen“ affirmierte „dass eine Welt überhaupt existiere“ (IV 652) gespeist ist (vgl. dazu o. III., 1.3.). Im Blick auf die in diesem „Ich will, dass ein Gott sei …“ zutage tretende besondere „performativ-propositionale Doppelstruktur“ – spiegelt sich darin in modifizierter Ge368 Indes setzt diese als möglich gedachte Entsprechung“ zwischen „praktischem Endzweck“ und dem „Endzweck der Schöpfung“ auch die Abwehr schiefer „Theonomie“-Vorstellungen notwendigerweise voraus. – Es wurde schon erwähnt, dass im Unterschied zu den Schlusspartien der „dritten Kritik“ (§ 91: V 597 ff ) in der „Preisschrift“ der „Endzweck“ nicht den „Glaubenssachen“ selbst zugerechnet wird, sondern das „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ sich hier ausschließlich auf die zu denkenden Voraussetzungen desselben bezieht. 369 Derart präzisierte Kant den ethikotheologischen Gedanken (V 580 f ), dass der „Endzweck der Schöpfung“ als „ratio essendi“ des subjektiv-„praktischen Endzwecks“ gedacht – d. h. gesetzt als nicht-gesetzt – werden muss.
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stalt jener „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249 ff ) wider? – wäre überdies zu fragen, ob derart, d. h. in solchem Ausgang von dem im „Ich will …“ sich manifestierenden „Sinn des Unbedingten“, jene fundamentalen religionsphilosophischen Leitthesen Kants, wonach „Moral unumgänglich zur Religion“ führe bzw. der „Begriff von Gott … für die Religion tauglich sein“ und insofern „aus der „Moral hervorgehen“ müsse, nicht eine noch wesentlich tiefere – radikalere – Fundierung finden könnten? Resümierend sei die entscheidende Stufung innerhalb dieser existenzialanthropologischen Perspektive noch einmal folgendermaßen vergegenwärtigt: Ausgehend von jener zunächst – auf dem Fundament der neuen „Freiheitslehre“ – vorgenommenen Begründung des „Primat(s) der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249 ff ) hat sich erwiesen, dass der Anspruch jenes „Ich will, dass ein Gott sei …“ selbst in jenem „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ verankert ist, der allein aus jener Einheit der „Einschränkung der spekulativen Vernunft und praktische(n) Erweiterung derserselben“ (IV 275) resultiert (die wiederum auf jene frühe Bestimmung von „Theologie und Moral“ als die beiden „Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“ [II 709] zurückverweist). Allein diese Begründungsfigur vermag nach Kant das Thema „Religion“ als philosophisch anschlussfähig auszuweisen und liegt in systematischer Hinsicht somit auch dem Aufweis zugrunde, wie Moral unumgänglich zur Religion führt“. Der performative Anspruch jenes „ich will, dass ein Gott sei …“ fundiert sodann auch die kantische Bestimmung der „Religion“ als „Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote“, die sich letztendlich mit der praktisch-gültigen „Belehrung“ verbindet, „so zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegenstände wirklich wären“ (III 636) – ohne dass dies freilich als „fiktionalistisch“ entlarvt werden darf; in jenem späten „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ hat der hier resümierte Begründungsgang gleichsam einen Abschluss gefunden. Noch einmal sei darauf hingewiesen: Es ist jedenfalls ein sehr bemerkenswerter Sachverhalt, dass – im Unterschied zur teleologischen „Als-ob“-Perspektive der „reflektierenden Urteilskraft“ – in zahlreichen späten einschlägigen Passagen Kants das „Als-ob“ indes einen praktisch-„konstitutiven“ Sinn gewinnt, welcher eben in dem moralischen „Standpunkt“ und seinem unbedingten „Urteilen-Müssen“ verwurzelt ist und aus solchem „archimedischen Punkt der Freiheit“ (in dem allein „Idee“ und „Realität“ untrennbar vereint sind) auch den anderen Vernunftideen – „die für die bloß spekulative Vernunft völlig leer sein würden“ – „eine obzwar nur moralisch-praktische Realität“ erteilt (III 408 f ); indes, erst innerhalb des vollzogenen „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“ stimmen diese solcherart zwar „moralisch-praktisch“ bestimmt gewordenen „Vernunftideen“ erst zu einer „Zweckverbindung“ zusammen – beide zu unterscheidenden Aspekte sind erst in solcher „Realisierung“ vereint. In dem durch „spekulative Einschränkung der Vernunft und praktische Erweiterung derselben“ erst konstituierten „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ verankert, sind diese „Ideen“ somit in einem „übereinstimmenden Ganzen“ als einer „Zweckverbindung“ organisiert und finden, dergestalt fokussiert, als Grundgerüst der Vernunftreligion auch ihre „Darstellung“. Jene aufgewiesene eigentümliche „Zweckverbindung der Ideen des Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“
222 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre wäre so mit jenem angezeigten „praktisch-konstitutiven“ „Als-ob“ in einer eigentümlichen Begründungsfigur vereint, die jenen späten Hinweis Kants, dass und wie „eine [Ethiko-]Theologie auch unmittelbar zur Religion“ führt (V 614 f ), aufnimmt und zugleich noch zuschärft. Diese nunmehr bezüglich der „moralisch-praktischen Realität“ jener Vernunftideen und ihrer Zweckverbindung“ geltend gemachten (postulatorischen) Begründungslogik läuft indes weder auf eine Erdichtung dieser „Ideen“ noch auf eine solche des „Daseins“ des darin „Gedachten“ (vgl. II 692) hinaus; ein solches Missverständnis würde den besonderen, d. h. nicht-fiktionalen Status und Geltungssinn derselben geradewegs verfehlen. Besonders beachtenswert ist dabei auch dies: Jener unscheinbare kantische Rekurs auf den „zweckmäßigen Gebrauch [!] der Vernunft“ gewinnt so, näher betrachtet, besondere Bedeutung. Die in diesem (in der neuen „Freiheitslehre“ verankerten) „Gebrauch“ zutage tretende „Erste-Person-Perspektive“ und der sich darin manifestierende Anspruch, in dem „Vernunft sich erhält“, macht so zugleich den dem „Vernunftunglauben“ immanenten performativen Selbstwiderspruch sichtbar, der (als „Grundsatz“) einen „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ (in der „Einheit der Vernunft“ bzw. als „Vermögen der Prinzipien“ und „Vermögen der Zwecke“) eben verunmöglicht und insofern den Menschen „mit sich inkonsequent macht“. Genauer besehen wird derart jedoch ein bemerkenswerter Sachverhalt sichtbar: Eigentlich „zusammenstimmend“ werden diese ethikotheologisch zwar vereinigten „Ideen des Übersinnlichen“ erst in der „Erste-Person“-Perspektive der „Existenz“ des „vernünftigen Weltwesens“, worin der praktische und hoffende Bezug auf das Ganze einer „moralischen Lebensgeschichte“ diese existenz-orientierenden Ideen buchstäblich „konkretisiert“ und eben darin sich doch der „zweckmäßige Gebrauch“ der Vernunft auch erst konstituiert. Nur in diesem „zweckmäßigen Gebrauch“ selbst sind diese „Vernunftideen“ lebendig; allein in solcher „existierend“ vollzogenen Konkretion derselben „Ideen“ erweist sich auch die über eine bloße „Vereinigung“ hinausgehende „Affinität“ derselben. So zeigt sich: Der in diesem moralisch verankerten „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“ implizierte Anspruch konstituiert in der Verknüpfung jener ethikotheologisch ausgewiesenen „Vernunftideen des Übersinnlichen“ erst die „Zusammenstimmung“ derselben und verbindet so „Religion (subjektiv betrachtet)“ und „Ethikotheologie“. Beide Aspekte sind deshalb in Kants spätem Verweis auf die „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ dergestalt vereint – eine „ursprüngliche Organisation“, die „Hervorbringen“ und „Hervorgebrachtes“ als konkrete lebendige Einheit ausweist. Eine letzte Konsequenz daraus wäre (im Blick auf die am Ende der „Preisschrift“ erwähnte „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“: III 650) dann wohl dies: Die in dieser „Preisschrift“ ausdrücklich benannte „Zweckverbindung“ der Vernunftideen (s. dazu noch einmal o. III., 2.) setzt demzufolge die in der abschließenden Anmerkung zur „Allgemeinen Teleologie“ der „dritten Kritik“ vollzogene Verknüpfung der „Ethikotheologie“ und der „existenzanthropologischen Perspektive“, die auch der Religion zugrunde liegt, schon voraus. Kants Auskunft, dass auf solche ethikotheologische Weise „Theologie auch unmittelbar zur Religion, d. i. der Erkenntnis unserer Pflichten, als göttlicher Gebote“, führe (V 614 f ), wäre von daher insofern zu korrigieren, als doch erst beide
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zusammen ein lebendiges „konkretes Ganzes“ ausmachen (das, als ein solches, auch in seiner geschichtlichen Entwicklung zu begreifen wäre). Sind der im „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“ zutage tretende „energeia“-Aspekt und die in den „Vernunft-Ideen“ „sich selbst schaffende Vernunft“ dergestalt untrennbar vereint, so verweist dies in der Folge indes erneut auf die notwendige Vermittlung des „Vernunftbegriffs in abstracto“ und „in concreto“. 3.2.3. „Ich will, dass ein Gott … sei“: Eine existenzialanthropologische Explikation der früheren Charakterisierung der Frage „Was darf ich hoffen?“ als „praktisch und theoretisch zugleich“ Im Rückblick wird so aber auch eine bedeutsame sachliche Akzentverschiebung sichtbar: Die in der „transzendentalen Methodenlehre“ der „ersten Kritik“ angezeigte, „im Interesse der Vernunft“ gründende Verbindung der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ hat in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ gewissermaßen eine „subjektzentrierte“ Zuschärfung gefunden, die dergestalt jene in der „moralischen Teleologie“ der „dritten Kritik“ angezeigte ethikotheologische „Verknüpfung“ der drei „Vernunft ideen“ „untereinander zu einer Religion“ (V 606) existenzialanthropologisch konzentriert und so auch dem rechtfertigenden Aufweis des „Bedürfnisses in schlechterdings notwendiger Absicht“ zugrunde liegt: Es ist dieser (schon wiederholt angezeigte) alles HoffenDürfen radikalisierende „ich-förmige“ Rekurs darauf, dass der „reine Vernunftwille“ in Ansehung seines „praktisch notwendigen Zwecks … hier nicht wählt, sondern einem unnachlasslichen Vernunftgebote gehorcht“ (IV 277); ebenso ist es das auf diesen „Endzweck“ gerichtete „unnachlassliche Vernunftgebot“, zu dem in der Folge allein der nicht weniger „unnachlassliche“ Glaube „zusammenstimmt“ und worin „mein [!] Interesse … mein Urteil unvermeidlich bestimmt, ohne auf Vernünfteleien zu achten …“ (IV 277 f ). Dies bestätigt die Eigenart dieses „Vernunftglaubens“ als diejenige eines „Hoffnungsglaubens“, der in der noch näher zu verfolgenden Differenz und Einheit des „Hoffens-auf“ und des „Hoffens-für“ noch schärfere Konturen gewinnen wird (s. u. IV., 4.1.1.). Ebenso zeigt sich: Jene frühe Bestimmung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“ (II 677) hat in jenem „Ich will, dass ein Gott sei“, nunmehr eine nähere Explikation gefunden, weil nur unter solcher moralisch verankerten theoretischen Voraus-Setzung dem zwar praktisch zu befördernden „Endzweck“ auch „objektive theo retische Realität“ zugesprochen werden kann.370 Im Blick auf jene Kennzeichnung der 370 Eine späte Präzisierung dieser Charakterisierung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“ bzw. des „moralischen Glaubens“ und der „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ enthält der Hinweis auf die Notwendigkeit in „moralischer Absicht“, „um dem, wozu wir so schon von selbst verbunden sind, nämlich der Beförderung des höchsten Gutes in der Welt nachzustreben, noch ein Ergänzungsstück zur Theorie der Möglichkeit desselben, allenfalls durch bloße Vernunftideen hinzuzufügen …“ (III 636). Diese Charakterisierung des Aufweises des „Daseins Gottes“ als „Ergänzungsstück zur Theorie der Möglichkeit“ des „höchsten Gutes“ kann noch einmal vergegenwärtigen, dass Kant zunächst ja „gestehen“ wollte, dass die „Lehre vom Dasein Gottes zum doktrinalen Glauben gehöre“ (II 691),
224 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“ ist damit auch gesagt, dass der diese Hoffnung fundierende Ermöglichungsgrund in jenem „Hoffnungsglauben“ verwurzelt ist; noch der späte Kant hat als dessen unverzichtbaren „terminus ad quem“ – im Sinne des „Ich will, dass ein Gott sei …“ – den „Urquell alles Guten in der Welt“ (III 636), bzw. als Idee des „weisen Welturhebers“ bestimmt. Auch seine Charakterisierung des Glaubens als „de(s) beharrliche(n) Grundsatz(es) des Gemüts, das, was zur Möglichkeit des höchsten moralischen Endzwecks als Bedingung vorauszusetzen notwendig ist, wegen der Verbindlichkeit zu demselben als wahr anzunehmen“ (V 603), stimmt damit überein. Die Bestimmung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“ hat in der in gewissem Sinne gegenläufigen Bestimmung des Postulats als einem „theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz …, sofern er einem apriori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (IV 252 f ), eine unverkennbare Entsprechung und macht so den unauflöslichen – weil subjektzentriert-„teleologischen“ – Zusammenhang der Hoffnungs- und Glaubensbestimmung sichtbar. Zugleich macht auch jene späte Kennzeichnung des „Glaubens“ als eines in der „moralischen Denkungsart“ verankerten „beharrlichen Grundsatzes des Gemüts“ jenen Sachverhalt sichtbar, dass am Ende der „dritten Kritik“ jene ethikotheologisch-metaphysische mit der existenzialanthropologisch- performativen Perspektive zusammengeführt sind. In solcher Charakterisierung des Glaubens als „beharrlicher Grundsatz des Gemüts“ klingt jedenfalls die existenz-konstituierende Einheit von „Vernunft, Herz und Gewissen“ nach. Auch so bestätigt sich: War es der am Leitfaden der „moralischen Teleologie“ unternommene Aufweis des Status des „moralischen Beweises“ (und der „Beschränkung der Gültigkeit“ derselben: Kritik der Urteilskraft: § 87 ff ), worin die Ethikotheologie als neu begründete „Metaphysik“ zum Abschluss kommt, so findet dies im Aufweis jenes „Ich will, dass ein Gott sei“ eine genaue existenzialanthropologische Entsprechung. Ist jene an der Idee der „Totalität“ orientierte teleologische Perspektive in dem von Kant geltend gemachten Zusammenhang der Wissens- und Hoffnungsfrage (denn letztere sei „in Absicht auf das Praktische und das Sittengesetz eben dasselbe, was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Dinge ist“: II 677) begründet, so ist der Zusammenhang der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ in der orientierungs-bedürftigen Existenz des Menschen im Blick auf ein bewandtnishaftes „Ganzes einer moralischen Lebensgeschichte“ (im Sinne des Aufweises, „wie Moral unausbleiblich zur Religion führt“) verankert. Es sind die Schlusspartien der „dritten Kritik“ über die Eigenart dieses „Fürwahrhaltens“ und der „Glaubenssachen“ (§ 90 f ), die zuletzt beide Motivstränge in bemerkenswerter Weise zusammenführen; nicht zuletzt kommt dies auch in Kants Beantwortung der dort aufgeworfenen Frage zum Ausdruck, weshalb denn schon der „physikotheologische Beweis“ einerseits zwar „so gewaltigen Einfluss auf das Gemüt“ (!) erzeugt, dennoch „das Bedürfnis der fragenden Vernunft nicht [zu] befriedigen“ vermag: Sehr bezeichnende Wendungen, welche die Verknüpfung beider Stränge wohl besonders deutlich machen. Gleichwohl findet diese Begründungsfigur in einer notwenwährend das „Dasein Gottes“ sodann „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ und als solches Gegenstand des „Vernunftglaubens“ ist.
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digen theodizee-orientierten Erweiterung der Ethikotheologie (die das Widerfahrnis des „schlechthin Zweckwidrigen“ aufnimmt) noch eine besondere Akzentuierung, die folglich auch das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ noch einmal zuschärft (s. u. VI.). Diese am Ende der „dritten Kritik“ vorgenommene Zusammenführung der „metaphysisch“-ethikotheologischen und der existenzialanthropologischen Perspektive wird durch jene „Umwendung der Ideen“ eingeleitet, die darin zutage tritt, dass auf dem Fundament der neuen „Freiheitslehre“ die „Idee der Freiheit“ als „scibile“ (im Sinne der „moralischen Gewissheit“) geltend gemacht wird (V 599) und durch die Verknüpfung „mit den beiden anderen“ („Gott und Unsterblichkeit“) „Religion“ begründen soll. Der in der „Religionsschrift“ benannte Bezug auf den ganz in der „Seele des Menschen“ verankerten „Tugendbegriff“ und jenen „durch Schlüsse herausvernünftelt(en)“ „Religionsbegriff“ (IV 857) knüpft hier an. Wenn sich demzufolge die in diesem IV. Teil im Vordergrund stehende „existenzialanthropologische Perspektive“ mit jenem (im III. Teil näher verfolgten) ethikotheologischen „Überschritt zum Übersinnlichen“ verbindet, so mag es als nicht unplausibel erscheinen, dass diese von Kant innerhalb des „dritten“ und „letzten Stadiums der Metaphysik“ vorgestellte Gedankenfigur der „Zweckverbindung der Vernunftideen“ jene Verknüpfung der „drei reinen Vernunftideen des Übersinnlichen“ („Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“: V 606) mit dem aus der „spekulativen Einschränkung der reinen und praktischen Erweiterung derselben“ resultierenden „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ (IV 275) in eigentümlicher Weise vereint. Ist es doch wohl diese späte Synthese der „Ethikotheologie“ (in der „dritten Kritik“) mit der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ (in der „zweiten Kritik“), welche erst den besonderen Charakter dieser „Verknüpfung“ als einer „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ zu begründen vermag. Auch der von Kant in resümierendem Blick auf die „drei Stufen des Überschrittes der Metaphysik zum Übersinnlichen“ vorgenommene Verweis auf die „gewisse Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (III 650) scheint dies im Grunde zu bestätigen. Jene schon geäußerte Auffassung, dass am Ende der „dritten Kritik“ die ethikotheologisch-metaphysische mit der existenzialanthropologisch-performativen Perspektive zusammengeführt sind, hätte somit mit der in der „Preisschrift“ formulierten „Zweckverbindung der Vernunftideen“ eine letzte weiterführende Bestätigung gefunden. Sie kann freilich nicht übersehen lassen, dass diese in der „Preisschrift“ selbst auch nicht näher begründete „Zweckverbindung“ in sys tematischer Hinsicht die hierfür unverzichtbare Synthese jener zwei Begründungsfiguren voraussetzt – nämlich einerseits jenen mit dem aus jener „spekualtiven Einschränkung der reinen Vernunft und praktischen Erweiterung derselben“ erst resultierenden „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ und andererseits jene als „Ethikotheologie“ (V 606) ausgewiesene Verknüpfung der „drei reinen Vernunftideen“; allein darin ist offenbar auch der besondere Charakter dieser „Zweckverbindung“ begründet. Im Blick auf die im „dritten Stadium“ vollzogene Problementwicklung verdient auch der Sachverhalt nochmals Erwähnung: Ausgehend von dem „Ich will, dass ein Gott sei …“ nahm Kant das schon in der „ersten Kritik“ (im Abschnitt „Vom Meinen, Wissen und Glauben“: II 687 ff ) betonte Argument auf, wonach dieser „Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet. Gehn wir davon ab, und nehmen einen, der in Ansehung sittlicher Gesetze gänzlich gleichgültig wäre, so wird die Frage, welche
226 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre die Vernunft aufwirft, bloß eine Aufgabe für die Spekulation, und kann alsdenn zwar noch mit starken Gründen aus der Analogie, aber nicht mit solchen, denen sich die hartnäckigste Zweifelsucht ergeben müsste, unterstützt werden“ (II 694). Auf der Verkennung dieses Unterschieds bzw. des darin maßgeblichen „moralischen Standpunkts“ (als Fundament des „Vernunftglaubens“) beruht ein wesentliches Defizit der vorkritischen Metaphysik. Eben diese – als Fundament unumgängliche – moralische Voraus-Setzung kennzeichnet den prinzipiellen Unterschied des „moralischen Glaubens“ vom „doktrinalen Glauben“ – eine Eigentümlichkeit, die in jenem „Ich will …“ ihren Ausdruck findet. Dieser zunächst beiläufig geäußerte Hinweis auf das „einzig Bedenkliche“, dass der „Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnung gründet“, hat im „Ich will, dass ein Gott …“ sei (im Abschnitt „Vom Fürwahrhalten als einem Bedürfnisse der reinen Vernunft“: IV 276 ff ) sodann lediglich seine konsequente Übersetzung in die – die neue „Freiheitslehre“ der „zweiten Kritik“ schon voraussetzende – subjekt-zentrierte „Existenz-Perspektive“ gefunden; Letztere wurzelt in „unsere(m) eignen Subjekt, so fern es sich durchs moralische Gesetz einerseits als intelligibles Wesen (vermöge der Freiheit) bestimmt, andererseits als nach dieser Bestimmung in der Sinnenwelt tätig, selbst erkennt“ (IV 233). Dies ist wiederum die Grundlage dafür, dass diese „existenz“-verankerte Orientierung in der „dritten Kritik“ (§ 91: „Von der Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben“: V 597 ff ) über die Bestimmung dieses „Hoffnungsglaubens“ als „fides“, noch eine letzte – im Existenz-Vollzug selbst erst zu bewährende – Akzentuierung erfährt, ohne die auch jenes beanspruchte „freie [!] Interesse der reinen praktischen Vernunft für die Annehmung eines weisen Welturhebers“ (IV 280) nicht aufrechtzuhalten wäre. Innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ (und der darin vollzogenen Differenzierung von Kritik und Metaphysik) ist so ein gestuftes Begründungsverhältnis zu rekonstruieren, das erneut die Zweideutigkeit jener „objektiven Realität“ bei Kant sichtbar macht, welche nunmehr auch einen indirekten Verweis auf eine eigentümliche „Selbstbegrenzung der Vernunft“ enthält: Mit der von einer „ziemlich subtilen“ Unterscheidung der „Denkungsart“ geltend gemachten Differenz zwischen „Gegenstand in der Idee“ und „Gegenstand schlechthin“ (also derjenigen zwischen „suppositio relativa“ und „absoluta“) war zunächst die „Vollendung des kritischen Geschäfts“ im Aufweis der „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ erreicht; damit fand zugleich der „transzendentale Begriff von Gott“ „via exclusionis“ als unverzichtbare „Schutzwehr“ gegenüber dem Atheismus und gleichermaßen als unentbehrliches „Substrat aller Theologie“ seine kritische Legitimation. In einem weiteren Schritt wurden sodann, in Abwehr der haltlosen Ansprüche der theoretisch-dogmatischen Metaphysik, die „spekulativen Vernunftideen“ in „praktische Vernunftideen“ übergeführt; in diesem Sinne vernunft-immanent „praktisch bestimmbar“ geworden schließt sich daran, auf der letzten Stufe der „moralischen Teleologie“, der Aufweis der inneren „Zweckverbindung“ dieser „Vernunftideen“ an. Indes, vom Aufweis der „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ bleibt der Status der Postulate – als der „Vernunft abgenötigte theoretische Voraussetzungen“ – noch einmal unterschieden. Werden die „spekulativen Vernunftideen“ in die „praktischen Vernunftideen“ zwar vernunftimmanent „über-setzt“ und sodann in der Idee der „moralischen Teleologie“ zusammengeschlossen, so erhält sich jener vom „Gegenstand in der
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Idee“ unterschiedene „Gegenstand schlechthin“ in entsprechender Weise nunmehr den Status einer (als „Vernunftpostulat“ bestimmten) „der Vernunft abgenötigten Voraussetzung“, in der diese sich selbst begrenzt und so auch eine unkritische Hypostasierung dieser „absoluten Voraussetzung“ verbieten muss. Jene „ziemlich subtile Unterscheidung“ zwischen „dem Gegenstand schlechthin“ und dem „Gegenstand in der Idee“, die Kant zunächst als „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ ausgewiesen hat und einen entscheidenden Aspekt seiner „negativen Theologie“ markiert, erweist sich in diesem Zusammenhang offenbar insofern als unverzichtbar, als es doch allein diese kritisch-grenzbegriffliche Unterscheidung erlaubt, jenseits von unkritischen Hypostasierungen jenen „Gegenstand schlechthin“ im Sinne des „Daseins Gottes“ nunmehr als „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ zu bestimmen und als solche Voraus-Setzung „in notwendig praktischer Rücksicht“ (IV 264) auch zu legitimieren. Die „Postulate“ wären demzufolge (gegenüber „theoretischen Dogmata“) bestimmt als jene „Voraus-Setzungen“, die in dem „Ich will, dass ein Gott sei …“ (IV 277) sich artikulierenden „Machtspruch der Vernunft“ verwurzelt und allein dadurch auch gerechtfertigt sind. Ohne jene grenzbegriffliche Bestimmung des nicht in den „Gegenstand in der Idee“ aufzulösenden, sondern erst „hintennach“ der „Vernunft abgenötigten“ – d. h. gesetzten – „Gegenstands schlechthin“ hätte jenes „Ich will, dass ein Gott sei …“ auch keinen „terminus ad quem“.371 Dafür war also jene – zunächst lediglich kritische – Unterscheidung zwischen „Gegenstand in der Idee“ und „Gegenstand schlechthin“ eine auch nur auf diesem Wege einholbare – also im „Ich will, dass ein Gott … sei“ verankerte und ausweisbare – Voraussetzung, die jene zunächst bestimmten „praktischen Vernunft ideen“ nicht allein nach Maßgabe einer „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“ (III 650) zusammenschließt, sondern das „Dasein“ dieser „Gegenstände“ auch erst als „Vernunftpostulate“ auf eine Art und Weise geltend macht,372 die dem der „prak371 Gleichwohl erlaubt dies gerade nicht jenen von Schelling vollzogenen Schritt zu einer „umgekehrten Idee“, so wenn er von dem „bloß Existierenden“ als dem reinen „quod“ betont: „Also ist es reine Idee, und doch ist es nicht Idee in dem Sinne, den das Wort in der negativen Philosophie hat. Das bloß Seiende ist das Sein, in dem vielmehr alle Idee, d. h. alle Potenz, ausgeschlossen ist. Wir werden es also nur die umgekehrte Idee nennen können, die Idee, in welcher die Vernunft außer sich gesetzt ist. Die Vernunft kann das Seiende, in dem noch nichts von einem Begriff, von einem Was ist, nur als ein absolutes Außersich setzen (freilich nur, um es hintennach, aposteriori, wieder als ihren Inhalt zu gewinnen, und so zugleich selbst in sich zurückzukehren), die Vernunft ist daher in diesem Setzen außer sich gesetzt, absolut ekstatisch.“ (Schelling XIII, 162 f ) Ebendies hätte Kant wohl als eine – gegenüber dem „Sich-auf-der Grenze-Halten“ – illegitime „Grenzüberschreitung“ kritisiert. 372 Dass der späte Kant einerseits die Transzendentalphilosophie als ein „System der reinen Vernunft“ ausgewiesen hat, d. i. als ein System „von subjektiven Ideen, welche die Vernunft selbst schafft […] indem sie sich selbst [!] schafft“ (AA XXI 93), und andererseits davon die Frage „Ist ein Gott?“ noch ausdrücklich unterschieden wissen wollte, ist in diesem Kontext sehr bemerkenswert – nicht zuletzt freilich deshalb, weil Kant diese Frage gleichermaßen als eine von der „Transzendentalphilosophie … noch immer“ unaufgelöste Aufgabe ansah (AA XXI 17), während er andernorts (vgl. AA XXI 45; ebd. 78) sodann ausdrücklich betonte: „Gott ist der Begriff von einem persönlichen Wesen. Ob ein solches existiere, wird in der Transzendentalphilosophie nicht gefragt.“ Denn: „Die Transsc. Phil. beschäftigt sich nicht mit etwas, was als existierend angenommen wird, sondern bloß mit dem Geist des Menschen, der sein eigenes denkendes Subject“ ist (AA XXI, 78). Dazu passt einerseits Kants Notiz: „Die Frage, ob ein Gott sei, muss bloß aus Prinzipien der moralisch-praktischen Vernunft abgeleitet werden“ AA XXII, 62); gleichwohl
228 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre tischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Erkenntnisvermögen“ ebenso wie dem unbedingten praktischen Vernunfbedürfnis gebührend Rechnung trägt, ohne Letzteres „mit Einsicht zu verwechseln“. In dieser transformierten Gestalt des „Vernunftpostulates“ erhält also – in behutsamer Vermeidung eines „vitium subreptionis“, d. h. ohne Rückfall in eine unkritische „suppositio absoluta“ – jener vom „Gegenstand in der Idee“ (im Sinne „kritischer Transzendenz“) unterschiedene „Gegenstand schlechthin“ nunmehr den „kritizistisch“ gesicherten Status einer der „Vernunft abgenötigten Voraussetzung“ – eine „Voraus-Setzung der Vernunft“, die sich (als „genitivus subjektivus“ und „objektivus“) allein aus jenem „zweckmäßigen Gebrauch“ der sich darin selbst begrenzenden Vernunft legitimiert. Sofern in solcher kritischen Absicht die Bedingung, unter der wir allein die „Möglichkeit“ des „höchsten Gutes“ denken können, „dadurch zugleich mit postuliert“ wird (V 601), wird in diesen Postulaten die Vernunft tatsächlich (mit einer Wendung Schellings gesprochen) „außer sich gesetzt“ – und eben dies (und auch der Zusammenhang der „Postulate“ selbst) ist Gegenstand des „Vernunftglaubens“ (als „Credo“) im engeren Sinne. Ebenso bleibt freilich eine notwendige gegenläufige Begründung im Auge zu behalten: Spricht doch einiges auch dafür, dass jene höchst bedeutsame „subtile Unterscheidung“ zwischen „Gegenstand schlechthin“ und „Gegenstand in der Idee“ – gleichsam in umgekehrtem Richtungssinn – einen besonderen Stellenwert gewinnen muss und so auch eine kritisch „gesicherte“ „Erweiterung des Vernunftgebrauchs“ ermöglicht. Nur wenn der „Gegenstand schlechthin“ (als „absoluter Grenzbegriff“) in jener kritischen Grenzziehung von dem „Gegenstand in der Idee“ nicht einfachhin absorbiert wird, lässt sich ohne Rückfall in unkritische Ansprüche auch denken, dass jene zwar „praktisch immanent“, d. h. bestimmbar gewordenen „transzendenten Ideen“ tatsächlich – als ihren unverzichtbaren absoluten „terminus ad quem“ – ein „Objekt haben“ (ohne sich darauf freilich einfach „beziehen“ zu können: s. dazu o. I., 2.1.). Deren „objektive Realität“ (als „Gegenstand in der Realität“) erschöpft sich demnach nicht in jenem „Gegenstand in der Idee“ und seinen näheren „symbolischen Darstellungen“, sondern räumt für jenes „Objekt haben“ allererst „ex negativo“ einen „Platz“ ein. Der aus jener „subtilen Unterscheidung“ gewonnene und grenzbegrifflich gedachte „Gegenstand schlechthin“ erscheint nunmehr also als eine der „Vernunft abgenötigte Voraussetzung“, die so, „postulatorisch“ begründet bzw. „gebrochen“, als „absolute Position“ des „Es ist ein Gott“ ihre Rechtfertigung findet.373 Die in jener „subtilen Unterscheidung“ angezeigte „Selbstbegrenzung der Vernunft“ ist zugleich die Basis für ihre kritische „postulatorische“ Erweiterung auf dem Fundament der Wirklichkeit der Freiheit. Erst in der sogenannten Postulatenlehre – näherhin in dem darin ausgewiesenen Status des „Ich will, dass ein Gott sei usw.“ – gewinnt sonach das gesetzte „Dasein“ des sind andererseits jene Stellen im „opus postumum“ nicht zu übersehen, die doch wiederum in eine andere Richtung weisen; s. dazu Wimmer 1992; 2005d. 373 Kant hätte deshalb den gelegentlichen Vorwurf Schellings, wonach das „Positive“ bei ihm lediglich durch die „Hintertüre der praktischen Vernunft“ wieder eingeführt werde, wohl selbst noch einmal mit der skeptischen Erwiderung konfrontiert, ob denn jene von Kant angeblich (so Schellings Verdacht) insgeheim benützte „Hintertür“ eben nicht doch die einzige (und enge) Pforte ins „Positive“ darstelle, während andere Ausgänge zu dem „allem Denken … absolut Vorgestellten“ verschlossen bleiben müssen.
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in diesen „Vernunftideen“ Gedachten seine subjekt-zentrierte Begründung. Näherhin artikuliert sich darin ein auf jenes im „Sein-Sollen“ (gemäß der Idee der „moralischen Welt“) begründetes sinn-orientiertes Urteilen-Müssen, das nunmehr in postulatorischer Gestalt auftritt und so wohl auch den daran geknüpften Anspruch rechtfertigen soll, dass es „moralisch notwendig“ sei, „das Dasein Gottes anzunehmen“ (IV 256) – und eben dies bestimmte die Eigenart jener schon in der „ersten Kritik“ als „praktisch und theoretisch zugleich“ charakterisierten Hoffnungsfrage. Weil „Dasein“ kein „reales Prädikat“ ist (wie man freilich auch schon vor Kant wusste), gründet die darin gedachte (absolute) „Position“ ihm zufolge offenbar allein in jener moralisch verankerten quasi-„absoluten Position“ des „Ich will, dass ein Gott sei“ – genauer: in dem in der „moralischen Freiheit“ sich artikulierenden „Machtspruch der Vernunft“ und seiner moralischen „Beharrlichkeit“. Die in diesem „Dasein“ gedachte „Notwendigkeit“ ist sonach als solche zu verstehen, die als eine in einem „Vernunftbedürfnis“ begründete „Nötigung“ freilich nicht mit „Einsicht“ verwechselt werden darf, ohne ihre spezifische Intentionalität und den daran geknüpften Anspruch aufzugeben – oder diesen doch wenigstens zu verzerren. Eine Notiz aus Kants Logik macht dies wohl besonders deutlich: „Der Vernunftglaube kann also nie aufs theoretische Erkenntnis gehen … Er ist bloß eine Voraussetzung der Vernunft in subjektiver, aber absolutnotwendiger praktischer Absicht“ (III 498 Anm.). Derart schließt sich ein denkwürdiger Begründungskreis. Mit Rücksicht darauf, dass auch der „kritische“ Kant die „drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ als die „eigentlichen Zwecke der Nachforschungen der Metaphysik“ bestimmt hat (II 338), während sich auf das Dasein des in diesen („praktisch immanent“ gewordenen) Ideen Gedachten sodann erst jene „Postulate“ beziehen, wäre jene kantische Leitfrage, „wie eine Welt für ein vernünftiges, aber endliches Wesen beschaffen sein muss“, nun auch in der besonderen Hinsicht aufzunehmen: Die – möglicherweise paradox anmutende und dennoch vermutlich nicht unangemessene – Beantwortung dieser Frage wäre so als die Explikation des „Systems jener notwendig zu denkenden „Voraussetzungen“ zu leisten, ohne die nach Kant ein bewusst „geführtes Leben“ sich jedoch nicht auf ein bewandtnishaftes „Ganzes“ und „Letztes“ einer „moralischen Lebensgeschichte“ hin zu orientieren bzw. sich auch zu bejahen vermag.374 374 In diesem Sinne läuft tatsächlich, wie M. Willaschek betont, „Kants These vom ‚Primat der reinen praktischen Vernunft‘ … darauf hinaus, dass wir ein solches Postulat vernünftigerweise als wahr akzeptieren müssen, obwohl wir seine Wahrheit nicht nachweisen können“ (Willaschek 2009, 254). In der „kantischen Einsicht, dass es auch dann rational sein kann, eine Aussage für wahr zu halten, wenn ihre Wahrheit nicht nachweisbar ist“, erkennt Willaschek sogar eine „‚Revolution der Denkart‘, die hinter der sogenannten Kopernikanischen Wende Kants in der Kritik der reinen Vernunft an Originalität und Bedeutung nicht zurücksteht“ (ebd. 268). Freilich, schon in seinen Vorlesungen zur „Rationaltheologie“ betonte Kant: „Können wir etwas durch die Vernunft annehmen, ohne es beweisen zu können? Ja, wenn es der Vernunft zur Vollständigkeit ihres Gebrauchs unentbehrlich ist, so kann man es annehmen und dies heißt Vernunftglaube, d. i. diejenige Maxime der Rechtmäßigkeit ihres theoretischen und praktischen Gebrauchs unentbehrlich notwendig ist, wenn man auf die Prinzipien zurückgeht, als das Dasein Gottes und die Hoffnung eines künftigen Lebens. Es ist oft eine Forderung der Vernunft, etwas ohne Beweis anzunehmen. Es ist sofern ganz richtig, aber es muss: a) sich anwenden lassen auf den Erfahrungsgebrauch; die Begebenheiten der Erfahrung müssen daraus abgeleitet können; b) die Maxime muss notwendig sein“ (AA XXVIII, 1325). Die Anwendung auf den „Erfahrungsgebrauch“ hat Kant aufgegeben, für den
230 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Rückblickend und abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen: „Für den Glauben“ bekommt Kant näher besehen in einer zweifachen Hinsicht „Platz“: Zum einen ist diese Glaubensbegründung in der „ersten Kritik“ über jene Analogisierung der Wissensund Hoffnungfrage vermittelt und führt am Leitfaden des vollständigen „theoretischen“ und „praktischen Vernunftgebrauchs“ auf grenzbegriffliche Vernunftideen – daraufhin, „dass etwas sei, … weil etwas geschieht“ bzw. darauf, „dass etwas sei (was den letzten möglichen Zweck bestimmt), weil etwas geschehen soll“ (II 677)375. Davon zu unterscheiden wäre diejenige Perspektive, die im Ausgang von der „Beschaffenheit“ des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ und von der an den „Standpunkt der Moralität“ geknüpften Frage „Was darf ich hoffen?“ eröffnet wird und zuletzt in das „Ich will, dass ein Gott sei …“ einmündet. Demzufolge ist es der darin artikulierte „Machtspruch der Vernunft“, wodurch dieser „Glaube Platz bekommt“. 3.2.4. Anmerkung: Zu Schellings problematischer Kritik an Kants Postulatenlehre – und ihr berechtigter Kern Ein problemgeschichtlicher Hinweis zu jenem kantischen „Ich will, dass ein Gott sei …“ sei noch angefügt: Vermutlich verfehlt Schellings diesbezügliche Kritik den von Kant damit verbundenen Anspruch in mehrfacher Hinsicht – so wenn er erstaunlicherweise geltend macht: „Bei Kant … ist es nicht das Ich, sondern bloß die Philosophie und die Proportion, die über das Gesetz hinaus verlangt, nach einer also verdienten Glückseligkeit, die nicht in der Einheit mit Gott besteht, sondern etwas relativ Äußeres ist und eigentlich bloß sinnliche“.376 Nicht nur bleibt zu beachten, dass bei Kant weder von einer „verdienten“ noch von einer „bloß sinnlichen Glückseligkeit“ die Rede ist;377 vor allem scheint Schelling die im kantischen „Ich will, dass ein Gott sei …“ angezeigte „Umkehrung“ in die „existenzialanthropologische“ Perspektive zu verkennen, wenn er wenig später noch nachdrücklicher betont: „Es hat sich also gezeigt, wie dem Ich das Bedürfnis, Gott außer der Vernunft (Gott nicht bloß im Denken oder in seiner Idee) zu haben, durchaus praktisch entsteht. Die-
„Vernunftgebrauch“ jedoch geltend gemacht; vgl. Kants analoge späte Argumentation in der „Rechtslehre“, s. o. IV., Anm. 49. 375 Im „zweiten Abschnitt“ des „Kanons der reinen Vernunft“ (über das „Ideal des höchsten Guts“ findet sich diese Analogisierung gemäß dem „vollständigen Vernunftgebrauch“, während der „dritte Abschnitt“ des „Kanons der reinen Vernunft“ sodann (II 687 ff ) die Differenzierung des „Fürwahrhaltens“ vornimmt. 376 Schelling XI, 567. Dass in Kants Ethikotheologie die Idee der „Glückseligkeit“ bzw. der „praktische Endzweck“ gerade nicht als „sinnliche Glückseligkeit“ verstanden werden darf, so wenig von einer „verdienten Glückseligkeit“ bei ihm die Rede sein kann und Schelling überdies den (gegenüber religionskritischen Entlarvungen) kritischen Sinn des „Proportionsgedankens“ ignoriert bzw. verkennt, sei hier erneut beiläufig angemerkt. In freilich anderer Akzentuierung gilt dies auch für Fichtes Verwerfung der „Glückseligkeits“-Konzeption im Kontext des „Atheismus-Streits“. 377 Ein eudämonistisches Missverständnis wird schon durch die frühe Refl. 6965 (AA XIX, 215) abgewehrt: „Das Wohlgefallen an der Glückseligkeit des Ganzen ist eigentlich ein Verlangen nach den Bedingungen der Vernunft [!] nach eigener Glückseligkeit. Denn ich kann nicht hoffen glücklich zu sein, wenn ich etwas Besonderes haben soll und das Schicksal eine besondere Beziehung auf mich haben soll.“
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ses Wollen ist kein zufälliges, es ist ein Wollen des Geistes … Wie diese Forderung vom Denken nicht ausgehen kann, so ist sie auch nicht Postulat der praktischen Vernunft. Nicht diese, wie Kant will, sondern nur das Individuum führt zu Gott. Denn nicht das Allgemeine im Menschen verlangt nach Glückseligkeit, sondern das Individuum […] Das Individuum für sich kann nichts anderes verlangen, als Glückseligkeit. Damit trat von Anfang, d. h. sowie das Geschlecht dem Gesetz unterworfen war, der Unterschied ein, dass was in der Folge nur postuliert wird, das Individuum (nicht die Vernunft) postuliert, und so ist es auch das Ich, welches als selbst Persönlichkeit Persönlichkeit verlangt, eine Person fordert, die außer der Welt und über dem Allgemeinen, die ihn vernehme, ein Herz, das ihm gleich sei. Das Ich demnach ist es, welches sagt: Ich will Gott außer der Idee, und damit die oben erwähnte Umkehrung verlangt, eine Person fordert, die außer der Welt und über dem Allgemeinen, die ihn vernehme, ein Herz, das ihm gleich sei.“378 Schellings Kritik scheint hier den Sachverhalt zu verkennen, dass das erhoffte „höchste Gut“ zunächst „das ganze und vollendete Gut“ ist, das als die an der „moralischen Welt“ orientierte „allgemeine Glückseligkeit“ der „Zweck an sich selbst“ (IV 238) ist, während die (im Sinne des „höchsten Gutes“ verstandene) „eigene Glückseligkeit“ als daraus „abgeleitet“, d. h. als darin „mitenthalten“ erhofft wird und insofern keineswegs etwas „relativ Äußeres“ bleibt. Weil in diesem „Fundament des Vernunftglaubens“ zuletzt doch nichts anderes als die „Selbsterhaltung der Vernunft“ auf dem Spiele steht, muss es dies geradezu verbieten, jenes (von Kant dem „Rechtschaffenen“ in den Mund gelegte!) „Ich will, dass ein Gott sei …“ auf ein bloß „zufälliges Wollen“ herabzustufen;379 Schelling missversteht bzw. ignoriert hier offenbar das „existenz“-verankerte „Interesse meiner Vernunft“ (II 677) in „Ansehung des ganzen Zustandes“, aus dem sich auch dieses kantische „Ich will …“ speist. Genauer besehen dürfte also jene von Schelling kritisch gegen Kant gerichtete Bemerkung, dass „nicht das Allgemeine im Menschen“, sondern das „Individuum für sich
nichts anderes verlangen [könne] als Glückseligkeit“, ein Mehr378 Schelling XI, 569. Angesichts dieser Kritik an der angeblichen „Existenz“-Vergessenheit Kants bleibt daran zu erinnern, dass Schelling selbst von dieser hier nicht ohne „existenzielles Pathos“ eingemahnten performativen „Ich“-Perspektive diejenige der Philosophie zugeschriebene (obgleich „in der menschlichen Natur“ verankerte) Perspektive unterscheidet, die sich, gemäß dem „Weltbegriff der Philosophie“, an der Entfaltung dieser Fragen orientiert: „Dass es nun eine Wissenschaft gebe, die auf diese Fragen antworte, uns jener Verzweiflung [des „alles ist eitel, denn eitel ist alles, was eines wahrhaften Zweckes ermangelt“] entreiße, ist unstreitig ein dringendes, ja ein notwendiges Verlangen, ein Verlangen nicht dieses oder jenes Individuums, sondern der menschlichen Natur selbst [!]. Und welche andere Wissenschaft sollte die sein, die dies vermag, wenn es nicht die Philosophie ist. Denn alle anderen unter den Menschen bekannten, von ihnen erfundenen oder ausgebildeten Wissenschaften haben jede ihre bestimmte Aufgabe, und keine antwortet auf diese letzte und allgemeinste Frage“ (XIII, 7 f ) – also auf diejenige nach dem „Endzweck der Schöpfung“ selbst. – Wenn also auch Schelling selbst diese (im weiteren Sinne „ethikotheologische“) Perspektive von jener (von ihm gegen Kant geltend gemachten) „existenziellen“ Hinsicht der Sache nach unterscheidet (obgleich nicht trennt), so hat dies bei Kant eine genaue Entsprechung in den unterschiedlichen Aspekten, die in der Orientierung am „Endzweck der Metaphysik“ bzw. in der Postulatenlehre zutage treten. Bezeichnenderweise wird diese bei Kant selbst zwar nicht explizit vollzogene Unterscheidung der Perspektiven bei Schelling im Kontext seiner späteren Kant-Bezüge besonders deutlich. 379 Schellings Satz: „Ich will das, was über dem Sein ist“ (Schelling XI, 564), nimmt offenbar ohnedies auf die in dem kantischen „Ich will …“ angeführten „Ideen des Übersinnlichen“ (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit der Seele) direkt Bezug.
232 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre faches verkennen: Vorrangig dies, (a) dass diese „Rücksicht“ auf die „eigene Glückseligkeit“ keineswegs die ursprüngliche Sinnintention des „höchsten Gutes“ darstellt, diese vielmehr lediglich als „mitenthalten“ (vgl. IV 261; VI 132 f ) gehofft werden darf; (b) außerdem ignoriert Schellings Kritik offenbar auch den durchaus („eudämonismus“-)kritischen Sinn des „Proportionalitäts“-Motivs in Kants Bestimmung des „höchsten Gutes“, der übrigens in Kants Rekurs auf die „selige Zukunft“ als das „von allen zufälligen Ursachen der Welt unabhängige [!] vollständige Wohl“ (IV 254, Anm.) vernehmbar wird – eine Idee, die der Schelling’schen „Essentifikation“ in motivlicher Hinsicht wohl durchaus nahekommt; (c) nicht zuletzt scheint Schelling auch zu übersehen, dass bei Kant durch die in der „Kritik der praktischen Vernunft“ maßgebend gewordene neue Freiheitslehre und ihrem Ausgang vom Anspruch des „Faktums“ des „moralischen Gesetzes“ die subjekt-zentrierte „Existenz“-Perspektive in den Vordergrund rückt. Gegen die diesbezüglichen Kant-kritischen Einwände Schellings spricht wohl auch dies: Mit jenem subjekt-zentrierten Standpunkt und dem darin fundierten „Ich will, dass ein Gott sei …“ ist so wohl auch zum Ausdruck gebracht, dass sich darin eine An- und Zueignung einer in philosophischer Reflexion auszubildenden und zu legitimierenden Überzeugung Geltung verschafft, die freilich nur in solcher Rückbindung an den Exis tenz-Vollzug auch „lebenstragend“ und „erbauend“ sein kann, also keine interesse-lose theoretische Distanz erlaubt, weil, so Kants Bemerkung, „kein Mensch bei diesen Fragen frei von allem Interesse“ ist. Sein daran sogleich geknüpfter Hinweis, dass der „Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet“ (II 694), enthält hier für die Verankerung dieser „Subjekt-Perspektive“ einen bedeutsamen Wink, der noch einmal auf den Unterschied zwischen der gewissermaßen existenz-neutralen „logischen“ und der existenz-konstitutierenden „moralischen Gewissheit“ verweist: „tua res agitur“– Religion, eine unabweisliche Angelegenheit der „Existenz“. Diese existenz-orientierte Perspektive klingt schon in der „ersten Kritik“ insofern an, als Kant dort auf den „Gesichtspunkt“ des „praktischen Interesses“ verweist und sodann bezeichnenderweise in die „Erste-PersonPerspektive“ „übersetzt“, wonach „alles Interesse meiner [!] Vernunft“ auf die drei berühmten Fragen führt (II 677). Darauf ist bekanntlich die „umfassende“ Frage „Was ist der Mensch?“ bezogen, deren leitendes Interesse deshalb keine bloß neutrale Distanz erlaubt, sondern sich eben notwendig in den in „Erster-Person“-Perspektive formulierten Fragen nach dem Wissen-Können, Tun-Sollen und Hoffen-Dürfen expliziert.380 In Vergegenwärtigung berühmter – nicht zuletzt auch Kant-kritischer – einschlägiger Motive der späten Religionsphilosophie Schellings wäre das leitende Interesse jenes kantischen „Ich will, dass ein Gott sei
noch einmal dahingehend zuzuschärfen: Zwar kann der „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen, … in der Philosophie“ nicht umgangen werden, weil er als „Abschlussgedanke“ den „spekulativen Vernunftgebrauch“ „abschließt und krönt“ – freilich unter der Voraussetzung, wenn wir denn in solcher Weise „urteilen wollen“ und dann auch solches theoretisches „Vernunftbedürfnis“ in der darin „am Ende“ resultierenden grenzbegrifflich gedachten „theologischen 380 Vgl. dazu noch einmal die einschlägigen Bezugnahmen darauf bei Angehrn 2010, 348 ff u. Henrich 2000a, 39 f.
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Idee“ schon seine Befriedigung findet; hingegen ist es das aus einem unbedingten Vernunftbedürfnis gespeiste „Ich will, dass ein Gott sei …“, in dem sich ein „Machtspruch der Vernunft“ artikuliert, der kein „relativierendes Wenn“ einräumt und das in seinem insistierenden „Dass ein Gott sei“ einen Geltungsanspruch erhebt, der nicht schon durch jenen „Abschlussgedanken“ abgedeckt ist. Erst jenes „Ich will, dass ein Gott sei …“ ist nach Kant „Gott-setzendes Bewusstsein“. Gleichwohl bleibt zu bedenken: So augenfällig Schelling sich über den „existenziellen“ Sinn jenes kantischen „Ich will, dass ein Gott sei“ erstaunlicherweise einfachhin hinwegsetzte, so verdienen die angeführten Passagen aus Schellings später „Philosophie der Mythologie“ doch auch insofern Beachtung, als darin indirekt auf das bei Kant offenbar nicht explizit bedachte bzw. hinreichend differenzierte ausgewiesene Problem der erforderlichen Unterscheidung verschiedener Reflexionsebenen hingewiesen wird. So verstehen sich Kants vernunftkritische Darlegungen ja selbst als diejenigen des als „Gesetzgeber der Vernunft“ auftretenden Philosophen – d. h. als die in kritisch-reflexiver Distanz vollzogene Ausmessung, Kritik und entsprechende Legitimation von theoretischen und praktischen Vernunftansprüchen, die eben als ethikotheologisch orientierte „Vernunftwissenschaft“ bzw. als eine derart neu fundierte „praktische Metaphysik“ zur Entfaltung kommt. Indes, oftmals wechselte Kant unversehens in den „Standpunkt des Lebens“ über und übernahm so selbst, eingerückt in die „Interessen“-Perspektive der „ersten Person“, gewissermaßen die Rolle jenes „Rechtschaffenen“ bzw. „gemeinen Mannes“, ohne dabei freilich – mit Schelling gesprochen – diese allein vom „Ich“ ausgehende „Umkehr“ eigens zu thematisieren. Vermutlich spiegelt sich in diesem unvermittelten Perspektivenwechsel doch auch eine eigentümliche – obgleich von Kant nicht eigens ausgewiesene – Gedankenbewegung: Einerseits sollte offenbar der „Weltbegriff der Philosophie“ – der ja darauf abzielt, „was jedermann notwendig interessiert“ – als in der „metaphysischen Naturanlage“ des Menschen bzw. in den darin aufkommenden Fragen verankert ausgewiesen werden, die in der menschlichen Existenz selbst begründet sind;381 andererseits führt die philosophische 381 Dies scheint jenen schon angeführten Befund Henrichs erneut zu bestätigen: „Metaphysik … ist nicht nur Sache der Wissenschaft, sondern Bedürfnis des Menschen und als solche geheimes Motiv des Dogmatismus“ (Henrich 1966, 58). Noch viel später hat Henrich im Blick auf Kants „Weltbegriff der Philosophie“ und seine berühmten Leitfragen und den dort (in der „vierten Frage“) vollzogenen Perspektivenwechsel betont: „Alle drei Fragen werden als Fragen vorgeführt, die ich mir selbst stellen muss. Wenn sie dann in der nunmehr neutral formulierten Frage danach, was der Mensch sei, kulminieren, so heißt das nicht, dass die Perspektive des Subjektes, das sich seiner selbst vergewissern muss, am Ende doch durch die einer distanzierten Weltbetrachtung ersetzt werden könnte. Der Wechsel in der Art der Formulierung versteht sich vielmehr daraus, dass gemäß den ersten drei Fragen Möglichkeiten des Subjekts bestimmt und begrenzt werden sollen, während die vierte von den zuvor gegebenen Antworten her ein Konzept vom Menschen in Frage stellt, das er als seine Selbstbeschreibung anzunehmen vermag. In der Weise, in der die letzte Frage fragt, ist also die erste Person in derselben Weise operativ wie in den Fragen, die ihr vorausgehen“ (Henrich 2000a, 39 f ). Hier ist die „teleologische Perspektive“ der „Metaphysik (als „moralische Teleologie“) und ihre „existenz“-orientierende Übersetzung (in dem im „Primat der praktischen Vernunft …“ verankerten „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“: IV 275) deutlich angesprochen. Nach Henrich stellt sich Kant mit jener „vierten Frage“ „in die Nachfolge Platons, der in unserer Tradition zuerst die Frage ‚ti estin anthropos‘ (Theät. 174b) formulierte“, womit er auch „als erster deutlich machte, dass man bei der Suche nach dem eigentlichen Wesen des Menschen über das hinausgehen muss, wovon
234 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Reflexion auf die „ganze Bestimmung des Menschen“ in den kritisch-geläuterten Standpunkt „bewussten Lebens“, also in die gelebte Weisheit jenes „Rechtschaffenen“ selbst zurück und „verschafft“ diesem auf solche Weise „Recht“.382 Dies ist im „Lebenswandel“ (III 390 Anm.) und im Ganzen einer „moralischen Lebensgeschichte“ freilich erst zu bewähren, d. h. bleibt auf seine „Beglaubigung“ – seine Bezeugung und Bewährung – durch den „Existenzvollzug“ selbst verwiesen.383 Dass zuletzt alles auf „das [unbedingt] Praktische“ hinausläuft (III 518), findet so eine besondere Bestätigung – ebenso dies, dass „Religion … von Theologie unterschieden“ ist, „denn jenes ist Erkenntnis Gottes mit Moralität verbunden“384. Jedenfalls spricht auch aus jenem „Ich will, dass ein Gott sei
“ schon die darin zur Geltung gebrachte „Authentizität“ jenes von Kant als „Ideal“ angeführten „vollendete(n) [!] praktische(n) Philosoph(en) …, welcher diese Forderung [der Unterordnung aller Zwecke unter den „moralischen Endzweck“] an ihm selbst [!] erfüllt“385 – darin wäre die sich Berichte geben lassen, die auf irgendwelche Wahrnehmungen gegründet sind. Vielleicht wird zugestanden, dass man auch den historischen Kant so zu verstehen hat“ (ebd.). 382 Eine gewisse Entsprechung fände dieser angezeigte Perspektivenwechsel offenbar auch in der späten Notiz des opus postumum: „Philosophie ist Vernunfterkenntnis als Wissenschaft objektiv oder subjektiv als Belehrung seiner selbst“ (AA XXI, 6). – Jener von Kant so gern angeführte „Rechtschaffene“ spielt möglicherweise insofern eine bemerkenswerte Rolle, als er gewissermaßen eine besondere Verbindung zwischen Kant und seinen Lesern herstellt und dabei eine Art von direkt-„indirekter Mitteilung“ leistet – gleichsam „mit Vollmacht“, weil ermächtigt durch einen „Machtspruch der (praktischen) Vernunft“. 383 Dieser kantischen Spur folgt vermutlich das Motiv des leider viel zu wenig bekannt gewordenen österreichischen Philosophen F. Fischer (Fischer 1980, 55): „Es ist durchaus zu unterscheiden, ob wir uns zur Wirklichkeit theoretisch verhalten und ihre Wahrheit erkennen wollen oder ob wir die Wirklichkeit als eine praktisch-ethische Forderung auffassen, die nicht zu erkennen, sondern gegenüber dem je bestimmten Du zu vollbringen ist … In diesem Sinne sind Wahrheit erkennen und Wahrsein gerade in und wegen ihrer grundsätzlichen Scheidung zugleich nicht getrennt. Denn insofern sich unser theoretisches Erkennen von Wirklichkeit – hier und jetzt – je unter uns praktisch-positiv vollbringt, hat, so glaube ich, dieses Wahrheit-wissen-wollen im Wahr-sein-sollen seinen Ursprung“. Hat diese (für Fischers Denken fundamentale) Unterscheidung in derjenigen Kants zwischen dem (in einem unterschiedlichen „Bedürfnis der Vernunft“ begründeten) „urteilen wollen“ und „urteilen müssen“ eine gewisse – obgleich denkwürdige – Entsprechung, die auf Fischers Aneignung des kantischen Motivs des „Primats der praktischen Vernunft“ verweisen – und vielleicht bietet dies einen Anknüpfungspunkt zu Rosenzweigs Diktum: „Die Bewährung ist der wahre Beweis“ (Rosenzweig 1964, 25)? Die angeführten Motive Fischers könnten vielleicht auch problemsensible Differenzierungen für die Frage einer „ersten Philosophie“ leisten, die sich so auch gegenüber der Levinas’schen Kennzeichnung des Verhältnisses von „Ethik und Ontologie“ als bedeutsam erweisen. 384 AA XXVIII, 1238. 385 AA VIII, 441. – Es wäre, nicht zuletzt im Blick auf Kants Transformation der platonischen „Ideenlehre“, wohl einer eigenen Nachprüfung wert, wie weit – wenngleich in durch kritische Metaphysik „gebrochener“ Form – sein Rekurs auf jenes „Interesse“, von dem der Mensch „nichts nachlassen darf“, sowie seine Frage, worauf das „Glück des ganzen Lebens“ zu verwetten sei (II 691), sachliche Anknüpfungspunkte zu jenem berühmten Passus aus Platons „Phaidon“ erlaubt, wo es im Anschluss auf den Hinweis auf den „herrlichen Preis“ und die „große Hoffnung“ heißt: „Die unbedingte Wahrheit nun dessen, was ich dargelegt habe, behaupten zu wollen, möchte in derartigen Fragen einem vernünftig denkenden Mann nicht wohl anstehen. Dass es aber mit unseren Seelen und ihren Wohnstätten so oder ähnlich steht, das dürfte … ein wohlberechtigter Glaube sein, wert, dass man es wagt sich ihm hinzugeben. Denn das Wagnis ist schön und der Geist verlangt zur Beruhigung dergleichen Vorstellungen“ (Phaidon, 116b): Eine „platonische“ motivliche Antizipation von Kants Postulatenlehre?
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„Weisheitslehre“ in der praktischen Bewährung „aufgehoben“. Ist es dann nicht der formulierte „Weltbegriff der Philosophie“, der diesem „Standpunkt des Lebens“ gleichermaßen nachträglich seine Rechtfertigung verleiht und sich so in diesen „Standpunkt“ gewissermaßen aufhebt? Auch an Kants schon angeführte späte Notiz: „Der letzte Zweck ist[:] die Bestimmung des Menschen zu finden“, wäre von daher nochmals zu erinnern, besagt sie doch im Grunde gar nichts anderes als Kants kritische Selbstbescheidung – auch dies besagt eben „Kritik“! –, dass „die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen“ (II 694 f ). Die in der theoretischen Reflexionsdistanz des „Weltbegriffs der Philosophie“ entfaltete „ganze Bestimmung des Menschen“ wird konkret als die „subjekt-zentrierte“ (und doch „universalistische“) Frage nach „meiner Bestimmung“, die gleichermaßen „mein Interesse“ bestimmt und an die Authentizität dieses „Existenz-Vollzuges“ gebunden ist – nur so aber auch als lebenstragend (in „subjekt-zentrierter“ Perspektive) bewährt werden kann; ist es nicht zuletzt diese Spannung, die in diesem angezeigten Wechsel der Perspektiven indirekt zur Sprache kommt? Zugleich erweist sich, dass in der hier maßgebenden „Selbstverständigung“ ein erstrebtes „Sich-Verstehen“ mit einem gesuchten „affirmativen Einverständnis“ in eigentümlicher Weise verbunden ist – ein „Existenz“-Aspekt, der auch in der in dieser „Selbstverständigung“ angezeigten „Bewegung“ mitzubedenken bleibt. Wohl auch in jener Frage: „Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ sind diese Aspekte des „Sich-Verstehens“ und des „Einverständnisses“ unübersehbar vereint. Auch diese kurze Anmerkung zu Schellings Kant-Kritik sollte verdeutlichen: In all diesen Fragen manifestiert sich demzufolge das noch klärungsbedürftige Verhältnis zwischen dem interessierten „Standpunkt des Lebens“ (dem „Interesse meiner Vernunft“) und der Reflexionsebene der in der kritischen Philosophie intendierten „Vernunftkritik“. Dass Kants Darlegungen in diesbezüglich entscheidenden Kontexten immer wieder auf die „moralische Gewissheit“ rekurrieren und einen darauf beruhenden „dogmatisch-assertorischen“ Ausdruck finden, mag auch ein unübersehbares Indiz für die damit zusammenhängenden (ungeklärten) Probleme sein;386 sie berühren freilich auch jene Fragen, die in Kants Bezugnahmen auf das unterschiedliche „Interesse der Vernunft“ bzw. auf den „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (IV 249) angesprochen sind und so die geforderte Differenzierung unterschiedlicher Reflexionsebenen anzeigen. Es sind diese voranstehend benannten „existenziellen“ Aspekte, die jenen erwähnten Einwand Schellings gegen Kant einerseits relativieren sollten und gleichwohl das darin indirekt angezeigte Problem der zu beachtenden unterschiedlichen (Reflexions-)Ebenen durchaus berücksichtigen. 386 Jedenfalls ist der von Kant vollzogene Perspektivenwechsel nicht zu übersehen, dem zufolge der Aufweis des „Endzwecks der Metaphysik“ und der darin verfolgte „praktisch-dogmatische Überschritt“ stillschweigend in die bezeichnenderweise in „Ich-Sätzen“ formulierte teilnehmende Existenz-Perspektive überwechselt und so gleichsam jene metaphysisch-ethikotheologische Idee der „moralischen Teleologie“ in den „Existenz“-Standpunkt „übersetzt“.
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3.3. Kants Diktum: „Es ist unmöglich, dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde“ – in einer nicht verkürzenden Lesart Die voranstehenden Überlegungen sollten nunmehr auch eine nicht („psychologisierend“) verkürzte Lesart der späten These Kants erlauben: „Es ist unmöglich, dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde.“387 Der in diesem (gewiss missverständlichen) Diktum erhobene Anspruch läuft also mitnichten auf einen Widerruf oder auch nur auf eine Relativierung jener stolzen Unabhängigkeitserklärung der „Moral von der Religion“ hinaus (IV 649); vielmehr knüpft es an den in jenem „Ich will, dass ein Gott … sei“, sich bekundenden „Machtspruch der praktischen Vernunft“ unmittelbar an und bringt so die durchaus vernunftbegründete, weil jener Idee einer „moralischen Welt“ gemäße Hoffnung zum Ausdruck, dass es den „vernünftigen Weltwesen“ „im Ganzen“ ihrer „Existenz, alles nach Wunsch und [!] Willen geht“ (IV 255).388 Obwohl also die unbedingte Verbindlichkeit des „moralischen Gesetzes“ davon ganz unberührt bliebe,389 hätte die Ausblendung dieser Vernunftperspektive die unvermeidliche Folge – und darauf zielt doch auch Kants Hinweis auf das „Nicht-froh-werdenKönnen“ ab: Das moralische Gesetz wäre zwar die nicht relativierbare „Richtschnur“ menschlichen Handelns, gleichwohl könnte es – und zwar nur in dieser Hinsicht! – nicht „Triebfeder“ in Aussicht auf ein „gelingendes Ganzes“ sein. Demgemäß rückt das angeführte kantische „Triebfeder“-Argument den motivationalen Aspekt in den Vordergrund – und in diesem Sinne hat also auch der späte Kant an der These festgehalten, die sich 387 Refl. 8106, AA XIX, 649 (datiert für das Jahr 1799). Diese späte Reflexion ist freilich im Lichte der leitenden Auffassung zu verstehen: „Nur denn, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein“ (IV 261); ohne solche „Bedachtsamkeit“ kann von einem „Froh-Werden“ auch gar nicht die Rede sein. – Damit korrigierte Kant freilich auch indirekt seine frühe Zustimmung zu Rousseaus berühmtem Wort: „Wenn die Gottheit nicht existiert, so hat nur der Böse ein Vernunftrecht [!], der Gute ist ein Verrückter“ (Refl. 4256: AA XVII, 484 f; Refl. 4375: AA XVII, 524 f ). Ein „Vernunftrecht“ hat der Böse wohl nie; gleichwohl wird das Böse durch die blinde Macht der Faktizität als belanglos „nihiliert“. 388 Schon diese Bestimmung des „höchsten Gutes“, das im „Naturschönen“ als „Wink“ angezeigte „Glücksversprechen“ und das explizierte Motiv des „Endzwecks“ machen deutlich, dass Kant den „Sinn menschlichen Daseins“ keineswegs „moralistisch“ verkürzt. Dies scheinen allerdings Taylors einschlägige KantBezüge nahezulegen (vgl. Taylor 2009, 528 ff ). Auf Kant trifft jedenfalls nicht der Protest „gegen ein Leben“ zu, „das völlig darin aufgeht, bestimmte Regeln einzuhalten. Man spürt, dass etwas Wichtiges fehlt, ein bedeutender Zweck, ein gewisser Elan, eine Erfüllung, ohne die das Leben keinen Sinn mehr hat“ (ebd. 529). 389 Auch wenn sein Handeln so „insgesamt zwecklos und damit buchstäblich aussichtslos“ wird „und er … mit der Pflicht, das höchste Gut zu befördern, keinerlei Sinn verbinden“ (Geismann 2000, 502) – und folglich auch nie die hoffende Zuversicht und Gelassenheit eines „fröhlichen Herzens“ gewinnen – kann, so bleibt davon die Verbindlichkeit des Moralischen ganz unberührt. Gleichwohl wäre jene eingeräumte „Zwecklosigkeit“, in psychologischer Hinsicht, als „ein Hindernis der moralischen Entschließung“ (IV 651) anzuerkennen, ohne daraus jedoch begründungstheoretisch schiefe Schlussfolgerungen zu ziehen. Unbeirrt hielt Kant daran fest, dass die moraltheologische Begründungsfigur niemals die Autonomie des Moralischen relativieren dürfe: „Auch wird hierunter nicht verstanden, dass die Anerkennung des Daseins Gottes, als eines Grundes aller Verbindlichkeit überhaupt, notwendig sei (denn dieser beruht, wie hinreichend bewiesen worden, lediglich auf der Autonomie der Vernunft selbst)“ (IV 256).
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auf solche Weise durchaus einen unverdächtigen Sinn bewahrt: „Ohne Religion würde die Moral keine Triebfedern haben.“390 Worauf dieses „Nicht-froh-werden-Können“ ihm zufolge abzielt, ist zwar nicht moralisch „neutral“, jedoch bleibt dies in moralphilosophischer Hinsicht begründungstheoretisch irrelevant. Dennoch ist einzuräumen, dass Kant selbst diesbezügliche Missverständnisse gelegentlich begünstigt hat – so etwa, wenn er betont, dass „die Achtung [!], welche das sittliche Gesetz ihm unmittelbar zum Gehorsam einflößt“, ohne den Rekurs auf den in Ansehung des „Endzwecks der Schöpfung“ notwendigen „moralischen Welturheber“ (V 580) geschwächt wäre. Ungeachtet der einschlägigen missverständlichen Wendungen Kants wäre zu prüfen, ob nicht eher von einer – von ihm selbst geleisteten – zunehmend differenzierten Argumentation die Rede sein sollte, die dann eben nicht den Geltungsgrund, sondern eher die Frage der „Triebfeder“ – und zwar wiederum ohne „eudämonistischen Rückfall“ – betrifft und so durchaus auch jene rechte „Ordnung der Begriffe von der Willensbestimmung“ wahrt391. Auch ist daran zu erinnern, dass die Vernunft von Kant als Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und als „Vermögen der Zwecke“ ausgewiesen wurde und in der konkreten Einheit derselben sich auch allein das „Interesse der Vernunft“ an sich selbst bestimmt: So nämlich ist ihr (als „Vermögen der Prinzipien“) nicht nur an der Unabhängigkeit des Willens von „empirischen Triebfedern“, sondern als reiner praktischen Vernunft (als „Vermögen der Zwecke“) ebenso an ihrem „ganzen Objekt“ gelegen, worin bzw. wofür freilich „Moralität“ die unhintergehbare Vernunftbedingung bleibt. Sofern sich, wie Kant bekanntlich vornehmlich gegen die Stoiker betonte (IV 258),392 die Idee des „höchsten Gutes“ in der moralischen „Selbstzufriedenheit“ (IV 247), einem bloßen „Analogon der Glückseligkeit“, keinesfalls schon erschöpft, implizieren die in seiner eigenen Lehre vom „höchsten Gut“ als dem „ganzen Gegenstand“ bzw. dem „Endzweck der praktischen Vernunft“ vorgenommenen Differenzierungen („bonum supremum“ und „bonum consummatum“) die ebenso nüchterne wie auch hoffnungsgeleitete Einsicht, dass „die Würdigkeit … zwar ein wahres und das oberste Gut, aber nicht das 390 Refl. 6858, AA XIX, 181. Im Sinne dieses „Nicht-froh-werden-Könnens“ verstanden widerspricht diese Reflexion auch nicht jenem zitierten Eröffnungssatz der „Religionsschrift“, wonach die „Moral … weder der Idee eines andern Wesens über ihm [dem Menschen] … noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst“ bedarf, „um sie zu beobachten“ (IV 649). 391 Zwar ist Kant auch hier vorsichtig, bei Wahrung der „rechten Ordnung der Begriffe“ im Blick auf das „vernünftige Weltwesen“ jedoch ganz unbesorgt, denn: „Es versteht sich aber von selbst, daß, wenn im Begriffe des höchsten Guts das moralische Gesetz, als oberste Bedingung, schon mit eingeschlossen ist, alsdenn das höchste Gut nicht bloß Objekt, sondern auch sein Begriff, und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei; weil alsdenn in der Tat das in diesem Begriffe schon eingeschlossene und mitgedachte moralische Gesetz und kein anderer Gegenstand, nach dem Prinzip der Autonomie, den Willen bestimmt. Diese Ordnung der Begriffe von der Willensbestimmung darf nicht aus den Augen gelassen werden; weil man sonst sich selbst mißversteht und sich zu widersprechen glaubt, wo doch alles in der vollkommensten Harmonie neben einander steht“ (IV 237 f ). 392 Vgl. auch Refl. 7202: AA XIX, 280 f. Ein diesbezüglich – und auch hinsichtlich jener „Geschichte der reinen Vernunft“ – besonders interessanter Aspekt tritt in Kants Befremden darüber in Erscheinung, „dass gleichwohl die Philosophen, alter so wohl, als neuer Zeiten, die Glückseligkeit mit der Tugend in ganz geziemender Proportion schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden, oder sich ihrer bewusst zu sein haben überreden können“ (IV 244).
238 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre vollständige“ ist.393 Weil die zwar „lobenswerte“ moralische Lebensführung (als unumgängliche Bedingung) indes nicht einfachhin mit dem „bejahens“- bzw. „preisenswerten“ (d. h. „geglückten“) Leben gleichzusetzen ist, kann nach Kant auch ein „sola virtus-Prinzip“394 hinsichtlich des „höchsten Gutes“ dem Vernunftbedürfnis eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“ nicht genügen. Für jenes als „Endzweck der Schöpfung“ existierende moralfähige „Vernunftwesen“, ohne welches die „ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde“ (V 566), bliebe somit sein Existieren selbst jedoch ohne „Zweck für ihn“ und insofern für ihn auch ohne „individuelle Bewandtnis“. Es ist dies ein grundlegender Befund, dem der Mensch als dieser „existierende Endzweck“ aus durchaus moralischen Gründen – d. h. unter der uneinholbaren Voraussetzung, dass der Anspruch des Moralischen immer schon unmittelbar „praktisch“ wirklich ist – seine Zustimmung verweigern muss. Den von Kant diesbezüglich intendierten Aufweises einer „Ungereimtheit“ hat er bekanntlich gelegentlich auch als Beweis „per deductionem ad absurdum morale“ bezeichnet. Auch dieses späte Motiv des „Ohne-Religion-des-Lebens-nicht-froh-werden-Könnens“ lässt sich deshalb nicht so ohne weiteres religionskritisch entlarven, ist doch die Religion allein in dem im moralischen Lebenwandel verankerten „Endzweck“-Bezug verankert, der keineswegs „eudämonistisch“ herabgestuft werden darf. Es ist gerade die darin bestimmende „moralische“ Maßgabe, die diesen „Endzweck“ auch zustimmungsfähig macht und, lediglich als eine Folge daraus, ein zusätzliches – jedoch keinesfalls ein begründendes – „motivationales“ Moment legitimiert: Denn, wie es noch beim späten Kant heißt, „da wir versichert sind, dass in diesen Ideen kein Widerspruch gefunden werden könne“, wäre dann eben auch „von der Annahme derselben die Zurückwirkung [!] auf die subjektiven Prinzipien der Moralität“ zu erwarten und somit „deren Bestärkung, mithin auf das Tun und Lassen selbst wiederum in der Intention moralisch ist“ (III 637);395 andernfalls bliebe „Gott“ hingegen lediglich „eine leere Idee“. Gleichwohl ist beachtenswert, dass komplementär zum ethikotheologischen Aufweis der vorauszusetzenden „Realität“ des „moralischen Welturhebers“ als Ermöglichungsgrund des „höchsten Gutes“ in der „Religionsschrift“ ausdrücklich ein Rekurs auf ein „heiligstes und allvermögendes Wesen“ als „Motivationsgrund“ zur gebotenen „Beförderung des höchsten 393 Refl. 6876, AA XIX, 189. Dies widerspricht dem gegen Kant gerichteten Vorwurf, dass er „eine stoizisierende Tugendautarkie“ verfolge und „umgekehrt das Lebensziel eines geglückten Lebens (Eudämonie) durch ein quasi-theologisches unbedingtes Sollen jeweils substituiert und kompensiert“ (so Krämer 1995, 20). Diese Ansicht übersieht offenbar auch Kants ausdrückliche Kritik an diesen antiken Konzeptionen des „höchsten Gutes“; vgl. dagegen die schon zitierte Refl. 6838 (AA XIX, 176). Erst recht bleibt seine Erläuterung des „Ausdrucks“ „glückselig“ zu beachten: „[e]in Ausdruck für alles Gewünschte, oder Wünschenswerte, was wir doch weder voraussehen, noch durch unsre Bestrebung nach Erfahrungsgesetzen herbeiführen können; von dem wir also, wenn wir einen Grund nennen wollen, keinen andern, als eine gütige Vorsehung anführen können“ (IV 768, Anm.). Dieser Rekurs auf eine „gütige Vorsehung“ verdankt sich nicht lediglich „epistemischen Rücksichten“, sondern „Vernunftgründen“ anderer Art. 394 Ich übernehme diese Bezeichnung von Brandt 2007a, 373. 395 Ob Kant im Lichte dieser späten Erwägungen auch jene Fragen aufgelöst sehen wollte, die er in seinen frühen moralphilosophischen Überlegungen als „Stein der Weisen“ behauptete, ist hier nicht weiter zu verfolgen; s. dazu o. I., Anm. 238.
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Gutes“ vorgenommen wird, der mit einem bloßen „Diener der Begier“, wie Fichte Kant mitunter unterstellt, gewiss nicht zu verwechseln ist. „Geist ist das belebende Prinzip im Menschen“ (VI 544) – an diese späte „anthropologische“ Notiz Kants darf auch in diesem religionsphilosophischem Kontext erinnert werden. Nur im Sinne des angezeigten „motivationalen“ Aspektes bleibt auch seine frühe (in der Tat eudämonismus-verdächtige) Bemerkung nachvollziehbar, dass „ohne Gott“ das moralische Gesetz zur „Chimäre“ verkommen müsste, sofern es eben nicht „Triebfeder“ sein könnte – also zwar moralisch verbindlich, aber eben doch nicht „sinn-voll“ gemäß einem umfassenden „Endzweck“. Und nur so erlaubt auch Kants Notiz eine unproblematische Lesart: „Die Hoffnung einer andern Welt ist sehr genau [!] mit der Moral verbunden … Nur die Hoffnung der andern Welt kann den moralischen Gesetzen ihre Energie [keinesfalls aber ihre Verbindlichkeit!] geben.“396 Erneut zeigt sich, weshalb es in der Tat auf diese nach Kant „sehr genau“ zu nehmende Verbindung ankommt; noch im späten „Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen“ betonte Kant demgemäß (VI 301): „Religion unterscheidet sich nicht der Materie, d. i. dem Objekt nach in irgend einem Stücke von der Moral, denn sie geht auf Pflichten überhaupt, sondern ihr Unterschied von dieser ist bloß formal, d. i. eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral durch die aus dieser [d. i. der „Gesetzgebung der Vernunft“] selbst erzeugten Idee von Gott auf den menschlichen Willen zu Erfüllung aller seiner Pflichten Einfluß zu geben.“397 Damit ist gesagt, dass auch der – nicht „heteronomisierende“ – Bezug der Moral auf Religion demnach darauf abzielt, dass dadurch die „moralische Orientierung“ im „Ganzen einer Lebensgeschichte“ als solche sich selbst als affirmiert begreifen und auch bejahen kann – nicht zuletzt dies ist eine bedeutsame Implikation jener Kennzeichnung der Religion als „Erkenntnis aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote! – und so selbst jene Bejahung fundiert, „dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (IV 652). Auch so darf wohl Kants Bemerkung verstanden werden, dass „der Mensch ohne Religion des Lebens nicht froh werden“ könne, das sich, an kantischen Maßstäben, gerade nicht „eudämonistisch“ kurzschließen lässt. Erneut bestätigt sich: Nicht etwa bloße 396 AA XXVII, 168. – Im Sinne dieser Aussicht auf ein des „Lebens-froh-werden-Könnens“, das eben zuletzt auf die „Bewandtnis des Lebens“ im Ganzen abzielt, darf man wohl auch Henrichs Notiz verstehen, „dass dann, wenn dem Leben die Aussicht auf eine Grundaffirmation verschlossen wird, auch das sittliche Bewusstsein in einen allgemeinen Fiktionsverdacht hineingezogen werden kann“ (Henrich 2007, 132). Dass dies dennoch nicht sein darf, hat Kant nicht zuletzt am Beispiel des „rechtschaffenen“ Spinoza im Sinne der „moralisch konsequenten Denkungsart“ vor Augen geführt. An ihm exemplifiziert er geradezu die Einsicht, dass „ein Leben im guten Willen immer noch möglich“ ist „vor dem Hintergrund eines finster gewordenen Bildes von der Welt. Ein solches Leben trägt aus, wovon wir wissen, dass es dem bewussten Leben wesentlich ist; und es beruhigt sich in der Erfahrung von Sinn, den es einzig aus sich sowie für uns vor den anderen Personen gewinnt, die unter der gleichen Verständigungsart zusammen mit ihm ihr Leben führen. Niemand hat also das Recht, den, der eine nihilistische Lebensbilanz gezogen hat, eben deshalb des Immoralismus zu verdächtigen“ (Henrich 2007, 133). 397 „Der Glaube an Gott entsteht durch Anerkennung der Gesetzgebung der reinen Vernunft, und wirkt auf den menschlichen Willen zurück, um ihm zur Ausübung derselben, die größte mögliche Stärke zu erteilen“ (K. H. Heydenreich, System des Naturrechts nach kritischen Prinzipien. Leipzig 1794, 141; zit. n. Geismann 2009, 80 Anm. 524).
240 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre selbst-fixierte „Bedürftigkeit des Menschen“, sondern die notwendige Orientierung an der Idee der „moralischen Welt“ und der darin enthaltenen „ganzen Bestimmung“ als „vernünftiges Weltwesen“ ist es, welche die Unverzichtbarkeit des postulatorischen Ausblicks fundiert und so jene Einheit von „Natur und Freiheit“ noch einmal besonders akzentuiert. Stellt doch die in der Idee des „höchsten Gutes“ gedachte „Proportioniertheit“ von „Tugend und Glückseligkeit“ lediglich die existenz-bezogene, also nunmehr eben an dem Ganzen der „moralischen Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811) bemessene Bestimmung der „allen sittlichen Gesetzen gemäßen moralischen Welt“ (II 679) dar. Ein unter den Vorzeichen des „absurdum morale“ stehendes „bewusstes Leben“ könnte die „moralischen Triebfedern“ nicht unberührt lassen – ein Motiv, das bei Kant auch im Kontext seiner Verwerfung des „Vernunftunglaubens“ eine Rolle spielt. Dieses „Seines-Lebens-froh-werden-Können“ besagt demzufolge vornehmlich dies: In dem daraus explizierten Selbstverständnis in Ansehung des „gelingenden Ganzen einer moralischen Lebensgeschichte“ nicht allein die moralische Bewährung auf sich zu nehmen, d. h. nicht bloß hinnehmen bzw. ertragen zu müssen, sondern diese unter der Idee einer „moralischen Welt“ stehende „moralische Lebensgeschichte“ im „Ganzen ihres Zustandes“ – d. i. auch die „Grenzen dieses Lebens“ und somit die Sterblichkeit dieses „vernünftigen Weltwesens“ – bejahen zu können. Anknüpfend an jene Bestimmung der „fides“ als „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ sowie im Blick auf das von Kant anvisierte Ganze der „moralische(n) Lebensgeschichte jedes Menschen“ (IV 811) wäre sein Insistieren, dass der Mensch als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ „ohne Religion seines Lebens nicht froh werden könne“, nun wohl in der bestimmten Hinsicht zu nehmen, dass sich darin auch der „Mut“ (als „Grund der Hoffnung“398) und die Zustimmung dazu ausspricht, dass eine solche „moralische Lebensgeschichte“ auch ihr Ende finden kann; ebenso bringt sich darin die Zuversicht zum Ausdruck399, dass Letztere auch ihr Ziel und Vollendung finden mag – „wenn wir das ganz [!] wären, oder einmal sein würden, was wir sein sollen …“ (IV 873, Anm.). Auch so weist die kantische Perspektive des „Seines-Lebens-froh-werden-Könnens“, jedenfalls grundsätzlich, über den defizienten Status der „Religion“ als eines bloßen Anhängsels der Moral hinaus. Dies wird auch durch eine späte anthropologische Notiz Kants noch gestützt: An den Hinweis, dass einen absoluten „Wert des Lebens“ doch allein „die Weisheit dem Menschen verschaffen kann; der also in seiner Gewalt ist“, knüpft sich sogleich Kants Bemerkung an: „Wer ängstlich wegen des Verlustes desselben [des Lebens] bekümmert ist, wird des Lebens nie froh werden“ (VI 562). „Seines Lebens froh werden“ (und dem Gedanken, „dass eine Welt sei“, aus moralischen Gründen zustimmen) vermag der Mensch eben nur unter der Voraussetzung, dass die praktische Idee einer „moralischen Welt“ nicht 398 Schon der frühe Kant hat in „anthropologischem“ Kontext den „Mut“ als „Grund der Hoffnung“ bestimmt: AA XV 741; dies steht mit der späten Charakterisierung des „Vernunftunglaubens“ offenbar in engem sachlichen Zusammenhang. 399 Dass auch hinsichtlich dieses „Des Lebens nicht froh werden Könnens“ noch ein entfernter Einfluss Leibnizens erkennbar ist, dies lässt wenigstens auch dessen Auskunft vermuten: „Alles muss zum Wohle der Guten ausschlagen, d. h. derer, die in diesem großen Staat nicht zu den Missvergnügten gehören, die sich der Vorsehung anvertrauen, nachdem sie ihre Pflicht getan haben“ (Leibniz, Monadologie § 90).
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ein bloßes Idol ist, was anzunehmen sich aus moralischen Gründen verbietet. Dass diese praxis-orientierende Idee der „moralischen Welt“ möglich ist und die darin implizierten Voraussetzungen auch wirklich sind, ist deshalb nach Kant selbst eine Leitidee, an der „mein Interesse nicht nachlassen darf“, ohne sich selbst als „vernünftiges Weltwesen“ preiszugeben. „Ohne Religion seines Lebens nicht froh werden können“400 – dieses späte Diktum Kants zielt somit vonehmlich auf das von ihm immer wieder umkreiste – gleichsam sinnexplizierende – Thema, wie ein „vernünftiges, endliches Wesen“ zuletzt auch im Blick auf das „Ganze seiner moralischen Lebensgeschichte“ diese, über moralische „Bewährung“ und „Selbstzufriedenheit“ hinaus, auch zu affirmieren vermag. Darin klingt eine erstrebte „Gutheißung“ durch, die auch jenem „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ bzw. dem Verweis auf das „durch die Güte Gottes gleichsam ins Dasein“ (IV 810) gerufene „vernünftige Weltwesen“ zugrunde liegt – ein motivlicher Zusammenhang, dessen Beachtung wohl (von Kant selbst gewiss begünstigte) Missverständnisse vermeiden ließe (s. u. IV., 3.4.). Gewiss darf jenes Diktum auch nicht isoliert genommen werden, bleibt doch dabei nach wie vor vorausgesetzt, dass erst aus der Verbindung von „Theologie und Moral“ Religion resultiere. Allein dies führt sodann auf die – das „Dasein Gottes“ selbst zunächst noch gar nicht berührende – Frage nach dem „für die Religion tauglichen Gottesbegriff“ (VI 106, Anm.),401 der seine Bestimmtheit der „praktischen Vernunft“ verdankt und auch allein der angemessenen Bestimmung des „Endzwecks“ genügt; das „Dasein Gottes“ bleibt indes eine davon noch unterschiedene – vernunft-begründete – „Voraussetzung der Vernunft“, die als solche eben auch ihre Selbstbegrenzung anzeigt und sich deshalb auch in der „Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott“ (IV 628) noch nicht erschöpft. Nebenbei und im Vorblick auf spätere Überlegungen des IV. Teiles sei – nicht zuletzt im Sinne der in der „Existenz“ des Menschen „gebrochenen“ Analogie von „Natur und Freiheit“ – noch darauf hingewiesen: Auch eine beiläufige, wiederum vermutlich von Motiven Leibnizens inspirierte Bemerkung Kants (im Kontext seiner Bestimmung des „ästhetischen Urteils“) über den „Fröhlichkeit und Zufriedenheit mit seiner Existenz“ verkündigenden Vogelgesang (V 400) erweist sich hier – wohl auch im Sinne einer Problemanzeige – durchaus als erinnernswert. Kants Verweis auf jenen Menschen, der „sich, umgeben von einer schönen Natur, in einem ruhigen und heiteren Genusse seines Daseins befindet“402 und darüber „in sich ein Bedürfnis“ fühlt, „irgend jemand dafür dank400 Dieses Motiv des „Ohne Religion seines Lebens nicht froh werden Könnens“ nimmt offenbar inhaltlich Glücks-Motive aus Spaldings Betrachtungen über die „Bestimmung des Menschen“, aber auch einschlägige Gedanken Shaftesburys auf – und überwindet sie zugleich, sofern diese neu in dem „obersten Gut“ der Moralität“ verankert werden. – Diesbezügliche Anknüpfungspunkte zur Erfahrung des „Schönen“ bzw. des darin enthaltenen „Glücksversprechens“ sind hier nicht zu verfolgen; s. dazu B. Recki 1993. 401 In diesem genauen Sinne ist Kants – andernfalls missverständliche – Auskunft zu nehmen: „… denn eigentlich entspringt der Begriff von der Gottheit nur aus dem Bewusstsein dieser [moralischen] Gesetze, und dem Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche diesen den ganzen in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammen stimmenden Effekt verschaffen kann“ (IV 764). 402 Auf sie nimmt offenbar indirekt Goethes (möglicherweise durch die Lektüre von Garves „Eigene Betrachtungen über die allgemeinsten Grundsätze der Sittlichkeit“ inspirierte und auch modifizierte) Be-
242 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre bar zu sein“ (V 571), knüpft daran an – obgleich in dem ausdrücklichen Bewusstsein, dass jene „Fröhlichkeit und Zufriedenheit mit seiner Existenz“ diesem „vernünftigen, aber endlichen Wesen“ eben nicht beschieden ist; „bewusstes Leben“ sieht sich doch mit seine „ganze Bestimmung“ betreffenden Fragen unausweichlich konfrontiert, die diesbezüglich jedwede Analogie von „Natur und Freiheit“ sprengen muss. Es sind „vernünftige Weltwesen“, ohne die in der „Natur von keinem Soll [und von keinem Sinn] die Rede ist“ (VI 341) und die gleichermaßen ihres moralischen Versagens sowie der gegenläufigen Erfahrung seiner „Nichtigkeit“ und seiner „wahren Unendlichkeit“ innewerden – nicht zuletzt jener untrüglichen „Stimme“, „es müsse anders zugehen“, woran sich die „Vorstellung von etwas, dem sie nachzustreben sich verbunden fühl(t)en“ (V 587), fügt: Solche Widerfahrnisse sind es wohl, in denen „endliche Vernunftwesen“ sich selbst in eigentümlicher Weise entzogen bleiben und sich so gleichsam als „mit der Natur zerfallen“ erfahren (Hölderlin, s. o. IV., Anm. 77). Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen gewinnt jene Bemerkung Kants, wonach der Mensch „ohne Religion seines Lebens nicht froh werden könne“, erst ihren besonderen Sinn und vermeidet so auch jedwede „psychologisierende“ Reduktion derselben. Der enge motivliche Zusammenhang dieser späten Bemerkung über die Unmöglichkeit, „ohne Religion seines Lebens froh werden zu können“, mit den „teleologischen“ Perspektiven und der späten „fides“-Bestimmung der „dritten Kritik“ ist nicht zu übersehen. Auch die diesem nicht „eudämonistisch“ engzuführenden „Nicht-froh-werden-Können“ zugrunde liegende Intuition Kants bestätigt es erneut: Die auf das zu befördernde „höchste mögliche Gut in einer Welt“ abzielende Hoffnung verdeutlicht noch einmal, dass die am „Weltganzen“ orientierte Idee der „allgemeinen Glückseligkeit“ zunächst vor allem eine praktische Herausforderung darstellt, die im Blick auf den Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ und die davon ausgehende Hoffnungsfrage noch ein besonderes Gewicht erhält (s. u. IV., 4.1.). Demzufolge ist die Perspektive auf das je individuelle „vollendete Gut“ ausdrücklich auf die Bedingung eingeschränkt (und auch in diesem bestimmten Sinne „abgeleitet“!), an dieser „Idee des höchsten durch seine Mitwirkung in der möglichen Welt möglichen Gutes“ als dem „Zweck an sich selbst“ „teilhaftig zu werden“ (d. h. jenen „Anteil“ zu gewinnen, den Gott „jedem am höchsten Gut bestimmt“: IV 253). Gemäß dieser unumstößlichen „Ordnung der Begriffe“ legitimiert sich also die „uneigennützige“, weil an das „Ganze aller Zwecke“ rückgebundene Hoffnung aus der in dieser moralischen Bewährung verankerten Hoffnung darauf, auch selbst in einer solchen Hinsicht „zu einem solchen Ganzen zu gehören“ (VI 133, Anm.). merkung Bezug: „Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt – dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut.“ (HA XXII, 98) Hier entfällt offensichtlich die für Kant allerdings grundlegende „moralische Intuition“, zumal dieser dem Menschen gewährte „ruhige heitere Genuss seines Daseins“ bei ihm offenbar moralisch „grundiert“ ist.
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Ein solcher keineswegs bloß wunsch-fixierter Gedanke klingt schon in Kants Anlehnung an jene frühe (von Leibniz inspirierte) Idee des „Reich der Gnaden“ als eine „praktisch notwendige Idee der Vernunft“ (II 682) an, gewinnt sodann in der umfassend konzipierten Idee eines „Reichs der Zwecke“ erst seine endgültige Gestalt und expliziert derart den „besonderen Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (IV 651). Die Idee eines „Reichs der Gnaden“ (bzw. die „Teilhabe“ daran) schließt freilich die sensible Gewissheit darüber ein, dass jene erhoffte Zugehörigkeit zu einem solchen „Weltganzen“ doch nicht mehr als „Nicht-Unwürdigkeit“ besagt, also negativ akzentuiert bleiben muss.403 Im „Reich der Freiheit“ als dem „Reich der Gnaden“ führt, einer Logik „praktischer Modalitäten“ zufolge, das praktisch-unbedingte Vernunftbedürfnis des „Urteilen-Müssens“ auf das an der Idee der „moralischen Welt“ sinn-orientierte „HoffenSollen“ („dass eine solche Welt sei“) und das darin begründete „Was darf ich hoffen?“. Dieses „Hoffen-Dürfen“ bleibt, so hat sich gezeigt, an den Nachweis gebunden, dass das solcherart Erhoffte keineswegs lediglich ein menschlich-allzumenschliches eudämonistisches Wunschdenken verrät, sondern in einem „Vernunftbedürfnis“ verwurzelt ist, das so auf den darin implizit mitgesetzten Ermöglichungsgrund des „Endzwecks der Schöpfung“ und dessen Voraus-Setzung verweist. Nach wie vor bleibt es dabei: „Eleutheronomie“ (das „Freiheitsprinzip der inneren Gesetzgebung“), nicht bloße „Eudämonie“ (das bloße „Glückseligkeitsprinzip“) (IV 506) ist auch in diesem engeren religionsphilosophischen Kontext der allein verbindliche Maßstab. Eine späte Reflexion404 Kants ist bezüglich des Stellenwerts jenes (von Kant auch so genannten) „moralischen Wunsches“ (IV 262) bzw. für das darin sich artikulierende „Vernunftbedürfnis“ und für die Vermeidung von Missverständnissen wohl besonders erhellend, zumal darin sehr klar der Anspruch des „moralischen Vernunftglaubens“ von einem bloßen „Bedürfnisglauben“ abgegrenzt und auch noch einmal die Bedingung be403 Es wurde schon darauf hingewiesen: Nicht immer scheint die der „Ordnung der Dinge“ gemäß nachgeordnete Rücksicht des je individuellen – eigenen! – Glücksanspruchs von Kant deutlich genug betont worden zu sein; er dürfte für die häufig verkürzende Wahrnehmung dieser Hoffnungsperspektive wenigstens insofern selbst verantwortlich sein, als er in der Kennzeichnung der berühmten drei Fragen die Hoffnungsfrage „Was darf ich hoffen?“ in der „ersten Kritik“ zunächst wohl zu rasch in die engführende Perspektive der „eigenen Glückseligkeit“ fokussiert hat: „(W)enn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen?“ (II 677) (bzw. darauf: „(W)ie, wenn ich mich nun so verhalte, dass ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sei, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch teilhaftig werden zu können?“: II 679). Dies verdeckt eher den Sachverhalt, dass Kant allerdings auch schon hier ausdrücklich von der Pflicht spricht, „das Weltbeste an uns und anderen [zu] befördern (II 687), d. h. die „allgemeine Glückseligkeit“ ebenso der Maßstab ist, obgleich, genauer besehen, auch dies in der ausgesprochenen Hoffnung auf das „Teilhaftig-Werden“ enthalten ist. 404 Refl. 6454 (AA XVIII, 724 ff ), sie wird für den Zeitraum 1791–1795 datiert. – Aufschlussreich ist an dieser späten Reflexion vor allem auch dies, dass Kant hier „unsere Idee der Welt nicht auf Theorie, sondern auf unsere praktische Bestimmung beziehen“ will, somit eben auf die Idee des „Ganzen aller Zwecke“. Demgemäß ist es dann auch diese praktische „Idee der Welt“, die jenem „Weltbegriff der Philosophie“ zugrunde liegt, der die „wesentlichen Zwecke“ der menschlichen Vernunft auf die „höchsten Zwecke“ derselben bezieht und diese Fragen (in Ansehung der „systematischen Einheit aus dem Standpunkt der Zwecke“ und somit der „vollkommenen systematischen Einheit der Vernunft“: II 700 f ) zuletzt in der Idee einer „anthropologia transcendentalis“ vereint. Die angeführte Reflexion vermeidet offenbar auch die Vorstellung einer „Verdienstlichkeit“ der Tugend.
244 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre nannt wird, unter welcher der Mensch „seines Lebens froh werden kann“: „Das moralische Bedürfnis, ein höchstes moralisches Gut anzunehmen, ist nicht ein (pathologisch) bedingtes, um … zu den guten Handlungen, welche das moralische Gesetz gebietet, noch Triebfedern der Selbstliebe zu haben; denn es ist ein moralisches Bedürfnis, selbst einen gerechten Richter, also nicht ein Wesen, von dessen Güte wir hoffen, sondern dessen Heiligkeit wir fürchten müssen, anzunehmen. Selbst der Gedanke davon ist bei der Ungewissheit der Reinigkeit seiner Handlungen mehr furchtbar als … anlockend. – Aber für unsere gesetzgebende Vernunft, wenn wir nicht einmal uns selbst als unter Gesetzen stehend, sondern als nach moralischen Gesetzen das höchste Gut für die Welt entwerfend vorstellen, wird ein jeder wollen [d. h. nicht bloß wünschen, sondern eben durchaus einer „unparteiischen Vernunft“ folgend], dass Tugend glücklich und Laster bestraft werde. Dieser Wunsch ist allein rein moralisch, nicht im mindesten selbstsüchtig und für den vernünftigen Menschen unvermeidlich, und der macht es zur Notwendigkeit, einen lebendigen Gott als moralischen Welturheber und Regierer anzunehmen, so fern wir unsere Idee der Welt nicht auf Theorie, sondern auf unsere praktische Bestimmung beziehen. Daher das Schwanken, wenn man theoretisch diese Sache erwägt und dann wiederum auf die Befriedigung unserer praktischen Triebfedern zurück sieht. Es ist kein passives Interesse, sondern ein actives in der Idee eines bloß vernünftigen Wesens, welches sich selbst als moralisch-gesetzgebend betrachtet.“ In der spannungsvollen Einheit der im Eröffnungssatz der „Religionsschrift“ ausgesprochenen – durch nichts zu relativierenden – These, die Moral bedürfe „weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“ (IV 649), und jener – vor psychologisierenden Engführungen zu bewahrenden – späten These, es sei „unmöglich, daß ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde“, bewegt sich der späte existenzialanthropologische Aufweis Kants, dass und wie „Moral unausbleiblich zur Religion“ führt. Erneut bleibt daran zu erinnern, dass der gegen Kant nicht selten erhobene Einwand einer „moralischen“ Ausdünnung bzw. einer „rationalistischen“ Verkürzung der Religion nicht darüber hinwegsehen lassen darf, dass diese moralische Verankerung und die darauf beruhende Kennzeichnung der Religion als einer „reinen Vernunftsache“ auch eine unverzichtbare „Schutzwehr“ gegenüber verschiedenen Formen einer „psychologistischen“ Aushöhlung derselben darstellt. Es ist also nichts anderes als das Interesse der Vernunft an sich selbst – d. h.: an ihrer „Selbsterhaltung“, sowie an ihrer „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ (im Sinne jener „teleologia rationis humanae“), also an dem ihr immanenten „normativen Gehalt“ –, das sich zweifellos nicht allein auf Aspekte theoretischer Vernunftansprüche zurückstufen lässt, sondern jenem praktischen „Urteilen-Müssen“ entspricht. Das in jener späten Reflexion angeführte, „nach moralischen Gesetzen das höchste Gut für die Welt“ entwerfende „aktive Interesse“ bringt die jene „Willensbestimmung von besonderer Art“ auszeichnende Sinn-Intention noch einmal eigens zur Geltung, in der sich jenes unabweisliche „Interesse der Vernunft“ sehr nachdrücklich artikuliert und zuletzt wohl auch noch in der sehr späten Bemerkung nachklingt, wonach die „Vernunft (praktische) … ihr eigener letzter Zweck“ (vgl. u. IV., Anm. 591) ist. Jener Verweis auf ein „aktives In-
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teresse“ eines „vernünftigen Weltwesens“ impliziert wohl auch den Anspruch, dass ihm an einem identitäts-konstituierenden „Sich-vollendet“- bzw. „Verloren-wissen-Könnens“ gelegen sein muss, weil andernfalls auch der Erfüllungs-Sinn der „Glückswürdigkeit“ nicht bewahrt wäre, ohne den wiederum die Idee der „Glückseligkeit“ nicht unverkürzt bestimmt werden könnte. Jene angeführte späte kantische Reflexion wirft auch nochmals ein besonderes Licht auf jene (in § 88 der KU geäußerte) These Kants, wonach die Auffassung, dass im Ausgang von der „Schöpfung …, gemäß einem Endzwecke … nicht bloß … ein verständiges, sondern ein zugleich moralisches Wesen, als Welturheber, mithin ein Gott angenommen werden“ müsse (V 583), lediglich „ein zweiter Schluss“ sei;405 denn wo „theoretische Vernunft“ lediglich „schwankt“ (genauer: im Sinne eines bloß „theoretischen Fürwahrhaltens“ sich eben als unzuständig erweist), ist es hingegen der Anspruch der moralischpraktischen Vernunft, der sie geradezu zu einem „Machtspruch“ legitimiert und so auch den „moralischen Vernunftglauben“ fundiert. Auch daraus wird übrigens deutlich, dass Kants Bezug auf die „Willensbestimmung von besonderer Art“ sich nicht so ohne weiteres auf die Freud’sche Religions-Perspektive reduzieren lässt: „Religion ist ein Versuch, die Sinneswelt, in die wir gestellt sind, mittels der Wunschwelt zu bewältigen, die wir infolge biologischer und psychologischer Notwendigkeiten in uns entwickelt haben. Aber sie kann es nicht leisten.“406 Schon Kants Bestimmung der „Religion“, „d. i. die Moral in Beziehung auf Gott als Gesetzgeber“ (V 589), widerspricht diesem „Wunschdenken“ – ebenso seine Begründung der allein vernunft-gemäßen „Hoffnung eines künftigen Lebens“. Auch für die hier im Vordergrund stehende subjekt-zentrierte „existenzialanthropologische“ Akzentuierung der kantischen Ethikotheologie, innerhalb deren dieses kantische Diktum über das „Des-Lebens-froh-werden-Könnens“ eingebettet ist, bleibt jedoch daran zu erinnern, dass jene in der Postulatenlehre der „zweiten Kritik“ leitende (aber doch vorläufige) Vorstellung der proportionierten Übereinkunft von „moralischer Vernunftbestimmung“ und „natürlichem Glücksverlangen“ jedenfalls auf die fundamentalphilosophischen Grundlagen hin transparent bleiben muss. Dadurch findet jene in der „dritten Kritik“ maßgebende ethikotheologische Rücksicht auf die unaufhebbare Spannung zwi-
405 Kant knüpft hier an das in der Einleitung zur „dritten Kritik“ in seiner Kennzeichnung der „Urteilskraft, als einem apriori gesetzgebenden Vermögen“ (vgl. V 251 ff ) näher explizierte Motiv an: „Nun kann dieses Prinzip kein anderes sein, als: daß, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur (ob zwar nur nach dem allgemeinen Begriffe von ihr als Natur) vorschreibt, die besondern empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte. Nicht, als wenn auf diese Art wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müßte (denn es ist nur die reflektierende Urteilskraft, der diese Idee zum Prinzip dient, zum Reflektieren, nicht zum Bestimmen); sondern dieses Vermögen gibt sich dadurch nur selbst, und nicht der Natur, ein Gesetz“ (V 252 f ). 406 Freud 1969, 595. Die von Kant vorgenommene „Entpsychologisierung“ der „Hoffnung“ und ihre Verankerung in dem „unparteiischen Urteil“ der „reinen praktischen Vernunft“ verbietet es, sie mit bloßem illusionärem „Wunschdenken“ gleichzusetzen bzw. aus der „kindlichen Hilflosigkeit“ abzuleiten.
246 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre schen dem „subjektiven“ und dem „objektiven Endzweck“ des Menschen (V 581) über diese im engeren Sinne religionsphilosophische Thematik hinaus in einer wesentlichen Hinsicht noch eine fundamentalphilosophische Vertiefung. Deshalb dürfen diese religionsphilosophischen Gesichtspunkte im engeren Sinne – und dies gilt ebenso für die in diesem Abschnitt verfolgte existenzielle Perspektive des „Froh-Werden-Könnens“ – jene angezeigten unverzichtbaren fundamentalphilosophischen Fundamente bzw. Aspekte der Postulatenlehre auch nicht überlagern, die auf die Weltstellung des Menschen – des einzige(n) Naturwesens, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) … erkennen können“ (V 558) – verweisen, das als unauflösliche Einheit dieser zweifachen „sich selbsterhaltenden Zweckmäßigkeit“ existiert. Ohne die gebotene Rücksicht darauf kann auch die „ganze Bestimmung des Menschen“ und das „Ganze seines Daseins“ nicht gedacht werden, wobei in solchem Kontext der (nicht moralphilosophisch kurzzuschließenden) Idee des „Reichs der Zwecke“ ein besonderer systematischer Stellenwert zukommt. 3.3.1. Anmerkung: „Die Schöne(n) Dinge zeigen an, dass der Mensch in der Welt passe …“ Die in jener existenzialanthropologischen Hinsicht maßgebende Orientierung an der Idee eines „gelingenden Ganzen“ menschlicher Existenz, auf die sich auch noch jener späte Befund Kants über die „Unmöglichkeit“ bezieht, „dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werden könne“, findet nun auch eine denkwürdige Unterstützung durch jene schon angeführte frühe Reflexion Kants: „Die (s)chöne(n) Dinge zeigen an, dass der Mensch in der [sic!] Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme“.407 In systematisch höchst aufschlussreicher Weise wird daraus auch sichtbar, dass die späten religionsphilosophisch maßgebenden „teleologischen“ Perspektiven schon in Kants frühen – erst andeutungsweisen – Bezügen auf die „ästhetische Zweckmäßigkeit“, ungeachtet der zu wahrenden Autonomie derselben, vorbereitet sind bzw. Unterstützung finden; sie fügen sich auch recht gut zu jener schon benannten moraltheologischen Perspektive, „unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen, indem wir in das System aller Zwecke passen“ (II 687).
407 Refl. 1820a, AA XVI, 127. In freier Anlehnung daran wird sich die ethikotheologisch verankerte Hoffnung darauf beziehen, der Mensch „passe“ dadurch in die Welt, dass der „subjektiv-praktischen Realität“ des „Endzwecks“ auch „objektiv-theoretische Realität“ zukomme, d. h. dieser in einem zugrundeliegenden „Endzweck der Schöpfung“ verankert ist. Im Blick auf Kants Reflexion über „die schönen Dinge“ gewinnt jene moraltheologisch begründete Überlegung Kants, wonach „wir in das System der Zwecke passen“, noch einen Akzent, der es auch in solcher Hinsicht nahelegt, die „ästhetische Erfahrung“ des Naturschönen mit dem „Weltbegriff der Philosophie“ zu verknüpfen. Indes, eine genaue gegenläufige Entsprechung findet dies wohl in der Verbindung des „Weltbegriffs der Philosophie“ mit dem Thema der „authentischen Theodizee“ (vgl. o. III., 4.).
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Es ist primär diese – also schon früh benannte – ästhetische Erfahrung: „Die (s)chöne(n) Dinge zeigen an, dass der Mensch in der Welt passe“,408 die jene später bestimmende Perspektive auf die Idee des „Systems aller Zwecke“ vorbereitet. Solches „Passen“ antizipiert jene vernommenen „Winke“, die, begleitet von der in ästhetischer und intellektueller Lust erfahrenen „Stimmigkeit“, sodann auch jenes Vertrauen auf die von uns in das moralische Gesetz „hineingelegte Verheißung“ unterstützen. Ebenso spricht wohl vieles dafür, die darin enthaltene „Ermutigung“ – verknüpft mit Kants Bestimmung des „Schönen“ als Symbol des „Sittlich-Guten“ und dem kantischen Hinweis auf das im gewährten Widerfahrnis des Schönen flüchtig vernehmbare „Glücksversprechen“409 – im Blick auf jene Frage: „Wie muss eine Welt für moralische Wesen beschaffen sein?“, in den thematischen Kontext einer „moralischen Teleologie“ einzufügen. Auch spricht einiges dafür, dass Kant die darin, gewiss nur flüchtig, innegewordene „Stimmigkeit“ der „Anschauung der Dinge zu den Gesetzen seiner Anschauung“ selbst als einen – „viel zu denken“ veranlassenden (V 315) – symbolischen Verweis auf die in jener (schon wiederholt zitierten) Idee der „Glückseligkeit“ enthaltene „Stimmigkeit“ verstanden hat – nämlich als „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht“ (IV 255), bzw. auf die „Übereinstimmung“ des „Endzwecks der Schöpfung“ zum „Endzwecke unserer reinen praktischen Vernunft“ (V 582), in dem sich das „Interesse der Vernunft an sich selbst“ manifestiert. Dabei bleibt darauf zu achten, dass die in der besonderen Erfahrung der „schönen Dinge“ enthaltene „Anzeige“ gerade nichts demonstriert und auch nur so „viel zu denken geben“ kann. Dass diese Glückseligkeit „also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens“, „beruhet“, erinnert freilich auch daran, dass nach Kant die „contemplative“ „Lust im ästhetischen Urteil“ denkwürdigerweise auf dem „Bewusstsein der bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntniskräfte des Subjekts bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird“ (V 301 f ), „beruht“ und diese sich gleichwohl von der jener er408 Vgl. dazu B. Recki 1993, 95–115. 409 Vgl. dazu Recki 1993. Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass eine Analyse der „ästhetischen Zweckmäßigkeit“ und ihre genaue „Verortung“ innerhalb der „teleologia rationis humanae“ hier nicht geleistet werden kann, d. h. bewusst ausgeklammert bleibt. Erwähnt sei hier lediglich die denkwürdige Stufung, die in Kants Hinweis auf das Interesse der Vernunft zum Ausdruck kommt, „dass die Ideen … auch objektive Realität haben“ und das hier im „Ästhetischen“ davon ausgeht, „dass die Natur wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Produkte zu unserem von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen … anzunehmen“ (V 398). Dass dieses „der Verwandtschaft nach“ moralische Interesse vorgängig im „Interesse am Sittlichguten“ verankert ist, hat eine denkwürdige Entsprechung in der ein „Interesse der Vernunft an sich selbst“ manifestierenden Übereinstimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ mit dem „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ (V 582), welche ebenfalls in dem „auf objektive Gesetze gegründete(n) Interesse am „Sittlichguten“ begründet ist; gleichwohl bleibt das „unmittelbare Interesse am Schönen der Natur“ als ein „freies Interesse“ von jenem notwendigen Interesse an der Übereinstimmung jener „Endzweck“-Bestimmungen zu unterscheiden, worin sich ein „Interesse der Vernunft an sich selbst“ in der Einheit der Vernunft als „Vermögen der Prinzipien“ und als „Vermögen der Zwecke“ bekundet. Das Fundament dieser Bestimmungen ist der in jener Einheit der zweifachen „sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit“ existierende Mensch als „Endzweck der Schöpfung“.
248 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre wähnten Erfahrung der „Fasslichkeit der Natur“ verdankten „intellektuellen Lust“ strikt unterscheidet. Dann ist es offenkundig solche „Analogie“ zwischen der Idee der „Glückseligkeit“ und dem „beglückenden“ Widerfahrnis und „Weilen bei der Betrachtung des Schönen“, die, ungeachtet der notwendigen Differenzierungen, in dem (darin mitgedachten „analogen“) „Verheißungscharakter“ und ebenso bezüglich der zu wahrenden „Ordnung der Zwecke“ erst recht „viel zu denken veranlasst“. Dazu gehört freilich ebenso die Sensibilität dafür, jene „Analogie“ von „Glücksversprechen“ und „Verheißung des moralischen Gesetzes“ auch nicht zu überdehnen, d. h. den diesbezüglichen „Punkt der Ungleichartigkeit“ dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Jene von Kant beanspruchte Analogisierung der Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was darf ich hoffen?“ hat erst in der „Kritik der (teleologischen) Urteilskraft“ (in der dort explizierten Idee der „Zweckmäßigkeit“) ihren angemessenen Ort bzw. ihre Einlösung gefunden. In dieser Analogisierung der Wissens- und der Hoffnungsfrage und in der darin leitenden Idee einer „Zweckmäßigkeit“ treten auch besondere Aspekte der „Endlichkeit der Vernunft“ in den Vordergrund: Denn obgleich das „vernünftige Weltwesen“ „Erfahrungen macht“, bleibt es hinsichtlich der „unbegreiflichen“ konkreten Wirklichkeit selbst auf eine nicht von ihr selbst gestifteten „Ordnung der Dinge“ verwiesen, ohne die „Vernunft keine Schule“ hätte, obgleich darin die „Urteilskraft … ihr selbst für die Reflexion … ein Gesetz vorschreibt“ (V 259). Als moralisch-praktisches Wesen weiß es sich nicht nur unumgänglich auf Zwecke bezogen, sondern macht so auch die unvermeidliche Erfahrung, dass das „oberste Gut“ (d. h. eben die „Moralität“) in einer praktisch unaufhebbaren Spannung zum „praktisch notwendigen Zweck“ (somit zur unverfügbaren „Totalität des Gegenstandes der praktischen Vernunft“) verbleibt; ebenso „erdeutet“ es, mehr ahnungs- als verheißungsvoll, in der Spur bzw. im flüchtigen Wink bei Gelegenheit des Widerfahrnisses des „Naturschönen“ eine „Anzeige“ darauf, „dass der Mensch in der Welt passe …“, das sich indes keinesfalls als ein „Glücksversprechen“ festmachen lässt. Es sind dies allesamt Erfahrungen, in deren Widerfahrnis-Charakter und dem darin vernehmbaren „Verweisungssinn“ „Macht und Ohnmacht der Vernunft“ in eigentümlicher Weise verschmelzen. Es zeigt sich erneut: Kants Bezugnahme auf die „von allen empirischbedingten Kräften unterschieden(e)“ Vernunft sowie auf das moralische „Sollen“, das eine der toten Faktenaußenwelt, d. h. dem „Lauf der Natur“ gänzlich fremde „Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen“ ausdrückt (II 498), verweist auf die Weltstellung des Menschen als der je individualisierten „conscientia mundi“:410 Selbst zwar lediglich eine 410 Eine Tagebuch-Aufzeichnung Wittgensteins lässt sich durchaus im Sinne dieser kantischen Gedanken – und auch im Sinne dieses „conscientia“-Motivs – interpretieren: „Gut und Böse tritt erst durch das Subjekt ein. Und das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern ist eine Grenze der Welt … Wie das Subjekt kein Teil der Welt ist, sondern eine Voraussetzung ihrer Existenz, so sind gut und böse Prädikate des Subjekts, nicht Eigenschaften in der Welt“ (Tagebuch v. 2. 8. 1916, in: Wittgenstein 1969, 172). Wittgenstein selbst legt es also nahe, seine Bemerkung über „gut und böse“ analog seinem „Auge-Gesichtsfeld“-Bild zu begreifen; sie ist geradezu ein Kommentar zu jener These: „In der Natur ist alles; in ihr ist von keinem Soll die Rede.“ (VI 341) Die menschliche Seele wäre demnach nicht nur „quodammodo omnia“; mit ihr tritt erst das Licht von „gut und böse“ in die Wirklichkeit, die so durch eine moralisch qualifizierte „Negativität“ ausgezeichnet ist und solcherart als „ein moralisch sensibles Universum“ noch von aller
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„unbedeutende Kleinigkeit“ in der Welt – und dennoch jener besondere „Ort“, in dem allein von einem „Soll … die Rede ist“ (VI 341) und jene Ahnung, „was sein kann und soll“, aufbricht; es ist die daraus gespeiste Erfahrung des „Es müsse anders zugehen“, die auch allen Beruhigungs- und Beschwichtigungsversuchen zu widerstehen vermag. Dass in solcher moralischen Selbsterfahrung „sich das Subjekt in einem Zustand definitiver Selbstfindung“ weiß, „der unablösbar davon ist, dass sich ihm ein Verstehen von seiner Stellung in einem Universum erschließt“,411 damit jedoch auch die Erfahrung des „Sich-Entzogenseins“ einhergeht und dies sich im irritierenden Widerfahrnis des alle menschlichen Lebensansprüche nivellierenden faktischen „Weltlaufs“ (V 587) enthüllt – nicht zuletzt solche gegenläufigen Tendenzen zeichnen dieses orientierungs-bedürftige „bewusste Leben“ aus.412 Für die Weltstellung des Menschen als „copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ erwächst demnach aus der in dem „Bewusstsein seiner Existenz“ aufgehobenen Einheit der Erfahrung seiner „kosmischen Nichtigkeit“ und seiner „wahren Unendlichkeit“ der besondere Anspruch, dieser durch derlei Selbst-Erfahrung geprägten „eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen“413 und sich in solchem neu eröffneten Bewusstseinshorizont im Denken, (moralischen) Handeln und Hoffen, jenem „Vernunftbedürfnis“ gemäß, in umgreifender Weise zu orientieren. In der hier verfolgten „existenzialanthropologischen“ Perspektive spricht in der Tat einiges dafür, die berühmten – „alles Interesse meiner Vernunft“ vereinigenden und sodann dem „Weltbegriff der Philosophie“ zugrunschmerz-empfindlichen Natürlichkeit unterschieden bleibt, „Leid“ von „Schmerz“ abgrenzbar macht. Jenes Diktum: „In der Natur ist alles; in ihr ist von keinem Soll die Rede“, findet offenbar in der kleinen Schrift über den „Mutmassliche(n) Anfang der Menschengeschichte“ dahingehend eine bemerkenswerte Akzentuierung: Dass Lebwesen von anderen und „auf Kosten“ anderer leben und sich erhalten, verliert im Menschen seine „Unschuld“. 411 Henrich 2006, 241. 412 So kennzeichnet D. Henrich die Weltstellung des Menschen (1999, vgl. dazu ebd. 19 f ). Es ist wohl auch der bezüglich des Existenz- und Freiheitsverständnisses maßgebende kantische Hintergrund, der in Henrichs (Einleitung zu 1999, 26 f ) Überlegungen zum Ausdruck kommt: „Da aber in allem Handeln unter Normen, also auch im sittlichen Handeln und insbesondere dem unter Ausnahmebedingungen, eine Selbstverständigung einbegriffen ist, eröffnet sich von hier aus eine Aussicht für die Freiheitstheorie, die oft angestrebt, aber durch begriffliche Schwierigkeiten am Ende doch stets versperrt war: Die Möglichkeit nämlich, eine innere Begrenztheit unserer Freiheit schließlich doch einmal verstehen zu können, ohne dass der Gedanke von solchen Grenzen sogleich in einen Widerspruch mit dem Freiheitsbegriff als solchem hineingerät. Ohnehin liegt es in der Folge der Erklärung des Wissens von sich, die gegeben worden ist, nahe zu denken, dass ein Subjekt, das in dieses Wissen eingesetzt ist und das von ihm aus in eine Dynamik gezogen wird, zwar wohl freigesetzt ist, nicht aber Freiheit als absolute Verfügungsmacht über sein Handeln besitzt. Das bewusste Leben, das wir durch diese Dynamik definiert haben, ist in grundsätzlicher Betrachtung nicht Leistung, sondern Geschick. Im Ganzen dieses Geschicks sind ihm aber Lebensaufgaben gestellt, die es in Anspruch nehmen. Aus Geschick und Anspruch zusammengenommen ergibt sich ein Freiheitssinn, welcher der Subjektivität in ihrer Verfassung, die man auch durch ‚Endlichkeit‘ charakterisieren mag, sowohl angemessen als auch ihr allein ganz und gar eigentümlich ist.“ 413 Brandt (2007a, 22) kommentiert Kants Auffassung folgendermaßen: „Ohne die Erfüllung der Vernunftbestimmung des Menschen zerfällt das Leben in eine bunte Vielfalt, und wir wissen nicht, wer wir sind. Der Mensch bedarf eines einheitlichen Endzwecks seines Daseins, um eine bestimmte, mit sich identische Person zu sein. Und diese Identität ist am Ende sein eigenes Werk, weil sie die Leitidee seines Handelns ist.“
250 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre de liegenden – drei Fragen Kants (nach dem „Wissen-Können“, dem „Tun-Sollen“ und dem „Hoffen-Dürfen“) und ihre Beantwortung auch als die systematische Explikation der erweiterten Leitfrage zu buchstabieren, „wie die Welt für ein vernünftiges Weltwesen beschaffen sein muss“, das in Wissensansprüchen steht, sich als praktisch-moralisches Wesen in durchaus unterschiedlichen praktischen Sinndimensionen verwirklicht und bewährt, darüber hinaus aber auch in unabweislichen Hoffnungsbezügen steht. Die folgenden Überlegungen werden es noch in mancherlei Hinsicht vor Augen führen: Menschliche Existenz vollzieht sich – nach der „Beschaffenheit, mit der er [der Mensch] wirklich ist“ (IV 113) – nach heilsamen Ent-Täuschungen gleichwohl in der „Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir jetzt schon sind“ (IV 235), sowie in der spannungsreichen Einheit der Erfahrung des „bestirnten Himmels über mir“ und des „moralischen Gesetz(es) in mir“ (s. o. IV., 1.2.1.). Dieser vernommene moralische Anspruch befähigt ihn zu jener authentischen „Erfahrung des Naturschönen“, worin die „Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht“ (V 398) und so diese „schönen Dinge“ wenigstens als – wie auch immer flüchtigen – „Wink“ zu verstehen erlaubt, dass der Mensch eben doch „in das System aller Zwecke passen“ könnte (II 687). In der darin sich entfaltenden „teleologia rationis humanae“ wird die innere – existenz-orientierende – Verfassung der menschlichen Vernunft sichtbar, der zufolge dieses „vernünftige, aber endlichen Wesen“ zum einen zwar gewissermaßen diesen verheißungsvollen „Wink“ vernimmt;414 darin ist denkwürdigerweise aber auch die Enttäuschung und Empörung darüber begründet, wenn die für solche ästhetische Erfahrung vorausgesetzte „Authentizität“ sich als „getäuscht“, ja gewissermaßen als „geprellt“ erfährt und so gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen ist. Und selbst dann, wenn jenes Versprechen sich erneut als Täuschung bzw. als gebrochen erweisen sollte, bleibt das dessen ungeachtet zugemutete „Vertrauen in die [freilich von uns hinein gelegte und aus „moralischen Gründen“ legitimierte] Verheißung des moralischen Gesetzes“, mithin die Hoffnung darauf, was letztendlich zu keiner solchen Ent-Täuschung mehr nötigt – ein „Vernunftbedürfnis“, das allein durch die Voraussetzung eines „Endzwecks der Schöpfung“ (als jenes unbedingten „Sinns aus sich selber“) zu fundieren ist. Ebenso sieht dieses „vernünftige, aber endliche Wesen“ sich mit dem „Abgrund“ des „radikal Bösen“ konfrontiert und kann – besser: darf – sich somit jenen abgründigen Widerfahrnissen nicht entziehen, die doch so eindringlich vor Augen führen, dass Freiheit auch das „Schrecklichste sein kann“. Erst recht kann es sich nicht gegenüber der Realität des buchstäblich „himmelschreienden“ Leids verschließen, deren Erfahrung es so schwer macht, sich von der bedrückend-trostlosen Vorstellung des „Weltlaufs“ als der „einzige(n) Ordnung der Dinge“ (V 587) ohne illusionäre Ausflucht zu lösen. In solch spannungsvollem Erfahrungsraum verwirklicht sich die Existenz dieses „vernünftigen
414 Der eigentümlich analoge Charakter der Fragen, ob die „schönen Dinge einen Wink geben, dass der Mensch in der Welt passe“ bzw. ob und wie der Mensch „in das System der Zwecke passe“, verweist indirekt auf Kants denkwürdige Kennzeichnung des „Schönen“ als „Symbol des Sittlichguten“ (vgl. V 458 ff ).
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Weltwesens“ gleichsam als „conscientia mundi“, dessen differenziertes Welt-Verhältnis im „Weltbegriff der Philosophie“ seine reflexive Entfaltung finden soll. In den aus jenem innegewordenen „Es müsse anders zugehen“ (V 587) sowie im Blick auf die im „Ganzen“ einer „moralischen Lebensgeschichte“ aufkommenden Fragen artikuliert sich eine allem „bewussten Leben“ innewohnende „Melancholie“; als konstitutiv für die Existenz eines „vernünftigen, aber endlichen Lebens“ bleibt sie freilich von dem von Kant charakterisierten „melancholischen Temperament des Schwerblütigen“ (als einem bloßen „Temperamente des Gefühls“) genau abzugrenzen: „Der zur Melancholie Gestimmte (nicht der Melancholische; denn das bedeutet einen Zustand, nicht den bloßen Hang zu einem Zustande) gibt allen Dingen, die ihn selbst angehen, eine große Wichtigkeit; findet allerwärts Ursache zu Besorgnissen und richtet seine Aufmerksamkeit zuerst auf die Schwierigkeiten“ (VI 629). In entpsychologisierter Gestalt kommt solche – „Vernunft, Herz und Gewissen“ umfassende – „Melancholie“ indes der Haltung bzw. dem „Gemüt“ jenes „Rechtschaffenen“ durchaus nahe, auf den Kant so häufig verweist. Solche ein „bewusstes Leben“ begleitende Melancholie „er-innert“ nicht nur die je eigene „Endlichkeit“, sondern ist gleichermaßen, „in sich gehend“, durch die „Idee der Menschheit“ bestimmt und für deren drohende Gefährdung sensibilisiert. Es sind diese die „conditio humana“ bestimmenden Faktoren bzw. Konstellationen, die, durch Kants Hinweis auf den in der Erfahrung des Naturschönen innegewordenen „Wink“ noch ergänzt, allesamt am Leitfaden der im „Weltbegriff der Philosophie“ entfalteten Fragen buchstabiert werden – vornehmlich auch im Blick auf die leitende Frage, ob und wie der Mensch „in das System aller Zwecke passt“ (II 687). Dies liegt offenbar der jenen „Weltbegriff der Philosophie“ entfaltenden Idee der „moralischen Teleologie“ zugrunde, die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ ihre „Auswicklung“ und im „dritten Stadium der Metaphysik“ zuletzt auch ihre reflexiv-systematische Darstellung findet. So darf wohl auch Kants Bemerkung verstanden werden, der sich an diesen Aufgaben orientierende Philosoph sei „nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft“ (II 700); als solcher müsse er stets dafür sensibel bleiben, dass die in dieser „Beziehung aller Erkenntnisse auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ sich kundtuende „Gesetzgebung der Vernunft“415 hierfür die umfassende 415 Es ist „die scholastische Philosophie … eine Unterweisung zur Geschicklichkeit, die wahre eine Lehre zur Weisheit, die das höchste Gut unsres Bestrebens sein muss. Sie ist die Gesetzgebung der Vernunft“ (AA XXIV, 798); die als solche die „zweckmäßige Verbindung aller Erkenntnisse und Geschicklichkeiten zur Einheit … und eine Einsicht in die Übereinstimmung derselben mit den höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft“ (III 448) intendiert. Diese Wissenschaft von den „letzten Zwecken der menschlichen Vernunft“ galt Kant als eine solche „sensu cosmopolitico“. Bemerkenswerterweise knüpft in der Sache auch Hegel unübersehbar an Kants „Weltbegriff der Philosophie“ an: „Überblicken wir den totalen Inhalt unseres Daseins, so finden wir schon in unserem gewöhnlichen Bewusstsein die größte Mannigfaltigkeit der Interessen und ihrer Befriedigung. Zunächst das weite System der physischen Bedürfnisse, für welche die großen Kreise der Gewerbe in ihrem breiten Betrieb und Zusammenhang, Handel, Schiffahrt und die technischen Künste arbeiten; höher hinauf die Welt des Rechts, der Gesetze, das Leben in der Familie, die Sonderung der Stände, das ganze umfassende Gebiet des Staats; sodann das Bedürfnis der Religion, das sich in jedem Gemüte findet und in dem kirchlichen Leben sein Genügen erhält; endlich die vielfach geschiedene und verschlungene Tätigkeit in der Wissenschaft, die Gesamtheit der Kenntnis und Erkenntnis, welche alles in sich fasst. Innerhalb dieser Kreise tut sich nun auch die Tätigkeit in der
252 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Vernunftkritik, d. h. die darin geleistete Aufdeckung der „Selbsttäuschung der Vernunft“ – und zwar sowohl in ihrem „theoretischen“ und „praktischen Gebrauch“ – voraussetzt. Denn allein eine solche kritische Ausmessung des theoretischen und praktischen Vernunftraumes eröffnet die Aussicht auf ein dadurch legitimiertes „System der Zwecke“, das der Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen, aber endlichen Weltwesens“ entspricht. Jene nach-kantische Frage nach der notwendigen Beschaffenheit einer Welt „für ein moralisches Wesen“ erscheint erst von daher adäquat und hinreichend differenziert gestellt zu sein. Sie kann dann auch, wie angezeigt, als die auf dem „Feld der Philosophie“ auftretende Forderung einer Explikation jener (unthematisch mit-gesetzten) Voraussetzungen aufgefasst werden, ohne die für ein vernünftiges Weltwesen eine umgreifende Selbstverständigung nicht möglich ist.416 Dieser „Begriff der Philosophie“ ist es ja auch, worin Kant ihren besonderen Rang und ihre „Würde“ begründet sah.
3.4. Zu einigen – von Kant selbst begünstigten – Missverständnissen der seiner Postulatenlehre zugrunde liegenden Motive Nun ist allerdings nicht zu bestreiten, dass Kant seine Fundierung der Hoffnungsthematik bzw. überhaupt leitende Intentionen seiner Religionsphilosophie nicht immer hinreichend transparent gemacht hat und manche Formulierungen sogar Missverständnisse und Verkürzungen derselben geradewegs begünstigen. Besonders bedeutsame einschlägige Aspekte sollen in diesem Kapitel benannt werden, ebenso die darin begründeten Schwierigkeiten, die in der Rezeption dieser kantischen Lehrstücke zutage treten.
Kunst, das Interesse für die Schönheit und die geistige Befriedigung in deren Gebilden hervor. Da fragt es sich nun nach der inneren Notwendigkeit solch eines Bedürfnisses im Zusammenhange der übrigen Lebens- und Weltgebiete. Zunächst finden wir diese Sphären nur überhaupt als vorhandene vor. Der wissenschaftlichen Forderung nach handelt es sich aber um die Einsicht in ihren wesentlichen inneren Zusammenhang und ihre wechselseitige Notwendigkeit. Denn sie stehen nicht etwa nur im Verhältnis des bloßen Nutzens zueinander, sondern vervollständigen sich, insofern in dem einen Kreise höhere Weisen der Tätigkeit liegen als in dem anderen; weshalb der untergeordnetere über sich selbst hinausdrängt und nun durch tiefere Befriedigung weitergreifender Interessen das ergänzt wird, was in einem früheren Gebiete keine Erledigung finden kann. Erst dies gibt die Notwendigkeit eines inneren Zusammenhanges“ (Hegel 13, 131 f ). 416 Diese dem Blick auf Kant verdankte Perspektive kommt vermutlich demjenigen nahe, was Henrich in seinen jüngeren Publikationen als „das Programm eines voraussetzenden und postulierenden Denkens“ formuliert hat (vgl. ders. 2007, 274) und wohl auch seinem schon erwähnten Aktualisierungs-Versuch zugrunde liegt, „die Grundlinien der Lehre von den Postulaten der Vernunft, die Kant und Fichte nach dem Vorgang von Rousseau entwickelt haben, im gegenwärtigen Denken neu zu artikulieren und auf neue Weise überzeugend werden zu lassen“ (2007, 370). Damit scheint Henrich allerdings seine frühere Einschätzung, der zufolge Kants Postulatenlehre einen bloß entbehrlichen Anhang zu einer „Ethik der Autonomie“ darstelle, jedenfalls in dieser starken Formulierung zu widerrufen; spricht doch vieles dafür, diese Postulate [die deshalb auch besser nicht als „Fiktionen“ bezeichnet werden sollten] als solche Voraussetzungen in notwendig praktischer Absicht zu thematisieren, d. h. zu klären, „aus welchem Leben sie hervorgehen und was es heißen würde, in ihrem Sinne ein Leben zu führen“ (Henrich 1999, 43).
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3.4.1. Missverständnisse, welche die in dem „höchsten Gut“ gedachte Einheit von „Glückswürdigkeit und Glückseligkeit“ – und deren Grund – betreffen So hätte wohl vor allem eine konsequente Vergegenwärtigung und Betonung des angezeigten fundamentalphilosophischen Fundaments der Ethikotheologie insbesondere den spezifischen Gehalt der Idee des „höchsten abgeleiteten Gutes“ und ihre Begründung noch besser verdeutlichen können. Keinesfalls deshalb – wie manche Formulierungen Kants dies tatsächlich nahelegen könnten –, um eine Grund-Folge-Relation von „Tugend und Glückseligkeit“417 nicht als eine ganz „ungegründete und nichtige, wenngleich wohlgemeinte Erwartung“ (V 602, Anm.) aufgeben zu müssen, bedarf es einer „von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung“ zwischen beiden enthalte (II 681; s. auch V 572; III 274; 372 f; 387). Dass „Glückseligkeit“ dabei als das „zweite Element“ des „höchsten Gutes“ „nur die moralisch-bedingte, aber doch notwendige Folge“ der Sittlichkeit darstellt (IV 249),418 das, als damit „notwendig verbunden“ (IV 242), in dem „ganzen und vollendeten Gut“ „synthetisch vereint“ gedacht werden muss, bringt lediglich das vielfach variierte kantische Kernmotiv zur Geltung, wonach Moralität der Religion vorausgesetzt bleibt. Vornehmlich in dieser – allein auf die zu wahrende „Ordnung der Begriffe“ bzw. „der Zwecke“ bedachten – Absicht war ihm an der Kennzeichnung des in jenem unbedingten Vernunftbedürfnis fundierten „Vernunftglaubens“ als eines solchen gelegen, der das „Wesentliche“ aller Religion und des „Gottesdienstes“ in die „Moralität des Menschen setzt“ (VI 316). Mit dieser Kennzeichnung der „Religion“ als desjenigen „Glaubens“, „der das Wesentliche der Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt“, und damit die Gottesidee als notwendig „von unserer Vernunft hervorgebracht“ (III 391 Anm.) sowie die „Religion“ als „reine Vernunftsache“ (VI 338) behauptet, ist jedenfalls jeder „psychologistischen Reduktion“ dieser Themen eine entschiedene Absage erteilt – ein Aspekt, der im Auge zu behalten ist, wenn man Kants „moralistischen Kurzschluss“ der Religion beklagt. Bezüglich einer so verstandenen „Grund-Folge-Verknüpfung“ (und gemäß der Kennzeichnung des „höchsten Gutes“ als „abgeleitet“) bleibt überdies der „symbolische“ Cha417 Manche Formulierungen Kants sind hier in der Tat auch missverständlich, weil sie auch den Status der Hoffnung irreführenderweise auf denjenigen der „Erwartung“ reduzieren und wesentlichen Hoffnungs aspekten (nicht zuletzt der angezeigten bloßen „Nicht-Unwürdigkeit“) zuwiderlaufen bzw. diese verdecken. In diesem Sinne rückte Kant selbst später seine missverständliche These zurecht, „dass sich in praktischen Grundsätzen eine natürliche und notwendige Verbindung zwischen dem Bewusstsein der Sittlichkeit und der Erwartung einer ihr proportionierten Glückseligkeit, als Folge derselben, wenigstens als möglich denken … lasse“ (IV 248). 418 Auch für L. W. Beck war „klar, daß das Hereinnehmen dieses menschlich-allzumenschlichen Faktums [des „Glückseligkeitsmotivs] in den Motivationszusammenhang sittlichen Handelns eine Preisgabe der Autonomie bedeutet“. (Beck 1974, 226) Zur Vermeidung von Missverständnissen klärungsbedürftig ist freilich schon dies, was hier eigentlich „Motivationszusammenhang“ heißt. Wie sich noch zeigen wird, bleibt es dabei: „Eleutheronomie“ (das „Freiheitsprinzip der inneren Gesetzgebung“), nicht „Eudämonie (das Glückseligkeitsprinzip)“ (IV 506) ist auch das Fundament der kantischen Religionsphilosophie; s. dazu die kritischen Bemerkungen zu dem gegen Kant gerichteten Eudämonismus-Vorwurf bei U. Barth 1994, 297 ff.
254 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre rakter derselben zu beachten,419 weil sich das darin gedachte Voraussetzungsverhältnis (und die darin maßgebenden Prioritäten) andernfalls in der Tat allzu leicht in ein irreführendes „Folge“-Verhältnis verkehrt, das grundlegenden moral- und religionsphilosophischen Intentionen Kants geradewegs zuwiderläuft. Das recht verstandene „Grund-FolgeVerhältnis“ besagt demnach lediglich, dass Moralität die „Vernunftbedingung (conditio sine qua non)“ der Glückseligkeit (obgleich kein „Erwerbmittel derselben“ (IV 262) ist und dass ohne den darin geltend gemachten „Sinn des Unbedingten“ auch von einer Glückseligkeit des „vernünftigen Weltwesens“ gar nicht die Rede sein könnte. Obgleich also „Moralität“ die „Vernunftbedingung“, d. h. Voraussetzung des „höchsten Gutes“ ist, so bleibt Letzteres gleichwohl unverfügbar; die Behauptung eines diesbezüglichen „Grund-Folge-Verhältnis“ ist insofern in der Tat irreführend. Ein solches Verständnis liegt indes nicht selten den gegen seine Postulatenlehre gerichteten Einwänden zugrunde, die darin einen „eudämonistischen“ Rückfall vermuten. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der – auf die im „höchsten Gut“ zu denkende Einheit von „Glückswürdigkeit“ und „Glückseligkeit“ gerichtete – kantische Hinweis auf die geforderte „Einschränkung dieses Urteils [der Möglichkeit des „höchsten Gutes“] auf die [bloß] subjektiven Bedingungen unserer Vernunft“ (IV 279) missverstanden werden könnte – nämlich als die vermeintliche Absicht Kants, den spezifischen Anspruch jenes unbedingten Vernunftbedürfnisses zu relativieren, d. h. ihn tatsächlich einer eher kalkulatorischen Erwägung bzw. der Idee einer „physischen Teleologie“ anzunähern, die damit die „moralische Teleologie“ lediglich als ein in der Endlichkeit unseres Erkenntnisvermögens begründetes Kompensationsprodukt erscheinen ließe. Denn, so räumt Kant hier bemerkenswerterweise ein, die „Art, wie wir uns eine solche Harmonie der Naturgesetze mit denen der Freiheit denken sollen, hat etwas an sich, in Ansehung dessen uns eine Wahl zukommt, weil theoretische Vernunft hierüber nichts mit apodiktischer Gewissheit entscheidet, und, in Ansehung dieser kann es ein moralisches Interesse geben, das den Ausschlag gibt“ (ebd.).420 419 Vgl. V 460: „Unsere Sprache ist voll von dergleichen indirekten Darstellungen, nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält. So sind die Wörter Grund (Stütze, Basis), abhängen (von oben gehalten werden), woraus fließen (statt folgen), Substanz (wie Locke sich ausdrückt: der Träger der Akzidenzen), und unzählige andere nicht schematische, sondern symbolische Hypotyposen, und Ausdrücke für Begriffe nicht vermittelst einer direkten Anschauung, sondern nur nach einer Analogie mit derselben“; und eine „Basis“ ist freilich auch die Moral. 420 Dass nach Kant hier ein „moralisches Interesse“ (bzw. ein unabweisliches „Vernunftbedürfnis“) hinsichtlich der Möglichkeit des „höchsten Gutes“ „den Ausschlag“ geben soll, bedeutet freilich in der Tat eine Selbstkorrektur Kants insofern, als er in seiner frühen Schrift über die „Träume eines Geistersehers“ lediglich einer doch nicht ganz unparteiischen „Verstandeswaage“ hier den „Ausschlag“ zubilligen wollte, und dies mit dem Eingeständnis verknüpfte, diese bemerkte „Unrichtigkeit“ nicht nur nicht „heben“ zu können, sondern „in der Tat auch niemals heben“ zu wollen (I 961). Nun hat Kant diese parteiliche „Verstandeswaage“ jedoch nicht nur durch das „Urteilen-Wollen“ des unbedingten „praktischen Vernunftbedürfnisses“ (bzw. das „moralische Interesse“) korrigiert, sondern Letzeres später sogar noch zu dem „von der Sittlichkeit diktierten Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht“ (der Beförderung des „höchsten Guts“: III 638) zugeschärft. Darin wird deutlich, dass Kant auch die Hoffnung „entpsychologisiert“ und auf dem unbedingten Fundament der Moral fundiert. Es wird sich noch zeigen: Es ist nicht zuletzt das in dem „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ verankerte „überwiegende praktische Fürwahrhalten“ des
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Gegen ein naheliegendes Missverständnis bleibt – und zwar mit Kant selbst – schon dies einzuwenden: Dem hier maßgebenden moralischen „Interesse der Vernunft“ ist in der Tat viel zu sehr an der „Vernünftigkeit“ selbst gelegen, als dass lediglich „eine uns zukommende Wahl“ in der von ihm eingeräumten Weise das letzte Wort behalten bzw. auch nur den entscheidenden Grund liefern könnte. Kants Begründung für diese hier einzuräumende „Wahl“: „(W)eil theoretische Vernunft hierüber nichts mit apodiktischer Gewissheit entscheidet“, bleibt, für sich genommen, schon deshalb der „praktischen Bestimmung des Menschen“ unangemessen bzw. irreführend, weil doch praktische Vernunft hier umso entschiedener – und zwar aus Gründen der „moralischen Zweckmäßigkeit“ bzw. „Notwendigkeit“! – mit „apodiktischen“ Ansprüchen auftritt, die es geradezu verbieten muss, dass ein „bloßer Naturgange in der Welt“ (IV 279) (d. i. „nach allgemeinen Naturgesetzen“: IV 280) als zureichender Grund einer „moralischen Zweckmäßigkeit“ (des „höchsten Gutes“) infrage käme, auch wenn dieser Maßstab außerhalb des Beurteilungshorizontes der „theoretischen Vernunft“ liegt. Während der „theoretische Vernunftgebrauch“ diesbezüglich laut Kant eben überhaupt nicht zuständig ist und solche Fragen deshalb auf diesem „Gebiet der Vernunft“ (über die bloß eingeräumte „NichtUnmöglichkeit“ hinaus) prinzipiell unentscheidbar bleiben müssen, so gibt es jedoch, auch gegenüber jener durchaus parteilichen „Verstandeswaage“, in der Tat ein ausweisbares („unnachlassliches“!: IV 278) „moralisches Interesse“ (das es also nicht nur geben kann), „das den Ausschlag gibt“, weil praktische Vernunftansprüche dieses auch „gebieten“. Dies ist deshalb der Fall, weil infolge des „Urteilen-Müssens“ jenes unbedingten Vernunftbedürfnisses bezüglich des „praktisch notwendigen Zwecks“ bzw. des „Endzwecks der Schöpfung“ auf „die Weisheit des moralischen Welturhebers“ rekurriert werden muss, dies sich also aus einem darin verwurzelten „Entscheidungsgrund [!] von anderer Art“ ergibt, „um im Schwanken der spekulativen Vernunft den Ausschlag zu geben“ (IV 280). Nun hat Kant zwar ausdrücklich betont, dass „unsere Vernunft“ es in der „Art des Fürwahrhaltens“ „unmöglich“ findet, „sich einen so genau angemessenen und durchgängig zweckmäßigen Zusammenhang, zwischen zwei nach so verschiedenen Gesetzen sich ereignenden Weltbegebenheiten, nach einem bloßen Naturlaufe, begreiflich zu machen; ob sie zwar, wie bei allem, was sonst in der Natur Zweckmäßiges ist, die Unmöglichkeit desselben, nach allgemeinen Naturgesetzen, doch auch nicht beweisen, d. i. aus objektiven Gründen hinreichend dartun kann“ (IV 279)421. Dies besagt dann freilich anderes und mehr als eine lediglich „epistemisch“ (d. h. im Rekurs auf unser „endliches Erkenntnisvermögen“) begründete Rücksicht422 – nämlich eine grundsätzliche „Inkom„Zweifelglaubens“ und das Schwergewicht seiner Fragen und Ansprüche, dem jene „Verstandeswaage“ nicht genügt (siehe dazu u. VI., 1.1.2.). Jenes „Überwiegen“ ist in der theoretischen Unentscheidbarkeit (und näherhin in der prinzipiellen Unzuständigkeit der theoretischen Vernunft) begründet. 421 Nun besagt jedoch diese „subjektive Verankerung“ gerade ihre durch nichts relativierbare „moralische Gewissheit“. 422 Es liefe dies andernfalls auf ein unangemessenes „Wahrscheinlichkeits“-Kalkül hinaus, das diesbezüglich wohl ebenso „vermessen“ wäre wie im Falle der Gottesthematik; genauer besehen ist bei Kant sodann auch lediglich von einem diesbezüglichen „Schwanken der spekulativen Vernunft“ die Rede, wäh-
256 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre mensurabilität“, wie ja auch der nachfolgend geltend gemachte „moralische“ „Entscheidungsgrund von anderer Art“ verdeutlicht, den Kant ja auch in der späteren einschlägigen Argumentation zur „Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises“ (V 580 ff ) keineswegs revidiert hat423. Dass ihm zufolge in jener eingeräumten „Wahl … aber ein freies Interesse der reinen [!] praktischen Vernunft für die Annehmung eines weisen Welturhebers entscheidet“ (IV 280), muss auch in diesen späteren ethikotheologischen Bezügen gebührende Beachtung finden. Damit ist erneut bekräftigt, dass jene angezeigte Sinnaffirmation, die sich auch in jener „Willensbestimmung besonderer Art“ manifestiert, moralisch (in „reiner praktischer Vernunft“) begründet und allein über ein solches „freie Interesse der reinen praktischen Vernunft“ auch der sinn-orientierte Zurend die „der Moralität … allein [!] zuträgliche Art, sich die genaue Zusammenstimmung des Reichs der Natur mit dem Reiche der Sitten“ zu denken (IV 280), auf den „weisen Welturheber“ führt (ebd.). Diese Argumentation bleibt noch in den späten religionsphilosophischen Aufsätzen bestimmend und fundiert dort beispielsweise auch das „Gerichts“-Motiv. 423 Eine detaillierte Prüfung der von Henrich in seiner Studie über „Die Moraltheologie auf dem Weg zum Absoluten“ erwähnten – vornehmlich auf diesen Passus über die „Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises“ (§ 88 der „Kritik der Urteilskraft“) gestützten – These, wonach „der zweiten Version der Kantischen Moraltheologie“ zufolge der „persönliche Gott nicht mehr als ein für die Moraltheologie schlechthin unentbehrlicher Gedanke anerkannt ist“ und insofern gleichsam selbst eine über ihn hinausweisende Entwicklung eingeleitet habe (in: Henrich 2004, II 1497), ist hier nicht zu leisten. Der kantische Hinweis auf die diesbezügliche Überforderung bzw. Nichtzuständigkeit des „theoretischen Vernunftgebrauchs“ besagt nicht die „Entbehrlichkeit“, sondern lediglich dies, dass „theoretische Vernunft hierüber nichts mit apodiktischer Gewißheit entscheidet, und, in Ansehung dieser, kann es ein moralisches Interesse geben, das den Ausschlag gibt“ (IV 279). Hier muss der Hinweis genügen: Diese von Henrich vertretene These wird wohl schon durch die darauf folgenden Passagen Kants (in der abschließenden „Allgemeine(n) Anmerkung zur Teleologie“: V 607 ff ) und die dort angesprochene „Befriedigung der fragenden Vernunft“ relativiert, die dort, gemäß der „moralischen Teleologie“, auf die Idee eines „moralischen Welturhebers“ als den „für eine Theologie tauglichen Begriffe eines Urwesens“ führt (vgl. V 613 f ). Die mit Blick auf die nach-kantische Entwicklung daran geknüpfte Erwägung Henrichs, dass die Welt-„Ordnung als solche … zumindest möglicherweise, da sie ja nicht schon aus dem persönlichen Gott begriffen wurde, als anonym und in sich selbst begründet zu denken“ sei (ebd.), müsste nach Kant wohl – mit der darin implizierten „Subjekt“- und „Gerechtigkeitsvergessenheit“ – die Nachfrage der menschlichen „Vernunft unbefriedigt“ lassen und würde wohl auch der mit seiner Begründung des „Primats des Praktischen“ verbundenen Intention nicht genügen. Freilich, dass – unter Berücksichtigung des „wesentlichen Bezug(s) auf das im sittlichen Bewusstsein begründete Interesse“ – die in der voranstehenden Gedankenfigur vollzogene „Retranszendentalisierung des Gottesbegriffs in der zweiten Version der Moraltheologie auch ihre durchaus wesentliche Grenze“ findet, merkt Henrich selbst (Henrich 2004, II 1498) zweifellos zu Recht an. Andernfalls wäre dies auch damit unvereinbar, dass der der „Pflicht“ allein „würdige Ursprung“, die „Wurzel“ ihrer „edlen Abkunft“, „nichts Minderes sein“ könne, „als was den Menschen über sich selbst … erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand [besser wohl: die Vernunft] denken kann […] Es ist nichts anderes als die Persönlichkeit …“ (IV 209 f ). Ohne damit etwa einen Rückfall in eine Theologisierung der Moralität zu begünstigen, bleibt anzumerken, dass die darauf gleichermaßen gestützte Idee des „höchsten Gutes“ auf jenes „höchste ursprüngliche Gut“ in „postulatorischer Brechung“ („secundum quid“) verweist, in dem sich jene „Persönlichkeit“ als „vernünftiges Weltwesen“ anerkannt wissen muss. Dieses wiederum kann – „ex negativo“, d. h. im Sinne des „symbolischen Anthropomorphismus“ gedachten „Nicht-UnterschreitungsPrinzips“ formuliert – eben auch „nichts Minderes“ als das in diesem Prinzip der Personalität „Angezeigte“ sein, ohne damit zu beanspruchen, dass das darin „Gedachte“ jedoch „Erkenntnis“ ist. Vor allem dies ist zu beachten: Kant betont lediglich, dass der „moralische Beweis“ „secundum quid“, d. h. über die Begründung des „Endzwecks“ erfolgt (der den „moralischen Standpunkt“ voraussetzt), jedoch besagt dies in der Sache nicht eine „uns zukommende Wahl“, sondern, unter der Voraussetzung einer moralisch „konsequenten Denkungsart“, die prinzipielle Nichtzuständigkeit theoretischer Vernunft in der Entscheidbarkeit dieser Fragen.
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sammenhang zwischen „Moral und Religion“ gewährleistet bleibt, an dem es sich ein „vernünftiges, aber endliches Wesen“ gelegen sein lässt. Einer durch missverständliche Formulierungen Kants möglicherweise begünstigten Abspannung des Problems steht auch schon das differenzierte Anspruchsniveau jenes „zweifachen Vernunftbedürfnisses“ entgegen, das Kant selbst (explizit in jenem schon angeführten, vergleichsweise wenig beachteten Passus seines vornehmlich gegen Jacobi gerichteten Aufsatzes „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ aus dem Jahr 1786: III 274 ff ) besonders deutlich angesprochen hat und das auch jener Unterscheidung zwischen „Hypothese“ und „Postulat“ in der „zweiten Kritik“ zugrunde liegt (s. o. I., 2.2.1.). Die hier vorgenommene Kennzeichnung des „Postulates der reinen praktischen Vernunft“ als „ein theoretischer, als solcher aber nicht erweislicher Satz …, so fern er einem apriori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich [!] anhängt“ (IV 253), wäre so, genauer besehen, wohl nicht aufrechtzuhalten424; so wenig wie diese behauptete „Unzertrennlichkeit“ wäre die kantische These zu rechtfertigen, wonach, jenem unbedingten Vernunftbedürfnis gemäß, die Idee des „höchsten abhängigen Guts“ in der Folge auf diejenige des „höchsten unabhängigen [ursprünglichen] Guts“ als „ratio essendi“ desselben führt. Die von Kant hier geltend gemachten bzw. eingeräumten „epistemischen Vorbehalte“ könnten wohl kaum das beanspruchte „Bedürfnis in schlechterdings [!] notwendiger Absicht“ (IV 277) legitimieren, das allein deshalb auch „seine Voraussetzung nicht bloß als erlaubte Hypothese, sondern als Postulat in praktischer Absicht“ (ebd.) ausweisen soll. Überdies: Mag die Möglichkeit jener „Harmonie der Naturgesetze mit denen der Freiheit“ gemäß dem „theoretischen Vernunftgebrauch“ auch nicht „apodiktisch“ zu entscheiden und somit vielleicht auch zu „erwarten“ sein: Zu „hoffen“ ist dies – und zwar durchaus mit „moralischer Gewissheit“ – jedenfalls nicht; sofern solche „Harmonie“ dieserart doch dem bloßen „Reich der Natur“ immanent, das heißt aber: ohne moralisch relevanten Sinn bliebe, könnte sie auch der Idee der „moralischen Welt“ in prinzipieller Hinsicht nicht genügen. So wenig in der Natur von einem „Soll … die Rede“ ist (VI 341), so wenig ist in einem „bloßen Naturlaufe“ für ein dem Anspruch der „Idee der moralischen Welt“ genügendes „Sein-Sollen“ Platz – und zwar durchaus aus „moralisch zureichendem Grunde“. Ähnliches gilt dann wohl auch bezüglich der Bemerkung Kants, dass die „für uns we424 Auch so scheint sich zu bestätigen, dass der von Kant eingeräumte „moralische Grund“ zur Annahme eines „Endzweck(s) der Schöpfung“ selbst auch die Annahme eines „moralischen Wesen(s), als Urgrund der Schöpfung“ (V 583) impliziert – und zwar gerade mit Blick auf unser „Vernunftvermögen“ und den ihr genügenden Sinnanspruch. – Jene gewiss missverständliche bzw. irreführende Argumentation Kants (über eine „uns zukommende Wahl“ oder ein „Schwanken der spekulativen Vernunft“) wird freilich der Sache nach schon durch die nahezu zeitgleich in der „Streitschrift“ gegen Eberhard vorgelegte (schon erwähnte) Argumentation korrigiert – und zwar auf eine Weise, die, in direktem Verweis auf Leibniz, den fundamentalphilosophischen Hintergrund dieser Ethikotheologie besonders deutlich erkennen lässt (und deshalb hier noch einmal angeführt werden soll): Kant nimmt hier Bezug auf den „Endzweck“, „wo eine Harmonie zwischen den Folgen aus unseren Naturbegriffen und denen aus dem Freiheitsbegriffe, mithin zweier ganz verschiedener Vermögen, unter ganz ungleichartigen Prinzipien in uns, und nicht zweierlei verschiedene außer einander befindliche Dinge in Harmonie gedacht werden sollen (wie es wirklich Moral erfordert), die aber, wie die Kritik lehrt, schlechterdings nicht aus der Beschaffenheit der Weltwesen, sondern, als eine für uns wenigstens zufällige Übereinstimmung, nur durch eine intelligente Weltursache kann begriffen werden“ (III 373).
258 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre nigstens zufällige Übereinstimmung“ zwischen dem „Reich der Natur“ und dem „Reich der Gnaden“ nicht durch ein normativ gleichgültiges „Geratewohl“, sondern „nur durch eine intelligente Weltursache kann begriffen werden“ (III 372 f; vgl. III 645), die näherhin durch „Weisheit“ (und somit durch „Gerechtigkeit“ und „Güte“) ausgezeichnet wäre (V 569 f ); keinesfalls kann in dieser Hinsicht bezüglich der Frage nach der Möglichkeit einer solchen „Harmonie“ ein argumentativ nicht auszufüllender (und deshalb geradezu „dezisionistischer“) Entscheidungsspielraum bleiben. Auch hier ist es vielmehr die in jenem „Ich will, dass ein Gott sei …“ zugeschärfte „moralische Gewissheit“ und das daraus gespeiste „Interesse“ selbst, das sich derart entsprechend jenem „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ „performativ“ zur Geltung bringt; dem entspricht bzw. genügt eben allein die Idee eines „moralischen Welturhebers“ als der selbst schon symbolisch vorgestellte „Grund aller Realitäten“, der deshalb, analog zu Kants Argumentation über die Unumgänglichkeit des „transzendentalen Begriff(s) von Gott, als dem allerrealsten Wesen(s)“ (III 389, Anm.), in der Ethikotheologie auch „nicht umgangen werden kann“. Allein die Ausblendung der fundamentalphilosophisch zu akzentuierenden Frage „Was ist der Mensch?“ könnte auch den – durch manche Formulierungen Kants allerdings in der Tat begünstigten – Eindruck verstärken, dass sich sein Anliegen in einer derartigen funktional orientierten Absicht schon erschöpft: Weil „nach einem bloßen Naturgange in der Welt die genau dem sittlichen Werte angemessene Glückseligkeit nicht zu erwarten und für unmöglich zu halten sei“, wäre der kompensatorische Rekurs auf die „Voraussetzung eines moralischen Welturhebers“ (IV 279) somit lediglich ein gewissermaßen nolens volens akzeptierter Umweg – d. h. eine bloß „subjektive“, aber eben gerade nicht in „moralischer Überzeugung“ verankerte Notwendigkeit, sondern bloß in Ermangelung der „äußeren Verhältnisse, in denen allein … ein Objekt [d. i. das „höchste Gut“] hervorgebracht werden kann“ (VI 132, Anm.) – jedoch keinesfalls mehr.425 Wären dann – was sich auch bezüglich des genauen Status der von Kant behaupteten Vernunftideen als bedeutsam erwiese – „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ tatsächlich noch als die in der Metaphysik zu entfaltenden „unvermeidlichen [!] Aufgaben der reinen Vernunft“ zu behaupten, wenn wenigstens die Postulate „Dasein Gottes“ und „Unsterblichkeit“ dieserart doch nur den fragwürdigen „quasi-kompensatorischen“ Status einer bloß „subjektiven Notwendigkeit unseres Erkenntnisvermögens“ innehätten bzw. sich gewissermaßen lediglich aus einer diesbezüglichen epistemischen Einschränkung herleiteten, mithin aber wohl kaum als „Vernunftpostulate“, sondern eher als „Verstandeskrücken“ bezeichnet zu werden verdienten? Insofern erweist sich der eingeräumte Ermessensspielraum hinsichtlich der Verknüpfung des erhofften „höchsten Gutes“ und der „notwendigen Voraussetzungen“ desselben, wenn er denn auch wirklich „vernunft-adäquat“ sein soll, doch als wesentlich enger: Dass das „höchste Gut“ nach „einem bloßen Naturgange in der Welt … für unmöglich 425 Ungeachtet der zweifellos schwierigen und mehrdeutigen Bezüge zur Gottesthematik im „opus postumum“ ist Schmitzs Befund wohl auch mit Blick auf den späten Kant sehr irreführend, wonach Gott als „Angestellter des Sittengesetzes“ „auf das Amt fixiert“ sei, „dem Einzelnen eine dessen Tugend (bzw. Bosheit und Lasterhaftigkeit) genau angemessene Portion von Glückseligkeit (bzw. Unglück) zu besorgen. Kants Denken ist überschattet von Gott, aber Kant ist kein Gottsucher, sondern ein Gottflüchter; sein theologisches Desiderat ist die persönliche Selbstbehauptung gegen Gott“ (Schmitz 1989, 365).
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zu halten sei“, ist eben keineswegs der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens bzw. daran geknüpften Kalkülen zuzuschreiben, sondern erweist sich als „moralisch unmöglich“, hat also allein in der Unbedingtheit dieses Vernunftanspruches seinen zureichenden Grund. Dass in der Natur „von keinem Soll die Rede“ ist, bleibt auch in diesem Kontext zu beachten. Der „bloße Naturgang“ bzw. „Weltlauf“ ist nicht nur de facto keine zureichende Basis für jene zu erwartende Harmonie“, sondern ist in prinzipieller Hinsicht nicht als „zureichender Grund“ jener „Harmonie“ von „Natur und Freiheit“ geeignet, weshalb der die Hoffnung begründende „Logos“ auch nicht auf ein Substitut eines unsicheren Erwartungskalküls des Verstandes herabgestuft werden darf. Genauer besehen wäre andernfalls die von Kant später betonte Hoffnung darauf unverträglich bzw. gegenstandslos, dass der „Weltlauf“ nicht als „die einzige Ordnung der Dinge“ anzusehen sei (V 587); die prinzipielle Sinn-Differenz zwischen „theoretischer Erwartung“ und „praktisch“ begründeter Hoffnung wäre nivelliert. Erst recht bliebe der von Kant bevorzugte Rekurs auf die „Straf“- bzw. „Glückswürdigkeit“ in diesen „epistemischen“ Hinbzw. Rücksichten ohne tragfähiges Fundament. Eher enthüllte sich in solchem dürftigen „Begründungs“-Gedanken wohl die Verzweiflung eines „unglücklichen Bewusstseins“,426 die dann eine solche völlig „unbegründete und nichtige“, obzwar „wohlgemeinte Erwartung“ (V 602) im Modus eines bloß „subjektiv“ und „objektiv unzureichenden Fürwahrhaltens“ (II 687 ff ) unweigerlich überkommen müsste. Damit wäre freilich stillschweigend auch der Sinn der kantischen Kennzeichnung von „fides“ (im Unterschied zu einem solchen bloß defizienten Modus des „Fürwahrhaltens“) zurückgestuft, ebenso die noch in den späten Texten Kants vertretene These, dass dieser Glaube allein „die einzige Art der Zusammenstimmung“ der Glückswürdigkeit „zum Endzweck“ (III 635) gewährleiste, zumal solche sinn-orientierte „Übereinstimmung“ von „Tugend und Glückseligkeit“, d. h. die darin zu denkende „Zusammenstimmung“ und „Konkordanz“, zweifellos anderes besagt als eine bloß faktisch-sinnindifferente „Einheit“ derselben und deshalb auch einen anderen „zureichenden Grund“ verlangt. Anders noch: Während die in „einer beliebigen spekulativen Absicht“ (und in dem darauf gerichteten „Urteilen-Wollen“) begründeten „Hypothesen“ bzw. als notwendig zu denkende „heuristische Fiktionen“ (II 653) in den darin zutage tretenden Vernunftansprüchen durchaus Beurteilungsspielräume erlauben bzw. eröffnen (und so eine bloß „subjektive Notwendigkeit“ in Anschlag bringen), trifft dies einem konsequenten „praktischen Vernunftgebrauch“ zufolge, d. h. hinsichtlich der „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ – die aufgrund eines „praktisch notwendigen Zwecks des reinen Vernunftwillens … einem unnachlasslichen Vernunftgebote gehorcht“ (IV 277) –, gerade nicht zu. Ungeachtet dessen, dass es doch „ein und dieselbe Vernunft“ ist, insistiert sie unbeirrbar darauf, dass die – erst in derlei „Verinwendigung“ der Idee des „Unendlichen“ entdeckte – „wahre Unendlichkeit“ des „unsichtbaren Selbst“ (IV 300)427 sich nur in jener 426 Es ist kein Zufall, dass sich schon in den frühen Kritiken der Postulatenlehre durch Kants unmittelbare Nachfolger in analoger Weise Spinozas Kritik an Descartes noch einmal widerspiegelte. 427 Einiges spricht dafür, dass Kants Rekurs auf die „wahre Unendlichkeit“ des „unsichtbaren Selbst“ sich einer dem „Primat der praktischen Vernunft“ verdankten „Brechung“ der cartesischen „Idee des Unendli-
260 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre als „Ideal des höchsten ursprünglichen Gutes“ vorgestellten „Weisheit des moralischen Welturhebers“ wiedererkennen, d. h. anerkannt wissen und somit nur dieser „Quelle“ der „Endzweck der praktischen Vernunft“ „entspringen“ kann (III 632). Allein dies vermag somit jene geforderte Einheit von „subjektivem“ und „objektivem Endzweck“ auf eine Weise zu begründen, die den in der Idee der „moralischen Teleologie“ maßgebenden Vernunftansprüchen genügt. Andernfalls hätte Kant – jedoch mit welcher Begründung? – auch seine höchst bedeutsame frühere Mahnung stillschweigend widerrufen müssen, jene Berufung auf „Weisheit und Vorsorge der Natur und der göttlichen Weisheit als gleichbedeutenden Ausdrücken“ sei eben lediglich aufrechtzuerhalten „so lange es um bloß spekulative Vernunft [!] zu tun ist“ (II 604); schon deshalb kann jene von Kant (irreführenderweise?) betonte „uns zukommende Wahl“ doch lediglich dies besagen, dass Ansprüche „spekulativer Vernunft“ diesbezüglich in prinzipieller Hinsicht schlichtweg „vermessen“ sind.428 Jedoch bleibt es dabei, dass die Idee einer „moralischen Welt“ und somit die Möglichkeit des „höchsten Gutes“ schon aus notwendigen „praktischen Vernunftgründen“ aus „bloßer Natur“ nicht zureichend begründet werden kann, „sondern darf nur gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird“ (II 680 f ). Ohne die Rücksicht auf diese – mit Kant gegen Kant anzuführenden? – Motive liefe eine lediglich auf die Einräumung einer solchen „uns zukommenden Wahl“ gestützte Postulatenlehre doch unweigerlich Gefahr, das ihr immanente – eben aus moralischen Impulsen gespeiste und doch moral-transzendierende – Sinnpotenzial bzw. Anspruchsniveau preiszugeben. Dies wäre jedenfalls dann der Fall, wenn sie sich aus einer bloß interesselos-kompensatorischen Bewältigung des von dem „blinden Ungefähr“ jedoch nicht zu erwartenden „Grund-Folge-Verhältnis“ von Moral und Glückseligkeit begründen bzw. legitimieren wollte und gleichwohl einsehen muss, dass dies aus dem „bloßen Naturlaufe“, von einer „blindwirkenden ewigen Natur“ (II 557) oder auch von der Erhabenheit einer selbst-losen „unsichtbaren Macht“ nüchternerweise nicht zu erwarten ist.429 Wenn ein „vernünftiges Weltwesen“ sich selbst nicht anders als „gewollt“ wollen kann und eben dies auch der Grund dafür ist, dass allein ein „höchstes Wesen, das durch Verchen“ verdankt, die sich mit einer gleichermaßen kritisch gebrochenen Idee der (platonischen) „perfectio moralis“ verbindet (gemäß dem „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft“), dass „nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze …, sondern nur … nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“ (IV 180). Beides – die moralisch gebrochene Idee der „Unendlichkeit“ und die im Sinne des Moralprinzips geläuterte Idee der „perfectio moralis“ – wären in eigentümlicher Weise vereint in Kants spätem Verweis auf die „Reflexe des Übersinnlichen“, d. h. „der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft“ (III 388, Anm.). 428 Gerade auch in diesem näheren Kontext bleibt nochmals an Kants Kennzeichnung des „vermessenen“ Urteils zu erinnern: „Ein Urteil, bei welchem man das Längenmaß seiner Kräfte (des Verstandes) zu überschlagen vergisst, kann bisweilen sehr demütig klingen, und macht doch große Ansprüche, und ist doch sehr vermessen“ (V 497, Anm.). 429 Ausdrücklich betonte Kant noch in der (für den Zeitraum 1785–1788 datierten) Refl. 6107 (AA XVIII, 456): „Die Natur kann ohne einen obersten Urheber mit einem moralischen Willen nicht von selbst mit der Moralität übereinstimmen; denn das würde eine Natur sein müssen, in der der gute Wille des Geschöpfs auch hinreichende wirkende Ursache der damit einstimmigen Glückseligkeit wäre; die ist aber nicht völlig in seiner Gewalt, aber wohl die Gesinnung.“
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stand und Freiheit der Urheber der Dinge sein soll“ (II 557), d. h. dessen „Begriff allein uns interessiert“, als der zureichende Grund des „höchsten Gutes“ gedacht zu werden vermag – auch wenn „theoretischer Vernunft“ diesbezüglich keine Entscheidungsbefugnis zukommen kann! –, dann folgt daraus doch dies: Jenes „alleinige „Interesse“ an dem Begriff des „moralischen Welturhebers“, das auch mit einem entscheidenden Interesse des Menschen an sich selbst als „frei handelnder Persönlichkeit“ verbunden ist, hat darin eine genaue Entsprechung, dass die „Weisheit“ des „moralischen Welturhebers“ zuletzt Ermöglichungsgrund des „höchsten Gutes“ ist und dieser aus moralischen Gründen auch als „Urquell alles Guten in der Welt“ „gewollt“ und geglaubt werden kann. Es ist das „freie Interesse der reinen praktischen Vernunft“ (IV 280) selbst und somit der in einer „moralischen Zweckmäßigkeit“ begründete Anspruch, die „fortuna“ als angemessene Begründung der in der Idee der „Glückseligkeit“ gedachten „beatitudo“ des Menschen grundsätzlich ausschließen müssen, weil es eben ihrem praktischen Sinnanspruch (ihrem „Logos“) nicht genügt und auch der Kennzeichnung des Daseins Gottes als einer „Voraussetzung in notwendig praktischer Rücksicht“ widerspricht, im Unterschied zu jener angezeigten prinzipiellen Nichtzuständigkeit der theoretisch-spekulativen Vernunft. Nicht nur, dass bzw. weil die Erwartung des „höchsten Gutes“ aus dem „bloßen Naturlaufe“ bzw. von Gnaden „fortunas“ nach Kant ohnehin illusorisch wäre; sie müsste vielmehr als ir-rational – im Sinne von schlechthin vernunft- bzw. sinnwidrig – gelten, weil sie der Weltstellung bzw. der „Existenz“ des Menschen schlechthin unangemessen wäre und ihn gleichsam einer sinn- und individualitäts-vergessenen „Anonymisierung“ ausliefern würde. Deshalb muss schon der zu wahrende (moralische) Vernunftanspruch die Abspannung dieser Frage auf eine bloße Angelegenheit der „Fasslichkeit“ für unser begrenztes Erkenntnisvermögen wie auch den dadurch geforderten Rekurs auf das regulative „Als-ob“ der „Urteilskraft“ geradewegs verbieten. Jener kantische Rekurs auf ein Vernunftbedürfnis sprengt solche bloß funktionalen Zuträglichkeits- und Nützlichkeitserwägungen im Sinne eines platten aufklärerischen Reduktionismus; als „reine Vernunftsache“ ist Religion „zweckmäßig in sich“ und bewahrt auch nur so ihren Ort innerhalb der „Selbsterhaltung der Vernunft“.430 430 So darf wohl auch Rentschs Interpretationsvorschlag aufgenommen werden: „An der Basis der Kantischen Analysen finden sich Aspekte einer negativen, praktischen Existenzialpragmatik der Unverfügbarkeit. Nur, wenn wir instrumentelle und szientistische Vorstellungen von Gott sein lassen und preisgeben, eröffnet sich die authentische Perspektive von Freiheit und Hoffnung jenseits von Aberglaube und selbstgemachten Vorstellungen. […] Der gesamte kritische Ansatz Kants ist darauf gerichtet, Religion und Gottesglauben nicht als funktional, instrumentell, nicht als Substitut, Surrogat, und Ersatzhandlung für authentische Praxis zu verstehen“ (Rentsch 2005, 138 f ). – Nur nebenbei angemerkt: Dass „Moral unumgänglich zur Religion“ führt und diese aber mit dem „höchsten Zweck der menschlichen Vernunft“ befasst ist, enthält zugleich eine entschiedene Absage an alle Funktionalisierung der Religion, zumal eine solche sie nie in ihrem Eigensinn, sondern stets nur in ihrem „Sein und Sinn“ für anderes thematisiert. – Dass das als „zweckmäßig, ohne Zweck“ beurteilte „Naturschöne“ indes als „zwecklos“ (im Sinne der „Brauchbarkeit“, „Nützlichkeit“), ja in solcher Hinsicht sogar als zweckwidrig (im Sinne ihrer „Ungenießbarkeit“) erscheint, hat vielleicht eine entfernte Entsprechung in der recht verstandenen „Zwecklosigkeit“ der moral-begründeten Religion, die freilich allein ihre „Authentizität“ und Sinnhaftigkeit zu gewährleisten vermag und (gemäß jener Frage: „Wie muss die Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“) auf die „Affirmierbarkeit“ des Daseins in ihr abzielt.
262 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Demzufolge ist es zur Vermeidung von Missverständnissen – offensichtlich mit Kant selbst – sehr genau zu nehmen, dass „unsere Vernunft“ die Möglichkeit des „höchsten Guts“ „nicht anders denkbar findet als unter Voraussetzung einer höchsten Intelligenz“ (IV 257; Hervorhebung v. Verf.). Das heißt aber doch wohl, dass dies, jedenfalls nach Maßstäben „praktischer Vernunft“, sehr wohl zu entscheiden ist, zumal hier tatsächlich „ein moralisches Interesse … den Ausschlag gibt“ (IV 279), dem zufolge wir in der Tat – und zwar nicht aus „epistemischen“ Gründen – „so urteilen müssen“.431 Schon der daran anschließende – die vermeintliche Rücksicht auf die „subjektiven Bedingungen unserer Vernunft“ eher ergänzende – Hinweis darauf, der Rekurs auf einen „der Natur vorstehenden weisen Urheber“ sei überdies die „der Moralität … allein zuträgliche Art, sich die genaue Zusammenstimmung des Reichs der Natur mit dem Reiche der Sitten, als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts, zu denken“ (IV 280), bedeutet keinen Rückfall in Heteronomie und besagt im Grunde auch wesentlich mehr als bloße „moralische Zuträglichkeit“ (und ist so auch mehr als ein gewissermaßen lediglich „nachgeschobenes“ Argument). Ist doch damit zum Ausdruck gebracht, dass allein dies dem moralischen Impuls und dem moral-transzendierenden Sinn-Anspruch des „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ adäquat sein kann und auch nur deshalb als „un-bedingt“ – und somit der „moralischen Zweckmäßigkeit“ angemessen – ausgezeichnet zu werden verdient. Derart ist also lediglich die Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels angezeigt, dem zufolge dieses „vernünftige Weltwesen“ ein an Vernunftansprüchen orientiertes Leben führt und daraus sich ebenso die Bestimmung der Idee des „Übersinnlichen außer uns“ bemisst, die so auch jenen kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ rechtfertigen sollen. Dass der Rekurs auf Gott als „moralischen Welturheber“ der Moralität „allein zuträglich“ sei, bedeutet dann freilich auch, dass solche Fundierung in der Idee eines „weisen Welturhebers“ nur deshalb als vernunft-verträglich gelten muss, weil dies mit dem unbedingten „Vernunftbedürfnis“ des Menschen als einem moralischen Wesen und einer dem gemäßen Bestimmung der „Glückseligkeit“ konvergiert. Der „Moralität zuträglich“ meint demnach nicht weniger als der „ganzen Bestimmung des Menschen“ angemessen und somit auch der Idee der „moralischen Welt“ gemäß. Eben darauf war ja auch Kants später Rekurs auf die in der „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“ sich manifestierende „Zweckverbindung“ und „Zusammenstimmung“ der Vernunft ideen gerichtet (III 650). Andernfalls wäre doch, wie erwähnt, von einer „schlechterdings notwendige(n) Voraussetzung bei ihren [der Vernunft] wesentlichsten Zwecken“ (II 686) bezüglich der so eingeführten Gottesidee im Grunde gar nicht zu reden. So wird deutlich: Keinesfalls könnte jene auf „eine uns zukommende Wahl“ (vgl. IV 279) gestützte Argumentation in Ausblendung der „Stärke der praktischen [!] Gründe der Annehmung ihrer [der Vernunft] Prinzipien“ (III 409) die „Überzeugung“ eines „Vernunftglaubens“, einer darauf gestützten – wirklich begründeten – Hoffnung und die entspre431 Forschner gibt diese hier maßgebliche Begründungsfigur präzise wieder: „(T)heoretische Vernunft [wird] durch ein freies (moralisches) Interesse zum Fürwahrhalten, zur Wahl einer spekulativen Möglichkeit bewogen, die allein den (allgemeinen) subjektiven Bedingungen entspricht. Sie entspricht den subjektiven Bedingungen unserer Vernunft, weil sie und nur sie unserer moralischen Praxis dienlich ist“ (Forschner 2010b, 397).
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chende Bestimmung des „moralischen Endzwecks“ sowie eines „Endzwecks der Schöpfung“ hinreichend fundieren. Genauer besehen – und einschlägigen missverständlichen Äußerungen Kants dawider – ist das „Dasein Gottes“ (und in anderer Hinsicht auch die nicht unproblematische Vorstellung einer „Seelen-Unsterblichkeit“) eben keineswegs lediglich die „einzige für uns denkbare Bedingung“ des „höchsten Gutes“, sondern in der unaufgebbaren unbedingten Idee einer „moralischen Zweckmäßigkeit“, die allein auch dem in der Idee „moralischen Welt“ angezeigten „unbedingten Vernunftbedürfnis“ genügt, zureichend begründet. Eine anders orientierte Begründungsstrategie wäre offenkundig mit dieser beanspruchten Verankerung des Gottes-Postulates in dem unbedingten Vernunftbedürfnis vollends unverträglich; von einer derart in Aussicht gestellten „Erweiterung der reinen [?] Vernunft“ im Sinne des notwendigen Glaubens könnte wohl nicht die Rede sein. Damit wäre erst recht das von ihm auf ein „Vernunftbedürfnis“ gestützte Argument wohl nicht so ohne weiteres vereinbar: „Es ist Pflicht, das höchste Gut nach unserem größten Vermögen wirklich zu machen; daher muss es doch auch möglich sein; mithin ist es für jedes vernünftige Wesen in der Welt auch unvermeidlich, dasjenige vorauszusetzen, was zu dessen objektiver Möglichkeit notwendig ist. Die Voraussetzung ist so notwendig, als das moralische Gesetz, in Beziehung auf welches sie auch nur gültig ist“ (III 274; ganz ähnlich IV 278, Anm.).432 Im Grunde ist es, den angeführten Äußerungen zufolge, doch Kant selbst, der erneut die gegen ihn zu richtende Frage nahelegt: Muss es nicht schon jene Idee des „Unbedingten in uns“ – d. h. das „von der Realität“ eben lediglich „am entferntesten zu sein scheint“ und eben deshalb den „Primat des Praktischen“ begründet433 – verbieten, die Frage nach der Art und Weise der Übereinstimmung von „Tugend und Glückseligkeit“ einer „uns zukommenden Wahl“ anheimzustellen? Der elementare Widerspruch wäre so nicht zu übersehen: Paradoxerweise hätte Kant das der Unterscheidung zwischen (theoretisch-) bedingtem und (praktisch-)unbedingtem Vernunftbedürfnis immanente kritische Potenzial solcherart zwar zunächst entschieden geltend gemacht und dieses, mit jener eingeräumten „uns zukommenden Wahl“, zugleich wiederum relativiert. Derart wäre die spezifische – über unabweisliche praktische Vernunftansprüche vermittelte – Sinnintention der Vernunftpostulate von ihm selbst auf eine Weise in Frage gestellt, die es nicht erlauben könnte, von einem „praktischen Vernunftglauben“ zu reden – so wenig wie von dem in einem „Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft“ verankerten „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ als einer „Voraussetzung in notwendig praktischer Absicht“ (vgl. IV 264; 252 f; 277), d. h. als explizite Bedingung der Möglichkeit, „unter welcher dieser [schlechthin notwendige] Zweck mit allen gesamten Zwecken zusammenhängt“ (II 693). 432 Kants Stellungnahme (IV 278, Anm.) zum Einwand „des seligen Wizenmann“ gegen das von Kant geltend gemachte „Vernunftbedürfnis“ darf gleichsam als eine religionsphilosophisch akzentuierte „Psychologismus“-Kritik gelesen werden. Sie erlaubt es auch, die Postulate (ihren Vernunftanspruch) von bloß „lebensdienlichen Fiktionen“ („Erdichtungen“) abzugrenzen. 433 In der Tat besagt dieser in der neuen „Freiheitslehre“ der KpV begründete „Primat“ vornehmlich dies, „dass eine wahrhaft humane Existenz sich allererst in der Anerkennung des ‚Vernunftanspruchs‘ als eines moralischen zu konstituieren vermag“ (Konhardt 2004, 414). Diesem „Primat des Praktischen“ korrespondiert offenbar auch eine andersartige Erfahrung der „Zeit“ und ein endlichkeits-konstitutives Widerfahrnis von Unverfügbarkeit und deren „Bewandtnishaftigkeit“.
264 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Damit findet überdies Kants Begründung jenes „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“ nochmals eine bemerkenswerte Bestätigung, die sich dem Aufweis der „Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ (II 582 ff ) und der darin begründeten Aussicht verdankt, dass und wie „reine (praktische) Vernunft wirklich ist“ (IV 107) – jene Einsicht, die schon seine „erste Kritik“ als „Vollendung des kritischen Geschäfts“ ausweisen wollte. Der postulatorische Rekurs auf „ein Wesen“, „das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d. i. Gott“,434 führt somit erneut vor Augen, weshalb „das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes“ (IV 255 f; v. Verf. hervorgeh.) ist,435 das heißt die gebotene Beförderung des „höchsten Gutes“ „daher … doch auch möglich sein“ muss: IV 278, Anm.).436 Dieses so postulierte „Urwesen“ kann deshalb allein als „machthabender moralischer Gesetzgeber“ auch „Urgrund der Schöpfung“ sein, weil doch nur dies der „Beschaffenheit unseres [praktischen!] Vernunftbedürfnisses“ genügt, d. h. damit „zusammenstimmt“. Es ist diese Vorstellung, die letztlich in jener „durch die Tat“ sich offenbarenden Wirklichkeit der „Freiheit im positiven Verstande“ begründet ist, besser: solchem Anspruch genügt. Auch dies antizipiert in gewisser Hinsicht die von Schelling erhobenen Forderung: „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes. Dieses wollen wir als die letzte Ursache aller Dinge.“437 In diesem Sinne bliebe nunmehr die schon in Kants „erster Kritik“ angeführte Bemerkung noch zu vertiefen, es dürfe „die angeführte notwendige Verknüpfung der Hoffnung, glücklich zu sein, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, … durch die Vernunft [!] … nur gehofft wer434 Genauer besehen zeigt sich, dass Kant auch in der entscheidenden Argumentationsfigur zur Begründung des „höchsten Gutes“ darauf abzielt, dass nur ein durch „Verstand und Willen“ ausgezeichnetes „höchstes Wesen“ auch „höchstes ursprüngliches Gut“ sein kann, d. h. ein in einer „Kausalität eines solchen Wesens nach dieser Vorstellung der [moralischen] Gesetze“ bestimmter Wille (IV 256) zureichender Grund des „höchsten Gutes“ sein kann und allein ein solcher absoluter moralischer Wille als letzter Einheitsgrund von „Macht und Sinn“ „ratio essendi“ des „höchsten Gutes“ ist. 435 Hingewiesen sei erneut auf den bemerkenswerten Sachverhalt, dass Kant hier irreführenderweise von dem „Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts“ spricht; dieses ist selbst jedoch kein Postulat, sondern „der ganze Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“, während allein die „notwendigen Voraussetzungen“ hierfür als „Postulate der reinen praktischen Vernunft“ fungieren. – Habichler weist zu Recht darauf hin: „Um begrifflich sauber vorzugehen, müßte man sagen, daß der eigentliche Hoffnungsgegenstand das Höchste Gut ist. Die Postulate von Gott und Unsterblichkeit als Voraussetzungen zur Erreichung des Höchsten Gutes dagegen sind Gegenstände des Glaubens … Insofern die Hoffnung so gewissermaßen den Glauben impliziert, ist es nicht legitim, die Gegenstände religiösen Denkens insgesamt unter das Thema Hoffnung zu subsumieren.“ (Habichler 1991, 39 Anm. 104). 436 Diese Argumentation Kants ist offensichtlich doch weniger missverständlich als seine (allerdings auch noch in der später erschienenen Schrift „Über eine Entdeckung …“: III 372 f vorgetragene) Bemerkung über die „Harmonie zwischen den Folgen aus unseren Naturbegriffen und denen aus dem Freiheitsbegriffe“ und die „für uns wenigstens zufällige Übereinstimmung“. Vermutlich ist hier bei Kant in der Tat eine gewisse – unbehoben gebliebene – Unausgeglichenheit zu beobachten; über die der praktischen Bestimmung des Menschen allein genügende Forderung, die „über das Schicksal des Menschen“ gebietende „unsichtbare Macht“ als „verständig-moralisches Wesen“ zu bestimmen s. auch IV 849. 437 Schelling 1992, Teilband I, 79. Denn nur so ist Welt auch als „Schöpfung“ affirmierbar – nicht zuletzt darauf war jene kantische „Willensbestimmung von besonderer Art“ in ihrem Bezug auf die „Idee des Ganzen aller Zwecke“ gerichtet.
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den, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird“ (II 680 f ). Diese Begründungsperspektiven der „ersten Kritik“ wurden auch vom späten Kant nie einfachhin preisgegeben, vielmehr hat er sie in systematischer Absicht noch differenziert und zuletzt, in dem intendierten „praktisch-dogmatischen Überschritt“ und in einer damit verknüpften systematischen Vertiefung der Idee einer „moralischen Teleologie“, mit der umfassend gedachten Idee des „Reichs der Zwecke“438 in Verbindung gebracht. Darf der Mensch doch nur unter der Voraussetzung darauf hoffen, in seinem Existenz-Vollzug als „vernünftiges Weltwesen“ in dieses „System der Zwecke“ zu passen, dass bzw. wenn Schöpfung eben diejenige „einer freiwirkenden, folglich verständigen Ursache“ (V 576, Anm.) (und nicht bloßer „Hervorgang“ daraus) ist. Allein solche „für uns“ unumgängliche symbolische Bestimmung als „moralischer Welturheber“ konvergiert mit „unserem moralischen Endzwecke“ (V 614), weil dieser in dem „gesetz-gebende(n) Oberhaupt in einem moralischen Reich der Zwecke“ (V 405)439 als „ratio sufficiens“ verwurzelt ist und es so auch notwendig macht, Gott nicht allein als „Grund der Subjektivität“ zu bestimmen. In Kants Bezugnahme auf einen „heiligen Gesetzgeber (und Schöpfer)“ bzw den „alleinigen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (III 636) sind diese Aspekte durchaus vereint. 3.4.2. Der erst durch einen „zweiten Schluss“ gedeckte Rekurs auf Gott als „moralischen Welturheber“ im späten „moralischem Beweis“ – dadurch begünstigte Missverständnisse In solchem Ausgang fällt auch auf den in Kants „Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises“ (im § 88 der „dritten Kritik“) behutsam vollzogenen kritizistischen Rekurs auf den Gottesbegriff ein besonderes Licht. Dass Kants Begründung der Möglichkeit des „höchsten (abgeleiteten) Gutes“ manchmal wenigstens Gefahr läuft, die Weltstellung des Menschen, seine „praktische Bestimmung“ und das ihr allein gemäße „Objekt der praktischen Vernunft“ sowie den jenem „praktischen Vernunftbedürfnis“ in438 Schon hier sei deshalb auf Kants philosophiehistorischen Verweis (in einer Vorlesung zur Moralphilosophie aus dem Studienjahr 1784/85) hingewiesen, der dieser Intention genau entspricht: „Die Glieder eines Reichs der Zwecke, deren Haupt Gott ist, ist die eigentliche intellektuelle Welt. Augustin und Leibniz nannten es das Reich der Gnaden. Im Reiche der Zwecke ist Gott Oberhaupt; im Reiche der Natur oberste Ursache“ (AA XXIX, 629) – und zugleich ist gedacht, dass durch ihn „das Reich der Natur mit dem Reiche der Zwecke in eine genaue Verbindung gebracht wird“ (AA XXVIII, 1116). Die schon wiederholt angezeigten motivlichen Bezüge zu Leibnizens Idee des „Reichs Gottes“ (die wohl auch noch in Kants Idee des „ethischen Gemeinwesens“ in anderer Akzentuierung zu verfolgen sind) liegen wohl auch hier besonders nahe. 439 Darin, sowie im Rekurs auf die „moralische Weisheit des Welturhebers“, klingt auch bei Kant das Anliegen durch, dass der Begriff Gottes „mit der tieferen Bestimmung der Freiheit als Geist gefasst werden muss, um ein Begriff Gottes zu sein, der seiner und auch unserer würdig sei“ (Hegel 17, 399); dies steht offenbar dem kantischen Rekurs auf den „persönlichen Wert“ vor Augen. Und darin liegt auch der Grund dafür, weshalb Kant seine „Behauptung, dass es ‚moralisch notwendig ist, einen Gott anzunehmen‘, auf[stellt], um zu zeigen, dass jede Antwort auf die Frage ‚Was darf ich hoffen?‘ eine theistische Forderung enthalten muss“ (O’Neill 2003, 108).
266 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre newohnenden Sinnanspruch zu verkürzen, wird hier durch die auf den „Endzweck der Schöpfung“ abzielende kantische Argumentation zunächst eher bestätigt: „Dass nun zu dieser Schöpfung, d. i. der Existenz der Dinge, gemäß einem Endzwecke, erstlich ein verständiges, aber zweitens nicht bloß (wie zu der Möglichkeit der Dinge der Natur, die wir als Zwecke zu beurteilen genötiget waren) ein verständiges, sondern ein zugleich moralisches Wesen, als Welturheber, mithin ein Gott angenommen werden mußte: ist ein zweiter Schluss, welcher so beschaffen ist, dass man sieht, er sei bloß für die Urteilskraft, nach Begriffen der praktischen Vernunft, und, als ein solcher, für die reflektierende, nicht die bestimmende, Urteilskraft gefället. Denn wir können uns nicht anmaßen einzusehen: dass, obzwar in uns die moralisch-praktische Vernunft von der technisch-praktischen ihren Prinzipien nach wesentlich unterschieden ist, in der obersten Weltursache, wenn sie als Intelligenz angenommen wird, es auch so sein musste, und eine besondere und verschiedene Art der Kausalität derselben zum Endzwecke, als bloß zu Zwecken der Natur, erforderlich sei; dass wir mithin an unserm Endzweck nicht bloß einen moralischen Grund haben, einen Endzweck der Schöpfung (als Wirkung), sondern auch ein moralisches Wesen, als Urgrund der Schöpfung, anzunehmen. Wohl aber können wir sagen: dass, nach der Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens, wir uns die Möglichkeit einer solchen auf das moralische Gesetz und dessen Objekt bezogenen Zweckmäßigkeit, als in diesem Endzwecke ist, ohne einen Welturheber und Regierer, der zugleich moralischer Gesetzgeber ist, gar nicht begreiflich machen können“ (V 583). Gewiss, auch dies könnte jedenfalls den Eindruck erwecken, dass sie den von Kant ausdrücklich geltend gemachten „Vernunft“-Charakter dieser Idee des „weisen Welturhebers“ stillschweigend untergräbt bzw. relativiert. Dies wäre jedenfalls dann der Fall, wenn diese im Sinne eines solchen „bloß für die Urteilskraft“ (d. i. „nach der Beschaffenheit unseres [endlichen] Erkenntnisvermögens“) eingeräumten „zweiten Schluss“ doch augenfällig zu einer lediglich nachträglichen Angelegenheit, beinahe zu einem „Nebengeschäft“, herabgestuft wäre.440 Dies würde freilich jener Bestimmung der „fides“ geradewegs widersprechen und wäre wohl auch mit Kants Begründung des „Primats der praktischen Vernunft …“ und dem darin verankerten „moralischen Vernunftgebrauch“ ganz unvereinbar: „Die Welt muss [!] als aus einer Idee entsprungen vorgestellt werden, wenn sie mit demjenigen Vernunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig halten würden, nämlich dem moralischen, als welcher durchaus auf der Idee des höchsten Guts beruht, zusammenstimmen soll“ (II 684) – eine Argumentation, der noch der späte Kant in jenem Rekurs auf einen angemessenen „theoretischen Begriff von 440 Indes bleibt darauf zu achten, dass der Status dieser hier von Kant eingeführten „Urteilskraft, nach Begriffen der praktischen Vernunft“, offensichtlich analog zur „Urteilkraft, nach Begriffen der theoretischen Vernunft“, bestimmt wird, die auf eine „transzendentale Zweckmäßigkeit (in Beziehung auf das Erkenntnisvermögen des Subjekts“) abzielt (V 259). Entsprechend wäre die „Urteilskraft, nach Begriffen der praktischen Vernunft“ eben auf die „praktische Vernunft“ bezogen – und zwar in der zweifachen Hinsicht des „ganzen Zwecks der praktischen Vernunft“ sowie auch mit Rücksicht auf die „praktische Bestimmung des Menschen“ und die ihr „weislich angemessene Proportion seiner Erkenntnisvermögen“. Genauer besehen wäre freilich zu sagen, dass die „praktische Vernunft“ hier buchstäblich maß-gebend – und insofern auch bestimmend – ist, während die „reflektierende Urteilskraft“ hier im Grunde doch überhaupt funktionslos bleiben muss (abgesehen von der ihr hier zugedachten „praktischen“ Funktion).
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der Quelle“ in sachlicher Hinsicht folgte.441 Freilich, schon dies war keine dem theoretischen Vernunftgebrauch zuzurechnende Einsicht, sondern in jenem unbedingten praktischen Vernunftbedürfnis (dem darin verankerten „moralischen Grund …, einen Endzweck der Schöpfung … anzunehmen“: V 583) fundiert. Eben solchen Anspruch eines geforderten „Zusammenstimmens“ und die darin maßgebende Konkordanz müsste jene „epistemische“ Rücksicht geradewegs noch unterbieten, weil diese „Zusammenstimmung“ doch auf jene „Zweckmäßigkeit“ abzielt, die in der Idee einer „moralischen Welt“ und „Vollkommenheit“ verankert ist. Jedenfalls bleibt darauf zu achten, dass andernfalls das zu denkende Verhältnis des „Endzwecks der Schöpfung“ zu seinem „Ermöglichungsgrund“ bloß „äußerlich“ bliebe und dies in der Folge auch dem in jenem umfassenden „Endzweck der Schöpfung“ gedachten „Sinnapriori“ (und der darin voraus-gesetzten „Affinität“) nicht gerecht werden könnte. Indes, ebensowenig vermag dieser Forderung ein bloß „deistischer“ bzw. physikotheologischer Gottesbegriff in grundsätzlicher Hinsicht zu genügen;442 auch dies vergegenwärtigt und bekräftigt in solcher Hinsicht noch einmal jene schon wiederholt angeführte kantische Mahnung, den „Begriff der Gottheit“ nicht leichtfertig – und d. h. „endzweck-vergessen“ – zu „verschwenden“ (V 562).443 Wenn doch jenes „Unbedingte der Freiheit“ als „Übersinnliches in uns“ selbst gewissermaßen als „ratio cognoscendi“ für die auf eine „Verheißung des moralischen Gesetzes“ gestützte Hoffnung fungiert, dann bleibt in diesem strengen (über eine bloß „subjektive Notwendigkeit“ hinausweisenden) Sinne wohl auch – und zwar gegen eigene einschlägige missverständliche Äußerungen – Kants Bemerkung anzuführen: „Mit einem Worte: er [der Mensch] bedarf einer moralischen Intelligenz [als „Weisheit“], um für den Zweck, wozu er existiert, ein
441 Dieses zentrale Motiv hat Kant erst in seiner späteren „Ethikotheologie“ als den unauflöslichen inneren Verweisungszusammenhang der verschiedenen „Endzweck“-Bestimmungen näher expliziert. 442 Kant hat dieses gestufte Verhältnis sehr deutlich in der Einleitung seiner „dritten Kritik“ formuliert: „Der Verstand gibt, durch die Möglichkeit seiner Gesetze apriori für die Natur, einen Beweis davon, dass diese von uns nur als Erscheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben; aber läßt dieses gänzlich unbestimmt. Die Urteilskraft verschafft durch ihr Prinzip apriori der Beurteilung der Natur, nach möglichen besonderen Gesetzen derselben, ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellektuelle Vermögen. Die Vernunft aber gibt eben demselben durch ihr praktisches Gesetz apriori die Bestimmung; und so macht die Urteilskraft den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich“ (V 272). 443 Freilich, schon in Refl. 6214 (AA XVIII, 500) klingt diese Differenzierung an: „Deismus, Theismus. Relig. Theismus Moralis“. Vgl. Refl. 6060 (AA XVIII, 440): „Der höchste Verstand Gottes, seine höchste Selbstgenügsamkeit, diese als Allgnügsamkeit mit dem Erkenntnis aller andern möglichen Dinge außer ihm verbunden, die Kausalität in Ansehung des größten Ganzen derselben, folglich das (summum) bonum originarium der Ursprung des summi boni derivati.“ Insofern ist der Bezug auf „Kant’s Deism“ (Wood 1991) wohl auch irreführend. – Die Unterscheidung zwischen „Weltursache“, „Welturheber“ und „Weltbeherrscher“ könnte so eine Entsprechung im Selbstverständnis des Menschen insofern finden, als er seine eigene Existenz nicht nur als „kontingent“ erfährt; sich in seiner Lebensführung „praktisch orientierend“, wäre eben solche „Kontingenz“ sodann als „Kreatürlichkeit“ auf eine „korrelative“ Weise zu verstehen, die der endzweck-bezogenen Idee der „moralischen Teleologie“ korrespondiert. Der von Kant bevorzugte „Schöpfungs“-Begriff hat darin eine genaue Entsprechung. Solche „Geschöpflichkeit“ meint freilich anderes als bloße „Nichtigkeit“, „Geringheit“, in dem von R. Otto (Otto 1932, 26) erwähnten Sinn, sondern ist von jener Frage der „Bewandtnishaftigkeit“ im „Ganzen seiner Existenz“ nicht abzulösen.
268 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Wesen zu haben, welches diesem gemäß von ihm und der Welt die Ursache sei“ (V 571), weil auch nur ein „moralischer Begriff von Gott“ für „die Religion tauglich“ sein kann (VI 106 f, Anm.), d. h. dem Anspruch bzw. dem Interesse eines in „moralisch-praktischen Verhältnissen“ stehenden „Vernunftwesens“ genügt. Was also „nach der Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens“ in seinem „theoretischen Gebrauch“ – d. h. aber: in einer nicht maß-gebenden bloß „theoretischen Rücksicht“ – zwar eingeräumt werden mag, ebendies muss sich in „praktisch-moralischer“ Hinsicht geradewegs verbieten. Es bleibt dabei: So wenig der „Vernunftwille“ hinsichtlich seines unbedingten, d. h. „praktisch notwendigen Zwecks … wählt, sondern einem unnachlasslichen Vernunftgebote gehorcht“ (IV 277), so wenig gilt dies im Blick auf seinen Ermöglichungsgrund. Die Frage liegt nahe: Müsste eine primär lediglich auf epistemische Rücksichten abzielende Begründungsfigur überdies nicht selbst bemerkenswerterweise Einwände von der Art auf sich ziehen, die Kant gegen traditionelle – „endzweck-vergessene“ – Konzeptionen der „Ehre Gottes“ als „Endzweck der Schöpfung“ gerichtet hat? Schließlich wäre jene lediglich auf einen „zweiten Schluss“ epistemisch gestützte Argumentation doch auch daraufhin zu befragen, ob bzw. wie dies mit dem unbedingten Sinnanspruch jener für die „teleologia rationis humanae“ konstitutiven Balance zwischen „theoretischer Einschränkung“ und „praktischer Erweiterung der Vernunft“ in prinzipieller Hinsicht vereinbar bleibt, zumal dies einen der menschlichen Weltstellung angemessenen – und somit dem Anspruch einer „moralischen Teleologie“ entsprechenden – Vernunftgebrauch doch überhaupt erst ermöglichen soll. Auch so bestätigt sich: Menschliche Hoffnung ist solcherart (im Unterschied zu bloßen Erwartungshorizonten und Kalkülen) gerade nicht als „begründet“ zu legitimieren – so wenig übrigens wie jener noch vom späten Kant ausdrücklich beanspruchte „moralisch [!] bestimmte Monotheismus“, zumal dieser gerade durch die darin enthaltene Provokation ausgezeichnet ist, dass dieser Gott den „Endzweck der Schöpfung“ (die „Glückseligkeit des Menschen“ nur durch den Menschen (als den existierenden „Endzweck der Schöpfung“) und dessen gebotenen „Endzweck“ „realisiert“ – ganz gemäß jener (schon wiederholt angeführten) frühen kantischen Notiz: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“. Nur so bleibt auch Kants Zurückweisung des prinzipiellen Ungenügens des – eben einer Begründung eines Endzwecks nicht fähigen – physikotheologischen Gottesbeweises verständlich: Noch in seinen Überlegungen zur „Physikotheologie“ hat er ausdrücklich geltend gemacht, dass, bei aller vergleichsweisen Wertschätzung des „physikotheologischen Argumentes“, allein in Abgrenzung von einem „physikotheologisch“ bestenfalls legitimierbaren „Kunstverstand“, die „Weisheit“ eines „moralischen Welturhebers“ eine zureichende Legitimation eines der Weltstellung des Menschen gemäßen „Endzwecks der Schöpfung“ darstellen könne, d. h. schon im Blick darauf eine bloße „Physikotheologie“ prinzipiell unzureichend sei. Somit wäre doch erst recht zu fragen: Was hätte eine lediglich auf das begrenzte menschliche Erkenntnisvermögen gestützte Argumentation für die von Kant beanspruchte „Rangordnung“ der „Vernunftideen“ untereinander, „in der Verkettung der drei Sätze eines zureichenden Vernunftschlusses“ (III 411), zu bedeuten (s. dazu II 338, aber auch III 632 ff ) – desgleichen für das in Kants „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ vorgestellte Argument, dass doch erst der so genannte „mo-
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ralische Beweis“ über den darin explizierten Gedanken des „Endzwecks der praktischen Vernunft“ auf einen zureichenden „Begriff der Gottheit“ führen könne? Der Einwand scheint sich zu bestätigen: Dass von Kant in der Erläuterung des Anspruchs des „moralischen Gottesbeweises“ geltend gemachte Argument, dass der Rekurs auf Gott als ein nicht bloß „verständiges, sondern ein zugleich moralisches Wesen als Welturheber“ lediglich der „Urteilskraft, nach Begriffen der praktischen Vernunft“, zuzuschreiben bzw. ihr vorbehalten sei, mag im Sinne einer Zurückweisung haltloser Erkenntnisansprüche zwar plausibel bzw., sofern es um „spekulative Vernunft“ geht, unentscheidbar sein; gleichwohl scheint dies unversehens darauf hinauszulaufen, den moralischen Anspruch unseres „Vernunftvermögens“ zu unterbieten. Der von Kant so entschieden betonte Sachverhalt, dass die Bestimmung der Gottesidee der Weltstellung des Menschen in sittlichen Belangen Rechnung tragen muss, d. h. damit auch „zusammenstimmt“, sprengt in solchem Anspruch den sich selbst bescheidenden, unter theoretischen Gesichtspunkten erfolgenden Rückzug auf diese „Urteilskraft“. Überdies steht das jenen „zweiten Schluss“ betreffende Argument in einer unübersehbaren Spannung zu der von Kant selbst wenig später vertretenen These über die „Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben“: „Wenn das oberste Prinzip aller Sittengesetze ein Postulat ist, so wird zugleich die Möglichkeit ihres höchsten Objekts, mithin auch die Bedingung, unter der wir diese Möglichkeit denken können, dadurch zugleich [!] mit postuliert“ (V 601; Hervorhebungen v. Verf.).444 Von einem einzuräumenden Spielraum für die „reflektierende Urteilskraft“ ist hier offenbar nicht (mehr) die Rede, vielmehr ist aus Gründen der „praktischen Vernunft“ schon entschieden, das heißt eben (mit jener kantischen Wendung formuliert) gleichsam „einem unnachlasslichen Vernunftgebote“ gehorchend (IV 277). Es wird sich noch in einer anderen Hinsicht bestätigen: Die maßgebende Figur eines „theismus moralis“ erweist sich dann noch einmal als besonders relevant bzw. erhält dadurch notwendigerweise einen spezifischen Zuschnitt, wenn Kants Idee einer „moralischen Teleologie“ mit Motiven seiner Theodizee-Abhandlung verknüpft bzw. solcherart erweitert wird (s. u. VI. Teil). Diesbezüglich wird sich der von Kant in diesem TheodizeeKontext gegebene Hinweis auf eine besondere Gestalt der „moralischen „Zweckmäßigkeit“ als besonders aufschlussreich erweisen – nämlich auf die „Zweckmäßigkeit in dem Verhältnis der Übel zu dem moralischen Bösen, wenn das letztere einmal da ist und nicht verhindert werden konnte oder sollte: nämlich in der Verbindung der Übel und Schmerzen, als Strafen, mit dem Bösen, als Verbrechen; und von dieser Zweckmäßigkeit in der Welt fragt es sich, ob jedem in der Welt hierin sein Recht widerfährt“ (VI 107). Über die Aporetik der drohenden „Vergeblichkeit“ bzw. der „Nichtigkeit“ jenes „idealischen Endzwecks“ hinaus und in unverkennbarer Zuschärfung jenes Bezuges auf die Idee eines „Ganzen aller Zwecke“ radikalisierte Kants später Rekurs auf das „Zweckwidrige“ bzw. der daran geknüpfte „Gerechtigkeits“-Anspruch offenkundig noch einmal den mit dieser Idee einer „moralischen Teleologie“ verbundenen postulatorischen Anspruch und vollen444 Und wäre denn andernfalls rechtens zu behaupten, dass jene „Vernunftideen“ derart „konstitutiv und immanent“ werden? Dieses „Konstitutiv“-und-„Immanent“-Werden der „Ideen“ bleibt aber von der „Exis tenz“ des darin Gedachten (dem „Gegenstand schlechthin“) noch unterschieden.
270 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre det so auch erst, wie sich noch genauer zeigen wird, seine ethikotheologische Konzeption. Es sind diese Probleme, die das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ und des darin Erfragten und Erhofften noch einmal entscheidend modifizieren – dies bedeutet aber: den Status bzw. den unverkürzten Anspruch der „Ethikotheologie“ besonders radikalisieren (wie sich im abschließenden VI. Teil noch zeigen soll). In gebotener Rücksicht auf diese auch beim späten Kant (nicht zuletzt in der Idee einer „moralischen Teleologie“) erkennbaren Motive eines „theismus moralis“ bleibt wohl daran festzuhalten: „Auch in der Kritik der Urteilskraft – ebenso wie in der „Preisschrift“ – hält Kant … an der Notwendigkeit der Annahme fest, dass ein solcher Endzweck des Daseins der Welt oder der Schöpfung letztlich nur durch einen moralischen Welturheber möglich ist. […] Kant vertritt also mit der Lehre vom Endzweck der Schöpfung und vom moralischen Welturheber in freilich nicht geschichtlich intentionierter Anknüpfung an die christliche Lehre, die auch sonst in vielen einzelnen Formulierungen bei Kant hervortritt, einen moralischen Theismus, der nicht Erkenntnis zu sein beansprucht.“445 Wenn Kant, wie erwähnt, darüber hinaus auch noch in seinen spätesten Schriften unermüdlich einschärft, dass „aus dem moralischen Gesetz …, nicht aus der Theorie der Natur der Dinge an sich selbst, … nun der Begriff von Gott“ hervorgehe (III 391, Anm.; vgl. III 411 f ), so bestätigt auch dies in wünschenswerter Klarheit, dass er an dieser Leitidee einer „theologia moralis“ bzw. einem „theismus moralis“ zeitlebens festgehalten hat, wonach eine „höchste Weisheit zur Vollendung dieses Zwecks erfordert wird“ (VI 169) und so auch als der allein angemessene „terminus ad quem“ menschlichen Hoffens fungiert. Schon diese Überlegungen Kants implizieren in der Sache insofern selbst eine Korrektur jener kritisierten Begründungsfigur, die den Rekurs auf das „Dasein Gottes“ (als eines nicht nur „verständige(n), sondern zugleich moralische(n) Wesen(s), als Welturheber(s)“ erst aus einem „zweiten Schluss“ erklären bzw. rechtfertigen soll – obgleich die Vermittlung der Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ und dessen Ermöglichungsgrund in gestufter Form erfolgt und in der Begründung der „objektiven Realität“ (hinsichtlich des „dass“, aber auch der „Sachhaltigkeit“) in der Tat den Ausschlag gibt (s. o. III., 1.3.1.). Auch in der „Religionsschrift“ wollte Kant mit dem dort aufgenommenen und noch weitergeführten Zusammenhang von „Moral und Religion“ (IV 652)446 vor Augen führen, dass Gott demzufolge ein „aus der Moral hervorgehender Begriff sei“ (eine gleichwohl sehr missverständliche Formulierung).447 Dies wäre rechtens, unter den Vorzeichen 445 E. u. K. Düsing 2002, 114 f. 446 Schon diese bekannte These aus der Vorrede der kantischen „Religionsschrift“ steht der Auffassung im Wege, dass Kant unter dem „Gesichtspunkt des objektiven Endzwecks und der allgemeinen Glückseligkeit als Gesetz … zur definitiven Erkenntnis“ gelangt sei, „dass das höchste Gut kein personales Gut sein kann, sondern nur als universales und gemeinschaftlich anzustrebendes Gut begründbar ist“ (Cheneval 2002, 457). Kant hat deshalb auch nicht „gewissermaßen die Spur gewechselt und ist von der religionsphilosophischen Begründung des höchsten Guts zur rechtsphilosophisch-politischen übergegangen“ (ebd. 473), vielmehr hat er lediglich zu unterscheidende Problemebenen angezeigt und entsprechende Akzente gesetzt. Chenevals Interpretation setzt offenbar schiefe Alternativen voraus und vermag insofern den differenzierten Problemaspekten in der kantischen Bestimmung des „höchsten Gutes“ nicht gerecht zu werden. 447 Zumal dies doch offenbar lediglich besagt, dass erst aus der Verbindung der Theologie und der Moral ein auch für „die Religion tauglicher Gottesbegriff“ resultiere (vgl. II 338). Abgesehen davon bleibt es
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jener voranstehend problematisierten Argumentation Kants, gerade nicht zu beanspruchen, zumal dies demzufolge – paradoxerweise – doch die Möglichkeit einer „Religion“ auch ohne jedweden Gottesbezug einräumen müsste;448 dies wiederum wäre freilich nicht nur mit der wiederholten Kennzeichnung der Religion als „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ (IV 261; IV 575; V 615; IV 822) unvereinbar. Bezeichnenderweise ist in der maßgeblichen Begründung dafür, weshalb „Moral … unausbleiblich zur Religion“ führe (in der Vorrede zur ersten Auflage der „Religionsschrift“: IV 655, Anm.), von einem bloß „relativ notwendigen“ Grund dieser „Notwendigkeit“ – nämlich als einer angeblich lediglich „subjektiven Bedingung“ unseres „Erkenntnisvermögens“, d. h. von einem solchen Entscheidungsspielraum, von einer diesbezüglich „uns zukommenden Wahl“ – gar nicht mehr die Rede. Ohne weitere „epistemische Rücksichten“ betonte Kant hier ausdrücklich, dass für die Möglichkeit [!] des „höchsten Guts in der Welt“ „wir ein höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen müssen, das allein beide Elemente desselben [des „höchsten Guts“] vereinigen kann“ (IV 651). Indes, keineswegs ist damit offensichtlich jene – für sich genommen tatsächlich recht dürftige – Funktion des Gottes-Postulates als des „Vereinigers der beiden Elemente desselben“, also eines bloßen „Garanten des höchsten Guts“ und Kompensators menschlichen Unvermögens schon überwunden, was Kant in seinen späteren Schriften offenbar auch dazu veranlasst hat, in „aneignender Übersetzung“ auf andere geschichtlich vermittelte „Anleihen“ zurückzugreifen.449 Es hat sich jedenfalls schon gezeigt, dass eine als bloße Garantie-Instanz der Möglichkeit des „höchsten (abgeleiteten) Gutes“ eingeführte Gottesidee – und zwar auch im Sinne einer „symbolischen Vorstellung“, d. h. „für uns“ – wohl kaum geeignet wäre, um dieses „Ideal des höchsten Guts“ als einen „Bestimmungsgrund des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ (II 676 f ) hinreichend zu qualifizieren; dies könnte auf solche Weise auch der Weltstellung des Menschen dann nicht gerecht werden, wenn dieser doch als existierender „Endzweck der Schöpfung“ legitimiert werden soll.450 fragwürdig, ob denn unter diesen Vorzeichen für diesen Menschen tatsächlich streng genommen zu pos tulieren wäre: „er bedarf einer moralischen Intelligenz, um für den Zweck, wozu er existiert, ein Wesen zu haben, welches diesem gemäß [!] von ihm und der Welt die Ursache sei“ (V 571). Auch dies indiziert die Notwendigkeit, den spezifischen Vernunftanspruch der Hoffnung im Unterschied zur Erwartung bzw. Sehnsucht abzugrenzen. 448 Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass sich im „opus postumum“ Bemerkungen Kants finden, die zeigen, dass ihm einschlägige Erwägungen in gewisser Weise durchaus nicht fremd waren: „Religion ist Gewissenhaftigkeit (mihi hoc religioni) [,] die Heiligkeit der Zusage und Wahrhaftigkeit dessen, was der Mensch sich selbst bekennen muss. Bekenne dir selbst. Diese zu haben wird nicht der Begriff von Gott, noch weniger das Postulat: ‚es ist ein Gott‘ gefordert“ (AA XXI, 81). 449 Vornehmlich ist hier zu denken an jenes schon angeführte Motiv der „göttlichen Güte“ als dem alleinigen Grund des menschlichen „Wohlergehens“ (in der Theodizee-Abhandlung: VI 108 Anm.), an die Gedankenfigur des „sich in Analogie nach der aus sich heraustretenden Gottheit denkenden Menschen“ (im „Gemeinspruch“-Aufsatz: VI 133 Anm.) sowie an die „Liebe“ als das Motiv des „göttlichen Zweck(s) in Ansehung des menschlichen Geschlechts (dessen Schöpfung und Leitung)“ (IV 629 f ). 450 Einzuräumen ist freilich, dass Kant diesbezügliche Missverständnisse zum Teil begünstigt hat; so etwa, wenn es zur Begründung dieser angeblich notwendigen „Annehmung“ (III 635; AA XXVII, 817) heißt: „Gott postuliert als Ausgleich [!] von Moralität und Glückseligkeit: da der Mensch nicht in der Lage ist, durch seine Gesinnung bzw. moralische Tätigkeit ‚verhältnismäßig glücklich zu werden‘, muß er ein
272 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Bemerkenswert ist jedenfalls dies, dass Kant auch in der „Religionsschrift“ den Rekurs auf den „moralischen Weltherrscher“ durchaus nicht in Berufung auf die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens rechtfertigen wollte; vielmehr ist diesbezüglich offenbar allein das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ selbst als „ratio cognoscendi“ bzw. „ratio sufficiens“ der Gottesfrage maßgebend. Denn wie stünde es im Falle eines lediglich auf solche „epistemische“ Rücksichten gestützten Rekurses auf die Gottesidee um die hier (und auch später!) geäußerte kantische These, der zufolge „alle moralische ernstliche (und darum gläubige) Bearbeitung zum Guten unvermeidlich“ auf die „Idee von Gott … geraten“ müsse (IV 822, Anm.), wenn „höchstes abgeleitetes“ und „höchstes ursprüngliches Gut“ im Grunde einander völlig äußerlich blieben und somit auch „absolute Seligkeit“ als „Gottseligkeit“ (IV 856) prinzipiell verfehlt wäre – und damit wohl ebenso die allein in diesen „Ideen“ gewährleistete „Selbsterhaltung der Vernunft“? Auch in der (nahezu zeitgleich erschienenen) „Religionsschrift“ sah Kant die „Einstimmigkeit“ von „Glückseligkeit … mit der Würdigkeit glücklich zu sein“ allein in der „Vorsorge“ eines „allvermögende(n) moralische(n) Wesen als Weltherrscher“ (IV 655, Anm.) zureichend begründet, zumal menschliche Existenz sich allein darin anerkannt und gewollt451 wissen kann und dies als „Gottseligkeit“ zu deuten vermag. Denn: „Gottseligkeit ist also nicht ein Surrogat der Tugend, um sie zu entbehren, sondern die Vollendung derselben, um mit der Hoffnung der endlichen Gelingung aller unserer guten Zwecke bekrönt werden zu können“ (IV 859).452 Diese Kennzeichnung erhält freilich einen unverzichtbaren – ethiko-theologisch qualifizierten – „eschatologischen“ Vermerk, dessen Anspruch sich freilich keineswegs auf die „dem Menschen sehr natürliche Erwar-
höchstes Wesen annehmen, das die ‚Summe aller Zwecke‘ in seiner Gewalt hat“. – Eine solche verkürzende Sichtweise wird jedoch von ihm selbst andernorts ausdrücklich korrigiert. 451 Nach Kant ist es bekanntlich Pflicht der Eltern, die durch den „Akt der Zeugung“ ohne deren „Einwilligung auf die Welt gesetzt(e)“, d. h. „eigenmächtig in sie herüber gebrachte“ Person „so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen“ (IV 393 f ). Nun liegt es an diesem derart in die Welt gesetzten „vernünftigem Weltwesen“, das ihm als solchem gemäße „höchste Gut“ (gemäß der Idee der „moralischen Welt“) „so viel in seinen Kräften ist“, zu befördern; sich selbst derart im Blick auf das „Ganze seines Lebens“ „mit diesem seinem Zustande zufrieden zu machen“, vermag es nicht und sieht sich, solcherart in die Welt versetzt, mit der Frage – und mit der andernfalls drohenden „Verzweiflung der Vernunft an sich selbst“ – konfrontiert, wie er denn mit diesem „Zustande“ nicht nur sich abfinden, sondern überdies nicht nur zufrieden, sondern sogar froh werden könne? Nur so vermag der Mensch sich auch als ein „gewollt sein wollendes Wesen“ (Blumenberg 2006, 639) zu begreifen und auch zu bejahen. Das sinn-affirmierende Wollen jenes „Rechtschaffenen“ Kants, „dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (IV 652), hängt mit dem von Blumenberg – mit Blick auf Kant – geäußerten Motiv des „Gewollt-sein-Wollens“ zweifellos engstens zusammen. 452 Auch in den Vorarbeiten zur „Religionsschrift“ grenzte Kant (ähnlich wie in der erwähnten Passage der „zweiten Kritik“: IV 258 f, Anm.) diese „Gottseligkeit“ von der „stoischen Tugend“ ab: Gegenüber dem „edlen Stolz“ von der „Würde der menschlichen Natur“, die Letztere auszeichnet, betont er die „theologische Gottseligkeit“, die aus dem „Bewusstsein der Unlauterkeit seiner Natur verbunden in der Unterwerfung unter die Idee der Pflicht besteht“ und als solche „demütige Rechtschaffenheit“, eben als „Gottseligkeit“, die „Aufopferung eines moralischen Eigendünkels wegen vermeintlichen Verdienstes“ fordert (AA XXIII, 120); vgl. zu den daran anknüpfenden religionsphilosophischen „Grenz“-Motiven u. V. Teil.
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tung eines dem sittlichen Verhalten des Menschen angemessenen Loses in Ansehung der Glückseligkeit“ (IV 830) zurückstufen lässt. Auch wenn Kant noch in der „Preisschrift“ über die „wirklichen Fortschritte in der Metaphysik …“ ausdrücklich betonte, dass, weil wir das „höchste Gut“ als „Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ „uns nicht anders, als unter Voraussetzung der Existenz eines ursprünglichen höchsten Gutes, als möglich denken können, wir dieses in praktischer Absicht anzunehmen a priori genötigt werden“ (III 635), so ist dies wohl ebenso in diesem Sinne zu verstehen453. Dies indiziert so, ganz gemäß jener dort geltend gemachten „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen“, eine ungleich engere Verknüpfung von „moralischer Teleologie und Theologie“ – und nur sie vermag zu erklären, dass Kant das letzte „Stadium“ in den vollzogenen „Fortschritten der Metaphysik“ ausdrücklich als „Theologie“ bezeichnet hat (III 615). Allein auf solche Weise findet die von Kant beanspruchte „praktisch-notwendige Verknüpfung“ ihre zureichende Begründung und vermag somit auch den Rekurs auf ein „Ideal des höchsten (ursprünglichen) Gutes“ zu legitimieren, das ja – so seine ausdrückliche (noch spät vertretene) These – „durch die Vernunft [!] unumgänglich notwendig gemacht wird“ (III 634). In diesem Sinne ist von einer „Annehmung, Voraussetzung“, die Rede, „die nur darum notwendig ist, weil eine objektive praktische Regel des Verhaltens, als notwendig, zum Grunde liegt, bei der wir die Möglichkeit der Ausführung und des daraus hervorgehenden Objektes an sich zwar nicht theoretisch einsehen, aber doch die einzige Art der Zusammenstimmung derselben zum Endzweck subjektiv erkennen“ (III 635).454 Darin tritt erneut ein gleichsam „überschießender“ Anspruch zutage, der indes durch solche Hoffnung selbst noch nicht gänzlich abgedeckt ist. Letztere wird vielmehr als eine solche ausgewiesen, die „gesetzt wird auf“ – weshalb dieser „Grund“ der Hoffnung und des darin „Erhofften“ nicht anders als der „Urquell alles Guten in der Welt“ (III 636) „von uns“ gedacht werden kann. Nur so stimmt dies auch mit unserem „praktischen Endzweck“ „zusammen“, d. h. genügt tatsächlich erst den (praktischen) Vernunftansprüchen und bleibt nicht nur ein aus bloß kritisch-„epistemischen“ Gründen geduldetes Zugeständnis.455 453 Ungleich schwerer als jener zwar irreführende Rekurs auf die bloß „subjektiven Bedingungen unserer Vernunftvermögens“ wiegt offenbar jedoch dies, dass auch diese auf postulatorischem Weg eingeholte „objektive Realität“ im Grunde eben nicht mehr bedeutet als die daraus gewonnene Bestimmbarkeit des „schlechterdings notwendigen Wesens“. 454 Dieser späte Hinweis auf die „einzige Möglichkeit der Zusammenstimmung … zum Endzweck“ ist wiederum (so wie die nahezu zeitgleich betonte „Vereinigung und [!] Zusammenstimmung von Moralität und Glückseligkeit“: VI 132) sehr genau zu nehmen, weil allein diese „Zusammenstimmung“ auch dem späten Kant zufolge den Rekurs auf den „theismus moralis“ fordert. Auch im Blick auf diese späte Formulierung wäre zu sagen, es könne nicht gewollt (d. h. nicht mit Zustimmung gedacht) werden, dass dieses aus jener „praktischen Regel des Verhaltens hervorgehende Objekt“ sich indes als bloße Fiktion bzw. als „Chimäre“ erweist und deshalb zu jener „Annehmung“ nötigt. 455 Vgl. den Passus aus der späten Refl. 6317 (AA XVIII, 630), der ebenfalls im Sinne des Rekurses auf Gott als Bedingung der Möglichkeit des „Endzwecks der Schöpfung“ gelesen werden kann: „Nur der Begriff von demselben als einem Wesen, welches die Ursache der Möglichkeit der Ausführung und Erreichung aller uns von der Vernunft aufgegebenen moralischen Zwecke ist, ist so wohl den subjektiven Bedingungen des theoretischen als vornehmlich [!] des praktischen Gebrauchs angemessen und davon unzertrennlich“.
274 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Bezüglich jenes von Kant in der Ethikotheologie der „dritten Kritik“ geltend gemachten „zweiten Schluss(es) … bloß für die Urteilskraft, nach Begriffen der praktischen Vernunft“ (V 583), ist also genau darauf zu achten: In der „transzendentalen Methodenlehre“ der „Kritik der reinen Vernunft“ war der Fundierungszusammenhang zwischen dem „höchsten abgeleiteten“ und dem „höchsten ursprünglichen Gut“ noch ein ganz direkter; demgemäß konnte Ersteres als „abgeleitet“ „durch die Vernunft nicht erkannt werden“ ohne den Rekurs auf eine „höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet“ und „zugleich als Ursache der Natur zum Grunde“ liegt, zumal solche der „Moralität“ angemessene „Glückseligkeit“ eben notwendigerweise auf den Gedanken eines „weisen Urheber(s) und Regierer(s) (II 681) verweist. Diese frühere Idee bzw. Gestalt einer „Moraltheologie“ führe also direkt und „unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesens“, das mithin der notwendigen „Idee“ einer „zweckmäßigen Einheit aller Dinge“ zugrunde liege (II 683 f ). Jedoch bleibt darauf zu achten, dass in diesem Kontext der Bestimmung des „Ideals des höchsten Guts“ ebenso der in der „Kenntnis der Natur“ vorausgesetzte „zweckmäßige Gebrauch in Ansehung der Erkenntnis“ zunächst einmal durch den Rekurs auf die von der „Natur“ selbst hineingelegte „zweckmäßige Einheit“ gestützt wird – d. h. dass Kant zunächst noch auf eine sehr starke Version jener „transzendentalen Steigerung“ rekurrierte. Eben dies ändert sich der „dritten Kritik“ zufolge mit der Begründung der Idee der „formalen Zweckmäßigkeit der Natur“ als eines „transzendentalen Prinzips der Urteilskraft“ (IV 254 ff ) und den darin maßgebenden „Gesetzen“, die infolgedessen auch den Status bzw. Anspruch jener „transzendentalen Steigerung“ verändern. Entscheidend ist jedoch die gebotene Rücksicht auf das hier maßgebende Entsprechungs-Verhältnis – dass nämlich dieser erst in der „dritten Kritik“ vollzogenen Zurückstufung der zunächst bestimmenden „transzendentalen Steigerung“ (II 685) auf ein „transzendentales Prinzip der Urteilskraft“ (und der darin maßgebenden eigentümlichen Gesetzgebung der „Heautonomie“: V 203; 259) nunmehr auch eine diesem „transzendentalen Prinzip der Urteilskraft“ korrespondierende zurückgestufte „Moraltheologie“ gegenübersteht. Damit wird, als eine bloße Folge daraus, jener Rückgang vom „Endzweck der Schöpfung“ auf einen „moralischen Welturheber“ als ein „zweite(r) Schluss … für die Urteilskraft, nach Begriffen der praktischen Vernunft“, und als ein(em) solche(n) für die reflektierende … Urteilskraft“ (V 583) maßgebend. Wenn also in der „Methodenlehre der Urteilskraft“ (gegenüber der „transzendentalen Methodenlehre“ der „Kritik der reinen Vernunft“) allein dieser systematischen Begründungsfigur der zurückgestufte moraltheologische Anspruch zuzuschreiben ist, so wird aber doch die Frage unausweichlich, ob denn nicht, gegenläufig dazu, mit Kant selbst unabweisliche – moralisch begründete – Vernunftansprüche geltend zu machen sind, die, genauer besehen, auch allein seinen späteren Bezug auf ein „moralisches Bedürfnis“ der Vernunft (vgl. z. B. IV 704, Anm.) rechtfertigen können. Daran schließt sich ein weiterer Punkt unmittelbar an.
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3.4.3. Ein Entscheidungsgrund, der „nach allen unseren Vernunftvermögen“ allein noch möglich sei Was mit den beiden erstgenannten Punkten eng zusammenhängt und die schon genannten Bedenken noch einmal verstärkt: Genauer besehen werden die angezeigten missverständlichen Äußerungen Kants auch durch sein – sehr bezeichnendes! – Schwanken in seinem Rekurs auf die „Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens“ (V 586) bzw. auf diejenige „unseres Vernunftvermögens“ noch bestätigt.456 Was nach der „Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens“ zwar prinzipiell unentscheidbar bleiben muss, ist hingegen, wiederum dem „Primat der praktischen Vernunft …“ entsprechend, gemäß dem Anspruch des praktischen Vernunftvermögens eindeutig entscheidbar.457 Kants diesbezüglichem Verweis auf die „Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens“ steht so der Rekurs auf die „Beschaffenheit“ und auf den Anspruch des „praktischen Vernunftvermögens“ gegenüber (vgl. V 583); dessen Unbedingtheits-Anspruch ist auch gegen jene Berufung auf die „Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens“ geltend zu machen. Denn schon infolge jener angeführten Unterscheidung eines „zweifachen Vernunftbedürfnisses“ müsste eine lediglich auf die spezifische „Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens“ gestützte Referenz auf die Gottesidee offenbar jede praktisch-sinnhafte Verbindlichkeit entbehren, wäre so doch das „Absolute“, in seltsamer Verkehrung des Begründungsverhältnisses, abhängig von bzw. „bedingt“ durch diesen kontingenten Sachverhalt. Dass Kants Argumentation hier in der Tat mitunter Gefahr läuft, den Status des hier maßgebenden „Vernunftbedürfnisses“ (seinen „Nötigungscharakter“) und seines „terminus ad quem“ zu unterbieten, wird auch durch folgenden Passus bestätigt: „Für die theoretisch reflektierende Urteilskraft bewies die physische Teleologie aus den Zwecken der Natur hinreichend eine verständige Weltursache; für die praktische [reflektierende Urteilskraft] bewirkt dieses die moralische durch den Begriff eines Endzwecks, den sie in praktischer Absicht der Schöpfung beizulegen genötiget [!] ist“ (V 584).458 „In 456 Es fällt auf (und indiziert vermutlich ein von Kant nicht aufgeklärtes Sachproblem), dass er sich im Kontext seiner Begründung des „physikotheologischen Gottesbeweises“ zunächst ausdrücklich darauf beruft, dass wir für die teleologische Verfassung der Natur „nach der Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens … keinen andern Grund denken können, als den einer Ursache der Natur selbst …, die durch Verstand die Kausalität zu demselben enthält“ (V 560). Im Zusammenhang mit dem sogenannten „moralischen Beweis des Daseins Gottes“ machte Kant hingegen zunächst die „Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens“ (V 583) geltend, während dann jedoch, auch in diesem ethikotheologischen Kontext, wiederum die „Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens“ (V 585) als der zureichende Grund für den Rekurs auf „ein weises nach moralischen Gesetzen die Welt beherrschendes Wesen“ (ebd. 585) angeführt wird. – Die Stufung: „Weltursache“, „Welturheber“ und „Weltbeherrscher“, findet sich wiederholt in Kants Vorlesungen zur „Rationaltheologie“; vgl. dazu Kants „Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie“ in AA XXVIII. 2.1.2.; s. o. I, Anm. 117. Diese gestufte Differenzierung ist selbst der dem „dritten Stadium“ der neueren Metaphysik zugeordneten „Theologie“ immanent. 457 Noch in der späten (für den Zeitraum 1791–1795 datierten) Reflexion 6451 rekurrierte Kant ausdrücklich auf die Gottesidee „als Urheber des höchsten Gutes, weil dieser allein der Zweckbeziehung des moralischen Menschen angemessen [!] ist. Dadurch wird die Annahme eines lebendigen Gottes als moralischen Wesens und hiemit auch als allgnugsamen Wesens angenommen“ (Refl. 6451, AA XVIII, 723). 458 Diese (mit der eingeführten „praktischen reflektierenden Urteilskraft“ [V 584] verbundene) Schwierigkeit zeigt sich auch darin, dass ihr zuletzt doch wiederum eine konstitutive Bedeutung zukommen soll,
276 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre praktischer Absicht“ besagt deshalb, in Erinnerung an Kants Kennzeichnung des „Praktischen“, auch hier die andernfalls unvermeidliche Zumutung, dass „praktische Vernunft“ sich an der Beförderung jenes „Endzwecks“ orientieren und zugleich das Bemühen um die Erreichbarkeit desselben wiederum als sinn-los und illusorisch dementieren müsste. Es sind somit diese praktischen Vernunftansprüche selbst, die den postulatorischen Bezug sogar „unumgänglich“ machen, weil nur so, nach der besonderen „Beschaffenheit, mit der er wirklich ist“ – und d. h. eben auch: der „Beschaffenheit seines Vernunftvermögens“ gemäß –, der Mensch sich als „vernünftiges Weltwesen“ anerkannt wissen kann. Dass „nach allen [!] unseren Vernunftvermögen“ (V 577) – und d. h.: eben nicht „bloß für die Urteilskraft, nach Begriffen der praktischen Urteilskraft“ – allein die Idee der Weisheit eines „moralischen Welturhebers“ als Ermöglichungsgrund – und d. h. als „ratio sufficiens“ – des „praktischen Endzwecks“ sowie des „Endzwecks der Schöpfung“ anzusehen sei, wäre so gegen Kant selbst geltend zu machen. Zudem wäre dies dahingehend zu akzentuieren, dass ausschließlich dies der praktischen Bestimmung (und dem „persönlichen Wert“: V 609) dieses vernünftigen Weltwesen (eben als „Persönlichkeit“, vgl. IV 550; ebd. 673 f ) gerecht zu werden vermag, d. h. ihm auch angemessen – buchstäblich „genugtuend“ und in diesem Sinne auch „zuträglich“ – ist. Hierfür erweist sich der Rekurs auf die „der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität“ dieser „göttlichen Weisheit“ (IV 256) als notwendig, zumal auch nur eine „moralische Weltursache (ein Welturheber)“ der „moralisch konsequenten Denkungsart“ genügt (ebd. Anm.).459 Auch dies sprengt zweifellos jene Analogie in dem Rekurs auf die „eigentümliche Beschaffenheit meiner Erkenntnisvermögen“, die Kant hinsichtlich der – sodann physikotheologisch fruchtbar gemachten – Perspektive „einer objektiven Zweckmäßigkeit der Natur“ offenbar noch vor Augen stand und ihn auf das „Als-ob“ der „reflektierenden Urteilskraft“ rekurrieren ließ. Eine bloße Konsequenz daraus ist es wiederum, dass die von Kant behauptete unauflösliche Korrelation zwischen menschlichem Selbstverständnis und Gottesbegriff diese von ihm selbst eingeräumte Beschränkung auf die bloß „subjektiven Bedingungen unserer Vernunft“ geradewegs verbieten muss, weil andernfalls eine Aushöhlung der damit verbundenen Vernunftansprüche die unvermeidliche Folge wäre, d. h. auf eine Preisgabe wie es wenig später heißt: „Wenn es aber auf das Praktische ankommt, so ist ein solches regulatives Prinzip (für die Klugheit oder Weisheit): dem, was nach der Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen von uns auf gewisse Weise allein als möglich gedacht werden kann, als Zweck gemäß zu handeln, zugleich konstitutiv, d. i. praktisch bestimmend“ (V 586). – Zu erinnern bleibt auch daran, dass Kant schon in der „ersten Kritik“ bezüglich der Möglichkeit des „Vernunftzwecks“ betonte: „Der Zweck ist hier unumgänglich festgestellt, und es ist nur eine einzige Bedingung nach aller meiner Einsicht [!] möglich, unter welcher dieser Zweck mit allen gesamten Zwecken zusammenhängt, und dadurch praktische Gültigkeit habe, nämlich, dass ein Gott und eine künftige Welt sei; ich weiß auch ganz gewiss, dass niemand andere Bedingungen kenne, die auf dieselbe Einheit [und „Zusammenstimmung“!] der Zwecke unter dem moralischen Gesetze führe.“ (II 693) Indes, nur eine „moralische Weisheit“ kann nach Kant wohl „zureichender Grund“ einer solchen „Einheit“ und „Zusammenstimmung“ der „Zwecke unter dem moralischen Gesetze“ sein – daran hat sich wohl auch in der späten „Ethikotheologie“ nichts geändert. 459 Noch der späte Kant hätte wohl der (offenbar ohnedies auf ihn bezogenen) Bemerkung Hegels zugestimmt: „Bei dem moralischen Zweck, den wir der Vorsehung der Gottheit beilegen, reflektieren wir nicht auf ihr übriges uns unbekanntes Wesen, sondern hier urteilen wir, dass ihre Tätigkeit insofern die Tätigkeit eines Ich sei“ (Hegel 1, 241).
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der diesen Endzweck auszeichnenden Dimension einer „Sinn-Unbedingtheit“ hinausliefe und dieser moralisch erstrebte Endzweck in seiner „praktischen Notwendigkeit“ ohne jedes Fundament bleiben müsste. Letztendlich müsste auch der in den späteren religionsphilosophischen Bezügen zutage tretende Rekurs auf das Motiv eines „Herzenskündigers“ als unverständlich460 erscheinen. Beinahe, als ob er von ihm diesbezüglich begünstigte Kurzschließungen und psychologisierende Missverständnisse selbst korrigieren wollte, sah Kant sich in der „Preisschrift“ über „die wirklichen Fortschritte in der Metaphysik“ offenbar auch zu einer Klarststellung bezüglich des Stellenwerts bzw. Anspruchs des „moralischen Arguments“ veranlasst – und zwar mit besonderer Rücksicht auf die „praktische Bestimmung des Menschen“ und auf die „ihm wohlweislich angemessene Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (IV 281 f ): „Dies ist nun ein Argument, das Dasein Gottes, als eines moralischen Wesens, für die Vernunft des Menschen, so fern sie moralisch-praktisch ist [d. h.: keinesfalls aus der bloß „subjektiven Begrenzung“ unseres Erkenntnisvermögens], d. i. zur Annehmung desselben, hinreichend zu beweisen, und eine Theorie des Übersinnlichen, aber nur als praktisch-dogmatischen Überschritt zu demselben zu begründen, also eigentlich nicht ein Beweis von seinem Dasein schlechthin (simpliciter), sondern nur in gewisser Rücksicht (secundum quid), nämlich auf den Endzweck, den der moralische Mensch hat, und haben soll, bezogen, mithin bloß der Vernunftmäßigkeit, ein solches anzunehmen, wo dann der Mensch befugt ist, einer Idee, die er, moralischen Prinzipien gemäß, sich selbst macht, gleich als ob [!] er sie von einem gegebenen Gegenstande hergenommen, auf seine Entschließung Einfluss zu verstatten“ (III 645).461 460 Vgl. VI 122; IV 720; 758; IV 564; 574; 577; VI 272. – Noch im „opus postumum“ ist von dem Motiv des „Herzenskündigers“ (freilich nicht einfach von dessen behaupteter Existenz) die Rede. 461 Die hier angeführten Passagen aus Kants später „Preisschrift“ und aus dem noch späteren Aufsatz „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton …“ korrigieren demzufolge von ihm selbst begünstigte Missverständnisse; sie stehen mit der darin vorgenommenen Präzisierung offensichtlich auch jener von D. Henrich vertretenen Auffassung im Weg, Kant selbst habe „die Möglichkeit angedeutet und eingeräumt, dass auf jenen zweiten Schluss, der zum persönlichen Gott führt, auch verzichtet werden könnte, während die Lehre von der Existenz der moralischen Weltordnung in Geltung bleibt“ (Henrich 2004, II 1494). Auch Kants späte Argumentation erlaubt es wohl nicht, ihm so ohne weiteres die Auffassung zuzuschreiben: „… der Glaube an die Weltordnung behält bei ihm den Rang einer sittlichen Notwendigkeit. Der Glaube an den persönlichen Gott entspricht dagegen nur noch einer Begrenzung in unserer epistemischen Organisation. So liegt es also wirklich sehr nahe, den Gedanken von der moralischen Weltordnung möglichst so weiterzubestimmen, dass das Bedürfnis nach einer Erklärung aus subjektiven Begrenzungen ganz entfällt. Eine Möglichkeit … ist die, die moralische Weltordnung als solche so zu denken, dass sich der Gedanke von ihr zugleich zu einem theologischen Gedanken transformiert, der aber nicht mit dem Gedanken der monotheistischen Schöpfer-Person identisch ist“ (ebd. 1495). – Insbesondere wäre diesbezüglich, in genauer Berücksichtigung der späten kleinen religionsphilosophischen Schriften Kants (vor allem auch des „Gemeinspruch“-Aufsatzes, der „Preisschrift“ sowie der späten Schrift über den „vornehmen Ton in der Philosophie“), wohl der Frage nachzugehen, ob jene von Henrich (im Ausgang von Kants Moraltheologie über die Begründung unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung) auf so instruktive Weise nachgezeichneten Tendenzen zu einem „Leitgedanken der nachkantischen Philosophie“ (Henrich, ebd. 1519), nicht doch wichtigen Motiven Kants – und auch dem von ihm begründeten Anspruch des „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ – zuwiderlaufen. – Zeigt sich nicht auch in dem auf Fichte gemünzten Einwand: „Gott ist etwas Realeres [heißt hier wohl: von größerer „Sachhaltigkeit“ und „Vollkommenheit“] als eine bloße moralische Weltordnung“ (Schelling VII, 356) eine (indirekte) An-
278 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Dieses Argument sei „gültig für Menschen, als vernünftige Weltwesen überhaupt, und nicht bloß für dieses oder jenes Menschen zufällig angenommene Denkungsart“ (III 645), und d. h. wohl auch: keineswegs aus bloßer Rücksicht auf die „subjektiven, d. i. endlichen Erkenntnisbedingungen“, ebenso wenig in Bezug auf die „unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen“ (IV 654, Anm.), zumal sich doch beides als unangemessen erweist. Begründet ist diese beanspruchte Gültigkeit „für Menschen als vernünftige Weltwesen überhaupt“ letztendlich vielmehr darin, dass der „zureichende Grund“ des „praktischen Endzwecks“ (als das „höchste Weltbeste“; V 578; 580) doch nur ein „Endzweck der Schöpfung“ sein kann, der in der „Weisheit“ eines „moralischen Welturhebers“ („theismus moralis“) verankert ist – eine Kennzeichnung, die als solche freilich selbst schon eine „symbolische Darstellung“ der „grenzbegrifflich“ gedachten Idee eines „Grundes aller Realitäten“ ist. Daraus wird noch einmal deutlich, dass auch jener von Kant reklamierte „zweite Schluss“ (in jenem „moralischen Beweis“ der „dritten Kritik“) doch allein durch diese erforderliche „gewisse Rücksicht … auf den Endzweck, den der moralische Mensch hat, und haben soll“, vermittelt ist, jedoch diesbezüglich keinerlei vernunftgemäßen Ermessensspielraum eröffnet. Indes, dass diese Argumentation über den „umwegigen“ Aufweis der Verbindlichkeit des „Endzwecks der Schöpfung“ (jene „moralisch konsequente Denkungsart“) und die „notwendige Voraussetzung“ derselben läuft, besagt der Sache nach lediglich, dass es dabei um einen praktischen Vernunftanspruch zu tun ist, der keinesfalls als „verzichtbar“ hingestellt werden darf. So bestätigt sich erneut, weshalb Kant tatsächlich aus „Vernunftgründen“ darauf insis tieren musste, dass die Erreichbarkeit des „höchsten Gutes“ nicht von einer „Gunst des Schicksals“, sei es von einem bloß „natürlichen Lauf der Dinge“ bzw. einer despotischen Willkür abhängen kann.462 In Ansehung der Weltstellung des Menschen als „vernünftiges Weltwesen“ vermag die Vernunft erst in dem „höchsten abgeleiteten Gut“ ihre Befriedigung zu finden, dem deshalb allein dessen Verankerung in dem „höchsten ursprünglichen Gut“ (als allein endzweck-gemäßer „weiser Welturheber“) genügt – obgleich ein solcher Befund bzw. eine solche Forderung gewiss nicht in die Zuständigkeit (bzw. Entscheidbarkeit) theoretischer Vernunftansprüche fällt. Mag das „höchste Gut“ „nach einem bloßen Lauf der Natur“ auch nicht zu „erwarten“ sein, so ist es indes „moralisch gewiss“, dass es knüpfung Schellings an Kant – auch im Sinne der kantischen Mahnung, den „Begriff von einer Gottheit“ nicht leichtfertig zu „verschwenden“ (V 562)? 462 Kants Notiz: „Die Idee von Gott als lebendiger Gott ist nur das Schicksal, was dem Menschen unausbleiblich bevorsteht: Aber ihr nicht Persönlichkeit zu attribuieren“ (XXI 49), stehen freilich auch in den einschlägigen Partien des „opus postumum“ anders lautende Bestimmungen gegenüber, die dies offensichtlich wieder relativieren; so etwa, wenn Kant ganz selbstverständlich – freilich im Sinne des zu bedenkenden „analogen“ Charakters – betont: „Unter Gott versteht man eine Person, die über alle vernünftige [Wesen] rechtliche Gewalt hat. – Dieser Begriff bietet auch ein Maximum [gesetzgeberischer Gewalt] (potestas legislatoriae) dar: ein Wesen, ‚vor dem sich alle Knie beugen derer, die im Himmel, auf Erden etc. sind‘, das höchste Wesen, der Heilige, der nur ein Einiger sein kann“ (AA XXI, 35). Und, noch einmal: „Gott ist der Begriff von einem persönlichen Wesen. Ob ein solches existiere, wird in der Transzendentalphilosophie nicht gefragt“ (ebd. 45). Vgl. auch: „Es ist ein Gott. Denn es ist eine Macht[,] die aber auch eine Verbindlichkeit für das Ganze vernünftiger Wesen bei sich führt“ (AA XXI, 157). Es ist jedenfalls nicht zielführend, all diese Äußerungen Kants, die vielfach wohl nicht mehr sind als Gedankensplitter bzw. Notizen, gegeneinander auszuspielen.
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daraus aus praktisch-moralischen Gründen erst recht auch nicht erhofft werden kann. Wiederum verdient es deshalb – und zwar gerade auch im Sinne einer angemessenen „ratio sufficiens“! – genaue Beachtung, wenn Kant noch in der Vorrede zur ersten Auflage der „Religionsschrift“ ausdrücklich betont: „Moral [!] also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert [wofür freilich der „transzendentale Begriff“ des „fehlerfreien Ideals“ schon vorausgesetzt ist], in dessen Willen [!] dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (IV 652, Anm.). Und auch so bestätigt sich überdies, dass dieses Motiv insofern als Begründung des „Glaubens an ein künftiges Leben“ noch beim späten Kant (freilich wiederum im Sinne einer sich selbst bescheidenden „docta ignorantia“) erhalten bleibt (vgl. IV 631, Anm.).463 Es ist auch nicht zu leugnen: Jene missverständlichen Begründungen Kants fielen unweigerlich den scharfen Messern der Religionskritik zum Opfer; denn zweifellos wäre ein aus bloß epistemischer Rücksicht bzw. Verlegenheit eingeführte „Gottes“gedanke (nach einer treffenden, wenngleich nicht direkt auf Kant gemünzten Bemerkung Hegels) auch dem Vorwurf ausgesetzt, allenfalls „ein anderes Wort für jene Unbegreiflichkeit“464 bzw. ein bloßer Erfüllungsgarant menschlicher Wünsche zu sein, der in keiner Weise dem Ge463 Vgl. dazu auch die späte Refl. 6349 (AA XVIII, 675). – Auch hier wird eine bemerkenswerte Kontinuität eines Grundmotivs kantischen Denkens – von den frühen „Träumen eines Geistersehers“ bis zu diesen spätesten Texten Kants – erkennbar; in immer neuen Anläufen, motivlichen Zuschärfungen und Vertiefungen hat Kant offenbar sein frühes Motiv durchbuchstabiert: „Und in der Tat lehret die Erfahrung auch: dass so viele, welche von der künftigen Welt belehrt und überzeugt sind, gleichwohl dem Laster und der Niederträchtigkeit ergeben, nur auf Mittel sinnen, den drohenden Folgen der Zukunft arglistig auszuweichen; aber es hat wohl niemals eine rechtschaffene Seele gelebt, welche den Gedanken hätte ertragen können, dass mit dem Tode alles zu Ende sei, und deren edle Gesinnung sich nicht zur Hoffnung der Zukunft erhoben hätte. Daher scheint es der menschlichen Natur und der Reinigkeit der Sitten gemäßer zu sein: die Erwartung der künftigen Welt auf die Empfindung einer wohlgearteten Seele, als umgekehrt ihr Wohlverhalten auf die Hoffnung der andern Welt zu gründen. So ist auch der moralische Glaube bewandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustande angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führet. Laßt uns demnach alle lärmende Lehrverfassung von so entfernten Gegenständen der Spekulation und der Sorge müßiger Köpfe überlassen. Sie sind uns in der Tat gleichgültig, und der augenblickliche Schein der Gründe vor oder dawider mag vielleicht über den Beifall der Schulen, schwerlich aber etwas über das künftige Schicksal der Redlichen entscheiden. Es war auch die menschliche Vernunft nicht gnugsam dazu beflügelt, dass sie so hohe Wolken teilen sollte, die uns die Geheimnisse der andern Welt aus den Augen ziehen, und denen Wißbegierigen, die sich nach derselben so angelegentlich erkundigen, kann man den einfältigen aber sehr natürlichen Bescheid geben: dass es wohl am ratsamsten sei, wenn sie sich zu gedulden beliebten, bis sie werden dahin kommen. Da aber unser Schicksal in der künftigen Welt vermutlich sehr darauf ankommen mag, wie wir unseren Posten in der gegenwärtigen verwaltet haben, so schließe ich mit demjenigen, was Voltaire seinen ehrlichen Candide, nach so viel unnützen Schulstreitigkeiten, zum Beschlusse sagen lässt: Lasst uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen, und arbeiten“ (I 989). Ganz im Sinne dieser „docta ignorantia“ beschließt schon der frühe Kant einen Brief an Mendelssohn mit der Frage, „ob Geburt (im metaphysischen Verstande), Leben und Tod etwas sei, was wir jemals [wohl eher „niemals“ als „jemals“!] durch Vernunft werden einsehen können. Es liegt hier daran auszumachen, ob es nicht hier wirklich Grenzen gebe welche nicht durch die Schranken unserer Vernunft nein der Erfahrung, die die data zu ihr enthält, festgesetzt“ sind (AA X, 72). 464 Hegel 10, 45 (§ 389). Diese polemische Wendung Hegels richtet sich (im Kontext des Aufweises cartesianischer Aporien) zwar primär gegen eine bloß äußerliche Einheit von „Leib und Seele“; sie wäre sinngemäß jedoch ohne Weiteres auch auf seine Kritik an Kants Postulatenlehre zu beziehen.
280 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre wicht jenes „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ zu entsprechen vermag. Eine derartige „Gottesidee“ wäre offenbar lediglich auf jene wahrgenomme Lücke bzw. auf eine daraus resultierende Verlegenheit gestützt; unschwer wäre dies in der Tat als ein bloßes Kompensationsprodukt zu entlarven, das mit der dem Menschen als „existierendem Endzweck“ allein angemessenen „moralischen“ Verankerung des Gottes-Postulates sowie mit der Bestimmung eines „Ideals des höchsten Gutes“ ebenso unvereinbar wäre wie mit jener für die Weltstellung des Menschen maßgebenden „teleologia rationis humanae“. In Wahrheit entpuppte sich ein solches vermeintliches „Ideal“ als bloßes „Idol“ eines dahinschwächelnden Gemüts – als leicht durchschaubares „Gemächsel“ des offenbar gar nicht so „vernünftigen“, sondern wohl eher selbstbehauptungs-bestrebten „Weltwesens“. Dies hätte freilich unvermeidlich eine Relativierung des Verbindlichkeitsanspruchs der Vernunftreligion und der sie fundierenden praktischen Vernunftprinzipien zur Folge und könnte es so auch nicht mehr erlauben, sich diesbezüglich auf eine „moralisch konsequente Denkungsart“ und auf ein entsprechendes unbedingtes Vernunftinteresse zu berufen. Genauer besehen liefe Kants Argumentation solcherart auf eine – gleichsam lediglich ins „Praktische“ gewendete – Spielart des cartesianischen Dilemmas hinaus, wonach die Vorstellung Gottes (und dessen „Wahrhaftigkeit“) als das – in ganz äußerlicher Weise – vermittelnde Dritte erschiene, das infolge einer derartigen Akzentuierung zwar nicht einfach als das „absolute Band“ zwischen Erkennen und Wirklichkeit (Hegel) fungierte, sondern tatsächlich in die zweifelhaft-dürftige Rolle jenes bloßen „Dieners der Begier“ (Fichte) geriete. Als ein solches unentbehrliches Vehikel einer denkbaren „Zusammenstimmung“ („Übereinkunft“) von Tugend und Glückseligkeit käme es indes kaum als angemessener „terminus ad quem“ eines „Vernunftglaubens“ in Frage – jedenfalls dann nicht, wenn dessen Anspruch doch auf nicht weniger als auf die „Selbsterhaltung der Vernunft“ abzielen soll. Allein darauf zielt auch die für diesen „Vernunftglauben“ fundamentale Forderung, dass „vernünftige Weltwesen“ sich nicht bloß furcht- oder wunschgeleitet, sondern allein „vernunft-orientiert“ „den Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen notwendig und vor aller Erfahrung [also gerade nicht „kompensatorisch“] machen“ (VI 116). Mit Rücksicht auf die Weltstellung des Menschen bleibt als moraltheologisches Leitmotiv Kants – von ihm selbst begünstigte Missverständnisse gleichwohl einräumend – somit festzuhalten: Dass das „höchste (abgeleitete) Gut“ als das „ganze Objekt der praktischen Vernunft“ – durchaus im Sinne der recht verstandenen „Idee [!] der Glückseligkeit“ – als „gelungenes und vollendetes Leben im Ganzen“ als „Endzweck der Schöpfung“ zu bestimmen ist, macht – und zwar aus prinzipiellen Erwägungen – für die nähere Charakterisierung dieser „eudaimonia“ ebenso die Rücksichtnahme darauf unverzichtbar, dass solcher Anspruch nicht als eine bloße Angelegenheit der „tyche“ (des bloß zufälligen „äußeren Glückens“) noch als schicksalshafte Fügung (moira), als „Verhängnis“, genommen werden darf. Denn als ein „vom Menschen unabhängiges Glücken“ liefe eine solche „Fügung“ in der Tat unvermeidlich darauf hinaus, ein anonymisierendes Verhängnis oder auch „den Zufall für würdig zu halten, über unser Schicksal zu entscheiden“ (S. Freud). Freilich, dies zöge wiederum den moralisch inspirierten energischen Einspruch des darüber hinaus auf den „Endzweck der Schöpfung“ gerichteten „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“ nach sich (V 609), zumal dies doch niemals „zureichender Grund“
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eines „fröhlichen Herzens“ und seiner „Glückseligkeit“ sein könnte.465 So wäre die spezifische Intentionalität jener „moralisch [!] konsequenten Denkungsart“ als einer „Willensbestimmung von besonderer Art“ und das ihm zugrunde liegende unbedingte (moralische) Vernunftbedürfnis noch gänzlich unterbestimmt; diesbezüglich bleibt es offenbar bei jener schon in der „zweiten Kritik“ maßgebenden – sehr genau zu nehmenden – Auskunft, dass gemäß einer unabweislichen Vernunftforderung (die nicht auf bloß epistemischen Einschränkungen beruht), „wir nur von einem moralisch-vollkommenen (heiligen und gütigen), zugleich auch allgewaltigen Willen das höchste Gut … hoffen können“, also an die „Übereinstimmung meines Willens mit dem [Willen] eines heiligen und gütigen Welturhebers“ gebunden sind (IV 261), die durch keinen Rekurs auf ein „höheres Geschick“ ersetzt bzw. abgelöst werden kann. Weil andernfalls die Preisgabe des Status der „moralischen Subjektivität“ (eben seines „persönlichen Werts“: V 610) und „personaler Identität“ unvermeidlich wäre, könnte das von Kant so bezeichnete „moralische Argument“ – wenigstens in einem präzisen Sinne – keinesfalls als ein diesem „persönlichen Wert“ des Menschen genügendes „argumentum kat’ anthropon“ (III 645)466 (das ihn „angeht“, weil es sein Selbstverständnis als „vernünftiges Weltwesen“ und somit den „moralischen Lauf der Dinge“ betrifft) gelten;467 vielmehr wäre derart das ethikotheologische Kernmotiv geradewegs noch verfehlt. Damit bliebe auch Kants späte These, dass der Mensch „ohne Religion des Lebens nicht froh werden könne“, unweigerlich einem „psychologisierenden“ Missverständnis bzw. dem Einwand eines bloßen „Vernünftelns“ ausgesetzt. 3.4.4. Eine zirkuläre Begründung der Idee des „höchsten Gutes“ und missverständliche Bestimmungen der „Glückseligkeit“ bei Kant Im Grunde bleibt freilich auch das von Kant (in dem Abschnitt „von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut“: IV 238 ff ) bezüglich der Möglichkeit des „höchsten Gutes“ angeführte Argument dem Verdacht ausgesetzt, wenigstens missverständlich bzw., genauer besehen, zirkulär zu sein. Der Umstand nämlich, dass 465 Auch dies scheint in Kants Rekurs auf ein „von allen zufälligen Ursachen der Welt unabhängiges vollständiges Wohl“ (IV 254, Anm.) ausdrücklich mitbedacht zu sein. 466 Diese späte Kennzeichnung als „argumentum kat’ anthropon“ besagt eben in besonderer Weise seine Verankerung in dem von Kant so bezeichneten „subjektiven Grund“ des „moralischen Glaubens“ und dem darin sich manifestierenden „moralischen Interesse des Subjekts“ (III 502). 467 Gerade auch im Blick auf den voranstehend diskutierten Status des „moralischen Arguments“ bleibt zu beachten, dass Kant noch in der späten Schrift über das „Ende aller Dinge“ ausdrücklich – und zwar aus vernünftig-„moralischen Gründen“! – auf die „Weisheit“ eines moralischen Welturhebers“ rekurriert: „Denn, man mag so schwergläubig sein wie man will, so muss man doch, wo es schlechterdings unmöglich ist, den Erfolg aus gewissen nach aller menschlichen Weisheit (die, wenn sie ihren Namen verdienen soll, lediglich auf das Moralische gehen muss [!]) genommenen Mitteln mit Gewissheit voraus zu sehn, eine Konkurrenz göttlicher Weisheit zum Laufe der Natur auf praktische Art glauben, wenn man seinen Endzweck nicht lieber gar aufgeben will“ (VI 186). Auch damit ist jene bloß „epistemische“ Rücksicht aus moralischen Vernunftgründen relativiert.
282 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre auch „im Urteile einer unparteiischen Vernunft“ der Begriff des „höchsten Gutes“ (als dasjenige eines „vernünftigen endlichen Wesens“) die Einbeziehung des Moments der „Glückseligkeit“ impliziert, besagt aus den genannten Gründen jedenfalls noch nichts bezüglich des „Daseins Gottes“ selbst und erlaubt auch keinesfalls die von Kant hier unterstellte Folgerung: „Denn [!] der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen“ (IV 238). In einer Analogie zu einer den Status des ontologischen Gottesbeweises betreffenden Argumentation – nämlich: wenn Gott existiert, so existiert er in der Tat notwendig als das „notwendig existierende Wesen“468 – wäre wohl lediglich zu sagen: Wenn Gott als „weiser Welturheber“ als existierend gedacht werden muss, dann gilt freilich jenes angeführte Argument, das sich dann ohnedies aus der bloßen „Analyse“ dieses Begriffs einer „moralischen Weisheit“ ergibt. Wenn Gott existiert und er als solcher auch als „Schöpfer“, d. h. als „freiwirkende, folglich verständige Ursache“ (V 576, Anm.) aus sich „herausgetreten“ ist (s. u. IV., 4.2.) und so mit der „Schöpfung“ selbst dieser auch einen „Endzweck“ setzt, dann wäre es tatsächlich inkonsequent, ja geradezu widersprüchlich, ihn als solchen zu denken, der, „aus sich herausgetreten“, um das Los seiner Geschöpfe unbekümmert bliebe. Dies liefe seiner „moralischen Weisheit“ geradewegs zuwider und unterböte auch das moralische Niveau jenes das „Weltbeste“ befördernden „Rechtschaffenen“ (woran freilich schon so manche Götter gestorben sind); dies bedeutet jedoch mitnichten, dass sich aus jenen kantischen Prämissen auch schon ein „Dass Gottes“ ableiten ließe.469 Es hat jedenfalls den Anschein, als ob Kant selbst hier jener schon genannten Zweideutigkeit des Terminus „objektive Realität“ zum Opfer fällt.470
468 Deshalb ist „das Dasein gar kein Prädikat oder Determination von irgend einem Dinge“, denn das Existenz-Prädikat ist „nicht sowohl ein Prädikat von dem Dinge selbst, als vielmehr von dem Gedanken, den man davon hat“ (I 630). Gleichwohl sprach Kant (in unübersehbarer Spannung dazu) auch von einer „durch die reine Kategorie“ allein gedachten „Existenz“ (II 535). 469 Auf diese zirkuläre Argumentation hat Albrecht (1978, 80 ff; 100 f; 139 ff ) ausführlich hingewiesen. – Genauer besehen variierte Kant Leibnizens Argumentation (in dem seine „Monadologie“ beschließenden § 90), die sich wiederum einer Reminiszenz an das platonische Motiv der Gottähnlichkeit verdankt, s. u. IV., 4.2.1.). Es scheint so zu sein: Kants Bezugnahme auf den „sich nach der Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen knüpft an dieses platonische Motiv des „Nachahmens“ Gottes insofern indirekt an, als er die „Betrachtung seiner Vollkommenheit“ durch die gebotene tätige Orientierung an der „fremden Glückseligkeit“ ersetzt. 470 Kant scheint hier in gewisser Weise selbst jenen Trugschluss zu begünstigen, den er in einer anderen Hinsicht vornehmlich auch gegen Wolffs Begründung der „absolute(n) Notwendigkeit des entis realissimi“ geltend gemacht hat; gegen Wolffs Erörterung der „absoluten Notwendigkeit“ am Beispiel des dreiwinkeligen Triangels betonte Kant: „dass ein Triangel drei Winkel habe, ist schlechthin notwendig. Aber diese absolute Notwendigkeit des Urteils ist nur eine bedingte Notwendigkeit der Sache oder des Prädikats im Urteil. Der beigebrachte Satz sagt nicht: dass drei Winkel schlechterdings notwendig seien, sondern unter der Bedingung, dass ein Triangel da ist (gegeben ist), sind auch drei Winkel mit ihm notwendigerweise da. Wenn ich das Prädikat in einem identischen Urteile aufhebe und behalte das Subjekt, so entspringt ein Widerspruch. Z. B. einen Triangel setzen, und doch die drei Winkel desselben aufheben, ist widersprechend. Daher sage ich: dieses Prädikat kommt dem Subjekt notwendigerweise zu. Hebe ich aber das Subjekt zusamt dem Prädikate auf, so entspringt kein Widerspruch“ (AA XXVIII, 1031f ). Wäre dies nicht in analogem Sinne gegen jene von Kant oben angeführte Argumentation zu wenden?
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Jedoch auch in Kants später Explikation der „moralischen Teleologie“ sind manche einschlägige Unausgeglichenheiten nicht zu übersehen. So betonte er ja ganz ausdrücklich: „Die subjektive Bedingung [!], unter welcher der Mensch (und nach allen unsern Begriffen auch jedes vernünftige endliche Wesen) sich, unter dem obigen [moralischen] Gesetze, einen Endzweck setzen kann, ist die Glückseligkeit. Folglich das höchste in der Welt mögliche, und, so viel an uns ist, als Endzweck zu befördernde Gut ist Glückseligkeit: unter der objektiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein“ (V 576 f ). Die daran anschließende Erläuterung des Anspruches dieses (missverständlicherweise so genannten) „moralischen Beweises“ rekurriert zunächst in schon vertrauter Weise auf die zu bewahrende Autonomie des moralischen Anspruchs für den Nicht-Gläubigen, um dies sodann an der Geistesart jenes in Spinoza verkörperten ungläubigen „Rechtschaffenen“ – ganz uneigennützig, von allem persönlichen „Vorteil … in dieser“ wie auch „in einer anderen Welt“ absehend, gleichwohl moralisch unbeirrbar – zu demonstrieren. Denn, so lautete Kants weitere Argumentation nunmehr: Nicht nur erfährt der doch „nur das Gute stiften“ wollende „rechtschaffene Mann“ solcherart stets neu die Begrenztheit seines eigenen moralischen Strebens; erst recht darf ihn, gemäß der Orientierung an der zu befördernden „allgemeinen Glückseligkeit“, das trostlose Geschick jener „Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft“, nicht unberührt lassen, die ungeachtet ihrer moralisch verankerten Weltstellung als „Endzweck der Schöpfung“ selbst unterschiedslos-gleichgültig „in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie“ zurückgeworfen werden (V 579 f ).471 Von diesem irritierenden Anblick des gerade auch all diese „Rechtschaffenen außer ihm“ treffenden traurigen Loses und den zahllosen „schreienden Beispielen“ wandte sich Kant wiederum ab, um aus solchem Widerfahrnis prinzipieller Trostlosigkeit hinsichtlich der behaupteten „eigene(n) innere(n) Zweckbestimmung“ (V 579) sodann die dem Anschein nach unabweisliche Konsequenz vor Augen zu führen: „Den Zweck also, den dieser Wohlgesinnte [das sind nun aber gerade nicht mehr jene „Rechtschaffenen außer ihm“ im Sinne der „allgemeinen Glückseligkeit“ als dem „Weltbesten“!] in Befolgung der moralischen Gesetze vor Augen hatte und haben sollte, müßte er allerdings, als unmöglich, aufgeben[472], oder will er auch hierin dem Rufe seiner sittlichen inneren Bestimmung [und nicht nur dem zwar allzu verständlichen selbstbezüglichen Wunsch!] 471 Hier nimmt Kant offenbar, nunmehr freilich in ethikotheologisch verwandelter bzw. zugeschärfter Gestalt, die nüchterne frühe Perspektive der „Allgemeinen Geschichte …“ auf, der zufolge auch die Menschheit dem den „unendlichen Ablauf der Ewigkeit“ durchziehenden ehernen Gesetz des Werdens und Vergehens unterliegt (vgl. I 339). In ethikotheologischem Kontext erscheint dieser Befund einer „Allgemeinen Naturgeschichte …“ freilich in neuem Licht und führt die ethikotheologische Perspektive unumgänglich auf Fragen einer „authentischen Theodizee“ (s. u. VI. Teil). 472 Eben darin ist begründet, dass dieser bewundernswerte hoffnungslose „Wohlgesinnte“ „ohne Religion seines Lebens nicht froh werden könnte“, d. h. dem „Dass eine solche Welt ist“ nicht zustimmen könnte. Das von ihm angeführte Beispiel Spinozas macht aber auch deutlich, dass Kant die von Tugendhat eingemahnte Möglichkeit, „die glaubt, ernsthaft leben zu können ohne jeden Bezug auf Höheres“, gewiss nicht bestritten hätte (vgl. Tugendhat 2007, 194). Gleichwohl war Kant der Ansicht, dass – im Blick auf die „conditio humana“ und im Sinne der „moralisch konsequenten Denkungsart“ – mit solcher „Ernsthaftigkeit“ noch weitere unabweisliche Fragen verbunden sind.
284 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre anhänglich bleiben und die Achtung, welche das sittliche Gesetz ihm unmittelbar zum Gehorchen einflößt, nicht durch die Nichtigkeit des einzigen ihrer hohen Forderung [!] angemessenen idealischen Endzwecks schwächen …, so muss er … das Dasein eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes, annehmen“ (V 580). Auch diese am „rechtschaffenen“ Spinoza exemplifizierte ethikotheologische Auffassung Kants – wonach auch der zwar aus spekulativen oder theodizee-gespeisten Gründen zum Atheismus „überredete“ Mensch sich mitnichten „von aller sittlichen Verbindlichkeit“ frei wissen, bzw. die „pflichtverehrende Gesinnung“ als bloß eingebildet abtun dürfe (V 578 f ) – wendet sich offenbar gegen die in der „Antinomie der praktischen Vernunft“ – wohlgemerkt: als die stoische Konzeption des „höchsten Gutes“ – vorgetragene Argumentation, wonach gelten soll: „Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muss auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein“ (IV 242 f ).473 Es ist unschwer zu erkennen: In der angeführten Argumentation des „moralischen Beweises“ der „dritten Kritik“ verschmelzen offensichtlich durchaus verschiedene Aspekte der Glückseligkeits-Idee und daran geknüpfte Hin- und Rücksichten auf eine Weise miteinander, die diesbezügliche Missverständnisse beinahe unvermeidlich macht: Fürs Erste (a) ist es offenbar der bloß „natürliche Zweck“ der (deshalb auch nicht zu gebietenden) „eigenen Glückseligkeit“ als „physisches Gut“ – d. i. der „in sie durch ihre Natur (als endlicher Wesen) gelegte unwiderstehliche Zweck, den die Vernunft nur dem moralischen Gesetze als unverletzlicher Bedingung unterworfen“ wissen will (V 578); sodann ist es (b) der moralisch begründete „praktische Endzweck“ (das „höchste Gut“: II 683; vgl. V 576 f ), während Kant des Weiteren (c) auf jenen sogenannten „Endzweck der Schöpfung“ rekurriert, der (d) mit dem auf den „praktischen Endzweck“ gerichteten Wollen „eines heiligen und gütigen Welturhebers“ zusammenstimmt und gleichermaßen dessen „objektive theoretische Realität“ sowie (e) den darin als „Idee“ gedachten „Endzweck aller Dinge“ als das „Ganze aller Zwecke“ gewährleistet. Dabei zeigt sich: Zwischen diesen Bestimmungen schwankt Kant mitunter in eigentümlicher Weise hin und her bzw. lässt diese Bestimmungen auch ineinander fließen,474 um sodann in einer unentscheidbaren Zweideutigkeit doch wiederum auf die Geistesart und das Geschick
473 M. Baum (2012, 95 ff ) macht deutlich, dass dies keinesfalls als ein Rückfall Kants anzusehen ist (wie in der Kantliteratur oftmals beklagt wird); vielmehr sei das hier angesprochene „moralische Gesetz“ als das „Moralgesetz der Stoa“ zu verstehen, dem allerdings Kant selbst in der „Kritik der reinen Vernunft“ mit seinem Rekurs auf das „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“ (II 709) durchaus noch nahegestanden sei. 474 Dies zeigt sich, was die „eigene Glückseligkeit“ betrifft, zunächst relativ eindeutig in diesem Bezug auf den in die Menschen als „Weltwesen“ „durch ihre Natur (als endlicher Wesen) gelegter unwiderstehlicher Zweck“; andererseits ist der Rekurs auf den „moralischen Welturheber“ in diesem Zusammenhang damit begründet, dass die von eigennütziger Fixiertheit ganz losgelöste Orientierung daran, „das Gute [zu] stiften“, allzu schonungslos – solcherart am gebotenen Endzweck Maß nehmend – solches „Bestreben“ als „begrenzt“ erfahren muss. In seinen späteren Schriften wollte er vermutlich in unterschiedlichen Akzentuierungen beiden Aspekten auf eine Weise Rechnung tragen, die im Sinne der „Willensbestimmung von besonderer Art“ weder auf eine „heroische Selbstverleugnung“ noch auf einen eudämonistischen Rückfall hinausläuft und dennoch die „Ordnung der Zwecke“ wahrt.
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jener „Rechtschaffenen“ zu rekurrieren – und zwar sowohl im Blick auf diejenigen, „die er außer sich noch antrifft“ (V 579), als auch auf sich selbst. Ebendies erfolgt wiederum im Verweis auf die „Idee des höchsten Weltbesten“ bzw. auf die Idee des „Endzwecks“ sowie in ausdrücklicher Bezugnahme auf den „Zweck …, den dieser Wohlgesinnte in Befolgung der moralischen Gesetze vor Augen hatte und haben sollte“ (nämlich „uneigennützig … nur das Gute [zu] stiften“). Die auffällige Verbindung dieser Rücksicht auf diejenigen, „die er außer sich noch antrifft“, mit jener in der späten „Tugendlehre“ ausdrücklich erweiterten Perspektive des „Ich bin ein Mensch. Alles, was Menschen widerfährt, das trifft auch mich“ (IV 598), hätte dann wohl noch weitere Differenzierungen erlaubt und auch nahegelegt – nicht zuletzt diejenige der Idee des „höchsten Gutes“ und des daran geknüpften Hoffnungsbegriffs; indes spielt dies darüber hinaus keine weitere Rolle mehr. Die allein von dem Zweck, das „Gute zu stiften“ (V 579), ausgehende Orientierung, die doch auf das zu befördernde „Weltbeste“ abzielen soll, dabei jedoch um den eigenen Vorteil noch ganz unbesorgt bleibt, wäre letztendlich als gescheitert, weil prinzipiell illusorisch bzw. vergeblich, zu verabschieden. Auch dies macht deutlich, dass für die auf das „höchsten Gut“ als „Endzweck“ abzielende Sinnperspektive durchaus das traurige Los jener „Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft“, im Vordergrund steht, deren „Zwecke“ er gemäß jener Forderung, „das Gute zu stiften“, doch befördern soll. Jedoch werden auch noch andere unbewältigte Schwierigkeiten bzw. Unklarheiten in Kants Denken erkennbar, die offenbar in der kantischen „Idee der moralischen Teleologie“ noch keine befriedigende Auflösung gefunden und ihn deshalb auch noch über die „dritte Kritik“ hinaus begleitet haben. So nimmt er in der langen und bemerkenswerten (obgleich häufig vernachlässigten) Anmerkung der Vorrede zur ersten Auflage der „Religionsschrift“ diese Endzweck-Thematik mit der gewiss eigentümlichen These auf: „Dass aber jedermann sich das höchste in der Welt mögliche Gut zum Endzwecke machen solle, ist ein synthetischer praktischer Satz apriori, und zwar ein objektivpraktischer durch die reine Vernunft aufgegebener, weil er ein Satz ist, der über den Begriff der Pflichten in der Welt hinausgeht, und eine Folge derselben (einen Effekt) hinzutut, der in den moralischen Gesetzen nicht enthalten ist, und daraus also analytisch nicht entwickelt werden kann“ (IV 654, Anm.). Auch hier knüpft Kant vorerst, ähnlich wie in dem erwähnten Bezug auf jenen „Rechtschaffenen“, an die – stoisch anmutende – moralisch unbeirrbare uneigennützige Geistesart derjenigen an, die von dem „Ausgang ihres moralischen Tuns und Lassens“ in dem Sinne abstrahieren vermögen, als es ihnen durchaus „genug“ ist, „dass sie ihre Pflicht tun; es mag nun auch mit dem irdischen Leben alles aus sein, und wohl gar selbst in diesem Glückseligkeit und Würdigkeit vielleicht niemals zusammentreffen“ (ebd.). Bemerkenswerterweise hat Kant hier jedoch unverkennbar eine andere Konsequenz als in jener zuvor (in der Erläuterung des „moralischen Gottesbeweises“)475 verfolgten 475 Diese freilich auf Kant selbst zurückgehende Bezeichnung ist zweifellos missverständlich bzw. irreführend, denn: „Kant ‚beweist‘ nicht eigentlich die Existenz Gottes, sondern expliziert deren Annahme als eine immanente Setzung des sich realisierenden praktischen Selbstbewusstseins, das um der geforderten
286 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Argumentation gezogen – nicht zuletzt mit der darin resultierenden Rücksicht auf die „eigene innere Zweckbestimmung“ (V 579), die offenbar doch nur den einen – und gewiss nicht unproblematischen Aspekt! – thematisiert, denn: „Nun ist’s aber eine von den unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines (vielleicht auch aller andern Weltwesen) praktischen Vernunftvermögens, sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus demselben umzusehen, um in diesem etwas aufzufinden, was zum Zweck für ihn dienen und auch die Reinigkeit der Absicht beweisen könnte, welcher in der Ausübung (nexu effectivo) zwar das letzte, in der Vorstellung aber und der Absicht (nexu finali) das erste ist. An diesem Zwecke nun, wenn er gleich durch die bloße Vernunft ihm vorgelegt wird, sucht der Mensch etwas, was er lieben kann; das Gesetz also, was ihm bloß Achtung einflößt, ob es zwar jenes als Bedürfnis nicht anerkennt, erweitert sich doch zum Behuf desselben zu Aufnehmung des moralischen Endzwecks der Vernunft unter seine Bestimmungsgründe, das ist, der Satz: mache das höchste in der Welt mögliche Gut zu deinem Endzweck: ist ein synthetischer Satz apriori, der durch das moralische Gesetz selber eingeführt wird, und wodurch gleichwohl die praktische Vernunft sich über das letztere erweitert, welches dadurch möglich ist, dass jenes auf die Natureigenschaft des Menschen, sich zu allen Handlungen noch außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen, bezogen wird“ (IV 654 f, Anm.). In eigentümlicher – eudämonistische Missverständnisse zweifellos begünstigender – Weise verbindet diese „anthropologische“ Argumentation die Suche des Menschen nach dem, „was er lieben kann“, mit dem Rekurs auf „unvermeidliche Einschränkungen des Menschen“ und scheint damit, wenigstens auf den ersten Blick, das Anspruchsniveau der voranstehend skizzierten Motivlagen erstaunlicherweise geradewegs zu unterbieten.476 Ein solcher – als unumgänglich beanspruchter – Zweckbezug, so möchte man einwenden, resultiert hingegen doch notwendigerweise daraus, dass sich für ein endliches Vernunftwesen diese Moralität, in den umfassenderen Horizont des „ganzen Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ eingebettet, erst als „Glückswürdigkeit“ erweist, und Hervorbringung des höchsten Guts willen sich dessen Ermöglichungsbedingungen, soweit sie die eigene Handlungskompetenz überschreiten, vergewissert“ (U. Barth 1994, 294). Eben hierfür erweist sich, als „zureichender Grund“, der Rekurs auf einen „theismus moralis“ als erforderlich und verweist so auf den von ihm der Religion zugeschriebenen Begründungsstatus. 476 Indes, Missverständnisse begünstigt diese lange Anmerkung aus der Vorrede der ersten Auflage der „Religionsschrift“ wohl in mehrfacher Hinsicht: Die Rücksicht auf den dem sinn-orientierten moralischen Handeln immanenten „Zweckbezug“ ist nicht etwa ein Zugeständnis an unabweisbare „Neigungen“ und auch nicht eine „unvermeidliche Einschränkung des Menschen und seines praktischen Vernunftvermögens“ (IV 654, Anm.). Ebensowenig ist die von Kant verständnisvoll eingeräumte Ausschau auf „etwas, was er lieben kann“ (IV 655), ein Zugeständnis an den „eudämonisch“ affizierten Menschen, sondern besagt vielmehr die sinn-orientierte Bejahung im Sinne eines nicht nur „Akzeptierens“, sondern der vernunft-orientierten Zustimmung eines „Gutheißens“ (s. u. IV., Anm. 481); nicht zuletzt suggeriert der Rekurs „auf die Natureigenschaft des Menschen, sich zu allen Handlungen … außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen“ (ebd.), einen Hinweis auf die Affizierbarkeit des Menschen durch „empirische Triebfedern“, während indessen diese „Natureigenschaft“ im Sinne einer (eben gerade nicht bloß zufälligen) „Wesensbestimmung“ zu verstehen ist (s. u. Anm. 480). Dann steht dies freilich wiederum in einer unübersehbaren Spannung zu jener Behauptung einer „unvermeidlichen Einschränkung des Menschen“.
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eben darin – schon über deren Bestimmung des „obersten Gutes“ (als dem „Vornehm sten“ in diesem „Endzweck“) – auch schon die unaufhebbare Differenz zum „vollendeten Gut“ als dem „ganzen Gegenstand der reinen praktischen Vernunft“ angezeigt ist. Es muss deshalb erneut als missverständlich erscheinen, wenn Kant diesbezüglich auf „unvermeidliche Einschränkungen des Menschen und seines (vielleicht auch aller andern Weltwesen) praktischen Vernunftvermögens“ rekurriert; von einem solchen – lediglich – anthropologisch gestützten „Zweck für ihn“, der diese verständnisvolle Rücksicht durch eine „unvermeidliche Einschränkung“ legitimieren könnte, war jedenfalls in jener im „moralischen Beweis“ bestimmenden Orientierung an dem gebotenen „Vernunftzweck“, „das Gute zu stiften“, noch gar nicht die Rede. Hinzu kommt, dass die der „Ordnung der Zwecke“ entsprechende buchstäbliche Rücksicht auf die „eigene Glückseligkeit“ auch nicht lediglich als „unvermeidliche Einschränkung des Menschen“ eingeräumt, sondern, in der rechten Begründungsordnung, als durchaus „moralisch notwendig“ begründet und für die „Idee eines Ganzen aller Zwecke“ auch als unverzichtbar geltend gemacht wurde, wenn dies doch zur Natur eines „endlichen Vernunftwesens“ selbst gehört. Es ist nicht zu übersehen, dass in dieser „Religionsschrift“ Kants auch noch andere wichtige – unausgewiesene – Verschiebungen zutage treten, die diesbezügliche Missverständnisse zweifellos begünstigen. So hat es den Anschein, dass schon seine Kennzeichnung der Idee des „höchsten Guts“, die als solche jenen „besondern Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (IV 651) des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ darstellt, doch in einer gewissen Spannung zu der soeben angeführten Bezugnahme auf „eine von den unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen“ steht; dies könnte jedenfalls auch so verstanden werden, dass dadurch der unverdächtige Sinn jener zitierten späten Bemerkung Kants, es sei „unmöglich, dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde“, offenbar wiederum in Frage gestellt wäre. Denn ein solcher lediglich „anthropologisch“ orientierter Rekurs auf eine „unvermeidliche Einschränkung des Menschen“ (IV 654, Anm.), fiele zweifellos hinter das in einschlägigen Begründungen maßgebende „durch die Sittlichkeit diktierte Vertrauen zum Gelingen dieser Absicht“ (III 638) zurück und würde somit jenes unabweisliche „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ und dessen unumgängliche „Beziehung auf den Endzweck“ unversehens auf ein bloß „anthropologisches Faktum“ zurückstufen. Dies hätte zur Folge, dass dadurch in der Tat „dieses Faktum bei der Erklärung der verschiedenen Weisen des Vernunftgebrauchs in ihrer Beziehung aufeinander keine Schlüsselfunktion mehr erhalten“ könnte.477 Kants Argumentation liefe dann freilich unweigerlich Gefahr, den für seine Begründung der Hoffnungsthematik zentralen Gedanken wiederum preiszugeben (oder ihn doch wenigstens 477 Henrich 2004, II 1537. Zu Recht merkt Henrich an, dass Kant diese ihn offenbar selbst nicht zufriedenstellende „anthropologische“ Argumentation schon in dem ungefähr zeitgleich erschienenen „Gemeinspruch“-Aufsatz gemäß der „Ordnung der Zwecke“ korrigiert hat. Jenem dürftigen Rekurs auf „unvermeidliche Einschränkungen“ widerspricht jedenfalls auch schon die hier vorgenommene Bestimmung des „höchsten Gutes“ als die „im Weltganzen mit der reinsten Sittlichkeit auch verbundene, allgemeine, jener gemäße, Glückseligkeit“ (VI 132); gleichwohl lassen die Ausführungen im „Gemeinspruch“-Aufsatz weitere Akzentuierungen zu (s. u. IV., 4.2.), die jedoch in eine andere Richtung weisen und auch bedeutsame religionsphilosophische Aspekte eröffnen.
288 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre zu relativieren), dass das auf jenes „ganze Objekt der praktischen Vernunft“ gerichtete Vernunftinteresse des „vernünftigen Weltwesens“ Mensch – ungeachtet der nicht zu relativierenden Vorrangstellung der Glückswürdigkeit als des „obersten Gutes“ – nichtsdestoweniger aufs Ganze gesehen sinnlos, weil letztlich doch ohne Bewandtnis, bleiben müsste; markiert nicht genau dies gewissermaßen das eigentliche „Paradoxon“ der praktischen Vernunft und ihrer unvermeidlichen „Fiktionen“? Die zunächst maßgebende Orientierung an dem „gebotenen Zweck“, „das Gute [zu] stiften“, und die damit einhergehende Erfahrung der Begrenztheit dieses Strebens besagt jedoch etwas prinzipiell anderes als der (in der Vorrede der „Religionsschrift“) bestimmende Rekurs auf den quasi-anthropologischen Sachverhalt der zu berücksichtigenden „unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen in Ansehung seiner Natur“, sich als endliches Wesen „nach einem Zweck umsehen zu müssen“. Eine solche begründungstheoretische Diskrepanz, die in dem nunmehrigen Rekurs auf die „Natureigenschaft des Menschen, sich zu allen Handlungen noch außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen“, könnte freilich auch keine „transzendentale Begründung“ mehr erlauben. Während der Ausgang von dem „Endzwecke vernünftiger Weltwesen“ in dem „moralischen Beweis“ der „dritten Kritik“ auf die Begründung des „Daseins eines moralischen Welturhebers“ (V 580) als die Bedingung der Möglichkeit dieses „Endzwecks der Schöpfung“ abzielt, erlaubt der in der Anmerkung der „Religionsschrift“ maßgebliche Rekurs auf die „eigene Glückseligkeit“ als den „subjektive(n) Endzweck vernünftiger Weltwesen“ (IV 653, Anm.) Letzteres hingegen gerade nicht.478 Folglich ist jener endzweck-geleitete Begründungsanspruch des „moralischen Beweises“ der „dritten Kritik“ auch nicht mit dem lediglich anthropologisch abgestützten Rekurs auf „ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher“ (IV 655, Anm.) in der Vorrede zur „Religionsschrift“ gleichzusetzen, der, für sich genommen, aufgrund seiner psychologisierend-anthropologischen Irrelevanz gerade nicht den beanspruchten Nachweis zu erbringen vermag, dass „die Moral … unausbleiblich zur Religion“ führt (ebd.).479 Stützt sich der hier unternommene Rekurs auf „ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher“ nicht lediglich auf den bedauerlichen Umstand, dass eine unü478 Eigens sei hier nochmals darauf hingewiesen: Es ist eine offenkundige Äquivokation in der Kennzeichnung des „subjektiven Endzwecks“, die sodann auch eine irreführende Argumentation bezüglich der Fundierung und Bestimmung der Gottesthematik zur Folge hat: Die Bestimmung des „Begriffs von dem Endzwecke vernünftiger Weltwesen“, der in der ethikotheologischen Argumentation der „dritten Kritik“ maßgebend ist und sich dort an der teleologischen Idee des „Weltbesten“ bemisst (vgl. V 580 f ), ist unterschieden von dem „subjektiven Endzweck vernünftiger Weltwesen (den jedes derselben vermöge seiner von sinnlichen Gegenständen abhängigen Natur hat …)“ (IV 653, Anm.). Seinen Status als „gesollt“ verdankt dieser „Endzweck“ hier freilich dem verbindlichkeits-irrelevanten Umstand, dass er sich auf „unvermeidliche Einschränkungen des Menschen“, also auf dessen „Natureigenschaft“ bezieht – eine Argumentation, die für sich genommen jedoch auch die Verankerung in dem „praktisch notwendigen Zweck des reinen Vernunftwillens, der hier nicht wählt, sondern einem unnachlasslichen Vernunftgebote gehorcht“ (IV 277), unterläuft; deren Anspruch bezieht sich hier, wohlgemerkt, auf ein „Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Absicht“. 479 In unterschiedlichen Nuancen haben schon Fichte, Schelling und Hegel die diesbezüglichen Begründungsdefizite kritisiert, wobei für diese Kritik wohl in besonderer Weise die genannte Argumentation der „Religionsschrift“ Anhaltspunkte liefert.
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berwindliche Gemütsschwäche den Menschen von der Fixiertheit auf die „eigene Glückseligkeit“ nicht loskommen lässt und hierfür Gott als ersehnter Garant eben „unumgänglich“ ist? In der Tat wäre dies wohl eher die verzweifelte Ausschau nach bzw. Zuflucht zu jenem „Diener der Begier“ als das in einem „praktischen Vernunftbedürfnis“ verankerte Postulat eines „allvermögenden moralischen Wesens als Weltherrscher“; sie wäre jedenfalls nicht mehr in jenem unstillbaren „Vernunftbedürfnis“ verwurzelt – gespeist aus der bedrängenden Erfahrung der prinzipiellen Unverfügbarkeit der nach der Idee der „moralischen Welt“ bemessenen Bestimmung des „höchsten Gutes“ als des „Endzwecks vernünftiger Weltwesen“. Jene Rücksicht darauf, dass ungeachtet der „strengsten Beobachtung der moralischen Gesetze“ dennoch „das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken“ (IV 655, Anm.), wäre so offenbar nicht mehr die Sinnintention des an dem „allgemeinen höchsten Zweck“ orientierten „vernünftigen Weltwesens“; sie hätte wohl eher stillschweigend einer lediglich selbstbesorgten Orientierung Platz gemacht, und auch von einer bloß mitenthaltenen „eigenen Glückseligkeit“ könnte so wohl nicht die Rede sein. Gleichwohl erlaubt diese – von den „unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen“ losgelöste – über die „Achtung des moralischen Gesetzes“ hinausweisende Suche nach „etwas, was er lieben kann“ bzw. der Rekurs auf die „Natureigenschaft des Menschen“ auch eine solche Lesart, die – jenseits bloßer Fixiertheit auf „eigene Glückseligkeit“ – den schon genannten sinn-affirmativen Perspektiven recht genau entspricht. Demnach zielte diese Orientierung an dem, was der Mensch „lieben kann“, bzw. jener Rekurs auf die „Natureigenschaft480 des Menschen“ (nämlich als eines „vernünftigen, aber endlichen Wesens“!) doch eher auf ein zustimmungs-orientiertes „Gutheißen“-, Loben-, BejahenKönnen481; eine solche Sinn-Affirmation passt so auch recht genau zu der kurz davor an480 Den Terminus „Natureigenschaft“ verwendete Kant wiederholt im Sinne von „Attribut“ („Wesensbestimmung“); so wurden von ihm auch „Allwissenheit, Allmacht, Allgegenwart“ als göttliche „Natureigenschaften“ bezeichnet (V 614). Die „Natureigenschaft des Menschen, sich zu allen Handlungen … außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen“ (IV 655, Anm.), wäre dann nichts anderes als eine Kennzeichnung des „vernünftigen, aber endlichen Wesens“, das als solches notwendig in sinnorientierten Bezügen sein Leben führen muss; Kants Lehre von der gebotenen „Beförderung des höchsten Gutes“ wäre deshalb auch von daher aufzunehmen. – Es darf auch nicht übersehen werden, dass Kant mit dieser „Natureigenschaft“ sowohl das Charakteristische der „Menschheit“ als das „Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen“ (IV 522) wie auch den „Zweck“ der „eigenen Glückseligkeit“ bezeichnet. 481 In dem so verstandenen Bezug Kants auf „etwas, was er lieben kann“, würde sich so gesehen die indogermanische Wurzel des „Liebens“, d. i. „leubh“, widerspiegeln; auch dies weist freilich über einen gesuchten „Gegenstand einer Zuneigung“ hinaus und zielt auf einen seiner Wesensbestimmung („Natureigenschaft“) als „vernünftiges, aber endliches Wesen“ angemessenen (d. h. allein so „zufrieden“ stellenden) Gehalt unter dem leitenden Gesichtspunkt der Idee des „Ganzen aller Zwecke“. Nur im Blick darauf ist sodann auch dem kantischen Hinweis entsprochen, dass „die Vernunft, die ihre höchste praktische Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt, bei Erreichung dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, nämlich aus der Erfüllung eines Zwecks, den wiederum nur Vernunft [!] bestimmt, fähig ist“ (IV 22). Allein darin ist die spätere Auszeichnung dieses „praktischen Endzwecks“ als „unwiderstehlich“ (V 578) – d. h. als ein solcher, den der „Wohlgesinnte … haben sollte“ (V 580) – begründet.
290 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre gesprochenen Bezugnahme darauf, dass jener „Rechtschaffene“ (als existierender „Endzweck der Schöpfung“) über die Verehrung und Befolgung des „moralischen Gesetzes“ hinaus auch noch will, „dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (IV 652). In einer solchen Hinsicht ist die motivliche Nähe zu jener schon angeführten späten Notiz Kants, es sei unmöglich, „dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde“ (s. o. IV., 3.3.), wohl nicht zu übersehen. Jedenfalls könnte die von Kant eingeräumte Orientierung an dem, was der Mensch an diesem Zweck „lieben kann“, solcherart den anstößigen Verdacht eines Rückfalls in Heteronomie vermeiden und durchaus einen guten Sinn gewinnen: Im Sinne jener kantischen These, dass der Mensch „ohne Religion des Lebens nicht froh werden könne“, besagt solche Rücksicht dennoch eine über bloße Daseinsakzeptanz hinausgehende „Gutheißung“, die jene in ethikotheologischem Kontext angezeigte „Endzweck“-Perspektive eines „Sinns aus sich selber“ dergestalt in diese „Erste-Person-Perspektive“ der „Existenz“ umwendet und so auch dieser „Willensbestimmung von besonderer Art“ entspricht. Vor diesem Hintergrund bleibt bezüglich dieser Argumentation der „Religionsschrift“ auch genau darauf zu achten, dass die darin vollzogene Rückwendung auf die „eigene Glückseligkeit“ folglich nicht so sehr als eine „unvermeidliche Einschränkung des Menschen und seines … praktischen Vernunftvermögens“ (als „etwas, was er [in diesem Sinne] lieben kann“) (IV 654 f, Anm.) anzusehen ist; sie ist somit auch nicht lediglich moralisch legitimiert, sondern folgt vielmehr selbst insofern einer durchaus moralischen Intention, als doch der Bezug darauf allein mit der Idee der „moralischen Welt“ und dem „gesollten Endzweck“ konvergiert und, infolge ihrer „Zurückwirkung auf die subjektiven Prinzipien der Moralität und deren Bestärkung“ (III 637), auch in solcher Hinsicht der „moralischen Bestimmung des Menschen“ angemessen ist. Schon zufolge jenem „Glauben an die Tugend“ als dem „Prinzip in uns“ und gemäß der Vernunft als dem „Vermögen der Zwecke“ sowie der gebotenen praktischen Orientierung am „Weltbesten“ kann es, so hat sich erwiesen, auch in dieser vorrangigen Hinsicht „unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserem Rechthandeln herauskomme und worauf wir … als auf einen Zweck unser Tun und Lassen richten können“ (IV 651).482 Wenig später betonte Kant freilich selbst ausdrücklich, dass es der 482 In diesem Sinne ist es tatsächlich (auch hinsichtlich der allerdings problematischen Kantrezeption Forbergs und Fichtes) eine „gute Formulierung für diese epistemischen Konsequenzen dieser Situation …, wenn gesagt wird, das moralische Subjekt handle und müsse handeln im Wissen davon, dass sein Handeln so zu geschehen hat, als ob eine moralische Weltordnung wirklich sei“ (so Henrich [2004 II, 1511] in Verweis auf Kant: III 387, Anm.) – d. h. dass „jene Voraussetzung von ihm [dem sittlichen Bewusstsein] gemacht wird und gemacht werden muss, um sich als sittliches Bewusstsein zu erhalten“ (ebd. II, 1514). Indes, in dieser von Henrich angeführten Anmerkung (aus dem späten Aufsatz über den „vornehmen Ton in der Philosophie“) rekurriert Kant, unmittelbar anschließend, zur Fundierung des „Endzwecks aller Dinge“ auf die damit „zugleich gedacht(e)“ „Voraussetzung eines gesetzgebenden Willens, der alle Gewalt enthält (des göttlichen) und bedarf es nicht, besonders aufgedrungen zu werden“. Auch dies scheint dem Befund Henrichs zu widersprechen, wonach „die Kontinuität im Übergang von der Idee des Urwesens zum Glauben an den persönlichen Gott in Kants zweiter Moraltheologie aufgelöst worden ist“ (Henrich 2004 II, 1498).
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„Moral nicht gleichgültig sein“ könne, „ob sie [!] sich den Begriff von einem Endzweck aller Dinge … mache, oder nicht; weil dadurch allein der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können, objektiv praktische Realität verschafft werden kann“ (IV 651). Auch dies ist nicht zu übersehen: Schon jene durch die unauflösliche Verbindung der „Einschränkung des theoretischen und der Erweiterung des praktischen Vernunftgebrauchs“ konstituierte „zweckmäßige Vernunftgebrauch“ muss jenen bloß „anthropologischen“ Rekurs auf eine solche angebliche „unvermeidliche Einschränkung der menschlichen Vernunft“ und „Natureigenschaften“ verbieten, zumal dies unweigerlich hinter jene „praktische Erweiterung der Vernunft“ und deren „Anthroponomie“ zurückfiele. Mit jener „psychologisierenden“ Argumentation – könnte so denn tatsächlich noch rechtens von einem „Vernunftbedürfnis“, von einem durch „praktische Vernunft“ vorgeschriebenen „Endzweck“ (V 578) die Rede sein? – wollte bzw. konnte sich Kant selbst offensichtlich zuletzt nicht begnügen, wäre dies doch mit dem beanspruchten Aufweis der Religion als einer „reinen Vernunftsache“ vollends unverträglich. Vermutlich sah er sich – auch durch zeitgenössische kritische Einwände möglicherweise inspiriert und nicht zuletzt durch „einige Einwürfe“ Garves darin noch bestärkt (vgl. VI 130 ff ) – dazu veranlasst, diese der Begründung des „Vernunftbedürfnisses“ sowie der noch näher zu differenzierenden Bestimmung des „Endzwecks“ gewidmeten Problemzusammenhänge in seinen späteren Schriften noch einmal zu präzisieren. Derart wurde offenkundig jene in der „Natureigenschaft“ bzw. in der „unvermeidlichen Einschränkung“ verankerte Rücksicht auf „den zum Zweck für ihn“ dienenden „Endzweck“ nunmehr durch den Aufweis eines „Zwecks an sich selbst“ korrigiert, weil doch nur dies mit der „Totalität des Gegenstandes der reinen Vernunft“ (als einem „Vermögen der Zwecke“) „zusammenstimmt“ und jeden bloß psychologisierenden Kurzschluss überwindet. Dahin weisen jedenfalls diese thematisch einschlägigen weiterführenden Ausführungen Kants im „Gemeinspruch“-Aufsatz, in denen sich wohl ein auch von ihm selbst empfundener Klärungsbedarf widerspiegelt. In dem im „Gemeinspruch“-Aufsatz vorgenommenen Rekurs auf eine „Willensbestimmung von besonderer Art“, die sich an der Idee des „Ganzen aller Zwecke“ orientiert, ist denn von einer „unvermeidlichen Einschränkung“ des Menschen „und seines praktischen Vernunftvermögens“ auch nicht mehr die Rede. Ebenso korrigiert jener schon erwähnte späte Hinweis, dass die „Hoffnung“ eben nicht lediglich auf ein „künftiges“ Leben abzielt, sondern auf „ein durch Vernunft (im Gefolge des moralischen Imperativs) notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“ (III 412), eine andernfalls drohende „anthropologische Schwundstufe“ solcher Hoffnung. Die im „Gemeinspruch“-Aufsatz wiederholte (offenbar gegen zeitgenössische Einwände gerichtete) Argumentation wehrt ebenso das Missverständnis ab, dass die Rücksicht auf die „proportionierte“ Zusammenstimmung zwischen der „Glückseligkeit“ und der „Würdigkeit des Subjekts, welches es auch sei“ (VI 133, Anm.), dem Eudämonismus-Vorwurf ausgesetzt ist. Solcherart wäre das vernunft-orientierte Anspruchsniveau jener kantischen These geradewegs unterboten, der zufolge der Mensch „ohne Religion seines Lebens nicht froh werden“ könne. Die darin ausgesprochene Möglichkeit der Bejahbarkeit, also eines zu-
292 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre stimmenden Einverständnisses dazu, „dass eine Welt sei“, zielt offenbar auf eine „Affirmation“, eine „Gutheißung“, die der gesuchten Orientierung daran, „was er lieben kann“, erst einen unverdächtigen Sinn verleiht und auch in der Bestimmung des „höchsten Guts“ als „Endzweck“ gebührend berücksichtigt werden muss, zumal darin ein besonderer – zwar moralisch verankerter, aber doch moral-transzendierender – Sinnaspekt zur Geltung kommt, den wohl auch sein Hinweis auf die „Gütigkeit“, „die doch der Gerechtigkeit nicht Abbruch tut“ (IV 807, Anm.), in auffällig behutsamer Weise sichtbar macht. Kant hat dies, obgleich eher indirekt, in recht unterschiedlichen Akzentuierungen zur Geltung gebracht – von jenem frühen „Heil uns, wir sind!“ (I 594) bis hin zu den sehr späten („viel zu denken gebenden“) Bezügen auf das „einem religiösen Gefühl Ähnliche“ in der „Bewunderung der Schönheit“ und der „Zweckmäßigkeit der Natur“ sowie auf das in solchen Erfahrungen sich bekundende „Interesse“. In ähnlicher Weise wird dies auch in dem Hinweis auf die („Vernunft, Herz und Gewissen“ umgreifende) „Gemütsstimmung“ der empfundenen „Dankbarkeit“ „in einem ruhigen heitern Genusse seines Daseins“ (V 571) thematisch;483 anders akzentuiert wiederum in seinem vermutlichen Rekurs auf das biblische Motiv, dem zufolge den Menschen „die Güte Gottes gleichsam ins Dasein gerufen, d. i. zu einer besondern Art zu existieren (zum Gliede des Himmelreichs) eingeladen hat“ (IV 810) – ein Motiv übrigens, das sich mit jener „der Gerechtigkeit nicht Abbruch“ tuenden „Gütigkeit“ in denkwürdiger Weise verbindet. Dieser in der „Religionsschrift“ (im Kontext des gemäß dem „reflektierenden Glauben“ [s. u. V., 3.] sehr behutsam erörterten „Geheimnisses der Genugtuung“: IV 810) vorgenommene Bezug auf die „ins Dasein rufende“ „Güte Gottes“ steht wiederum in unübersehbarer thematischer Nähe zu dem zuletzt die Frage nach dem „Zweck der Schöpfung“ berührenden Verweis auf die „nur Liebe zum Grunde haben“ könnende „Absicht des Urhebers einer Weltschöpfung“ (IV 632), das heißt, dass dieser „göttliche Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts … nicht anders (zu) denken“ sei, „als nur aus Liebe, d. i. dass er die Glückseligkeit der Menschen sei“ (IV 630) – ein Motiv, das offensichtlich wiederum jener Vorstellung des „sich nach der Analogie mit der Gottheit denkenden Menschen“ zugrunde liegt (VI 133, Anm.). All diese Aspekte variieren offenbar jenes sinn-affirmative – „gut-heißende“ – „Dass-eine-Welt-sei“, das zwar die Moralität zur unumgänglichen Voraussetzung hat (weil ohne diese gar kein „Endzweck der Schöpfung“ gedacht werden kann) und doch über sie hinausweist. Desgleichen fungiert diese in der Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ selbst mitenthaltene Sinnaffirmation gewissermaßen als Hintergrund, vor dem das sich in dem „[E]s müsse anders zugehen“ (V 587) manifestierende „Bewusstsein von dem, was fehlt“ und das „Widerfahrnis“ des 483 Vgl. dazu die diesbezüglich interessante Notiz in der „Allgemeinen Anmerkung zur Teleologie“: „Die Bewunderung der Schönheit sowohl, als die Rührung durch die so mannigfaltigen Zwecke der Natur, welche ein nachdenkendes Gemüt, noch vor einer klaren Vorstellung eines vernünftigen Urhebers der Welt, zu fühlen im Stande ist, haben etwas einem religiösen Gefühl Ähnliches an sich. Sie scheinen daher zuerst durch eine der moralischen analoge Beurteilungsart derselben auf das moralische Gefühl (der Dankbarkeit und der Verehrung gegen die uns unbekannte Ursache) und also durch Erregung moralischer Ideen auf das Gemüt zu wirken, wenn sie diejenige Bewunderung einflößen, die mit weit mehrerem Interesse verbunden ist, als bloße theoretische Betrachtung wirken kann“ (V 615 f, Anm.).
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schlechthin Zweckwidrigen und radikaler Sinnlosigkeit auch erst sein besonderes Gewicht erhält. Ausblickend auf nachfolgende Überlegungen bleibt die noch beim späten Kant beibehaltene Folge der vernunftkritischen Begründungsschritte beachtenswert: Jener der spekulativen Vernunft immanente „transzendentale Begriff von Gott“ als dem „allerrealsten Wesen kann in der Philosophie nicht umgangen werden, so abstrakt er auch ist“ (III 389, Anm.); allein in der „Idee der Freiheit“, deren Wirklichkeit sich in dem bzw. durch das „moralische Gesetz“ „kundtut“, d. h. darin „offenbar“ wird, ist „Idee und Realität“ unauflöslich vereint – weshalb erst auf diese Weise „Theologie und Moral“ als die beiden „Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen“ (II 709) gelten dürfen; das „Dasein Gottes“ ist hingegen eine über praktische Vernunftansprüche zwar vermittelte und auch „postulatorisch“ legitimierte „abgenötigte Voraussetzung“, die derart überdies einen „genau bestimmten Begriff dieses Urwesens“ (IV 273) eröffnet, wodurch aus solcher Hinsicht erst „Gott ein Gegenstand der Religion“ wird (IV 263 Anm.). Es ist diese Begründungsfigur, die nunmehr, in Einbeziehung anderer kantischer Motivlinien, noch eine wesentliche Erweiterung nicht nur erlaubt, sondern diese, in Wahrung „ein und derselben Vernunft“, sogar unumgänglich macht.
4. Eine durch die späte Tugendlehre eröffnete Vertiefung religionsphilosophischer Perspektiven
4.1. Die gemäß dem Anspruch des „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“, vorgenommene Bestimmung des „obersten Guts“. Die entsprechend zu modifizierende These, dass „Moral unumgänglich zur Religion führt“ Schon im ersten Teil (s. o. I., 4.) wurde der Nachweis versucht, dass das von der „Realität“ lediglich am entferntesten scheinende (II 512 f ) „Ideal der Vernunft“ doch erst in den (in der Einleitung zur Tugendlehre explizierten) „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, d. i. in der Beförderung der „eigenen Vollkommenheit“ und der „fremden Glückseligkeit“, sein endgültiges Richtmaß gefunden hat, dies aber auch erst dem moralischen Maßstab des „Weltbesten“ genügt. Ist mit dem gemäß dem „Imperativ, der die Tugendpflicht gebietet“, bestimmten Status über alle „liberalisierte Denkungsart“ hinaus eine „revolutionierte Denkungsart“ ins Blickfeld getreten und damit dem praktischen „Vernunftideal“ ein neues Maß „moralischer Vollkommenheit“ als verbindlich vorgestellt, so ist diese „ganze Pflicht und die Erreichung der Vollständigkeit des moralischen Zwecks“ nunmehr allein in Rücksicht darauf auszuweisen. Sie nötigt in der Folge dazu, demgemäß auch Kants These über jene die beiden anderen „Ideen bei sich führende“ Idee der Freiheit (III 411) zu modifizieren. Erst dies vermag offensichtlich der kantischen Lesart des biblischen Motivs zu genügen, das allein über dieses Anspruchsniveau der „Tugendpflichten“ bestimmt werden kann: „Das Reich Gottes kommt nicht in sichtbarer Gestalt. Man wird auch nicht sagen: siehe hier, oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch! (Luc. 17,21 bis 22)“ (IV 802 f ).484 484 Dazu sei dies angemerkt: Kant folgt (auch) hier der Luther-Bibel; M. Theunissen hat gegenüber dieser Übersetzung Luthers geltend gemacht, dieses Bibelwort laute „in anderer, heute fast allgemein anerkannter Übersetzung: ‚das Reich Gottes ist mitten unter euch‘. Es ist zwischen den Menschen, die zu ihm berufen sind, als gegenwärtige Zukunft. Vermutlich ist die Wirklichkeit, als die sich der Dialogik das Zwischen in theologischer Sicht zeigt, die Seite am Reich Gottes, deren Philosophie überhaupt ansichtig werden kann: die Seite nicht der ‚Gnade‘, sondern des ‚Willens‘. Der Wille zum dialogischen Selbstwerden gehört zum Trachten‘ nach dem Reich Gottes, das in der gegenwärtigen Liebe der Menschen zueinander seine Zukunft verheißt.“ Theunissen zitiert F. Ebner: „Das Reich der Liebe ist auch das Reich Gottes. Und das, hat Jesus gesagt, ist inwendig im Menschen. Einige wollen nun das entos hymon des Urtextes im Deutschen als ‚mitten unter euch‘ übersetzt und verstanden wissen. Ganz mit Recht. Denn das Reich Gottes ist nicht im Menschen in der inneren Einsamkeit seiner Existenz, in der Einsamkeit seines Ichs, sondern darin, dass sich das Wort seiner Existenz, in der Einsamkeit seines Ichs, im Wort und in der Tat der Liebe dem Du erschlossen hat – und dann ist es auch ‚mitten unter uns‘ als die Gemeinschaft unseres geistigen Lebens‘“ (Theunissen 1965, 506 f.). Wer darin eine implizite Kritik (auch) an Kant erkennen will, sollte jedenfalls auch dies bedenken: Nicht nur ist in diesem Kontext auch die Erinnerung an Kants Verweis auf die Verbun-
4. Kants späte „Tugendlehre“ – religionsphilosophische Perspektiven
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Dem entspricht, dass der spätere Kant die zunächst angeführte Idee des „göttlichen Menschen in uns“ (II 513) – im Sinne der „personifizierten Idee des guten Prinzips“ – nunmehr, gemäß dem „Ideal der moralischen Vollkommenheit“, zur Idee des „göttlich gesinnten Menschen, als Urbild für uns“485, erhebt und dies sodann ausdrücklich mit dem biblischen Nachfolge-Motiv verbindet, d. i. zuletzt mit der „Erduldung von Leiden“ in der „Beförderung des Weltbesten“ (IV 713).486 Erst in diesem „Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit“ hat somit jenes „von der Realität“ am weitesten entfernt scheinende „Ideal der Vernunft“ auch seine konkrete Darstellung und im „praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes“ seine praktische Wirklichkeit gefunden,487 die sich dabei notwendig an den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, orientiert. Es ist diese so verstandene Idee des „Sohnes Gottes“, die für den „intelligiblen Charakter“ das Maß darstellt und so im „empirischen Charakter“ der daraus Handelnden „zur Erscheinung“ gelangt. Es ist nicht zu übersehen und wird noch weiter zu verfolgen sein: Solche Verknüpfung des von der „Realität am „weitesten entfernt scheinenden“ „Ideals“ mit dieser späten „leidens“-geprägten Idee des „göttlich gesinnten Menschen“ wirft auf Kants frühe These, dass „Gott die Glückseligkeit der Menschen, durch Menschen will“, ein besonderes Licht und eröffnet darüber hinaus gleichermaßen entscheidende – und auch unvermeidliche – Perspektiven einer „Anthropodizee“ (s. u. VI., 2.). denheit der Geschwisterlichkeit „unter einem allgemeinen Vater, der aller Glückseligkeit will“ (IV 612 f ) von Interesse; vor allem bleibt im Blick auf das „Übersinnliche in uns“ doch dies zu bedenken, dass jene eigentümliche kantische Unterscheidung und Einheit von „causa“ und „objectum obligationis“ (Refl. 6953, in: AA XIX, 212 f ) dieses geltend gemachte „Mitten unter euch“ geradezu konstituiert und folglich auch für die kantische Bestimmung der „Reich Gottes“-Idee bestimmend ist. 485 Auch im Blick auf die bei Kant so zentrale Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“ liegt die Vermutung nahe, dass die kantische Version dieses Sonnengleichnisses (nicht zuletzt das „Reflex-Motiv“) sich einer Erinnerung an das biblische Motiv des Christus als „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15) verdanken könnte – ein Motiv, das der späte Fichte aufnimmt? 486 Dies besagt freilich noch mehr als die im Kontext der Bestimmung der „fremden Glückseligkeit als Zweck, der zugleich Pflicht ist“ (IV 524), geäußerte Auffassung: „Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) anderer ihre zu befördern, würde an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte.“ Hier hat Kant offenbar durchaus eine überschießende Sinnintention vor Augen, die auch über den praktischen Anspruch der „Tugendpflichten“ noch hinausweist. 487 Auch auf das paulinische „Ich lebe, aber nicht mehr ‚Ich‘ – in mir lebt Christus“ (Gal 2,20), zielt vermutlich der „übersetzende“ Rekurs Kants auf den „Gott wohlgefälligen Menschen in uns“, der freilich nun im Sinne des „praktischen Ideals der Vernunft“ bestimmt wird. Ungeachtet des vielfach (und wohl auch teilweise zu Recht) kritisierten „moralischen Reduktionismus“ der kantischen Christologie enthalten diese Motive der „Religionsschrift“ noch unerschöpfte Anknüpfungspunkte. – Indes, auf eine (ungeachtet der damit verbundenen Probleme) bemerkenswerte Analogie ist hier noch hinzuweisen: In geschichtsphilosophischem Kontext rekurrierte Kant auf eine „Erfahrung im Menschengeschlechte …, die, als Begebenheit, auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweiset, Ursache von demselben zum Besseren, und … Urheber desselben zu sein“ (VI 356); der Aufweis einer solchen „Begebenheit“ soll den Verdacht zunichte machen, dass die praktische „Idee“ der „größten menschlichen Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“ lediglich ein bloßes Trugbild von „erträumter Vollkommenheit“ sei. Im Kontext seiner Ausführungen zur „personifizierten Idee des guten Prinzips“ betonte Kant, dass „auch eine Erfahrung möglich [!] sein“ müsse, in der das Beispiel von einem solchen [der Idee „des Gott moralisch wohlgefälligen Menschen“ gemäßen] Menschen gegeben werde“ (IV 715), weil andernfalls das „Urbild der Tugend“ ihm zufolge wohl einem ähnlichen (gleichwohl haltlosen) Vorwurf ausgesetzt bliebe.
296 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Die von Kant auch als „System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft“ (IV 510) bestimmte Ethik steht freilich in engem Zusammenhang mit jenem „Weltbegriff der Philosophie“, den er, wie erwähnt, ausdrücklich auch als „Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft“ charakterisiert hat (III 446). Die diesem „Weltbegriff der Philosophie“ aufgegebene Entfaltung der „höchsten Zwecke des Menschen“ – sodann eigentliches Kernthema der kantischen Konzeption einer „Ethikotheologie“ – setzt somit dieses in der Ethik entwickelte „System der Zwecke der Freiheit“ notwendigerweise voraus. Der Sachverhalt, dass also das „Ideal der reinen praktischen Vernunft“ (als „oberstes Gut“) erst über die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, seine hinreichende Bestimmung findet und darin die „Idee der Freiheit“ (als das „Übersinnliche in uns“) ihre letzte Gestalt gewinnt, lässt Kants Begründung des Status der „Tugendpflichten“ nun auch in einem religionsphilosophischen Kontext in mehrfacher Hinsicht als höchst bedeutsam erscheinen, zumal doch, genau genommen, erst auf solche Weise „Religion auf Ethik“ als ein „System der Zwecke“ begründet werden kann. Jenes von Kant schon früh benannte Vorhaben, „ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen“ (II 697), impliziert die Einbeziehung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ und deren systematische Verknüpfung mit den dem „Weltbegriff der Philosophie“ immanenten teleologischen Differenzierungen. Dadurch gewinnen auch der „ethikotheologisch“ unternommene „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ sowie die damit verbundenen Differenzierungen der Idee des „Endzwecks“ eine nicht unwesentliche Erweiterung bzw. Vertiefung, die auch den Status der Hoffnung und ebenso den „terminus ad quem“ des „Hoffnungsglaubens“ betrifft. Lediglich eine Konsequenz daraus ist dies, dass auch der in der Ethik als „Zweckelehre“ zu begründende „Endzweck der praktischen Vernunft“ erst über jene „Tugendpflichten“, auszuweisen ist, dieser praktisch-„unbedingte“ Zweckbezug indes dem in der Idee des „höchsten Gutes“ enthaltenen „Totalitätsbezug“ (als „Endzweck“) noch voraus bzw. zugrunde liegt. Von diesem gemäß den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, erweiterten ethischen Anspruch bleibt also der – darauf „ethikotheologisch“ begründete – „praktische Endzweck“ noch zu unterscheiden, der wiederum auf die ihn ermöglichende Sinndimension eines „Endzwecks der Schöpfung“ bzw. des „Ganzen aller Zwecke“ verweist. Derart wird, über jene dem „Weltbegriff der Philosophie“ zugehörige Unterscheidung der „wesentlichen und höchsten Zwecke“ hinaus, auch die geforderte interne Differenzierung des „höchsten Zweckes“ (der zuletzt auch „nur ein einziger sein kann“: II 701) selbst sichtbar. Vor diesem Hintergrund wäre sodann Kants Ethikotheologie als der Versuch zu verstehen, das „System der Zwecke der Freiheit“ mit dem ethikotheologisch maßgebenden „moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur“ (V 560) zu einer Gestalt zu erweitern, ohne die zuletzt auch ein umfassender „Endzweck der Schöpfung“ nicht gedacht werden kann. Dass „zu dem Endzwecke vom Dasein aller Dinge … das Prinzip nicht anders, als ethisch, der Vernunft genugtuend ist“ (V 573), besagt im Grunde ohnedies lediglich, dass ohne die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, der „Endzweck vom Dasein der Dinge“ nicht bestimmt werden kann. Dies zielt auf die unauflösliche Einheit der Ethik und der „Ethikotheologie“, die so den auf den „höchsten Zweck der Vernunft“ abzielenden „Weltbegriff der Philosophie“ erst zur Vollendung bringen kann.
4. Kants späte „Tugendlehre“ – religionsphilosophische Perspektiven
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Die im „Weltbegriff der Philosophie“ verfolgte Aufgabe einer Vermittlung der „wesentlichen Zwecke“ mit dem „höchsten Zweck der Vernunft“ schließt demzufolge die „Tugendpflichten“ sowie die darin vollzogene „Zwecksetzung der Vernunft“ (also den zureichend begründeten „praktischen Endzweck“ und zuletzt den „Zweck aller Zwecke“) als „terminus ad quem“ menschlicher Hoffnung mit ein. Denn allein ein solcher Bezug vermag freilich der „Weisheit“ als der „Idee von der notwendigen Einheit aller möglichen Zwecke“ zu genügen, die so „allem Praktischen als ursprüngliche, zum wenigsten einschränkende, Bedingung der Regel dienen“ müsse (II 332). Im Blick auf jene von Kant ausgewiesene „Zusammenstimmung“ der Vernunftideen erweist sich freilich auch, dass sich mit dem durch die gebotenen „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, erweiterten „System der Zwecke der Freiheit“ auch der Sinngehalt des „höchsten Gutes“ differenzieren und vertiefen muss. Darin ist der moralische Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, mit dem Sinnanspruch des „Endzwecks der praktischen Vernunft“ zu einer besonderen Gestalt vereint – denn anders ist auch der „praktische Endzweck der Vernunft“ (als das ihm durch den „Anspruch der reinen Vernunft“ aufgegebene „höchste Gut“) im „System der Zwecke“ nicht angemessen zu bestimmen.488 Die schon in der „ersten Kritik“ geäußerte These, „dass alles Hoffen auf Glückseligkeit geht“ (II 677), erfährt somit in der seine „dritte Kritik“ abschließenden „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ nicht nur eine – schon in der „ersten Kritik“ angezeigte – bemerkenswerte Explikation und Vertiefung; durch spätere – und häufig vernachlässigte bzw. übersehene – Problemaspekte in einer sachlich durchaus bedeutsamen Weise noch bereichert, erhält sie so erst in der „Ethikotheologie“ ihre endgültige Gestalt. Dies verdeutlicht erneut, dass und wie sich vorerst die gebotene „moralische Denkungsart“ (und der von ihm so bezeichneten „Glauben an die Tugend“: IV 715) auf die zwar nicht gebotene, gleichwohl in einem „moralischen Bedürfnis“ verankerte „moralisch konsequente Denkungsart“ und deren Intentionalität auf den erhofften „praktischen Endzweck“ bezieht. Demgemäß soll sich im Folgenden zeigen: Ausgehend vom Anspruch des „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“ und dem daran Maß nehmenden „positiven“ Freiheitsbegriff (dem „Übersinnlichen in uns“) muss auch jene der „moralischen Teleologie“ zugrunde liegende „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach“ und somit das ganze Gerüst der „Vernunftreligion“ konsequenterweise neue Konturen gewinnen. In der demgemäß zu akzentuierenden These Kants, dass „Moral unumgänglich zur Religion“ führe, verändert (besser: radikalisiert) sich auch die Sinnintention der Hoffnungsthematik selbst sowie die darauf bezogene Frage nach ihrem Ermöglichungsgrund. Demzufolge wäre die jene „moralische Teleologie“ beschließende Frage nach dem „Endzweck der Schöpfung“ zu erweitern; Kants frühe These, dass „Gott … die Glückseligkeit 488 Es ist im Blick auf Kants systematische Gesamtkonzeption offensichtlich, dass die vom späten Kant benannte „Idee des Ganzen aller Zwecke“ das „System der Zwecke der Freiheit“ notwendigerweise in sich befasst. Lediglich eine Folge daraus ist es, dass die auf den „moralischen Zwecke vernünftiger Wesen“ abzielende „Ethikotheologie“ ohne die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, nicht zureichend konzipiert werden kann und somit eine entsprechende Erweiterung fordert: Der dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“ immanente „Zweckbezug“ im Verbund mit dem „Endzweck der praktischen Vernunft“ führt notwendig eben darauf hin.
298 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre aller Menschen, und zwar durch Menschen“489 wolle, gewänne so innerhalb dieser Idee der „moralischen Teleologie“ einen ganz besonderen Stellenwert: Derart wäre der ethikotheologische Rekurs auf die Begründung der „moralischen Zwecke“ mit dem ethischen Anspruch der „Tugendpflichten“ unauflöslich verbunden, weshalb auch erst darin die Idee der Einheit und des „Ganzen aller Zwecke“ ihren Abschluss finden könnte. Von grundlegender Bedeutung ist diesbezüglich nicht zuletzt die eigentümliche Verbindung der kantischen Fundierung des Anspruchs der „Tugendpflichten“ mit seiner Zurückweisung des „Vernunftunglaubens“: So widersprüchlich es wäre, in Berufung auf Vernunftgründe die Beförderung des „Charakteristischen der Menschheit“ (d. i. „das Vermögen, sich überhaupt Zwecke zu setzen“: IV 522) zu negieren bzw. zu verweigern, so widersprüchlich ist (wie ebenfalls schon erwähnt: s. o. IV., 3.1.3.) jener „Vernunft unglaube“ als „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis (Verzichttuung auf Vernunftglauben)“ (III 282). Aus der Verknüpfung dieser beiden – in unterschiedlicher Akzentuierung an der „Idee der Menschheit“ orientierten – notwendigen „Zweckbezüge“ resultiert sonach dieses Fundament einer durch die „Tugendpflichten“ erweiterten „Ethikotheologie“, ohne welche zuletzt auch die „Idee des Ganzen aller Zwecke“ nicht gedacht werden könnte. Aus der gebotenen Einbeziehung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, in jene Idee eines „Ganze(n) aller Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzweck“ (VI 132, Anm.) und gemäß der differenzierten Begründungsfigur der Idee des „höchsten Guts“ ergibt sich mithin ebenso, dass in der nach Maßgabe der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, vollzogenen Erweiterung des praktischen Vernunftgebrauchs und in dem dadurch eröffneten ethikotheologischen Sinnhorizont schließlich auch jenes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ noch eine bedeutsame motivliche Bereicherung erfährt. Dass die Vernunft als das „Vermögen der Prinzipien, … das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst“ bestimmt (IV 249) und sie, als das „Vermögen der Zwecke“, zugleich „in der Zweckbeziehung ihr selbst das oberste Gesetz sein kann“, ist demzufolge ebenso auf die differenzierte Einheit jener „Endzweck-Bestimmungen“ selbst zu beziehen. Folglich bleibt jenes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ noch zu vertiefen und kann nunmehr auch lediglich in der Einheit beider „Endzwecke“ hinreichend bestimmt werden. Weil dies zuletzt auch den Gehalt jener Idee des „Ganze(n) aller Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzweck“ nicht unberührt lässt, so findet darin der auf die „Totalität des Gegenstandes der praktischen Vernunft“ bezogene „praktische Weltbegriff“ – insbesondere im Blick auf die Vernunft-Idee einer „moralischen Welt“ und somit des zu befördernden „Weltbesten“ – auch erst eine umfassende Bestimmung. Die derart modifizierte Begründungsfigur schärft in solcher Rücksicht auf den nicht zu nivellierenden Status der Tugendpflichten nicht nur den Blick dafür, dass das gemäß dem „obersten Prinzip der Tugendlehre“ modifizierte „vollständige Objekt der praktischen Vernunft“ (als „praktischer Endzweck“ des „moralischen Weltwesens“) selbst in unauf hebbarer Differenz zum „umfassenden Endzweck der Schöpfung“ bleibt. Auch deshalb
489 Menzer 1924, 66 (vgl. Stark 2004, 83).
4. Kants späte „Tugendlehre“ – religionsphilosophische Perspektiven
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ist es besonders bedeutsam, jenen gemäß den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, bestimmten „praktischen Endzweck“ neu zu gewichten, wenn dieser gemäß der „revolutionierten Denkungsart“ ausgewiesene „praktische Endzweck“ letztendlich nicht doch „auf leer eingebildete Zwecke gestellt“ (IV 243) und auch die daran orientierte Hoffnung nicht vergeblich bleiben soll. Dies sollte es erlauben, das Begründungsgefüge der im Sinne der „unbedingten Zwecke“ erweiterten „moralischen Zwecke“ mit dem „höchsten abgeleiteten“ sowie dem „höchsten ursprünglichen Gut“ – und somit die Idee der „moralischen Teleologie“ überhaupt – noch weiter zu differenzieren. Vor dem Hintergrund jener geforderten Förderung „des Weltbeste(n) an uns und anderen“ ist es wohl lediglich konsequent, dass Kants kritischer Hinweis, die Annahme eines „einigen weisen und allgewaltigen Welturheber(s)“ sei „respektiv auf den Weltgebrauch unserer Vernunft ganz begründet“ (II 601 f ), die Frage nach dem „Gott der Hoffnung“ noch radikalisiert. Die zunächst von Kant betonte moralische Unmöglichkeit – und zwar ungeachtet der davon nicht berührten verbleibenden Möglichkeit einer „moralischen Selbstzufriedenheit“ –, dem Gedanken der Nicht-Realität des „höchsten Guts“ auch zustimmen zu können (zumal solches „Nicht-wollen-Können“ ja durchaus einem „parteilosen“ Vernunfturteil und insofern einem „moralischen Wunsch“ entspricht), macht bezüglich des zu befördernden „Wohls und Heils der anderen“ nunmehr folgende Forderung unumgänglich: Die Nichtigkeit jenes erweiterten „praktischen Endzwecks“ darf nicht gewollt werden, weil dies jener – an den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, ihr Maß nehmenden – Sinnintention vollends zuwider liefe. Die darauf begründete Ethikotheologie und die daran orientierte Konzeption des „höchsten Guts“ müsste auch das von Kant bezüglich des uns bekümmernden „Schicksals“ angestellte Gedankenexperiment wohl in eine ganz andere Richtung lenken, als dies jedenfalls eine auffällig schroffe Bemerkung aus den Vorarbeiten seiner „Religionsschrift“ vermuten lässt (die freilich auch in der Vorrede zur „Religionsschrift“ anklingt): „Würden wir von aller Religion abstrahieren, so würde die Moral ihren sicheren Gang gehen. Wir würden wissen, was wir zu tun haben, ohne uns ums Schicksal zu bekümmern. Jetzt, da wir um dieses besorgt sind und deshalb einen Gott annehmen, kommen wir in neue Schwierigkeiten.“490 Dies wäre freilich nicht nur dem Anspruch der „Tugendpflichten“, sondern auch schon der „Denkungsart“ jenes „Rechtschaffenen“ zuwider und widerspräche zuletzt erst recht der Sinnintention der in Kants Theodizee-Aufsatz angezeigten erweiterten „moralischen Zweckmäßigkeit“. Jener von Kant betonte Zusammenhang der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“, der sich sodann noch zu einer „zusammenstimmenden“ „Zweckverbindung“ ethikotheologisch verfestigt hat, gewinnt in solchem Ausgang selbst noch einmal neue Konturen und modifiziert somit auch die innere Struktur und den Anspruch der kantischen „Ethikotheologie“ auf bedeutsame Weise. Wenn zufolge jener Begründungsfigur einer „moralischen Teleologie“ die Freiheits-Idee „die beiden anderen bei sich führt“ bzw. diese sich an den „Begriff der Freiheit“ anschließen, also „mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität“ bekommen – „d. i. die Möglichkeit derselben
490 AA XXIII, 119.
300 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre wird dadurch bewiesen, dass Freiheit wirklich ist“ (IV 107f ) –, so wäre die naheliegende Folgerung daraus wohl dies: Dass die praktisch-„revolutionierte Denkungsart“ gemäß der spezifischen Intentionalität jenes „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“, in einem inneren Bezug zur „fremden Glückseligkeit“ (als dem „gebotenen Zweck“) steht, kann auch für die Bestimmung des „ganzen Objekts der praktischen Vernunft“ als dem eigentlich „Erhofften“ nicht folgenlos bleiben. Derart erfährt die so noch einmal enger gewordene Verknüpfung der Sollens- und Hoffnungsfrage eine späte Neuakzentuierung, die sich gleichermaßen in systematischer Hinsicht – vornehmlich für Kants Idee eines „Systems der Zwecke“ sowie für die darin zu leistende Explikation des „durch reine Vernunft aufgegebenen, das Ganze aller Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzwecks“ (VI 132, Anm.) – durchaus als bedeutsam erweist.491 Nimmt die Verknüpfung der Sollens- und Hoffnungsfrage also von dem durch das „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ (IV 713) qualifizierten Idee der Freiheit als dem „Übersinnlichen in uns“ ihren Ausgang, so wird dadurch auch der in jenem „Gefüge der Vernunftideen“ zutage tretende Anspruch noch entscheidend vertieft: Dass erst die ihre „objektive Realität“ durch die Tat beweisende „Idee der Freiheit“ die Bestimmbarkeit der beiden anderen „reinen Vernunftideen“ ermöglicht, d. h. diese dadurch „Sinn und Bedeutung“ gewinnen und allein dergestalt auch „Gott der Gegenstand der Religion wird“ (IV 263, Anm.), muss in der Tat das ganze „teleologische“ Gefüge jener Ideen entscheidend verändern, zumal doch erst durch die Verknüpfung „aller dreien untereinander … Religion möglich“ werden soll (V 606). Die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ (Ethik), wären derart mit dem „gebotenen Zweck“ des „höchsten Gutes“ (Ethikotheologie) verknüpft, und erst im Ausgang davon wäre eine diesem Anspruch genügende Gottesidee zu gewinnen. Diesem gemäß den „Tugendpflichten“ qualifizierten Status jenes „Übersinnlichen in uns“ korrespondieren die entsprechend modifizierten Bestimmungen des „Ideals des höchsten (abgeleiteten) Gutes“ (des „praktisch notwendigen Zwecks“) sowie des „Ideals des höchsten ursprünglichen Gutes“ und betreffen so auch den zu modifizierenden „theoretischen Begriff von der Quelle“, woraus der „Endzweck der praktischen Vernunft“ entspringen kann (III 632). Der solcherart modifizierte Ausgangspunkt der kantischen Ethikotheologie wäre somit folgendermaßen zu bestimmen: Wenn die entsprechend den „Tugendpflichten“ (d. i. einer „Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist“) modifizierte Konzeption der „moralischen Freiheit“ die Idee des „Gottes in uns“ (d. i. die korrespondierende Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“) radikalisiert und so die beiden anderen „in ihrem Gefolge bei sich führt“ (III 411), dann muss von daher folgerichtig auch jene zentrale These der 491 Dieses Motiv ist bemerkenswerterweise in Kants (schon angeführter) Bestimmung des „Menschenfreundes“ mitangesprochen: Sei doch in diesem „auch die Vorstellung und Beherzigung der Gleichheit unter Menschen, mithin die Idee, dadurch selbst verpflichtet zu werden, indem man andere durch Wohltun verpflichtet, enthalten; gleichsam als Brüder unter einem allgemeinen Vater, der aller Glückseligkeit will“ (IV 612 f ). Jenes frühe Motiv, dass „Gott die Glückseligkeit der Menschen durch Menschen will“, klingt auch hier wieder an. Der in diesem „Menschenfreund“-Motiv noch besonders akzentuierte Aspekt der „Solidarität“ führt insofern über die in der „Religionsschrift“ maßgebende Bestimmung des „ethischen Gemeinwesens“ vermutlich noch hinaus.
4. Kants späte „Tugendlehre“ – religionsphilosophische Perspektiven
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„Religionsschrift“ einen wesentlich erweiterten Sinngehalt gewinnen, wonach die ethikotheologische Fundierung auf die „Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen“ führe, „in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“ (IV 652). Das derart vertiefte Fundament der Ethikotheologie rückt nun auch die Verbindung der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ und den darin verankerten „Hoffnungsglauben“ in ein neues Licht, die so seinem „terminus ad quem“, d. i. eben der „Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen“, neue Konturen verleiht. Jene besondere „Zweckverbindung“ führt damit noch einmal in besonderer Weise vor Augen, wie die aus dem Schul- und Weltbegriff der Philosophie gewonnenen Bestimmungen unauflöslich miteinander verbunden sind. Die daraus resultierenden – gewiss weitreichenden – Konsequenzen für Kants Ethikotheologie und überhaupt für die Gesamtkonzeption seiner Religionsphilosophie sind, über dieses Kapitel hinaus, sodann in den daraus eröffneten „religionsphilosophischen Grenzgängen“ im V. Teil noch näher zu beleuchten. Über diese unumgängliche Einbindung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, verändert sich demzufolge die interne Struktur der Idee der „moralischen Teleologie“ und die im Sinne der „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“ modifizierte Begründungsfigur: Wenn mit den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, das „moralische Gesetz in Erfüllung“ geht (s. o. I., 4.2.1.) und dergestalt auch das „System der Zwecke der Freiheit“ erst seine Vollendung findet, dann bedeutet dies freilich im Sinne einer zureichend differenzierten „moralischen Teleologie“, dass eine „Ethikotheologie“ daraus ihren eigentümlichen Gehalt gewinnen kann und, genauer besehen, so auch erst als solche bezeichnet zu werden verdient. Es bestätigt sich: Weil ohne diesen weiterführenden Bezug auf den in der maßgebenden Perspektive der Tugendlehre verwurzelten und demgemäß modifizierten „moralischen Endzweck“ auch die „notwendigen und wesentlichen Zwecke der Menschheit“ noch nicht zureichend auszuweisen sind, bleibt der im strengen Sinne „ethiko-theologische“ Nachweis erst noch zu erbringen, wie das „Ideal der reinen praktischen Vernunft“ (d. i. die im Sinne der „Tugendpflichten“ qualifizierte „moralische Vollkommenheit“), das „Ideal des höchsten Gutes“ als das „Ganze aller Zwecke“ sowie dessen Ermöglichungsgrund unauflöslich miteinander verbunden sind, das heißt: wie nunmehr „Moral unumgänglich zur Religion führt“. Demnach bleibt die zunächst an dem „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, Maß nehmende praktische „Willensbestimmung“ auch jener an der Idee des „Ganzen aller Zwecke“ orientierten „Willensbestimmung von besonderer Art“ vorausgesetzt, die deshalb, im Sinne einer hinreichenden Differenzierung der „moralischen“ und der „moralisch erweiterten Denkungsart“, in solcher „Zusammenstimmung“ gleichermaßen die „gesollten“ und „erhofften Zwecke“ in sich vereint. Demzufolge ist Kants späte Bestimmung des Endzwecks als das „Unbedingte in der Reihe der Zwecke“ (III 631) gleichermaßen auf die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, und auch auf den daraus erst bestimmbaren ganzen „praktischen Endzweck“ zu beziehen. So vermag aber auch erst, in einem weiteren Schritt, die Idee eines „Ganzen aller Zwecke“ – das als ein solches auch bezeichnet zu werden verdient – ihre vollständige Bestimmung zu gewinnen. In dem solcherart erweiterten ethikotheologischen Rahmen erhält auch der kantische Verweis auf eine „[moralische] Welt, den sittlichen höchsten [!]
302 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Zwecken angemessen“ (VI 133, Anm.), schon deshalb eine besondere inhaltliche Akzentuierung, weil dies nunmehr nur im Ausgang von dem „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ (IV 713) angemessen bestimmt werden kann. Diese Freilegung der erst auf dem Anspruchsniveau der Tugendpflichten errichteten Ethikotheologie und der demgemäß zu differenzierenden Hoffnung hebt so die verwandelte Intentionalität derselben ans Licht; deren Besonderheit weist über jene Auskunft Kants, dass „alles Hoffen auf die allgemeine Glückseligkeit“ gerichtet ist, zweifellos hinaus und rückt so noch eine eigenständige Hoffnungsdimension in den Vordergrund, der zufolge der Mensch an der „aus sich heraus getretenen Gottheit“ noch in ganz anderer Weise „teilnehmend“ Anteil nimmt. Die im Sinne des Anspruchs der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, verstandene Liebe verwandelt so, über die entsprechend erweiterte „Hoffnung“, folgerichtig auch die Sinnintention dieses „Hoffnungsglaubens“. Daraus mag verständlich werden, weshalb sich dieser den „Endzweck der praktischen Vernunft“ noch erweiternde Zweckbezug keineswegs lediglich aus einer „unvermeidlichen [!] Einschränkung des Menschen und seines praktischen Vernunftvermögens“ (IV 654, Anm.) erklärt, zumal, in Ausblendung dieser Aspekte, von einer „den sittlichen höchsten Zwecken“ angemessenen Welt doch gar nicht die Rede sein könnte. Wenn sich also die in den „Tugendpflichten“ vollständig explizierte „Zweckmäßigkeit, die zugleich Gesetz ist“, gemäß der zu beachtenden „Ordnung der Zwecke“, als neue Basis für die daran zu knüpfenden „teleologischen Momente“ erweist, so hat dies ebenso weitreichende systematische Konsequenzen auch für die Idee einer „moralischen Teleologie“. In dieser nunmehr über die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, vermittelten Ethikotheologie gewinnt somit auch jene später noch präzisierte Forderung einen neuen Stellenwert, „das Weltbeste, welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an demselben, d. i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit, besteht, nach allen Kräften zu befördern“ (V 580). Wenn dieser Bezug auf das zu befördernde „Weltbeste“ doch erst über jenen später explizit ausgewiesenen „Imperativ, welcher die Tugendpflicht gebietet“ (IV 527), einzulösen ist, weil im Absehen von diesen maßgeblichen Bezügen der Tugendlehre weder die inhaltliche Bestimmung des „höchsten Gutes“ noch die daran orientierte Hoffnungsfrage zureichend auszuweisen ist, dann ist in Absehung davon wohl auch die Sinnintention jener „moralisch konsequenten Denkungsart“ noch nicht ausreichend bestimmt. Daraus ergibt sich: Die von Kant formulierte Aufgabe, „den Urgrund der zweckmäßigen Verbindung … für alle Zwecke bestimmt genug“ anzugeben, die er von einer „reinen Zweckslehre … erwarten“ will („welche keine andere als die der Freiheit sein kann“), „deren Prinzip apriori die Beziehung einer Vernunft überhaupt auf das Ganze aller Zwecke enthält und nur praktisch sein kann“ (V 168), führt vorerst auf die – nicht empirisch begründeten, d. h. unbedingten – „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ (als „Ideal“ der reinen praktischen Vernunft“), und darüber hinaus auf die ethikotheologisch gestützte bzw. vermittelte Perspektive eines „Ganzen aller Zwecke“ sowie auf die umfassende Konzeption eines „Endzwecks der Schöpfung“. Diese Binnendifferenzierungen der „moralischen Teleologie“ leisten Kant zufolge lediglich die von ihm in kritischer Absicht verfolgte „Erweiterung des Vernunftgebrauchs“. Diese daraus gewonnene Ent-
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faltung und Vertiefung der in dem „Weltbegriff der Philosophie“ explizierten „höchsten Zwecke“ führt sodann, wiederum im Ausgang von Kant, auf erst dadurch eröffnete „religionsphilosophische Grenzgänge“ und Motivkonstellationen von besonderer Art. Über die im V. Teil im Vordergrund stehenden Themen und Grenzgänge noch hinausweisend wird sich sodann eine letzte Zuschärfung dieser ethikotheologischen Fragen ergeben – und zwar aus der gebotenen Rücksicht darauf: Aus dem durch den Anspruch der Tugendpflichten noch einmal vertieften „Vernunftbedürfnis“ wird einerseits die Notwendigkeit einer inneren Verknüpfung dieser verschiedenen Aspekte „moralischer Zweckmäßigkeit“ sichtbar, die freilich zugleich eine eigentümliche Spannung anzeigt: Darin ist jenes radikalisierte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ mit dem „Abgrund der Vernunft“ als dem „Vermögen der Prinzipien“ und „der Zwecke“ verbunden und konstituiert derart eine besondere Gestalt „negativer Theologie“, in der das Thema der „Selbsterhaltung der Vernunft – Fundament des Vernunftglaubens“ – „am Ende“ – seine letzte Gestalt gewinnt (s. u. VI., 1.2.). 4.1.1. Eine notwendige ethiko-theologische Erweiterung des „Hoffnungslogos“: „Hoffnung auf“ und „Hoffnung für“ und der dadurch radikalisierte „Hoffnungsglaube“ In solchem Ausgang von Kants Tugendlehre und deren Verbindung mit dem „Weltbegriff der Philosophie“ wird auch jene Orientierung an der kantischen „Idee des Ganzen aller Zwecke“ bzw. an dem umfassenden „System der Zwecke“ notwendigerweise verändert. Das Fundament einer solchen erweiterten ethikotheologischen Konzeption wäre demnach, wie gezeigt, jene zentrale kantische These, wonach in dem Imperativ, „welcher die Tugendpflicht gebietet, … noch über den Begriff eines Selbstzwanges, der eines Zwecks“ dazu komme, „nicht den wir haben, sondern haben sollen, den also die reine praktische Vernunft in sich hat“ (IV 527 f ), und ohne den folglich auch die „Idee des Ganzen aller Zwecke“ nicht gedacht werden kann. Dieser „gesollte Zweck“ der „reinen praktischen Vernunft“ ist zunächst mit jenem von Kant affirmierten „Endzweck, den der moralische Mensch hat, und haben soll“ (III 645), zu verknüpfen; die daraus gewonnene Verbindung des ethischen Sollensanspruchs und der Hoffnungsfrage legt es sodann nahe, dass Letztere in der unauflöslichen Einheit des „Hoffens für“ und des „Hoffens auf“ gedacht werden muss, weil solche Hoffnung, gemäß der erweiterten Konzeption des „praktischen Endzwecks“, sich notwendig an „fremder Glückseligkeit“ orientiert. Wenn mit der Frage nach dem im Sinne des „Zwecks, der zugleich Pflicht ist“, erweiterten „höchsten durch Freiheit möglichen Gut in der Welt“ bzw. nach dem „sich noch über die Beobachtung der formalen Gesetze zur Hervorbringung eines Objekts (das höchste Gut) erweiternden uneigennützigen Willens“ (VI 132 f ) die Verknüpfung der Sollens- und Hoffnungsfrage sogar noch einmal enger geworden ist, so eröffnet diese Motivkonstellation bezüglich des intendierten „praktisch-dogmatischen Überschritts“ neue ethikotheologische Perspektiven. Ebenso gewinnt in der Folge der spezifische „Logos“ der Hoffnungsfrage in der konkreten Einheit des „Hoffens-für“ und des
304 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre „Hoffens-auf“492 neuen Gehalt bzw. Richtungssinn. Ausgehend von dieser Vertiefung des „Hoffnungslogos“ muss nicht zuletzt Kants Rekurs auf jene „zwei Kardinalsätze unserer reinen Vernunft: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben“ (II 633), also auf jene „zwei großen Zwecke, worauf diese ganze Bestrebung der reinen Vernunft eigentlich gerichtet war“ (II 677; vgl. IV 107), in neuem Licht erscheinen, welches damit das diesen beiden Kardinalsätzen zugrunde liegende „praktische Interesse der reinen Vernunft“ zugleich verwandelt. Dies lenkt also den solcherart geschärften Blick zunächst auf den – nunmehr eben am Maßstab der Tugendpflichten ausgerichteten – unbedingten „Zweck“ der „eigenen Vollkommenheit“; erst von da her erhält so die Frage „Was darf ich hoffen?“ (im Sinne der „mitenthaltenen“ „eigenen Glückseligkeit“) ihren spezifischen Stellenwert in der „Ordnung der Zwecke“ und sensibilisiert somit für die in dieser Frage nach dem „Hoffen-Dürfen?“ gleichermaßen enthaltene besondere Provokation. Aus diesem zweifachen Bezug des „Hoffens-für“ – gemäß dem „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, sowie der im „höchsten Gut“ mitenthaltenen „eigenen Glückseligkeit“ – eröffnet sich sodann die in dem „Hoffen-auf“ angesprochene Sinnperspektive eines „Endzwecks der Schöpfung“ und eines diesen differenzierten Ansprüchen angemessenen Gottesbegriffs, der in diesem erweiterten Sinne nunmehr auch zu begründen vermag, weshalb „Moral unumgänglich zur Religion führt“. Der entscheidende – gemäß der Begründung der „Tugendpflichten“ zu verstehende – und auch der Idee einer „moralischen Teleologie“ zugrunde liegende Anspruch, wonach die Vernunft „in der Zweckbeziehung ihr selbst das oberste Gesetz sein kann“, macht diese Differenzierungsschritte erforderlich. Allein dies führt dazu, das „höchste Gut“ als den „Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen“ sowie den Gehalt des daraus vermittelten Begriffs des „höchsten ursprünglichen Gutes“ auf eine Weise zu bestimmen, die mit solcher Erweiterung auch den Sinnanspruch der – implizit „die religiöse Dimension des Ethischen“ ausmessenden – Ethikotheologie verwandelt.493 In der Tat muss in solchem Ausgang der systematische Status der Ethikotheologie – als der „Versuch, aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur (der apriori erkannt werden kann) auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen“ (V 560) – in neuem Licht erscheinen, wenn doch allein „aus dieser Idee [d. h. dem in dem vorgestellten Sinne erweiterten Freiheitsbegriff] auf die Existenz und die Beschaffenheit jener sonst gänzlich für uns verborgenen Wesen geschlossen werden kann“ (V 605).494 Jene geläufige 492 Die in diesem Abschnitt vorgenommene Differenzierung des „Hoffens-für“ und des „Hoffens-auf“ ist von M. Theunissen (1999, 270 f ) entlehnt. 493 Hier wäre vielleicht auch an den Satz des späten Fichte in einer kantischen Lesart anzuknüpfen: „Durch höhere Moralität allein … ist Religion“ (Fichte V, 469). – Zu Kants Explikation des „Gegenstands der reinen praktischen Vernunft“ und den daraus gewonnenen ethikotheologischen Perspektiven vgl. neben den angeführten Studien zu Kants Religionsphilosophie die vorzügliche Studie von U. Barth 2005b, 263–307; die zitierte Stelle: ebd. 282. 494 Dieser späte kantische Rekurs auf die „Existenz und die Beschaffenheit jener sonst gänzlich für uns verborgenen Wesen“ (nämlich „Gott“ und „Seele“) ist auch deshalb aufschlussreich, weil in ihm in eigentümlicher Weise die beiden zu unterscheidenden Aspekte der „objektiven Gültigkeit“ verschmelzen. Denn genauer besehen gewinnt erst über den „Endzweck der Vernunft“ die Gottesidee Bestimmtheit,
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Auskunft Kants, dass der Gottesbegriff aus „dem moralischen Gesetz“ hervorgeht (III 391, Anm.), besagt mithin lediglich, dass dieser Gottesbegriff auf den „Gott der Hoffnung“ abzielt und im Sinne dieser angezeigten Einheit des „Hoffens-auf“ und des „Hoffens-für“ in symbolischer Darstellung für „vernünftige Weltwesen“ Gestalt gewinnt.495 Diese Gedankenfigur erinnert nicht zufällig an ein höchst bemerkenswertes Motiv in einer langen Anmerkung des „Gemeinspruch“-Aufsatzes (VI 132 f, Anm.) (von der deshalb im nächsten Kapitel noch die Rede sein soll, s. u. IV., 4.2.); dabei wird sich zeigen, dass für die dort angeführte Analogie-Logik die in den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, artikulierte Forderung einer gewissermaßen „höheren Moralität“ (im Sinne der „praktisch revolutionierten Denkungsart“) im Grunde schon vorausgesetzt ist. Dass der Gottesbegriff „aus dem moralischen Gesetz“ hervorgeht, impliziert zugleich den Verweis darauf, wie das leitende Interesse an der Gottesfrage im „Standpunkt“ einer „authentischen“ und umgreifenden Lebensorientierung und -führung verankert ist. Es ist dies ein Argument, das auch schon in Kants früherem Hinweis anklingt, dass der „Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet“ (II 694) und die Vernunftideen ihm zufolge lediglich von untergeordnetem theoretischen Interesse bleiben. Es sind diese der praktisch-„revolutionierten Denkungsart“ entsprechenden Vernunftansprüche (die darin gewandelte „Intentionalität“ der praktischen Vernunft), die solcherart für die unaufhebbare Kluft zwischen dem gemäß den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, verstandenen „subjektiven Endzweck“ und dem „praktischen Endzweck“ (bzw. dem „Endzweck der Schöpfung“ als dem „Ganzen aller Zwecke“) in besonderer Weise sensibilisieren und so auch eine Einlösung fordern, die einer umfassenden Ethikotheologie (die diese Bezeichnung auch verdient) doch erst entspricht. Obgleich Kant zwischen „Moraltheologie“ und „Ethikotheologie“ nicht näher unterschieden hat (vgl. dazu den § 86 der „dritten Kritik“)496, bleibt in Einbeziehung der „Tugendlehre“ aber doch dies geltend zu machen, dass die von ihm so genannte „Ethikotheologie“ genauer besehen erst im Ausgang von den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, ihre endgültige Gestalt gewinnen kann, d. h. im Absehen davon ein beanspruchter ethikotheologischer Ausgang von dem „moralischen Zwecke“ (V 560) jedenfalls unvollständig bliebe. Demgemäß soll sich noch zeigen: Wenn, der kantischen Bestimmung der Ethik entsprechend, auch das „oberste Gut“ nur von da her angemessen bestimmt werden kann, so kann davon auch „erschließt“ also dergestalt die „Beschaffenheit“ dieses andernfalls „für uns gänzlich verborgenen Wesens“; davon noch unterschieden bliebe, in einem weiteren Schritt, die erschlossene „Existenz“ desselben, die sich nach Kant einer zwar kritisch legitimierten, der Vernunft „abgenötigten Voraussetzung“ verdankt, gleichwohl ein „freies Annehmen“ darstellt. 495 So hätte Kant im Ausgang von dem in seiner Postulatenlehre entfalteten „praktischen Vernunftbedürfnis“ wohl auch ohne weiteres dem Hinweis des Thomas v. Aquin zugestimmt (und dies vermutlich mit seiner eigenen Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“ „quoad nos“ verknüpft): „Der Mensch erkennt nämlich Gott natürlicherweise so, wie er Ihn natürlicherweise ersehnt. Der Mensch ersehnt Ihn aber insofern natürlicherweise, als er natürlicherweise die Glückseligkeit ersehnt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der göttlichen Gutheit ist. So muss also nicht, wie Er an sich betrachtet ist, dem Menschen natürlicherweise bekannt sein, sondern nur eine Ähnlichkeit mit ihm“ (Summa contra gentiles I, 11, ad 4). 496 Dies entspricht dem von Kant immer wieder auch in einem sehr weiten Sinne verwendeten Begriff der „Moral“.
306 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre der beanspruchte ethikotheologisch begründete Zusammenhang von Moral und Religion nicht unberührt bleiben und bewahrt so nicht zuletzt vor einer verkürzten Wahrnehmung des Anspruchs bzw. der Tiefenstruktur der Hoffnungsfrage. Mithin bleibt im Sinne des über die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, erweiterten „praktischen Endzwecks“ darauf zu achten, dass die daran orientierte „Ethikotheologie“ die dafür vorausgesetzte Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ thematisiert, welcher einerseits nur in „Zusammenstimmung“ mit jenem erweiterten „praktischen Endzweck“ (als „ratio essendi“ desselben) gedacht werden kann, wobei, in einem weiteren Schritt, noch die Differenz zu dessen Ermöglichungsgrund zu bedenken bleibt. Daraus folgt auch dies: Jene frühe kantische Charakterisierung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“497 wäre auch in solchem Ausgang in dem bestimmten Sinne aufzunehmen, dass in der Tiefenstruktur dieses Hoffnungs-Logos selbst jene unauflösliche Einheit des „Hoffens-für“ und des „Hoffens-auf“ zum Vorschein kommt und in dieser erweiterten ethikotheologischen Perspektive noch eine besondere Akzentuierung erfährt. Die jenen „Logos der Hoffnung“ auszeichnende Einheit von „Hoffnung für“ und „Hoffnung auf“ gibt derart dem auf diese Hoffnung als „ratio sufficiens“ bezogenen „Vernunftglauben“ (seinen „Postulaten“) als „Hoffnungsglauben“ noch ein besonderes Profil. Erst infolge der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ explizierten „teleologia rationis humanae“, deren kritischer Bildungsweg letztendlich auch auf verschiedene Gestalten einer „Grenzbestimmung der Vernunft“ führt, resultiert diese aus jener denkwürdigen Verschränkung von „Einschränkung“ und „Erweiterung“ gewonnene Gedankenfigur. Der Weltstellung des Menschen gemäß eröffnet erst die Erfahrung des „Übersinnlichen in uns“ und die theoretische Nichtbeweisbarkeit der Existenz Gottes den Horizont für die Frage nach einem „Gott der Hoffnung“ und lässt dergestalt die neuen Ansprüche einer „fides spei“ sichtbar werden. Indes, indirekt unterstützt wird diese skizzierte Sichtweise wohl durch eine ebenso überraschende wie auch in der Sache sehr aufschlussreiche Argumentation Kants in einer späten Vorlesung aus den 90er-Jahren, die durchaus noch der Idee der „moralischen Welt“ folgt. Sie verdient deshalb „im Ausgang von Kant“ – in Einbeziehung seines Lehrstücks von den „Tugendpflichten“ und der demgemäß modifizierten Ethikotheologie sowie mit Blick auf jenen zuvor angeführten Passus über den „göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts“ (aus den Schlusspartien der „Tugendlehre“) – besonderes Interesse (obgleich die darin vollzogene Neuakzentuierung offenbar nirgends explizit 497 Die Kennzeichnung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“ ist schon deshalb besonders interessant, weil sie „in nuce“ den Hinweis enthält, dass sie in der Moralität verankert ist und der (Hoffnungs-)Glaube an Gott („dass ein Gott sei“…) eine mit einer „transzendentalen Steigerung“ verknüpfte Explikation der Hoffnung darstellt; also schon diese Charakterisierung der Hoffnung als „praktisch und theoretisch zugleich“ verweist implizit auf die Eigenart dieses „Hoffnungsglaubens“. Dieses „praktisch und theoretisch zugleich“ des Hoffens steht freilich auch in einem engen Bezug zu Kants Bestimmung des „Glaubens“ als ein „freies Fürwahrhalten, welches nur in praktischer apriori gegebener Absicht nötig ist, also ein Fürwahrhalten dessen, was ich aus moralischen Gründen annehme und zwar so, dass ich gewiss bin, das Gegenteil könne nie bewiesen werden“ (III 496). Hier tritt die fundierende „Erste-Person-Perspektive“ dieses Glaubens wieder besonders deutlich zutage und bezieht sich auf das darin bestimmende „Verhältnis“ der „Erkenntnis zum Handeln“ (ebd. Anm.).
4. Kants späte „Tugendlehre“ – religionsphilosophische Perspektiven
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ausgewiesen wird): „Moralität ist zwar das oberste, aber nicht das einzige Gut … Sittlichkeit und Glückseligkeit zu befördern, machen das höchste Gut aus. Dem moralischen Gesetze ganz angemessen zu sein, haben wir in unserer Gewalt, denn es kann kein Sollen auf uns passen, wenn wir nicht auch das Vermögen haben, es zu tun. Aber in Ansehung der Glückseligkeit sie zu erreichen, sie in dem Maße über andere [!] zu verbreiten, als sie es verdienen, [498] – dies Vermögen hat kein einziges Weltwesen. Sobald wir nun zur Beförderung des summi boni mundani streben, so müssen wir doch die Bedingung annehmen, unter der wir es erreichen können, und dies ist die Existenz eines außerweltlichen moralischen Wesens. Ist ein höchstes Gut erreichbar und nicht bloß Chimäre, so muss ich einen Gott annehmen; denn der Mensch kann dies allein nicht ausüben … Die Erreichbarkeit des Zwecks des höchsten Guts steht nicht in meiner Gewalt. Dass es Zweck sein soll, ist ausgemacht.“499 Dass die uns gebotene „Beförderung des höchsten Gutes“ „begrenzt“ ist, bezieht sich also diesem praktischen Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, zufolge denkwürdigerweise auf die Beförderung der „fremden Glückseligkeit“ und verweist in solchem Ausgang sodann auch auf die erhoffte „fremde Glückseligkeit“ – eine besondere „Intentionalität“, die über die zunächst maßgebende Orientierung an der „allgemeinen Glückseligkeit“ offenbar noch hinausweist. „Ausgemacht“ ist nach Kant freilich ebenso (entsprechend seiner diesbezüglichen Kritik am „stoischen System“), dass der Mensch der „moralisch-praktischen Vollkommenheit“ „wenigstens hier im Leben“ nicht „nicht völlig adäquat zu sein“ vermag (IV 259 Anm.), sodass auch diese „Erreichbarkeit“ nicht in „seiner Gewalt“ steht; beide Weisen der Unverfügbarkeit rücken somit auch unterschiedliche (obgleich zusammengehörige) religionsphilosophische Aspekte ins Blickfeld. Die angeführte Argumentation der späten Vorlesung Kants setzt offenkundig einen Akzent, der über die im „höchsten Gut“ gedachte „Beförderung der allgemeinen Glückseligkeit“ noch hinausweist.500 Indes, genauer besehen hat es den Anschein, dass darin 498 Hier bezog Kant jenes andernorts leitende Motiv, wonach „das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit, glücklich zu sein, zu bewirken“ (IV 655, Anm.), nunmehr bemerkenswerterweise ausdrücklich auf die Ansprüche „fremder Glückseligkeit“, was notwendigerweise die Frage nach dem zu differenzierenden Status (und dem „terminus ad quem“) der Hoffnungsfrage berührt. 499 AA XXVIII, 791 f. Diese hier also im Blick auf die „fremde Glückseligkeit“ konstatierte Nicht„Erreichbarkeit des Zwecks des höchsten Gutes“ bezieht sich freilich gleichermaßen darauf, dass das Urteil über die „Glückswürdigkeit“ anderer letztlich „vermessen“ wäre (also einem „Herzenskündiger“ vorbehalten bleiben muss) und natürlich auch die dem entsprechende Erreichbarkeit des Zwecks „fremde Glückseligkeit“ – jedenfalls in Ansehung des „Ganzen ihres Zustandes“ als „vernünftiger, aber endlicher Wesen“ – menschlichem Bewirken-Wollen prinzipiell entzogen bleibt. – So wird auch deutlich, dass nicht die erstrebte bzw. die zwar praktisch zu befördernde „Glückseligkeit“ als natürlicher Gehalt („Materie“) des „Wollens“ das „höchste Gut“ sein kann, das der angemessene Gegenstand vernünftigen Hoffens ist; diese „Materie des Wollens“ bleibt vom „ganzen Objekt der reinen praktischen Vernunft“ als dem Gegenstand „vernünftigen Hoffens“ zu unterscheiden (das zeigt, neben diesem späten Vorlesungs-Passus, aber auch die in der späten „Verkündigung des nahen Abschlusses zum ewigen Frieden in der Philosophie“ erwähnte Hoffnung auf „ein durch Vernunft … notwendig vorauszusetzendes künftiges Leben“: III 412). 500 Damit bestätigt sich offenbar in dieser Hinsicht der Vorschlag Dörflingers, „die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts … im entwickelten, von der Metaphysik der Sitten her gewonnenen Sinn zu verstehen“ (Dörflinger 2012a, 54). Die in dem angeführten Kant-Passus ausgesprochene These, dass „dem
308 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre – von der Beförderung „fremder Glückseligkeit“ ausgehend! – jene erst später als „Tugendpflicht“ geltend gemachte „Beförderung fremder Glückseligkeit“ in einer eigentümlichen Wendung des Begründungsganges mit jener Argumentation aus der Vorrede der „Religionsschrift“ zusammengefügt wird, dass, „weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht“ (IV 655, Anm.). Derart ist freilich stillschweigend eine eigentümliche Erweiterung der Ethikotheologie vollzogen, der zufolge offenbar gelten soll: Die Begrenztheit des „Hinwirkens“ auf das „höchste Gut“ bezieht sich demnach auf den moralisch „gebotenen“ und gleichermaßen unverfügbaren „Zweck“ der „fremden Glückseligkeit“ – nicht zuletzt „in Ansehung des ganzen Zustandes“ des Anderen. Diese zwar zu „befördernden“ (unbedingten) Zwecke dennoch nicht „realisieren“ zu können, begründet mithin die besondere Hoffnung darauf im Sinne des „Hoffens-auf“ und des „Hoffens-für“. Die moralisch-praktische (d. h. „befördernde“) Orientierung an dem „unbedingten Zweck“ „fremde Glückseligkeit“ weist zufolge der in der zuvor angeführten Vorlesung maßgebenden Argumentation darüber hinaus auf die Bedingung der Möglichkeit der „Realität“ dieses „gebotenen Zwecks“ und verknüpft dergestalt die Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ in besonderer Weise. Jene durchaus notwendige zweck-orientierte Aussicht darauf, was „aus unserem Rechthandeln herauskomme“, die sich demzufolge an dem moralisch „gebotenen Zweck“ der „fremden Glückseligkeit“ orientiert, vertieft solcherart den Zusammenhang von Ethik und Religion auf eine Weise, die demzufolge auch die Tiefenstruktur bzw. die Sinnintention der solcherart begründeten Hoffnungsfrage nicht unberührt lässt. Daraus wird noch einmal deutlich, dass sich diese vernunftorientierte (und keineswegs lediglich wunsch-fixierte) Aussicht auf die Folgen „unseres Rechthandelns“ sowohl auf die praktische Orientierung an der Idee des „höchsten politischen Gutes“ (der unter der „Fahne der Tugend Versammelten“) als auch auf die gebotene „Beförderung fremder Glückseligkeit“ und ebenso auf die Rücksicht auf die „mitenthaltene“ „eigene Glückseligkeit“ – freilich in dieser unumkehrbaren „Ordnung der Zwecke“ – bezieht. Derart wird also der Bezug auf die in der „Beförderung des höchsten Gutes“ enthaltene Orientierung an der zu befördernden „fremden Glückseligkeit“ besonders klar erkennbar und legt es somit nahe, die Hoffnungsfrage in der angezeigten Weise „ethikotheologisch“ zu differenzieren. Demnach hätte die von den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, ausgehende Hoffnung501 – in nochmaliger Erinnerung daran, dass „alles Hoffen moralischen Gesetze ganz angemessen zu sein, … wir in unserer Gewalt“, haben, bleibt freilich im Sinne seiner ausdrücklichen Begrenzung praktischer Vernunftansprüche zu modifizieren (s. dazu u. V., 3.3.). 501 Genau genommen ist der von dem Begriff der Pflicht „herbeigeführte“ Zweck, „auf das höchste in der Welt mögliche Gut (die im Weltganzen mit der reinsten Sittlichkeit auch verbundene, allgemeine, jener gemäße, Glückseligkeit) nach allem Vermögen hinzuwirken“ (VI 132), ohnehin unauflöslich mit der Pflicht, gemäß der Idee der „moralischen Welt“ „das Weltbeste an uns und anderen zu befördern“, verbunden; daraus ergibt sich freilich nicht zuletzt im Blick auf den Anspruch der „Tugendpflichten“, dass Hoffnung stets auf „fremde Glückseligkeit“ gerichtet ist. Der schon erwähnte Leibniz’sche Hintergrund
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auf Glückseligkeit“ geht – eine zweifache Zielrichtung: Die an der „fremden Glückseligkeit“ (bezüglich des „gelingenden Ganzen“ einer „moralischen Lebensgeschichte“) orientierte „gesollte“ Hoffnung bleibt von der im Anspruch der „eigenen Vollkommenheit“ stehenden Frage „Was darf ich hoffen?“ zu unterscheiden und verweist auch in solcher Hinsicht auf die der Idee des „höchsten Gutes“ als des „ganzen Gegenstands der praktischen Vernunft“ immanenten verschiedenen Aspekten. Darin treten also recht unterschiedliche Sinnansprüche des Menschen als Individuum und als Gattungswesen zutage, die zugleich in ihrer differenzierten Einheit zu bedenken bleiben – eine Aufgabe, die in Kants Idee eines „praktischen Weltbegriffs“ unübersehbar angezeigt ist. Es bestätigt sich: In genau zu differenzierendem Sinne ist darin zunächst die Pflicht der tätigen „Beförderung des höchsten Gutes“ benannt – eben „in dieser Welt“, also gemäß der Idee des „mundus optimus“, das „Weltbeste an uns und anderen zu befördern“, d. h. die „eigene Vollkommenheit“ und „fremde Glückseligkeit“. Freilich, bezüglich beider erweist sich das unverzichtbare menschliche Bemühen als ein bloß „vorläufiges“, so dass in entsprechender Weise die Hoffnungsfrage bzw. das erhoffte „höchste Gut“ sich gleichermaßen auf die „fremde Glückseligkeit“, auf die erstrebte „moralische Vervollkommnung“ und auf das je individuelle Teilhaftig-Werden an dem „höchsten Gut“ beziehen muss und dementsprechend das „Hoffen-für“ und „Hoffen-auf“ und ihre Einheit noch spezifiziert. „Uns“ ist, so wäre in Anlehnung an eine bekannte Wendung Adornos mit Blick auf Kant zu sagen, die „Hoffnung um der Hoffnungslosen willen“ aufgegeben – nur von daher ist auch Hoffnung uns selbst „gegeben“, an dem Erhofften Anteil zu gewinnen. Kants Satz, wonach „alles Hoffen auf Glückseligkeit“ geht, darf nun auch so verstanden werden, dass solche Hoffnung sich als eine „spes hominum“ versteht bzw. erweist, die nur in der Einheit von „genitivus subjektivus“ und „objektivus“ gedacht werden kann. Auch diese ergänzenden bzw. weiterführenden Aspekte weisen schon darauf hin: Auf jenem durch die wahrhaft „revolutionierte praktische Denkungsart“ neu gewonnenen „Standpunkt der Freiheit“ sieht sich das „vernünftige endliche Wesen“ (V 576) auf „moralisch-transzendente Ideen“ verwiesen, deren Ansprüche einen uneinholbaren – geschichtlichen – Sinnvorschuss und gleichermaßen einen trans-moralischen Sinnüberschuss anzeigen (s. dazu u. V., 3.). Gleichwohl ist es die „Idee des gottgefälligen Menschen in uns“,502 welche für diese Fragen sensibilisiert und diese moral-transzendierende Perspektive auch mit jener dem „Gesetz aller Gesetze“ (IV 205) innewohnenden Forderung verbindet. Die gemäß jener „revolutionierten Denkungsart“ verwandelte „Intentionalität“ solcher Hoffnung bliebe demzufolge auf ein Zweifaches gerichtet: Dass ist auch hier nicht zu übersehen – ist es nach Leibniz doch „das erste Ziel der moralischen Welt oder des Gottesstaates, der der edelste Teil der Welt ist, darin die meiste Glückseligkeit, die ihr möglich sein wird, auszubreiten“ (Metaphysische Abhandlung, Nr. 36). 502 Hier bestätigt sich in besonderer Weise Bohatec’ Hinweis, wonach Kant „seinem guten Prinzip, ‚dem Abstraktum der Menschheit‘ Farben geliehen (hat), die dem historischen Christusbild … entnommen sind. Das ideale Christusbild, das Urbild der Menschheit in ihrer moralischen Vollkommenheit, ist ein Reflex des historischen Christusbildes“ (Bohatec 1938, 359). Darauf verweist auch Kants wiederholte Rühmung des „Heiligen“ bzw. „Lehrers des Evangelii“.
310 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre wir das „Wohl der anderen“ tätig befördern und darauf hoffen sollen und auf das „Wohl und Heil der anderen“ als „fremde Glückseligkeit“ (als deren „vollständiges Wohl“: IV 254, Anm.) hoffen dürfen – und nur dann, mit Rücksicht auf das dann erst unverkürzt ins Blickfeld tretende „Ganze aller Zwecke“, auch hoffen dürfen, dass die je „eigene Glückseligkeit darin mitenthalten“ sei.503 Diese erweiterte Konzeption eines „Endzwecks der Schöpfung“ als „Zweck aller Zwecke“ führt auf die unabweisliche Voraussetzung dieses „Hoffens-für“ und „Hoffens-auf“ und somit zuletzt auf die unentbehrliche Idee eines „weisen Welturhebers“, der solcherart als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (III 636), symbolisch bestimmbar wird, sofern diese Idee eben im (auf die Selbsterhaltung der Vernunft“ abzielenden) „Vernunftglauben“ notwendig „assertorisch“ (voraus-) gesetzt ist, solcherart jene „Hoffnung“ in mehrfachem Sinne als eine „begründete“ auszuweisen vermag und in diesem „Vernunftglauben“ somit „Vernunft“ lediglich „sich selbst erhält“. In diesem erweiterten ethikotheologischen Kontext liegt jedoch eine nochmalige Rückbesinnung auf einen gewiss denkwürdigen Sachverhalt nahe. Kants Bestimmung des „Vernunftunglaubens“ als „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis (Verzichttuung auf Vernunftglauben)“, die ihm zufolge zuletzt auf ein Desinteresse der Vernunft an sich selbst (an ihren „Zwecken“) hinauslaufe, d. h. deren Selbstdementierung vor Augen führe (III 282), findet nun eine bemerkenswerte Entsprechung in seiner späten Begründung der Tugendpflicht. Ihr gemäß müsste die Vernunft in der Verweigerung ihres positiven, d. h. freiheits-affirmierenden Anspruchs, nämlich deshalb mit sich selbst in Widerstreit geraten, weil sie solcherart gegenüber dem „Charakteristische(n) der „Menschheit“ als dem „Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen“, und „zu Ausführung allerlei möglichen Zwecke“ (IV 522), und somit ihrer „Beförderung“ letztendlich doch indifferent-gleichgültig bliebe. Lediglich eine Konsequenz daraus wäre dann wohl dies: Aus der Verbindung dieser beiden Aspekte einer „Selbsterhaltung der Vernunft“ müsste vielmehr eine neue Gestalt jenes kantischen Aufweises der Verknüpfung von „Moral und Religion“ resultieren, die so auch erst den angezeigten Vernunftansprüchen genügen könnte. Vor diesem Problemhintergrund wäre eine kantische Begründungsfigur in der angezeigten Erweiterung folgendermaßen zu resümieren: Auch wenn die Ethik (mit den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“) vorerst auf die „vornehmsten Zwecke“ abzielt, so sind diese gleichwohl noch nicht die „höchsten“; ihre „Erfüllung“ fände diese Ethik erst in einem dem Anspruch dieser „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, angemessenen „vollendeten Gut“ („bonum consummatum“). Ebendies thematisiert die erweiterte „Ethikotheologie“, die, über den Zusammenhang der Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“, in der angezeigten Weise auch den Gehalt der Hoffnungsfrage selbst noch einmal differenzierter zu bestimmen erlaubt. Neben dem für die Ethik kon503 Diese Argumentation variierte Kant freilich auch hinsichtlich der „Pflicht des Wohlwollens“, wonach, weil eben „alle Anderen außer mir nicht Alle sein“ würden, „mithin die Maxime nicht die Allgemeinheit eines Gesetzes an sich haben würde, welche doch zur Verpflichtung notwendig ist: so wird das Pflichtgesetz des Wohlwollens mich als Objekt desselben im Gebot der praktischen Vernunft mit begreifen“ (IV 587).
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stitutiven „unbedingten Zweck“ der „reinen praktischen Vernunft“ als „Ideal der reinen praktischen Vernunft“ (das „Ideal des obersten Gutes“) betrifft dies also auch das daraus vermittelte „Ideal des höchsten Gutes“ – und zwar gleichermaßen als „Ideal des höchsten abgeleiteten“ wie auch des „höchsten ursprünglichen Gutes“. Erst recht kann dies in solchem ethikotheologischen Kontext den mit der Idee einer „moralischen Teleologie“ verknüpften Anspruch nicht unberührt lassen, wonach spekulative Vernunft sich zwar „anheischig“ mache, den „sittlichen Zweck mit den Naturzwecken vermittelst der Idee eines einzigen Zwecks zu verbinden“ (V 582); denn eben dies vermag sie nicht zu leisten und verweist infolgedessen, so Kant, auf den allein gangbaren „ethikotheologischen“ Weg und „Überschritt“. Gemäß der von Kant geltend gemachten – gleichsam der „Geschichte der menschlichen Vernunft“504 eingeschriebenen – Korrespondenz von menschlichem Selbstverständnis und Gottesverständnis (und somit auch derjenigen von „höchstem abgeleiteten“ und „höchstem ursprünglichen Gut“) verändert sich freilich auch der Gehalt der daraus vermittelten Idee des „Urquell(s) alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“ (III 636). Die Idee des „höchsten abgeleiteten Guts“ fungiert innerhalb dieses erweiterten bzw. vertieften „Gefüges“ der Vernunftideen als kritisch geläuterte „ratio cognoscendi“ dieser Gottesidee doch gerade dadurch, dass das „höchste ursprüngliche Gut“ dergestalt wiederum als „ratio essendi“ desselben postulatorisch ausgewiesen wird. Dabei ist nicht zu vergessen: Wenn sich mit der gemäß dem Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, bestimmten Idee des „Übersinnlichen in uns“ das daran geknüpfte ganze Gefüge der „Ideen des Übersinnlichen“ als ein „gefügtes“ verändert, so folgt daraus, dass entsprechend jener Begründungsfigur auch die Frage nach dem Grund dieses „Vernunftgefüges“ einer besonderen Fundierung bedarf (s. o. III., 2.2.1.). Gewinnt also das „Übersinnliche in uns“ einerseits erst über diesen moralischen Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, seine Vollendungsgestalt (und geht erst darin „das Gesetz in Erfüllung“), so ist dieses, entsprechend der schon wiederholt angeführten späten Gedankenfigur, selbst als „Reflex“ des „Übersinnlichen außer uns“ zu verstehen (III 388), der als „archimedischer Punkt“ zugleich „die zwei übrigen [Ideen des „Übersinnlichen“] in seinem „Gefolge bei sich“ führt (III 411); sodann ist es die in dem solcherart bestimmten „Übersinnlichen in uns“ verankerte „innere“ „Zusammenstimmung“ dieser Ideen selbst, die in dieser neuen Konstellation das metaphysische Denken unvermeidlich auf die Abschluss-Idee eines „Grundes“ derselben hinführt. Es wäre dies ein „Grund“, der nunmehr im Sinne des späten kantischen Analogie-Motivs als „Grund aller Realitäten“ – und d. h. nicht zuletzt: dieser so qualifizierten „Zweckverbindung“ – „von
504 Auch in seinen Vorlesungen zur „Religionslehre“ hat Kant stets den „im Gang der menschlichen Vernunft“ sich reinigenden „Monotheismus“ betont, und in besonders aufschlussreicher Weise für diese Ausbildung des monotheistischen Gottesbegriffs (auch wenn dies dem „Bedürfnis der gemeinsten Vernunft“ entspricht) die sich ausbildende Reinheit der moralischen Prinzipien geltend gemacht (vgl. dazu auch die Religionslehre Pölitz: AA XXVIII, 1039 ff ). Den offensichtlich naheliegenden Bezügen (aber auch den Differenzen) zu Lessings Idee einer „Erziehung des Menschengeschlechts“ ist hier nicht nachzugehen.
312 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre uns“ gedacht werden müsste, gewissermaßen „jenseits dieser Ideen“:505 Ein „Abgrund der Vernunft“, auf den die Metaphysik unvermeidlich auf dem Weg zu ihrem „Endzweck“, also ihrem notwendigen „Überschritt zum Übersinnlichen“, stößt und über diesen Umweg erneut indirekt auf jene denkwürdige Unterscheidung Kants zwischen dem „Gegenstand schlechthin“ und dem Gegenstand in der Idee“ geführt wird (s. o. I., 2.1.1.). Eine schon erwähnte Gedankenfigur Kants wäre auch in diesem Kontext aufzunehmen: Dass das „Übersinnliche außer uns“ für endliche Vernunftwesen in keinerlei „mystischer [„intellektueller“] Anschauung“ „ansichtig“ wird, d. h. keinen „Anblick“ gewährt, sondern allein in der gebrochenen Gestalt der „Reflexe (der die Seele moralisch erleuchteten Vernunft“ (als dessen „Sprecher“: IV 628)506 vernehmbar wird, in dem es sich im Anspruch des moralischen Gesetzes Gehör verschafft und auf diesem Fundament den „Vernunftglauben“ eröffnet – ebendies impliziert in solchem Ausgang von dem gemäß der Tugendlehre transformierten Gefüge der Ideen des „Übersinnlichen“, dass dieses „Ideal der Vernunft“ doch erst über eine derartige „Brechung“ darstellbar wird – und nur in diesem Sinne führt die Verbindung von „Theologie und Moral“ auf Religion (II 338).507 Dass jener unbestimmt-„problematische“ spekulative Begriff des Absoluten sich 505 Dabei wäre – gemäß jener bedeutsamen späten Begründungsfigur (s. o. III., 2.2.1.) – dies zu beachten: Dass das (in dem gemäß den „Tugendpflichten“ als dem „Übersinnlichen in uns“ verankerte) Gefüge der „Vernunftideen“ auf die Frage nach dem „Grund“ desselben verweist, darf nicht vergessen lassen, dass auch hier „die Gottheit“ nicht einfach als „Grund“ dieses Vernunft-Gefüges gedacht werden muss, sondern als solche, die den Grund dieses „Gefüges“ in sich „enthält“ – eine auch mit Blick auf jenes Analogie-Motiv des „Gemeinspruch“-Aufsatzes aufschlussreiche Konstellation. Darauf wäre sodann Kants Charakterisierung der Gottheit als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“, zu beziehen und könnte so, in Anknüpfung an jene andere Analogie-Figur (der zufolge Gott den „Grund aller Realitäten enthält“), ganz unspektakulär und auf andere Weise auch Anschluss finden an Fichtes späte Auffassung: „Die Liebe daher ist höher denn alle Vernunft und sie ist selbst die Quelle der Vernunft …“ (GA I/9, 167). 506 Im Blick auf die Bestimmung des „Übersinnlichen in uns“ (als dem „Gott in uns“) muss auch Kants Bezug auf die „allgemein-gesetzgebende Vernunft“ als „Sprecher“ Gottes (IV 628) (als des „Übersinnlichen außer uns“) verstanden werden. – Besonders aufschlussreich ist diesbezüglich Kants Reflexion 6307, welche die Absicht erkennen lässt, jenes kritisch rezipierte (neu-)platonisierende „Reflexe“-Motiv mit biblischen Motiven zu verknüpfen: „Von Gott als der Weltursache. Das Ideal der Menschheit in ihrer ganzen Vollkommenheit ist sein erstgeborener Sohn, der Abglanz seiner Herrlichkeit, in ihm und durch ihn sind alle Dinge gemacht. – Daher heißt er auch das selbständige oder ursprüngliche Wort (der Grund des Werdens) … In ihm bloß liebt er … die Welt, und verhältnisweise auf ihn heißt der Weltschöpfer auch Vater der Menschen in seinem Sohn, d. i. als seinem ectypo. Zu dieser Übereinstimmung mit dem Ideal des Sohnes den Menschen zu bringen, ist der heiligende Geist von Ewigkeit in ihm, der das Mangelhafte Geschöpf mit dem heiligsten Willen durch die Bestrebung, dem Ideal des Sohnes ähnlich zu werden, und durch Ergänzung des Mangelhaften der Gerechtigkeit vereinigt. Er ist der Richter in uns, der uns das heilige Gesetz vorhält, danach richtet, aber auch das, was uns an Gerechtigkeit abgeht, durch das Ideal der Menschheit, wenn wir auf dem Wege sind, ihm immer näher zu kommen, ergänzt und uns im unendlichen, ununterbrochenen Fortgange demselben und zugleich der Seligkeit näher bringt“ (Refl. 6307, AA XVIII 598 f ). Als besonders aufschlussreich erweist sich diese (für 1785–1788 datierte) Reflexion nicht zuletzt dann, wenn sie einerseits im Rückblick auf das „von der Realität nur am weitesten entfernt scheinende Ideal“ (II 512 f ) und zugleich im Vorblick auf die späte Lehre von den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, gelesen wird, aber auch in Einbeziehung der kantischen Interpretation des „Menschensohn“-Motivs (und seines „Leidens“) in der „Religionsschrift“. Kant hat diese sehr bedeutsamen religionsphilosophischen Zusammenhänge freilich nicht selbst näher expliziert. 507 In Anknüpfung an schon im III. Teil benannte zentrale Motive (s. o. III., 2) wäre nun auch zu sagen: Sofern jenes „Gefüge der Vernunftideen“ im „archimedischen Punkt“ der Freiheit verankert ist, die sich
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so als ein „zur Religion tauglicher Begriff“ erweist, hätte nunmehr – in Anknüpfung an jene Kennzeichnung des „Übersinnlichen in uns“ als „Reflex“ des „Übersinnlichen außer uns“ – darin eine Entsprechung, dass die in der praktischen Vernunft verwurzelte „Idee der Menschheit, als eines Zwecks an sich selbst“ (IV 61; vgl. II 325) im Antlitz des „vernünftigen Weltwesens“ – d. i. in demjenigen eines leiblichen, bedürftigen, verletzlichen und sterblichen „Erdwesens“ (VI 399) – eine konkrete Darstellung gefunden hat. Ohne den moralisch-affirmativen Bezug darauf könnte die Vernunft als „Vermögen der Zwecke“ in dem „ihr eigentümliche(n) Gebiet“, d. i. der „Ordnung der Zwecke“ (II 357), sich auch nicht selbst erhalten; die auf das „System der Zwecke“ (als „Zwecke der Freiheit“) bezogene „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ hätte erst auf solche Weise ihre Vollendungsgestalt erreicht. Derart wird jener praktische Vernunftanspruch im Blick auf den „ganzen Gegenstand“ des „Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen“ nunmehr zu einer umgreifenden Sinnperspektive erweitert, die über die Idee des „ganzen Endzwecks der praktischen Vernunft“ hinaus in der Idee eines entsprechend modifizierten „Endzwecks der Schöpfung“ ihre Endgestalt findet. Auch dies bestätigt, dass Kants Bestimmung der Ethik über die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ (d. i. auf die demgemäß erweiterte Bestimmung des „obersten Gutes“), hinaus sich auf das „Ganze aller Zwecke“ (als auf die umfassende Idee des „höchsten Gutes“) erstreckt. Damit gewinnt jene von Kant betonte Klarstellung noch einmal einen besonderen Akzent, es solle „damit auch nicht gesagt werden: es ist zur Sittlichkeit notwendig, die Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität anzunehmen; sondern: es ist durch sie notwendig“ (V 577). Dass die an dieser Idee des „Ganzen aller Zwecke“ orientierte „moralisch konsequente Denkungsart“ zuletzt nur über diesen ethischen Anspruch der Tugendpflichten ausweisbar ist, bestätigt so auch die unumgängliche Modifikation der kantischen Ethikotheologie; erst dies könnte es, beim Wort genommen, freilich erlauben, beim späten Kant von einem „Überschritt von der Tugendlehre zur Religion“ (IV 618 f ) zu reden.508 Darin muss sich demgemäß der Status der Idee des „höchsten ursprünglichen Gutes“ verändern; das derart ethikotheologisch gewendete Motiv der „aus der Moral hervorgehenden Idee des höchsten Wesens“509 verschärft mithin jene entscheidende kantische These, dass allein durch das zuletzt am Maß der „Tugendpflichten“ orientiert, „setzt“ es sich in dieser Hinsicht selbst als „Bild des Absoluten“ – ein „Setzen“, das freilich nur „im Leben“ selbst geschieht. Im Sinne jenes „Reflexe“Motivs (und mit einer Fichte’schen Wendung formuliert: SW X, 301) „bildet es sich zum Bilde Gottes“; Vieles spricht dafür, dass dieser „Bild“-Charakter sich somit gerade in dieser – jene „Reflexe des Übersinnlichen“ explizierenden – „fides“ im „Geist des Menschen“ realisiert. 508 Kant verwendet den Terminus „Tugendlehre“ hier allerdings ganz unspezifisch. – Diesem von Kant in Aussicht (und beim Wort) genommenen „Überschritt von der Tugendlehre zur Religion“ (IV 618 f ) zufolge erlaubt der Hinweis des jungen Hegel: „Liebe ist noch nicht Religion“ (Hegel 1, 364) – freilich in einer notwendigerweise postulatorisch gebrochenen Gestalt – auch eine kantische Lesart. 509 Es ist, wie sich noch zeigen soll, in diesem erweiterten Sinne recht genau zu nehmen, wenn nach Kant durch die drei Eigenschaften des „heiligen Gesetzgebers (und Schöpfers)“, des „gütigen Regierers (und Erhalters)“ und des „gerechten Richters“ „Gott der Gegenstand der Religion wird“ (IV 263, Anm.), d. h. eine „partielle Definition“ Gottes – im Sinne des „quoad nos“ – erlaubt wird (s. dazu o. III., 3.1.); ist es nicht diese Bestimmung, die jenem schon erwähnten Hinweis auf den „göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts“ zugrunde liegt?
314 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre „Gesetz der Freiheit“ (III 629) ein „Überschritt zu jener neuen Ordnung der Dinge“ (IV 786) und somit auch eine Möglichkeit eröffnet wird, um den spekulativen (zwar ebenfalls unentbehrlichen und „transzendenz“-sichernden) Vernunftbegriff des „fehlerfreien Ideals“ nunmehr in ein „praktisch-dogmatisches Erkenntnis“ (III 635) überzuführen. Der diese Hoffnungsfrage beseelende (aus jenem „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ gespeiste) „Logos“ hat sich im Sinne dieser ethikotheologisch erweiterten „Ordnung der Willensbestimmung“ in grundsätzlicher Hinsicht gewandelt. Weist doch dessen Anspruch über jenen zunächst allgemeinen Hinweis Kants, dass „alles Hoffen auf Glückseligkeit“ geht (II 677), noch hinaus und gewinnt eben daraus noch eine besondere Vertiefung510 – so wie übrigens auch jene Kennzeichnung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“ und ebenso jene programmatische Perspektive, dass und wie „Moral unumgänglich zur Religion führt“. Damit findet auch der theologischerseits gemachte Vorschlag, Kants Frage „Was darf ich – für mich – hoffen?“ in die Frage „Was darf ich – für den anderen – in seinem Tod hoffen?“511 umzuwandeln, schon bei ihm selbst eine plausible „Übersetzung“ und Einlösung.512 Dies entspricht ohnehin der bei Kant maßgebenden Orientierung an der Idee des „höchsten Gutes“ als eines „Zwecks an sich selbst“, der dieserart über jenen Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, lediglich noch eine besondere Akzentuierung erfährt.513 Jener zunächst 510 Es ist ebenfalls ein der kantischen Postulatenlehre nahestehendes Motiv: „Nicht die Liebe zu Gott ist das Ursprüngliche des religiösen Bewusstseins, sondern die Liebe zum leidenden Menschen; und die Liebe zu Gott tritt erst ein unter mehrfachen Deutungen, wenn Gott als der Schutz der Leidenden erkannt wird. So unterscheiden sich am Amte Gottes für den leidenden Menschen Religion und Mystik. Also auch die angebliche Unendlichkeit des Bewusstseins macht die Religion nicht dem Gefühle zugänglich“ (Cohen 1996, 89 f ). Und: „Wir haben das religiöse Gefühl als Mitleid erkannt; als Entdeckung des Menschen im Leiden, als Entdeckung des Individuums am leidenden Menschen, und als Entdeckung seiner Korrelation mit Gott, die gleichsam durch dieses Leiden und Mitleiden gefügt wird. Darin besteht die schöpferische Aktivität dieses religiösen Gefühls, dieses Mitleids mit der Menschenseele“ (ebd. 94; vgl. 98 ff ). 511 Peukert 1978, 312 Anm. 1. – Auch Cohens Kennzeichnung der „Religion“ als ein „Verlangen nach Gott“ fügt sich recht gut in diesen erweiterten kantischen Kontext: „In dem Verlangen nach einem Wesen außer dem Menschen, aber für den Menschen besteht sie. Sie besteht nicht und sie begründet sich nicht in dem Verlangen nach Verewigung des eigenen menschlichen Wesens. Sie besteht nicht und sie begründet sich nicht in dem Verlangen nach Unsterblichkeit des Menschen. Dieses Verlangen sucht seine Befriedigung auch in der Selbstvergötterung, in der Vergottung des Menschen. Diese Gedanken gehören dem weiten Heerzuge des Mythos an. Religion entsteht erst mit dem Einzigen Gotte, mit dem Gotte ohne Gleichnis und ohne Bildnis“ (Cohen 1996, 138). Hier finden sich Anknüpfungspunkte für Kritik und gleichermaßen für unübersehbare affirmative Bezüge zu Kant; es wäre von besonderem Interesse, diese Motive Cohens mit einschlägigen (auf Kant verweisende) Motiven bei Adorno und Horkheimer zu vergleichen – aber auch mit denjenigen W. Benjamins, der in vielen Bezügen über die Geschichte und das „Messianische“ wohl in unübersehbarem Gegensatz zu Cohen steht. 512 Damit entgeht Kant aber auch dem theologischerseits geäußerten Einwand: „Wenn in der Glückseligkeitslehre Kants Gott zur Erfüllung bzw. Gewährleistung der Glückseligkeit postuliert wird, dann beherrscht auch hier die Instrumentalität das Feld … Gott übernimmt jene Funktionen, deren der Mensch selbst nicht Herr ist, die aber gemäß der Logik des Ganzen für die Selbstverwirklichung des Menschen durch Moralität erforderlich sind. Gott wird zum Medium des Selbstvollzugs des Subjekts.“ (H. U. v. Balthasar, zit. n. Habichler 1991, 233, Anm. 8) 513 Dass das „Weltbeste an uns und den anderen“ als das „höchste Gut“ zu „befördern“ ist, obgleich Letzteres auch in dem bestimmten Sinne sich jeder Verfügung entzieht, sofern dieses das „Weltbeste an den anderen betrifft“, dies eröffnet so eine besondere Dimension der Hoffnungsfrage (als „Hoffen für“). Die
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maßgebende Gesichtspunkt, wonach „alles Hoffen auf Glückseligkeit“ geht (II 677) und die daran gemäß der „Ordnung der Zwecke“ geknüpfte Hoffnungs-Rücksicht, dass auch die „eigene Glückseligkeit“ darin mitenthalten sei, werden so in den erweiterten ethikotheologischen Horizont übergeführt, wodurch sich nunmehr auch der in jenem „Ich will, dass ein Gott sei“ artikulierte Vernunftanspruch bzw. die sich hierfür als maßgebend erweisende „Willensbestimmung von besonderer Art“ in entscheidender Weise wandelt.514 Die damit verbundene Vertiefung der Hoffnungsfrage erlaubt es nun auch, die Frage nach dem Endzweck der Schöpfung und das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ neu zu buchstabieren, und verändert so gleichermaßen den postulatorischen Status jenes „Es ist ein Gott“ (II 633) in grundlegender Hinsicht. Anknüpfend an jene schon in der „ersten Kritik“ geäußerte Forderung, „das Weltbeste an uns und anderen zu befördern“ (II 687) und auf der Basis des voranstehend skizzierten Anspruchs der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, erlauben die in Kants „Ethikotheologie“ dargelegten Erwägungen zum Status des „höchsten Gutes“ nun noch eine genauere Differenzierung, als es diese in äußerst konzentrierter Form vorgelegten Bestimmungen für sich genommen nahelegen. Das ethikotheologisch begründete „höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“ wäre demnach, als das „höchste Weltbeste“ (V 576 f ), zunächst im Sinne der gebotenen Beförderung des „Weltbesten an uns und anderen“ zu verstehen, also auf die zu befolgenden „Rechts“- und „Tugendpflichten“ und auf das daran bemessene moralische „Ideal der Heiligkeit“ zu beziehen; der daran sogleich anschließende kantische Rekurs auf „das höchste in der Welt mögliche und, so viel an uns ist, als Endzweck [!] zu befördernde physische Gut“ als „Glückseligkeit“ zielte hingegen primär auf die „praktisch“ zu befördernde und zu erhoffende „fremde Glückseligkeit“ ab. Erst aus einer solcherart differenzierten „Ordnung der Zwecke“ könnte sich die von Kant vorgenommene Bezugnahme auf die „Glückseligkeit“ als die „subjektive Bedingung, unter welcher der Mensch (und nach unseren Begriffen auch jedes vernünftige Wesen) sich unter dem obigen Gesetze einen Endzweck setzen kann“, nämlich „unter der objektiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein“ (V 576 f ), als legitimiert erweisen. Die Idee der „moralischen Teleologie“ und somit die Vermittlung der Ethik als des „Systems der Zwecke der Freiheit“ mit dem den Weltbegriff der Philosophie“ erst abschließenden „höchsten Zweck“ verlangen – und erlauben dies auch! – freilich auf der Basis der in diesem Kapitel vorgestellten Überlegungen wesentlich differenziertere Vermittlungsschritte, als dies die hier angeführten Bestimmungen zum „höchsten Gut“ im Kontext des „moralischen Beweises des Daseins Gottes“ (V 573 ff ) für sich genommen vermuten lassen. Auf dem Fundament dieser erweiterten Idee einer „Ethikotheologie“ gebotene „Beförderung des höchsten Gutes“ impliziert also Kant zufolge die „Hoffnung für die Anderen“ – und nicht zuletzt dieses „Hoffen für“ verweist sodann auf den „Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (IV 651), in dem auch der mit jenen „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, unabweislich verbundene Anspruch aufgehoben ist. 514 So wie der moralische Anspruch bzw. die Intentionalität der „Tugendpflichten“ über die „Moralität“ im engeren Sinne hinausweist, so gilt dies in analoger Weise für die spezifische Intentionalität nach Maßgabe der „Tugendpflichten“, welche die erhoffte „allgemeine Glückseligkeit“ transzendiert.
316 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre wird in der Explikation der die „teleologia rationis humanae“ konstituierenden Momente ein bemerkenswerter Zusammenhang sichtbar, nicht zuletzt hinsichtlich der von Kant betonten „Verknüpfung“ und „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“. Genauer noch wäre zu sagen: Jener Gedanke des „Endzwecks der Schöpfung“ (der darin grenzbegrifflich gedachte „Sinn aus sich selber“) ist mit den moralisch unbedingten „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“ und dem erst darin angemessen bestimmten „praktischen Endzweck“ untrennbar verbunden (und gleichsam in der umgreifenden Idee des „Ganzen aller Zwecke“ vereint); der Zusammenhang dieser Momente ist der Ausgangspunkt für die späte Bestimmung der daraus resultierenden Gottesidee als „Urquell alles Guten in der Welt, als sein Endzweck“ (III 636). Im Anschluss an Kants Idee des „Systems der Zwecke“ bzw. des „Systems der Zwecke der Freiheit“ zeigt sich in dieser „teleologia rationis humanae“ die Verknüpfung des in den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, formulierten (a) „Endzwecks der reinen praktischen Vernunft“ (worin sich die „praktisch-revolutionierte Denkungsart“ erfüllt) mit dem über die Differenzierung des „Hoffens-für“ und „Hoffens-auf“ bestimmten (b) „Endzwecks der praktischen Vernunft“, der so (c) auf dessen „ratio essendi“, d. i. auf den „Endzweck der Schöpfung“, verweist; die darin sich differenzierende und nur so auch „sich selbst erhaltende Vernunft“ hat (d) in dem „Vernunftglauben“ (bzw. in dessen „terminus ad quem“) ihr letztes Fundament. Jene frühe These Kants: „Das Prinzip der Selbsterhaltung der Vernunft ist das Fundament des Vernunftglaubens“515 fände in dieser erweiterten Gestalt nicht nur eine denkwürdige Bestätigung bzw. Einlösung; im Ausblick auf die späte Bestimmung der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, wäre zudem darauf zu achten, dass die als „Fundament des Vernunftglaubens“ behauptete „Selbsterhaltung der Vernunft“ ohne diese „Vernunftzwecke“ nicht unverkürzt zu denken ist, zumal ohne sie der „praktische Endzweck der Vernunft“ nicht zureichend bestimmt werden könnte. Dass „alles Hoffen auf Glückseligkeit geht“, stellt so in einer anderen Hinsicht wiederum das Fundament des „Vernunftglaubens“ dar, sofern dieser sich eben als „Hoffnungsglaube“ erweist. Dass „Moral unumgänglich zur Religion führe“, hätte dergestalt noch einmal eine festere Verankerung gefunden. Durchaus in Übereinstimmung mit Kants Hinweis, dass es doch „ein und dieselbe Vernunft“ ist, wäre dergestalt – „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ – in dieser „teleologia rationis humanae“ ein unauflösbarer Begründungszusammenhang von „Liebe, Hoffnung und Glauben“ zu rekonstruieren. Vor dem angezeigten Problemhintergrund ist die eigentümliche Stellung dieser „Hoffnung“ (und ihr spezifischer Sinngehalt) darin dadurch bestimmt, dass sie sich als eine „Hoffnung der Liebe“ erweist und zugleich diejenige ist, die diesen Glauben als einen „Hoffnungsglauben“ qualifiziert. „Begründet hoffen“ impliziert dieser kantischen Trias „Liebe, Hoffnung, Glaube“ zufolge somit vornehmlich die zweifache Hinsicht, dass dieses Hoffen auf das erweiterte „höchste Gut“ einerseits in der Liebe (dem „Gesetz aller Gesetze“ als dem „Endzweck“ der „reinen praktischen Vernunft“) als „ratio essendi“ verankert ist und zugleich selbst auf den „Hoffnungsglauben“
515 Refl. 2446, AA XVI, 371 f.
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verweist, worin Vernunft sich selbst „erhält“.516 Hat Kant zunächst die Hoffnung als die Basis des Glaubens ausgewiesen, so erweist sich vor dem hier maßgebenden Hintergrund der „Tugendpflichten“ nunmehr die Liebe als das Fundament der Hoffnung, die so auch jener Differenzierung des „Hoffens-für“ und des „Hoffens-auf“ zugrunde liegt. In Rückblendung auf jenes frühe, systematisch bedeutsame Motiv der „Selbsterhaltung der Vernunft“ sowie vor dem Hintergrund eines solchen Begründungszusammenhangs von „Liebe, Hoffnung und Glaube“ gewinnt jene späte, gleichsam resümierende Perspektive Kants auf den im „dritten Stadium der Metaphysik“ eröffneten „Endzweck der Metaphysik“ (und deren „zweckmäßiger“ Verbindung jener „Ideen des Übersinnlichen“) noch einmal einen besonderen Stellenwert: „Nunmehro lässt sich das dritte Stadium in den Fortschritten der reinen Vernunft zu ihrem Endzweck verzeichnen. – Es macht einen Kreis aus, dessen Grenzlinie in sich selbst zurück kehrt, und so ein Ganzes von Erkenntnissen des Übersinnlichen beschließt, außer dem nichts von dieser Art weiter ist, und der doch auch alles befasst, was dem Bedürfnis dieser Vernunft genügen kann“ (III 638). Dieses zur Kennzeichnung des „dritten Stadiums der Metaphysik“ verwendete Bild des „Kreises“ (bzw. dessen „in sich zurückkehrende Grenzlinie“) ist nun wohl in dem erweiterten Sinne zu nehmen, dass das darin beschlossene „Ganze von Erkenntnissen des Übersinnlichen“ sich gleichermaßen auf die jetzt zur „Zweckverbindung“ gefestigte Verknüpfung der „Vernunftideen“ und auf ihre Verankerung in der (für diese „Zweckverbindung“ grundlegenden) Idee der – freilich allein im „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“ „offenbar“ werdenden, d. h. ihre „Realität“ erweisenden – Freiheit verweist; an sie als „theoretische Bedingung alles Praktischen“ schließen nun die Ideen von „Gott und Unsterblichkeit“ (als „theoretische Bedingungen“ des „höchsten Gutes“) an, deren „objektive Realität“ anders als in dieser „postulatorischen Brechung“ eben nicht zu erweisen ist: Die selbst in dem Bewusstsein des „moralischen Gesetzes“ verwurzelte „Zweckverbindung“ der Vernunftideen (im „dritten Stadium der Metaphysik“) wird demnach ihrerseits in jener existenzialanthropologischen Perspektive „aufgehoben“, die in dem postulatorischen „Ich will, dass ein Gott usw. sei“ nunmehr erst auf die „objektive Realität“ des in jenen Ideen Gedachten – als der Vernunft „abgenötigte Voraussetzungen“ – abzielt. Diese differenzierte Begründungsfigur ist offenbar in jener Beschreibung des „dritten Stadiums der Metaphysik“ als ein „Kreis“, „dessen Grenzlinie in sich selbst zurückkehrt“, und der hierfür geltend gemachten „Erkenntnis des Übersinnlichen“ zu bedenken, d. h. nachzuzeichnen; in solchem Anspruch einer im „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ (III 629 ff ) erreichbaren „Erkenntnis des Übersinnlichen“ sind demnach jene späte metaphysische „Zweckverbindung der Ideen des Übersinnlichen“ und die „existenzialanthropologische“ Wendung der Postulatenlehre auf eine Weise vereint, die in dieser Begründungsfigur auch erst jenen zweifachen Sinn jener „objektiven Realität“ – als Bestimmung der inhaltlichen „Sachhaltigkeit“ und als „Dasein“ – einzuholen und zu verbinden vermag. Es soll sich noch erweisen: Zu einer solchen Perspektive eines „Endzwecks der Metaphysik“ innerhalb dieses „dritten Stadiums“ gehört desgleichen die Rücksicht auf eine 516 Brandt (2007a, 15) identifiziert jene drei berühmten Fragen Kants als die „auf die drei christlichen Tugenden des Glaubens, Hoffens und Liebens zurückdatierbare(n) Fragen“.
318 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Selbstbegrenzung der Ansprüche dieser kritischen Metaphysik und somit auch die kritische Besinnung darauf, dass das in jenem kantischen Bild des „Kreises“ angezeigte „System der Postulate“ (als „Ideen des Übersinnlichen“) gleichwohl selbst einen Begründungszusammenhang darstellt, der sich der durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchteten Vernunft“ verdankt, nunmehr jedoch als Folie der bzw. als Richtmaß für die bestimmten geschichtlichen Religionen fungiert und das heißt: vor (Ver-)Blendungen bewahrt (s. dazu u. den Abschnitt V., 1.). Damit eröffnet diese Hoffnungsthematik – von dem jenem „praktischen Ideal“ innewohnenden Anspruch und dem daraus gespeisten unbedingten „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ inspiriert – weitere Sinnperspektiven, welche die Konzeption seiner Ethikotheologie nicht unwesentlich differenzieren bzw. auch deren Anspruch erheblich erweitern. Es sollte deutlich geworden sein: In solchem Ausgang macht es jener neu definierte Standpunkt der Freiheit und die ihm angemessene „ganz neue Ordnung der Dinge“ unumgänglich, die Frage nach dem „praktischen Endzweck der Vernunft“ und dem „letzten Zweck der Schöpfung überhaupt“ noch einmal grundsätzlicher zu stellen – nämlich auf eine Weise, die nunmehr den „ganzen Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, d. i. eines reinen Willens“ zu bestimmen erlaubt. Jenes zwar schon im Abschnitt „Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ (in Kants „erster Kritik“) benannte Motiv, dem „göttlichen Willen … dadurch allein zu dienen [zu] glauben, dass wir das Weltbeste an uns und an andern befördern“ (II 687), kann mithin allein über den Aufweis des Stellenwerts der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, eine angemessene Entfaltung finden und bietet so auch ein allein tragfähiges Fundament für eine erweiterte ethikotheologische Konzeption „im Ausgang von Kant“. Erst recht berührt dies sodann jene späte kantische Bestimmung des „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ (III 636).517 Bevor ein Rekurs auf jenes schon angezeigte denkwürdige „Analogie“-Motiv im „Gemeinspruch“-Aufsatz diese Problemzusammenhänge noch in wesentlichen Bezügen vertiefen soll, sei hier noch ein Exkurs angefügt. 517 Finden diese hier angezeigten kantischen Motive (und ihre Verknüpfung) die ihnen gebührende Beachtung, so bieten sie selbst unverkennbare Anknüpfungspunkte für jene Problemaspekte, die K. Düsing indes bei Kant noch vermisst: „Ferner scheint für das umfassende Gesamtziel allen ethischen Strebens der Menschen, für das höchste Gut, die prinzipielle Begründung in einer formalen Deontologie inhaltlich zu schmal zu sein. Das Sittengesetz erweist sich vielmehr über die formale Allgemeinheit hinaus als ein Gesetz wechselseitig sich anerkennender, selbständiger und freier Personen, für die in anspruchsvoller Intersubjektivität eine Liebesethik gilt, wie sie ebenfalls schon die christliche Lehre entwarf. Dann aber zeigt sich, dass insbesondere Kants Begriff der Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Gutes tiefer begründet werden muss. Das höchste Gut ist vielmehr … für die einzelnen Person ebenso wie für ganze ethischen Gemeinschaften von Personen als Gesamthorizont gelingenden ethischen Lebens und gelingender ethischer Freiheit und der darin zu erfahrenden Erfüllung anzusehen. Dazu aber gehört die Voraussetzung, das Postulat im Kantischen Sinne, eines letzten Horizonts von Sinngegebenheit, der nicht bloß ‚gemacht‘ ist“ (Düsing, 2010b, 71). Der in diesem Kapitel aufgewiesene Zusammenhang der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ (in dem das moralische Gesetz erst „in Erfüllung geht“), mit dem dementsprechend erweiterten „praktischen Endzweck“ („höchstes Gut“) und die damit verbundene Hoffnungskonzeption sowie die hierfür vorausgesetzte Idee des „Endzwecks der Schöpfung“ weisen genau in diese Richtung und lassen im Sinne dieser „nicht gemachten Sinngegebenheit“ auch Kants denkwürdigen Verweis auf eine „transzendentale Steigerung“ verstehen.
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4.1.2. Exkurs: Zu Adornos Lesart der kantischen Postulatenlehre Anmerkungsweise sei noch darauf hingewiesen: Eine in der angezeigten Weise modifizierte Ethikotheologie sollte auch jenem problemsensiblen Anliegen Adornos gerecht werden, das beide Aspekte der Idee der „Menschheit“ gewissermaßen „ethikotheologisch“ vereint: „Noch die christliche Lehre von Tod und Unsterblichkeit, in der die Konzeption der absoluten Individualität gründet, wäre ganz nichtig, wenn sie nicht die Menschheit einschlösse. Der Einzelne, der absolut und für sich allein auf Unsterblichkeit hofft, würde in solcher Beschränkung nur das Prinzip der Selbsterhaltung ins Widersinnige vergrößern, dem das Wirf weg, damit du gewinnst, Einhalt gebietet“518. Damit greift Adorno ein – Kant durchaus nahes – Motiv auf, das er schon früh gegen Horkheimer (und in Verweis auf Benjamin) verteidigt hatte: „Sie sagen, es sei der Jenseits-Hoffnung der Katholiken und dem bürgerlichen schlechten Materialismus gemeinsam, ‚dass ihr Handeln wesentlich auf das Wohl der eigenen Person bezogen war‘. Ich glaube, hier tun Sie dem theologischen Motiv unrecht. Denn die verzweifelte Hoffnung, in der allein das an Religion mir zu sein scheint, worin sie mehr ist als verhüllend, ist nicht sowohl die Sorge um das eigene Ich als vielmehr die, daß man Tod und unwiederbringliches Verlorensein des geliebten Menschen – oder Tod und Verlorensein derer, denen Unrecht geschah, nicht denken [! und erst recht nicht wollen!] kann, und selbst heute kann ich oft nicht verstehen, wie man ohne Hoffnung für jene auch nur einen Atemzug zu tun vermöchte. Benjamin hat im dritten Kapitel der Wahlverwandtschaften-Arbeit ausgesprochen, daß die Hoffnung allein für den anderen gilt und nie für den Hoffenden, und so, glaube ich, hält es auch die jüdische Theologie. Vielleicht ist es nur dieser winzige Zug, der es mir nicht gestattet, hier alles dem Erdboden gleichzumachen. Aber ich weiß freilich, daß für lang und vielleicht für unsere Lebenszeit davon zu schweigen ist.“519 Diese Motive Adornos erweisen sich vornehmlich mit Blick auf Kant insbesonders deshalb als höchst aufschlussreich, weil so auch die Verbindung jener latenten Motive der kantischen Geschichtsphilosophie (und der darin bestimmenden geschichtstheoretisch „revolutionierten Denkungsart“) (s. o. II., 4.3.) mit der im Sinne des „Imperativs, der die Tu518 Adorno GS 4, 171. – Mit Rücksicht auf jene in dem Bezug auf das „höchste Gut“ maßgebende „Willensbestimmung von besonderer Art“ und im Sinne dieses angeführten – noch in Kants Idee des „Weltbesten“ und dem „Reich der Zwecke“ anklingenden – Adorno-Motivs entgeht Kants Postulatenlehre wohl auch dem Einwand, sie sei lediglich eine „theologische Ergänzung der Ethik“ und als solche „im Kern als Symptom einer reduzierten Anthropologie“ anzusehen; diesen Vorwurf will Rentsch indes mit dem Hinweis auf den „monologisch-solipsistisch(en), ja mehr noch: passiv-rezeptiv(en)“ Charakter jener erwähnten Bestimmung der „Glückseligkeit“ erhärten (s. Rentsch 1999, 315 f ). 519 Brief Adornos an Horkheimer (v. 25. Jänner 1937): Horkheimer 1995, 34 f. – Adorno bezieht sich hier auf jenes schon angeführte berühmte Motiv Benjamins (s. o. II., 4.3.). Dass man „Tod und Verlorensein derer, denen Unrecht geschah, nicht denken kann“, wäre dann doch wohl in jenem schon erwähnten Sinne zu verstehen, dass dieser Sachverhalt als „Tatsache“ nicht im Sinne eines ein Einverständnis bekundenden „Urteils“ (also in solcher Hinsicht „assertorisch“) ausgesprochen werden kann, ein solches Einverständnis dazu vielmehr verweigert werden muss. Damit wäre es genauer besehen also weder ein „problematisches Urteil“, „wo man das Bejahen oder Verneinen als bloß möglich (beliebig) annimmt“, noch ein „assertorisches“, „da es als wirklich (wahr) betrachtet wird“ (II 114) und eben dafür gleichsam „die Verantwortung übernommen wird“.
320 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre gendpflicht gebietet“ (die sich auf den „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, also „der eigenen Vollkommenheit“ und der „fremden Glückseligkeit“, orientiert), verstandenen moralisch „revolutionierten Denkungsart“ – nicht zuletzt in Einbeziehung der kantischen Bestimmung von „fides“ – noch auf weitere Problemperspektiven führt. Werden doch über eine solche Einbeziehung des Benjamin’schen Motivs der „Rettung des Hoffnungslosen“ (s. o. II., 4.3.1.) auch die Konturen einer erweiterten Postulatenlehre sichtbar, die in Adornos einschlägigen Kant-Passagen seiner „Meditationen zur Metaphysik“ Aufnahme gefunden haben.520 Noch eine an jenen Hinweis Adornos, dass „die Hoffnung allein für den anderen gilt und nie für den Hoffenden“, anknüpfende Assoziation sei hier erwähnt: Wenn Kant „das höchste Gut zu befördern (das Reich Gottes zu uns zu bringen)“, als einen „auf ein Gesetz gründende(n) Wunsch“ (IV 262) charakterisierte und in der Schlussanmerkung zur „Religionsschrift“ sogar betonte, dass der „moralische Wunsch“ den „Geist des Gebets ausmacht“ (IV 873), so spricht in der Sache einiges wohl auch dafür, beide Aspekte dieses „moralischen Wunsches“ zu vereinigen und sie zunächst im Ausblick auf die in der späteren „Tugendlehre“ als „Zweck, der zugleich Pflicht ist“, ausgewiesene „fremde Glückseligkeit“ zu charakterisieren. Sodann bliebe auch jenem von Kant betonten Umstand in adäquater Weise Rechnung zu tragen, dass die „Erreichbarkeit des Zwecks des höchsten Guts“ (die sich nunmehr freilich auf die der Moralität angemessene „fremde Glückseligkeit“ bezieht!) eben nicht in unserer „Gewalt“ steht, d. h. prinzipiell unverfügbar bleibt (s. u. VI., 2.1.).
4.2. Eine höchst bedeutsame Modifikation dieser ethikotheologischen Begründungsfigur in Kants „Gemeinspruch“-Aufsatz Die schon angeführte lange Anmerkung über die „Willensbestimmung von besonderer Art“ (s. o. III., 1.3.) und das daran geknüpfte Motiv des „sich nach der Analogie mit der Gottheit“ (VI 133, Anm.) denkenden Menschen in Kants „Gemeinspruch“-Aufsatz verdient nun in diesem Kontext in mehrfacher Hinsicht besonderes Interesse, zumal dabei – gewiss eher beiläufig, d. h. keinesfalls in der sachlich gebotenen Ausführlichkeit und konsequenten Entfaltung – bedeutsame weiterführende Problemaspekte sichtbar werden.521 Zunächst ist diese „Analogie“-Figur schon im Blick auf das gemäß dem „obersten 520 „Der Gedanke [Adornos], daß in der Idee der Wahrheit der Tod nicht nur metaphorisch – als der des Wahren – sondern buchstäblich negiert wird, bringt ein theologisches Motiv mit Kant und gegen Kant zur Geltung. Kantisch ist der von Adorno unterstellte Primat der praktischen über die theoretische Vernunft und der Anschluß an die Kantische Postulatenlehre, die Adorno [gemäß jener „Unausdenkbarkeit“] in einer charakteristischen Wendung, freilich nicht auf die Besserung der Täter, sondern auf das Leiden der Opfer bezieht […] Un-kantisch dagegen, gegen Kant gedacht, ist es, wenn Adorno im theologischen Motiv ein materialistisches zur Geltung bringt, das auf die Verweltlichung des transzendierenden Impulses abzielt. Der Gang der Geschichte nötigt die Metaphysik zum Materialismus, gegen den sie einmal konzipiert war; nötigt sie, auf den ‚Schauplatz des Leidens‘ herabzusteigen, die ‚somatische, sinnferne Schicht des Lebendigen‘, nachdem in den Lagern ‚alles Beschwichtigende des Geistes … ohne Trost verbrannte‘ [Negative Dialektik 358]“ (Wellmer 1993, 209). 521 Die nachfolgenden Überlegungen wollen für das religionsphilosophische Potenzial sensibilisieren, das diesen späten Motiven des „Gemeinspruch“-Aufsatzes (und der diesbezüglich verwandten – die „Tu-
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Prinzip der Tugendlehre“ zu modifizierende Ideen-Gefüge und auf die darin – im Sinne einer motivlich zugeschärften „moralisch konsequenten Denkungsart“ – neu zu explizierende Korrelation zwischen dem „praktischen Endzweck“ und dem „Endzweck der Schöpfung“ beachtenswert.522 Die daran geknüpften religionsphilosophischen Motive und Konstellationen weisen wohl über den im Wesentlichen durch die Ethikotheologie der „dritten Kritik“ bzw. durch das Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ markierten Rahmen noch hinaus. Ebenso wird sich zeigen, dass Kants Verweis auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ (VI 186) gleichermaßen im Sinne eines uneinholbaren geschichtlichen Sinn-Vorschusses und eines moral-transzendierenden Sinn-Überschusses zu verstehen ist – Themen, die im V. Teil noch weiter zu verfolgen sind (s. dazu näher u. V., 3.).523 4.2.1. Der „sich nach der Analogie mit der Gottheit“ denkende Mensch – vor dem Hintergrund der durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchteten praktischen Vernunft“ Für den hier in den Vordergrund tretenden thematischen Zusammenhang ist insbesonders der Sachverhalt bedeutsam, dass im Ausgang von den „Tugendpflichten“ auch jenes – als „Willensbestimmung von besonderer Art“ bezeichnete – Leitmotiv der erweiterten Ethikotheologie in einer unübersehbaren Zuschärfung zur Geltung kommt. In einer besonderen Akzentuierung wird darin jene unauflösliche Korrelation von menschlichem Selbstverständnis und Gottesbegriff sichtbar – ohne dass damit jedoch, wenigstens dem Anspruch nach, das Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ überschritten wäre. Jene innere Zuordnung der Vernunftideen gewinnt so bei Kant selbst noch ein besonderes Profil: Zwar „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, jedoch auf eine Weise, die in Berufung auf die traditionelle Gedankenfigur der „Analogie“ ihre motivliche Anleihe bzw. Abhängigkeit bei bzw. von „hergebrachte(n) fromme(n) gendlehre“ beschließenden – Motive der „Metaphysik der Sitten“) innewohnt. 522 Noch in der im Jahr 1796 erschienenen kleinen Schrift: „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie“ findet sich folgende Bemerkung: „Wenn es nun Pflicht ist, zu einem gewissen Zweck (dem höchsten Gut) hinzuwirken, so muss ich auch berechtigt sein anzunehmen: dass die Bedingungen da sind, unter denen allein diese Leistung der Pflicht möglich ist, obzwar dieselben übersinnlich sind, und wir (in theoretischer Rücksicht) keine Erkenntnis derselben zu erlangen vermögend sind“ (III 411, Anm.). Dieser „Zweck“ bezieht sich jedoch eben gerade nicht auf das (ohnehin nicht bewirkbare) „höchste Gut“ gewissermaßen „in eigener Sache“, resultiert die Rücksicht darauf nach Kant doch lediglich aus der Hoffnung darauf, dass diese „eigene Glückseligkeit“ selbst in dem zu befördernden „Weltbesten“ aufgehoben ist. Sehr bemerkenswert ist (und zwar gerade auch im Blick auf die von Kant im § 88 der „Kritik der Urteilskraft“ vorgenommene „Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises“!) der hier ausdrücklich vorgenommene bzw. betonte Hinweis, dass „wir (in theoretischer Rücksicht) keine Erkenntnis derselben zu erlangen vermögend sind“. 523 Es soll sich noch zeigen, dass es Kant keineswegs darum zu tun war, „die Vernunft von aller Überlieferung, Tradition und Glauben daran unabhängig zu machen“ (so Hamann in seiner „Metakritik über den Purismum der Vernunft“. Werke III, 284, zit. n. Simon 2003, 270), sondern die vernunft-orientierte Aneignung derselben sein Ziel war.
322 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Lehren“ und der durch diese „erleuchtete(n) praktische(n) Vernunft“ (VI 186) nicht verleugnen kann – und dies, im Sinne eines geschichtlichen „Sinnvorschusses“, wohl auch gar nicht verleugnen will.524 Im Blick auf die „Geschichte der Vernunft“ – d. i. auf die darin entfaltete Differenz und Einheit des „Schul- und Weltbegriffs der Philosophie“, auf das soeben benannte Motiv der „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete Vernunft“ sowie auf das schon wiederholt benannte Thema einer „Selbstbegrenzung der Vernunft“ – sei auch daran noch einmal erinnert: So unzweifelhaft das „Ideal der sittlichen Vollkommenheit“ in jenem „absolut Guten“ begründet ist, so gewinnt es, wie angezeigt, seine Vollendung doch allein im Sinne jenes Anspruchs der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, weshalb die „praktischrevolutionierte Denkungsart“ und der entsprechende Freiheitsbegriff erst darin ihr letztes „Maß“ finden können und dies somit auch das „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ definiert (IV 713). Eine Folgerung daraus wäre, dass auch jene kantische These, wonach die Idee der Freiheit die „beiden anderen [nämlich Gott und Unsterblichkeit bzw. genauer das „höchste abgeleitete Gut“] bei sich führet“, eine besondere Bedeutung gewinnen muss – jedenfalls dann, wenn sich auch Kants Bestimmung Gottes als „Urbild des Guten“ nun an diesem neu gewonnenen Maßstab des „Ideals der Tugend“ bemisst.525 Ausgehend von dem Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ – von der darin verankerten ethikotheologischen Begründungsfigur und der mitenthaltenen Rücksicht auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ – führt der Gedanke, dass wir den „Begriff von Gott, als dem höchsten [ursprünglichen] Gut“ lediglich „aus der Idee“ haben, „die die Vernunft apriori von sittlicher Vollkommenheit entwirft“ (IV 36), in der angezeigten Weise darauf, dass dieser „einige Gott (den ihr nicht sehet)“ (ebd.), als „Urbild des Guten“, nun als „Gott der Liebe“ bestimmt werden kann. Desgleichen wurde, jenem „Ideal der Sittlichkeit“ gemäß und entsprechend den „beiden anderen mit sich geführten Ideen“, diese Hoffnung nunmehr explizit als „Hoffnung für“ ausgewiesen, deren besondere Intentionalität durch „Wohl und Heil der anderen“, d. h. die „fremde Glückseligkeit“, bestimmt ist und insofern auch jene Hoffnung auf die „allgemeine Glückseligkeit“ noch einmal tranformiert. Dieserart ist für jene Orientierung an der Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ noch ein weiterer Horizont eröffnet, worin jene „Willensbe524 S. u. V., 3.1. – Dies dürfte die Ansicht doch wenigstens relativieren, dass Kant sich „durch seine besorgte Kritik am Kirchenglauben und dessen schwärmerischen Varianten auf eine unhaltbare anti-historische Auffassung des moralischen Glaubens verpflichtet“ habe (so Vossenkuhl 1992, 179). Kants Rekurs auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ darf auch als eine indirekte selbstkritische „genealogische“ Besinnung (betreffend das Verhältnis von Religion und Philosophie) gelesen werden, zumal ohne diese besondere „Selbstkritik“ die von Kant intendierte „Selbsterkenntnis der Vernunft“ auch in dieser Hinsicht nicht einzulösen ist. 525 Die Wirklichkeit dieses „Ideals“ (als das „Übersinnliche in uns“ und der „Idee der Menschheit“ gemäß) hat bei Kant als „unentbehrliches Richtmaß der Vernunft“ einerseits eine genaue Entsprechung in der Idee des „Reichs der Zwecke“ (gemäß der „Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann“ (II 323 f ) bzw. in dem „Ideal“ des „ethischen Gemeinwesens“, dem wiederum das „Ideal Gottes“ als „moralisches Oberhaupt“ korrespondiert. In einer religionsgeschichtlichen Perspektive wäre genau diese unauflösliche Korrelation dieser „Ideale“ und die ihr immanente Dynamik zu verfolgen, ebenso die mit der unauflöslichen Verbindung dieser „Ideale“ einhergehende Differenzierung der „Reich Gottes“-Idee.
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stimmung von besonderer Art“ auch erst ihr äußerstes Ziel zu finden vermag – ein Motiv, das in Kants „Gemeinspruch“-Aufsatz jedenfalls schon deutlich zutage tritt. Diese von der „Tugendlehre“ (näherhin dem Anspruch der „Tugendpflichten“) aus zu verfolgenden religionsphilosophischen Linien, die Kant selbst freilich nicht mehr ausgezogen hat, legen zweifellos eine Vertiefung der ethikotheologischen Begründungsfiguren nahe. Wenn demnach die kantische Bestimmung des „Urquell(s) alles Guten, als seinen Endzweck“ (III 636), nunmehr auf jene Bestimmung der „Gottheit“ verweist, die „ob zwar subjektiv keines äußeren Dinges bedürftig, gleichwohl nicht gedacht werden kann, dass sie sich in sich selbst verschlösse, sondern das höchste Gut außer sich hervorzubringen, selbst durch das Bewusstsein ihrer Allgenugsamkeit, bestimmt sei“ (VI 133, Anm.), so muss von daher der Verweis Kants auf den sich „nach der Analogie mit der Gottheit“ (eben als „Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck“: III 636) denkenden Menschen und dessen „ganze Bestimmung“ einen besonderen – weil systematisch bedeutsamen – Stellenwert gewinnen, zumal darin jener von Kant betonte religions-konstitutive Zusammenhang von Moral und Theologie“ eine religionsphilosophisch bemerkenswerte Konkretisierung erfährt. Sofern sich die „praktisch-revolutionierte Denkungsart“ demzufolge nicht allein „ex negativo“ an der kritisch gedachten „theologischen Idee“ (im Sinne einer „negativen Theologie“) bemisst, sondern sich nunmehr an der Vorstellung der „aus sich herausgetretenen Gottheit“ orientiert, können, im Ausgang davon, „an den Grenzen der bloßen Vernunft“ die Umrisse einer religionsphilosophischen Begründungsfigur sichtbar werden, die auch noch über jenen eröffneten „praktisch-dogmatischen Überschritt“ hinausweisen. Sie werden in der weiteren Folge sowohl im Sinne jenes geschichtlichen Sinnvor- als auch eines moral-transzendierenden Sinnüberschusses, für ein der „Vernunft fremdes Angebot“ (s. dazu u. V., 3.) der besonderen Art sensibilisieren.526 Offensichtlich impliziert schon jenes „Analogie“-Motiv des „Gemeinspruch“-Aufsatzes (VI 133, Anm.) – dies indiziert indirekt sowohl einen geschichtlichen „Sinnvorschuss“ als auch eine moral-transzendierende Sinnperspektive –, dass die „aus sich herausgetretene Gottheit“ eben immer schon „zuvor gekommen ist“, d. h. das „vernünftige Weltwesen“ daran lediglich „Teil gewinnt“ und somit den Gedanken, dass „eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen“, sei soll (VI 133, Anm.), stets in nachfolgender Teilnahme, affirmiert – ein Aspekt, der in jener von Kant betonten „Willensbestimmung von besonderer Art“ ebenfalls mitzuhören ist. Gemäß der in jener „Analogie“ ausgesprochenen Hinwendung zur Welt „will“ dieses „vernünftige Weltwesen“, „dass eine Welt überhaupt existiere“; derart „realisiert“ sich diese teilhabende Sinnaffirmation gemäß jener „Willensbestimmung“ in der praktischen Bewährung in ihr527 und gewinnt 526 Hier finden sich auch, in verschiedenen Nuancierungen, besondere Anknüpfungen für eine „Inversion der Aktivität“ der Vernunft, die N. Fischer in seinen einschlägigen Kant-Interpretationen verfolgt. 527 Beide Aspekte sind vermutlich auch in dieser „Willensbestimmung von besonderer Art“ wiederzufinden (III., 1.3.). In diesem Sinne darf wohl auch Sommers zutreffende Bemerkung gelesen werden: „Dass solche Zustimmung zu dem, was ist, nicht die eines Zuschauers, sondern die eines Handelnden ist und dass diese Welt- und Selbstbejahung nicht vor dem Handeln und nach dem Handeln geschieht, sondern nur mit ihm und in ihm: das bewahrt das moralische Subjekt vor jeglichem Quietismus und Fatalismus. Im
324 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre so Anteil an der „das höchste Gut außer sich hervorbringenden“ Gottheit, die (als „sich nicht verschließender Schöpfer“: VI 133, Anm.) schon aus sich herausgetreten ist. Es liegt lediglich in der Konsequenz dieser kantischen Motive, dass die sich nicht verschließende, sondern „aus sich heraustretende“ Gottheit, die „durch Verstand und Freiheit der Urheber aller Dinge“ ist (II 557), allein in der teil-nehmenden „Beförderung des höchsten Gutes“ durch das „vernünftige Weltwesen“ selbst das Ziel ihres „Heraustretens“ erreicht und folglich der Mensch auch nicht anders als ein an diesem Heraustreten Gottes „praktisch“ teilhabendes „Geschöpf“ ihm die „Ehre erweist“. Im Grunde präzisiert jenes zuvor angeführte Motiv einer „den sittlichen höchsten Zwecken angemessenen Welt“ des „Gemeinspruch“-Aufsatzes ohnedies den in der Vorrede der „Religionsschrift“ angeführten Gedanken, weshalb der rechtschaffene Mensch „auch wollen“ würde, „dass eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, dass das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde“ (IV 652). Genauer noch wäre wohl zu sagen: Das der „vernünftigen Hoffnung“ zwar in Aussicht gestellte „Anteil-Gewinnen“ am „höchsten Gut“ ist an die Bedingung der vorgängigen „durch die Tat“ „praktischen“ Teilnahme am „Heraustreten“ der „sich nicht verschließenden Gottheit“ geknüpft. Jene frühe Notiz Kants: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“,528 gewinnt im Kontext dieses späten „Analogie“Motivs zweifellos eine unübersehbare Zuschärfung. Sie erweist sich innerhalb dieser ethikotheologisch vertieften Begründungsfigur wenigstens in der zweifachen Hinsicht als sehr erhellend, dass, im Lichte dieser späten kantischen religionsphilosophischen Motive, darin die Bestimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ und des gebotenen „moralischen Zwecks“ engstens vereint sind: Zunächst zielt dies auf den von Kant stets betonten Sachverhalt, dass die erhoffte „göttliche Güte und Gnade“ das vorausgehende menschlich-moralische Bemühen voraussetzt, also „wir (in gewisser Absicht) Gutes selbst zu tun haben, um etwas zu erlangen“ (IV 705, Anm.); sodann verweist es auch auf Gegenteil: nur wer moralisch gut handelt – und das schließt ein: nur wer ‚die Pflicht, mit anderen wegen ihrer Unterdrückung gemeinschaftliche Sache zu machen‘, erfüllt, nur dem gelingt, indem er dies tut, jene Zustimmung“ (Sommer 1988, 181). 528 Menzer 1924, 66. Jene kantische Lesart des „Deus vult habere alios condiligentes“ wäre im Lichte jenes sich nach der „Analogie mit der aus sich heraustretenden Gottheit“ denkenden Menschen vielleicht auch so zu verstehen, dass derart „Gott mit uns über uns hinaus will“, d. h. eben: „die Glückseligkeit der Menschen, durch Menschen, will“. – Diese späte kantische „Analogie“-Figur sowie Kants Bestimmung Gottes als „Urquell alles Guten in der Welt als seinen Endzweck“ erinnert auf überraschende Weise nicht zuletzt an jene „durch hergebrachte fromme Lehren“ inspirierten (neuplatonischen) Motive, wie sie sich etwa bei Ps.-Dionysius Areopagita finden: „Der aufgrund des Übermaßes an Gutheit Alles Verursachende liebt Alles, schafft Alles, vollendet Alles, hält Alles zusammen, führt Alles zurück und ist Alles und die göttliche gute Liebe geht auf das Gute hin wegen des Guten. Denn die gut-wirkende Liebe zum Seienden selbst, die in dem Guten im Übermaß vorherbesteht, ließ ihn nicht unfruchtbar in sich selbst verharren, sondern bewegte ihn vielmehr zum [schöpferischen] Tun gemäß dem Alles zeugenden Übermaß“ (Ps.Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV10; 155, 14–20. Hg. v. B.R. Suchla [Patristische Texte und Studien. Band 33]. Berlin 1990, zit. n. Beierwaltes 1998a, 72). – Zu diesem „ekstatischen“ Charakter der Liebe Gottes merkt Beierwaltes des Weiteren an: „In die universale Bewegung des Rückkehr oder des Rückgangs in den Ursprung gehört – als ‚Antwort‘ auf die liebende Ekstasis des Gottes in die Welt – die ‚soteriologische‘ Ekstasis des Menschen …“ (ebd. 75); eine motivliche Verknüpfung dieser beiden Aspekte ist offenbar in Kants Analogie-Figur wiederzuerkennen.
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die „Pflicht der Nächstenliebe“, also die „Pflicht, anderer ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen“ (IV 586). Aber auch auf Kants frühen – ganz beiläufigen – Hinweis, dass „man unter dem Begriffe von Gott nicht etwa bloß eine blind wirkende ewige Natur, als die Wurzel der Dinge, sondern ein höchstes Wesen, das durch Verstand und Freiheit der Urheber der Dinge sein soll, zu verstehen gewohnt [!] ist, und auch dieser Begriff allein uns interessiert“ (II 557),529 fällt in einer derart erweiterten ethikotheologischen Perspektive ein besonderes Licht. Darin wird – gemäß dem Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ – umrisshaft eine religionsphilosophisch verankerte Sinnperspektive sichtbar, die insofern noch eine besondere Zuschärfung erfährt, als sie über jene frühe kantische These, wonach „alles Hoffen auf Glückseligkeit geht“, noch hinausführt. Über diese motivlichen Bezüge zur Tugendlehre rückt die Verknüpfung von „Moral und Religion“ unter neuen Vorzeichen ins Blickfeld, die jene in ihrem Wandel (der „Kultur der Vernunft“) zu bedenkende Korrespondenz von menschlichem Selbstverständnis und dem Gottesbewusstsein in geschichtlicher Konkretheit anzeigt. Auch in solcher Nuancierung und im Sinne jener „in der Geschichte der menschlichen Vernunft“ (gemäß der „Promotion“ des sittlichen Selbstbewusstseins) offenbar werdenden Wandlung eines erweiterten „Begriffs vom göttlichen Wesen“ (II 685 f ) vermag der modifizierte ethikotheologische Charakter des Gottespostulates in dem so vermittelten „Fortgange der Vernunft“ ebenso der Forderung nach einem „genau bestimmten Begriff dieses Urwesens“ (IV 273; vgl. V 614) ungleich besser zu entsprechen. So gewinnt die damit verbundene Lehre vom „symbolischen Anthropomorphismus“ wohl noch eine wichtige Vertiefung; jenes kantische Programm „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ verbindet sich in solchem „Symbolischen“ überdies mit Kants Hinweis auf die durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“, der offensichtlich auch einen wichtigen Hinweis auf die „Geschichtlichkeit der Vernunft“ enthält. In solchen Motivkonstellationen zeigt sich überdies, dass in diesem „Analogie“Motiv Kants „platonisierende“ Bezugnahme auf die „Reflexe des Übersinnlichen“ (die „die Seele moralisch erleuchtende Vernunft“) und der Rekurs auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ sowie das Lehrstück von den „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, in eigentümlicher Weise miteinander verschmelzen. Das an der Idee des „Übersinnlichen außer uns“ (als „Reflexe“ derselben) teilnehmende „Übersinnliche in uns“ realisiert sich als „teilnehmende Vernunft“, hat darin ihr Maß an diesem Anspruch der „Tugendpflichten“ und gewinnt dergestalt Anteil an der sich nicht verschließenden, sondern aus sich herausgetretenen – das „höchste Gut“ hervorbringenden – „Gottheit“ (VI 133, Anm.), die darin gewissermaßen selbst „zur Erscheinung“ kommt. In Einbeziehung der zeitlich und motivlich nahen Bezüge der „Religionsschrift“ erscheint in dieser Hinsicht die für dieses „ethische Gemeinwesen“ konstitutive Verbindung der Orientierung an dieser „Beförderung des höchsten Gutes“ als einer „gemeinschaftlichen 529 Dieser hier ganz beiläufige Rekurs auf den „gewohnten“ „Begriff Gottes“ wird sich mit Blick auf das Verhältnis zwischen Philosophie und den geschichtlich-„positiven“ Glaubensarten noch als besonders interessant erweisen.
326 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Aufgabe“ mit der durch den „symbolischen Anthropomorphismus“ geläuterten religiösen Vorstellung Gottes (als „weiser Welturheber“ und ein „Vater, der aller Glückseligkeit will“) auch nach Kant durchaus als legitim und als „moralisch zuträglich“. Anknüpfend an jene vom späten Kant vorgezeichnete Begründungsfigur: „Ingleichen hat man da etwas, wodurch das Übersinnliche (Gott, worauf der Zweck eigentlich geht) erkannt werden kann, weil ein Gesetz der Freiheit als übersinnlich gegeben ist“ (III 629), gewinnt die Korrelation zwischen „moralischem Selbstverständnis“ und „Gottesidee“ vor dem Hintergrund dieser Analogie-Figur des „Gemeinspruch“-Aufsatzes offensichtlich ein besonderes Gewicht. Dies gilt in der Folge nicht weniger für den daran geknüpften – auf den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ (III 629 ff ) gemünzten – Hinweis auf den Zusammenhang der praktischen Vernunftideen „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“. Und lediglich eine Konsequenz daraus scheint es zu sein, dass Kants Bezugnahme auf das „Interesse der Vernunft“, das in ihrem „praktischen Gebrauch“ „in der Bestimmung des Willens, in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks“ bestehe (IV 250), allein auf diesem angezeigten Weg ihre endgültige Einlösung zu finden vermag. In solchem Ausgang gewinnt erst recht Kants Mahnung, „nicht über göttliche besondere Eigenschaften [zu] grübeln, sondern [wir] müssen ihn nur in Relation auf unser moralisches Gesetz bestimmen“,530 auch einen besonders provozierenden Sinn. Davon bleibt in der Folge natürlich auch Kants Kennzeichnung der „Ehre Gottes“ als „Endzweck der Schöpfung“ (IV 263; V 576, Anm.; IV 632) nicht unberührt (vgl. III., 1.3.3.). Sie wäre demnach daran gebunden, dass „vernünftige Weltwesen“ allein in dem – über den Verzicht auf das „Sich zur Ausnahme-Machens“ gegenüber dem moralischen Gesetz noch hinausgehenden – „Von-sich-Absehen“ ihren Status als „Endzweck der Schöpfung“531 bewähren und so an dem „Aus-sich-Heraustreten“532 der sich nicht verschließenden Gottheit Anteil gewinnen bzw. – in Anlehnung an und zugleich in Korrektur eines berühmten platonischen Motivs533 – darin eine „Verähnlichung“ suchen. Erweist sich jene kantische Version des „Sonnengleichnisses“ auch in einer solchen sachlichen Hinsicht aufs Engste mit jener Analogie-Figur verknüpft, so wäre dies – im Blick auf den durchaus „bibel-festen“ Kant – vielleicht auch lesbar als seine „authentische Auslegung“ bzw. „Übersetzung“ des biblisch-johanneischen Wortes: „Niemand hat Gott je gesehen; aber wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1 Joh 4,12; 1 Joh 4,16). Gemäß dem Programm der kantischen Religionsphilosophie und im nochmaligen Rekurs auf die unauflösliche Einheit des „Übersinnlichen in uns“ und des „Übersinnlichen außer 530 Kant AA XXIII, 71. 531 Auch in diesem Kontext sei noch einmal an Refl. 7251 (AA XIX 294) erinnert: „Das regulative Prinzip der Freiheit: dass sie sich nur nicht widerstreite; das konstitutive: dass sie sich wechselseitig befördere, nämlich den Zweck: die Glückseligkeit.“ 532 Dieses denkwürdige Motiv des „Gemeinspruch“-Aufsatzes nimmt sich (so wie seine Bestimmung des „Endzwecks der Schöpfung“) zugleich wie eine Antwort auf eine These des Kant ja wohlvertrauten Pierre Bayle aus: „Gott kann nur sich lieben, nur an sich denken, nur für sich selbst arbeiten. Gott sucht, indem er den Menschen macht, seinen Nutzen, seinen Ruhm“ usw. (P. Bayle, Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Menschheit, zit. n. L. Feuerbach, Bd. 6, 2. Kap., 34, Anm.). 533 Vgl. Platon, Theaitetos 176b – d.
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uns“ liegt es dann wohl nahe, dies auch mit Kants ausdrücklicher Bezugnahme auf das johanneische „Gott ist die Liebe“ (IV 813) zu verbinden534 – an den Grenzen der bloßen Vernunft und gemäß einem „reflektierenden Glauben“ (IV 704, Anm.) –, gleichsam als letztes „analogisches“ Explikat des „Ideals der Vernunft“ in einer gemäß dem kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ gebrochenen Gestalt? Sodann spräche, einer solchen Lesart zufolge, vieles auch dafür, dass Kants später Hinweis auf die „verschleierte Göttin, vor der wir … unsere Knie beugen, … [d. i.] das moralische Gesetz“ (III 395) dem Levinas’schen Motiv wohl nahekommt: „Aber nur der Mensch, der den verschleierten Gott erkannt hat, kann diese Entschleierung fordern“.535 Dies wäre offenbar lediglich die 534 Diese Motive spielen bekanntlich beim jungen Hegel in seiner zunehmenden Abwendung von Kant (die zugleich eine produktive Anknüpfung ist) eine bedeutsame Rolle. – Deshalb wäre auch eine von dem kantischen Motiv des „sich nach der Analogie mit der Gottheit denkenden Menschen“ ausgehende Konfrontation mit diesen Leitmotiven des jungen Hegel höchst aufschlussreich. Nicht zuletzt könnte auch im Ausgang von diesem kantischen Analogie-Motiv ein neues Licht auf Hegels – unterschiedliche, ja widersprüchliche – Bestimmungen des Verhältnisses von „Liebe und Religion“ (ihre Einheit und Differenz) fallen – insbesondere freilich auch auf jene sachlichen Schwierigkeiten, die sich in Hegels Notiz widerspiegeln: „Das Ideal können wir nicht außer uns setzen, sonst wäre es ein Objekt, – nicht in uns allein [!], sonst wäre es kein Ideal“ (Hegel 1, 244). – Wohl (auch) darauf bezieht sich Henrichs Hinweis, wonach der junge (Frankfurter) Hegel „zunächst … diese Liebe noch Kantisch als eine Art von Verhalten zur Welt, also analog zur Imagination gedacht“ habe (Henrich 1967a, 26). Natürlich weckt (wie auch durch andere Passagen aus den Jugendschriften Hegels zu belegen wäre) solcher Bezug auf diese „von der Einbildungskraft zum Wesen gemacht(e)“ Liebe Assoziationen zu einschlägigen „junghegelianisch“religionskritischen Motiven; dies gilt natürlich in besonderer Weise für Hegels Notiz: „Gott ist die Liebe, die Liebe ist Gott, es gibt keine andere Gottheit als die Liebe – nur was nicht göttlich ist, was nicht liebt, muss die Gottheit in der Idee haben, außer sich“ (Hegel 1, 304). – Im Ausgang von jenen späten Motiven Kants wäre vielleicht auch die gegen ihn gerichtete Kritik des jungen Hegel erneut zu prüfen – nicht zuletzt angesichts der von Henrich angezeigten Konsequenzen: „In dem Augenblick als Hegel auf die kantische Moraltheologie verzichtete, ohne die kantischen Grundlagen seines Denkens zu verändern, war er im strengen Sinne zu einem bloßen Kritiker jedes möglichen Sinnes von Religion geworden. Denn es fehlte ihm nun die Basis zur Einführung eines von unserem sittlichen Bewusstsein unterschiedenen vernünftigen Wesens, – die Basis zur Einführung eines Begriffs von Gott. Religion war für ihn nunmehr allein die Weise, in der Menschen, die in Gemeinschaft leben, das reine Ideal der Autonomie kennen lernen und zur einzigen Triebkraft ihres Handelns werden lassen können“ (Henrich 1967b, 61). Diese fundamentale (unbewältigte) Schwierigkeit tritt wohl noch in Hegels berühmtem Fragment über „Glauben und Sein“ entgegen (Hegel 1, 250–254), nicht zuletzt in der (schon erwähnten) zentralen These: „Sein kann nur geglaubt werden: Glauben setzt ein Sein voraus“; diese „Unabhängigkeit, die Absolutheit des Seins ist es, woran man sich stößt; es soll wohl sein, aber dadurch, dass es ist, sei es deswegen nicht für uns; die Unabhängigkeit des Seins soll darin bestehen, dass es ist, es sei nun für uns oder nicht für uns, das Sein soll etwas schlechthin von uns Getrenntes sein können, in dem es nicht notwendig liege, dass wir mit ihm in Beziehung kommen; inwiefern kann etwas sein, von welchem es doch möglich wäre, dass wir es nicht glaubten?“ (ebd. 251 f ). – Diese Fragen (wie auch die einschlägigen Bezüge im „Systemfragment von 1800“) weisen der Sache nach freilich auf die – die grenzbegriffliche Bestimmung der „theologischen Idee“ voraussetzende – kantische Begründungsfigur zurück, wonach aus „Theologie, Moral, und, durch beider Verbindung, Religion“ (II 338) resultiert bzw. daraus auch legitimiert wird. 535 Levinas 1996, 113. Das kantische Motiv, dass das „Übersinnliche“ nur „in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft)“ in darin gebrochener Gestalt zu sehen ist, steht auch einschlägigen Motiven Levinas’ wohl durchaus nahe (vgl. z. B. E. Levinas 1987b, 235). Gleichwohl hätte Kant es vermutlich als eine unerlaubte Vermengung von „Ethik und Religion“ zurückgewiesen (die die ethikotheologische Vermittlungsaufgabe im Grunde einebnet und damit auch das Gefüge des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ verkürzt), wenn Levinas geltend macht, „‚dass mir Gott einfällt‘, wenn ich Verantwortung für den Anderen übernehme“ (zit. n. B. Casper, Denken im Angesicht des Anderen.
328 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Kehrseite davon, dass ein Rekurs auf die „Ehre Gottes“ als „Endzweck der Schöpfung“, der auf eine Aufhebung der „moralischen Autonomie“ hinausliefe, sich selbst widersprechen müsste, zumal dies mit der „moralischen Weisheit“ des Welturhebers und ebenso mit der geschöpflichen Würde des Menschen doch ganz unvereinbar bliebe. Mit Rücksicht auf jenen erläuterten Sachverhalt, dass sich nach Kant das „Gesetz der Moralität“ erst über die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, erfüllt, wird in diesem „Analogie-Motiv“ des „Gemeinspruch“-Aufsatzes eine – offensichtlich wiederum durch „hergebrachte fromme Lehren“ (VI 186) inspirierte – Perspektive der Hoffnungsthematik wenigstens angezeigt, die über den früher maßgebenden „Bestimmungsgrund des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ unübersehbar hinausweist. In diesem Sinne wandelt sich innerhalb des neu bestimmten Ideen-Gefüges auch der Stellenwert und der Sinngehalt der Idee des „Übersinnlichen außer uns“, welche für „vernünftige, endliche Wesen“ in nun modifizierter Weise ihre „symbolische Darstellung“ finden muss. Damit erweist sich jene kantische Mahnung, den „Begriff von einer Gottheit“ nicht leichtfertig zu „verschwenden“ (V 562), erneut als besonders bedeutsam. Derart gewinnt jene Korrespondenz von menschlichem Selbstverständnis und Gottesbegriff in der Tat ein neues Profil und vertieft somit auch den inneren Zusammenhang der Hoffnungs- und der Gottesfrage, der in jener „Analogie“-Figur des „Gemeinspruch“-Aufsatzes zweifellos noch enger geworden ist. Erst über dieses „Korrespondenz“-Motiv können mithin auch die in jener so denkwürdigen Argumentation des „Gemeinspruch“-Aufsatzes leitende „Idee des Ganzen aller Zwecke“ (VI 133, Anm.) und die Idee des „Reichs der Zwecke“ ihre Vollendung finden; dieses nimmt nunmehr die besondere Gestalt an, dass darin jene „unter der Fahne der Tugend Versammelten“ sich als das „Volk Gottes“ verstehen. Es spricht deshalb einiges auch dafür, jenes (noch spätere) kantische „Sonnengleichnis“ auch im Sinne des von ihm gerühmten „herrlichen Wegs der Analogie“ im Lichte des thomistischen „Spiegelmotivs“ zu lesen: „Videre aliquid per speculum est videre causam per effectum, in quo eius similitudine relucet.“536 Ebendies, dass das im Spiegel Gesehene freilich auf seinen unsichtbaren Grund verweist bzw. darauf „zurückleuchtet“ und hinsehend „belichtet“, weist die Unbedingtheit des praktischen Vernunftanspruchs (das „Übersinnliche in uns“) sowie das darin gebotene „Aus-sich-heraustreten-Müssen“ gewissermaßen als „Abbild“ des unerkennbaren „Übersinnlichen außer uns“ aus. Derart vermag das „vernünftige Weltwesen“ nach seiner spezifischen „Beschaffenheit“ sich selbst in solchem Spiegel (im Sinne eines kritischen „Als-ob“) aus solcher Herkünftigkeit und Teilhabe zu begreifen und weiß sich mithin ebenso in dem unabweislichen Anspruch, eben dieses Teilhabe-Verhältnis – die darin gedachte Ähnlichkeit in der (in der Reflexe aufbewahrten) je „größeren Unähnlichkeit“ – als „teilnehmende Vernunft“, „aus sich“ heraustretend und „von sich absehend“, im „Gottesdienst des Lebens“ zu bewähren. Dass nach Kant die „Freiheit“ selbst es ist, die „unvermeidlich auf heilige Geheimnisse führt“ Zur Einführung in das Denken von Emmanuel Levinas, in: H. H. Henrix (Hg.), Verantwortung für den Anderen – und die Frage nach Gott: zum Werk von Emmanuel Levinas. Aachen 1984, 34). Waren da einschlägige „Einfälle“ Feuerbachs vielleicht doch lediglich konsequenter? 536 Thomas v. Aquin STh II–II q 180 a3, ad 2.
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(IV 805), bleibt auch in diesem Problemkontext beachtenswert (s. dazu V., 3.2.); genauer besehen weist diese Freiheit in zweifacher Hinsicht („in regressu“ und „in consequentia“) auf „viel zu denken“ gebende „Geheimnisse“ – nämlich sowohl in Rücksicht darauf, was ihren „unerforschlichen Grund“, als auch in gebotener Voraussicht, was die Folgen und „Früchte“ ihrer Handlungen betrifft (davon wird im V. Teil noch die Rede sein). Kants denkwürdiger Hinweis auf den sich nach der „Analogie mit der Gottheit denkenden Menschen“, der darin an dem sich nicht verschließenden, sondern immer schon aus sich herausgetretenen Gott partizipiert und in der praktischen Orientierung bewährt, dass „Gott die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ will – also nicht nur Gott, sondern der Mensch als „vernünftiges Weltwesen“ diesen Endzweck bejaht und auch nur so das „Ganze aller Zwecke“ gedacht werden kann! –, macht auch dies noch einmal deutlich: Wurde die Idee des „Endzwecks vom Dasein einer Welt“ (V 576) vorerst als „die Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen“ ausgewiesen, so findet dies im „Gemeinspruch“-Aufsatz noch eine besondere Zuschärfung. Bringt sich darin doch die in der „Willensbestimmung von besonderer Art“ intendierte – moralisch inspirierte – Sinnaffirmation als ein letztes „Warum“ zum Ausdruck, dass auch eine solche „moralische Welt“ „dasein“ und als eine solche auch erhoffbar sein soll (II 557). Der in der Bestimmung des Menschen als „Endzweck der Schöpfung“ enthaltene affirmative Zuspruch – gar dies, dass die (freilich nicht reduktionistisch bestimmte) „Glückseligkeit des Menschen“ allein als „Endzweck der Schöpfung“ vorzustellen sei – bleibt so vorgängig auf den hohen Anspruch an den Menschen verwiesen, der in der Verbindlichkeit der Rechts- und Tugendpflichten konkrete Gestalt gewinnt. Im Blick auf jene von Kant betonte „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ legt sich auch folgende Problemperspektive nahe: Entsprechend jener wahrhaft praktisch-„revolutionierten Denkungsart“ des als „Endzweck der Schöpfung“ existierenden Menschen – und der in jener unauflöslichen Einheit und „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen“ realisierten „moralischen Teleologie“ – führt dies auf den Gedanken, dass das in der Beförderung je „fremder Glückseligkeit“ aus sich heraustretende – und an der sich nicht verschließenden „Gottheit“ „teilnehmende“ – „vernünftige Weltwesen“ im Sinne jener Bestimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ (als „Liebe des Welturhebers“, „wie man sich doch denken muss“: IV 632),537 dergestalt „seine ganze Bestimmung“ erfüllt und so (gemäß der an der revolutionierten Denkungs537 Nicht zuletzt in diesem Motiv des „Zwecks der Schöpfung“ und in der angezeigten moral-transzendierenden „Sinn-Affirmation“ finden sich doch wenigstens Anknüpfungspunkte für jene religionsphilosophisch-theologischen Fragen, die M. Striet in Kants ethischer Engführung bzw. „Ethisierung der Religion“ indes vermisst (Striet 2005, bes. 180 ff ). Auch wenn einzuräumen ist, dass Kant eine reduktionistische Bestimmung der Religion bisweilen begünstigt, so bleibt aber doch zu fragen, ob eine sich selbst treu bleibende (und deshalb auf notwendige Grenzziehungen genau bedachte) Philosophie noch – und zwar als Philosophie – das leisten bzw. einzuholen vermag, was Striet ihr zumutet: „Gleichwohl wird eine das Evangelium von dem Gott verantwortende Philosophie, der der Gott Jesu und damit der Gott Israels ist, Kants Fixierung auf die Dimension der Ethik aufbrechen müssen“ (ebd. 180). Solche Forderung darf freilich nicht übersehen, dass Kant selbst, in grenzbegrifflich einräumender „Achtsamkeit“, auf an die reine Vernunft anstoßende „Fragen“ verweist bzw. hierfür sensibilisiert, d. h. sie als ein der „(praktischen) Vernunft fremdes Angebot“ auch legitimiert (s. u. V., 3.).
330 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre art Maß nehmenden Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“) allein dem als „moralischer Welturheber“ immer schon aus „sich herausgetretenen Gottheit“ die Ehre erweist. Eine Konsequenz daraus wäre freilich dies: Wenn demzufolge erst in solchem „Aus-sichHeraustreten“ des Menschen sich jenes Heraustreten Gottes (als „Schöpfer“) vollendet und so den göttlichen „Endzweck“ und somit die „Ehre Gottes“ erfüllt, so verbleibt auch dies in solcher Hinsicht noch in einer unerfüllten Spannung zu jenem – von Kant unverkennbar Spinoza-kritisch gewendeten – „Gott alles in allem“ (IV 802). Allein in dieser praktisch orientierten „Beförderung des höchsten Gutes“ nimmt jener „rechtschaffene Mensch“ an dieser „aus sich heraus getretenen Gottheit“ auf eine Weise teil, die Kant zufolge als „Endzweck der Schöpfung“ – d. h. als die „Ehre Gottes“ – zu legitimieren ist.538 In der „von sich absehenden“ praktischen „Beförderung“ der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, selbst vollzieht sich der endzweck-affirmierende Zusammenschluss mit dem „göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts (dessen Schöpfung und Leitung)“, der nur als „Liebe, d. i. dass er die Glückseligkeit der Menschen sei“ (IV 630), gedacht werden kann – eben dies ist die „Realisierung“ der Bestimmung des Menschen als „copula von Endlichem und Unendlichem“. Die voranstehend skizzierte Begründungsfigur geht dem Gesagten zufolge zunächst davon aus bzw. wird dadurch legitimiert, dass die „reine Zwecklehre“ (welche keine andere als die der Freiheit sein kann)“ (V 168) erst in den (eben allein „unbedingten“) „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“, ihren Abschluss findet. Diese fundierende Einbeziehung der „sittlichen höchsten Zwecke“ erweist sich für die umfassende Bestimmung des „Reichs der Zwecke“ als unverzichtbar, zumal dieses doch auf ein „Ganzes aller Zwecke“ (IV 66) abzielt und somit auch in die Bestimmung des umfassenden „Endzwecks der Schöpfung“ eingehen muss (der ohne diese „sittlichen höchsten Zwecke“ nicht zureichend gedacht werden kann). Derart ist nunmehr der notwendige Bezug auf den „praktischen Endzweck“ mit dem „Ganzen aller Zwecke“ als dem „Endzweck der Schöpfung“ verknüpft, der in jenem selbst schon „symbolisch vorgestellten“ „Urquell alles Guten in der Welt, als seine(m) Endzweck“, gewissermaßen letztbegründet ist. Dergestalt sind die von Kant so genannten – in der „Geschichte der reinen Vernunft“ als solche explizierten – „Elemente“ des „praktisch-dogmatischen Überschrittes“ in dieser „moralisch-teleologischen Verknüpfung“ aufeinander bezogen und somit auch die „Vollendung des Weges der Metaphysik“, d. h. deren „Endzweck“, erreicht. Dies bedeutet aber auch: Nur in einer gewissermaßen „doppelten Brechung“ vermag das Motiv des „sich nach der Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen (gemäß jenem „göttlichen Menschen in uns“: II 513) einen problematischen praktisch-moralischen Überschwang bzw. eine Anmaßung (welche die dem Menschen angemessene „sittliche Stufe“ verkennen müsste: IV 207), zu vermeiden und gleichermaßen einen kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ zu legitimieren. 538 Im Lichte dieser späten Motive Kants gewinnt seine Bemerkung aus der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“, dass „praktische Vernunft“ dem „transzendentalen Ideal … Bedeutung in praktischer Absicht“ verschafft, besondere Relevanz, wenn darin der Anspruch der im Sinne der „Tugendpflichten“ bestimmten Freiheit mit dem entsprechenden Gottesbegriff vereint gedacht ist und so auch das „Ideal des höchsten Gutes“ erst als Gegenstand der Hoffnung bestimmbar wird.
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Bezüglich jenes „sich nach der Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen (der eben, so Kant, zu „Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen“ steht) (VI 133, Anm.), bleibt nicht zuletzt auch dies beachtenswert: Diese Gedankenfigur stellt genauer besehen ja selbst schon eine Art „Analogie (in) der Analogie“ dar: Denn zum einen war die Bestimmung des „höchsten ursprünglichen Gutes“ – und nicht zuletzt diejenige des „göttlichen Zweck(s) in Ansehung des menschlichen Geschlechts“, der nur als ein solcher „aus Liebe“ gedacht werden kann – selbst schon als „symbolische Darstellung“ des „Verhältnisses Gottes zur Welt, von der ich selbst ein Teil bin“ (III 233) aufzufassen – einer „Gottheit“ wohlgemerkt, von der „nicht gedacht [!] werden [kann], dass sie sich in sich selbst verschlösse“ (VI 133, Anm.). In Analogie zu diesem (symbolisch) „im Verhältnis zur Welt“ gedachten Gott ist sonach auch der sich nach jener „Analogie mit der Gottheit“ denkende Mensch zu verstehen, der als „vernünftiges Weltwesen“ in der „Beförderung des höchsten Gutes“ zuletzt in der umfassenden Idee der „moralischen Welt“ (II 709; VI 133, Anm.) sein Maß findet. Vor dem Hintergrund jenes aufschlussreichen Analogie-Motivs des „Gemeinspruch“Aufsatzes erschließt sich wohl auch erst jene in der Schlussanmerkung der späten „Tugendlehre“ ausgesprochene kantische These in ihrer ganzen Bedeutung: „Den göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts (dessen Schöpfung und Leitung) kann man sich nicht anders denken, als nur aus Liebe, d. i. dass er die Glückseligkeit der Menschen sei. Das Prinzip des Willens Gottes aber in Ansehung der schuldigen Achtung (Ehrfurcht), welche die Wirkungen der ersteren einschränkt, d. i. des göttlichen Rechts, kann kein anderes sein als das der Gerechtigkeit. Man könnte sich (nach Menschenart) auch so ausdrücken: Gott hat vernünftige Wesen erschaffen, gleichsam aus dem Bedürfnisse, etwas außer sich zu haben, was er lieben könne, oder auch von dem er geliebt werde“ (IV 629 f ).539 Eine solche Argumentation läuft freilich nur dann nicht auf einen Rückfall hinter jene von Kant verworfenen („endzweck“-vergessenen) Konzeptionen eines „Endzwecks der Schöpfung“ hinaus, wenn dabei genau bedacht bleibt, dass diese „Glückseligkeit“ als „göttlicher Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts“ doch auch dies besagt, dass erst über diese Bestimmung des Endzwecks, „das Weltbeste an uns und anderen zu befördern“ – der wiederum an der Beförderung „fremder Glückseligkeit“ sein Maß hat! – jener angeführte „göttliche Zweck“ als angemessen bestimmt gelten kann und dies zuletzt auch jenem Motiv des „Aus-sich-Heraustretens“ zugrunde liegt. So weist auch diese sehr späte kantische Bemerkung über den „göttlichen Zweck“ der Sache nach noch einmal in denkwürdiger Weise auf jene sehr frühe Notiz zurück, wonach „Gott … die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ wolle. Sie gewinnt nunmehr in diesem Kontext sogar einen besonderen Ort; zugleich erhält sie aber in solcher ethikotheologischen Einbindung ihr besonderes Gewicht und auch ihren eminent provozierenden Sinn. Dies bestätigt erneut, dass aus der Verbindung dieser kantischen Motive der Grundriss einer dieserart erweiterten Ethikotheologie resultiert. 539 Diesen „göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts“ nannte Kant auch ausdrücklich den „objektive(n) Zweck Gottes bei der Schöpfung“ (so in den Vorlesungen über Rationaltheologie: AA XXVIII, 1100).
332 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre In ähnlicher Weise gilt dies nun wohl auch für jene schon angeführte kantische Bestimmung der „Gottseligkeit“: „Gottseligkeit ist also nicht ein Surrogat der Tugend, um sie zu entbehren, sondern die Vollendung derselben, um mit der Hoffnung der endlichen Gelingung aller unserer guten Zwecke bekrönt werden zu können“ (IV 859). Derart wird eine bedeutsame späte Konfiguration von religionsphilosophischen Motiven sichtbar, die eine enge sachliche Verbindung der kantischen Bezugnahme auf das personifizierte „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ (IV 712 ff ) mit jener AnalogieFigur des „Gemeinspruch“-Aufsatzes sowie mit den „Tugendpflichten“ und zuletzt jenem von Kant am Ende seiner „Tugendlehre“ benannten „göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts“ anzeigt. 4.2.2. Die diesem Analogie-Motiv gemäße „objektive Realität“ der „personifizierten Idee des guten Prinzips“ Jedoch auch noch in einer anderen Hinsicht verdient jener lange Passus aus dem „Gemeinspruch“-Aufsatz besondere Beachtung: Es verweist zweifellos auf ein bedenkenswertes (obgleich von Kant selbst offensichtlich nicht zureichend expliziertes) Sachproblem, dass in dieser kantischen Argumentation das Primäranalogat die im Sinne des „quoad nos“ immer schon „für uns“ symbolisch dargestellte „Gottheit“ ist und jener Bezug auf die „Willensbestimmung von besonderer Art“ in einem derartigen Ausgang – analog dazu – unverkennbar an jüdisch-christliche Glaubensinhalte anknüpft. Bemerkenswerterweise hat Kant in einer diese Thematik betreffenden Anmerkung der „Religionsschrift“ jedoch genau umgekehrt argumentiert – und zwar, genauer besehen, in mehrfacher Hinsicht: Liege es doch, so heißt es in dieser (beinahe zeitgleich mit dem „Gemeinspruch“-Aufsatz erschienenen) „Religionsschrift“, lediglich an der unüberwindlichen „Beschränktheit der menschlichen Vernunft“, dass wir, „um uns übersinnliche Beschaffenheiten fasslich zu machen, immer einer gewissen Analogie mit Naturwesen“ bedürfen; dies bleibe in der Folge natürlich erst recht für die Gottesthematik zu beachten – denn: „Zu dieser Vorstellungsart bequemt [!] sich auch die Schrift, um die Liebe Gottes zum menschlichen Geschlecht uns ihrem Grade nach fasslich zu machen, indem sie ihm die höchste Aufopferung beilegt, die nur ein liebendes Wesen tun kann, um selbst Unwürdige glücklich zu machen … ob wir uns gleich durch die Vernunft keinen Begriff davon machen können, wie ein allgenugsames Wesen etwas von dem, was zu seiner Seligkeit gehört, aufopfern, und sich eines Besitzes berauben könne. Das ist der Schematism der Analogie (zur Erläuterung), den wir nicht entbehren können. Diesen aber in einen Schematism der Objektbestimmung (zur Erweiterung unserer Erkenntnis) zu verwandeln, ist Anthropomorphism, der in moralischer Absicht (in der Religion) von den nachteiligsten Folgen ist“ (IV 718, Anm.). Auch hier ist die kantische Rechtfertigung dafür, dass ein solcher Anthropomorphismus es erlauben soll, von Gott als einem „Unbekannten“ zu reden, „zwar nicht nach dem, was es an sich selbst ist, aber doch nach dem, was es für mich ist, nämlich in Ansehung der Welt, davon ich ein Teil bin“ (III 233), letztendlich im Sinne einer sinn-
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lich-„symbolischen Darstellung“ aufzunehmen, die derart eine nähere Bestimmung gewinnt und ebenfalls einen gleichsam „eschatologischen Vermerk“ enthält: Letzteren bringt Kant bezeichnenderweise in diesem „Schematism der Analogie“ zum Ausdruck; der darin enthaltene „Zeitindex“ bezieht sich ebenso auf die angeführte Vorstellung der „Liebe Gottes zum menschlichen Geschlecht“ wie im Grunde auf alle „Eigenschaften, … wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird“ (d. h. sich als „gütiger Regierer“, „gerechter Richter“ und auch als „weiser Welturheber“ „erweist“). Dieser zunächst im „Schematismus der Analogie“ angezeigte „Zeit-Aspekt“ wird sich im näheren Kontext der – in die erweiterte Ethikotheologie eingebundenen – Theodizee-Thematik bezüglich der dort geltend gemachten Gottesprädikate im Ausgang von dem „Bedürfnis der fragenden (und klagenden) Vernunft noch in besonderer Weise als höchst bedenkenswert erweisen (s. u. VI. Teil, bes. VI. 1.; s. dazu auch o. III., 4.). Bedeutsam ist in dem mit jenem „Analogie“-Motiv des „Gemeinspruch“-Aufsatzes engstens verbundenen Problemzusammenhang freilich dies: Hatte Kant (in jener Anmerkung in der Vorrede zur ersten Auflage der „Religionsschrift“) die Rücksicht auf den „bei allen Handlungen“ intendierten „Zweck“ als „eine von den unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen“ geltend gemacht, so tritt in jener (nahezu zeitgleich vorgestellten) Analogie-Figur dieses „Gemeinspruch“-Aufsatzes hingegen geradezu eine „Inversion der Intentionalität“ zutage: Jene (für sich genommen zwar) gewiss missverständliche Begründung dafür, dass es „der Vernunft [!] doch unmöglich gleichgültig sein“ könne, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge, „was denn aus diesem [allerdings nun dem Maß des „obersten Prinzips der Tugendlehre“ genügenden] Rechthandeln herauskomme“ (IV 651), erweist sich in solchem ethikotheologischen Horizont vielmehr als eine viel grundsätzlichere Ausweitung und Radikalisierung jenes – zunächst zu eng konzipierten – „moralischen Endzwecks“. Wird jedoch jene „moralische Teleo logie“ über die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, erweitert, so ist es demgemäß auch eine „Ent-schränkung“ der praktischen Vernunft – d. h. der „revolutionierten“, nicht nur „liberalisierten Denkungsart“ selbst –, die nunmehr in jener Analogie-Figur zutage tritt: Ein kantischer Hinweis auf das menschliche Sich-Bilden als „Bild des Absoluten“, worin sich die Weltstellung des Menschen als „copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ bekundet bzw. diese erst bezeugt wird, und dies so auch eine – behutsamere? – kantische Version des Fichte’schen Motivs des „an uns sichtbar werden sollenden göttlichen Leben(s)“540 erkennbar macht? Gleichwohl konfrontiert dies schon deshalb mit weiteren unabweislichen Fragen, weil mit jener „Ent-Schränkung“ der praktischen Vernunft ebenso das Bewusstsein ihrer besonderen Begrenzung verbunden ist; und es ist dieses zweifache Bewusstsein, das nunmehr entsprechend jener Unterscheidung zwischen dem „Hoffen-auf“ und dem „Hoffen-für“ auch den Gehalt jenes „praktisch notwendigen Zwecks“ modifiziert.
540 So Fichte im § 14 der Wissenschaftslehre 1810 (Fichte II, 709). Dies wäre vielleicht auch eine kantische Lesart der These Fichtes: „Ein göttlicher Wandel ist der entscheidendste Beweis, den Menschen für das Dasein Gottes führen können“ (Fichte VI, 427).
334 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre In Rücksicht auf dieses – weithin vernachlässigte – religionsphilosophische Kernthema des „Gemeinspruch“-Aufsatzes bleibt das Motiv der „Idee des Gott wohlgefälligen Menschen“ (als „Sohn Gottes“) – im Sinne einer kantischen „Übersetzung“ desselben – desgleichen mit der Erinnerung daran zu verknüpfen, dass dieser „Sohn Gottes“ seine Sohnschaft doch gerade im „Absehen von sich“, d. h. von seiner „Gottheit“ und der damit verbundenen „Würde“, „realisiert“. Dies wiederum erscheint im Hinblick darauf als besonders denkwürdig, dass nach Kant, in Anspielung auf die biblische Kennzeichnung der Liebe als „Erfüllung [„Pleroma“] des Gesetzes“, ganz ausdrücklich betonte, dass erst über die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, die „Moralität in Erfüllung geht“.541 Und allein eine solche Orientierung an der Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“ vermag auch bloße Autokratie-Ideale u. Ä. zu überwinden, ohne dabei, in moralischem Überschwang, erneut die dem Menschen angemessene „sittliche Stufe“ zu verkennen. Eine derartige Zuschärfung eröffnet offenkundig Sinndimensionen, die einer erweiterten Ethikotheologie innewohnen. Nicht zu übersehen ist in diesem Kontext auch jener schon erwähnte Sachverhalt, dass Kant (in bemerkenswertem Verweis auf das biblische Motiv des „Gottessohnes“ als „Abglanz“ der „Herrlichkeit Gottes“) in der „Religionsschrift“ ausdrücklich das „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ auf die Idee des „göttlichen Menschen in uns, als Urbild für uns“ bezog, das heißt das biblische Nachfolge-Motiv als Leidensübernahme, d. i. „um das Weltbeste zu befördern“ (IV 713), verstanden wissen wollte, in dem sich der „praktische Glaube an diesen Sohn Gottes“ (IV 714) auch bewährt. Dieses Nachfolge-Motiv – d. h. das darin maßgebende „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ als „Aus-sich-Heraustreten“ – stellt genauer besehen freilich einen komplementären Aspekt zu jener „Analogie mit der Gottheit“ (und dem darin gedachten „Aus-sich-heraustreten“ Gottes) dar. In beiden Aspekten bleibt indes jener bestimmende Hintergrund der durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchteten praktischen Vernunft“ unübersehbar und ist im Vorblick auf jene später noch genauer zu verfolgenden „religionsphilosophischen Grenzgänge“ von besonderem Interesse. Noch einmal sei hier an jene Frage erinnert: Gehört demnach zu dem sich „nach der Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen, der „von sich absehend“ aus sich heraustritt, das Bewusstsein von seiner Bestimmung, so wenigstens als deren auf sie verweisende „Spur“ vernehmbar zu werden? Dieses Motiv legt es nahe, diese Analogie-Konzeption des „Gemeinspruch“Aufsatzes mit dem (ziemlich zeitgleich) formulierten Bezug auf „jenen göttlich gesinnten Menschen, als Urbild für uns“, zu verbinden, „wie er, ob zwar selbst heilig, und als solcher zu keiner Erduldung von Leiden verhaftet, diese gleichwohl im größten Maße übernimmt, um das Weltbeste zu befördern“ (IV 713) und sich derart als „Bild“ des sich nicht verschließenden „Gottes“ erweist? Und wäre die Aufnahme und Verknüpfung dieser von Kant aus der religiösen Tradition entlehnten Motive näherhin auch als sein Versuch verständlich zu machen, jenes Bild von der „die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft“ als „Reflexe“ des „Übersinnlichen außer uns“ (III 388) nunmehr vor dem Hintergrund der durch „hergebrachte fromme Lehren … erleuchteten praktischen Vernunft“ (VI 186)
541 AA XXVII. 2.1, 651 f.
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zu „übersetzen“ – und zwar auf eine Weise, die auch eine nochmalige Erinnerung an das frühere Motiv des „von der Realität“ am weitesten entfernt scheinenden „Ideals“ (II 512 f ) rechtfertigt, ja diese sogar nahelegt? Jener „Sohn“ repräsentiert die Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“ gerade dadurch, dass er dergestalt auf den sich nicht „in sich selbst verschließenden Gott“ (VI 133, Anm.) verweist (ja als solcher Verweis existiert), der „das höchste Gut außer sich hervorzubringen, … bestimmt sei“ (ebd.).542 Ein nochmaliger Rückbezug auf jene „Analogie mit der Gottheit“ fügt sich in diese späten religionsphilosophisch-theologischen Konstellationen: In dieser jenes „Ideal der Vernunft“ aufnehmenden „Analogie mit der Gottheit“ wäre demnach nicht weniger beansprucht als dies, dass erst die Beförderung des „Weltbesten an uns und anderen“ dem Menschen an dem „Aus-sich-Heraustreten“ der Gottheit und dessen „Hervorbringung des höchsten Gutes“ Anteil gewinnen lässt, dieses „Aus-sich-Heraustreten“ zugleich vollendet und „dergestalt“ die Idee des „göttlich gesinnten Menschen“ als das „Urbild für uns“ repräsentiert. Diese von Kant rezipierten christlich-christologischen Motive, die in mancher Hinsicht und Zuschärfung über den Anspruch der „Liebespflichten“ (in der „Tugendlehre“) noch hinausweisen, sind in seinem – freilich nunmehr durch die Brille der „Ethikotheologie“ und die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ gelesenen – frühen Diktum: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ recht präzise zusammengefasst, das sich ohnehin wie eine freie Übersetzung jenes „deus vult habere alios condiligentes“543 ausnimmt.
542 Derart fände Kants Bemerkung: „So ist Christus das Urbild aller Moralität“ (AA XXVIII, 577), das (gleichsam als dasjenige, „was nicht selbst Erscheinung ist“) im „homo phaenomenon“ Jesus sichtbar wird, eine letzte Zuspitzung. In der „Vorschrift des Evangelii“ ist nach Kant die Idee der „Heiligkeit“ unauflöslich mit dem Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, verbunden, weil nur dies dem „Urbild praktischer Vollkommenheit“ als einer „unentbehrlichen Richtschnur“ genügt. 543 Duns Scotus, Opus Oxoniense III d.32 q.1 n.6. (Dieses schöpfungstheologische Motiv findet sich bei ihm im Ausgang von Gregor von Nyssa). Kants Satz: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ darf als eine freie – und doch in der Sache sehr nahe – „Übersetzung“ dieses Motivs gelesen werden; der vollständige Satz lautet bei ihm freilich: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen, und wenn nur alle Menschen zusammen einstimmig wollten ihre Glückseligkeit befördern, so könnte man in Novoya Zemlya ein Paradies machen“ (AA XXVII, 285 f; Menzer 1924, 66). Nun scheint Kant eine nähere Begründung für die – gewiss irritierende – im zweiten Teil des Satzes ausgesprochene Behauptung schuldig zu bleiben, die wohl nicht nur mit Kants Idee einer „authentischen Theodizee“, sondern auch mit anderen Aspekten seiner Vernunftkritik nicht so ohne weiteres verträglich ist. Ähnliches gilt wohl auch für seine These: „Alle Übel in der Welt kommen dem Menschen von Menschen; und wenn die Menschen auf einmal gut wären, so würde Grönland für sie ein Paradies sein“ (Refl. 1427, AA XV.2, 623). Ein mögliches diesbezügliches Missverständnis wehrt freilich der andernorts (Menzer 1924, 245; vgl. AA XXVII, 415) gegebene Hinweis Kants darauf ab, dass, wenn alle „das Recht jedes Menschen unverletzt ließen, dann wäre kein Elend in der Welt, außer nur ein solches Elend, was nicht aus der Verletzung des Rechts anderer entspringt, z. E. Krankheit, Unglücksfälle“. Vgl. dazu aber den von Kant betonten Vorrang und „Stachel“ des Anspruchs der „Rechtspflichten“, s. o. I., 3.2. – Ihren provokanten Sinngehalt offenbart jene Wendung, wonach Gott „die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ will, wohl insbesonders dann, wenn der aus dem Kontext deutlich hervortretende vorrangige Anspruch der „Rechtspflichten“ Beachtung findet, der alle „moralische Schwärmerei“ bzw. beanspruchte „höhere Moralität“ verwirft. Freilich, im Blick auf die „authentische Theodizee“ stellen sich weitere Fragen.
336 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre An schon erwähnte Motive Kants anknüpfend bestätigt sich im Kontext dieses Analogie“-Motivs des „Gemeinspruch“-Aufsatzes: Durch die im Anspruch des „moralischen Gesetzes“ offenbar werdende Idee des „göttlichen Menschen in uns“, der uns an einer anderen „Ordnung der Dinge …, in der wir jetzt schon sind“, teilhaben lässt, ist dieses vernünftige Weltwesen in solcher Spur an dem Ideal des „Gott wohlgefälligen Menschen“ orientiert. Dieses aus moralischen Impulsen gespeiste Streben nach Verähnlichung findet in diesem Bezug auf den sich „nach einer Analogie mit der Gottheit“ begreifenden Menschen offenbar seine höchste Ausformung – mag es im Anhören derselben in ihrer „unverletzlichen Majestät“ wohl auch Zweifel über deren „Ursprung“ geben, d. h., ob aus der „Autorität der menschlichen Vernunft“ oder „von einem anderen, dessen Wesen ihm unbekannt ist, und welches zum Menschen durch diese seine eigene Vernunft spricht, herkomme“ (III 395). Dies verändert freilich den Sinn, aber auch die Beantwortung jener Frage, ob „die Moral ohne Theologie möglich sei? Ja, aber nur in Ansehung der Pflichten und Rechte der Menschen, nicht in Ansehung des Endzwecks“544; dieses Argument verweist auf Kants Unterscheidung zwischen „moralischer“ und „moralisch konsequenter Denkungsart“ (vgl. V 577, Anm.) zurück, erhält in diesem engeren Kontext jedoch noch einen besonderen Akzent. Jenes vom späten Kant aufgenommene „Sonnengleichnis“, dem zufolge jenes „Übersinnliche in uns“ als „Reflex“ des „Übersinnlichen außer uns“ angesehen werden darf und nur in diesem „Reflex“ auch bestimmbar wird (s. o. III., 3.1.), gewinnt so in Bezug auf jenes denkwürdige Motiv des sich „nach der Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen besonderes Gewicht, desgleichen freilich im Blick auf Kants Anknüpfung an das biblische Nachfolge-Motiv.545 Damit ist die notwendige Rücksicht darauf verbunden, dass jenes „Übersinnliche außer uns“ ausschließlich in der „Reflexe der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft“, d. h. gleichsam in „geschöpflicher Brechung“, zur „Darstellung kommt“ und so auch erst motivierende Kraft gewinnt.546 In Beachtung jenes „symbolischen Anthropomorphismus“ bzw. des kritischen Motivs einer „Erkenntnis … nach der Analogie“, ergibt sich somit erneut eine motivliche Nähe auch zu jenem von Kant gesuchten „Quell von positiven Erkenntnissen …, welche ins Gebiete der reinen Vernunft gehören“ (II 670) – ebenso zu dem daran geknüpften Hinweis, wonach „auf dem einzigen Wege … des praktischen Gebrauchs, besseres Glück für sie [die „reine Ver544 Refl. 8097, AA XIX, 641. Dieser „Endzweck“ ist derjenige, der um seiner selbst willen bejaht wird; dass „in Ansehung des Endzwecks“ „Moral ohne Theologie“ nicht möglich sei, steht so in direktem Bezug dazu, dass der „Mensch ohne Religion des Lebens nicht froh werden“ könne. 545 Der Sachverhalt, dass Kant dieses „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ (das als „Urbild für uns“ in uns wirklich ist und insofern also nur am „entferntesten von der Realität zu sein scheint“: II 512 f ) in der „Religionsschrift“ ausdrücklich auf das christliche Liebesgebot bzw. auf das Nachfolgemotiv bezieht, legt es nahe bzw. bestätigt es, auch dieses später formulierte „Reflexe-Motiv“ („der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft“) im Sinne des Analogie-Statuts bzw. dieses „Ideals der moralischen Vollkommenheit“ zu interpretieren – nicht ohne Folgen für Kants Ethikotheologie. 546 Eine Verknüpfung der kantisch-„neuplatonischen“ Version des „Sonnengleichnisses“ mit dem im „Gemeinspruch“-Aufsatz benannten Motiv des „sich nach der Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen liegt zweifellos nahe, wobei das in beiderlei Hinsicht Anschluss bietende platonische Motiv der „Angleichung an Gott“ sich als besonders aufschlussreich erweist.
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nunft“] zu hoffen“ sei (II 671). Sein später Rekurs auf die „verschleierte Göttin, vor der wir … unsere Knie beugen, … [d. i.] das moralische Gesetz“ (III 395), erweist sich so als besonders denkwürdig und verleiht derart, vor dem Hintergrund der skizzierten Problemzusammenhänge (und mit Rücksicht auf das von Kant angezeigte „Gleichgewicht der Vernunft“: IV 275), seiner späten Version des Sonnengleichnisses noch eminente Ausdruckskraft.547 Alle diese Aspekte verweisen auf den daraus resultierenden modifizierten Gehalt des „Ideals des höchsten Gutes“ (als des „ganzen Gegenstand(s) der praktischen Vernunft“ und bestätigen auch in dieser Hinsicht die angezeigte Notwendigkeit einer Neubestimmung des Verhältnisses der Ideen des „höchsten metaphysischen Guts“ (III 641), des „höchsten ursprünglichen“ und des „höchsten abgeleiteten Gutes“. Ein bemerkenswerter motivlicher Zusammenhang tritt hier zutage: Dem radikalen kantischen Bilderverbot, dessen Übertretung unweigerlich das Erblinden zur Folge hätte, korrespondiert mithin das Dasein des „vernünftigen Weltwesens“, das im Gehorsam gegenüber dem Anspruch des moralischen Gesetzes und in Orientierung an dem sich „nach der Analogie mit der [aus sich heraustretenden] Gottheit“ denkenden Menschen danach strebt, als „vernünftiges Weltwesen“ in der „Spur“ der „aus sich herausgetretenen Gottheit“ sein Leben zu führen. Es wird sich noch zeigen, dass jener kantische Verweis auf die „Reflexe“ des „Übersinnlichen außer uns“ – in einer eigentümlichen Verbindung von Bilderververbot und gebotener Bewährung (als „vestigium dei“) – eine Anknüpfung an die traditionelle Analogie-Lehre nahelegt. Die Verbindung all dieser Motive gewinnt im Blick auf Kants späte Verknüpfung der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ besondere Relevanz, eröffnet dies doch eine denkwürdige ethikotheologische Motivkonstellation, die sich „am Ende“ auch noch im Bezug auf Kants „Theodizee“Perspektive als sehr bedeutsam erweist. Hier seien noch einmal resümierend jene hauptsächlichen religionsphilosophischen Motivstränge benannt, die – sowohl im Rückblick wie auch im Ausblick – in diesem gemeinhin vernachlässigten religionsphilosophischen Motiv des „Gemeinspruch“-Aufsatzes“ wie in einem Brennpunkt zusammenlaufen: Zunächst, so hat sich gezeigt, legt es jener bestimmende Gedanke einer „Analogie“ mit der sich nicht „verschließenden“, „sondern das höchste Gut außer sich“ hervorbringenden „Gottheit“ zweifellos nahe, von daher auch Kants Interpretation der „objektiven Realität“ der „personifizierten Idee des guten Prinzips“ (aus der auch zeitlich nahen „Religionsschrift“) zu verstehen. Darin erwies sich für Kant vornehmlich jenes Motiv bestimmend, dass das von dem „göttlich gesinneten Menschen, als Urbild für uns“ in der „Beförderung des Weltbesten“ durchlittene „Leiden“ die „Erniedrigung des Sohnes Gottes … im größten Maße“ bedeutet (IV 713). Dergestalt sah Kant dieses „Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit“ in einem existierenden Menschen zur „Darstellung“ gebracht, der „alle Leiden bis zum schmählichsten 547 Zeitgleich mit der faszinierenden (von Kant ausgehenden) Entfaltung der frühidealistischen religionsphilosophischen Motivkonstellationen (Hölderlin und Jacobi eingeschlossen) wurden beim späten Kant selbst Motive maßgebend, die jene vom fernen Tübinger Stift ausgehenden Denkbewegungen gewissermaßen begleiten – und überdies ihnen gegenüber vielleicht dort und da wichtige Korrekturelemente enthalten – nicht zuletzt wohl auch, was die in diesen Weiterentwicklungen geltend gemachte Kritik an Kant selbst betrifft!
338 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Tode um des Weltbesten willen“ (IV 714) auf sich nimmt. Dies sollte nach Kant offenbar darauf hinweisen, dass jener Mensch, also der „Heilige des Evangelii“, in solchem radikalen „Von-sich-Absehen“ sich als „Sich-Bilden zum Bilde Gottes“ „realisiert“ und so eben – von sich „wegweisend“ – als Verweis bzw. Spur der nicht in sich „verschlossen“ bleibenden, sondern aus sich herausgetretenen „Gottheit“, den „Willen“ derselben tuend, vernehmbar wird.548 Es spricht vieles dafür, dass Kant in diesem personifizierten „Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit“ die Kehrseite jener „Strafgerechtigkeit“, d. i. die gebotene Sensibilität für das „Leid des Gerechten“, mit dem Blick auf die „eigentlichen Auserwählten“ (IV 832) verbindet. Das dieserart ins Blickfeld rückende religionsphilosophische Motiv ist einerseits unschwer als eine religionsphilosophische Einlösung jener frühen Bemerkung Kants zu identifizieren, der zufolge das „Ideal der Vernunft“ am entferntesten „von der objektiven Realität entfernt zu sein“ scheint (und von Kant ja auch ausdrücklich im Verweis auf den „göttlichen Menschen in uns“ erläutert wird: II 512 f ); andererseits, so hat sich ebenfalls gezeigt, liegen auch wichtige Anknüpfungspunkte zum Status bzw. Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, nahe, in denen erst „das Gesetz der Moralität in Erfüllung geht“ und die so auf das „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ verweisen. Vornehmlich ist es die Besinnung auf jenes späte Motiv der „Reflexe des Übersinnlichen (außer uns)“ (d. h. die „die Seele moralisch erleuchtende Vernunft“: III 388), die nun jenes „Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit“ „unter der Idee eines Menschen“ vorstellt bzw. erscheinen lässt; sie fungiert so gleichsam als „Bild“ jenes „Übersinnlichen außer uns“ und steht jenen angeführten „christologisch-trinitarischen“ Motiven offenbar besonders nahe. Der systematisch sehr bedeutsame Stellenwert jener Analogie-Figur im „Gemeinspruch“-Aufsatz zeigt sich damit sowohl im Rückblick auf die Lehre von dem von der „Realität“ lediglich am entferntesten scheinenden „Ideal der Vernunft“, ebenso im Blick auf die erwähnte „christologische“ Perspektive sowie mit Bezug auf die „Tugendpflichten“ und nicht zuletzt in jener Bestimmung des „Reflexes“ des „Übersinnlichen außer uns“; eben dies macht so auch die Komplementarität und „Zusammenstimmung“ all dieser Aspekte sichtbar. Schon mit der Bestimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ und der daran geknüpften Analogie-Figur (in jener Anmerkung des „Gemeinspruch“-Aufsatzes) hat Kant – wenigstens indirekt – durchaus traditionelle anthropologische und theologische Motive aufgenommen, die über die schon früher angezeigten Problemaspekte noch hinausweisen. In solchem „Ausgang von Kant“ liegt es nunmehr auch nahe, den in der „Tugendlehre“ maßgebenden Gesichtspunkt, dass der „Endzweck der Schöpfung“ in Anbetracht der göttlichen Selbstgenugsamkeit nur als die „Glückseligkeit der Menschen“ gedacht 548 Auch damit hat Kant indirekt an ein Motiv Leibnizens angeknüpft und dieses zugleich korrigiert (sowie das Motiv des „Endzwecks der Schöpfung“); charakterisierte Leibniz doch die Menschen als „Abbilder der Gottheit selbst oder des Urhebers der Natur. Sie sind fähig, das System des Weltgebäudes zu erkennen und etwas davon in architektonischen Probestücken nachzuahmen, da jeder Geist in seinem Bezirk gleichsam eine kleine Gottheit ist“ (Monadologie Nr. 83). Mit dem Hinweis, dass „Gott die Glückseligkeit der Menschen, durch Menschen will“, akzentuierte Kant demgegenüber den Menschen als „alter deus“ unübersehbar anders.
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werden kann, mit jenem Analogie-Motiv zu der religionsphilosophisch-theologischen Perspektive zu verknüpfen, dass darin der die „je fremde Glückseligkeit“ befördernde Mensch in „teilnehmender Vernunft“ an dem – von uns nur als „moralisches Bedürfnis“ zu verstehenden – „Aus-sich-heraus-Treten“ des Schöpfers und insofern mit-teilenden Gott „Teil nimmt“ bzw. „Teil gewinnen“ kann – d. h. eben: allein als „guter Diener“ und keineswegs in der Rolle der sich besonders begünstigt wissenden „Favoriten“ (IV 877). So erst erfüllt er seine „ganze Bestimmung“ und erstrebt, vermöge der „die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft“ und der ihr gemäßen „operatio“, seine „Verähnlichung“ mit Gott („repraesentatio dei“), sofern er darin seine Bestimmung als „vestigium dei“ repräsentiert. 4.2.3. Das dementsprechend vertiefte „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ Eine sachlich sehr aufschlussreiche Perspektive ergibt sich im Ausgang von diesem kantischen Begründungszusammenhang durch die Erinnerung daran, dass nach Kant der Intention dieses „Hoffnungsglaubens“ (und somit der „Realisierung der Idee des moralischen Endzwecks“ als dem „höchsten Objekt der praktischen Vernunft“) selbst nur ein – freilich „von uns“ gemäß dem kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ als ein solches „vor-gestelltes“ (III 234 ff ) – „moralisches Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte“ zu genügen vermag. Deshalb ist hier noch einmal an Kants wiederholte Forderung zu erinnern, dass allein im Ausgang von einer zureichenden Bestimmung der Idee des „Endzwecks vom Dasein aller Dinge, wozu das Prinzip nicht anders, als ethisch [!], der Vernunft genugtuend ist“, eine nicht-defiziente Idee der „Gottheit“ in „symbolischer Darstellung“ zu vermitteln sei (V 573). Indes, ist es nicht diese Gedankenfigur, worin jene in der Schlussanmerkung seiner Tugendlehre formulierte Intuition, dass man den „göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts (dessen Schöpfung und Leitung) … sich nicht anders denken“ könne „als nur aus Liebe, d. i. dass er die Glückseligkeit der Menschen sei“ (IV 630), wohl ihre plausibelste Einlösung finden kann? Nun bleibt diese späte kantische Intuition über den „göttlichen Zweck in Ansehung des menschlichen Geschlechts“ auch mit der ausdrücklichen Feststellung in der „Dialektik der praktischen Vernunft“ zu verknüpfen, wonach, „wenn man nach dem letzten Zwecke Gottes in Schöpfung der Welt frägt, man nicht die Glückseligkeit der vernünftigen Wesen in ihr, sondern das höchste Gut nennen müsse“, welches freilich unter der „Bedingung …, nämlich der Glückseligkeit würdig zu sein“, steht (IV 262). Jene frühe kantische These, dass Gott „die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“ wolle, gewinnt dabei, als unumgängliches Vermittlungsglied zwischen diesen beiden (auf den ersten Blick gegensätzlichen) Positionen, einen besonderen Stellenwert. Dies hat freilich weitreichende Konsequenzen für den mit der kantischen Konzeption einer „authentischen Theodizee“ verbundenen Anspruch und deren Einbindung in den erweiterten ethikotheologischen Kontext. Denn zweifellos muss sich der Sinngehalt der Hoffnungsfrage – und zwar gerade in der angezeigten Doppelgestalt des „Hoffens-für“ und des „Hoffens-auf“ – vor dem Hintergrund der „Theodizee“ noch einmal in radikaler Weise
340 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre verwandeln (s. u. Teil VI.).549 Ebenso bleibt (im Vorblick auf den VI. Teil) zu fragen, ob eine solche von Kant ausgehende Gedankenfigur nicht auch eine enge Verbindung der Idee der „authentischer Theodizee“ mit dem Thema „Anthropodizee“ nahelegt, die seine späten Überlegungen über die „Liebe des Welturhebers“ als „Zweck der Schöpfung“ (IV 631 f ) noch in ein besonderes Licht rückt? So unübersehbar von Kant selbst begünstigte einschlägige Missverständnisse zweifellos auch sind, so wenig dürfen jedoch jene Ansatzpunkte übersehen werden, die sich insbesondere beim späten Kant für eine Weiterführung und Vertiefung seiner ethikotheologischen Konzeption finden und die sich, gleichsam die Idee einer „moralischen Teleologie“ explizierend, selbst bemerkenswerterweise in einer gestuften Folge rekonstruieren lassen. Dabei ist vor allem an jene Verknüpfung des (a) in der teleologischen Einheit des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ verankerten „praktisch-dogmatischen Überschritts“ mit (b) jener „Willensbestimmung von besonderer Art“ zu denken; sie lässt es wiederum als plausibel erscheinen, die darin begründete Idee einer „moralischen Teleologie“ im Blick auf jene (c) so denkwürdige Analogie-Figur des „Gemeinspruch“Aufsatzes mit Kants später Begründung des Status und Anspruchs der „Tugendpflichten“ zu verknüpfen, zumal doch erst darin das „moralische Gesetz in Erfüllung geht“ und eben dadurch (d) auch das „Bedürfnis der fragenden Vernunft“ noch eine entscheidende Vertiefung erfährt. Die in Letzterem vereinigten Ansprüche der „gebotenen Zwecke“ und der von Kants „authentischer Theodizee“ geltend gemachte besondere Aspekt einer „moralischen Zweckmäßigkeit“ nötigen dazu, jene Kennzeichnung der Hoffnungsfrage als „praktisch und theoretisch zugleich“ auf eine Weise zu modifizieren, die auch den Status der darin implizierten Gottesthematik verändert. Diese das Fundament und das religionsphilosophische Sinnpotenzial der Ethikotheologie nicht unerheblich modifizierenden Gesichtspunkte fordern schon deshalb eine diesen Ansprüchen genügende Differenzierung des Vernunfthorizonts des „vernünftigen Weltwesens“, weil in Absehung davon der inneren Verfassung der Vernunft (in der Einheit des „Vermögens der Prinzipien“ und der „Zwecke überhaupt“) ebenso wenig entsprochen wäre wie jener unauflöslichen Einheit von „mitteilender“ und „teilnehmender Vernunft“. Deshalb bleiben nach Kant – auch in seiner späten Idee des „Reichs Gottes“ ist dies wohl zum Ausdruck gebracht – die „eschatologische“ Perspektive und deren Hoffnung auch auf das „Ideal eines Ganzen aller [!] Menschen bezogen“ (IV 754 f ).550 Es wurde schon darauf hingewiesen, dass dies auch noch einmal jenen beanspruchten Aufweis modifiziert, wie „Moral unausbleiblich zur Religion“ führt (IV 655, Anm.), worin die Ethikotheologie die existenzial-anthropologische Perspektive zusammengeführt sind. Erst aus der Vereinigung all dieser Aspekte wäre demzufolge wohl nicht nur diese erweiterte „teleologische“ Konzeption zu gewinnen; ihre Verknüpfung mit jener angezeigten „Zweckverbindung“, d. h. der „Zusammenstimmung“ jener „Vernunftideen“, fügt sich darüber hinaus zu einer Begründungsfigur, die solcherart selbst jene „teleologia rationis 549 Verknüpft mit einer entsprechenden Lesart der Idee der „Heiligkeit“ wären diese Motive des späten Kant im Sinne einer kritischen Bezugnahme auf die „Apokatastasis“-Lehre zu buchstabieren. 550 Zu der auch bei Kant offensichtlichen Mehrdeutigkeit dieser „Menschheits-Idee“ s. o. II., 2.1.
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humanae“ sichtbar machen – bzw. diese auch noch einmal bekräftigen – könnte, welche sich auch in Kants teleologischer Konzeption einer „Geschichte der reinen Vernunft“ als maßgebend erwiesen hat. Ihr „drittes Stadium“ bzw. der darin eröffnete „praktischdogmatische Überschritt“ ist jedenfalls demgemäß zu differenzieren und für diese angezeigten späten Motivkonstellationen offen zu halten. Anknüpfend an diese Problemperspektiven, die den Gehalt der Ethikotheologie und somit die Idee der „moralischen Teleologie“ entscheidend erweitern, liegt – auch in Erinnerung an ihre fundamentalphilosophische Fundierung – folgender „teleologischer Rückblick“ nahe: Es war die in der Weltstellung des Menschen sich manifestierende „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“, worin die „Naturzweckmäßigkeit“ mit dem Vermögen des „Handelns nach Zwecken der Freiheit“ untrennbar verbunden und auch die umfassende Perspektive eines „Systems der Zwecke der Freiheit“ fundiert ist. Ein im Kontext des „moralischen Beweises des Daseins Gottes“ stehender Passus verweist ausdrücklich auf diesen unauflöslichen Zusammenhang und betont dabei vornehmlich die Stellung des Menschen als „Weltwesen“, die hier nach Kant gleichsam als unentbehrliches „Scharnier“ fungiert (und so auch interpersonale Anerkennungsverhältnisse und Aspekte der „äußeren Zweckmäßigkeit“ integriert bzw. zusammenfügt): „Aber diese moralische Teleologie betrifft doch uns, als Weltwesen [!], und also mit andern Dingen in der Welt verbundene Wesen: auf welche letzteren, entweder als Zwecke oder als Gegenstände, in Ansehung deren wir selbst Endzweck sind, unsere Beurteilung zu richten eben dieselben moralischen Gesetze uns zur Vorschrift machen“ (V 573 f ). „Endzweck der Schöpfung“ ist das durch jene untrennbare zweifache „sich selbst erhaltende Zweckmäßigkeit“ ausgezeichnete „vernünftige Weltwesen“ durch das „Vermögen der Vernunft“, sofern diese die im „archimedischen Punkt der Freiheit“ verankerten „unbedingte Zwecke“ (eben „Vernunftzwecke“) zu begründen vermag und deren „Beförderung“ praktisch gebietet (s. o. I., 4.). Die Orientierung daran weist darüber hinaus auf einen „praktischen Endzweck“ (das „höchste Gut“), der diesem Anspruchsniveau der „unbedingten Zwecke“ (als „Zwecken, die zugleich Pflichten sind“) allein genügt und solcherart als eine „Willensbestimmung von besonderer Art“ auf die „Idee des Ganzen aller Zwecke“ führt, welcher die Idee eines „Endzwecks der Schöpfung“ entspricht. Letztere ist es, die einerseits die Einheit und „Zusammenstimmung“ dieser Zweck-Bestimmungen fundiert, andererseits freilich selbst die Frage nach dem Ermöglichungsgrund dieses „Endzwecks der Schöpfung“ unumgänglich macht. So erst wäre die Idee einer „moralischen Teleologie“ im Sinne der „Ethikotheologie“ und ihres Ausgangs von den „moralischen Zwecken vernünftiger Wesen in der Natur“ hinreichend und auf eine Weise differenziert, die auch eine angemessene ethikotheologische Bestimmung der Gottesidee erlaubt. Die hinreichende Differenzierung dieser „teleologischen“ Zusammenhänge in ihrer gestuften Komplexität wäre wohl auch eine Grundlage bzw. ein „regulativer Leitfaden“ für die Entfaltung einer religionsphilosophischen Perspektive von „Schöpfung“ und „Geschöpflichkeit“, die – im Blick auf die Weltstellung des Menschen als des „existierenden Endzwecks der Schöpfung“ (sofern er als „Weltwesen“ „Vernunftwesen“, nicht bloß „vernünftiges Wesen“ ist: IV 550) – in der Bestimmung des „Endzwecks der Schöpfung“ kulminiert. Eine solche Begründungsfigur macht freilich weitere Fragen unabweisbar – nicht
342 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre zuletzt deshalb, weil im Menschen als dem existierenden „Endzweck der Schöpfung“ – und damit als Ort der „Negativität“ – gleichermaßen die Erfahrung des „Zweckwidrigen in der Welt“ in verschiedensten Ausprägungen und „Potenzierungen“ bewusst wird und gemäß dem – nunmehr ebenfalls „teleologisch“ interpretierten – endzweck-orientierten „Bedürfnis des fragenden Vernunft“ in seiner umgreifenden theoretischen, praktischen und hoffenden Lebensorientierung und in „teilnehmender Vernunft“ zur Sprache kommt. Es sind diese kritischen „teleologischen“ Perspektiven, die in jenem von Kant sogenannten „dritten Stadium der Metaphysik“ ihren Ort haben und es auch zum Abschluss bringen. In nochmaliger Bezugnahme auf jene vom späten Kant im Blick auf die „Geschichte der reinen Vernunft“ vorgenommene Verknüpfung von „Zeit“- und „Gedankenfolge“ wären jene verschiedenen teleologischen Dimensionen, eben im Sinne einer kritischen „regulativen Idee“, auch in einer evolutionären Hinsicht zu interpretieren – und zwar durchaus im Blick auf die von Kant geltend gemachten Gesichtspunkten der „Einheit“, „Kontinuität“ und „Spezifikation“ sowie mit unauflöslichem Bezug auf jene (zuvor erwähnte) „uns als Weltwesen“ betreffende „moralische Teleologie“. Das am Ende des „dritten Stadium der Metaphysik“ vollzogene Reflexiv-Werden derselben wäre demnach, gemäß diesem „Leitfaden“, eine kritische Explikation bzw. „Schematisierung“ dieser „teleologisch“ verfassten „Gedankenfolge“ als einer „Zeitfolge“, die sich in diesem „dritten Stadium“ nunmehr auch in einer solchen evolutionären Hinsicht als „regulative Perspektive“ begreift, dergestalt auch vollendet – und aufhebt zugleich: Denn dieses „dritte Stadium der Metaphysik“ bleibt als „Weisheitslehre“, die den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Endzweck der Metaphysik“ vollzieht, von jener „Weisheit“ noch unterschieden, die diesen „Überschritt“ nun tatsächlich „praktisch-dogmatisch“, d. i. erst „durch die Tat“, vollzieht. Davon soll im folgenden Kapitel (bes. u. IV., 4.3.3.) noch genauer die Rede sein.
4.3. Eine ethikotheologisch unverzichtbare Inversion: Weshalb Religion unausbleiblich auf die „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, führt Anknüpfend an jene denkwürdige Anmerkung des „Gemeinspruch“-Aufsatzes (VI 132 f, Anm.) sowie an die entsprechend vertiefte Ethikotheologie ergeben sich weitere Fragen. Denn ebenso ist – in Umkehrung des Richtungssinnes jenes dort intendierten Aufweises, dass und wie „Moral … unausbleiblich zur Religion“ führt – für den „sich hiebei nach der Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen offenbar die Sensibilität dafür geboten, dass „Religion“, einer solchen Begründungsordnung gemäß, in gewandelter „Intentionalität“ wohl auch wiederum „unumgänglich zur Moral“ führen muss – weil doch nur dies dem zweckmäßigen Vernunftgebrauch und somit der „praktischen Bestimmung des Menschen“ genügt. Vor allem gegenüber den von ihm so energisch kritisierten zeitgenössischen Tendenzen der „Schwärmerei“ wird in diesen Bezügen Kants unbeirrbare Sympathie für eine gewissermaßen „tiefe Diesseitigkeit“ sichtbar, woraus sich wohl auch das – in jener Analogie-Figur ausgesprochene – Motiv der Zuwendung des „aus sich heraustretenden“ Gottes speist. Dies verwandelt auch den Sinngehalt der kantischen Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“ (bzw. des „personifizierten praktischen Ideals“) auf
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eine Weise, die es erlaubt, „die sittliche Gesinnung, auch unmittelbar in Ansehung der Pflichten gegen Menschen, genau zu bestimmen, und einer bloß moralischen Schwärmerei … vorzubeugen“ (IV 207). Mehr noch: Aus der mit der Würdigung des kantischen Motivs, wonach erst mit der Beförderung der „Liebespflichten“ „das Gesetz der Moralität in Erfüllung geht“, verbundenen Rücksicht darauf, dass der Mensch die „Freiheit selbst nicht in seiner Gewalt hat“ (s. o. IV., Anm. 200), entsteht so eine neue bzw. erweiterte religionsphilosophische Motivkonstellation, die im Blick auf jenes kantische Analogie-Motiv des „Gemeinspruch“-Aufsatzes auch eigens bedacht sein will. Bevor dies noch weiter verfolgt werden soll, sei jedoch im Kontext der hier versuchten Weiterführung und Radikalisierung der ethikotheologischen Motive jenes schon wiederholt aufgenommene kantische Bild von der „Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft) der Sonne (dem Übersinnlichen)“ noch in einer anderen Hinsicht aufgenommen, zumal dies in Verknüpfung mit anderen späten religionsphilosophischen Motiven weitere aufschlussreiche Problemperspektiven „im Ausgang von Kant“ eröffnet. 4.3.1. Die notwendige Radikalisierung der „Weisheitslehre“ im Kontext des „Weltbegriffs der Philosophie“ Zu beachten bleibt zunächst wohl dies: Wenn es denn die besondere Eigenart jener „Reflexe“ ist, dass sie in ihrer Wirklichkeit zwar durchaus „außer“ und „selbständig“ gegenüber dieser Sonne sind, und dieser, eben als „Reflexe“, doch zugleich „ursprünglich zugehören“, d. h. selbst auf diese verweisen – dann wäre auch Kants Bestimmung des „Formale(n) aller Religion, … sie sei ‚der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote‘“, als eine in analoger Hinsicht erfolgte Explikation jenes kantischen „Sonnengleichnisses“ zu buchstabieren. Bliebe doch dieses „Formale aller Religion“ insofern selbst noch der „philosophischen Moral“ zugehörig, „indem dadurch nur die Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird“ (IV 628).551 Wenn „vernünftige, aber endliche Wesen“ also nicht in die Sonne selbst blicken, sich nicht ins „Übersinnliche“ hineinempfinden können, sondern nur in ihrem Licht, in der „Reflexe“ derselben „in uns“, das von diesem Licht „Erleuchtete“ entdecken und wahr-nehmen können, dann beruht darauf wohl auch die besondere Sensibilität für das solcherart erst „sichtbar Werdende“, und das heißt für den An-Blick sowie für die unerhörten Ansprüche des dergestalt „Gesichteten“. Das späte „Reflexe“-Motiv wäre so mit demjenigen des „sich nach der Analogie mit der Gottheit denkenden Menschen“ noch einmal wesentlich enger verbunden. 551 Eine Entsprechung wäre auch zwischen diesem kantischen „Sonnengleichnis“ und der „Religions“-Bestimmung der „zweiten Kritik“ freizulegen: „Religion“ sei die „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanktionen, d. i. willkürlicher, für sich selbst zufälliger Verordnungen eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen, weil wir nur von einem moralisch vollkommenen (heiligen und gütigen), zugleich auch allgewaltigen Willen das höchste Gut … hoffen können“ (IV 261), dies also „Vernunftbedingung“ des „höchsten Gutes“ ist.
344 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Dass auch der späte Kant die praktische Vernunft selbst als „Reflexe“ der erleuchtenden „Idee des Übersinnlichen“ (der platonischen „Idee des Guten“ als „absolutes Maß aller Dinge“) angeführt hat, die sich darin, als das „Übersinnliche in uns“, allein in dem Unbedingtheitsanspruch des moralischen Gesetzes „offenbart“, vergegenwärtigt so nicht nur jenen erwähnten Sachverhalt, dass – gemäß der durchaus erhellenden Zweideutigkeit der Wendung „Faktum der Vernunft“ – praktische Vernunft sich selbst „ergreift“ (und in diesem Sinne sich „setzt“). Darüber hinaus schärft dies den Blick für weitere wichtige Problemperspektiven: Anknüpfend an jenen kantischen Hinweis, wonach das „Ideal der Vernunft“ lediglich am „weitesten von der Vernunft entfernt zu sein scheint“, tritt bei Kant gegenüber traditionellen metaphysischen Ansprüchen – also gegenüber jenen, die „sich der Betrachtung des höchsten Gutes widmen und jenen Anstieg nach der Höhe vollziehen“552 – eine entscheidende Umkehrung zutage: Jene „Idee des Guten“ wird als „absolutes Maß aller Dinge“ nunmehr allein als „Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen“ (IV 146 f ) vernehmbar, für die Kant ausdrücklich geltend machte: „Er kann es … dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören [!] kann er doch nicht vermeiden“ (IV 573 f ).553 Jenes „Ideal“ der reinen praktischen Vernunft wäre demnach selbst als „Reflexe“ des „Vernunftideals“ aufzunehmen bzw. in dieser erforderlichen Brechung auf eine Weise zu konkretisieren, dass die an der praktischen Idee einer „moralischen Welt“ maßnehmende – so erst wahrhaft „praktisch revolutionierte“ – Denkungsart alle beanspruchten Höhenflüge einer „mystische(n) Liebe Gottes“ unterbricht, weil solche Gottesliebe, darauf insistierte Kant vornehmlich gegenüber den mystagogischen Schwärmern, doch allein in der moralischen Bindung an diese Schöpfung konkrete Gestalt und ihre Bewährung gewinnt. Nicht das „Unerschaut-Geahnte“ – d. h. nicht die (gewissermaßen „bedingterweise unbedingte“) Forderung einer zu denkenden „Totalität“ –, sondern allein das jene bloß regulativ-heuristische Forderung durchbrechende „Un-Erhörte“ des „unbedingtpraktischen“ Vernunftanspruches erweist sich darin als maßgebend und lenkt solcherart die Aufmerksamkeit auf den eigentlichen Grund des „Primats des Praktischen“; ist 552 Platon, Der Staat, 519c. – Die in diesem Hinweis auf die „Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft)“ angezeigte Vermittlungsfigur des „Übersinnlichen in uns“ und „über uns“ ist unschwer in der Kennzeichnung der „Religion“ als „Erkenntnis unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ in verwandelter Gestalt wiederzuerkennen. Insofern relativiert dies wenigstens die andernorts nahegelegte Abgrenzung: „Christus sagt auch, dass in der Gemeinschaft mit Gott das höchste Gut bestehe; aber sein Weg ist durch das Wohlverhalten im Glauben, nicht durch Anschauen oder Andächtelei. Er ist hierin von Plato unterschieden“ (Refl. 6894, in: AA XIX, 197 f ). 553 Es spricht einiges dafür, dass Levinas in den nachfolgend angeführten Passagen Verbindungslinien zwischen Descartes und Kant vor Augen standen; sie erlauben es auch, ein kantisches Motiv von Levinas her zu verdeutlichen: „Wir meinen, dass die Idee-des-Unendlichen-in-mir – oder meine Beziehung zu Gott – mir in der Konkretheit meiner Beziehung zum anderen Menschen zukommt, in der Sozialität, die meine Verantwortung für den Nächsten ist: Verantwortung, die ich in keiner ‚Erfahrung‘ vertraglich eingegangen bin, aber zu der das Antlitz des Anderen, aufgrund seiner Anderheit, aufgrund eben seiner Fremdheit, das Gebot spricht, von dem man nicht weiß, woher es gekommen ist“ (E. Levinas 1986, 18 f ). Kants Rekurs auf die „wahre Unendlichkeit“ (IV 300) legt eine solche Anknüpfung zwar in gewisser Hinsicht nahe – jedoch auch die gebotene Rücksicht darauf, die Differenz zwischen den „rationes obligandi“ und dem „objectum obligationis“ nicht zu nivellieren (s. o. I., Anm. 284).
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Kants Bemerkung, dass „Gott … durch [!] unsere eigene (moralisch-praktische) Vernunft spricht“ (VI 338), nicht auch in solcher Hinsicht sehr bedenkenswert? Allerdings wäre dann auch zu fragen, ob sich dieser „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ nicht nur aus der Zurückstufung der „intellektuell geschauten Ideenwelt“ (der „reinen Anschauung“) auf bloß „regulative Vernunftprinzipien“ herleitet, sondern, genauer besehen, doch selbst erst aus der Verwandlung des „ungeschaut Geahnten“ in den unabweislich un-erhörten Anspruch des moralischen Gesetzes begreiflich wird, sofern darin doch jenes „am weitesten von der Realität entfernt scheinende Ideal“ allein vernehmbar wird? Freilich, auch jene „verschleierte Göttin, vor der wir … unsere Knie beugen, … [d. i.] das moralische Gesetz“ (III 395), wird als „Reflexe in uns“ auf neue Weise vernehmbar. Im Sinne jener komplementären Bestimmung der „Einschränkung und Erweiterung der Vernunftansprüche“ und der darin zutage tretenden „teleologia rationis humanae“ verbindet das in kantischem Sinne verstandene philosophische „Bilderverbot“ in eigentümlicher Weise die „nur mit schwachen Blicken erlaubt(en)“ „Aussichten ins Reich des Übersinnlichen“ (IV 282) mit dem unbedingten Gebot, „die Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen … deutlich“ hörbar zu machen. Kant hat Letztere auch als „himmlische Stimme“ (IV 147) gewürdigt, die sich nunmehr als bzw. im konkreten Anspruch der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, artikuliert. Die daran maß-nehmende moralische Selbstbestimmung verwirklicht ihre Orientierung an „fremder Glückseligkeit“ also primär als besondere Sensibilität für die Forderung der „Befreiung der Anderen“ – und d. h. vorrangig dies: In besonderer Aufmerksamkeit für geschuldete Gerechtigkeitsansprüche, die für Kant deshalb auch mehr bedeuten „als gütige Pflicht“.554 Es bestätigt sich: Die selbstbezügliche ethische Pflicht (gegen sich selbst) „in Beziehung auf die Würde der Menschheit in uns“: „Werdet nicht der Menschen Knechte. – Laßt euer Recht nicht ungeahndet von Anderen mit Füßen treten“ (IV 571), hat geradezu als Kehrseite die „Rechtspflicht“, „die Rechte der Menschheit wiederherzustellen“ bzw. die entsprechende Forderung, „mit andern wegen ihrer Unterdrückung gemeinschaftliche Sache zu machen“.555 Wiederum ist nicht zu übersehen: Die im Sinne jenes „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“, verstandene Forderung einer „Verantwortlichkeit für den Anderen“ (für dessen „Wohl und Heil“) bietet in solcher Hinsicht zweifellos sachliche – auch kritische 554 Die sachliche Nähe zu diesen mit Blick auf Kant vorgeschlagenen Differenzierungen ist unübersehbar, wenn Cohen betont: „Der ethische Grundbegriff ist die Achtung, die sich lediglich auf die sittliche Würde jedes Menschen bezieht; die aber gar kein Auge dafür hat, ob der Mensch arm und elend, oder reich und üppig ist. Für diese sozialen Unterschiede aber muss das Auge geschärft werden. Und das Mitleid ist die Brille, die diese Entfernung dem Menschen näher bringt. Und wo einmal das Mitleid eingesetzt hat, da muss die Menschenliebe aufgehen, wäre es auch nur als ein Ersatz für das Mitleid, das herausgefordert wird. Die Menschenliebe ist die religiöse Form des sozialen Verhältnisses zwischen Mensch und Mensch. Und die Armut ist das optische Mittel, den Menschen als Mitmenschen und somit als ein natürliches Objekt der sozialen Menschenliebe zur Entdeckung zu bringen. […] Wie die Liebe erst durch die Armut erweckt, und der arme Mensch erst zum Mitmenschen wird, so tritt auch bei Gott erst in der Religion die Liebe in Kraft“ (Cohen 1996, 79). In den über die „Achtung“ hinausgehenden „Tugendpflichten“ und ihrer Orientierung an „Wohl und Heil“ der Anderen ist eben dieser Forderung Cohens entsprochen. 555 Refl. 6997, AA XIX, 222; s. dazu o. I., 4.2.
346 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre – Anknüpfungspunkte für einschlägige religionsphilosophische Motive bei Levinas, die hier allerdings nicht näher zu verfolgen sind. Derart wäre, das Levinas’sche Motiv der „göttlichen Intrige“ berührend, nicht zuletzt jene in der „mystischen Liebe Gottes“ gesuchte „Tiefe seines Ersehnt-Seins in die nicht ersehnenswerte Nähe des Anderen“556 verwiesen, die – obgleich wachsam für die prioritäre Verbindlichkeit der „Rechtspflichten“ – dennoch am Anspruch des „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“, erst ihr letztes Maß hat. In jenem zu befördernden „Wohl und Heil“ des „vernünftigen Weltwesens“ ist, wie erwähnt, freilich die konkrete Erfahrung des ergehenden individuellen Anspruchs maßgebend, in dem – ohne Rückfall in „Heteronomie“ – nicht die Urteilskraft lediglich sich „selbst die Regel gibt“. Diese „praktisch-revolutionierte Denkungsart“ der besonderen Art ist es vielmehr, die – in einer solchen Inversion „transzendentaler Zweckmäßigkeit“ – nicht an der „Fasslichkeit für die menschliche Urteilskraft“ (V 469) und daran geknüpfter „intellektueller Lust“ und in ähnlichen Formen des „Sich-wiederfindens“, sondern an je „fremder Glückseligkeit“ (als dem „Zweck, der zugleich Pflicht ist“) erst ihr eigentliches Maß als „objectum obligationis“ findet (s. o. I., 4.2.). Lediglich die Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“ dieserart neu akzentuierend, bewährt sie sich als „Wohltun“ und „tätige Teilnehmung“ gegenüber den Anderen im „wahren Gottesdienst des Lebens“557; sie konkretisiert bzw. „invertiert“ so den Transzendenzbezug des „Übersinnlichen in uns“ (als „Idee des Gott wohlgefälligen Menschen“) gemäß jenem aus „tiefer Diesseitigkeit“ gespeisten Anspruch.558 Die für Kants Systematik so zentrale These 556 Levinas 1981, 106. Wenn es bei Levinas heißt: „Für-den-anderen-Menschen und dadurch zu-Gott“ (Levinas 1986, 21), so bleibt doch zu fragen: Wie verhält sich dazu aber genauer besehen die (Nivellierungen doch wiederum begünstigende?) Levinas’sche Notiz: „Die Beziehung zum Anderen ist also nicht Ontologie. Dieses Band mit dem Anderen, das sich nicht auf seine Vorstellung, sondern auf seine Anrufung zurückführt, wobei der Anrufung kein Verstehen vorausgeht, nennen wir Religion“ (Levinas 1987, 123)? Dies wäre wohl eine ethische Kurzschließung des Problems – auch deshalb, um, im Sinne einer genaueren Differenzierung des Verhältnisses von Ethik und Religion, den guten Sinn jener von Kant gewiss unterstützten „göttlichen Intrige“ bewahren zu können. – Zum Verhältnis zwischen Kants Ethik und leitenden Motiven Levinas’ vgl. die Studie von N. Fischer (1999). Grundsätzlichere kritische Überlegungen zu Levinas’ Ontologie- und Transzendenz-Konzeption und daran geknüpfte Ansprüche sind hier nicht weiter zu verfolgen. 557 Auch diesbezüglich hätte Kant wohl Lichtenberg zugestimmt: „Das Wort Gottesdienst sollte verlegt, und nicht mehr vom Kirchengehen, sondern bloß von guten Handlungen gebraucht werden“ (Lichtenberg 1984, 332). So betont auch Kant: „Gott wird allein durch den moralischen Lebenswandel gedient, nicht wird er durch den Kultus bedient“ (Refl. 6154, AA XVIII, 470). „Wir können Gott nur durch tugendhafte Handlungen dienen. Denn daß dieses zugleich die Verehrung Gottes mit in sich enthalte, versteht sich von selbst, weil wir gewiss Gott verehren, wenn wir seine Gebote halten. Ihm aber diese Verehrung besonders durch Gebete, Glauben &c&c. ankündigen ist nichts anders als Gunstbewerbung, wodurch wir unsere Achtung schlecht beweisen“ (AA XV, 959). Kant steht damit dem biblischen Gebot besonders nahe: „Ein reiner und makelloser Dienst vor Gott, dem Vater, besteht darin: für Waisen und Witwen zu sorgen, wenn sie in Not sind“ (Jak. 1). 558 Wenn Cassirers Charakterisierung einer für das Denken Leibniz’ maßgebenden Intention zutreffend ist, so ist auch diesbezüglich der nachhaltige Einfluss auf Kant unübersehbar: „Die Aufgabe des sittlichen Individuums wurzelt im Irdischen: nicht in die Betrachtung einer jenseitigen Seligkeit oder in die Anschauung eines mystischen Nirvana haben wir uns zu versenken, sondern den nächsten Zielen, die die Gemeinschaft, der wir angehören, uns stellt, sollen wir uns hingeben. Jede ‚Gottesliebe‘, die sich nicht unmittelbar in solcher sittlichen Tatkraft bekundet und äußert, ist müßig und unfruchtbar. Indem wir an dem sozialen Fortschritt der Menschheit arbeiten, begründen wir damit erst die echte ‚societas divina‘,
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über den – durch die Vereinigung der „spekulativen Einschränkung der reinen Vernunft“ und der „praktische(n) Erweiterung derselben“ – erreichten „zweckmäßigen Vernunftgebrauch“ (und die darin zutage tretende Balance) findet so im Blick auf die Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen in uns“ noch eine bemerkenswerte Zuschärfung.559 In dieser noch grundsätzlicheren Hinsicht bestätigt sich, im Sinne eines darin zutage tretenden gestuften Begründungszusammenhanges und anknüpfend an jene Entfaltung einer „teleologia rationis humanae“, erneut: In jener eigentümlichen Verschränkung und Balance der „spekulativen Einschränkung“ und „praktische(n) Erweiterung“ der „reinen Vernunft“ und dem darin begründeten „zweckmäßigen Gebrauch“ derselben enthüllt sich nichts anderes als die gemäß dem „Weltbegriff der Philosophie“ zu explizierende „praktische Bestimmung des Menschen“ – nunmehr in der besonderen Konsequenz, dass die darin aufgegebene philosophische Begründung des „Primats des Praktischen“ selbst von der praktischen Bewährung dieses „Primats“ und jener „Vernunftteleologie“ noch unterschieden bleibt, d. h. letztlich erst in solch authentischer Bezeugung ihre eigentliche „existentielle Wahrheit“ und Erfüllung gewinnt. Jene im „Weltbegriff der Philosophie“ reflexiv differenzierten Sinndimensionen bleiben sonach von der im konkreten ExistenzVollzug und seinen Ansprüchen selbst noch zu bewährenden „Weisheit“ zu unterscheiden bzw. darauf rückverwiesen. Kants Begründung der Unterscheidung des Bedürfnisses der Vernunft im „theoretischen“ und „praktischen Gebrauch“ (III 274) liegt nicht nur seiner Fundierung des „Primats des Praktischen“ zugrunde, sondern hat darüber hinaus weitreichende Folgen: Die dort ausgewiesene Unbedingtheit des „Urteilen-Müssens“ des praktischen Vernunftbedürfnisses (III 274)560 impliziert so jene Dimension der „Selbstverpflichtung“ und der schaffen wir den ideellen Zusammenhang und die Einheit der ‚Vernunftwesen‘. So enthält der ‚Optimismus‘ im letzten Grunde kein Urteil über den Zustand der Welt, sondern eine neue Ansicht über den Wert und die Aufgabe des Ich“ (Cassirer 1996, CII f ). 559 Es ist besonders in diesem religionsphilosophischem Kontext von Interesse, dass Kant den Verstoß gegen die Liebespflichten als „peccatum“ („Sünde“) gekennzeichnet hat, im Unterschied vom „Laster“: „Die Unterlassung der bloßen Liebespflichten ist Untugend (peccatum). Aber die Unterlassung der Pflicht, die aus der schuldigen Achtung für jeden Menschen überhaupt hervorgeht, ist Laster (vitium)“ (IV 603). Es ist noch einmal an jene „teleologische“ Figur Kants zu erinnern, die auch hier bestimmend bleibt: Die im „rechtlichbürgerlichen Zustand“ (vgl. IV 753) vollzogene Überwindung des „juridischen Naturzustandes“ war die Voraussetzung für den in einem weiteren Schritt zu leistenden Ausgang aus dem „ethischen Naturzustande …, um ein Glied eines ethischen gemeinen Wesens“ (vgl. IV 755 ff ) zu werden. Dem entsprach sodann die Unterscheidung zwischen dem „höchsten politischen Gut“ und dem zufolge der besonderen Pflicht des „menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ zu befördernden „höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts“ (IV 756), wobei darauf zu achten bleibt, dass diese „Vereinigung … in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke“ einerseits in besonderer Weise sensibel bleibt für die geschuldeten Rechtspflichten, gleichwohl darüber hinaus sich am Maßstab der „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, orientiert. Diese die individuelle Existenz-Perspektive betreffenden Aspekte des „höchsten Gutes“ bleiben darin „aufgehoben“. 560 Im Sinne der neuen „Freiheitslehre“ wäre Kant zufolge das zentrale Anliegen Jacobis wohl zu korrigieren: „Der Freiheits-Begriff, als wahrer Begriff des Unbedingten, wurzelt unvertilgbar im menschlichen Gemüte, und nötigt die menschliche Seele nach einer über das Bedingte hinaus liegenden Erkenntnis des Unbedingten zu streben. Ohne das Bewusstsein dieses Begriffs würde niemand von den Schranken des Bedingten Wissen, dass sie Schranken sind“ (Jacobi 1968, Bd. 2, 80); denn „offenbar“ wird dies nach Kant erst im „moralischen Gesetz“.
348 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre praktischen Bewährung, in der „Wahrheit“ auch erst als zu bezeugende bzw. bezeugte wirklich ist.561 In nüchterner Abkehr von jenen Schwärmern, welche in allen „erdenklichen Förmlichkeiten“ demonstrieren, wie sehr sie „die göttlichen Gebote verehre(n), um nicht nötig zu haben, sie zu beobachten“ (so Kants unüberbietbar bissig-verächtlicher Spott: IV 878),562 wäre dies, entsprechend jener „Analogie“, ohnehin nichts anderes als die Forderung, sich in jener gebotenen Beförderung des „Weltbesten an uns und anderen“ mit der gebotenen „Aufmerksamkeit“ (s. o. II., 2.1.1.) und „Urteilskraft“ zu bewähren und so jene „Inversion“ zu realisieren, wonach „Religion unumgänglich zur Moral führt“ und wir allein darin „unsere Bestimmung hier in der Welt … erfüllen“ (II 687). Auch dies bestätigt: Aller Versuchung eines „moralischen Überschwangs“ bzw. eines beanspruchten supererogatorischen „Mehrwerts“ hielt Kant die unbeirrt-nüchterne Mahnung entgegen, es sei ohnehin „jederzeit … Pflicht, alles Gute zu tun, was in seinem Vermögen steht“ (IV 726). Denn: „Nun können wir aber niemals, wenn wir auch alle moralischen Gesetze unablässig beobachten, mehr als unsere Schuldigkeit tun; daher auch nie von der Gerechtigkeit Gottes Belohnung erwarten. Menschen können unter einander allerdings Verdienste haben, und von ihrer gegenseitigen Gerechtigkeit Belohnung fordern; aber Gott können wir nichts geben, und haben daher auch kein Recht bei ihm auf Belohnung.“563 Dies ist ohnedies lediglich die Konsequenz daraus, dass erst in der praktischen Orientierung am „Imperativ, welcher die Tugendpflicht gebietet“, „das moralische Gesetz in Erfüllung geht“, das sich so diesem – an der Freiheit der Anderen (als „objectum obligationis“) Maß nehmenden – geschärften Blick verdankt. Mit Rücksicht auf Kants Bestimmung der „Weisheit“ sowie auf seine Begründung des „Primats der praktischen Vernunft in Verbindung mit der spekulativen“ sei hier noch einmal in Erinnerung gebracht: Im Kontext seiner Begründung der Unverzichtbarkeit einer kritischen Idee der „moralischen Teleologie“ als erforderliches Fundament eines ohne „gefährlichen Sprung“ zu leistenden „praktisch-dogmatischen Überschritts 561 Auf diese in der Differenz von „Urteilen-Wollen“ und „Urteilen-Müssen“ begründete Unterscheidung von „bedingtem“ und „unbedingtem Vernunftbedürfnis“ verweist in der Sache – und vermutlich ebenso in einem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang – wohl auch auf das für „Das neue Denken“ bestimmende Motiv Rosenzweigs: „Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr ‚ist‘, und wird das, was als wahr – bewährt werden will. Der Begriff der Bewährung der Wahrheit wird zum Grundbegriff dieser neuen Erkenntnistheorie […] Von jenen unwichtigsten Wahrheiten des Schlages ‚zwei mal zwei ist vier‘… führt der Weg über die Wahrheiten, die sich der Mensch etwas kosten lässt, hin zu denen, die er nicht anders bewähren kann als mit dem Opfer seines Lebens, und schließlich zu denen, deren Wahrheit erst der Lebenseinsatz aller Geschlechter bewähren kann“ (Rosenzweig 1984, 208). 562 Eine Erinnerung an Lessings „Nathan“ und dessen unbestechliches Urteil legt sich sogar durch die Formulierung nahe: „Geh! – Begreifst du aber, wieviel andächtig schwärmen leichter, als gut handeln ist? Wie gern der schlaffste Mensch andächtig schwärmt, um nur, – ist er zu Zeiten sich schon der Absicht deutlich nicht bewusst – um nur gut handeln nicht zu dürfen?“ – Eine gewiss naheliegende Entsprechung hat dies in dem betonten Unterschied zwischen dem bloßen „Wohlwollen des Wunsches, welches eigentlich ein bloßes Wohlgefallen am Wohl jedes anderen ist, ohne selbst dazu etwas beitragen zu dürfen“ und dem „tätige(n), praktische(n) Wohlwollen, sich das Wohl und Heil des anderen zum Zwecke zu machen (das Wohltun)“; „Wohlwollen ist das Vergnügen an der Glückseligkeit (dem Wohlsein) anderer [„welches uns nichts kostet“]; Wohltun aber die Maxime, sich dasselbe zum Zweck zu machen, und Pflicht dazu ist die Nötigung des Subjekts durch die Vernunft, diese Maxime als allgemeines Gesetz anzunehmen“ (IV 588 f ). 563 AA XXVIII, 1085.
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zum Übersinnlichen“ hat Kant mit seiner Zurückweisung der vorkritischen Ansprüche eines „theoretisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ (bes. Leibnizens und Wolffs) einen diesbezüglich sehr bedeutsamen Akzent gesetzt. Diese gegen Leibniz/ Wolff gerichtete Kritik, so hat sich gezeigt, zielte vornehmlich darauf ab, dass der von ihnen – eigentümlich „endzweck-vergessen“ – beanspruchte „theoretisch-dogmatische“ Aufweis eines „Endzwecks der Schöpfung“ geradewegs verkennen müsse, dass dies eben nur über eine Entfaltung der Idee einer „moralischen Teleologie“ in der inneren Verfassung der menschlichen Vernunft selbst zu leisten ist. Weil die „Ehre Gottes“ nach Kant allein darin begründet ist, dass dieses „vernünftige Weltwesen“ in der Beförderung des „Weltbesten an uns und anderen“ auf den „praktischen Endzweck“ „hinwirkt“, hätte eine verkürzte Version des theologischen Motivs der „Ehre Gottes“ unweigerlich auch eine reduktionistische Charakterisierung der „ganzen Bestimmung des Menschen“ zur Folge – nicht zuletzt darauf ist Kants Bedenken offensichtlich gerichtet. Unschwer ist so nochmals an jenes Motiv des sich „nach der Analogie mit der Gottheit“ verstehenden Menschen anzuknüpfen – nunmehr freilich in besonderer Blickrichtung darauf, dass die angeführte Kennzeichnung der „Ehre Gottes“ als des „Endzwecks der Schöpfung“ derart mit derjenigen, dass allein die „Liebe Gottes“ als „Zweck der Schöpfung“ anzusehen sei, verbunden werden muss. Andernfalls wäre, wie Kant am Ende der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten betont, der „Zweck der Schöpfung“ als die „Liebe des Welturhebers (wie man doch denken muss)“ (IV 632), gerade nicht zu denken, wenn dies die Endzweck-Stellung des Menschen doch schon voraussetzt,564 ohne die von einem geistigen Verhältnis, das „Anerkennung“ nicht unterbietet, auch gar nicht die Rede sein könnte. Dies impliziert die Freisetzung der moralischen Freiheit und der Anerkennung ihrer „Autonomie“ sowie des „Bedürfnisses der fragenden Vernunft“, ohne die „menschliche Würde“ nicht zu denken ist; Letztere muss jedoch wiederum als unabdingbare Voraussetzung jenes Motivs der „Ehre Gottes“ – jedenfalls derjenigen eines „weisen Welturhebers“ – gelten. Bedeutsam ist dies nicht zuletzt deshalb, weil so erst der „Endzweck des Menschen“ auf eine Weise bestimmt wäre, die es erlaubt, das auffällige Schwanken in Kants Bestimmung des „(End-)-Zwecks der Schöpfung“ in eine denkwürdige Konvergenz zwischen der „Ehre Gottes“, der „Liebe des Welturhebers“ bzw. der „Glückseligkeit der Menschen“ überzuführen.565 Daraus ergeben sich freilich gerade im Blick auf Kants Idee der „moralischen Teleologie“ weitreichende Fragen, die es als unverzichtbar erscheinen lassen, auch die Theodizee-Thematik innerhalb dieser erweiterten Idee einer „moralischen Teleologie“ selbst zu verorten (s. dazu u. Teil VI.).
564 Und diese ist wiederum dadurch qualifiziert, dass dies nicht nur der Erfahrung des Naturschönen fähig ist, sondern im Blick auf das „Zweckwidrige“ in Natur und Geschichte von diesem „großen Schauplatz“ „unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden“ (VI 49). 565 So bestimmte Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ den „Zweck der Schöpfung“ als „Ehre Gottes“ (IV 263), dann wiederum als „das höchste in der Welt mögliche Gut, welches in der Vereinigung und Zusammenstimmung beider [Moralität und Glückseligkeit] besteht“ (III 132); zuletzt ist es die „Liebe des Welturhebers (wie man sich doch denken muss)“, d. h. aber „die Glückseligkeit der Menschen“ (IV 632).
350 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre 4.3.2. Anmerkung 1: Kants Spott über jene „mystagogischen Kraftmänner“, „welche … mit Begeisterung eine Weisheit verkündigen, die ihnen keine Mühe macht“ In energischem Einspruch gegen sich außerordentlich begabt wissende mystagogische „Kraftmänner“ (III 391, Anm.; IV 879) und deren spirituelle Ansprüche hat Kant – und zwar in ausdrücklichem Verweis auf die „Gerichtsrede“ des „Lehrers des Evangelii“ – darauf hingewiesen, dass „der Weltrichter diejenigen, welche den Notleidenden Hilfe leisteten, ohne sich auch nur in Gedanken kommen zu lassen, dass so etwas noch einer Belohnung wert sei, … für die eigentlichen Auserwählten zu seinem Reich erklärt“ (IV 832).566 Die entschiedene Distanzierung von den Anmaßungen vermeintlicher „göttlicher Lieblinge“567 bewahrt nicht allein vor dem „Erblinden“, das jedoch diesen selbsternannten Auserwählten bzw. in mystagogischer Schau Geblendeten droht; es sensibilisiert desgleichen in besonderer Weise für die in dem moralischen Anspruch begründeten „Not-Wendigkeiten“. War das „Absehen von sich selbst“ für den „unter den moralischen Gesetzen“ stehenden Menschen (V 575, Anm.) die unumgängliche Voraussetzung für seinen Status als „Endzweck der Schöpfung“, so gründen jene besonders begünstigten, ja sich sogar auserwählt („abgesondert“ in diesem Sinne) wissenden „Favoriten“ allein auf den „Einfluss eines höheren Gefühls“ die ihnen eigentümliche Gewissheit ihrer selbst sowie die damit verbundene Berufung darauf: „Die Philosophie hat ihre fühlbaren Geheimnisse“ (III 384). Die darin Eingeweihten stehen somit – gleichsam in „ästhetischer Weise“ (im Sinne Kierkegaards) elitär religiös, d. i. in Reih und Glied mit den nicht weniger selbstfindungs-bedachten „Psychikern“ – jenen „eigentlich Auserwählten“ im Sinne Kants gegenüber, die allein in einem unverdächtigen Sinne als die eigentlichen „Pneumatiker“ in der „geistigen Republik“ bzw. dem „ethischen Gemeinwesen“ gelten dürfen, deren „Umkehr“ nicht selbstbespiegelnde „Einkehr in sich“, sondern praktisch-teilnehmende Zuwendung zur Welt ist. Dies impliziert, dass das im Sinne jenes „ethischen Ge566 Kant nimmt hier direkt auf die neutestamentliche „Gerichtsrede“ (Mt 25, 35 ff ) Bezug: „Wahrlich ich sage euch, was immer ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. […] Was immer ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden hingehen, diese in ewige Pein, die Gerechten aber in das ewige Leben“; nirgendwo sonst hat dieses Motiv und das damit zusammenhängende „Liebesgebot“ in philosophischem Kontext eine so kompromisslose philosophische „Übersetzung“ gefunden wie bei Kant – und zwar gerade auch im Sinne der Sensibilisierung für den Anspruch der „Rechtspflichten“! Dass sich die in unserer Vernunft „einwohnende“ Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“ (die „Idee des Gottessohnes“) in ihrem „Urbild der Nachfolge“ also an dem orientiert, der seine „Sohnschaft“ gerade im „Von sich [d. h. seinem „Gott gleich sein“] Absehen“ „realisiert“, wäre wohl auch zu „übersetzen“ im Sinne des Motivs der „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete(n) praktischen Vernunft“ und enthielte so wohl auch ein kritisches Übersetzungs-Potenzial für das „Erwählungsmotiv“. 567 „Die Unparteilichkeit gehöret zu den Eigenschaften, welche von Gott gar nicht besonders prädizieret werden darf, da niemand daran zweifeln kann, dass sie ihm zukomme, weil sie schon in dem Begriffe eines heiligen Gottes liegt. Diese Unparteilichkeit Gottes bestehet darin, dass Gott keine Lieblinge hat […] Es lässt sich daher von Gott nicht denken, dass er einzelne Subjekte vor andern, ohne Rücksicht ihrer Würdigkeit, zu Lieblingen wählen sollte; denn das wäre eine anthropomorphistische Vorstellung“ (AA XXVIII, 1087 f ).
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meinwesens“ verstandene „Volk Gottes“ selbst an der „Idee der Menschheit“ sein (keine Exklusivität duldendes) Maß hat, d. h. sich allein darauf beziehen kann. Erneut bestätigt sich in Anknüpfung an frühere Überlegungen (s. o. I., 4.3.1.), dass in dieser Idee des „ethischen gemeinen Wesens“ die Konzeption der „praktisch revolutionierten Denkungsart“, das „Ideal eines Ganzen aller Menschen“ (IV 754) und die Idee des „Ganzen aller Zwecke“ engstens verbunden sind. In diesem Kontext darf auch nochmals daran erinnert werden: Jener kantische Rekurs auf die „größere Bearbeitung sittlicher Ideen“ (II 686) und auf die durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ (VI 186) spiegelt sich – sowohl was die Ausbildung als auch ihren spezifischen Sinngehalt betrifft – in der „geläuterten“ Bestimmung der moralischen Idee eines „Volkes Gottes“ wider; in der darin bestimmenden „Menschheits“-Idee ist die „Individuierung“ bzw. „Verinnerlichung“ („Intensität“) am Maßstab des „Gesetzes aller Gesetze“ mit dem Aspekt des „Inbegriffs aller Menschen“ („Extensität“) in eigentümlicher Weise vereinigt und auf die korrespondierende Gottesidee bezogen (in der die Bestimmung des „Schöpfers“, „Gesetzgebers“ und „Herzenskündigers“ untrennbar vereint sind). Die von Kant so unnachgiebig betriebene Ablehnung des Anspruches, „dieser Gemeinschaft mit Gott und der unmittelbaren Anschauung dieser Ideen teilhaftig zu werden (Mystische Anschauung), auch wohl, darin den unmittelbaren Gegenstand aller seiner Neigungen zu finden … (mystische Liebe Gottes)“,568 erfährt in den angezeigten späten Motiven seines Denkens offensichtlich noch eine aufschlussreiche Akzentuierung. Jedenfalls darf die gelegentlich gegen Kant gerichtete Kritik an einer „moralistischen“ Reduktion der Religion nicht darüber hinwegsehen lassen, dass die in Ansprüchen und Kategorien praktischer Vernunft verankerte nähere Bestimmung (nicht: Begründung, s. o. I., 2.2.) des Gottesbegriffs jede Schwärmerei und alle selbst-fixierten Gestalten eines mehr oder weniger subtilen religiösen „Solipsismus“ verbietet. Es hat sich gezeigt: In Abgrenzung von den enthusiastisch-ahnungsvollen Ansprüchen jener sich moralisch dispensiert dünkenden und sich ebenso mystisch „favorisiert“ sowie „begnadigt“ (besser wohl: „begnadet“?) einschätzenden „Himmelsgünstlinge“ (IV 878)569 dürfen allein die aus jenem „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ in ihrer Lebensführung orientierten „vernunftbegabten Erdwesen“ als die eigentlich „Vertrauten“ jener „aus sich heraustretenden Gottheit“ gelten; sie sind es, die allein in ihrer praktischen Orientierung an dem „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ an diesem „Aus-sich-Heraustreten“ Gottes – an der göttlichen schöpferischen „Ekstasis“
568 Refl. 6050, AA XVIII, 435. Kant nennt diese ganze „mystische Theosophie“ eine „korrumpierte platonische Philosophie“ (AA XVIII, 1059) und hat damit bekanntlich vor allem J. G. Schlosser und dessen „Platonismus“ vor Augen. Es wurde schon erwähnt: Obgleich Kant die „neuplatonische Philosophie“ als das „Hauptzeitalter der Schwärmerei“ ansah, finden sich auch bei ihm diesbezüglich, wie gelegentlich schon angezeigt, sehr interessante, d. h. höchst bedeutsame sachliche Anknüpfungspunkte an neuplatonische „Theoreme“. Sie weisen freilich in eine ganz andere Richtung als beispielsweise jener „critical mysticism“ bzw. ein „mystical feeling“, für die Palmquist bei Kant Anhaltspunkte finden will (Palmquist 2000, 374). 569 Erst recht in diesem Kontext bleibt Kants Mahnung grundsätzlich erinnernswert, wonach es „mit solchen vermeinten Gefühlen übersinnlichen Ursprungs nur misslich bestellt [sei]; man täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt“ (IV 721).
352 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre – teilhaben und auch nur deshalb am „höchsten Gut“ Anteil gewinnen können. Schon jenen zeitgenössischen „platonisierenden“ Gesprächspartnern und deren „affektierter Genieschwärmerei“ bzw. „moralischer Schwärmerei“ hatte Kant in diesem Sinne ja entgegengehalten, dass nur in der moralischen Bewährung des „Dass-eine-moralische-Weltsein-Soll“ jene aus sich herausgetretene „Gottheit“ in angemessener Weise zu „preisen“ sei. Erst damit hat auch die Frage des frühen Kant eine zureichende Antwort gefunden: „Was bestimmt ein sich selbst gnugsames Wesen zur Kausalität außer ihm? Es ist für sich selbst zufrieden.“570 Und allein daraus gewinnt auch die Bestimmung der „fides“ ihre vorläufige Wahrheit in der praktischen Bezeugung und Bewährung solcher Hoffnung, die sich dabei auf die Beförderung des „höchsten Gutes“ – eben nach solcher Maßgabe – verwiesen weiß. Mit dem diese „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, auszeichnenden Anspruch sowie im Blick auf jenes Analogie-Motiv erweitert sich freilich auch der Sinngehalt dieser kantischen Bestimmung von „fides“. Als „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ enthält sie gewissermaßen selbst den Ruf in die Zeugenschaft in sich – ein Motiv, das sich auch in diesem Kontext zwanglos mit jener Bezugnahme auf den „Gott, der durch unsere eigene (moralisch-praktische) Vernunft spricht“ (VI 338), verbindet. Freilich, solche „Zeugenschaft“ dieser Art steht weder für sich selbst noch weist sie auf sich selbst, bewährt sich diese doch gerade im – „bild“-gemäßen – „Wegweis“ von sich selbst als Hinweis auf den unbedingten Anspruch, dem ein solcher Zeuge als Sub-jekt doch selbst untersteht und woraufhin sich solche „Authentizität“ erst bezeugt. In solchem „Einstehen dafür“ ist die daraus vermittelte Selbstbestimmung, als eine wahrhaft „authentische“, von bloßem Eigensinn unterschieden: Allein dies begründet jene besondere „Authentizität … und Integrität“, die Kant auch als „Erfordernisse eines unverwerflichen Zeugen“ (III 502, Anm.) geltend gemacht hat, der eben „unter moralischen Gesetzen“ (V 575, Anm.) steht. Jene späte Bestimmung der „Religion“ als des „Glaubens“, „der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt“ (VI 316), macht dies lediglich besonders deutlich und bringt damit einen besonderen Aspekt der „Befreiung“ der Freiheit „von sich zu sich“ zur Sprache. Die derart ausgerichtete Bestimmung von „fides“ fordert demnach die Bewährung und Bezeugung solchen „praktischen Glaubens“ in der pro-flexiven Beförderung „fremder Glückseligkeit“, worin jene „Reflexe [des „Übersinnlichen“] der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft“ (III 388) sich als „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ wirklich erweist. In Abwehr jenes „vorgebliche(n) geheime(n) Wahrheitssinn(s)“ sowie einer „überschwengliche(n) Anschauung unter dem [bloßen!] Namen des Glaubens“ (III 268), weiß solche Orientierung sich – im Sinne jener „tiefen Diesseitigkeit“ – dem un-erhörten Anspruch des „Eins tut not!“ und seiner notwendigen Bewährung in den „Forderungen des Tages“ verpflichtet. Leitend ist dabei das unbeirrbare Bewusstsein, dass seine besondere Weltstellung als „copula zwischen Endlichem und Unendlichem“ doch allein in solcher „Weltverbundenheit“ und solidarischen Zuwendung zu „vernünftigen Weltwe-
570 Refl. 6059, AA XVIII, 440.
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sen“ – ein anderes Wort für „Humanität“ – ihre konkrete Realisierung findet.571 Und erst dies erlaubt es auch, jenen erhabenen Ansprüchen der sich vornehm dünkenden mystischen „Kraftmänner“ angemessen begegnen, „welche … mit Begeisterung eine Weisheit verkündigen, die ihnen keine Mühe macht, weil sie diese Göttin beim Zipfel ihres Gewandes erhascht und sich ihrer bemächtigt zu haben vorgeben“ (III 391, Anm.).572 Auch dies ist nicht zu übersehen: Die gegen zeitgenössische Gestalten des „Illuminatism“, der „Schwärmerei“ und des „Aberglaubens“573 gerichtete Auskunft Kants, dass allein Wissenschaft zur „Weisheitslehre“ führe, steht indes keineswegs im Widerspruch dazu, dass Letztere selbst in der moralischen Lebensführung (im Bezug auf das Ganze einer „moralischen Lebensgeschichte“), d. h. in der darin sich bewährenden „Weisheit“, „aufgehoben“ ist und als solche auch die Orientierung durch den darin verankerten „Vernunftglauben“ begründet.574 So zeigt sich auch – nicht zuletzt durch seinen Rekurs auf das „unerschütterliche moralische Gesetz“ als den „festen Punkt“ des Archimedes (III 393) –, dass Kant jene späte Platon-Reminiszenz (über die „Reflexe“ des „Übersinnlichen außer uns“ „in uns“) in der Sache offenbar mit einer Vergegenwärtigung des berühmten cartesianischen Motivs verknüpft, wonach „in gewissem Sinne die Vorstellung des Unendlichen der des Endlichen, d. h. die Vorstellung Gottes der des Ich vorausgeht“.575 In einer der Begründungsfigur des „Primats des Praktischen“ gemäßen Form findet dieser Gedanke, im Ausgang von
571 Allein (so Kants denkwürdige Reflexion 6154, in: AA XVIII, 470) in diesem „moralischen Wohlverhalten“ „wird er [Gott] geehrt; und, weil das Gute, das dadurch allein bewirkt wird, nicht auf ihn fließt, sondern in der Welt immanent ist, so wird dadurch zwar Gotte gedient, d. i. wir handeln als im Dienste Gottes zum Weltbesten, aber Gott wird nicht bedient, d. i. durch irgend einen Cultus irgend ein Zweck … oder Wirkung außer der Welt und in Gott intendiert. Also gibt es keinen unmittelbaren Gottesdienst, sondern nur … dadurch, dass wir seine Befehle in der Welt verrichten und dadurch selbst 1. gut, 2. der … Güte [!] Gottes würdig werden“. 572 Siehe dazu die Hinweise auf „Kants Begriff der Philosophie“ (im sog. Jachmann-Prospekt, Henrich 1966) und die auch in diesem späten Text so spöttisch-entschiedene Absetzung von mystischen Ansprüchen: „Ob nun die Weisheit von oben (durch Inspiration) zu uns herab … oder von unten hinauf … steigen werde, wenn man sich nur darum ernstlich bemüht, das ist die Frage. – Die Philosophie behauptet das letztere von der Erde zu den Himmlischen (aufwärts) die Mystik das letztere vom Himmel zur Erde herab zu gehen“ (Henrich 1966, 42). Sodann heißt es: „Philosophie nicht als bloße Wissenschafts[-]… sondern als Weisheitslehre d. i. als Wissenschaft des Endzwecks der menschlichen Vernunft ist nie bloß theoretisch sondern enthält Prinzipien der praktischen Vernunft schon in ihrem Begriffe und zwar solche die nicht (bloß) technische sondern moralische praktisch“ sind (ebd. 43). 573 „Aberglauben“ und „Schwärmerei“ hat Kant schon früh unterschieden: Ersterer „ist dem [praktischen] Vernunftgebrauch, Schwärmerei dem Erfahrungsgebrauch entgegengesetzt und zuwider“ (AA XXVIII, 1326); ersterer entstehe vornehmlich „durch die Furcht und Leidenschaften“ (ebd. 1327). Kants Rekurs auf die „Weisheit“ richtet sich gleichermaßen gegen religiöse „Schwärmerei“ und „Aberglauben“, ebenso freilich gegen stoische „Weisheits“-Ansprüche. 574 So wie Fichte wusste freilich auch Kant (bezüglich seines „Weltbegriffs der Philosophie“) um die notwendige Unterscheidung verschiedener Ebenen, denn „unsere Philosophie“ „soll nur Theorie der Lebensweisheit sein, nicht an ihre Stelle treten“ (Fichte III, 349). 575 Descartes, Dritte Meditation – Dieses cartesianische Motiv begegnet bei Kant in der Tat in unterschiedlichen Bezügen – freilich nicht selten verbunden mit seiner Mahnung, „Bedürfnis“ nicht mit „Einsicht“ zu verwechseln (z. B. III 272, Anm.); ebenso wäre an Kants Unterscheidung zwischen dem „intellectus archetypus“ und „intellectus ectypus“ zu erinnern.
354 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre solcher Umkehrung, dahingehend eine besondere Weiterführung, dass damit auch die Gottesidee als „ratio essendi“ des „höchsten Gutes“ noch bestimmtere Gestalt gewinnt. Jenes „platonische“ „Reflex“-Motiv verbindet sich darin – ganz gemäß jener Differenz und Einheit des „Vernunftbegriffs in concreto“ und „in abstracto“ – bei ihm offenbar erneut mit seiner schon erwähnten Rezeption des alttestamentlichen Bilderverbotes.576 Der von Kant entwickelte „geläuterte Religionsbegriff“, der dem Verbindlichkeitsanspruch jenes „Imperativs, der die Tugendpflicht gebietet“, doch erst zu genügen vermag und so der Idee des „Gott wohlgefälligen Menschen“ entspricht, wäre so gewissermaßen der ausgezeichnete Ort, in dem sich die Existenz des „vernunftbegabten Erdwesens“ auf ein „gelingendes Ganzes“ hin reflektierend sammelt und sich gleichermaßen sensibel an die Welt im „Gottesdienst des Lebens“ rückgebunden weiß – ohne damit freilich einer nivellierenden „Moralisierung“ der Religion einfachhin Vorschub zu leisten. Erst recht spricht nun vieles dafür, solcherart jenes späte kantische Motiv des „sich nach der Analogie mit der Gottheit“ denkenden Menschen mit der frühen These „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“, zu verknüpfen, das allein angesichts des Anspruchs des zu befördernden „Wohls und Heiles“ konkrete Gestalt gewinnt. Jenes vom späten Kant aufgestellte „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ erfährt derart eine unübersehbare Erweiterung – sowohl was den „praktischen Endzweck“ als auch dessen „Ermöglichungsgrund“ betrifft. In diesem engeren Kontext gewinnt jener deismus-kritische Rekurs auf den Begriff des „lebendigen Gottes“, desgleichen jene schon wiederholt angeführte kantische Mahnung, den „Begriff von einer Gottheit“ nicht leichtfertig „an jedes von uns gedachte verständige Wesen“ zu verschwenden (V 562),577 noch eine unübersehbare Zuschärfung, die somit auch den jenes „Bedürfnis der fragenden Vernunft“578 auszeichnenden Anspruch noch vertieft: Ein unüberhörbarer, nunmehr in religionsphilosophische Bezüge transferierter Nachklang zu der voranstehend erneut thematisierten Begründungsfigur des „Primats der praktischen Vernunft“? War es doch gerade das Eigentümliche jenes „von der Reali576 Ebenso legt Kants „Reflex-Motiv“ einen Bezug zum neutestamentlichen „Sohn Gottes“-Gedanken nahe, wobei besonders, wie schon erwähnt, das von Kant zur Charakterisierung des „eingeborenen Sohnes“ angeführte Wort (Hebr 1,3) zu erwähnen ist: „Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit“ (IV 713). 577 In Kants Argumentation tritt hier eine eigentümliche (und doch sehr bezeichnende) Spannung zutage: Betont er zunächst, dass der deistische Gottesbegriff der „einzige mögliche Weg“ sei, „den Gebrauch der Vernunft, in Ansehung aller möglichen Erfahrung, in der Sinnenwelt durchgängig mit sich einstimmig auf den höchsten Grad zu treiben“ (III 234), so ist es indes allein der „theismus moralis“, der einen mit sich „einstimmigen Vernunftgebrauch“ im Ausgang von praktischen Vernunftansprüchen eröffnet und dementsprechend auf eine „moralisch konsequente Denkungsart“ abzielt; andernfalls müsste er in Widerspruch mit sich selbst, ja sogar in einen „Vernunftunglauben“ geraten. In diesem Sinne betont K. Düsing, dass diese „aus unserer Perspektive entworfenen Bestimmungen Gottes … als spontane, frei entworfene und angenommene Vernunfthinsichten des sittlichen Subjekts auf seinen letzten, selbst unbekannten Grund“ aufzufassen sind. Düsing kommt zu dem Ergebnis: „So lassen sich solche konkreten analogischen Vernunftperspektiven auf Gott in einer positiven philosophischen Theologie durchaus konsistent mit der negativen Theologie der Unerkennbarkeit, ja Undenkbarkeit und Verborgenheit Gottes für unsere endliche Vernunft verbinden.“ (Düsing 2012, 347). 578 Darin ist „in nuce“ jenes Schelling’sche Motiv vorweggenommen: „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes. Diese wollen wir als die letzte Ursache aller Dinge“ (Schelling 1992, I 79).
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tät lediglich am entferntesten scheinenden Ideals“, dass das Transzendieren aller bloßen weltlichen Faktizität durch den Eintritt „in jene „höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir jetzt schon sind“ (IV 235), sich in solcher praktischen Zuwendung zur Welt konkretisiert, deshalb aber auch alles „Hoffen-Dürfen“ eben dies zur Voraussetzung hat. Indes, solcher Eintritt in jene „Ordnung der Dinge, in der wir jetzt schon sind“, ist mit einer „Selbstbegrenzung der Vernunft“ in der bestimmten Hinsicht verbunden, dass darin auch jener letzte Schritt der Metaphysik als „praktisch-dogmatischer Überschritt“ selbst „durch die Tat“ aufgehoben ist. Noch einmal sei betont: Ungeachtet mancher motivlich naheliegender Anknüpfungspunkte an (bisweilen schon „christlich“ transformierte) neuplatonische Theoreme (wie sie besonders in jenem Analogie-Motiv zutage treten), bleibt – auch im Blick auf Kants kritisch „gebrochene“ „Sonnengleichnis“ („Reflex des Übersinnlichen“) – natürlich daran festzuhalten, dass, gemäß der neuen „Freiheitslehre“, die maßgebende „Umwendung der Ideenlehre“ und das entsprechende „unbedingte“ „Urteilen-Müssen“ das unverrückbare Fundament darstellen. Sie sind es laut Kant, welche die einzig tragfähige Basis des „praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen“ darstellen und auch die genaue „Zielrichtung“ dieses „Überschritts“ bestimmen. Von dieser in den umfassenderen ethikotheologischen Rahmen eingebundenen Thematik wird im Folgenden noch die Rede sein – auf eine Weise freilich, die zugleich den Ausblick in daraus zwar vermittelte, gleichwohl „transmoralische“ Sinndimensionen eröffnet. 4.3.3. Anmerkung 2: Ein diese existenzialanthropologische Wendung der Postulatenlehre beschließendes Resümee: Die kritische Rezeption der traditionellen „Weisheitslehre“ in Kants „Weltbegriff der Philosophie“ Hier sei auch noch einmal an Kants denkwürdige – späte – Kennzeichnung der Philosophie als „Weisheitslehre“ erinnert, die bei ihm in engem Zusammenhang mit der Bestimmung der „Aufklärung“ steht: „Philosophia (doctrina sapientia) ist nicht eine Kunst von dem, was aus dem Menschen zu machen ist, sondern was er aus sich selbst machen soll ‚sapere aude‘. Versuche dich Deiner eigenen Vernunft zu Deinen wahren absoluten Zwecken zu bedienen. – Dazu wird keine Wissenschaft (scientia) erfordert. Die Lehre des obersten Zwecks (Gebot) weiß jeder.“579 Dies ist wenigstens in einem zweifachen Sinne bemerkenswert, aber auch provokant: Zunächst verbindet diese Bemerkung offensichtlich das Motiv der „aufgeklärten Denkungsart“ mit dem „Weltbegriff der Philosophie“ in der zugeschärften Form, dass ein Absehen (Ausblenden) von diesen „wahren absoluten Zwecken“ gerade nicht als aufgeklärt gelten kann, vielmehr nach Kant in eigentümlicher Weise als „borniert“ gelten muss. Dass es bezüglich der für die Lebensorientierung maßgebenden 579 Kant AA XXI, 117. Auch in der späten Refl. 6350 (AA XVIII, 689) heißt es: „Die Philosophie (als Weisheitslehre) ist die Lehre von der Bestimmung des Menschen in Ansehung des aus seiner eigenen Vernunft hervorgehenden Endzwecks“. Vgl. dazu auch Kants späte „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie“: III 405 ff.
356 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre „obersten Zwecke“, so wie bei jenen angeführten schlichten „Glaubensartikeln“, eines besonderen spekulativen Tiefsinnes oder einer besonderen „epistemischen“ Kompetenz bzw. eines Handbuches als Ratgebers bedarf – eine solche Ansicht hätte Kant wohl als eine besondere Erscheinungsform des Aberglaubens bzw. potenzierter Unmündigkeit verworfen. Mit jener Forderung nach einer gemäß diesen „absoluten Zwecken“ erweiterten – und nur so auch über sich selbst „aufgeklärten“ – Vernunft verbindet sich in dieser „Weisheitslehre“ eine denkwürdige „Selbstbegrenzung“ der darin geltend gemachten Ansprüche; sie akzentuiert jenes Motiv des „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“ lediglich in besonderer Weise und bringt dabei jenes Ineinander von „Einschränkung“ und „Erweiterung des Vernunftgebrauchs“ vor allem im Sinne des „Primats des Lebens“ zur Geltung. Dass auch der recht verstandene „Weisheitslehrer“ selbst der „gemeinen Menschenvernunft“ nichts voraus hat,580 hätte Kant vielmehr als eine unverzichtbare Bestätigung für die „zweckmäßige Verfassung der Vernunft“ geltend gemacht; deren Freilegung und Verteidigung gegenüber fehlgeleiteten Ansprüchen (und sei es auch im Namen der Vernunft!) hat er geradezu als die vorrangige Einsicht bzw. Aufgabe des „Weisheitslehrers“ betont. Kants Kritik an einem über sich selbst unaufgeklärten „Szientismus“, an einer Reduktion der Vernunft auf „instrumentellen Verstand“, ist darin ebenso mitenthalten wie seine Ablehnung einer abstrakten – maß-, weil vernunftlosen – Fortschrittsgläubigkeit. Desgleichen bleibt hier offensichtlich die an dem „Weltbegriff der Philosophie“ und den darin fundierten „wesentlichen“ und „höchsten“ Zwecken orientierte Perspektive maßgebend, dass darin ein endliches Vernunftwesen „Aufklärung“ über sich selbst – d. h. hier: Klarheit über seine umfassende Lebensorientierung jenseits möglicher Erkenntnisansprüche im engeren Sinne – zu gewinnen und so gleichermaßen diesbezügliche Irrationalität und Maßstablosigkeit zu vermeiden vermag. Daran orientiert sich sodann auch das Bemühen um das rechte Verständnis sowie um die Anerkennung des Eigensinns der in diesen „höchsten Zwecken“ geäußerten Sinnansprüche; ebenso knüpft sich daran das besondere Interesse an der Frage: Wie können, unter den nichthintergehbaren Bedingungen eines säkularen Welt- und Selbstverständnisses und den unverrückbaren Maßstäben einer „vorurteilsfreien“, „erweiterten“ und „konsequenten Denkungsart“ (vgl. auch V 390) verpflichtet, „Problemata“ und Ansprüche der traditionellen Metaphysik und Ethik als unabweislich, weil wirklichkeits-erschließend, so übersetzt bzw. angeeignet werden, dass sie allen Verwerfungen, die diese als überholte „Bewusstseinsgestalten von gestern“ verabschieden wollen, standhalten können?
580 So betonte Kant schon in der „ersten Kritik“: „Aber verlangt ihr denn, dass ein Erkenntnis, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen, und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle? Eben das, was ihr tadelt, ist die beste Bestätigung von der Richtigkeit der bisherigen Behauptungen, da es das, was man anfangs nicht vorhersehen konnte, entdeckt, nämlich, daß die Natur, in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austeilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen“ (II 694 f ). Dieser „Überschritt zum Übersinnlichen“ werde der „gemeinen Menschenvernunft ebenso begreiflich … als den Philosophen, und dies so sehr, dass die letztern durch die erstere sich zu orientieren genötigt sind, damit sie sich nicht ins Überschwengliche verlaufen“ (III 639).
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Dass allein kritische Wissenschaft als „enge Pforte“ zur „Weisheitslehre führt“ und diese letztlich „den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen“ vermag (IV 302), verweist zwar auf das hierfür vorausgesetzte kritische Geschäft, das den vermessenen Ansprüchen eines spiritualistischen (und ebenso moralischen!) Überschwangs einerseits sowie eines naturalistischen Reduktionismus andererseits gleichermaßen den Boden entzieht. Über diese von einer kritischen „Selbsterkenntnis der Vernunft“ zu erledigende Aufgabe hinaus ist somit auch darauf hingewiesen, dass diese Weisheitslehre von dem von ihr zwar angezeigten „Weg zur Weisheit, den jedermann gehen soll“, indes selbst noch einmal unterschieden bleibt,581 zumal Erstere doch ihre eigentliche „Aufhebung“ allein in der moralischen Bewährung jener „Rechtschaffenen“ selbst finden kann. So hoch gegriffen, ja sogar anmaßend zwar schon der beanspruchte Status eines „Weisheitslehrers“ als eines „Meister(s) in Kenntnis der Weisheit“ erscheinen mag, so würde doch die in diesem Sinne verstandene „Philosophie …, so wie die Weisheit, selbst noch immer ein Ideal bleiben, welches objektiv in der Vernunft allein vollständig vorgestellt wird, subjektiv aber, für die Person, nur das Ziel seiner unaufhörlichen Bestrebung ist“ (IV 236; v. Verf. hervorgehoben). Demgemäß bleibt von der Metaphysik als der „Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten“ (III 590), die existenziell gelebte und bewährte „Weisheit im Leben“ selbst noch unterschieden; dies ist in der unaufhebbaren Spannung von Einsicht und praktischer Vermittlung sowie in ihrer Bewährung gegenüber den konkreten Ansprüchen der Lebenswirklichkeit selbst begründet, auf die hin eine „Weisheitslehre“, als Lehre von den „höchsten Zwecken des Daseins“, sich stets (und zwar im zweifachen Sinne) relativieren und insofern darin „aufheben“ muss. Dieser entscheidende Aspekt ist jedenfalls auch in Kants Bestimmung der „Weisheit“ mitzuhören, die er als „die Idee vom gesetzmäßig-vollkommenen praktischen Gebrauch der Vernunft“ (VI 511) bestimmt. Diesen IV. Teil beschließend bleibt wohl noch dies beachtenswert und eröffnet zugleich einen Ausblick auf die nachfolgend zu thematisierenden „Grenz“-Fragen: Wenn 581 In diesem genauen Sinne ist auch Kants These zu verstehen: „Der höchste Standpunkt der transc. Philosophie ist die Weisheitslehre, welche ganz auf das Praktische des Subjekts abzweckt [!]“ (AA XXI, 95), d. h. aber: selbst eben noch nicht „das Praktische“ ist. Indes: „Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der eigentliche Philosoph. Denn Philosophie ist die Idee einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt“ (III 447). – Der „Weise des Evangelii“ sei als das „wahre sittliche Ideal“ anzusehen (Refl. 6882, AA XIX, 191) – der als solcher aber gerade nicht bloßer „Weisheitslehrer“ ist. Insofern weist solche „Aufhebung“ auch darüber noch hinaus, dass der Mensch „der Weisheit“ bedarf, „um zu wissen, was nötig, möglich und zuträglich ist. Erst die Weisheit kann den Einzelnen lehren, in allem seine Chance und seine Grenze wahrzunehmen. Für die Weisheit aber gilt mehr als für jedes andere, dass sich jeder selbst um sie zu bemühen hat. Darin liegt die Last, aber auch das Glück des menschlichen Daseins“ (Gerhardt 2002, 359). – Eine weitere religionsphilosophische Perspektive ergibt sich im Ausgang von dieser angeführten Bestimmung der „Weisheit“ wohl in Erinnerung daran, dass jener „Zweckverbindung“ der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ jene „Weisheit“ (eben als „gesetzmäßig vollkommenen praktischen Gebrauch der Vernunft“) gleichsam „eingeschrieben“ ist – eine Perspektive, die durch den Ausgang von dem durch die „Tugendpflichten“, näher bestimmten Anspruch jenes „Übersinnlichen in uns“ noch eine Zuschärfung gewinnt und zuletzt auch für die Explikation der kantischen Gottesidee nicht ohne Folgen bliebe.
358 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre die auf den „Primat der praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ abzielende Begründungsfigur selbst als spätes Ergebnis jener „Geschichte der reinen Vernunft“ gelesen werden darf, die in Kants Bezugnahme auf den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ (III 629 ff ) als das „dritte, und den ganzen Zweck der Metaphysik erfüllende Stadium“ (III 634), sodann als eine aus dem „Weltbegriff der Philosophie“ gewonnene „Weisheitslehre“ ihre endgültige Gestalt gefunden hat, so wäre doch zu erwägen, ob dieses dem „Primat des Praktischen“ verpflichtete Denken nicht erst darin sein äußerstes Ziel – und zwar gerade auch als Selbstbegrenzung dieses „Überschritts“ – erfährt und so nicht auch ein denkbar radikaler Aspekt der „Selbstbegrenzung“ reflexiver Vernunftansprüche sichtbar wird. Wenigstens indirekt wird dem auch in Kants ausdrücklicher Unterscheidung der Philosophie als „Weisheitsforschung“ („Weisheitslehre“) von der „Weisheit“ Rechnung getragen: Letztere ist „für den Menschen nichts anderes als das innere Prinzip des Willens der Befolgung moralischer Gesetze …, welcherlei Art auch der Gegenstand desselben sein mag“ (III 411; 410; 415), das als solches eben den „eigentlichen Weisen“ charakterisiert.582 Bleibt die „Wissenschaft“ zwar notwendig auf die „letzten Zwecke der menschlichen Vernunft“ bezogen, deren Entfaltung als die eigentliche Aufgabe der Philosophie als „Weisheitslehre“ anzusehen ist, so ist es hingegen das sich „durch die Tat“ ursprünglich verwirklichende und bewährende – reflexiv uneinholbare – „Praktische“, das allen bloßen Reflexionsstandpunkt aufhebt, d. h. „proflexiv“, in der Bewährung des Lebens selbst, Zeugnis ablegt.583 Erneut tritt so das Verhältnis zwischen dem „Standpunkt des bewussten Lebens“ selbst und dem darauf reflektierenden „Weltbegriff der Philosophie“ in den Vordergrund, das bei Kant auch in seinem schon wiederholt benannten Perspektivenwechsel sichtbar wird. So bestätigt sich in diesem Zusammenhang: Es sind, seiner „metaphysischen Naturanlage“ gemäß, die im Existenz-Vollzug des „vernünftigen Weltwesens“ selbst verankerten Fragen, an denen ihm notwendigerweise gelegen sein muss und die im „Weltbegriff der Philosophie“ sodann ihre reflexive systematische Entfaltung gefunden haben. Letztere ist in der vernunft-orientierten Lebensführung jenes „Rechtschaffenen“ aufgehoben und „realisiert“ sich in jenem (von Kant so genannten) „eigentlichen Weisen“ im „Standpunkt des (reflektierten) Lebens“ – ein in dieser Lebensführung selbst „sich erklärender Standpunkt“ gewissermaßen, der sich in jenen assertorischen Sätzen „Ich will, dass ein Gott sei …“ bzw. in jenem „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ (II 636) reflexiv zum Ausdruck bringt. 582 Hier bleibt daran zu erinnern, dass Kant, im Sinne eines „zweckmäßigen Vernunftgebrauchs“, die menschliche Weisheit genauer besehen aber auch „ex negativo“ bestimmt: „Weisheit, d. h. praktische Vernunft in der Angemessenheit ihrer dem Endzweck aller Dinge, dem höchsten Gut, völlig entsprechenden Maßregeln, wohnt allein bei Gott; und ihrer Idee nur nicht sichtbarlich entgegen zu handeln, ist das, was man etwa menschliche Weisheit nennen könnte“ (VI 185). 583 Es ist zweifellos ein kantisches „Weisheits“-Motiv, wenn es in Fichtes „Bestimmung des Menschen“ heißt: „Um nur alles in Einem zu sagen: nur durch die gründliche Verbesserung meines Willens geht ein neues Licht über mein Dasein, und meine Bestimmung mir auf; ohne sie ist, so viel ich auch nachdenken, und mit so vorzüglichen Geistesgaben ich auch ausgestattet sein mag, eitel Finsternis in mir, und um mich. Nur die Verbesserung des Herzens führt zur wahren [!] Weisheit. Nun so ströme denn unaufhaltsam mein ganzes Leben auf diesen Einen Zweck hin!“ (Fichte II, 294).
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Jene frühe teleologische Perspektive, wonach die „letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet“ sei (II 674), darf so wohl auch als Ausdruck der kantischen Einsicht aufgenommen werden – die derart in der Tat einen besonderen Aspekt der Selbstbegrenzung philosophischer Ansprüche markiert –, dass auch der kritische Aufweis des „Primats der praktischen Vernunft in Verbindung mit der spekulativen“ eben doch eine Philosophie des „Primats der praktischen Vernunft“ bleibt und auch als solche somit von dem „Primat des Praktischen“ selbst noch einmal unterschieden ist. Während also diese „Philosophie des Primats der praktischen Vernunft“ eine Selbstbegrenzung in ihrem theoretischen Gebrauch anzeigt (und in diesem Sinne eben den Fortgang von dem beanspruchten „theoretisch-dogmatischen“ zum „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ markiert), relativiert und begrenzt sich eine „Philosophie des Praktischen“ darin gegenüber der moralisch-„existenziellen Bewährung“, die ihren „Primat“ und ihre Ansprüche freilich allein durch die reflexiv uneinholbare „Tat“ erweist und solcherart deren Ansprüche erst „bewährend“ bewahrheitet, d. h. die „Wahrheit tut“:584 Auch eine den Existenzvollzug „bewussten Lebens“ voraussetzende und auf diesen reflektierende „Philosophie des Praktischen“ kann eben nicht an die Stelle der Wirklichkeit der moralischen Praxis treten, d. h. diese „ersetzen“; alle nach-denkende „Philosophie des Primats des Praktischen“ bleibt nicht nur darauf rückbezogen, sondern hebt sich selbst darin zuletzt – als „Weisheit“ – „praktisch“ auf. Auch dies verweist mithin auf ein wirklichkeitserschließendes „Mehr“ gegenüber aller nachträglichen Reflexion. Denn, so Kant, eben 584 Hier wäre ein wohl besonders naheliegender Anknüpfungspunkt dafür, diese Gedankenfigur Kants, gemeinsam mit seiner Bestimmung der „fides“ als „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ (V 603), mit jenem „großen Wort“ „Vertrauen“ zu verknüpfen, das nach F. Rosenzweig „jeden Augenblick zur Wahrheit wahrlich zu sagen“ wagt (so Rosenzweig am Schluss seines „Stern(s) der Erlösung“); dies umso mehr, als Rosenzweigs Bemerkung über den Schluss des Buches wohl auch Bezüge zu Kants Bemerkung über den „Begriff [!] der Freiheit“ als „Schlussstein“ nahelegt. Die beiden maßgeblichen Passagen Kants und Rosenzweigs seien hier zum Vergleich der darin zugrunde liegenden „Logik“ noch einmal nebeneinander gestellt „Der Begriff der Freiheit, sofern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus, und alle andere Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche, als bloße Ideen, in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an, und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, dass Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbaret sich durchs moralische Gesetz“ (IV 107 f ). Analog zu diesem Begriff der Freiheit als „Schlussstein“, der zugleich, weil „Freiheit wirklich ist“, immer auch der reflexiv uneinholbare „Anfang“ ist, darf vielleicht Rosenzweigs Schlussabschnitt über das „Tor“ verstanden werden – jenes „Tor, das aus dem geheimnisvoll-wunderbaren Leuchten des göttlichen Heiligtums, darin kein Mensch leben bleiben kann, herausführt. Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben“ (Rosenzweig 1988, 472); und wieder mit Blick auf Kants „Schlussstein der Freiheit“: „Hier schließt das Buch, denn was nun noch kommt, ist schon jenseits des Buchs, ‚Tor‘ aus ihm heraus ins Nichtmehrbuch … Nichtmehrbuch ist auch das Innewerden, dass dieser Schritt des Buchs an die Grenze nur gesühnt werden kann durch – Aufhören des Buches. Ein Aufhören, das zugleich ein Anfang ist und eine Mitte: Hineintreten mitten in den Alltag des Lebens … Das Buch ist kein erreichtes Ziel, auch kein vorläufiges. Es muß selber verantwortet werden … Diese Verantwortung geschieht am Alltag des Lebens. Nur um ihn als Alltag zu erkennen und zu leben, musste der Lebenstag des All durchmessen werden“ (Rosenzweig 1988, 209 f ) – weil eben, wie man versucht ist, mit Kant zu ergänzen, die Weisheitslehre als Überschritt zum Endzweck der Metaphysik nicht mit der Weisheit selbst zu verwechseln ist (vgl. AA XX, 273).
360 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre solche Selbstbegrenzung bzw. Unterscheidung bleibt nicht nur selbst noch einmal in philosophischer Reflexion zu thematisieren, sondern sie ist ihm zufolge „aufgehoben“ im Tun dieses „Weisen“ selbst. Eine (schon angeführte) sehr späte denkwürdige Notiz Kants an entlegener Stelle macht dies wohl besonders deutlich: „Aber Philosophie in buchstäblicher Bedeutung des Worts, als Weisheitslehre, hat einen unbedingten Wert; denn sie ist die Lehre vom Endzweck der menschlichen Vernunft, welcher nur ein einziger sein kann, dem alle andere Zwecke nachstehen oder untergeordnet werden müssen, und der vollendete [!] praktische Philosoph (ein Ideal) ist der, welcher diese Forderung an ihm selbst [!] erfüllt“,585 das heißt: jene „Weisheit“ „durch die Tat“ erst vollbringt und bewährt. Darauf zielt auch Kants Hinweis auf die gebotene Hochachtung vor jenem „niedrigen, bürgerlich-gemeinen Mann“, vor dem „sich mein Geist“ bückt, sofern man an ihm „eine Rechtschaffenheit des Charakters in einem gewissen Maße, als ich mir von mir selbst nicht bewußt bin, wahrnehme, … ich mag wollen oder nicht, und den Kopf noch so hoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehen zu lassen“ (IV 197). Es besteht kein Zweifel, dass auch jene ebenfalls schon angezeigten teleologischen Perspektiven, wonach „Theologie … lediglich zur Religion, d. i. dem praktischen, namentlich moralischen Gebrauch der Vernunft in subjektiver Absicht nötig sei“ (V 616), und „Alles … zuletzt auf das Praktische hinaus“ laufe, zumal „in dieser Tendenz alles Theoretischen und aller Spekulation in Ansehung ihres Gebrauchs … der praktische Wert unserer Erkenntnis“ bestehe (III 518), im konkreten Vollzug einer am „praktischen Endzweck“ orientierten „moralischen Lebensgeschichte“ „in individuo“ aufgehoben sind und ebendies deren „teleologische“ Erfüllung bedeutet. Dass sich daraus „am Ende“ indes weitere Fragen des „vernünftigen, aber endlichen Weltwesens“ – aber auch unabweisliche Rückfragen an den Menschen selbst! – ergeben, wird im abschließenden VI. Teil zu verfolgen sein. Indirekt, obgleich anders akzentuiert, bestätigen diese Überlegungen auch Kants beiläufige Notiz, dass „praktische Vernunft … sich auch überhaupt klärer und richtiger durch das Organ des gemeinen als durch das des spekulativen Verstandesgebrauchs“ offenbart (III 509), das so jenen häufig und respektvoll angeführten „Rechtschaffenen“ in sittlicher Bewährung des „Eins tut not!“ des Alltags, im „Recht tun und von Herzen gut sein … einfältig mit seinem Gott wandeln“ lässt;586 ohnedies entspricht dies auch genau der von 585 AA VIII, 441 (: Kants Vorrede zu R. B. Jachmanns „Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie“). – In diesen sehr späten (ihm offenbar schon große Mühe bereitenden) Äußerungen Kants sind bemerkenswerterweise die programmatischen Sätze des den ganzen „Forscherdrang“ verspürenden – und doch durch „Rousseau zurecht gebrachten“ – frühen Kant noch deutlich wiederzuerkennen: „Wenn es irgend eine Wissenschaft gibt, deren der Mensch bedarf, so ist es die, so ihn lehret, die Stelle geziemend zu erfüllen, welche ihm in der Schöpfung angewiesen ist, und aus der er lernen kann, was man sein muss, muß um ein Mensch zu sein“ (AA XX, 45). – „Man könnte Weltwissenschaft und Weltweisheit unterscheiden; die erste ist Gelehrsamkeit, die zweite Kenntnis von der Bestimmung des Menschen nach Verstand und Wille. Metaphysik und Moral“ (Refl. 1652, AA XVI, 66). 586 „Einfältig wandeln mit deinem Gott – nichts weiter wird da gefordert als ein ganz gegenwärtiges Vertrauen. Aber Vertrauen ist ein großes Wort. Es ist der Same, daraus Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen, und die Frucht, die aus ihnen reift. Es ist das Allereinfachste und gerade darum das Schwerste“ (Rosenzweig GS II, 471). Natürlich weckt Rosenzweigs „Einfalt“-Motiv am Schluss seines „Stern(s) der
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Kant schon früh so genannten „negativen Religion“, bringt diese doch „alles auf den einfältigen Begriff eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels zurück […]. Nimmt die Satzungen weg und lässt nur die Vorschrift der Vernunft übrig und ist dem Einfältigsten eben so klar als dem Gelehrtesten.“587 Auch dies bekräftigt noch einmal in zugeschärfter Form jene kantische Unterscheidung, wonach das zwar „objektiv in der Vernunft allein vollständig vorgestellt(e)“ Ideal des Weisheitslehrers „subjektiv aber, für die Person, nur das Ziel seiner unaufhörlichen Bestrebung ist“ (IV 236), und Letzteres demzufolge von jenem als einer bloß nachträglichen Reflexions-Ebene abzuheben bleibt. Es ist durchaus jenes schlichte „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“ und das daraus gespeiste „einfältige Wandeln vor seinem Gott“, das bei Kant in freilich noch einmal „gebrochener“ Gestalt wiederkehrt, gewissermaßen als die schlichte „Weisheit“ jenes „Rechtschaffenen“: Lebe so – und sieh dies als die eigentliche Gottesverehrung an –, als ob du für das Ganze deiner moralischen Lebensgeschichte Rechenschaft gegenüber einem „Herzenskündiger“ ablegen und dann auch erkennen (und ebenso bejahen) müsstest, wie du erkannt bist – gleichsam „Ablegung der Rechnung der Menschen von ihrem Verhalten in ihrer ganzen Lebenszeit“ (VI 176)588: Eine Perspektive, die „in praktischer Absicht uns von der gesetzgebenden Vernunft selbst an die Hand gegeben“ ist (VI 181), der auch noch einmal die Kennzeichnung der „Erkenntnis unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ (IV 579; 628) entspricht und auch nur so diese Hoffnung als eine „vernünftige“ ausweist (vgl. dazu noch einmal: III 411 f ). Es bestätigt sich: Diesem „instar“ liegt demzufolge das gewissermaßen „existenz“-konstituierende „Als-ob“ notwendigerweise voraus, so zu leben und „zu handeln, als ob wir wüssten, dass diese Gegenstände [„Gott, Freiheit, Unsterblichkeit“] wirklich wären“ (III 636), von dem bezeichnenderweise in jenem „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ (III 636) die Rede ist. Kants Charakterisierung des „Begriff(s) der Religion überhaupt“ als ein „Prinzip der Beurteilung aller seiner Pflichten als göttlicher Erlösung“ (Rosenzweig 1988) Erinnerungen an Rousseaus „Bekenntnis“: „Ich diene Gott in der Einfalt meines Herzens. Ich will nur wissen, was mir auf meinem Weg vonnöten ist. […] Der wesentliche Gottesdienst ist der des Herzens“ (Rousseau 1963, 629), das bei Kant bekanntlich in vielerlei Bezügen (auch in seinem Verweis auf „Vernunft, Herz und Gewissen“) durchscheint – auch in dem Hinweis, „dass die Schulen nunmehr belehrt werden, sich keine höhere und ausgebreitetere Einsicht“ in dieser „allgemein menschliche(n) Angelegenheit“ anzumaßen. – Es hat den Anschein, als ob Rosenzweigs Erinnerung dieses berührende Wort des savoyischen Vikars mit Kants Kennzeichnung der „fides“ als „Vertrauen in die Verheißung des moralischen Gesetzes“ verknüpft. 587 Refl. 1524, AA XV, 898. 588 Ein Passus aus dem Zweiten Stück der „Religionsschrift“ bringt diese Motive in besonders konzentrierter Weise zum Ausdruck: „Da er [der Mensch] also von seiner wirklichen Gesinnung durch unmittelbares Bewusstsein gar keinen sichern und bestimmten Begriff bekommen, sondern ihn nur aus seinem wirklich geführten Lebenswandel abnehmen kann: so wird er für das Urteil des künftigen Richters (des aufwachenden Gewissens in ihm selbst, zugleich mit der herbeigerufenen empirischen Selbsterkenntnis) sich keinen andern Zustand zu seiner Überführung denken können, als dass ihm sein ganzes Leben dereinst werde vor Augen gestellt werden, nicht bloß ein Abschnitt desselben, vielleicht der letzte, und für ihn noch günstigste; hiermit aber würde er von selbst die Aussicht in ein noch weiter fortgesetztes Leben (ohne sich hier Grenzen zu setzen), wenn es noch länger gedauert hätte, verknüpfen. Hier kann er nun nicht die zuvor erkannte Gesinnung die Tat vertreten lassen, sondern umgekehrt, er soll aus der ihm vorgestellten Tat seine Gesinnung abnehmen“ (IV 732).
362 IV. Teil: Eine existenzialanthropologisch akzentuierte Postulatenlehre Gebote“ (IV 575) hat darin ihr notwendiges Fundament, wobei mit diesem „Prinzip der Beurteilung“ auch der „Deutungscharakter“ sehr klar angezeigt ist, der in diesen späten Texten Kants noch besonders deutlich zutage tritt. So mag auch noch einmal verständlich werden, weshalb Kant dabei die traditionelle Kennzeichnung der Ethik als „Weisheitslehre“ durchaus im Auge behält – und zwar neben seiner Kennzeichnung der Ethik als „Sitten“- bzw. „Tugendlehre“, die über die „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (IV 16) hinaus auf ein „System der Zwecke“ (IV 510) führt. In ausdrücklichem Rekurs auf die „Bedeutung, wie die Alten das Wort verstanden“, nämlich als die „Lehre vom höchsten Gut“ (IV 236), orientiert sie sich, über die „sittlichen Zwecke“ im engeren Sinne hinaus, an der Weisheit als der „Zusammenstimmung des Willens zum Endzweck (dem höchsten Gut)“ (III 410), die unverkennbar auch für seine Bestimmung der Aufgabe des „Weltbegriffs der Philosophie“ maßgebend wurde. In der näheren Differenzierung der Idee eines „Systems der Zwecke“ eröffnet schließlich die der „conditio humana“ adäquate Orientierung an einer „Rangordnung der Zwecke“ (der „Zwecke der reinen praktischen Vernunft“) in der Frage nach dem „Endzweck der Schöpfung“ selbst589 noch einen besonderen Ausblick, der vor dem Hintergrund seiner Bestimmung der Idee der Weisheit als der „Idee von der notwendigen Einheit aller möglichen Zwecke“ (II 332) zu verstehen ist und so „Aussichten auf die letzten Zwecke, in welchen alle Vernunftbemühungen sich endlich vereinigen müssen“ (II 441), notwendig macht. Dabei erweist es sich in nochmaligem Blick auf den in der „Geschichte der reinen Vernunft“ zu entfaltenden „Weltbegriff der Philosophie“ sowie auf die darin zu leistende Differenzierung der „wesentlichen“ und „höchsten Zwecke“ (und zuletzt des „Endzwecks“) als bedeutsam, dass Kant sich auch diesbezüglich offenbar von der Idee einer „fortgehenden Kultur“ des „menschlichen Vernunftvermögens“ (V 586) leiten ließ, in die auch jene „Geschichte der reinen Vernunft“ selbst eingebunden ist und darin auch ihre unhintergehbare Voraussetzung hat. War von jener „Vollendung des kritischen Geschäfts der reinen Vernunft“ (II 583) der „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ als „Endzweck der Metaphysik“ noch unterschieden, so sieht sich ein solcher „Überschritt“ indes auf ganz unterschiedliche Grenzreflexionen und auf an die „Vernunft anstoßende Fragen“ geführt, die wiederum eine kritische Selbstreflexion ermöglichen und diese gleichermaßen notwendig machen. Dies wird in den „religionsphilosophischen Grenzgängen“ des V. Teils noch ausführlicher zur Sprache kommen. Abschließend ist daran zu erinnern: Im Blick auf seine Grundlegung der Moralphilosophie (und die Frage „Was soll ich tun?“) hatte Kant geltend gemacht, dass damit ja keinesfalls ein „neues Prinzip der Moralität, sondern nur eine neue Formel“ aufgestellt werden sollte, zumal es doch völlig widersinnig sei, die Sittlichkeit „gleichsam zuerst erfinden“ zu wollen (IV 113, Anm.). Damit war zugleich die Notwendigkeit der zu unterscheidenden Ebenen des „realen“ moralischen Existenzvollzugs und der nach589 S. dazu bes. die Studie von Winter 2000b. – Zum maßgeblichen Einfluss des Theologen Spalding (und seiner Schrift „Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen“ aus dem Jahr 1748) auf Kant – insbesondere was die leitende Frage nach der „Bestimmung des Menschen“ betrifft – vgl. Brandt 2007a, bes. Kap. 2.
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träglich darauf gerichteten Reflexion auf den Verbindlichkeits- und Geltungsgrund der Moralität angezeigt. In ähnlicher – ganz unspektakulärer – Weise hat Kant dies offenbar auch bezüglich der Gottesthematik beansprucht. Erst recht ist darin freilich auch eine entschiedene Absage an die eskapistischen Sonderansprüche und -begabungen „besonders Begünstigter“ und anderer „mystagogischer Kraftmänner“ ausgesprochen; aus tiefer „egalitärer“ Verbundenheit für den „gewöhnlichen“ Menschen auf eine verbindliche Lebensorientierung hinzuweisen, die im Leben des den „Forderungen des Tages“ genügenden „Rechtschaffenen“ ohnedies immer schon „durch die Tat“ verwirklicht ist – ebendies sah der durch Rousseau „zurecht gebrachte“ Kant schon früh als besondere Aufgabe an. Kants Bekenntnis: „Ich bin ein enthusiastischer Verteidiger des gesunden Menschenverstandes“,590 entspricht dem recht genau. Der schon in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ ausgesprochene kritische Hinweis darauf, „dass die Schulen nunmehr belehrt werden, sich keine höhere und ausgebreitere Einsicht in einem Punkte anzumaßen, der die allgemeine menschliche Angelegenheit betrifft, als diejenige ist, zu der die große (für uns achtungswürdigste) Menge auch ebenso leicht gelangen kann“ (II 34 f ), impliziert einer solchen Lesart zufolge die kantische Forderung einer Übersetzbarkeit des entfalteten „Endzwecks der Metaphysik“ in jene existenzialanthropologisch orientierte Perspektive „bewussten Lebens“, die sich dabei ohnehin lediglich „auf allgemein fassliche und in moralischer Hinsicht hinreichende Beweisgründe“ (II 35) stützt.591 Ebenso hat sich erwiesen, dass solche „Weisheit“, das Verhältnis von (bedingtem) „theoretischen“ und (unbedingtem) „praktischen Vernunftbedürfnis“ gewissermaßen auf einer neuen Ebene akzentuierend, auch eine Inversion dieses „Endzwecks der Metaphysik“ enthält: Entspricht es doch gerade der „praktischen Weisheit“ jenes „Rechtschaffenen“, von der „Wissenschaft von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten“ (III 590), nunmehr selbst noch einmal gemäß den für die Forderungen des Tages sensiblen moralischen Vernunftansprüchen durch jenes „Tor“ „ins Leben“ fortzuschreiten (s. o. IV., Anm. 584). Es ist diese existenzielle Inversion, die erneut jenen „Anschein“ vergegenwärtigt, wonach das „Ideal der Vernunft“ lediglich am entferntesten „von der objektiven Realität entfernt zu sein“ scheint (II 512 f ), während diese „Idee, die in unserer Vernunft liegt“, „im praktischen Glauben an den Sohn Gottes“ ihre „Realität in praktischer Beziehung vollständig in sich selbst“ hat (IV 714 f ). Nicht zuletzt davon wird in den nachfolgenden „religionsphilosophischen Grenzgängen“ noch ausführlich die Rede sein.
590 AA XXIII, 59. – Ähnlich wie bei jener Frage „Was soll ich tun?“ war es wohl auch hier die Reflexion auf den Anspruch und die Legitimität der auf jenen „Rechtschaffenen“ bezogenen (bezeichnenderweise selbst in „Ich“-Form formulierten) Frage „Was darf ich hoffen?“. Es bestätigt sich erneut: Aus einem „bewusst geführten“ und eben darin orientierungsbedürftigem Leben steigen diese berühmten kantischen Fragen auf; an sie bleiben die in der Reflexionsgestalt der Vernunftkritik explizierten entsprechenden Themen aber ebenso „rückgebunden“. 591 Insofern kommt die in diesem IV. Teil maßgebende Perspektive auch der von Kant noch in dem späten Jachmann-Prospekt angezeigten „Weisheitslehre“ sehr nahe, die davon ausgeht, dass „Vernunft … ihr eigener letzter Zweck“ ist und auf den „Endzweck der menschlichen Vernunft“ abzielt („das, wonach … zu trachten das einzige Notwendige ist, was er sich zum Ziele machen soll“ (zit. n. Henrich 1966, 42).
V. Teil: Religionsphilosophische Grenzgänge im Ausgang von Kant: „Innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und an sie „anstoßende“ unabweisliche Fragen
Die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ sich entfaltende und in jenem „dritten Stadium“ der Metaphysik zuletzt auch selbstreflexiv werdende „teleologia rationis humanae“ impliziert in dem angezeigten Sinne nicht nur das Bewusstsein darüber, dass der Zeitfolge zugleich eine notwendige Gedankenfolge entspricht. Mit einer solchen Selbstreflexion unzertrennlich verbunden ist „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ebenso ein zunehmend differenziertes, mehrdimensionales Grenzbewusstsein, das nicht zuletzt in diesem religionsphilosophischen Kontext in verschiedene Richtungen „Grenzgänge“ anzeigt. Dabei bleibt Kants kritische Einsicht in besonderer Weise zu akzentuieren, wonach „eine Grenze denken“ indes keineswegs schon dies bedeute, „über sie hinaus zu sein“, zumal eine kritische Denkungsart doch vornehmlich darauf abzielt, sich „auf der Grenze alles erlaubten Vernunftgebrauchs“ zu halten (III 232) – eine Einsicht, die freilich auch auf praktische Vernunftansprüche auszudehnen ist (wie es Kants Verweis auf die „Geheimnisse der Freiheit“ ebenfalls nahelegt). Im Einklang mit dieser berühmten kantischen Losung, sich „auf der Grenze zu halten“, werden so, über jenen „praktischdogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ noch hinaus, „an den Grenzen der Vernunft“ entscheidende Problemkonstellationen sichtbar, in denen der kantische Verweis auf die „auf dem Kritizism der praktischen Vernunft gegründete wahre Religionslehre“ noch eine besondere Zuschärfung erfährt. In dieser Perspektive sind „Selbsterhaltung“ und „Selbstbegrenzung der Vernunft“ in eigentümlicher Weise vereint. Allein ein solches – im Sinne kritischer Grenzgängerschaft aufgetragenes – „Sich-aufder-Grenze-Halten“ könne davor bewahren, dass das darin grenzbegrifflich Gemeinte als ein bloß Vermeintliches unversehens dem Vorwurf einer unkritischen Erschleichung ausgesetzt wäre. Die Forderung, sich in diesem Sinne „auf der Grenze“ zu halten, gehört insofern selbst noch zu einer umfassenden Vernunftkritik in deren zweifacher Gestalt einer Legitimation und Limitation. Es bleibt dabei: Keineswegs darf sich die Philosophie etwa auf „fühlbare Geheimnisse“ berufen (III 384); gleichwohl sah Kant das Denken im Ausgang von der (im „Bewusstsein des moralischen Gesetzes“ offenbar gewordenen) Wirklichkeit der Freiheit – und zwar gleichermaßen hinsichtlich ihres Ursprungs, ihrer Grenzen und der moralischen Unverfügbarkeit des „höchsten Gutes“ – unabweislich auf „viel zu denken“ gebende „Geheimnisse“ geführt. Vor allem davon soll in diesem fünften Teil genauer die Rede sein.
1. Einleitung: Perspektiven einer „Selbstbegrenzung der Vernunft“, die an den „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ geknüpft sind
Vor dem Hintergrund dieser mit der „Geschichte der reinen Vernunft“ eng verknüpften Perspektiven bleibt vorweg noch eine andere, systematisch sehr bedeutsame – und schon auf das nächste Kapitel vorausweisende – Begründungsfigur sichtbar zu machen, die überdies mit dem Thema einer „Selbstbegrenzung der Vernunft“ eng zusammenhängt. Denn ungeachtet dessen, dass Kant das durch die Ideen des „Übersinnlichen“ aufgespannte Gefüge der Vernunftreligion als „reine Vernunftsache“ ausweisen wollte (VI 338), bleibt auch die Ausbildung des Programms einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ auf die faktische Entfaltung der positiven Religionen – als dessen im Sinne des Entdeckungszusammenhanges zu verstehende realgeschichtliche Bedingungen – verwiesen. Näherhin ist die besondere Hinsicht maßgebend, dass jene praktischen Vernunftideen (und das aus ihnen errichtete praktisch-teleologische „Gefüge“) indes erst „bei Gelegenheit der Erfahrung“ „ursprünglich erworben“ wurden (s. dazu u. V., 1.1.) und erst recht das darauf reflektierende Begründungsprogramm einer „Religion innerhalb der bloßen Vernunft“ ein spätes Resultat der geschichtlich gereinigten Vernunft ist. Damit rückt die schon angeführte kantische Bezugnahme auf die „früheste Aufkeimung des menschlichen Vernunftvermögens“ und die „fortgehende Kultur desselben“ (V 586) noch einmal in ein besonderes Licht und akzentuiert damit auch in aufschlussreicher Weise jene Unterscheidung zwischen dem „Vernunftgebrauch in abstracto“ und „in concreto“; sie macht damit aber auch noch einmal deutlich, dass (auch) nach Kant die Religionen der „Geschichte der Vernunft“ zugehören. Auch diesbezüglich lohnt sich ein nochmaliger Blick auf elementare Begründungsfiguren der kantischen Vernunftkritik, zumal Kant diese, wie auch seine Formulierungen bisweilen verraten, nunmehr in modifizierter Weise zur Geltung bringt. Es wird sich im folgenden Abschnitt zeigen: Gemäß dieser in kritischer Absicht und demgemäß modifiziert rezipierten Lehre von der „ursprünglichen Erwerbung“ wäre mithin auch von diesen „Vernunftideen“ zu sagen, dass – ungeachtet des davon keinesfalls berührten Geltungsanspruches – im Sinne des Entdeckungs- und Realisierungszusammenhanges (in diesem Falle geschichtliche) „Erfahrung dazu kommen muss“, „um diese selbst erst kennen zu lernen“; dies müsste doch in besonderer Weise auf jenes „gefügte Gefüge“ der Vernunftideen im Sinne der Ausbildung jenes Gerüsts der „natürlichen Religion“ zutreffen und dergestalt das Thema „Genesis“ („Faktizität“) und „Geltung“ auch in diesem speziellen religionsphilosophischen Kontext ins Blickfeld rücken. Kants Anmerkung zur Unterscheidung zwischen „Vernunfterkenntnissen“ und „historischen Erkenntnissen“ (d. i. „ex principiis“ und „ex datis“) erlaubt und fordert ebenso eine – geradezu programmatische – religionsphilosophische Akzentuierung: „Eine Er-
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kenntnis kann aber aus der Vernunft entstanden und demohngeachtet historisch sein“ (III 444). Denn nicht zuletzt in religionsphilosophischem Kontext bleibt in programmatischer Hinsicht zu erwägen, dass zwar „eine Erkenntnis historisch entstanden“ und dennoch „rational“, d. h. „vernünftig“, sein kann; dies betrifft eben lediglich den „subjektiven Ursprung“, d. h. die „Art, wie eine Erkenntnis von den Menschen kann erworben werden. Aus diesem letztern Gesichtspunkte betrachtet sind die Erkenntnisse entweder rational oder historisch, sie mögen an sich entstanden sein, wie sie wollen. Es kann also objektiv etwas ein Vernunfterkenntnis sein, was subjektiv doch nur historisch ist“ (III 444 f ).1 Die in dieser Gedankenfigur angezeigten Unterscheidungen finden in Kants „Religionsschrift“ eine unübersehbare Anwendung.
1.1. Die „ursprüngliche Erwerbung“ der „Vernunftideen“ und die Ausbildung der „Geschichte der reinen Vernunft“ – innerhalb der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ Wie schon im Einleitungskapitel (s. o. I., 1.1.) angedeutet wurde, hat Kant die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und ihren geschichtlichen Fortschritt von der „Geschichte der reinen Vernunft“ unterschieden;2 Letztere ist als die Geschichte der „aus freien Nachforschungen über diesen Gegenstand“3 gewonnenen Befreiung aus diesen entsprechenden konkret-realen Verhältnissen sowie gleichermaßen als deren Radikalisierung zu verstehen4 und setzt so die Unterscheidung zwischen dem „Vernunftgebrauch in concre1
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In dieser Unterscheidung der Erkenntnis als „rational oder historisch“, die jedoch einen schiefen Gegensatz beider vermeiden lässt, ist ebenso die – das Verhältnis von „Religion und Philosophie“ betreffende – Intention Kants erkennbar (die ebenso in jenem Hinweis auf die „durch größere Bearbeitung der sittlichen Ideen“ entgegentritt): Auch wenn in diesem Sinne die immer schon in die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ „eingebettete“ Philosophie durch die Religion einen geschichtlichen „Anstoß“ erfährt, so bedeutet dies, ihrer „Geltung“ nach, dennoch keineswegs eine Relativierung der „rationalen“ Maßstäbe, die der „autonomen Vernunft“ selbst innewohnen. Analog dazu wären, mit Bezugnahme auf die „Geschichte der menschlichen Vernunft“, die historischen Religionen und die sich läuternden „sittlichen Ideen“ für diese Entwicklung und den allmählichen Fortschritt dieser „moralischen Anlage in uns“ im Sinne einer „Genealogie der Vernunft“ geradezu unentbehrlich. Kants Hinweis auf die „apriori in uns liegende Gottesidee“ (vgl. Kritik der Urteilskraft §§ 86 ff ) ist wohl in solchem Sinne aufzunehmen und mit seinem Hinweis zu verbinden, dass auf dem Weg dieser „ursprünglichen Erwerbung“ in diesen Ideen die „Vernunft gewissermaßen sich selbst schafft“ (s. o. III., 2.1.). Eine Notiz Kants vereint diese unterschiedlichen Aspekte in eine gemeinsame Frage der „Denker unter den Menschen“: „Was hat die Denker unter den Menschen vermocht, über den Ursprung, das Ziel und das Ende der Dinge in der Welt zu vernünfteln. War es das Zweckmäßige in der Welt oder nur die Kette der Ursachen und Wirkungen oder war es der Zweck der Menschheit selbst, wovon sie anfingen?“ (AA XX, 341). Bezüglich der Frage, „was und warum man an der Metaphysik für ein und so großes Interesse bisher genommen hat“, war Kant noch im Kontext der späten „Preisschrift“ der Überzeugung: „Man wird finden dass es nicht die Analysis der Begriffe und Urteile, die sich auf Gegenstände der Sinne anwenden lassen, sondern das Übersinnliche sei, vornehmlich so fern darauf praktische Ideen gegründet sind“ (zit. n. Mohr 2004 II, 288). Es ist der „moralische Lauf der Dinge in der Welt“ (VI 176), den Kant näherhin als Ursprung jener Fragen ansieht. Die naheliegende und interessante Frage, ob und wieweit sich in diesen kantischen Motiven selbst Anknüpfungspunkte für Schellings „Philosophie der Mythologie und der Offenbarung“ und für eine ent-
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to“ und demjenigen „in abstracto“ insofern voraus, als diese „Geschichte der reinen Vernunft“ (und der darin entwickelte „Vernunftbegriff in abstracto“) den „Vernunftgebrauch in concreto“ zur uneinholbaren Voraussetzung hat.5 Bezüglich dieser kantischen Unterscheidung liegt die Anknüpfung an den seine „Erfahrungskritik“ eröffnenden „Unterschied der reinen und empirischen Erkenntnis“ besonders nahe, wonach zwar „alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so … darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung“ entspringe (II 45) – ebenso das damit verbundene Motiv der kantischen Vernunftkritik als „Scheidungsverfahren“. Die Analogie zur Legitimation der „ursprünglichen Erwerbung der apriorischen Verstandeskategorien“ ist nicht zu übersehen, die nun eben bezüglich der Vernunftbegriffe der „Theologie und Moral“ in dieser Konzeption zutage tritt (auch wenn die unterschiedliche „Form der Erwerbung“ genau zu beachten bleibt).6 Entsprechend der für die „Analyse der Verstandesbegriffe“ bestimmenden kantischen Gedankenfigur, wonach die in „ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstand“ vorbereiteten „reinen Begriffe“ zwar erst „bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt“ werden7 und so ein langwieriges Scheideverfahren der Abstraktion durchlaufen, legt dies also für das Gebiet der Vernunftideen eine entsprechende Begründungsfigur nahe. Die Entfaltung der geschichtlich „fortgehenden Kultur des menschlichen Vernunftvermögens“ erzeugt („generiert“) also keineswegs einfachhin diese in jenem Gefüge vereinten „Vernunftprinzipien“, gleichwohl „realisieren“ sich diese in solchem „Fortgang der Zeiten und des Menschengeschlechts“ (Herder) gemäß einer „ursprünglichen Erwerbung“8 und treten so letztendlich, eben „nachdem die philosophischen Ideen mehr bestimmt und gerei-
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sprechende religionsgeschichtliche Explikation finden, ist hier nicht zu verfolgen. Als ein besonderes Beispiel für dieses Verhältnis von „Vernunftgebrauch in concreto“ und „abstracto“ darf vermutlich auch gelten, dass Kants Bestimmung des „Volkes Gottes“ (als „ethisches gemeines Wesen“) als eine „Übersetzung“ der alttestamentlichen „Volk Gottes“-Idee und dessen „Erwählung“ bzw. der „sichtbaren“/„unsichtbaren Kirche“ fungiert. So bleibt bezüglich der hier zu bedenkenden „Form der Erwerbung“ und ihrer spezifischen „Rechtmäßigkeit“ vor allem darauf zu achten: Ihr eigentümlicher Charakter zeigt sich schon insofern, als sie jedenfalls keine bloß „willkürliche“, material-äußerliche, weder „occupatorisch“ noch durch „Vertrag“ angeeignete ist, sondern eine solche, worin Vernunft in ihrer immanenten Entfaltung bei Gelegenheit der Erfahrung sich selbst „erwirbt“, d. h. sich darin selbst erst „konstituiert“. Auch im Blick auf Kants eigene Äußerungen wird es sich als plausibel erweisen, dass er die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ sich vollziehende Entwicklung der „moralischen Prinzipien“ in ihrer „Reinheit“ in einer gewissen Analogie zu seinem schwierigen Lehrstück der „ursprünglichen Erwerbung“ der Kategorien versteht (das bekanntlich auf Leibniz [vgl. das Vorwort zu den „Neue(n) Abhandlungen über den menschlichen Verstand“] und über ihn auf Platon zurück weist): „Wir werden also die reinen Begriffe bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstande verfolgen, in denen sie vorbereitet liegen, bis sie endlich bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt“ werden und zuletzt, nach erfolgreichem analytischem Scheidungsverfahren, „von den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen [als ihrem unentbehrlichen ‚Vehikel‘] befreit“ sind (II 108). Die in dieser Analogisierung notwendig zu berücksichtigende „Ungleichartigkeit“ und Abgrenzung zu Kants rechtsphilosophischen Erwägungen über die „Art, etwas Äußeres zu erwerben“ (vgl. § 10), ist offenkundig. „Allgemeines Prinzip der äußeren Erwerbung“: „Die ursprüngliche Erwerbung eines äußeren Gegenstandes der Willkür heißt Bemächtigung (occupatio)“ (IV 368 f ). Dieses Motiv der „ursprünglichen Erwerbung“ (in seiner Leibniz’schen „Herkunft“) findet sich freilich schon in Kants früher Schrift „De mundi sensibilis atque in intelligibilis forma et principiis“ (aus dem Jahr 1770).
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nigt wurden“,9 in diesem geläuterten Zusammenhang als „Vernunftgebrauch in abstracto“ zutage – spätes Resultat der vollzogenen bedeutsamen „Scheidung des Empirischen vom Rationalen“ (IV 301): Zwar nicht aus der Erfahrung gewonnen, gleichwohl „bei Gelegenheit“ derselben auf eine Weise ausgebildet, die solche „Erwerbung“ eines „Äußeren“ nicht nur als „ursprüngliche“ behauptet,10 sondern gleichermaßen erst deren „Rechtsgrund“ ausweisen muss und dieserart die Fragen „quid facti?“ und „quid juris?“ verbindet. Daraus resultiert die Aufgabe, auch den über diesen Weg der Vernunftkritik eröffneten „praktisch-dogmatischen Überstieg zum Übersinnlichen“ aus der geschichtlichen Entwicklung des „Vernunftbegriffs in concreto“, d. h. in je geschichtlich konkreter Bestimmtheit des Zusammenhanges jener Ideen nach-denkend,11 – gewissermaßen in realphilosophischer Konkretion – begreiflich zu machen. Auch sie müssen deshalb als „ursprünglich [!] erworbene“ gelten (die sich als solche nicht bloß einer willkürlichen „Bemächtigung“ verdanken) und in derlei Herkünftigkeit ent-deckt und expliziert werden,12 sofern eben die verschiedenen historischen Gestalten der Religionen „in der Bearbeitung der Menschen zu einem ethischen gemeinen Wesen, natürlicherweise [d. h. geschichtlich-faktisch], vor dem reinen Religionsglauben“ vorhergehen (IV 767).13 Und 9
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Kant AA XXVIII, 1196. Wohl eine besondere gemeinsame Perspektive auf Herder und Kant wäre es – im Sinne der „ursprünglichen Erwerbung“ –, den „Fortgang der Zeiten und des Menschengeschlechts“ auch als „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und als „Geschichte der reinen Vernunft“ und sodann als Geschichte des Fortschritts im Lichte der „Humanitäts-Idee“ zu buchstabieren. Die Frage nach der Möglichkeit und Rechtmäßigkeit einer Übernahme dieser „ursprünglichen Erwerbung“ (bzw. der daran geknüpften „Analogisierung“) in diesen Problemkontext wäre eigens und ausführlich zu prüfen; nicht zuletzt dies, was diesbezüglich Kants Bestimmung der „ursprünglichen Erwerbung“ als derjenigen besagt, „welche nicht von dem Seinen eines anderen abgeleitet ist“ (IV 368). Interesse verdient dabei freilich auch Kants Verweis auf die „Erwerbung“ als „Beerbung“, die sich ja nicht allein auf diejenige „eines äußeren Gegenstandes der Willkür“ beschränken muss. Ungeachtet der genau zu berücksichtigenden „Ungleichartigkeiten“ und Begründungsdifferenzen ist die hier herangezogene Lehre von der „ursprünglichen Erwerbung“ auch in sachlicher Hinsicht doch ein Stück weit fruchtbar zu machen. S. dazu die Überlegungen zu einem solchen – aus kantischen Problemvorgaben inspirierten – erweiterten Erfahrungsbegriff beim späten Schelling, vor allem in der sechsten Vorlesung seiner „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung“ (XIII, 94 ff ). Auch hier bestätigt sich: Kants gelegentlicher Hinweis auf die „Unbegreiflichkeit“ der Wirklichkeit (vgl. III 223, Anm.) wäre mit Schelling auch in dieser geschichtlich-positiven Akzentuierung aufzunehmen. In diesem Sinne bezeichnete Kant auch in der „Religionsschrift“ die „Idee eines moralischen Weltherrschers“ als „eine Aufgabe für unsere praktische Vernunft“ (IV 806), der darin im „Vernunftbegriff in concreto“ eine Entsprechung hat, als dieser Glaube an ihn „sich aller menschlichen Vernunft von selbst“ darbiete und daher „in der Religion der meisten gesitteten Völker angetroffen“ werde“ (IV 807), d. h. „so viele alte Völker in dieser Idee [der „dreifachen Qualität des moralischen Oberhaupts des menschlichen Geschlechts“] überein kamen“, weil sie „in der allgemeinen Menschenvernunft liegt“ (IV 807 Anm.). In der „Religionsschrift“ setzte Kant nun auch jene drei Prädikate, „die alles enthalten, wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird“ („heiliger Gesetzgeber (und Schöpfer)“, „gütiger Regierer (und Erhalter)“ und „der gerechte Richter“ (IV 263 Anm.), ausdrücklich mit geschichtlichen Religionsgestalten („Zoroaster“, „Hinduism“, der „ägyptischen“ und „gotischen Religion“) so in Beziehung, dass darin diese „dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts“ sichtbar werde; bezeichnenderweise fügt er noch hinzu: „Selbst [!] die Juden scheinen in den letzten Zeiten ihrer hierarchischen Verfassung diesen Ideen nachgegangen zu sein“ (IV 807 f ); nach Kant partizipieren doch auch sie, wenigstens „irgendwie“ und auch erst spät, an der „allgemeinen Menschenvernunft“. Einen sehr aufschlussreichen (obgleich nur beiläufigen) diesbezüglichen Hinweis enthält schon ein Vorlesungs-Fragment über „Rationaltheologie“, das diese Frage bezüglich des Gottesbegriffs in denkwürdi-
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auch hier ist Kants Unterscheidung des bloßen „quid facti?“ von dem „quid juris?“ im Sinne einer unverzichtbaren Schutzwehr gegenüber dem Skeptizismus genau zu beachten: Denn der über die bloße Faktizität dieser „Beerbung“ bzw. „Aneignung“ noch hinausweisende Legitimationsgrund bleibt – nicht zuletzt gegenüber möglichen Ein- und Ansprüchen der Gestalten des „Kirchenglaubens“ (als ein „zu einer gewissen Zeit … sich beständig erhaltendes System“: IV 776) – an den Nachweis geknüpft, dass darin nicht etwa stillschweigend eine gewaltsame Enteignung („Bemächtigung“, „occupatio“) geschieht, ebenso wenig eine Verwechslung bzw. eine Einebnung der „subjektiv“ oder „objektiv historisch“ erworbenen Erkenntnis;14 gleichwohl könne solche „Erwerbung“ nicht als „ursprünglich“ in dem bestimmten Sinne gelten, dass sie „nicht von dem Seinen eines anderen abgeleitet“ (IV 368) wäre. Der Aufweis der Legitimität und der spezifischen Eigenart dieser „Erwerbung“ ist somit vorrangig an den Nachweis der Gültigkeit dieser praktischen Vernunftideen geknüpft; ihn vermag eine kritische Metaphysik indes nur dadurch zu erbringen, dass in dem aus solchem geschichtlichen „Entdeckungs“- und „Aneignungs-Prozess“ hervorgehenden Gefüge der „Vernunftideen“ die menschliche Vernunft „sich selbst erhält“. Das nur derart gewahrte rechte Verhältnis von „Genesis und Geltung“ bestätigt zugleich die Aufgabe einer kritischen Metaphysik, die so überdies als „Schutzwehr der Religion“ fungiert. Daraus folgt: Es sind der in der „Geschichte der Vernunft“ geläuterte und gleichermaßen hinreichend differenzierte Begriff des „Absoluten“ (bzw. der Dimensionen des „Unbedingten“) als „der gemeinschaftliche Titel aller Vernunftbegriffe“ und die daran geknüpfte Begründung der von Kant bevorzugten „erweiterten Bedeutung“ des Begriffs „absolut“ (II 329 f ), worin jenes „Gerüst der Vernunftreligion“ verankert ist; erst im Ausgang vom gemeinsamen Ursprung von „Philosophie und Religion“15 findet dieses, im Sinne einer „Genealogie der Vernunft“ und deren Reflexionsgestalt, seine differenzierte Entfaltung bzw. Realisierung. Als spätes Ergebnis darf das „Ideal der Vernunft“ als der „transzendentale Begriff von Gott“ als „allerrealstem Wesen“ sowie das von der „Realität“ lediglich am weitesten entfernt scheinende Ideal als das „Übersinnliche in ger Weise akzentuiert: „Religion bedeutet bei den Alten oft so viel als Aberglaube. Dieser Begriff kann davon seinen Ursprung haben, aber er wars noch nicht selbst. Der erste Begriff von Gott ist der von einem ersten Wesen, insofern er die Ursache ist von den übrigen. Hierunter kann man alle Lehrmeinungen bringen. Ist dieser Begriff willkürlich von uns gemacht? – Nein, sondern von unserer Vernunft gegeben, nicht eingeboren, sondern aquiriert [!]; d. h. wenn sie einmal kultiviert ist, dass sie notwendigerweise darauf kommen muss bei Gelegenheit der Erfahrung“ (AA XXVIII, 1330). Schon hier ist deutlich die Idee vorgebildet, wonach die in der Religionsgeschichte in Erscheinung tretenden vielerlei „geschichtlichen Glaubensarten“ eben jene „Gelegenheit der Erfahrung“ darstellen, durch die sich die „vernunftadäquaten“ praktischen und theoretischen Prinzipien der „Vernunftreligion“ erst ausbilden konnten. 14 In diesem Sinne heißt es auch in Refl. 1629 (AA XVI, 49): „Eine Erkenntnis, so fern ihre Erwerbung empirisch ist, ist subjektiv historisch; objektiv historisch, wenn ihre Erwerbung nur empirisch sein kann“ (vgl. o. V., Anm. 1). Mit dieser Unterscheidung zeigt Kant auf diesem Feld der Geschichte lediglich die notwendige Vermittlung von „empirischem Realismus“ und „transzendentalem Idealismus“ an. 15 Kants wiederholte Berufung auf „die Alten“ bezieht sich stets auf beide – sich in der „Geschichte der Vernunft“ aus einer gemeinsamen Herkunft selbst erst ausdifferenzierende – „Stränge“ von Religion und Philosophie und auf den darin betonten „natürlichen Fortschritt der Vernunft“, der sich auf beiden Ebenen vollzieht, wenngleich dieser in der „Geschichte der reinen Vernunft“ in besonderer Weise reflektiert wird.
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uns“ angesehen werden, das sich aus den in der „Geschichte der Vernunft“ „genugsam gereinigten moralischen Begriffen“ (II 685) ergibt und dem jene gleichermaßen geläuterte Idee des „Übersinnlichen außer uns“ korrespondiert.16 Erhält in der „Geschichte der reinen Vernunft“ auch die philosophisch zu explizierende „theologische Idee“ dergestalt erst eine angemessene Bestimmung, so entspricht dem bemerkenswerterweise ebenso – mit Bezug auf die Religionsgeschichte – die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ sich ausbildende Differenzierung und Läuterung des Verhältnisses von „Theologie und Moral“ (II 709 ff ). Desgleichen stellt die erst aus der Vernunftkritik resultierende „negative Theologie“ und deren Gottesidee die unumgängliche kritische Instanz gegenüber allen Verbindlichkeitsansprüchen der geschichtlich-„positiven“ Religionen und unkritischen „Anthropomorphismen“ dar und fungiert so lediglich als kritisches – d. h. eben bloß negatives! – Richtmaß, das die in der kritischen „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ gewahrte Transzendenz Gottes zur Geltung bringt, so aber auch in moralischer Hinsicht den Gottesgedanken davor bewahrt, die mit einer autonom gewordenen Moralität verbundenen Prinzipien zu verletzen bzw. von ihnen zu dispensieren.17 Am Maßstab der in der „Geschichte der Vernunft“ sich näher differenzierenden Unbedingtheits-Dimensionen sowie an der darin verankerten Formation der Vernunftideen des „Übersinnlichen“ werden, so Kant, die dem „rohen Zustande der Völker“ entsprechenden „groben Religionsbegriffe“ auch erst beurteilbar.18 Diese zunehmende philosophische 16 Schon in den frühen Vorlesungen zur Rationaltheologie finden sich diesbezüglich – eher noch als in den Hauptschriften – durchaus interessante religionsphilosophisch-religionsgeschichtliche Hinweise: So etwa auf den langen religionsgeschichtlichen Weg bis zu der Gottesvorstellung von einem „unsichtbare(n) regierenden Wesen“ („mit Verstand nach Grundsätzen“, und zuletzt von einem „einigen Gott … nach moralischen Gesetzen“); freilich ist „auch die Vernunft niemals befriedigt, als bei einem moralischen Wesen, das mit allen Vollkommenheiten gedacht wird; also auf dem Wege der moralischen Entwicklung der moralischen Vernunft und nicht dem der spekulativen gelangen wir zum bestimmten Begriff von Gott … Das gehört zur Vollendung unserer Vernunftbedürfnisse und zwar zur Befriedigung unserer praktischen Vernunft“, wobei diese der Vernunft gemäßen Begriffe nur „bei Gelegenheit der Erfahrung“ „acquiriert“ und kultiviert, dann aber als notwendige, nicht bloß „artifizielle“ (d. h. „erdichtete“) Vernunftbegriffe ausgewiesen werden (AA XXVIII, 1328 ff ). Die philosophische Explikation dieser Perspektiven hätte zweifellos noch eine Erweiterung und Vertiefung der kantischen Religionsphilosophie erlaubt; Hegel und Schelling haben diese Hinsichten bekanntlich – weit über Kant hinaus – in besonderer Weise fruchtbar gemacht. 17 Dahin weisen wohl auch die einschlägigen Hinweise von Onora O’Neill: „Die Vernunft setzt Grenzen, die wohl manches als unvernünftig ausschließen, lässt aber sehr vieles weitere unbestimmt. Was innerhalb dieser Grenzen zu finden ist, darf also bunt und vielfältig sein. Doch müssen die Grundprinzipien von allen befolgbar bleiben, ohne dass die Annahme willkürlicher Prämissen abverlangt wird.“ Zu Recht gibt sie zu bedenken: „Für Kant, aber nicht für jene, die sich zu einem fundamentalistischen Vernunftbegriff bekennen, gibt es also eine Geschichte und eine Zukunft der Vernunft, und dazu eine Lehre ihres gesellschaftlichen Fortschritts … Seine Begründungsstrategie verlangt aber nur, dass die Entwicklung durch eine, und nicht, dass sie durch genau diese Zukunft ergänzt wird. Es mag mehrere mögliche Geschichten der Vernunft geben. Dabei führt die Geschichte der Vernunft nicht zu Algorithmen, die den Inhalt vernünftigen Wissens, vernünftiger Handlungen und vernünftiger Hoffnung festlegen. Die Vernunft, durch welches Verfahren auch immer sie entsteht, liefert nur Rahmenbedingungen für das Wissen, für die Moral und für ihre Verbindung in einer vernünftigen Artikulation der Hoffnung“ (O’Neill 1992, 102 ff ). Troeltschs Sichtweise findet eine Bestätigung: „Rechts-, Moral- und Religionsentwicklung greifen ineinander“ (Troeltsch 1904, 126). 18 Zu der für eine „Geschichte der reinen Vernunft“ wichtigen Einschätzung der philosophischen „Nachforschungen“ des „scharfsinnigen Volkes“ der Griechen bezüglich des Zusammenhanges von „sittlichen
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Läuterung des Gottesbegriffs und das Bewusstsein der „absoluten Transzendenz“ sind selbst eben durch diese „Geschichte der menschlichen Vernunft“ – die darin geleistete schrittweise „Bearbeitung zur wahren Religion“ (IV 851) – vermittelt und korrespondieren der Ausbildung eines einheitlichen „Selbst“ bzw. der entsprechenden Seelen-Vorstellung, die sodann auch der Idee der „moralischen Persönlichkeit“ („eigentliches Selbst“) zugrunde liegt. Jene denkwürdige Auskunft Kants, „dass ehe die moralischen Begriffe genugsam gereinigt, bestimmt … waren, die Kenntnis der Natur … teils nur rohe und umherschweifende Begriffe von der Gottheit hervorbringen konnte, teils eine zu bewundernde Gleichgültigkeit überhaupt in Ansehung dieser Frage übrig ließ“, sowie der daran geknüpfte Bezug auf die „größere Bearbeitung sittlicher Ideen, die durch das äußerst reine Sittengesetz unserer Religion notwendig gemacht wurde“ (II 685), indiziert auch für diesen Zusammenhang (bzw. für das darin zu bedenkende Voraussetzungsverhältnis) und im Blick auf die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ „zu sich kommende Vernunft“ sehr bedeutsame Motive, die nunmehr eine Verknüpfung mit einer religionsgeschichtlichen Perspektive bzw. einem entsprechenden „Leitfaden“ nahelegen. Sie lassen es jedenfalls – und zwar ohne einseitige (religionskritische) Abspannung – durchaus als ein kantisches Motiv erscheinen, dass sich im Gottesverhältnis der Mensch gleichermaßen zu sich selbst verhält und demgemäß, in einer kantischen Version, jene als „regulative Idee“ fungierende „Religionsgeschichte“ auch als Geschichte des „Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit“ verstanden werden muss. Kants wiederholter Rekurs auf den Begriff Gottes als eines „moralischen Welturhebers“ bzw. als eines „moralischen Oberhaupts des Menschengeschlechts“ macht diesen unauflöslichen Zusammenhang ohnedies deutlich. Für die kantische Religionsphilosophie erweist es sich demzufolge als eine sehr bedeutsame Perspektive für die „Erziehung des Menschengeschlechts“, dass der Ausbildung des Monotheismus die Aufforderung zur „Selbsterkenntnis des Menschen“ korrespondiert. In besonderer Weise maßgebend ist diesbezüglich für Kant offenkundig einerseits die von Platon her in kritischer Affirmation (vgl. II 321 ff ) aufgenommene Gedankenbewegung der „transzendentalen Theologie“ und deren „Ideal der Vernunft“ (als der „transzendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen“: III 389) sowie andererseits die von ihm „vorzüglich in allem, was praktisch ist“, gefundenen (d. h. eben das „Sittliche“ berührenden) Ideen. Beides hat Kant bekanntlich bemerkenswerterweise sehr eng mit dem Motiv der in dem „erhabenen“ alttestamentlichen Bilderverbot19 zutage tretenden „negativen Theologie“ bzw. der „absoluten Transzendenz“ des „ÜbersinnGegenständen“ und der philosophischen Gottesthematik vgl. IV 274. 19 Hier legt sich natürlich auch eine Anknüpfung an den Hinweis R. Ottos nahe: „Ein solches Verhältnis von ‚Schematisierung‘ ist nun auch das Verhältnis des Rationalen zum Irrationalen in der KomplexIdee des Heiligen. […] Echte Schematisierung unterscheidet sich von der bloßen Zufalls-Verbindung dadurch, dass sie nicht bei steigender und fortgehender Entwicklung des religiösen Wahrheitsgefühls wieder zerfällt und ausgeschieden wird, sondern immer fester und bestimmter anerkannt wird. Aus dem Grunde ist es wahrscheinlich, dass auch die innige Verbindung des Heiligen mit dem Erhabenen mehr ist als bloße Gefühlsgesellung, dass eine solche vielmehr nur ihre geschichtliche Weckung und erste Veranlassung ist. Die innige Dauerverbindung der beiden in allen höheren Religionen weist darauf hin, dass auch das Erhabene ein echtes ‚Schema‘ des Heiligen selber ist.“ (Otto 1932, 63) Demgemäß weist Otto selbst darauf hin, „dass zwischen dem Numinosen und dem Erhabenen eine verborgene Verwandtschaft
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lichen außer uns“ verknüpft – vornehmlich mit der in der Erhabenheit dieses Bilderverbotes offenbar werdenden Denkungsart, zumal ihm zufolge der „negativen Darstellung des Unendlichen“ unablöslich die „reine, seelenerhebende, bloß negative Darstellung der Sittlichkeit“ korrespondiert (V 365 f ) und dieser Verbindung auch sein Verweis auf die „wahre Unendlichkeit“ (IV 300) mit der darin gedachten „Verinwendigung“ zugrunde liegt. Die Erhabenheit „jener Aufschrift über dem Tempel der Isis“ mit Moses und Platon gleichsam verbindend, verweist Kant ausdrücklich – im Sinne der von ihm betonten Einheit und Differenz von „Vernunftbegriff in concreto“ und „in abstracto“ – auf die Konvergenz der recht verstandenen (d. h. von allem Überschwang und von „Idolisierung“ befreiten) platonischen „Idee des Übersinnlichen“ mit der im alttestamentlichen Bilderverbot20 angezeigten „negativen Darstellung“ der „Idee des Übersinnlichen“ (III 365) – ebenso auf jene „durch größere Bearbeitung der sittlichen Ideen“ gewonnene Idee des „Übersinnlichen in uns“ (als den „Gott in uns“) und das „Ideal“ des „Heiligen des Evangelii“. Daran ist, so Kant, zuletzt auch noch die „allererst mit dem Christentum eingeführte“ Bestimmung der „fides“ als „Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes“ geknüpft. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass schon jener Rekurs auf die „größere Bearbeitung sittlicher Ideen … durch das äußerst reine Sittengesetz unserer [!] Religion“ eine indirekte Kritik bzw. Herabsetzung des Judentums impliziert, die in dem späteren merkwürdigen Hinweis darauf weitergeführt wird, dass die „allgemeine Kirchengeschichte … nicht anders als vom Ursprunge des Christentums anfangen“ könne und dies eine „völlige Verlassung des Judentums, worin es entsprang“, bedeuten müsse bzw., ein wenig abgeschwächt, erst aus einem selbst schon durch griechische Einflüsse (von der „drückenden Last ihres21 Satzungsglaubens“) „gereinigten“ „Judentum … sich nun plötzlich, obzwar nicht unvorbereitet [wie Kant beinahe widerwillig einräumt], das Christentum“ erhob (IV 792 f )22 – d. i. „weit gefehlt, dass das Judentum [als] eine zum Zustande der und Zusammengehörigkeit besteht, die mehr ist als eine bloße Zufallsähnlichkeit. Noch Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ gibt davon ein entferntes Zeugnis“ (ebd. 85 f ). 20 In Kants Interpretation des alttestamentlichen Bilderverbots und der sich in ihm manifestierenden Erhabenheit ist das von Adorno/Horkheimer betonte Motiv des „Verbots“ zweifellos mitenthalten, „das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns. […] Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots“ (Horkheimer/Adorno 1969, 30). 21 Es müsste hier statt „ihres“ wohl „seines“ heißen, weil dieser „Satzungsglaube“ im Text offenbar auf das „Judentum“ bzw. auf das „jüdische „Volk“ bezogen wird. So spricht Kant auch in den Vorarbeiten zur „Religionsschrift“ vom „Judentum“ als einem „bloße(n) cultus“, „der durch das Christentum eine moralische Wendung bekommen“ habe (AA XXIII, 90) und offenbar erst dadurch nach Kant das „Volk Gottes“ als die „unter der Fahne der Tugend Versammelten“ konstituiert. S. dazu allerdings auch Kants ausdrückliche Anerkennung für die in Mendelssohns „Jerusalem“ vorgestellte Vereinigung der jüdischen Religion mit der „Gewissensfreiheit“, die Kant in dem Sinne als durchaus vorbildhaft ansah, „daß auch endlich die Kirche unserer Seits darauf wird denken müssen, wie sie alles, was das Gewissen belästigen und drücken kann, von der ihrigen absondere, welches endlich die Menschen in Ansehung der wesentlichen Religionspunkte vereinigen muss“ (Brief an M. Mendelssohn vom 16. August 1783: AA X, 347). 22 „Dem Judentum entsprungen“, daraus sich „plötzlich erhebend“ – nur ja nicht daraus „hervorgegangen“! –, dies schien Kant in der Tat diesbezüglich ein besonders wichtiger Gesichtspunkt zu sein. Eine ein-
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allgemeinen Kirche gehörige Epoche“ gelten könne. Lediglich, so Kants gewiss erstaunliche Auskunft, „die ersten Stifter der Gemeinden fanden es doch nötig, die Geschichte des Judentums damit zu verflechten [!], welches nach ihrer damaligen Lage, aber vielleicht auch nur für dieselbe, klüglich gehandelt war, und so in ihrem heiligen Nachlass mit an uns gekommen ist“ (IV 838). Der in jener „größeren Bearbeitung sittlicher Ideen“ vollzogene Läuterungs- und Befreiungsprozess der (praktischen) Vernunft folgt nach Kant, jenseits bloßer geschichtlicher Zufälligkeit, einer inneren Entwicklungslogik und vermag sich allein daraus auch zu legitimieren. In diesem Sinne wird nach Kant dieser geschichtliche Prozess, in der Spur des Lessing’schen Motivs der „Erziehung des Menschengeschlechts“,23 auch im Sinne des regulativen „Als-ob“ deutbar als der darin geschehende – über das moralisch dringliche diesbezügliche Stellungnahme findet sich in Kants „Vorarbeiten“ zur „Religionsschrift“: „Es wird gemeiniglich für eine wundersame Erscheinung, die in der Religionsgeschichte ihres Gleichen nicht habe,
angesehen, daß sich neben diesem seiner völligen Gründung beständig annähernden ethischen Staat eines moralischen Volks Gottes (dem Christentum) bis jetzt so viel Jahrhunderte ein obzwar in alle Welt zerstreutes doch durch seinen alten statutarischen Glauben vereinigtes Volk erhalten hat und sich bis zum Ende der Welt erhalten zu wollen scheint, das obgleich seine politische Verfassung als Staat längst aufgehört hat, doch als prätendiertes Volk Gottes nicht auf ein Himmelreich, sondern ein messianisches Erdenreich harret, um alle Völker (gojim) dereinst zu beherrschen und sich gegen die Anmaßung der Christen, in ihre Verheißung auf moralische Art getreten zu sein, beständig protestirend es so viel an ihm ist, zweifelhaft macht, ob der alte Bund nicht noch immer bestehe und diejenige von ihren alten Bundesgenossen welche von ihnen ausgegangen sind oder sich einem vorgeblich neuen Bund beigesellet haben nicht unrechtmäßige Anmaßer sein mögen. Diese Erhaltung des jüdischen Volks in seinem Glauben unerachtet einer so großen Zerstreuung die den meisten Christen ein ihre eigene Religion bestätigender Beweis der Verwerfung desselben wegen ihrer Halsstarrigkeit an sich aber mehr ein wichtiger Einwurf zu sein scheint“ (AA XXIII, 112). – Der unübersehbare Sachverhalt, dass das Christentum in Kants religionsgeschichtlichen Bezugnahmen im Vordergrund steht, rechtfertigt jedoch – ungeachtet der unübersehbaren groben Polemik gegen das Judentum – nicht ohne Einschränkung das allgemeine Urteil: „Alle nicht-christlichen Religionen fallen aus der so verstandenen Religionsgeschichte heraus, auch und sogar ganz besonders – das Judentum, aus dem das Christentum doch historisch gesehen hervorgegangen ist. […] Kant reduziert seine Kirchengeschichte aber auf eine Geschichte des Christentums“ (Brachtendorf 2011, 152 f; ebd. 158 ff ). Zweifellos trifft es zu: „Nach Kant unterscheidet sich … das Christentum von allen anderen positiven Religionen dadurch, dass es die Anlage zur Vernunftreligion von vornherein besitze und dies öffentlich zur Geltung bringe“ (ebd.); das „gereinigte“ Christentum ist für Kant in der Tat die „moralische Religion“ schlechthin. Gleichwohl verwies Kant schon in der Vorrede zur ersten Auflage der „Religionsschrift“ auf die „philosophische Theologie“ als das einer „andern Fakultät“ anvertraute „Gut“ und deren Aufgabe: „Diese, wenn sie nur innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft bleibt und zur Bestätigung und Erläuterung ihrer Sätze die Geschichte, Sprachen, Bücher aller Völker, selbst die Bibel, benutzt, aber nur für sich, ohne diese Sätze in die biblische Theologie hineinzutragen …, muss volle Freiheit haben“ (IV 655 f ). – Die in mancher Hinsicht zweifellos recht problematische Charakterisierung der „jüdischen Religion“ (aber auch deren Verhältnis und „Abgrenzung“ zum „Christentum“) durch Kant ist hier nicht näher zu verfolgen; zu den erstaunlichen einschlägigen – „tiefsitzenden, sozialisatorisch erworbenen“ – Vorurteilen Kants s. Stangneth 2001. 23 Ein detaillierter Vergleich zwischen Lessings und Kants Verständnis der „natürlichen Religion“, der „Religionsgeschichte“ bzw. des Stellenwerts der „Offenbarung“ ist hier nicht zu leisten; die ohnehin naheliegenden vielfältigen Bezüge dürfen jedenfalls dennoch über die Unterschiede nicht hinwegsehen lassen; nicht zuletzt die hier bezüglich dieser religionsphilosophischen Themen herangezogene Figur der „ursprünglichen Erwerbung“ wäre dabei auch zu der Lessing’schen Unterscheidung zwischen „mitgeteilten“ und „erworbenen Begriffen“ (vgl. Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts, § 6) bzw. dem Programm der notwendigen „Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten“ (ebd., § 76) in Beziehung zu bringen.
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verankerte Gottesverhältnis des Menschen vermittelte – Prozess des Offenbar-Werdens Gottes, weil nur so der unauflösliche und konkrete Zusammenhang von menschlichem Selbstverständnis und Gottesverständnis gewahrt bleibt bzw. dieserart seine geschichtlich konkrete Einlösung findet. Ein sich nicht mit solchen „regulativen“ Ansprüchen begnügendes Offenbarungs-Verständnis (das Letztere also in ein konstitutives Prinzip verkehren wollte) hätte Kant unter den bestimmenden Vorzeichen des Kritizismus hingegen wohl als uneinlösbar zurückgewiesen. Schon hier sei darauf hingewiesen: Jene offenkundig in Abgrenzung von dem „dogmatischen Glauben“, „der sich als ein Wissen ankündigt“ (IV 704, Anm.), vorgenommene Kennzeichnung des „reflektierenden Glaubens“ (s. dazu u. V., 3.) lässt jedenfalls auch hier eine Analogie zu jenem regulativen „Als-ob“ der „reflektierenden Urteilskraft“ vermuten, das dann jedoch gerade nicht in einem „fiktionalen“, sondern auch hier im Sinne eines „instar“ („gleichviel“) zu nehmen wäre; gestützt wird dies ferner durch die von ihm beanspruchte – freilich im Grunde auf das Christentum eingegrenzte – Lesart, „dass die Bibel, gleich als ob sie eine göttliche Offenbarung wäre, aufbewahrt, moralisch benutzt und der Religion, als ihr Leitmittel, untergelegt zu werden verdiene“ (VI 335). Auch darin spiegelt sich jenes zentrale kantische Motiv wider, dass erst die Verbindung von „Theologie und Moral“ auf Religion führt und dies in einem geschichtlichen Prozess zur Entfaltung kommt, der in seiner Einheit und Kontinuität nicht nur als zunehmende Reinigung und Loslösung verstehbar, sondern über seine bloße Faktizität hinaus auch, gleichsam von „Seiten Gottes“, als legitimierbar ausgewiesen werden soll, weil nur so eine tragfähige Verbindung von „Theologie und Moral“ – und daraus Religion – hergestellt und Letztere als „reine Vernunftsache“ (VI 338) geltend gemacht werden kann. In solchem als Läuterungsprozess der praktischen Vernunft verstandenen Erziehungsprozess, dem eine zunehmend geläuterte Gottesidee korrespondiert, wird die „Autonomie der Moralität“ gleichsam selbst von Seiten Gottes anerkannt, bestätigt und auch eingefordert. Dies ist sodann das Fundament des Kernmotivs der „Vernunftreligion“, wonach – in Abwehr ganz unterschiedlich ausgeprägter Gestalten der „Heteronomie“ – nicht Religion zur Moral, sondern „Moral unausbleiblich zur Religion“ führe; diesbezüglich gewinnt nicht zuletzt Kants Kritik der antiken Tugend-Konzeptionen (bzw. des „höchsten Gutes“) besonderes Gewicht. In Anknüpfung an frühere Ausführungen mag so noch einmal deutlich werden: Vor dem Hintergrund jenes zu entfaltenden Ideen-Gefüges gewinnt also Kants Hinweis darauf besondere Bedeutung, dass in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ Wandlungen und Differenzierungen des „Begriffs der Gottheit“ zutage treten, die sich als „Fortschritt im Bewusstsein der Gottheit“ buchstabieren lassen.24 Diese Korrelation zwischen dem „Fortschritt im Bewusstsein menschlicher Freiheit“ und dem „Fortschritt im Bewusstsein 24 In dieser Hinsicht steht Ottos Bemerkung offenbar einem kantischen Anliegen besonders nahe: „Die immer klarere, immer machtvollere Rationalisierung und Versittlichung des Numinosen ist selber der wesentlichste Teil dessen, was wir als ‚Heilsgeschichte‘ bezeichnen und als immer wachsende Selbstoffenbarung des Göttlichen würdigen. Zugleich aber wird uns klar, dass die ‚Ethisierung der Gottesidee‘, die uns ja so oft genug als ein Hauptproblem und Grundzug der Religionsgeschichte vorgestellt wird, keineswegs eine Verdrängung, ein Ersatz des Numinosen durch etwas anderes ist, – was sich so ergäbe,
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der Gottheit“ macht eine bemerkenswerte – eben geschichtlich vermittelte –, unauflösliche Korrespondenz der Freiheits-, Seelen-, Unsterblichkeits- und der Gottesidee sichtbar, die freilich auch die in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ zutage tretende differenzierte Entwicklung des Verhältnisses von Religion und Philosophie betrifft. Kants späte kritische Bestimmung des Verhältnisses dieser Ideen zueinander fügt sich, seiner Selbstverortung in der „Geschichte der reinen Vernunft“ gemäß, recht genau in eine solche Perspektive ein. Damit ist sein ausdrückliches Bewusstsein davon verbunden, dass die „natürliche Religion“ als „allgemeine Vernunftreligion“ selbst geschichtliches Resultat aus und gleichermaßen Maßstab für die konkret realisierten geschichtlichen Religionen in deren „unmittelbarer Wirklichkeit“ ist; dieser Maßstab ist, als vernunft-verankertes Gerüst, eben selbst daraus „abstrahiert“, während die bloß historisch-bedingten, d. h. kulturell wandelbaren Schlacken verschwinden. Vornehmlich im Blick auf die in der „Geschichte der Vernunft“ sich entfaltende unauflösliche Korrespondenz25 bleibt deshalb anzumerken, dass jene enge Verknüpfung zwischen „meinem unsichtbaren Selbst“ (IV 300) und der „unsichtbaren Macht“ (II 709) auch dies impliziert, dass die „symbolisch-anthropomorphe Darstellung“ Gottes in der Verfasstheit der menschlichen Vernunft, näherhin in der sich selbst entwickelnden „moralischen Anlage des Menschen“, begründet ist. Derart gewinnt auch Kants Hinweis auf den in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ erkennbaren Fortschritt im Gottesbegriff26 und dessen unauflöslichen Zusammenhang mit dem sich wandelnden Selbstverständnis des Menschen besonderes Gewicht. Mit Rücksicht auf den geschichtlichen Entdeckungszusammenhang und die konkrete wäre kein Gott, sondern ein Ersatz-Gott – sondern eine Erfüllung desselben mit einem neuen Gehalte, das heißt, dass sie sich vollzieht am Numinosen.“ (Otto 1932, 146). 25 Aus einer solchen Perspektive hätte Kant, im Ausgang von seinem Gedanken des in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erkennbaren Fortschrittes und der darin erzielten „Verinnerlichung“, auch der These Hegels von der Entsprechung der Gottesvorstellung und der menschlichen Freiheit wohl zustimmen wollen (und hat hierfür sogar selbst unübersehbare Anknüpfungspunkte angeboten). Kant hat zweifellos richtungsweisend dem Gedanken Hegels (anders akzentuiert auch schon beim von Lessing inspirierten früheren Schelling) vorgearbeitet: „Die Geschichte der Religion expliziert ‚einerseits wie Gott gewußt wird, wie er bestimmt wird, und andrerseits wie das Subjekt sich damit selbst weiß‘ … In der Religionsgeschichte kommen sowohl Gott als auch der Mensch zum Bewußtsein ihrer selbst. Die Realisierung des Begriffs der Religion kann daher nicht abstrakt nach zwei Seiten hin aufgeteilt werden, denn keine Seite ist ohne die andere denkbar.“ (F. Wagner 1971, 206 f ) Der Lessing’sche Hintergrund (der „Erziehung des Menschengeschlechts“) in den diesbezüglichen Erkundungen Kants ist gewiss nicht zu übersehen. 26 Zu Kants durchaus „religionspsychologisch“-religionskritisch sensiblen Überlegungen zum Ursprung des Bedürfnisses, „Götter anzunehmen“ und dem daran „endlich“ (über den Weg der „moralischen Bildung“) anschließenden vernunft-orientierten Gottesbegriff vgl. auch Refl. 6221 ff (AA XVIII, 511 ff ). – Jener Hinweis auf die in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ erfolgte „größere Bearbeitung sittlicher Ideen … durch das äußerst reine Sittengesetz unserer Religion“ (II 685) erfährt in der „Religionsschrift“ eine unübersehbare (wohl durch Hume inspirierte) Konkretisierung: „Die Verehrung mächtiger unsichtbarer Wesen, welche dem hilflosen Menschen durch die natürliche auf dem Bewußtsein seines Unvermögens gegründete Furcht abgenötigt wurde, fing nicht sogleich mit einer Religion, sondern von einem knechtischen Gottes- (oder Götzen-) Dienste an, welcher, wenn er eine gewisse öffentlichgesetzliche Form bekommen hatte, ein Tempeldienst, und nur, nachdem mit diesen Gesetzen allmählich die moralische Bildung der Menschen verbunden worden, ein Kirchendienst wurde: denen beiden ein Geschichtsglaube zum Grunde liegt, bis man endlich diesen bloß für provisorisch, und in ihm die symbolische Darstellung und das Mittel der Beförderung eines reinen Religionsglaubens, zu sehen angefangen hat“ (IV 847 f ).
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Entfaltung des in der „gewissen Organisation der reinen praktischen Vernunft“ verankerten „Gefüges“ der Ideen tritt solcherart die geschichtliche Situierung und Ausprägung der „metaphysischen Naturanlage“ des Menschen eben im Sinne dieses Zusammenhangs der Vernunftideen in ihren konkreten geschichtlichen Gestalten zutage. In solcher Konfiguration ihrer Ideen (ihrem „vinculum“) offenbaren sich mithin lediglich die unterschiedlich differenzierten und dimensionierten Unbedingtheitsansprüche der Vernunft in dem Sinne,27 dass in den geschichtlichen Gestalten ihrer Selbstbehauptung zugleich auch ihre „Selbsterhaltung“ gewährleistet ist – das heißt: Menschen „des wirklichen Lebens“ darin „sich selbst und ihre Welt, und alles, was sie haben und seien, vereiniget fühlen“ und sich in concreto den „Zusammenhang zwischen sich und ihrer Welt … vorstellen“ (wie es der junge Kantianer Hölderlin noch formuliert hat). Dies – und damit die Religionen als konkrete „Gestalten des Geistes“ – zu begreifen ist Hölderlins kritischem – die Unterscheidung von „befriedigter und unbefriedigter Aufklärung“ vorwegnehmendem – Hinweis zufolge die Forderung einer „höhere(n) Aufklärung“, „die uns [und, so Hölderlin, der Religionstheorie Kants] größtenteils abgeht.“28 1.1.1. Die erst in der „Geschichte der reinen Vernunft“ erfolgte systematische Entfaltung und Legitimation der „Vernunftideen“ Wenn die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ demnach selbst in dieser bestimmten Hinsicht als der geschichtliche Prozess zu verstehen wäre, in dem – besser: eben „bei Gelegenheit“ dessen – sich die allgemeinen apriorischen Prinzipien der reinen Vernunftreligion aposteriorisch herausschälen, d. h. solcherart durchaus nicht bloß de facto „ursprünglich erworben werden“, so wird darin offenkundig zugleich ein ganz besonderer Aspekt der Endlichkeit der menschlichen Vernunft insofern sichtbar, als jenes innere „Gefüge der Vernunftideen“ selbst als ein daraus vermitteltes in seiner „realgeschichtlichen Herkünftigkeit“ „zur Erscheinung kommt“. Dass auch dieses Gerüst der Vernunftreligion aus diesen realgeschichtlichen Bedingungen zwar hervorgeht, ohne daraus freilich hinsichtlich seines „Vernunftursprunges“ und mithin seiner Geltungsrelevanz einfachhin ableitbar zu sein – nicht zuletzt dies ist ein bedeutsames Indiz für die endlichgeschichtliche Grundverfassung der menschlichen Vernunft. Es hat sich gezeigt, dass die Reinheit der Vernunftideen der „Theologie, Moral, und, durch beider Verbindung,
27 In einer solchen Sichtweise und im Bezug auf die darin manifest werdenden Unbedingtheits-Ansprüche hätte Kant wohl auch die „mosaische Unterscheidung“ (ihre Unterscheidung „wahr-falsch“, „WahrheitLüge“) eingeordnet und dies in religionsgeschichtlicher Perspektive im Sinne einer Überwindung bloßer Narrativität bzw. der wahrheits-indifferenten Faktizität religiösen Bewusstseins gewürdigt und daran Geltungsansprüche geknüpft; gleichermaßen hätte er freilich solche Rechtfertigung an die Maßstäbe der „Religion innerhalb der bloßen Vernunft“ gebunden. – Die in Offenbarungsansprüchen enthaltene Bestimmtheit impliziert mit dem darin liegenden Geltungsaspekt als „wahr“ immer auch den Rechtfertigungsanspruch gegenüber anderen positiven Religionen und vor dem Forum der Philosophie; eben dies fordert – und rechtfertigt nicht nur – den in diesem Sinne auch notwendigen „Streit der Fakultäten“. 28 Hölderlin 1992, II 53 ff.
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Religion“ (II 338, Anm.) erst aus diesem geschichtlich vollzogenen Scheidungsprozess resultiert, worin die Gottesvorstellung und die umfassende Idee der Menschheit (in ihrem „extensiven“ und „intensiven“ Gehalt!) aus dem ebenfalls „sehr vermischten Gewebe“ der Religionsbegriffe erst als „geläuterte“ hervorgegangen sind. Die daraus resultierende Konstellation bzw. „innere Organisation“ derselben stellt nunmehr erst jenes Fundament bereit, das zugleich als die vernunft-immanente „Schutzwehr“29 und Richtschnur für die Beurteilung der geschichtlich-positiven Religionen fungiert.30 Es wird sich noch in mehrfacher Hinsicht bestätigen, dass dieser angezeigte „genealogische“ Gesichtspunkt einen wichtigen Aspekt der „Endlichkeit der Vernunft“ thematisiert, ohne dass dies den „Vernunftursprung“ dieser Ideen und ihren darin verankerten Geltungsanspruch auflösen könnte – eine Einsicht, die Kant gleichermaßen gegen offenbarungs-positivistische Ansprüche (im Namen der angeblichen „Orthodoxie“) und gegen empiristisch-psychologistische Relativierungen (im Namen der vermeintlichen Religionskritik) behauptet hat, wobei sich vermutlich seine kritische Aneignung der einschlägigen Motive Lessings und der Blick auf Hume in eigentümlicher Weise verbinden. Vor diesem Hintergrund bleibt auch dies zu vergegenwärtigen: Weil auch die praktischen „Ideen“ „in unserer Vernunft lediglich ihren Ursprung haben“, d. h. „in der Natur der menschlichen Vernunft gegründet“ sind (II 328) und als solche legitimiert werden müssen,31 lehnte Kant es ausdrücklich ab, von der „Unbegreiflichkeit“ dieser Ideen zu reden, zumal die Vernunft es darin doch in differenzierter Weise lediglich mit sich selbst zu tun hat, d. h. sich solcherart in der angezeigten Weise ja selbst „schafft“ – und „eodem actu“ sich voraussetzt, d. h. sich „setzt als gesetzt“ zugleich. Gegen eine deshalb irreführende Berufung auf die „Unbegreiflichkeit der Vernunftideen“ hat er, wie schon erwähnt, bemerkenswerterweise zu bedenken gegeben, dass im strengen Sinne als in „vielerlei Absicht unbegreiflich“ vielmehr die „Gegenstände, welche uns durch Erfahrung gegeben werden“ (III 222), anzusehen seien: Dieses denkwürdige Motiv soll auch bezüglich des Verhältnisses von Vernunftreligion und der uneinholbaren Positivität der geschichtlichen Reli29 In diesem Sinne warnte Kant auch davor: „Wenn Theologie und Religion zusammengemischt werden, entspringt eine Verwirrung der Begriffe, in welcher man die Theologie als eine notwendige Folge und Pflicht der Religion ansieht und daher schon parteiisch verfährt. In Ansehung jener muss … die spekulative Vernunft zuerst allein und frei gelassen werden“ (Refl. 6215, AA XVIII, 505). 30 Auch in solcher Akzentuierung ist wohl Henrichs Hinweis auf den kritischen Stellenwert der Metaphysik bei Kant zu verstehen, die ihm zufolge auf den dem Selbstbewusstsein zugehörigen „Erfahrungen des Selbstverstehens und des Scheiterns von Selbstverstehen“ beruht, ebenso die „Unabweisbarkeit und Menschheitsbedeutung“ dieser Erfahrungen erweist und den in ihr auszubildenden (und das heißt: zugleich zu explizierenden) „Gedanken des Abschlusses“ fundiert: „Beide sind auch von ihrem größten Kritiker Kant nicht nur nicht bestritten, sondern auf ganz neue Weise bestätigt worden, zu der sich ins Verhältnis zu setzen von jeder gegenwärtigen Orientierung über Metaphysik verlangt werden muss. Für ihn hat Metaphysik ihren Grund in der Unmöglichkeit, Erfahrung aus sich selbst heraus vollständig zu machen, und dem Bedürfnis des vernünftigen Lebens, für alles Wirkliche geltende und zugleich seine wesentlichsten Ziele bestätigende Gedanken anzunehmen“ (Henrich 1982c, 160). 31 Diese „Legitimation“ der Ideen aus der immanenten Verfassung der Vernunft und deren „Schlüssen“, die so gesehen selbst noch dem „Schulbegriff der Philosophie“ zugehört und auf das Problem einer möglichen „Deduktion der Ideen“ verweist, ist dem „Weltbegriff der Philosophie“ schon vorausgesetzt.
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gionen (deren „absoluter Aposteriorität“) im Sinne einer „Philosophie der Religion(en)“ Beachtung finden und wird sich in der Folge auch bezüglich jener Unterscheidung von „Vernunftgebrauch in concreto“ und „in abstracto“ als bedeutsam erweisen. Ebenso legt dies ein modifiziertes Verständnis der kantischen Konzeption der beiden „konzentrischen Kreise“ („Vernunftreligion“ und „geschichtliche Glaubensarten“) nahe (s. u. V., 2.1.3.). Die aus jenem geschichtlichen Scheidungsprozess (und den darin durchlaufenen Umwegen) erst resultierende Unterscheidung zwischen Vernunftreligion und den „historischen Religionen“ sowie die daran geknüpfte Bestimmung dieser „Vernunftreligion“ als unverzichtbares – aber auch bloßes – Richtmaß der geschichtlichen Religionen32 dürfen somit selbst als ein bedeutsames spätes – aus dem Anspruch und gleichermaßen dem Einspruch der Vernunft gegen geschichtliche Erscheinungsgestalten hervorgegangenes und nunmehr kritisch „aufgeklärtes“ – Ergebnis jener ausgebildeten Metaphysik in ihrem „letzten Stadium“ genommen werden. Sie führen sodann, ebenso wie die reflexive Einsicht in diese Begründungszusammenhänge, das Programm einer umfassenden „Vernunftkritik“ auf weitere Fragen, die auch eine erforderliche zweifache „Selbstbegrenzung“ des „Weltbegriffs der Philosophie“ – im Sinne eines uneinholbaren geschichtlichen „Sinnvorschusses“ und eines unverfügbaren moral-transzendierenden „Sinnüberschusses“ ins Blickfeld rücken (s. u. V., 3.). Ungeachtet dessen, dass auf diesem „kritischen Weg“ auch „Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus“ als jene „drei Stadien, welche die Philosophie zum Behuf der Metaphysik durchzugehen hatte“ (III 595), erst durchschritten werden mussten, um in dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ schließlich auch den „Endzweck der Metaphysik“ angemessen bestimmen zu können, tritt als eine weitere Problemanzeige zunächst dies in den Vordergrund: Im Sinne einer darin geleisteten „Metaphysik (von) der Metaphysik“ führt diese Entwicklung letztendlich – und gerade im Sinne jener Bestimmung der Weisheit als der „Idee von der notwendigen Einheit der Zwecke“ – auch auf die Frage nach einer kritischen Selbstbegrenzung der Philosophie, die aus ihrem reflexiven Verhältnis zu den geschichtlichen Religionen erwächst und so auch noch einmal auf die Einheit und Unterscheidung des „Vernunftbegriffs in concreto“ und „in abstracto“ verweist. Wenn das aus jener „spekulativen Einschränkung des theoretischen Gebrauchs der Vernunft und der praktischen Erweiterung derselben“ resultierende – eben geradezu religions-konstitutive – Gefüge jener Vernunftideen das Fundament der „natürlichen Religion“ und näherhin seiner „praktischen Metaphysik“ darstellt, dann bleibt in der Folge wohl ebenso zu fragen, ob denn diese für Kants Religionsphilosophie so bedeutsame Verbindung der „spekulativen Einschränkung … und praktischen Erweiterung“ der Vernunft nunmehr auch in der bestimmten Hinsicht fruchtbar zu machen ist, dass die dadurch erreichte Markierung von „Grenzlinien“ sich gleichermaßen auf das Verhältnis der Vernunftreli32 Diese durchaus auch in einem gegenläufigen Sinne zu verstehende Tendenz lässt sich ganz im Sinne von Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ (§ 36) verstehen: „Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung.“ – Diese hier (re-)konstruierte kritisch-regulative (kantische) Idee der „Religionsgeschichte“ erfolgt gleichermaßen im Rückblick auf Lessing und im Vorblick auf Hegel. S. dazu aber auch den sechsten und siebten Brief aus K.L. Reinholds „Briefe(n) über die Kantische Philosophie“.
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gion zu den geschichtlich-positiven Religionen erstreckt; dies wäre auch als eine recht verstandene „Selbstbegrenzung“33 der – selbst wiederum in dem „Weltbegriff der Philosophie“ verankerten – Vernunftreligion im Lichte jener „teleologia rationis humanae“ zu verstehen, die sich der (buchstäblichen) Rück-Sicht auf die geschichtlichen Religionen in ihrer reflexiv uneinholbaren (und insofern „unbegreiflichen“) geschichtlichen Wirklichkeit verdankt. In solcher kritischen Selbstreflexion verbindet sich jene Unterscheidung zwischen „Vernunftgebrauch in concreto“ und „in abstracto“ noch in einer anderen Hinsicht mit dem von Kant betonten „zweckmäßigen Gebrauch der Vernunft“, worin diese erst ihr Gleichgewicht finden soll (IV 275). Jener Sachverhalt, dass Kant die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ von der „Geschichte der reinen Vernunft“ (II 709 ff ) und demgemäß den „Vernunftgebrauch in concreto“ von demjenigen „in abstracto“ (III 450 f ) ebenso unterschieden hat wie das Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von einer „Religion aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung)“ (VI 267 f, Anm.), führt freilich auf unabweisliche Anschlussfragen.34 Indes, als noch dringlicher erweisen sich besondere Aspekte 33 Gerade auch als „Aneignungsprozess“, der freilich von einer bloßen „Assimilierung“ genau unterschieden bleiben muss, scheint dieses darin angezeigte „Verhältnis“ als „Selbstbegrenzung“ vermutlich zutreffender gekennzeichnet zu sein als durch Wundts Ansicht, die allzu leicht als eine illegitime Grenzüberschreitung missverstanden werden könnte: „Die Vernunft strebt also gleichsam absichtlich über den Umkreis der ihr selbst schon geläufigen Begriffe hinaus, um sich in möglichst großem Umfange auch die Begriffe der geoffenbarten Religion zugänglich zu machen“ (Wundt 1924, 448). Was aber bedeutet hier genau „zugänglich machen“? 34 In den „Vorarbeiten“ zur „Religionsschrift“ heißt es noch ausführlicher: „Zu jedem Religionsbegriffe gehört Vernunft. Das was diese also dabei nach ihren Grundsätzen urteilen (obgleich die Religionslehre biblisch und als solche auf Offenbahrung gegründet ist) muß ihr nicht allein erlaubt sein in Verbindung mit dieser Offenbarung besonders zu untersuchen. Die Vernunft beweiset sich selbst – in einem besondern System Einheit, Vollständigkeit. Im Actus der Tätigkeit – Innerhalb etc. nicht aus der Vernunft. Kann auch aus der Schrift kommen. Über den Titel. Er soll nicht heißen Religion aus bloßer Vernunft; denn nicht allein daß diese ein bloßes Ideal sein würde, weil allem Anschein nach keine daraus allein entsprungen ist, so würde ich mir zu viel hierin zugetraut und doch auch mein Feld zu sehr eingeschränkt haben. Nun kann ich alle wirklich vorhandenen Glaubensarten unter den Namen der Religion nehmen und daraus das aussuchen, was bloß zur Vernunft gehört, ohne es den Meinungen der Religionsgenossen beilegen zu wollen, und so suche ich nur die Grenzen sowohl des [S]innlichen und [E]mpirischen im Glauben als auch die der Vernunft zu bestimmen“ (AA XXIII, 90 f ). – Mit Recht betont deshalb O. Höffe (im Anschluss an Erläuterungen des Wortes „bloß“ im Titel der „Religionsschrift“): „Der Teiltitel ‚bloße Vernunft‘ kündigt daher eine Vernunft an, die von vernunftfremden Elementen frei ist, dieses Freisein aber nicht als rundum positive Auszeichnung … mit sich führt. Vielmehr fehlt ihr etwas … Die Sache der Religion lässt sich nicht auf die Vernunft verkürzen. Aus Gründen der eigenen Kompetenz beschränkt sich der Philosoph aber auf die Fähigkeit seines Metiers und betrachtet die Religion lediglich vom Standpunkt der Vernunft. […] Kant wehrt einen ‚disziplinären Imperialismus‘, nämlich den Anspruch ab, die eigene Disziplin könne den Gegenstand umfassend sachgerecht abhandeln … Der Gesamttitel besagt daher, die Religion werde hier lediglich (‚bloß‘) vom Standpunkt der Vernunft behandelt, obwohl weitere Behandlungen nicht bloß möglich, sondern auch sinnvoll sind. Durch den Titel wird die Behandlungsart sowohl präzisiert als auch eingeschränkt.“ Zu Recht versteht Höffe den Titel der „Religionsschrift“ auch als Ausdruck der „Bescheidenheit: Für die Religion gibt es Elemente, die der Vernunft entzogen sind, was die Vernunft auf ihre Grenze hinweist: Außer dem Vernunftblick auf die Religion gibt es auf sie einen außervernünftigen, deshalb aber nicht unvernünftigen Blick“ (Höffe 2011, 16). Auch Kants (später noch zu verfolgende: s. u. V., 3.) Kennzeichnung eines „reflektierenden Glaubens“ zielt genau darauf ab, wobei dieses „Reflektieren“ sodann noch bestimmtere Konturen gewinnt.
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jenes schon berührten Problems einer „Selbstbegrenzung der Vernunft“, steuern diese doch im Sinne einer besonderen Akzentuierung „an den Grenzen der bloßen Vernunft“ wichtige religionsphilosophische Aspekte bei und berühren gleichermaßen das von daher auszuweisende Verhältnis von Religionswissenschaft und Religionsphilosophie.35 Eine solche reflexive Selbstbegrenzung der Vernunft ist als eine „Grenzbestimmung der Vernunft“ der besonderen Art wohl selbst diesem „Weltbegriff der Philosophie“ und dessen Bestimmung der „höchsten Zwecke“ zugehörig; sie verleiht dem „Weltbegriff der Philosophie“ noch einen besonderen Wert, der diesen nunmehr gewissermaßen erst „abschließt und krönet“ – ohne sie müsste auch das Programm einer „Kritik der Vernunft“ in der Einheit von Limitation und Legitimation jedenfalls noch unvollständig bleiben. Lediglich eine Folge daraus wäre dies: Die im Sinne der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ausgebildete Basis, die nunmehr als Richtmaß der historischen Religionen fungiert, wäre, in einer zeitlichen Hinsicht, so zwar die letzte Gestalt dieses Prozesses, gleichwohl selbst noch nicht die Vollendungsgestalt; der Sachverhalt, dass sie jene moralisch gereinigte „Religion“ hervortreten lässt, die nunmehr erst den Nachweis erlaubt, dass und wie „Moral zur Religion führt“, wäre demnach noch einmal zu unterscheiden von jener Selbstreflexion dieses gereinigten Vernunftglaubens, der sich solcherart, sich „auf der Grenze haltend“, gegenüber moral-transzendierenden Ansprüchen und Sinnpotenzialen relativiert (im zweifachen Wortsinn: sich dazu in Beziehung setzt und gleichermaßen sich „zurücknimmt“), darin sich selbst begreift und solcherart die Vollendung dieser „Geschichte der reinen Vernunft“ als eine „Selbstbegrenzung der Vernunft“ erweist. Im Blick auf diese hier berührten Aspekte der „Endlichkeit“ bzw. „Selbstbegrenzung der Vernunft“ verschränken sich in der angezeigten Weise mehrere Motive: Denn zunächst wird darin der „Endlichkeitsaspekt“ thematisch, der von Kant selbst übrigens auch in seinem späten Bezug auf die durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ angezeigt ist (s. u. V., 3.1.), indem diese der Vernunftreligion zugrunde liegenden Prinzipien durch „größere Bearbeitung sittlicher Ideen, die durch das äußerst reine Sittengesetz unserer Religion notwendig gemacht wurde“ (II 685), daraus hervorgehen; die aus solcher geschichtlichen Läuterung und Klärung hervorgegangenen „Prinzipien“ erweisen sich sodann jedoch von solcher Art, dass, um ein Wort des Augustinus36 in diesem Kontext anzuführen, der „Vernunftgebrauch“ diese „Prinzipien“ eigentlich nicht „hervorbringt“, sondern sie in der Tat eher „findet“ und darin – eben als „in sich gefundene“ – gleichwohl erst „realisiert“, um sie letztendlich gleichsam als Überzeugungen „ex proprio judicio“ auszuweisen.37 Die motivliche Nähe zu jenem das 35 Zu der von daher durch Kant eröffneten „neuartigen Theologie“ als Einheit von Religionsphilosophie und Religionswissenschaften s. Höffe 2011, 22–24. 36 Vgl. dazu seine berühmte Argumentation in „De vera religione“ 39,72, „über die Wahrheit“. 37 Dieses verschlungene Voraussetzungsverhältnis hat Kant in einem Entwurf zur zweiten Vorrede seiner „Religionsschrift“ angezeigt: In Bezugnahme auf eine von Stäudlin herausgegebene Schrift (und die darin leitende Intention) merkte Kant an: „Dass diese [Schrift] bloß ein Versuch sei die Sittenlehre der Bibel durch die Forschung der Vernunft zu befestigen und so fern nicht reine philosophische (eigentlich nicht in bloßer Absicht auf diese abgefaßte) Moral sei …, kann wohl seine gute Richtigkeit haben, wenn
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platonische Sonnengleichnis aufnehmenden kantischen „Reflexe“-Motiv ist wiederum nicht zu übersehen und verdiente es wohl, auch in diesem engeren Kontext näher verfolgt zu werden. Demnach wurde die „Selbstbegrenzung der Vernunft“ bislang in einer zweifachen Hinsicht thematisch: Nicht nur ist die in der „Geschichte der reinen Vernunft“ sich entfaltende „teleologische“ Verfassung jenes Ideen-Gefüges in ihrer Faktizität als reflexiv uneinholbar vorausgesetzt (vgl. o. III., 2.1.) und als solche, über ihre Faktizität hinaus, gleichwohl erst zu legitimieren. Ebenso verweist die konkrete inhaltliche Bestimmung desselben auch noch einmal auf den inneren Zusammenhang der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und der „Geschichte der reinen Vernunft“ und indiziert in solcher Hinsicht einen durchaus berechtigten, ja sogar unverzichtbaren geneaologischen Aspekt dieser „Selbstbegrenzung“. Es wird sich noch zeigen (s. u. V., 3.): Damit rückt auch jenes von Kant benannte Motiv der „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchteten praktischen Vernunft“38 in ein besonderes Licht und fügt sich, gemeinsam mit jener frühen These: „Gott will die Glückseligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen“, beim späten Kant zu denkwürdigen religionsphilosophischen Motiv-Konstellationen, die jedoch von ihm selbst nicht mehr in eine neue ethikotheologische Begründungsfigur zusammengefügt wurden und somit unentfaltet geblieben sind. Darin müsste wohl auch der Sinngehalt jener Hoffnungsfrage – als „praktisch und theoretisch zugleich, so, dass das Praktische nur als ein Leitfaden zu Beantwortung der theoretischen, und, wenn diese hoch geht, spekulativen Frage führet“ (II 677) – auf eine Weise eine Vertiefung finden, die den ganzen ethikotheologischen Rahmen unübersehbar erweitert. Dies und auch der daraus resultierende Ausblick auf besondere Aspekte einer „Selbstbegrenzung der (praktischen) Vernunft“ sollen in den nachfolgenden Kapiteln (und auch in Teil VI) noch genauer verfolgt werden sollen.
er aber diese auch von der Bibel abstrahiert hat, so mußte er doch um zur bloßen Vernunft gehörige, aber in der Bibel zuerst deutlich vorgetragene Lehren daraus abstrahieren zu können, diese Vernunftlehren als für sich selbst bestehend erkennen, und so kann ein Anderer diese Methode umkehren und die Bibel in philosophischer Absicht brauchen, wodurch diese gar nicht angegriffen, sondern ihr nur ein größerer Umfang ihres Gebrauchs angewiesen wird“ (XIII 94). Darauf zielt zweifellos auch (und zunächst) Kants Verweis auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete Vernunft“ – und weist angesichts der „an die Vernunft anstoßenden Fragen“ dennoch darüber noch hinaus (s. u. V., 3.). 38 Auch dieser Bezug auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ weckt wohl Assoziationen zu Lessings Anmerkung: „Sie [die neutestamentlichen Schriften] haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand mehr als alle anderen Bücher beschäftiget; mehr als alle anderen Bücher erleuchtet, sollte es auch nur durch das Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug“ (G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts § 65).
2. Die „eine Religion“ und die „vielen historischen Glaubensarten“: Die „reine Vernunftreligion“ als deren „höchster Ausleger“
Es war der im Fortschritt „von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen“ – dem eigentlichen „Endzweck der Metaphysik“ – differenzierte unauflösliche Zusammenhang der Vernunftideen, der allein jenes unverzichtbare Fundament der Vernunftreligion bereitzustellen vermag. Von Kant auch als „natürliche Religion“ bezeichnet, stellt sie gewissermaßen eine kantische Version der „anima naturaliter religiosa“ dar, die in der angezeigten Weise in der „Geschichte der reinen Vernunft“ (und der darin in immer deutlicheren Konturen zutage tretenden Differenzierung und unauflöslichen Verbindung von „Theologie und Moral“ bzw. in den von diesen „Beziehungspunkte[n]“ „abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat“: II 709), ihre Entfaltung findet. Demnach bildet das in diesem durchlaufenen Prozess der Läuterung und Verknüpfung ausgebildete Gefüge der Ideen des „Übersinnlichen“ und ihr „vinculum“ zuletzt gewissermaßen den – erst selbst geschichtlich vermittelten, d. h. freigelegten – Grundriss einer „religio formaliter spectata“, während die bestimmten positiven Religionen in ihrer geschichtlich vorgegebenen konkreten „Wirklichkeit“ als „religio materialiter spectata“ anzusehen wären, den erstere freilich nicht einzuholen bzw. in ihrem „materialen“ Reichtum“ nicht auszuschöpfen vermag. In beiderlei Hinsicht gewinnt jener kantische Hinweis auf die „Unbegreiflichkeit der Wirklichkeit“ freilich noch einen besonderen Sinn: Bezieht sich dies mit Rücksicht auf die „religio formaliter spectata“ vorerst auf die innere Verfassung dieses „gefügten Gefüges“ der „praktischen Vernunft ideen“ selbst, so bleibt solche „Unbegreiflichkeit“ sodann ebenso bezüglich der unverfügbaren geschichtlich-inhaltlichen Aspekte zu bedenken. Anknüpfend an jene Überlegungen zum Verhältnis von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ sowie an die in Letzterem artikulierten unabweislichen Fragen – denen gegenüber nach Kant ein „Indifferentismus“ schon deshalb unmöglich ist, weil sie für menschliches Leben eine unbedingte Bedeutung haben –, stellt sich einer solchen Problemsicht zufolge die weitere Aufgabe, auch den konkreten geschichtlichen Konfigurationen jener unauflöslichen Verbindung der Vernunftideen nachzuspüren und sie dieserart auf einen in der „Geschichte der Vernunft“ zutage tretenden „Fortschritt der menschlichen Vernunft“ hin zu überprüfen. Wenn Metaphysik das „Übersinnliche“ zum Gegenstand und zu ihrem „Endzweck“ hat, so muss dieses auch in der konkret-geschichtlichen „Darstellung“ und „Erscheinung“ seiner Formationen, d. h. im „geschichtlichen Glauben“ der „historischen Religionen“, Thema sein, der, auch dieser kantischen Perspektive zufolge, in enger Kooperation von kritischer Religionsphi-
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losophie und Religionswissenschaft39 zu analysieren ist. Solches Vorhaben wird sich vorrangig davon leiten lassen, dass die systematische Entfaltung jenes durch die unauflöslich miteinander verschränkten Ideen ausgezeichneten Gefüges überdies erst die Ausbildung eines „Leitfadens apriori“ ermöglicht; dieser soll die vernunftgemäße Analyse jener Gegebenheiten fundieren, in denen sich dieses „Gefüge“ geschichtlich konkret entfaltet, d. h. sich „realisiert“:40 Schattenriss einer „philosophischen Geschichte“ sowie einer kantischen „philosophischen Religion“, die in der Folge auch herkunftsvergessene, ungeschichtliche Abstraktionen einer solcherart freilich sich selbst missverstehenden Vernunftreligion überwinden muss? Nun finden sich in der Tat – auch in terminologischer Hinsicht – recht aufschlussreiche Hinweise darauf, dass Kant das Programm einer „Religion innerhalb der bloßen Vernunft“ durchaus gleichsam als „metaphysische Anfangsgründe der Religionswissenschaft“ verstanden wissen wollte – diesbezügliche strukturelle Analogien sind jedenfalls nicht zu übersehen.41 Dies führt sodann dazu, auch das Verhältnis von „Kritischem und Doktrinalem“ in analoger Weise zu bestimmen (vgl. dazu seinen Hinweis auf den „Streit der Fakultäten“ und die dort erwähnten Unterschiede zwischen historischer Erkenntnis und der reinen Vernunfterkenntnis: VI 291). Jedenfalls erweist sich die Auffassung: „Es ist aber von der größten Wichtigkeit, zum Vorteil der Wissenschaften ungleichartige Prinzipien von einander zu scheiden, jede in ein besonderes System zu bringen, damit sie eine Wissenschaft ihrer eigenen Art ausmachen, um dadurch die Ungewißheit zu verhüten, die aus der Vermengung entspringt“ (V 18), in durchaus analoger Weise auch für seine Bestimmung des Verhältnisses zwischen „historischem Glauben“ und „Vernunftglauben“ als bestimmend. Dies ist auch unschwer in den angeführten Hinweisen auf die „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehren … die das Wesentliche einer Religion ausmachen, welches im Moralisch-Praktischen (dem, was wir tun sollen) besteht“ (VI 271), wiederzuerkennen, ebenso in dem Verweis auf das aus „zwei ungleichartigen Stücken zusammengesetzte“ Christentum (VI 301).42 Dies gilt sodann, lediglich ein wenig anders akzentuiert, 39 Auch in diesem Sinne bleibt wohl die Aufgabe zu konkretisieren bzw. zu erweitern, die Kant dem „Altertumsforscher“ zugewiesen hat, nämlich „auch an dem Leitfaden der Sprachverwandtschaft dem Ursprunge der itzigen Religionsbegriffe mancher Völker nachzugehen“ (VI 177, Anm.). Gerade diesbezüglich bieten die von R. Otto vorgelegten Studien über die geschichtliche Entwicklung und Läuterung der „Elemente“ des „Heiligen“ nach wie vor interessante Anknüpfungspunkte. 40 So ist wohl auch die diesbezügliche Anmerkung von Wimmer (2005d, 257) über die von Kant intendierte „rationale Rechtfertigung“ bzw. „vernunft-erzeugte Genesis“ der Religion zu verstehen. Auch Gerhardts Hinweis auf „Kant als Vorläufer einer Entmythologisierung der Überlieferung, die sich damit aber nicht auflöst, sondern dem Weg der theoretischen Selbstaufklärung auch praktische Hilfen gibt“ (Gerhardt 2002, 292), weist in solche Richtung. 41 Auch hinsichtlich dieser Religionsthematik darf man wohl Kants späte Selbstbeschreibung aufnehmen: „Es liegt aber in meinem Plane und so zu sagen in meinem natürlichen Beruf, mich, was Philosophie betrifft [!], innerhalb der Grenzen des apriori erkennbaren zu halten, das Feld desselben womöglich auszumessen und in einem Kreise (orbis), der einfach und einig ist, d. i. einem nicht willkürlich ausgedachten sondern durch reine Vernunft vorgezeichneten System darzustellen“ (AA XXI, 524). 42 Vgl. auch die seltsame (schiefe Trennungen zweifellos besonders begünstigende) Notiz aus den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“: „Die christliche Religion ist aus zwei heterogenen Theilen zusammengesetzt, deren jeder für sich bestehend den Anderen entbehren könnte. Der erste ist die reine Moral als Lehre Gott
2. Die eine Religion und die vielen Glaubensarten
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wohl auch für jene bekannte Bestimmung, der zufolge „in jeder Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntnis apriori befindet“ (V 15): Demgemäß wäre ihm zufolge auch in aller historischen Religion nur so viel „eigentliche Religion“, als in ihr Moral anzutreffen ist – eine Analogie, die durch jene Charakterisierung der Religion lediglich bestätigt wird: „Religion ist derjenige Glaube, der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt“ (VI 316).43 Vor diesem Hintergrund darf die in der Freilegung jener gefügten „Zweckverbindung“ geleistete Ausmessung des menschlichen Vernunfthorizontes als Kants Versuch angesehen werden, im Sinne der jenes Vernunftgefüge differenzierenden Ideen „Freiheit, Gott und Unsterblichkeit“ sichtbar zu machen, wie darin die moralische und religiöse Daseinsverfassung des Menschen fundiert ist. Dergestalt wird das Interesse an dem „Unbedingten“44 expliziert und jene „metaphysische Naturanlage“ erst konkretisiert; andererseits soll dies – dem Anspruch eines sich als rein philosophisch verstehenden Textes gemäß – einen vernünftigen Maßstab für das Verständnis der Dimension des Religiösen an die Hand geben, der als Richtmaß für die geschichtlich-„positiven“ Religionen taugt und somit nach-denkend auf die vorausgesetzte geschichtliche „Positivität“ der Religionen (im Sinne jenes kritischen Programms „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“) angewandt werden kann.45 Jedenfalls erweist sich jeder offenbarungspositivistisch-fideistische Rekurs auf „bloße Offenbarung“ für sich genommen als völlig unzureichend (weil Religion nach Kant in derlei Hinsicht wenigstens „reine Vernunftsache ist“), wäre dies doch stets dem Verdacht bzw. der „Kritik der Unvernunft in Religionen“46 ausgesetzt. Umgekehrt ist freilich ebenso die Frage unabweislich, was denn, auf die zu bedenkende Differenz und Einheit von Vernunft- und Offenbarungsreligion bezogen, der Hinweis auf
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zu dienen betrachtet, der Andere die biblische Religion, die im Glauben an Christum sein Verdienst und Mittleramt zwischen Gott und Menschen seine Wunder u. Genugtuung aus welchem Glauben denn auch die Sittlichkeit selbst wundertätig hervorgehen soll. – Beide zusammen schmelzen bringt ein bastardartiges Produkt hervor (religio hybrida). Denn es sind in der Tat zweierlei Religionen. Aber die eine zum Vehikel der Anderen doch ohne Glaubenszwang zu machen verletzt die Einheit nicht“ (AA XXIII, 432 f ). In diesem Sinne heißt es in Kants Vorarbeiten zu den „Prolegomena“: „[D]ie Kritik macht die Religion frei von der Spekulation so dass, indem sie sich davon los sagt sie den Gegner zugleich alles Anspruchs auf Einwürfe beraubt“ (AA XXIII, 59). Zugleich ist der daran geknüpfte Aufweis der „Religion“ als eine „reine Vernunftsache“ auch ein Schutzschild dafür, dass „Religion“ bzw. der „Glaube“ nicht lediglich in der Region der „Behaglichkeit“ und „Gemütlichkeit“ einen „Platz bekommt“. Vgl. dazu noch einmal die oben (I., Anm. 124 u. III., Anm. 277) angeführten Hinweise von Heimsoeth. In der Tat: „Nicht die Religion aus den Bedingungen der Vernunft abzuleiten, ist die Aufgabe, sondern die bereits so abgeleiteten Religionsbegriffe in den Begriffen der Offenbarung wiederzuerkennen und aufzuweisen … Es handelt sich nicht um eine Kritik der Vernunftreligion, sondern um eine Darlegung der aus der Offenbarung geschöpften Religionslehren, soweit die reine Vernunft ihnen nachzukommen vermag“ (Wundt 1924, 440 f ). „Wenn also der Sache nach die Vernunft der Maßstab für die Offenbarung ist, so ist das Verhältnis beider in Bezug auf unsere Vernunft doch gerade umgekehrt“ (ebd. 445). Vgl. dazu Dörflinger 2004. Dörflingers (2006, 160) Urteil trifft wohl in mehrfacher Hinsicht zu: „Seine [Kants] Aussagen zur Rolle der Offenbarungsreligionen, speziell der christlichen mit dem über ihren Vernunftkern hinausgehenden Offenbarungsanteil, im geschichtlichen Prozess fortgesetzter Rationalisierung im Sinne der moralischen Religion des bloßen guten Lebenswandels dokumentieren ein Spannungsverhältnis“; ähnlich hat dies vermutlich schon E. Troeltsch (1904) gesehen. B. Dörflinger danke ich für hilfreiche diesbezügliche Gespräche.
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„die Gegenstände der Erfahrung“ bzw. darauf besagt, dass ihr „Positives“ „gar nicht aufgelöset werden“ (III 222) und dieses ohne die Vernunftprinzipien jedoch auch nicht „buchstabiert“ und vernommen werden kann. Die unauflösliche Korrelation dieser Bestimmungen des „Übersinnlichen“ ist an diesem Leitfaden sodann in einer Besinnung auf den in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ erkennbaren Fortschritt auszuweisen und vermag in einer solchen religionsphilosophischen Situierung freilich auch jedes bloß äußerlich bleibende Verhältnis von „Offenbarung und Vernunftreligion“ zu vermeiden (wie dieses zweifellos in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Religionsschrift“ noch bestimmend ist). Bei genauer Beachtung dieses Voraussetzungsverhältnisses und jener in der Geschichte zutage tretenden Verknüpfung von „Theologie und Moral“ wollte es Kant – weil ohnehin lediglich dem kritischen Ertrag aus der „Geschichte der reinen Vernunft“ angemessen – auch „keineswegs verwerflich“ erscheinen, „zu sagen: dass ein jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen Begriffen … sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren. Denn auf welcherlei Art auch ein Wesen als Gott von einem anderen bekannt gemacht und beschrieben worden, ja ihm ein solches auch (wenn das möglich ist) selbst erscheinen möchte, so muss er diese Vorstellung doch allererst mit seinem Ideal zusammen halten, um zu urteilen, ob er befugt sei, es für eine Gottheit zu halten und zu verehren. Aus bloßer [!] Offenbarung, ohne jenen Begriff vorher in seiner Reinigkeit, als Probierstein, zum Grunde zu legen, kann es also keine Religion geben und alle Gottesverehrung würde Idololatrie sein“ (IV 839 f, Anm.; vgl. III 391, Anm.)47 – müsste eine solche doch unweigerlich zum bloßen „Idol“ von Höhlenbewohnern verkommen (III 391, Anm.).48 Darauf zielt ja auch jener beachtenswerte Hinweis Kants ab, Metaphysik sei „nicht die Mutter der Religion, sondern ihre Schutzwehr“;49 dies berücksichtigt auch bezüglich der „Geschichte der reinen Vernunft“ die geschichtlich-genealogischen Prioritäten (die in jener Unterscheidung zwischen „Vernunftgebrauch in concreto“ und „in abstracto“ ja auch anklingen, s. o. I., 1.): Als solche unentbehrliche „Schutzwehr“ gegenüber den „verschiedene(n) Glaubensarten an göttliche Offenbarung und deren statutarische Lehren, 47 Kants berühmtes Diktum, wonach „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“ (II 23), hätte so auch in dem späten Hinweis noch eine religionsphilosophische Aktualisierung gefunden, wonach es ihm „ganz unbedenklich erscheint, zu sagen, dass die Vernunft erst den Begriff von Gott schafft“, bzw. in der Bemerkung, dass den „Begriff von Gott … uns selbst zu machen die praktische reine Vernunft nötigt“ (III 391); die „rationale Theologie“ muss deshalb „der offenbarten zum criterio und Probierstein dienen“ (AA XXIII, 1323). 48 In diesem besonderen thematischen Umkreis steht ja auch Kants Antwort bzw. unüberhörbar ironischer Kommentar zu dem theologischen Anspruch: „Dass ein Gott sei, beweiset der biblische Theolog daraus, dass er in der Bibel geredet hat, worin diese auch von seiner Natur (selbst bis dahin, wo die Vernunft mit der Schrift nicht Schritt halten kann, z. B. vom unerreichbaren Geheimnis seiner dreifachen Persönlichkeit) spricht“ (VI 285). – Zu seiner negativen Beantwortung der Frage: „Gibt es auch Gottesgelehrte der natürlichen Religion?“ bzw. in der „philosophischen Theologie“ vgl. auch die Reflexionen 6227–6230: AA XVIII, 516 f. 49 Vgl. AA XVII, 498; AA XVIII, 325; vgl. auch AA XXIII, 95; 20; 24. Vgl. II 707 f: „Aus dem ganzen Verlauf unserer Kritik wird man sich hinlänglich überzeugt haben: daß, wenn gleich Metaphysik nicht die Grundveste der Religion sein kann, so müsse sie doch jederzeit als die Schutzwehr derselben stehen bleiben, und daß die menschliche Vernunft, welche schon durch die Richtung ihrer Natur dialektisch ist, einer solchen Wissenschaft niemals entbehren könne, die sie zügelt, und, durch ein szientifisches und völlig einleuchtendes Selbsterkenntnis, die Verwüstungen abhält, welche eine gesetzlose spekulative Vernunft sonst ganz unfehlbar, in Moral sowohl als Religion, anrichten würde.“
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die nicht aus der Vernunft entspringen können“ (VI 301), verfolgt solche „kritische Metaphysik“ demzufolge primär die Aufgabe, den über diesen Weg der Vernunftkritik eröffneten „praktisch-dogmatischen Überstieg zum Übersinnlichen“ sodann in seiner geschichtlichen Entwicklung, Situierung und Konkretheit nach-denkend aufzunehmen. Jene von Kant für die Vernunftreligion reklamierte Schutzwehr-Funktion impliziert freilich dies, dass die darin geltend gemachten „Vernunft-Bedingungen“ keinesfalls mit der geschichtlich konkreten Wirklichkeit der Religionen schlechthin gleichgesetzt bzw. verwechselt werden dürfen. Wie oben gezeigt, sind die einzelnen Elemente jenes „Gerüsts“ und deren moraltheologisches Gefüge vielmehr selbst als solche zu begreifen, die „in abstracto“ aus den konkreten geschichtlichen Religionen hervorgegangen sind, und die nunmehr, gemäß dem „Vernunftbegriff in abstracto“ gereinigt, als „Richtmaß“ „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ fungieren. Zugleich bestätigt sich erneut, dass Kants philosophische Begründung der Vernunftreligion – der „einen Religion“ – sich gleichermaßen auch als Kritik der Religion, d. h. der Ansprüche der „historischen Glaubensarten“, versteht.50 Zu jenem „Fortschritt der Metaphysik“, der schließlich in diesen „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ einmünden soll, gehört jedoch nicht allein die Ausbildung der die Vernunftreligion konstituierenden „Vernunftideen“, sondern ebenso die mit der recht verstandenen Selbstbegrenzung der Vernunft verbundene Unterscheidung zwischen einer „Religion innerhalb“ und einer „Religion aus bloßer Vernunft“. Daraus mag auch noch einmal deutlich werden, dass Kants „Religionsschrift“ keineswegs einfachhin mit seiner Religionsphilosophie gleichzusetzen ist, sondern Letztere vielmehr schon voraussetzt; die Religionsschrift bringt diese Religionsphilosophie bzw. die darin begründete „Vernunftreligion“ exemplarisch zur Anwendung anhand seiner Interpretation grundlegender Lehrstücke (vor allem) des Christentums. Dass Kants Kennzeichnung der „natürlichen Religion“ als einer solchen „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ in dem zweifachen Sinn einer „Selbstbegrenzung der Vernunft“ wie auch als deren Verwiesenheit auf die konkreten geschichtlichen Gestalten verstanden werden muss, wird sich dabei in unterschiedlichen Nuancierungen noch als höchst bedeutsam erweisen. Dabei wird sich nicht nur zeigen, dass diese „Selbstbegrenzung“ ja nicht allein „Vernunftwidriges“ absondert, sondern so auch das über jene „praktischen Vernunftideen“ noch hinausweisende „Überschießende“ – d. i. das weder durch theoretische noch praktische Vernunftansprüche Einhol- bzw. Reduzierbare und doch Unverzichtbare – sichtbar macht und es gleichermaßen als auslegungsbedürftig und als auslegungsfähig erweist. Außerdem soll deutlich werden, dass der im dritten „Stadium der neueren Metaphysik“ vollzogene „praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen“ zugleich – freilich „sich auf der Grenze haltend“ – einen Ausblick auf „moralisch transzendente Ideen“ (vgl. IV 704, Anm.) eröffnet und zugleich auf einer „Selbstbegrenzung“ gegenüber den darin artikulierten Ansprüchen insistiert. Es soll sich noch zeigen: Letztere werden in moralisch-„authentischer Auslegung“ zwar „vernehmbar“, indes erzeugt solche „Auslegung“ das darin zutage tretende moralisch „Überschießende“ nicht. 50 Dies klingt auch an in Kants Hinweis: „Ob Vernunft und Geschichte eine Religion begründen können. Nein! aber wohl eine Kirche, worin Religion und Kultur einander unterstützen“ (AA XIX, 642).
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V. Teil: Religionsphilosophische Grenzgänge im Ausgang von Kant
Eine von Kant selbst begünstigte analoge Begründungsperspektive wäre mithin dahingehend zu bestimmen: So wie sich die Idee einer „zweckmäßigen Einheit“ als eine unabdingbare Voraussetzung der „forschenden Vernunft“ im Bereich der systematischen Naturerkenntnis angesichts der konkreten Phänomene erwiesen hat, weil wir ohne sie „keine Schule für dieselbe haben würden und keine Kultur durch Gegenstände, welche den Stoff zu solchen Begriffen darböten“ (II 685), obgleich diese die konkrete Erfahrungs-Wirklichkeit nicht einzuholen vermag, so sähe sich bezüglich des rechten Verhältnisses zwischen den „historischen Religionen“ und der „Vernunftreligion“, d. h. mit Rücksicht auf die geschichtliche Konkretheit der Religionen, auch die „fragende Vernunft“ im Prozess ihrer Entwicklung und Kultivierung gleichsam auf die für ihre Ausbildung unumgängliche „Schule“ verwiesen. Lässt sich, genauer besehen, eine ähnliche Gedankenfigur also nicht auch in dem Konzept einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und dem unentbehrlichen Bezug auf den „Stoff zu ihren Begriffen“ rekonstruieren? Diese kantische Gedankenfigur spiegelt sich offensichtlich in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner „Religionsschrift“ wider: „Da Offenbarung doch auch reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, so werde ich jene als eine weitere Sphäre des Glaubens, welche die letztere, als eine engere, in sich beschließt (nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als konzentrische Kreise), betrachten können, innerhalb deren letzterem der Philosoph sich als reiner Vernunftlehrer (aus bloßen Prinzipien apriori) halten, hiebei also von aller Erfahrung [!] abstrahieren muss. Aus diesem Standpunkte kann ich nun auch den zweiten Versuch machen, nämlich von irgend einer dafür gehaltenen Offenbarung auszugehen, und, indem ich von der reinen Vernunftreligion (so fern sie ein für sich bestehendes System ausmacht) abstrahiere, die Offenbarung, als historisches System, an moralische Begriffe bloß fragmentarisch [!] halten und sehen, ob dieses nicht zu demselben reinen Vernunftsystem der Religion zurück führe, welches zwar nicht in theoretischer Absicht …, aber doch in moralisch-praktischer Absicht selbständig und für eigentliche Religion, die als Vernunftbegriff apriori (der nach Weglassung [!] alles Empirischen übrig bleibt), nur in dieser Beziehung statt findet, hinreichend sei“ (IV 659).51 Auch in diesem Kontext ist es jedenfalls beachtenswert, dass Kant in unmittelbarem Anschluss an den Aufweis der „zweckmäßigen Einheit der Naturerscheinungen“ als „Schule“ für die „forschende Vernunft“ eine denkwürdige analoge Perspektive bezüglich der „Geschichte der Vernunft“ anführt: Sie soll es offenbar erlauben, dass darin auch „praktische Vernunft“ in ihren Prinzipien – eben im Sinne eines Prozesses der geschichtlichen Kultivierung als ihrer „Bildungsgeschichte“ – gewissermaßen erst „zu sich kommend“ begriffen werden kann.52 Infolgedessen erwachen aber auch erst „geläuterte Reli51 Vgl. auch Kants späte Klarstellung: „Es war eine Würdigung der Vernunftreligion, sie durch die biblische Lehre zu bestätigen oder als in ihr enthalten vorzustellen. – Will man dieses eine Abwürdigung des Christentums nennen, so muss man sehr verächtlich von der natürlichen denken: Geschieht dieses nun nicht, so dient die natürliche Religion zur Würdigung des Christentums“ (AA XIII, 377). 52 Was Habermas als „Hegels These“ verteidigen möchte, ist im Kern zweifellos ein kantisches Motiv (das auch in Kants Rekurs auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ sichtbar wird) – nämlich: „dass die großen Religionen zur Geschichte der Vernunft selbst gehören. Das nachmetaphysische Denken kann sich selbst nicht verstehen, wenn es nicht die religiösen Traditionen
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gionsbegriffe“ (VI 320),53 deren kritische Selbstreflexion und Explikation erst zu leisten ist – und zwar in „aneignender“ Transformation, die auch allen „assimilierenden Zwang“ vermeiden lässt. Darin wäre der „Leitfaden“ bestimmend, dass die konkrete Gestalt-Werdung des „Übersinnlichen“ in jenem in sich differenzierten und zweckmäßigen IdeenGefüge selbst verankert ist; diese in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ durchlaufene „Bildungsgeschichte“ des Menschengeschlechts gewinnt schließlich in bzw. als „natürliche Religion“ erst ihre Vollendung. Für das als „Copula von Endlichem und Unendlichem“ ausgezeichnete „vernünftige Weltwesen“ konstituiert und formiert sich in dem dergestalt resultierenden inneren Gefüge jener „reinen Vernunftideen“ das Für-unsSein Gottes in je geschichtlich konkreter Vermittlung. Dies bedeutet freilich auch, dass jenes Gefüge selbst keineswegs an die Stelle jener geschichtlichen Positivität treten, d. h. diese ersetzen könnte,54 gleichwohl in diesem (und durch diesen) Prozess dieser immanenten „Zweckverbindung“ immer deutlicher bewusst wird. Anknüpfend an frühere Überlegungen legt sich folgende Gedankenfigur nahe: Nach Kant „wird“ Gott für „vernünftige, aber endliche Wesen“ in deren konkret geschichtlichen Sinn- und Verstehenshorizonten „offenbar“, sofern diese als moralische Wesen sich in ihrer Lebensorientierung hoffend und glaubend zu dieser „Idee“ verhalten (IV 628) – also ganz im Sinne jener „Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft)“, weil nur im Ausgang von diesem „in uns“ auch jener „Gegenstand in der Idee“ konkret bestimmbar wird, wofür freilich jener „metaphysische Gottesbegriff“ als grenzbegrifflich gedachtes („ontotheologisches“) „Substrat aller Theologie“ vorausgesetzt bleibt. Dies erweist sich auch als eine unentbehrliche Voraussetzung für eine kritische – und doch widersprüchlich bleibende? – Konzeption von „Offenbarung“ „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, die in dem kantischen Verweis auf den notwendigen „Begriff [von Gott], der aus unserer Vernunft hervorgehen …, von uns selbst gemacht sein“ müsse (III 391, Anm.), anklingt. „Offenbarung“ wäre, einer solchen Konzeption der „Vernunftreligion“ zufolge, lediglich als die im Sinne einer „regulativen Idee“ gedachte Seite an Seite mit der Metaphysik in die eigene Genealogie einbezieht“ (so Habermas in der Einleitung zu 2005, 12 f ). 53 In dieser Hinsicht kann Kant gegen den von Ch. Danz (im Anschluss an Troeltsch) vorgebrachten Einwand verteidigt werden, „dass Kant die geschichtliche Bedingtheit seiner eigenen normativen Religionstheorie nicht reflektiert. Auch Kants normativer Religionsbegriff sowie die von ihm in Anspruch genommenen Denkformen sind ein Resultat der geschichtlichen Selbsterfassung der Vernunft“ (Danz 2005, 76). Ist nicht genau dies die Auffassung Kants? 54 Auch als motivlicher Hintergrund der kantischen Religionsphilosophie kann offenbar Habermas’ Hinweis verstanden werden: „Ohne den historischen Vorschuss, den die positive Religion mit ihrem unsere Einbildungskraft stimulierenden Bilderschatz liefert, fehlte der praktischen Vernunft die epistemische Anregung zu Postulaten, mit denen sie ein bereits religiös artikuliertes Bedürfnis in den Horizont vernünftiger Überlegungen einzuholen versucht. Die praktische Vernunft findet in religiösen Überlieferungen etwas vor, das einen als ‚Vernunftbedürfnis‘ formulierten Mangel zu kompensieren verspricht – wenn es denn gelingt, das historisch Vorgefundene nach eigenen rationalen Maßstäben anzueignen“ (Habermas 2005, 231). – Auch in dieser Akzentuierung ist Troeltschs Ansicht aufzunehmen, die kantische Religionsphilosophie sei „zwar im Prinzip von der Geschichte und der psychologischen Wirklichkeit der Religion ganz unabhängig. Ihr Grundstock liegt daher auch in den immer neu aufgenommenen Darstellungen über die reinen Religionsideen. Aber sie hat positive und negative Beziehungen zur Religionsgeschichte, die an sich ebenfalls eine Darstellung fordern“ (Troeltsch 1904, 56).
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Einheit jener Formationen zu verstehen, wie der menschliche Geist sich zu jenem als „Gegenstand in der Idee“ gedachten „Etwas“ verhält, das in den konkreten „Prädikaten“ in der (einheits- und kontinuitäts-orientierten) Vernunftidee der Religionsgeschichte je selbst schon eine „symbolische Darstellung“ gefunden hat. Jene „Gottesidee“ findet so ihre geschichtliche „Realisierung“ im Verhältnis des menschlichen Geistes zu dieser Idee des „Absoluten“; die Geschichte dieses „Verhältnisses“, in der diese Gottesidee in zunehmender kritischer – spekulativer und moralischer – „Läuterung“ in „Erscheinung tritt“, d. h. bestimmtes „Antlitz“ gewinnt, worin dieses „Erscheinen“, in kritischer Behutsamkeit, d. h. ohne Hypostasierungen und damit einhergehende „Subreptionen“ doch nur als „Erscheinen für“ und durch solche „Hin-Sichten“ gedacht werden kann. Es ist ja ein entscheidender Punkt seiner im engeren Sinne so zu verstehenden kritischen Religionsphilosophie, dass ohne jene moralisch-praktische Verankerung ein sich „offenbarendes“ „Übersinnliches außer uns“ in seinem Anspruch an den Menschen auch gar nicht als solches „vernehmbar“ wäre; vielmehr wäre hierfür eine denkbare Korrelation der Ideen des „Übersinnlichen außer uns“ und des („Idee und Realität“ vereinenden) „Übersinnlichen in uns“ vorausgesetzt, die jedoch nur in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ sich „in concreto“ entfaltet und als solche auch zu reflexivem Bewusstsein „in abstracto“ gelangt.
2.1. „Innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ – nicht: „aus bloßer Vernunft“ Vorweg bleibt darauf zu achten, dass Kant sein Vorhaben einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“55 ausdrücklich von einer „Religion aus bloßer Vernunft“ sowie von daran geknüpften überzogenen Ansprüchen unterschieden wissen wollte, wie schon sein – allerdings häufig ignorierter – Hinweis auf die absichtliche „Betitelung“ seiner „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (vgl. die Vorrede zum „Streit der Fakultäten“: VI 267 ff ) verdeutlicht.56 Der genaue Titel der „Religionsschrift“ sei jedenfalls in der behutsamen Absicht gewählt, „damit man jene Abhandlung nicht dahin deutete: als sollte sie die Religion aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung) bedeuten. Denn das wäre zu viel Anmaßung gewesen; weil es doch sein konnte, dass die Lehren derselben von übernatürlich inspirierten Männern herrührten: sondern dass ich nur dasjenige, was im Text der für geof55 Diese Bestimmung „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ verstand Kant offensichtlich analog zur „Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (IV 479) und deren „apriorischen Prinzipien“; während diese sich vornehmlich an der Idee einer „Verfassung von der größten menschlichen Freiheit …“ orientiert, wäre sodann, analog dazu, die „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ jene, die an dem moralischen Vernunftglauben Maß nimmt, während das Andere „schon von selbst folgen“ werde. Es wird sich auch im Blick auf religionsgeschichtliche Bezüge bei Kant bestätigen: Keineswegs lässt sich Kant mit diesem „Innerhalb-der-bloßen Vernunft“ von der Vorstellung eines „größten gemeinsamen Nenners“ im Feld des „Übersinnlichen“ leiten, vielmehr geht es allein um die in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ sich zunehmend ausbildenden und in der „Geschichte der reinen Vernunft“ reflektierten „universalistischen Prinzipien“ einer „Vernunftreligion“. 56 Vgl. AA XXIII, 95.
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fenbart geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann, hier in einem Zusammenhange vorstellig machen wollte“ (VI 267 f, Anm.; vgl. IV 629).57 Dieses erst in der Vorrede zum „Streit der Fakultäten“ (VI 267, Anm.) verdeutlichte Anliegen, dass seinem Selbstverständnis zufolge das leitende Verständnis einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von dem Anspruch einer „Religion aus bloßer Vernunft“ genau abgegrenzt bleiben solle und nur so in angemessener Weise auch zu den geschichtlich-positiven Religionen sich ins Verhältnis zu setzen erlaube, darf gleichermaßen als Indiz dafür gewertet werden, dass diese von Kant in Aussicht genommene Perspektive einer „Geschichte der reinen Vernunft“ ebenso eine kritische Verhältnisbestimmung von Philosophie und Religion impliziert und in solcher Hinsicht auch eine recht verstandene Selbstbegrenzung der Philosophie (als „Schutzwehr“) gegenüber der Religion anzeigt (vgl. dazu u. V., 3.3.2.). Jenes „Innerhalb-der-Grenzen-der-bloßenVernunft“ setzt zwar die geschichtlichen Religionen als Basis voraus; gleichwohl enthält es durchaus Rechtfertigungsansprüche, ebenso jedoch – im Sinne dessen, dass Religion „reine Vernunftsache“ ist (VI 338), und im Blick auf den Ort der Religion im „System der Vernunft“ – einen „Begründungsanspruch“; die Kennzeichnung der „Religion“ als „reine Vernunftsache“ impliziert freilich gleichermaßen eine unvermeidliche Zumutung und Provokation gegenüber den „historischen Glaubensarten“. Das diesbezüglich leitende Interesse einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ orientiert sich vornehmlich an der Frage (gleichwohl auf das von Kant favorisierte Christentum konzentriert: s. u. V., 2.1.1.), welche Inhalte der positiven Religionen schon „vernunft-immanent“ in praktischer Hinsicht zu begreifen und (in einer „moralischen Auslegung“) zu rechtfertigen wären; denn lediglich eine in den Moralprinzipien verankerte authentische Auslegung sei in der Lage, auch die Verbindlichkeit der den Religionen immanenten Sinnansprüche auszuweisen.58 Der gegenüber den geschichtlich positiven Religionen erhobene Anspruch lässt freilich erkennen, dass schon solches „Heraussuchen“ die Voraussetzung der uneinholbaren geschichtlich-konkreten Wirklichkeit als Ganzer impliziert; ihr gegenüber erfolgt die im Sinne des kantischen Projekts „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ unternommene philosophische Reflexion stets nachträglich – ein Sachverhalt, der in solcher Hinsicht auch das Missverständliche in dem von Kant angebotenen Bild von den „konzentrischen Kreisen“ berührt (s. u. V., 57 Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Kant in der von ihm in den Themen des „reflektierenden Glaubens“ (im Blick auf das „moralische Unvermögen“) vorgenommenen „Selbstbegrenzung der praktischen Vernunft“ sich damit doch nicht begnügt; es wurde schon erwähnt: gewiss nur in grenzbegrifflicher Absicht lässt er die Vernunft, im Blick auf an sie „anstoßende“ Themen, sogar darauf „rechnen“ (heißt wohl: „hoffen“), „dass, wenn in dem unerforschlichen Felde des Übersinnlichen noch etwas mehr ist, als sie sich verständlich machen kann, was aber doch zu Ergänzung des moralischen Unvermögens notwendig wäre, dieses ihrem guten Willen auch unerkannt zu statten kommen werde“ (IV 704, Anm.); dass dieses „etwas mehr“ nicht von der moralischen Anstrengung und Bewährung dispensieren kann, versteht sich nach Kant freilich von selbst. 58 Vgl. auch den Brief an F. Th. De la Garde (v. 24. XI. 1794, in: AA XI, 531), in dem Kant in diesem Sinne betont, dass „(s)ein Thema eigentlich Metaphysik in der weitesten Bedeutung ist und, als solche, Theologie, Moral (mit ihr also Religion), imgleichen Naturrecht (und mit ihm Staats- und Völkerrecht), obzwar nur nach dem, was bloß die Vernunft von ihnen zu sagen hat, befasst“.
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2.1.3.). Darin tritt, genauer besehen, ja nichts anderes als das grundsätzliche Problem der Vermittlung – Einheit und Differenz – der spekulativ-abstrakten Gottesidee und der geschichtlich-konkreten religiösen Vorstellungen und Symbole zutage; auch in solcher Hinsicht ist übrigens beachtenswert, dass Kant die (heuristisch-„regulative“) „Idee einer philosophischen Schriftauslegung“ vor Augen hatte und diese auch gegen die „vereinigte Stimme der biblischen Theologen“ verteidigen wollte (VI 310). Im Sinne der diese „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ kennzeichnenden – und sie auch auszeichnenden – „authentischen Auslegung“ ist wohl der diesbezüglich recht plausible Interpretationsvorschlag zu verstehen: „Die authentische Auslegung sucht also nicht Authentizität, im Sinne einer Wiederbelebung einer ursprünglichen oder verlorenen Bedeutung, wie sie manche in der Meinung des Verfassers oder in der Absicht einer Offenbarung zu finden hoffen. ‚Authentisch‘ ist nur die Auslegung, die eine Interpretation der christlichen oder anderer Schriften erzeugt, ohne sich auf ‚fremde‘ Autoritäten zu berufen und ohne anderen den Zugang zu der Auslegung zu behindern, indem sie irgendeine willkürliche, ‚gesetzlose‘ Hermeneutik ins Spiel bringt. Kant verlangt deshalb, dass Vernunftreligion sich mit der Auslegung der vorhandenen und akzeptierten Glaubenstraditionen beschäftigt. Obwohl eine Religion innerhalb der bloßen Vernunft die doktrinale Auslegung nicht billigen kann, darf sie deswegen nicht die Ansprüche des Volksglaubens vernachlässigen. Diese Glaubenstraditionen bilden nämlich Bedingungen für den Zugang zum Kern der Vernunftreligion ‚aller unserer Pflichten überhaupt als göttlicher Gebote‘… Deswegen verlangt auch Vernunftreligion Auslegung; deswegen besteht sie nicht nur aus Kanon; deswegen ist der Volksglaube als das ‚Vehikel oder Organon‘ der Vernunftreligion auszulegen.“59 Die unvermeidliche Kehrseite dieser positiven Aufgabe einer „authentischen Auslegung“ ist freilich deren unbestechliches Urteil dann, wenn etwa „z. B. im theologischen Fache … buchstäblich ‚Glauben‘, ohne zu untersuchen (selbst ohne einmal recht zu verstehen), was geglaubt werden soll, für sich heilbringend sei“ (VI 295), gefordert wird, obgleich ein solcher „Kirchenglaube“ in Wahrheit doch „keiner allgemeinen überzeugenden Mitteilung fähig“ sei (IV 770). Damit hängt das von Kant so entschieden herausgestellte Grundübel bzw. die Gefahr aufs Engste zusammen, die den „historischen Glaubensarten“ latent innewohnt – dass nämlich die zwar notwendigen „Vehikel der Introduktion“ der „reinste(n) moralische(n) Religionslehre“ sich selbst eben nicht lediglich als „Medium“ derselben verstehen und sich (im buchstäblichen Sinne) nicht „relativieren“, sondern sich in ihrer geschichtlichen Partikularität vielmehr zur exklusiven Hauptsache verkehren, statt ein reflexives Bewusstsein über diese je eigene Partikularität – und eine daran geknüpfte „dezentrierende“ Selbstrelativierung und Horizont-Erweiterung auszubilden. Erst dies ermögliche die im „allmähliche(n) Übergang des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des 59 O’Neill 1992, 110. – Freilich in dem Sinne, dass die Bedingung des „ewigen Lebens“ „keine andere als die moralische Besserung des Menschen“ ist, weshalb ein solches „ewiges Leben“ auch „kein Mensch in irgend einer Schrift finden“ könne, „als wenn er sie hineinlegt, weil die dazu erforderlichen Begriffe und Grundsätze eigentlich nicht von irgend einem andern gelernt, sondern nur bei Veranlassung eines Vortrages aus der eigenen Vernunft des Lehrers entwickelt werden müssen“ (VI 301 f ).
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reinen Religionsglaubens“ (IV 777) intendierte „Einheit und Allgemeinheit“ und allein in bzw. durch diese „Vernunftreligion“ könne Gott auch „alles in allem“ sein (IV 785); ebendies wollte Kant der „christlichen Religion“ als „natürlicher Religion“ für die Zukunft offenbar in besonderer Weise als eine noch einzulösende Aufgabe zumuten. Wohl in diesem Sinne darf sein Hinweis auf die „wahre erste Absicht“ verstanden werden, die „keine andere als die gewesen sei, einen reinen Religionsglauben, über welchen es keine streitenden Meinungen geben kann, einzuführen, alles jenes Gewühl aber, wodurch das menschliche Geschlecht zerrüttet ward und noch entzweiet wird, bloß davon herrühre, dass durch einen schlimmen Hang der menschlichen Natur, was beim Anfange zur Introduktion des letztern dienen sollte, nämlich die an den alten Geschichtsglauben gewöhnte Nation durch ihre eigenen Vorurteile für die neue zu gewinnen, in der Folge zum Fundament einer allgemeinen Weltreligion gemacht worden“ (IV 797). Dass Gott „alles in allem“ sei, besagt also zunächst, dass die „historischen Glaubensarten“ sich ihrer Partikularität bewusst werden, das heißt diese anerkennend relativieren müssen und sodann, buchstäblich „zu guter Letzt“ – so Kants nicht mehr nur „regulative“, sondern gleichsam „eschatologische Perspektive“ –, vollends „die Form einer Kirche selbst aufgelöset wird“ (IV 802) und jene darin zugleich auch erst ihre „Erfüllung“ finden. Bemessen werden diese geschichtlichen „Glaubensarten“ demzufolge daran, was sie zu ihrer „Selbstrelativierung“ – im Sinne der zu überwindenden Partikularität und ihrer verständigungs-orientierten Beziehung untereinander und der daraus resultierenden Wirklichkeits-Erschließung jenseits bloßer „Selbstbehauptungsinteressen“ – beigetragen haben, ohne derart den Wahrheitsanspruch der Religionen preiszugeben; erst dies eröffnet auch ein angemessenes Verständnis von „Toleranz“ und vermag Religion zugleich vor „kulturrelativistischen“ Aushöhlungen und vor „psychologistischen“ Verkürzungen zu bewahren.60 So eindeutig diese Sätze das Anliegen Kants auch formulieren, so lässt seine Argumentation bei genauerem Hinsehen indes ein eigentümliches Schwanken erkennen: Zwar soll jene dem Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (eben im Sinne einer kritischen Kanon-Funktion) gestellte Aufgabe, „die Vernunftgründe der Gesetzgebung herauszusuchen“, die der zwar aus „einer historischen Erkenntnis (als Offenbarung)“ entnommenen, aber doch „rational“ auslegbaren Lehre innewohnen (VI 296), eine auf „Religion aus bloßer Vernunft“ hinauslaufende Lesart nach Kant verbieten. Er selbst läuft jedoch offenbar wiederholt Gefahr, jenen von ihm selbst geltend gemachten Unterschied zwischen „Religion innerhalb …“ und „Religion aus bloßer Vernunft“ wenigstens zu relativieren – etwa durch Bemerkungen von der Art, „dass der Moralischgläubige doch auch für den Geschichtsglauben offen [!] ist, sofern er ihn zur Belebung [!] seiner reinen Religionsgesinnung zuträglich findet, welcher Glaube auf diese Art allein einen reinen moralischen Wert hat, weil er frei und durch keine Bedrohung (wobei er nie aufrichtig sein kann) abgedrungen ist“ (IV 855). Solche Einschätzungen dürften, jenseits bloß „motivationaler“ Rücksichtnahmen, den kritischen Ertrag seiner Unterscheidung zwischen „innerhalb der bloßen Vernunft“ und 60 Und allein dies wäre nach Kant offenbar der einzige vor „Vermessenheit“ bewahrende Maßstab, an denen die einzelnen historischen Religionen „nach tausend, tausend Jahren“ in ihren Ansprüchen auf die Echtheit des Ringes gemäß der Lessing’schen „Ringparabel“ bemessen werden.
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„aus bloßer Vernunft“ selbst wiederum unterlaufen; ungeachtet aller vermeintlichen Zugeständnisse an das Christentum als eine nicht „naturalistische“, aber doch eine „natürliche Religion“ (VI 311), begünstigen solche Sichtweisen offensichtlich das reduktionistische Missverständnis, „dass die Bibel … ein übernatürliches Mittel der Introduktion [!] der letzteren [d. i. eben als ‚Vehikel‘ der ‚natürlichen‘] und der Stiftung einer sie öffentlich lehrenden und bekennenden Kirche sein möge“ (VI 311), also das, „was zur Introduktion einer Religion gehört, … nicht selbst Religionsvorschrift für alle Zeiten“ ist.61 Mag der gegen Kant nicht selten erhobene Vorwurf, dass seine Religionsphilosophie – und nicht zuletzt sein Verständnis der (christlichen) Religion und die Bestimmung des Vernunftglaubens62 – auf einen reduktionistischen Kurzschluss der Dimension des Religiösen hinauslaufe, in mancherlei Hinsicht auch nicht ganz unberechtigt sein, so darf dies jedoch keinesfalls seine ausdrückliche Zurückweisung des anmaßenden Programms einer „Religion aus bloßer Vernunft“ (vgl. VI 267 f, Anm.) übersehen lassen. Der Umstand, dass Kant einschlägige Nivellierungen selbst bisweilen begünstigt hat, ändert jedenfalls nichts daran, dass sich das der kantischen Konzeption immanente Potenzial darauf nicht einfachhin reduzieren lässt und wenigstens die Unverzichtbarkeit weiterer Differenzierungen vor Augen führt. Dies erlaubt es sodann, den von ihm beanspruchten Nachweis, dass und inwiefern Moral und Religion also „unzertrennlich verbunden sind“, noch mit wichtigen Aspekten zu ergänzen, und verleiht so auch jener Bemerkung über das der „Vernunft fremde Angebot“ einen weiteren wichtigen Akzent. Ein solches der Vernunft zwar durchaus „fremdes Angebot“ bedeutet freilich keinesfalls eine bloße Suspendierung ihrer Maßstäbe und Ansprüche, sondern ist eher, gemäß jener „docta ignorantia“, als „Ergänzung“ derselben wahrzunehmen; indes, seine motivierende Kraft ermöglicht für eine „Vernunft, Herz und Gewissen“ umgreifende „Lebensgeschichte“ allein jene lebenstragende, innere „Beglaubigung“, die ein bloß „historischer Glaube“ niemals zu bieten vermag. Es wird sich noch zeigen, wie diese das Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ betreffenden thematischen Zusammenhänge auf weitere Fragen führen; desgleichen werden sich – nicht zuletzt im Blick auf jenes Bild von den „konzentrischen Kreisen“ – kritische Rückfragen ergeben (s. u. V., 2.1.3.). Anknüpfend an jenes geschichtlich explizierte Gefüge der Vernunftideen erlaubt es Kants Bestimmung der Vernunft als „Vermögen des Unbedingten“ – jedenfalls beim Wort genommen –, seine programmatische Kennzeichnung der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ gleichsam als Ausweis und Anerkennung der „spezifischen Differenz“ – und zwar als „Würdigung der natürlichen Religion“ (VI 270) sowie auch als ausdrückliche Selbstbescheidung der reinen Vernunft – aufzunehmen. Eine solche kritische Problemsicht legt (neben der schon zitierten Vorrede zur zweiten Auflage der „Religionsschrift“: IV 659) 61 Refl. 6195, AA XVIII, 486. Jene schon erwähnte eigentümliche Spannung in den einschlägigen Äußerungen Kants zeigt sich auch darin, dass er zugleich die „Keckheit der Kraftgenies“ zurückweist, „welche diesem Leitbande des Kirchenglaubens sich jetzt schon entwachsen wähnen“ und dennoch zugleich betont: „Dass aber ein Geschichtsglaube Pflicht sei, und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube“ (VI 335). 62 Diese „praktische Überzeugung ist also der moralische Vernunftglaube, der allein im eigentlichsten Verstande ein Glaube genannt und als solcher dem Wissen und aller theoretischen oder logischen Überzeugung überhaupt entgegengesetzt werden muss, weil er nie zum Wissen sich erheben kann“ (AA IX, 72).
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jedenfalls auch ein aufschlussreicher Passus aus dem Beschluss der „Tugendlehre“ der „Metaphysik der Sitten“ nahe, wobei die darin geltend gemachte „Übereinstimmung“ jedenfalls die Vorstellung einer unterschiedslosen „Einigkeit“ (IV 659)63 vermeiden bzw. ablehnen muss: „Es kann zwar von einer ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘, die aber nicht aus bloßer Vernunft abgeleitet, sondern zugleich auf Geschichts- und Offenbarungslehren gegründet [!] ist und die nur die Übereinstimmung der reinen praktischen Vernunft mit denselben (dass sie jener nicht widerstreite) enthält, die Rede sein. Aber alsdann ist sie auch nicht reine, sondern auf eine vorliegende Geschichte angewandte Religionslehre, für welche in einer Ethik, als reiner praktischen Philosophie, kein Platz ist“ (IV 629).64 Dabei ist der von Kant vorgenommene Perspektivenwechsel nicht zu übersehen: Hier ist nicht mehr der grenzbegriffliche Aufweis bzw. die Legitimation der Vernunftideen (zu denen die Vernunft selbst „nötigt“) bestimmend, auch nicht ihre ethikotheologische Begründung am Leitfaden der Idee der „moralischen Teleologie“; vielmehr wurde von Kant nunmehr jener (in der „Religionsschrift“ explizierte) „Standpunkt“ der auf „zugleich auf Geschichts- und Offenbarungslehren“ gegründeten „angewandten Religionslehre“ eingenommen, der sich vornehmlich an der vernünftigen Aneignung der tradierten (christlichen) „positiven Glaubenslehren“ orientiert, das heißt sich dies zur Aufgabe macht,65 wofür in der „reinen praktischen Philosophie“ eben noch „kein Platz“ war. Auf der Grundlage bzw. mit der Rückendeckung der im „dritten Stadium der Metaphysik“ durchschrittenen Kritik und dem daran geknüpften „praktische-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ in der Ethikotheologie sowie unter der Voraus-Setzung der anschließenden existenzialanthropologischen Version der Postulatenlehre stellte Kant sich auf den Boden 63 So scheint der in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Religionsschrift“ geäußerte Vorschlag Kants, „dass zwischen Vernunft und Schrift nicht bloß Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei“ (IV 659), doch die Vorstellung einer Zurücknahme der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ auf eine „Religion aus bloßer Vernunft“ zu begünstigen; auch dies verrät wiederum wenigstens eine unscharfe Bestimmung des von ihm beanspruchten Aufweises einer „Übereinstimmung“. – Nach einer brieflichen Mitteilung wollte er in der „Religionsschrift“ darlegen, wie er „die mögliche Vereinigung der letzteren [der christlichen Religion] mit der reinsten praktischen Vernunft einzusehen glaube“: „Der biblische Theolog kann doch der Vernunft nichts Anderes entgegensetzen, als wiederum Vernunft, oder Gewalt, und will er sich den Vorwurf der letzteren nicht zu Schulden kommen lassen, (welches in der jetzigen Krisis der allgemeinen Einschränkung der Freiheit im öffentlichen Gebrauch sehr zu fürchten ist), so muss er jene Vernunftgründe, wenn er sie sich für nachteilig hält, durch andere Vernunftgründe unkräftig machen und nicht durch Bannstrahlen, die er aus dem Gewölke der Hofluft auf sie fallen lässt“ (Brief Kants an Stäudlin, 4. Mai 1793. In: AA XI, 429). 64 Mit Rücksicht auf solche Selbstverortung muss „so etwas wie eine Antinomie zwischen dem autonomen ethischen Bewusstsein und der christlichen Religion“ – die Kant „nicht aufnehmen“ könne, „weil sie ja auf eben jenem autonomen ethischen Bewusstsein gründet“ – vielleicht nicht das letzte Wort sein (Wimmer 2004b, 175). 65 So bestätigt sich der grundsätzliche Hinweis Gerhardts: „Der ausdrückliche Anschluss an Elemente der christlichen Tradition, um die sich die Religionsschrift [Kants] bemüht, kann … als Beispiel dafür dienen, wie offen die kritische Vernunftaufklärung für die abendländische Überlieferung als ganze ist. Kant entwickelt sein System so, als sei die Geschichte des Denkens jederzeit präsent. […] Kants kritisches Philosophieren entfaltet sich im Bewusstsein der Kontinuität mit der geschichtlichen Überlieferung“ (Gerhardt 2002, 288). Solcher Hinweis auf den in der Tat unübersehbaren „Anschluss an Elemente der christlichen Tradition“ bedeutet indes – in gebotener Bedachtnahme auf das recht verstandene Programm „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ – keineswegs eine Vereinnahmung Kants.
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der „wirklich vorhandenen“66 Religion und bemühte sich um die Aneignung deren geschichtlich-„positiver“ Gehalte; ein solcher Standpunkt tritt jedenfalls in der Bemerkung aus dem „Streit der Fakultäten“ entgegen, wonach die „Göttlichkeit ihres [der biblischen „Glaubenslehre“] moralischen Inhalts … dabei doch zu dem Satz“ berechtige, dass „die Bibel, gleich als ob [!] sie eine göttliche Offenbarung wäre, aufbewahrt, moralisch benutzt und der Religion, als ihr Leitmittel, untergelegt zu werden verdiene“ (VI 335). Gleichwohl bleibt auch für solche Hinsicht die Erinnerung daran maßgebend, dass die gewonnenen Maßstäbe der Vernunftreligion, welche die „Religion [als] als reine Vernunftsache“ (VI 338) ausweisen sollen, aus einem „Scheidungsprozess“ erst hervorgegangen, d. h. aus dem wirklichen „Vernunftbegriff in concreto“ abgeleitet sind. Hat sich doch das „ursprünglich erworbene“, weil erst aus solchem geschichtlich-genealogischen „Entdeckungszusammenhang“, d. h. „bei Gelegenheit der Erfahrung“, ausgebildete Fundament einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ als ein solches erwiesen, das selbst als ein daraus erst „abstrahiertes“ („herausgeschältes“, also was „nach Weglassung alles Empirischen übrig bleibt“: IV 659) anzusehen ist und sonach als kritischer Maßstab für alle in ihrer geschichtlichen Konkretheit und ihren „Vorstellungsarten“ (IV 691) schon vorausgesetzten positiven Religionen ausgewiesen wird. Mit jenem Perspektivenwechsel wollte Kant offenbar auch dem zu berücksichtigenden Sachverhalt Rechnung tragen (der sich ja auch in der Einheit und Differenz von „Vernunftbegriff in concreto“ und „in abstracto“ widerspiegelt), dass die philosophische Reflexion selbst immer schon in konkreter geschichtlicher Situiertheit und in „nach-denklicher“ Auseinandersetzung mit den tradierten Gestalten des religiösen Bewusstseins geschieht und auch nur so „rationale Aneignung“ ermöglicht. Demnach ist eine solche grenz-orientierte Argumentationsfigur – „innerhalb“, nicht „aus“ bloßer Vernunft – auch in diesem religionsphilosophischen Kontext und in der besonderen Hinsicht zu explizieren: Derart wird in solcher Selbstbegrenzung etwas unter der Bedingung durchaus „eingeräumt“, dass es im Sinne eines negativen „Richtmaßes“ (bzw. einer entsprechenden Schutzwehr-Funktion) den Vernunftmaßstäben nicht widerspricht bzw. deren Anspruch nicht unterbietet; das dieserart „Eingeräumte“ erscheint so eben nicht als abstrakte Negation derselben, sondern als das sie „Begrenzende“ und demgemäß als ein ihr „fremdes Angebot“, das einer auslegenden Aneignung bedarf, die sich nicht einfachhin in einer moralischen „Übersetzung“ schon erschöpft. Es soll aus späteren diesbezüglichen Erkundungen noch deutlicher werden (s. bes. u. V., 3.): Es ist und bleibt ein der (praktischen) Vernunft „fremdes Angebot“, die an sie „anstoßenden“ Themen (vgl. IV 704, Anm.) erweisen sich keineswegs als ein bloßes „Nebengeschäft“, als bloß „äußerliche Zutat“; folglich bedeuten diese „parerga“ (als von Kant gelegentlich so genannte „Außenwerke“: IV 613) in diesem Kontext auch nicht bloß „äußerlichen Zierrat“ bzw. „Nebensachen“, sondern markieren bzw. indizieren eher eine „Grenze der praktischen Vernunft“ selbst. Im Sinne einer solchen „Grenzbestimmung“ praktischer 66 Damit wechselte Kant keineswegs unausgewiesen auf die Seite der Theologie, d. h. er wurde keinesfalls selbst zum „Theologen“; vielmehr wollte er philosophisch die „positiven“ Ansprüche der „Glaubensarten“ ernst nehmen und in ihrer „Vernünftigkeit“ begreifen. – Vgl. dazu u. V., Anm. 77.
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Vernunftansprüche wäre demzufolge auch Kants Notiz über die „Zierrate (Parerga)“ zu verstehen, d. h. über „dasjenige, was nicht in die ganze Vorstellung des Gegenstandes als Bestandstück innerlich, sondern nur äußerlich als Zutat gehört und das Wohlgefallen des Geschmacks vergrößert“ (V 306). Solche „Platz verschaffende“ – und gleichwohl sich „auf der Grenze haltende“ – „Grenzbestimmung“ indiziert demzufolge wohl das von Kant durchaus „eingeräumte“ Vernunft-Transzendierende, das in dem ihm immanenten Anspruch an die Vernunft gleichwohl von dem abzuwehrenden „Un“- und „Widervernünftigen“ zu unterscheiden bleibt. Der „anstößige“ Sinngehalt dieses der Vernunft „fremden Angebotes“ manifestiert sich vornehmlich darin, dass das dieserart zur Geltung gebrachte „Andere der Vernunft“ sich in seiner Nicht-Verfügbarkeit als anstoßend-herausfordernd erweist; als solches unterscheidet es sich sensu stricto von einem beanspruchten „Anderen der Vernunft“ im Sinne des schlechthin „Vernunftwidrigen“ (des deshalb bloß „Anstößigen“) und vermag auch nur so, grenzbegrifflich-verweisend, „viel zu denken zu geben“ – als vernünftiger Aneignung „reflektierend“ durchaus zugänglich, gleichwohl nicht einfachhin „übersetzbar“, ohne seinen Eigensinn derart zu verlieren. Das in diesem Kontext einer „Selbstbegrenzung praktischer Vernunftansprüche“ verortete „der Vernunft fremde Angebot“ scheint seinen spezifischen Charakter und Anspruch eben genau daraus erst zu gewinnen. Demnach bestätigt sich auch in solcher Hinsicht, dass jenes Programm „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und der darin explizierte Richtmaß-Charakter zunächst doch lediglich besagt, dass solcher Maßstab auf die vorausgesetzte geschichtliche „Positivität“ der Religionen „nach-denkend“ bezogen ist, weil geschichtlich konkret-lebendige Religion sich ja keineswegs „aus bloßer Vernunft“ konstituiert, so sehr auch ein Rekurs auf „bloße Offenbarung“ aus den genannten Gründen völlig unzureichend bleiben muss. In der Tat lässt sich in solcher Anlehnung an Kants berühmte Unterscheidung zwischen der „reinen und empirischen Erkenntnis“ (II 45) dieses Verhältnis bestimmen: „Der Zeit nach“ setzt deshalb die von Kant betonte Differenz zwischen „Religion innerhalb“ und „Religion aus bloßer Vernunft“ den Vorrang der geschichtlichen Religionen als der mannigfachen „Glaubensarten“ gegenüber den stets nachträglichen religionsphilosophischen (und auch theologischen) Reflexionen darauf selbstverständlich voraus – eine Differenz, welche auf die darauf begründete religionsphilosophische Dimensionierung der Unterscheidung und Vermittlung von „Genese und Geltung“ verweist.67 Um jene berühmte kantische Begründungsfigur der „Erfahrungs“-Konstitution auch hier zu variieren: „Der Zeit nach“ fängt also mit der Erfahrung der geschichtlich-positiven 67 Freilich ist der von Kant (immer wieder auch) betonte lediglich vorläufige Charakter der „Offenbarung“ und deren bloß „lokale und temporäre Notwendigkeit“ nicht zu übersehen, so etwa, wenn es heißt: „Offenbarung kann auch zur einzigen Absicht haben, eine Lehre in Gang zu bringen, die keiner Offenbarung bedarf, um sich zu erhalten, wenn sie einmal da ist, weil sie den Beweis in der allgemeinen Menschenvernunft [gewissermaßen als „Beweis des Geistes und der Kraft“ im Sinne Lessings] hat. Alsdenn ist die Offenbarung nur von lokaler und tempereller Nothwendigkeit […]. Es kann auch eine bloß natürliche Religion durch Offenbarung in Gang gebracht sein; bei der ist es zwar nicht notwendig, aber doch nützlich, dass auch die gelehrte mit ihr zu Paaren gehe“ (Refl. 5635, in: AA XVIII, 266); vgl. Refl. 6195, AA XVIII, 485. Die „Lehrmethode“ („kat’ anthropon“) sei deshalb vom „Lehrstück an sich selbst“ (kat’ aletheian) zu unterscheiden: VI 302.
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Formationen des „Übersinnlichen“ alle Erkenntnis des „Übersinnlichen“ an, gleichwohl entspringt dasselbe „doch nicht aus ihr“; und es entspricht wohl auch recht genau dieser Gedankenfigur, wenn Kant in der „Religionsschrift“ anmerkt: „Der Kirchenglaube geht also in der Bearbeitung der Menschen zu einem ethischen gemeinen Wesen natürlicherweise [eben „der Zeit nach“] vor dem reinen Religionsglauben vorher“ (IV 767).68 Auch darin wird der indirekt-nachträgliche Charakter jenes kritischen Geschäfts einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ lediglich noch einmal bestätigt – ebenso das Bemühen Kants, überkommene religiöse Vorstellungen in ihren philosophisch relevanten bzw. zu rechtfertigenden Wahrheitsgehalt zu übersetzen und dergestalt auch anzueignen. Ausgehend von Kants recht verstandenem Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ lässt sich an dem jener Vernunftperspektive folgenden Leitfaden wohl auch die Vernunftidee einer „Geschichte der Religion“ nach-denkend entwickeln und in der angezeigten Weise ebenso die Idee einer kritischen – religionsphilosophisch orientierten – Religionswissenschaft fundieren, welche die konkret-geschichtliche – und in diesem Sinne „unbegreifliche“ – Positivität der Religionen freilich notwendigerweise aposteriori „erzählt“, philosophisch analysiert und aneignet – eigentliche Aufgabe einer konkreten (und „sehr geschichtskundigen“) Religionsphilosophie.69 Es ist die Ausbildung dieser Motive, die Kant in besonderer Weise als den aus der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ gewonnenen Ertrag würdigte – nicht zuletzt in der schon angezeigten Hinsicht, dass darin die „quaestio juris“ und die „quaestio facti“ in eigentümlicher Weise verbunden sind und zugleich die „teleologia rationis humanae“ ihre Entfaltung findet, muss doch „alle Religion … apriori aus der Vernunft des Menschen entwickelt werden und das Historische dient nur zur Illustration, nicht zur Demonstration“.70 Es ist die gleichermaßen geläuterte (praktische) Unbedingtheitsdi68 In einer Anmerkung dazu heißt es freilich: „Moralischerweise sollte es umgekehrt zugehen“ (IV 767). Deshalb muss auch jede „positive Religion“ ungeachtet ihres geschichtlichen Eigenrechts und „Eigensinns“ daraufhin transparent bleiben – und zwar „ex negativo“, d. h. im Sinne eines „Nicht-Unterschreitungsprinzips“ –, „was das Wesentliche aller Religion ausmacht“ (IV 771), ohne damit freilich den Sinnanspruch des der (praktischen) „Vernunft fremden Angebots“ zu eliminieren. Die Mahnung Rousseaus, „das Zeremoniell der Religion“ nicht mit der „Religion“ zu verwechseln, ist auch daraus vernehmbar: „Gott will im Geiste und in der Wahrheit angebetet sein – das ist die Schuldigkeit aller Religionen, aller Völker, aller Menschen“ (Rousseau 1963, 604). 69 Bei aller Vorläufigkeit der religionswissenschaftlichen Kenntnisse und des verfügbaren Materials sind in grundsätzlicher Hinsicht Hegels und Schellings religionsphilosophische Analysen wohl immer noch unübertroffen. Sie explizieren in theoretisch-reflexiver, systematisch-religionsgeschichtlicher Absicht durchaus im Sinne einer „höheren Aufklärung“ (s. o. V., Anm. 28) das von Hölderlin benannte „Bedürfnis der Menschen, … ihre verschiedenen Vorstellungsarten von Göttlichem eben, wie im übrigen Interesse, sich einander zuzugesellen [!], und so der Beschränktheit, die jede einzelne Vorstellungsart hat und haben muss, ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten begriffen ist, und zugleich eben, weil in jeder besondern Vorstellungsart auch die Bedeutung der besonderen Lebensweise liegt, die jeder hat, der notwendigen Beschränktheit dieser Lebensweise ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Lebensweisen begriffen ist“ (Hölderlin 1998, II 52). 70 So heißt es in den späten Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“: AA XXIII, 437; in diesem Kontext betont freilich auch: „Auch kann nur die Idee der gottwohlgefälligen Menschheit in moralischer Absicht überhaupt unter dem Sohne Gottes verstanden werden, nicht irgend ein besonderer Mensch (wie etwa Christus), wovon dieser also, da er auf Erden kam, die Erscheinung das moralische Ebenbild und das
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mension der Freiheit wie auch diejenige der in der „Geschichte der reinen Vernunft“ hervortretenden – und die spekulative Vernunft beschließenden – Idee des „Absoluten“, die in dem ganzen (und insofern „un-bedingten“) Objekt der praktischen Vernunft verknüpft sind.71 Die „Geschichte der reinen Vernunft“ und die darin entfalteten Differenzierungen der – den „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ und deren maßgebende „Prinzipien und Zwecke“ bestimmenden – „Vernunft in abstracto“ sind in diesem konkreten Sinne selbst in die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und den „gemeinen Vernunftgebrauch“ („Vernunft in concreto“) eingebunden. Dies ist freilich mit der Einsicht verknüpft, dass das aus der Geschichte der Vernunft hervorgehende spannungsvolle Verhältnis von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ und die daran geknüpfte Bestimmung des „Weltbegriffs der Philosophie“ als „Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der Vernunft“ letztendlich auf die „Selbstbegrenzung der Vernunft“ führt – eine „Selbstbegrenzung“ im Sinne einer „docta ignorantia“, die sich in der Tat von der kritischen Absicht leiten lässt, sich „auf dieser Grenze zu halten“. Die Einsicht, dass über die erweiterte Konzeption jenes „Endzwecks der Metaphysik“ auch ein entsprechend differenzierter „Weltbegriff der Philosophie“ resultiert, ohne in dem darin verankerten bzw. legitimierten „praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen“ die Grenzen philosophischer Begründungsansprüche unkritisch zu überschreiten, soll in einigen Konsequenzen noch näher beleuchtet werden. Dies führt freilich auch auf die unabweisliche Frage, wie das Verhältnis des „Weltbegriffs der Philosophie“, der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und der geschichtlichen Offenbarungsreligionen (deren „Vorstellungsarten“) zueinander in dieser von Kant vorgezeichneten Problemperspektive näherhin zu bestimmen ist – Probleme, die ebenso die in diesem religionsphilosophischen Kontext in so eigentümlicher Weise zutage tretende Verknüpfung von „Genesis und Geltung“ berühren und jenen Selbstbegrenzungs-Aspekt noch einmal in besonderer Weise akzentuieren. Gegenüber der von Kant (ungeachtet seiner Abgrenzung von dem Programm einer „Religion aus bloßer Vernunft“) mitunter doch begünstigten Engführung des philosophischen Projekts einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ wäre so – wiederum „im Ausgang von Kant“ – eine religionsphilosophische Perspektive in dem schon angezeigten Beyspiel ist“ (ebd. 436); in diesen „Vorarbeiten“ findet sich später auch die Notiz, dass zwar „Christus eine Religion“ hatte, aber „nicht … selbst Gegenstand der Religion habe sein wollen“ (ebd. 460). 71 Auch in der unterschiedlich akzentuierten, d. h. mehrstufigen Explikation des „höchsten Gutes“ manifestiert sich der Fortschritt in der „Geschichte der menschlichen Vernunft“, wie sich ja auch bei Platon und in der Ethik der „Alten“ (bzw. in den Glückseligkeitskonzeptionen der „griechischen Schulen“) über die darin geleistete Differenzierung des („unbedingten“ und „relativ“) „Guten“ verdeutlichen lässt: Steht zunächst der Aspekt der „Strafwürdigkeit“ (als das maßgebende „etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft“: IV 150) im Vordergrund, so differenziert sich der Begriff des „höchsten“ (bzw. „absolut“) Guten des Weiteren als „oberstes“ und „vollendetes“ Gut in unterschiedlicher Weise (s. dazu o. I., 1.1.). Schließlich wird in dieser „Geschichte der menschlichen Vernunft“ auch (in Abgrenzung von diesen „Schulen“) die prinzipielle Unverfügbarkeit des „höchsten Gutes“ („in Ansehung alles Guten“) auf eine Weise bewusst, wodurch die „menschliche Freiheit“ freilich selbst auf Fragen geführt wird bzw. sich für diese sensibilisiert erfährt, die sie weder abweisen kann noch ihnen von sich selbst aus gerecht zu werden vermag, deren Sinnanspruch indes erst die durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ für einen auch diesbezüglich sensiblen „reflektierenden Glauben“ offenbar macht.
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Sinne freizulegen. Sie sollte es erlauben, die Geschichte im Sinne einer geschichtlich-konkreten Entfaltung der metaphysischen Naturanlage des Menschen zu verstehen – näherhin als den konkreten Ort der geschichtlichen Vermittlung der „symbolischen Darstellung“ des Unbedingten „für uns“, d. h. des konkreten, religions-konstituierenden Zusammenhanges des „Übersinnlichen in uns, außer uns, und nach uns“, gemäß jener maßgebenden Konzeption einer „natürlichen Religion“. Im Sinne eines regulativen „Leitfadens zu einer solchen Geschichte“ bedarf ein solcher Gesichtspunkt hierfür selbst der Idee der „Einheit“ und „Kontinuität“, die das für Religion konstitutive „Für-uns-Sein“ Gottes freilich voraus-setzt – eine Einsicht, die ihrerseits zuletzt auch wiederum auf jene unaufgebbare Differenz und Einheit des „Gegenstands schlechthin“ und „Gegenstands in der Idee“ (II 583) rückverweist. Kants eigener Begründungsfigur zufolge bleibt also, im Vorblick auf spätere Überlegungen, zu bedenken: Eine „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ohne Bezug auf „geschichtlich positive Religion“ bleibt leer, geschichtlich-positive Religion ohne die recht verstandene „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (d. h. deren Maßstäbe) müsste hingegen „erblinden“ (bzw. wäre „tot an sich selber“). Indes soll sich noch zeigen: Die ja aus der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ gewonnene (daraus „ursprünglich erworbene“) Herleitung der „Grundpfeiler“ der Vernunftreligion (im Sinn jenes „Ideengefüges“) macht ebenso den von da her uneinholbaren Sinnüberschuss sichtbar.72 Letzterer hat gleichermaßen eine geschichtliche wie auch moral-transzendierende Akzentuierung zur Folge, die nicht nur an jene Unterscheidung von „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und „aus bloßer Vernunft“ erinnert, sondern die „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ vollzogene Selbstbegrenzung gegenüber den positiven Sinnansprüchen der historischen Religionen selbst als späte Frucht der in dieser „Geschichte der menschlichen Vernunft“ durchschrittenen Entwicklung begreifen lässt. Es hat sich erwiesen: Ohne dabei freilich den diesbezüglichen „Punkt der Ungleichartigkeit“ zu ignorieren, wäre dies sodann, wohl in einer zur kantischen Idee der „Weltgeschichte“ analogen Gedankenfigur, noch dahin zu spezifizieren, dass die daran anschließende Vernunftidee der Geschichte – analog zu der am „Rechtsfortschritt“, der „Verbesserung der Staatsverfassungen“, des Völker- und Weltbürgerrechts orientierten „Idee der Weltgeschichte“ – dergestalt sich zur Idee einer Religionsgeschichte konkretisieren ließe;73 für sie 72 Ein von Kant anerkanntes überschießendes Sinnmoment kommt vielleicht auch in seiner Notiz in den Vorarbeiten zum „Streit der Fakultäten“ zum Ausdruck: „Ich lese die Bibel gern und bewundere den Enthusiasm in ihren neutestamentischen Lehren“ (AA XXIII, 451). 73 Nach Kant kann es freilich im engeren Sinne keine „Religionsgeschichte“ geben, sondern lediglich eine solche des (im weiten Wortsinne gefassten) „Kirchenglaubens“: „Von der Religion auf Erden (in der engsten Bedeutung des Worts) kann man keine Universalhistorie des menschlichen Geschlechts verlangen; denn die ist, als auf dem reinen moralischen Glauben gegründet, kein öffentlicher Zustand, sondern jeder kann sich der Fortschritte, die er in demselben gemacht hat, nur für sich selbst bewusst sein. Der Kirchenglaube ist es daher allein, von dem man eine allgemeine historische Darstellung erwarten kann; indem man ihn, nach seiner verschiedenen und veränderlichen Form, mit dem alleinigen, unveränderlichen, reinen Religionsglauben vergleicht“ (IV 788), der freilich selbst diesem Entdeckungszusammenhang verdankt ist, d. h. daraus „geläutert“ hervorgeht. Dabei wäre im Blick auf die in religionsgeschichtlicher Perspektive wahrgenommenen „historischen Glaubensarten“ zu prüfen, ob und wieweit hier – in analogem Sinne – die ordnungstiftenden Gesetze der „Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität“ im Sinne der „Gleichartigkeit“, „Unterscheidung“ und der „Vereinigung beider“ (II 576) auch auf diesem
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müsste dann gleichermaßen gelten, dass diese gleichsam einen „Leitfaden apriori“ anbietende Idee natürlich mitnichten „die Bearbeitung der eigentlich bloß empirisch abgefaßten [Religions-]Historie“ als ein „historisches System“ (IV 659) verdrängen bzw. erübrigen könnte. So wie die Idee der „Weltgeschichte“ wäre freilich auch dies wohl „nur ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf (der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte) noch aus einem anderen Standpunkte versuchen könnte“ (VI 49 f ), um so der aus „reinen Vernunftprinzipien“ nicht ableitbaren geschichtlichen Positivität gerecht zu werden und hierfür einen adäquaten „Leitfaden“ zum Verständnis derselben zu gewinnen. Entsprechend einer solchen analogen Begründungsfigur müsste Kant einen derart als Maßstab fungierenden „Leitfaden apriori“ in ähnlicher Weise bezüglich „Theologie und Moral“ voraussetzen bzw. ausbilden. Demgemäß wäre in Anbetracht der „absoluten Aposteriorität“ der „positiven“ Religionen – d. h. des in dieser Hinsicht für die menschliche Vernunft „geschichtlich Zufälligen“ – die zu rekonstruierende innere Einheit, der „Zusammenhang“ sowie der erkennbare Fortschritt in diesen mannigfaltigen „geschichtlichen“ Erscheinungen analog zu dem regulativ-heuristischen „Als-ob“ im Sinne der „Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“, d. h. dem „transzendentale(n) Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur“ (V 257), begreiflich zu machen. Gemäß einem solchen kritischen „Prinzip der Urteilskraft“ könnte solche Mannigfaltigkeit im Sinne eines geschichtlichen „Offenbar-Werdens“ für die menschliche Vernunft (ohne die diese nämlich keine „Schule“ für ihre Kultivierung hätte) ideengeleitet buchstabiert werden; auch dies darf freilich Kants kritische Einschränkung dieses (regulativen) Prinzips nicht vergessen lassen und muss deshalb ebenso eine unkritische „Hypostasierung“ und darauf beruhende „Erschleichungen“ desselben verbieten. Eine solche kritische Hinsicht könnte folglich den religionsphilosophischen Rekurs auf „Offenbarung“ wohl auch nur in diesem kritischen Sinne eines „regulativen Prinzips“ erlauben, das genau genommen auf die (geschichtliche) Einheit, Kontinuität und Totalität der historischen Religionen abzielt, die immer deutlicher (d. h. „reiner“ und „enger“) die Idee jener „Zweckverbindung“ zutage treten lassen, „die, im ganzen genommen, das höchste in einer Welt mögliche Gut, mithin die teleologische oberste Bedingung des Daseins derselben enthalte, und einer Gottheit, als moralischen Urhebers, würdig sei“ (III 646), und so als „ratio essendi“ des „Zwecks aller Zwecke“ bestimmt werden müsste. Diese Überlegungen verweisen allesamt auf den für Kants Systematik maßgebenden Zusammenhang der Einheit und Differenz von philosophischer Theologie, ReligionsphiFeld in regulativer Absicht fruchtbar zu machen wären. Dabei muss sich wohl nicht nur die Vorstellung, dass allein die „christliche“ „unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat“, als „moralische Religion“ soll gelten können (IV 703), im Vergleich zu anderen „Glaubensarten“ als problematisch erweisen; dies steht ebenso der angezeigten Idee einer Religionsgeschichte (und der darin gedachten Kontinuität) im Wege. Von einer „Religionsgeschichte“ wäre nach Kant also nur in dem Sinne zu reden, dass die je an ihrem geschichtlichen Ort befindlichen bzw. aufeinander folgenden „vielerlei geschichtlichen Glaubensarten“ sich zur „Vernunfreligion“ entwickeln; Letztere stellt also das „telos“ dieser Ausfaltung dar, worin, dem von Kant verwendeten Bild zufolge, „der Embryo sich zuerst zum Menschen bildete“ und so erst „reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche, damit Gott sei alles in allem“ (IV 785). „Stadien“ dieser „embryonalen Entwicklung zum Menschen“ wären eben, im Blick auf jene „historischen Glaubensarten“, gemäß einer regulativen Perspektive zu entfalten.
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losophie und Religionstheorie, der in systematischer Hinsicht auch der Einheit und Differenz von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ zugrunde liegt. So wenig freilich der ethikotheologische Begriff des „lebendigen Gottes“ von dem Begriff des „metaphysischen Gottes“ ablösbar ist (obgleich davon unterschieden bleibt), so wenig ist der Gott der „positiven Religionen“ dem ethikotheologischen Begriff des „lebendigen Gottes“ einfachhin entgegengesetzt; auch dies verweist offensichtlich auf unumgängliche Vermittlungsaufgaben, die vornehmlich jenes Verhältnis von philosophischer Theologie, Religionsphilosophie und positiver Religion berühren. In einem weiteren Schritt der Entfaltung des Zusammenhanges der „metaphysica generalis“ und „metaphysica specialis“ bzw. des Verhältnisses von „Schul- und Weltbegriff der Philosophie“ und der geschichtlich-positiven Religionen scheint deshalb vorrangig dies klärungsbedürftig zu sein: Wie ist nun, auf dem nach Kant allein noch offenen „kritischen Weg“, jenes Verhältnis des „Weltbegriffs der Philosophie“ und der darin leitenden Fragen zur konkreten geschichtlich-positiven Religion zu bestimmen – nicht zuletzt auch in besonderer Rücksicht auf seine recht aufschlussreiche Bemerkung, Metaphysik sei „nicht die Mutter der Religion, sondern ihre Schutzwehr“, und die darin angezeigte Aufgabe einer „Kritik der Unvernunft in Religionen“? Dieses Anliegen ist auch in seiner ausdrücklichen Unterscheidung bestimmend: „Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben“ (VI 768). Von diesem Verhältnis der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zu den geschichtlich-positiven „Glaubensarten“ soll, mit besonderem Blick auf Kants ausdrückliche Würdigung des Christentums, im Folgenden noch genauer die Rede sein. 2.1.1. Perspektiven einer „Idee“ der Religionsgeschichte bei Kant. Die dem Christentum – als Einheit von „geoffenbarter“ und „natürlicher Religion“ – eingeräumte Sonderstellung In dem angezeigten Sinne, dass die Prinzipien des an der „Selbsterhaltung der Vernunft“ orientierten Vernunftglaubens als unverzichtbares Richtmaß fungieren, an dem sich die historischen Religionen (als „ein bestimmtes sich beständig erhaltendes System“: IV 776) – wie Kant bemerkenswerterweise betont: ex negativo – bewähren müssen, wäre sein Hinweis auf die „Unbegreiflichkeit der Wirklichkeit“ nunmehr auch in diesem religionsphilosophischen Kontext fruchtbar zu machen. Dies hätte wohl ebenso weitreichende Konsequenzen für die Bestimmung des Verhältnisses der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zur „unbegreiflichen“ geschichtlichen Positivität der Religionen. Ohne diesen im Dienste der „Selbsterhaltung der Vernunft“ stehenden „Vernunftglauben“ als die unverzichtbare Norm für die Gestalten der geschichtlichen „Glaubensarten“ (bzw. des von Kant so bezeichneten „Kirchenglaubens“) hätten Letztere keinen Bestand; lediglich mit ihrer „Selbsterhaltung“ und der „Verwaltung der Orthodoxie“ beschäftigt,74 blieben sie vielmehr „tot an sich selber“ und wären gerade seitens einer 74 Kants Kritik eines Kirchenglaubens als eines „sich selbst erhaltenden Systems“ impliziert einerseits die Anerkennung, dass die jüdisch-christliche Vorstellung des „Reichs Gottes“ und der „Menschheits“-Idee
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aufgeklärten Vernunft fortwährend mit der unnachgiebigen Mahnung konfrontiert, dass „eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, … es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“ wird (IV 657).75 Denn allein in jenem „Vernunftglauben“, so Kant, erhält sich Vernunft selbst auch gegenüber den historischen Religionen als „sich selbst erhaltenden Systemen“, welche deshalb, wenn ihre „Selbsterhaltung“ denn auch von einem „Interesse der Vernunft“ geleitet ist, sich an diesem negativen Maßstab orientieren und von ihrer – solchem Anspruch widerstreitenden – bloß selbstbehauptungsinteressierten historisch-kulturellen Partikularität absehen müssen. Dass Kant selbst derartige – zu einer elementaren Zielsetzung seiner Vernunftkritik analoge – Begründungsfiguren offenbar recht klar vor Augen standen, lässt nicht zuletzt jenes – offenbar gezielt an das kritische Scheidungsverfahren der ersten Kritik anknüpfende, jedoch eher irreführende – Bild vermuten: Die christliche Religion sei in ihrer konkreten geschichtlichen Positivität als existierende Einheit aus dem „reinen Religionsglauben“ und dem „ganz auf Statuten“ und „Historischem“ beruhenden Kirchenglauben, d. h. aus diesen „zwei ungleichartigen Stücken zusammengesetzt“ (vgl. VI 301) – eine Wendung, die ungeachtet des freilich unübersehbaren Unterschieds ebenfalls an jenes Scheidungsverfahren der Vernunftkritik erinnert76 und in entsprechender Weise auf die Einheit der realgeschichtlich-aposteriorischen Vermittlung und der apriorischen Geltungsbasis abzielt. Demgemäß erweisen sich die diese Vernunftreligion auszeichnenden Bestimmungen der „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehren …,
auch im Sinne des Anspruchs einer universalistischen Ethik alle ethnischen Engführungen und damit verbundene Ausgrenzungen sprengt; zugleich enthält sie andererseits die Kritik daran bzw. verweist auf die Gefahr, dass diese Leitideen systemisch-exklusivistischen Machtinteressen und Selbsterhaltungsimperativen in „institutionalisierter“ Kurzschließung geopfert werden. 75 Hier ist der Zusammenhang des Vernunftglaubens mit der „Maxime der aufgeklärten Denkungsart“ besonders deutlich, zumal nur Letztere diesen Vernunftglauben als einen „Überzeugungsglauben“ auszuweisen vermag: Gilt es doch auch hier zu beachten, dass die „Maxime, jederzeit selbst zu denken, … die Aufklärung“ ist (III 283, Anm.) und als solche unablöslich mit der Aufforderung verbunden ist, „bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst [zu] fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen.“ 76 Zunächst weckt diese Wendung natürlich Assoziationen zu jener kantischen Bemerkung, wonach unsere „Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes“ aus Anschauung und Verstand ist (II 45); und in der Tat scheint Kant sich in der Bestimmung des Verhältnisses der „geschichtlich-positiven Glaubensarten“ und der „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ von einer gewissen Analogie leiten zu lassen, sodass auch für das Religionsthema entsprechend eine bekannte Gedankenfigur zu variieren wäre: „Der Zeit nach“ geht also keine „reine Vernunftreligion in uns“ vor jenen geschichtlichen Glaubensarten vorher, und mit diesen fängt alle an. Wenn aber alle Religion mit diesen geschichtlichen Glaubensarten „anhebt, so entspringt darum nicht alle aus den letzteren“ – wobei gerade auch mit Blick auf die Religionsgeschichte zu bedenken wäre, dass diesen „Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur Absonderung desselben geschickt gemacht hat“ (II 45). Resultat dieser „langen Übung“ wäre entsprechend die „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ als eine besondere „Kritik der Vernunft“, die den „genealogischen“ und den „prinzipientheoretischen“ Aspekt unterscheidet und gleichermaßen verknüpft. – E. Cassirers Sichtweise wird insofern jedenfalls von Kant vorweggenommen: „Und auch eine Religion ‚in den Grenzen der reinen Vernunft‘, wie Kant sie vorgestellt hat, ist bloß eine Abstraktion. Sie vermittelt lediglich die ideale Form, nur den Schatten dessen, worin echtes, konkretes religiöses Leben besteht“ (Cassirer 1990, 51).
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die das Wesentliche einer Religion ausmachen“ (VI 271), gewissermaßen selbst als ein nachträglich abstrahiertes „Negativ“77, d. h. als geschichtlich-„aposteriori“ vermitteltes „Apriori“, und fungieren sonach im Sinne der „metaphysica specialis“ ebenso als kritisch-negativer Maßstab der Vernunftansprüche erhebenden geschichtlichen Religionen, der indes lediglich als deren „Schutzwehr“ dienen soll.78 Jenes von Kant geltend gemachte „Zugleich“ zwischen „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und der auf „Geschichts- und Offenbarungslehren“ gegründeten Religion (IV 629) weist jedenfalls in solche Richtung. Kants Auffassung wäre somit vielleicht folgendermaßen zu resümieren: Die dergestalt erreichte – und in der Entfaltung jener „Zweckverbindung“ ausgewiesene – Geltungsbasis aller Religionen wäre die Beantwortung der Frage „quid juris?“, sofern sie eben durch solche Fundierung auch die Diversität der „historischen Glaubensarten“ gleichermaßen anerkennt und relativiert; dies setzt freilich zugleich die Überwindung der Partikularität im Sinne eines „Universalismus der Verschiedenheit“ voraus – eben im Sinne einer kantischen Version der „una religio in diversitate rituum“,79 die innerhalb dieser Zweckverbindung der Ideen des „Übersinnlichen in uns, über uns und nach uns“ geschichtlich zur 77 Dem entspricht präzis Kants eigener Hinweis: „Analytische Methode eine gegebene Religion innerhalb der Grenzen etc. zu finden, nicht synthetisch eine solche durch Vernunft zu machen“ (AA XXIII, 115). In einem Entwurf zur Vorrede der „Religionsschrift“ betonte Kant: „Ich wollte die Religion im Felde der Vernunft vorstellig machen u. zwar so wie solche auch in einem Volke als Kirche errichtet sein könne. Da konnte ich nun solche Formen nicht füglich erdenken [!], ohne wirklich vorhandene zu benutzen. – Daher konnte ich nicht eine Religion entspringend aus der Vernunft ankündigen sondern Religion die allenfalls auch in der Erfahrung gegeben war (als Kirche) aber das an ihr was innerhalb der Grenzen der Vernunft gehört – daraus ist zu sehen, dass ich nichts in die Schrift hineinbringe. – Weil aber die Religion so wie die Vernunft selbst eine absolute Einheit ausmachen muss so kann man zwar fragmentarisch aufsuchen, aber unsystematisch [?] sie als ein Ganzes zusammen fassen“ (AA XXIII, 93) Dass das „Abstrahieren von aller Religion“ indes nicht „Ausschließung aller Offenbarung behauptet“, wird deutlich, wenn es wenig später heißt: „Die Aufschrift aber Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft gibt sogleich zu erkennen, dass es nicht um die Quelle daraus irgend eine positive (statutarische) Religion entsprungen sein mag zu tun sei und die letztere synthetisch auf lauter Vernunftbegriffe zu bringen sondern allenfalls nach analytischer Methode nur das aus ihr abstrahieren was die bloße Vernunft aus sich selbst erkennen kann“ (ebd. 94; 96 u. ö.). Nicht ganz unmissverständlich ist freilich Kants Notiz zur „Religionsschrift“: „In der gegenwärtigen Schrift wird das Ganze einer Religion überhaupt, so fern sie bloß aus der durch moralische Ideen geleiteten Vernunft entwickelt werden kann, vorgetragen“ (AA XX, 439). 78 Indes darf diese Maßstab-Funktion nicht zu eng bzw. einseitig ausgelegt werden; denn schon Kants Kennzeichnung „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ versteht sich selbst in dem ihr immanenten „Säkularisierungs“-Anspruch wohl weniger in der „Funktion eines Filters, der Traditionsgehalte ausscheidet, als der eines Transformators, der den Strom der Tradition umwandelt“ (Habermas 2009, 411). 79 Dies stand Kant wohl bei seinem Hinweis auf die erstrebte „Glaubenseinheit“ vor Augen: „Die kirchliche Glaubenseinheit mit der Freiheit in Glaubenssachen zu vereinigen, ist ein Problem, zu dessen Auflösung die Idee der objektiven Einheit der Vernunftreligion durch das moralische Interesse, welches wir an ihr nehmen, kontinuierlich antreibt, welches aber in einer sichtbaren Kirche zu Stande zu bringen, wenn wir hierüber die menschliche Natur befragen, wenig Hoffnung vorhanden ist. Es ist eine Idee der Vernunft, deren Darstellung in einer ihr angemessenen Anschauung uns unmöglich ist, die aber doch als praktisches regulatives Prinzip objektive Realität hat, um auf diesen Zweck, der Einheit der reinen Vernunftreligion, hinzuwirken“ (IV 787, Anm.). Im Sinne dieses „Zwecks“ ist auch der Hinweis auf den Übergang vom provisorischen „Geschichtsglauben“ zu dem durch ihn allenfalls beförderten „reinen Religionsglauben“ zu verstehen, worin sich das „religionsgeschichtliche aposteriori“ als „apriori der Vernunftreligion“ erweist.
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Erscheinung kommt, dann aber als eine solche auch zu begreifen ist. Die „quid juris?“Frage zielt demzufolge darauf ab, dass die Ausbildung der Vernunftreligion als „Fundament des Vernunftglaubens“ sich eben an der „Selbsterhaltung der Vernunft“ orientiert, so aber auch eine philosophisch orientierte Verständigung der „historischen Glaubensarten“ untereinander erst ermöglicht – und gleichermaßen dazu nötigt, sich dem Ziel eines „für alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben(s)“ (IV 802) anzunähern. Die resultierende Konsequenz daraus ist das in Kants „Preisschrift“ formulierte „Credo in den drei Artikeln des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ (III 636); dafür, dass Kant sich indes über dessen „paradoxen“ – besser: aporetischen? – Charakter durchaus im Klaren war, mag dieser gewiss merkwürdige Rekurs auf ein „Bekenntnis der reinen praktischen Vernunft“ vielleicht ein Indiz sein. Jedenfalls, so Kants zukunftsorientierte Perspektive, sind die unter der „Fahne der Tugend“ versammelten und auch durch das „symbolum“ – das sind die „drei Artikel des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ (III 636) – vereinigten, d. h. auch den kritischen „symbolischen Anthropomorphismus“ beachtenden Mitglieder der „unsichtbaren Kirche“ dazu berufen, bloß partikuläre Selbstbehauptungsansprüche der „historischen Glaubensarten“ bezüglich der Gottesthematik zu überwinden, ohne damit freilich die Geltungsansprüche der Religionen und der ihnen immanenten Sinnpotenziale einfachhin – gewissermaßen im Sinne eines bloßen „Religions-Psychologismus“ – stillschweigend aufzuheben.80 Auch in diesem Sinne ist Kants Kennzeichnung der Religion als „reine Vernunftsache“ (VI 338) wahrzunehmen. Kant war bezüglich der religionsgeschichtlichen Entwicklung – in einer gewissermaßen religionsphilosophisch gewendeten analogen Rezeption des „exeundum ex statu naturae“ – offenbar der Ansicht, dass die Mannigfaltigkeit der sich in der Religionsgeschichte manifestierenden und sich fortschreitend entwickelnden „historischen Glaubensarten“ selbst noch eines „Rechtsgrundes“ für diese geschichtliche Erwerbung entbehrt, diese Mannigfaltigkeit also insofern durchaus nicht einfachhin als „unvernünftig“, gleichwohl andernfalls noch als „vernunftlos“ angesehen werden muss.81 In diesem Sinne wollte Kant offensichtlich den geschichtlichen Religionen tatsächlich einen bedeutsamen und auch unübersehbaren Stellenwert in der „Genealogie der Vernunft“ selbst einräumen; dies wird ansatzweise auch aus seinem (freilich nicht entfalteten) Versuch rekonstruierbar, die Religionsgeschichte als die geschichtliche Entwicklung des sich darin „reinigenden“ Verhältnisses der menschlichen Vernunft zum vor-gestellten „Göttlichen“ zu begreifen. Der gewiss „provisorische“ Charakter jener mannigfaltigen „historischen Glaubensarten“ wäre dennoch als unverzichtbare geschichtliche Bedingung der „nach reinen Vernunftbegriffen“ eingerichteten bzw. gedachten „Vernunftreligion“ zu verste80 In diesem Sinne bemerkt Brandt im Blick auf Kant: „Die Religion ist nur dann weltverträglich, wenn sich ihre Prinzipien innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft mitteilen lassen und keine Sonderwelten bilden, die unvermeidlich die Gesellschaft von Vernunftwesen zerstören. Wie gut auch immer der Primat des Glaubens vor der Moral gemeint sein mag, er wird unvermeidlich diabolisch im Sinn des diaballein, des Auseinandertreibens im unterschiedlichen Bekenntnis“ (Brandt 2007b, 304 f ). 81 Es ist nicht zu übersehen, dass Kant hier Leibnizens Unterscheidung zwischen den bloßen „Geschichtswahrheiten“ und „Vernunftwahrheiten“ in religionsphilosophischer Akzentuierung aufnimmt und zugleich kritisch umformt.
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hen, sodass Letztere, in Anlehnung an eine religionsphilosophische Wendung des späten Schelling formuliert, als das „prius per posterius“ erwiesen wird.82 Ebenso wenig ist die spezifische Stoßrichtung seines Anspruches – auch in den damit verbundenen Konsequenzen – zu übersehen, die den geschichtlichen Religionen gewissermaßen die unverzichtbare Rolle einer „Maieutik der Menschheit“ zuerkennt: Das Verständnis der Religion als „natürliche“ und „geoffenbarte“83 zugleich meint doch dies, dass „sie so beschaffen ist, dass die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können, und sollen [!], ob sie zwar nicht so früh, oder in so weiter Ausbreitung, als verlangt wird, auf dieselbe gekommen sein würden, mithin eine Offenbarung derselben, zu einer gewissen Zeit und an einem gewissen Ort, weise und für das menschliche Geschlecht sehr ersprießlich sein konnte, so doch, dass, wenn die dadurch [d. i. durch die Offenbarung und die durch sie „abgezweckte Sittlichkeit“: VI 314] eingeführte Religion einmal da ist, und öffentlich bekannt gemacht worden, forthin jedermann sich von dieser ihrer Wahrheit durch sich selbst und seine eigene Vernunft überzeugen kann. In diesem Falle ist die Religion objektiv eine natürliche, obwohl subjektiv eine geoffenbarte; weshalb ihr auch der erstere Namen eigentlich gebührt. Denn es könnte in der Folge allenfalls gänzlich in Vergessenheit kommen, dass eine solche übernatürliche Offenbarung je vorgegangen sei, ohne dass dabei jene Religion doch das mindeste weder an ihrer Faßlichkeit, noch an Gewißheit, noch an ihrer Kraft über die Gemüter verlöre“ (IV 824).84 Die auch den späten Kant leitende Zuversicht, dass dereinst „das Gemeinwesen fähig und geneigt ist, nicht bloß den hergebrachten frommen Lehren, sondern auch der durch sie erleuchteten praktischen Vernunft (wie es zu einer Religion auch schlechterdings notwendig ist) Gehör zu geben“ (VI 186), mag vor diesem Hintergrund ebenso verständlich werden wie seine in beiläufiger Bezugnahme erfolgte Würdigung des Sinngehalts der christlichen „fides“ (s. dazu o. IV., 3.1.). Darauf zielte ja gleichermaßen der kantische Anspruch ab, dass die Bezugnahme auf die „christliche Religion“ als „natürliche Religion“ geradezu „die beste und dauerhafteste Lobrede“ (VI 272) für dieselbe bedeu82 Damit soll eine Gedankenfigur aus Kants Rechtslehre für diesen religionsphilosophischen Kontext in behutsamer Analogisierung fruchtbar gemacht werden. Dabei fließt aber auch eine Erinnerung an ein Argument des späten Schelling in modifizierter Form mit ein: „Und ebenso würde die Philosophie manches ohne die Offenbarung gewiss nicht erkannt, wenigstens nicht so erkannt haben; aber sie kann diese Gegenstände nun mit ihren eignen Augen sehen, denn sie ist in Ansehung aller Wahrheiten, auch der geoffenbarten, nur so weit Philosophie, als sie ihr in unabhängige und selbsterkannte verwandelt sind. Allerdings, wenn eine Philosophie sich erst voraussetzt, auch die große Erscheinung des Christentums nicht auszuschließen, sondern wo möglich wie anderes und im Zusammenhange mit allem anderen auch diese zu begreifen, notwendig wird sie dann ihre Begriffe über die frühere Grenze erweitern müssen, um dieser Erscheinung gewachsen zu sein; aber genau ebenso legen andere Gegenstände der sich auf sie beziehenden Wissenschaft die Notwendigkeit auf, ihre Begriffe zu berichtigen und nach Umständen so lange zu steigern, bis diese auf gleicher Höhe mit dem Gegenstande sich befinden“ (Schelling XIII, 137 f ). Der „kantische“ Hintergrund, aber auch die Ablösung von Kant sind hier schon deutlich erkennbar. 83 Hier bringt Kant offensichtlich eine elementare Unterscheidung von Erkenntnisarten zur Anwendung, wobei diejenige des „objektiven“ und des „subjektiven Ursprungs“ von besonderem Interesse ist (s. o. V., Anm. 1). 84 Auch die Erklärung, „dass selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlasst) aus sich selbst hergibt“, hat eine unübersehbare Entsprechung in dem kantischen Hinweis darauf, dass diese Religion aus „zwei ungleichartigen Stücken zusammengesetzt“ sei (VI 301).
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te – ähnlich seine sehr weitreichende zukunfts-orientierte Diagnose: „Die Hüllen, unter welchen der Embryo sich zuerst zum Menschen bildete, müssen abgelegt werden, wenn er nun an das Tageslicht treten soll. Das Leitband der heiligen Überlieferung, mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter eintritt“ (VI 785).85 Einschlägige Äußerungen Kants sind gewiss nicht zu übersehen, die auch sein Zugeständnis, die „Offenbarung, als an sich zufällige Glaubenslehre, für außerwesentlich“ anzusehen, bedeute keinesfalls, sie „darum … für unnötig und überflüssig“ (VI 271) zu halten, tendenziell wiederum relativieren – jedenfalls, sofern sie dies letztendlich doch wiederum auf einen bloßen „Entdeckungszusammenhang“ bzw. eine (pädagogische bzw. „subsidarische“) Vehikelfunktion reduzieren. Ähnliches gilt wohl auch für jene unübersehbaren Tendenzen, welche die aufschlussreiche Bezugnahme auf die durch „hergebrachte fromme Lehren … erleuchtete Vernunft“ im Sinne des in der religionsgeschichtlichen Entwicklung zutage tretenden moralischen Fundaments der Vernunftreligion abzuspannen scheinen.86 Gleichwohl erlaubt Kants Grundkonzeption auch diesbezüglich durchaus differenziertere Gesichtspunkte. Jenes von Kant für die Ausfaltung der Vernunftreligion verwendete Bild des „Embryos“ verlangt indes eine weitere Präzisierung: Gehört es doch zweifellos zur gedeihlichen Entwicklung des natürlichen Embryos, dass er mit seiner „uterinen Umwelt“ unauflöslich verbunden, d. h. auf diese angewiesen bleibt und erst aus dieser untrennbaren Einheit und Auseinandersetzung mit diesen konstitutiven Faktoren seine konkrete Gestalt finden kann – solchen, die für diesen Embryo zwar „realiter“ durchaus „zufällig“ sind und doch gleichermaßen notwendigerweise „zufallen“, weil er anders seine ihm immanenten Bestimmungen und Potenzialitäten als ein „Sich-selbst-Werdendes“ keinesfalls zur Entfaltung bringen könnte. Die Analogie ist offenkundig: Wäre eine derartige Verwiesenheit auf die konkret „zufälligen“ und doch unablöslichen Realisierungsbedingungen dann nicht auch hinsichtlich der geschichtlichen Entwicklungen der Religion zu fordern – und zwar derart, 85 Mit Bezug auf diese Stelle urteilt Troeltsch (1904, 133), Kant komme zuletzt lediglich zu einer „rein historisch-psychologische(n) und entwicklungsgeschichtliche(n) Betrachtung, die die christliche Offenbarung genau so betrachtet wie die Offenbarungen aller anderen Religionen: als unabsichtliche Dichtung, in welche sich für Menschen einer unwissenschaftlichen Kulturstufe die religiöse Idee einkleiden musste. Nur anthropomorphe Versinnlichung und zur Schwärmerei geneigter Enthusiasmus setzen eine solche Idee in der Menschheit durch. Der Embryo der Vernunft tritt nur in solchen Hüllen zu Tage, die dann die später erwachende kritische Vernunft abstreifen darf. Die Bedeutung des Christentums ist nur, dass in ihm bei der Abstreifung dieser Hüllen der unvergleichlich stärkste Moralgehalt übrig bleibt.“ Dies wird, mit Rücksicht auf die von Kant allein dem Christentum zuerkannte „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehren“ (VI 271), dem Status des Christentums als „natürlicher Religion“ nicht ganz gerecht. 86 Für das eigentümliche „Schwanken“ Kants in diesen Fragen – Unsicherheit in der Sache und gebotene Behutsamkeit? – sind auch Kants Vorarbeiten zur „Religionsschrift“ (AA XXIII, 87 ff ) von besonderem Interesse. Dort wird die „Vernunftmoral“ bzw. die darauf begründete „Vernunftreligion“ so bestimmt, dass wir ihr zufolge „aller Schrift entbehren könnten, außer dass sie subsidarisch sowohl zu früherer Einleitung und größerer Ausbreitung als auch zur wenigstens möglichen daher zu nehmenden für die bloße Vernunft unauflöslichen Schwierigkeiten sehr nützlichen Begleitung dienen könnte“ (AA XXIII 91). Ähnlich: „Wäre keine Bibel so würde das Moral als eine Religion [sein]. Wäre aber keine Moral, so würde auch bei dem Glauben an eine Bibel doch keine Religion sein“ (XXIII 435).
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dass dies zugleich das von Kant andernorts verwendete (dem lebendigen geschichtlichen Prozess keineswegs gerecht werdende) Bild korrigieren müsste: „Es müssen [!] nach und nach alle Maschinen, die als Gerüst dienten, wegfallen, wenn das Gebäude der Vernunft errichtet ist“.87 Die im Sinne einer „praktisch-regulativen Idee“ verstandene bzw. erfolgte „Realisierung“ der Vernunftreligion des wahren „ethischen Gemeinwesens“ wäre demzufolge zugleich die Auflösung bzw. Ablösung von dem sich selbst behauptenden „historischen Glauben“. Gleichwohl spottete Kant auch später noch – gewiss in unübersehbarer Spannung zu den schon angeführten anders lautenden Äußerungen – ausdrücklich über die „Keckheit der Kraftgenies, welche diesem Leitbande des Kirchenglaubens sich jetzt schon entwachsen wähnen, sie mögen nun als Theophilanthropen in öffentlichen dazu errichteten Kirchen, oder als Mystiker bei der Lampe innerer Offenbarungen schwärmen“ (VI 335). Der besondere Rang des Christentums88 als einer „historischen Glaubensart“ beruht nach Kant darauf, dass auch bei ihm „bei Gelegenheit“89 seiner geschichtlichen Her87 Refl. 1415, AA XV, 616; ganz ähnlich in seinem Brief an Lavater (AA X 177). Diese frühen Kennzeichnungen bleiben auch noch in der späten „Religionsschrift“ motivlich bestimmend. Dies zeigt sich auch in dem Rekurs auf die „Offenbarungslehre“ und in der daran geknüpften Forderung: die „Offenbarungslehre aber, worauf eine Kirche gegründet wird, und die der gelehrten Ausleger und Aufbewahrer bedarf“, müsse „als bloßes, aber höchst schätzbares Mittel, um der ersteren [d. i. der „natürlichen Religion“] Fasslichkeit, selbst für die Unwissenden, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben, geliebt und kultiviert werden“ (IV 835). Es trifft wohl zu: „Accordingly, even though it will involve a lengthy process, Kant saw the historical task for the Christian Church to be the removal of this scaffolding“ (Allison 2011, 48). – Es waren diesbezüglich bekanntlich vor allem Hegel und Schelling, die einschlägige Äußerungen Kants eher als ein von ihm begünstigtes Missverständnis kritisierten, zumal die in diesen kantischen Bildern nahegelegten bloß äußerlich-mechanischen Verhältnisse dem Wesen des „Geistigen“ und „Geschichtlichen“ unangemessen seien, d. h. dies der Religion als einem „konkret-lebendigen Verhältnis“ nicht genüge. 88 Diesen hat H. Cohen bekanntlich – und zwar in Bezugnahme auf Motive Kants – energisch bestritten. Offensichtlich mit Blick auf und in gleichzeitiger Abgrenzung von Kants Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ erhebt er den programmatischen Anspruch: „Der Begriff der Religion soll durch die Religion der Vernunft zur Entdeckung [!] gebracht werden. Und die Quellen des Judentums sollen als das Material aufgezeigt und nachgewiesen werden, in dessen geschichtlicher Selbsterzeugung die problematische Vernunft, die problematische Religion der Vernunft sich erzeugen und bewahrheiten soll“ (Cohen 1966, 5). Damit knüpft Cohen an Kants Kennzeichnung der Religion als einer „Vernunftsache“ an. – Schmied-Kowarzik betont im Anschluss an den angeführten Passus: „Die eigentliche Quelle der Religion – so führt Cohen weiter aus – ist die Vernunft, nur die historischen Quellen, durch die die Religion der Vernunft in die Geschichte getreten, im menschlichen Bewusstsein ausgebrochen ist, liegen im Judentum, bei Moses und den Propheten, in der Thora und im Talmud, in der schriftlichen und der mündlichen Überlieferung sowie der fortschreitenden Vergegenwärtigungsarbeit durch die Jahrtausende hindurch. Für Cohen – daran lässt er keinen Zweifel – gibt der geschichtliche Ursprung im Judentum die Religion der Vernunft in besonderer Klarheit wieder, während das Christentum und der Islam – wie Cohen eher verhalten andeutet – in seinen Augen nicht ohne Eintrübungen sind. Vielleicht ist es überhaupt nur dieser Grund, der Cohen dazu führte, das kantische Projekt der Bestimmung der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, das sich an solchen Trübungen abarbeiten mußte, durch seinen Entwurf klärend zu ergänzen“ (Schmied-Kowarzik 2006, 147). 89 Auch hier ist nicht zu übersehen, dass Kants Argumentation wieder analog zu seinem Aufweis des „ursprünglichen Erwerbs der logischen Prinzipien“ verläuft, die zwar als die „notwendigen und allgemeinen Regeln des Denkens … a priori erkannt werden können, ob sie gleich zuerst durch Beobachtung jenes natürlichen Gebrauchs gefunden werden können“ (III 439). Sowenig also die Logik ungeachtet eines empirischen Entstehungszusammenhanges psychologisch-anthropologisch zu legitimieren ist, sowenig ist das „ideen“-fundierte Grundgerüst der „Vernunftreligion“ aus der Religionsgeschichte genealogisch ableitbar; jedoch bleibt es hinsichtlich seiner Genese in derselben situiert, zumal ihre Prinzipien erst in
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kunft und „Realisierung“ sich das „Apriorische“ der Vernunftreligion als „natürliche Religion“ in jenem „Scheidungsprozess“ ausgebildet hat;90 in der weiteren geschichtlichen Entwicklung dieser „Glaubensart“ vollzog sich „die Reinigung dieser apriorischen Prinzipien“ von deren „geschichtlich-faktischen“ Bedingtheiten mit der erkennbaren Zielrichtung, dass sie „von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten vereinigen, allmählich losgemacht werde, und so reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche, ‚damit Gott sei alles in allem‘“ (IV 785).91 Es hat sich schon gezeigt: Das Christentum wäre damit, jedenfalls „idealiter“ gesehen, zuletzt jene aus dem „Scheidungsprozess des Idealen und Realen“ hervorgegangene „historische Glaubensart“, die keine anderen als die „apriorischen Prinzipien“ der Vernunftreligion mehr zur Grundlage hat, d. h. nach Kants Urteil, im Vergleich zu den anderen geschichtlich-positiven „Glaubensarten“, jenen prinzipien-orientierten Vernunftansprüchen der „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehren …, die das Wesentliche einer Religion ausmachen“ (VI 271), am meisten entspricht;92 eben deshalb könne es zwar „vielerlei Arten des Glaubens“, aber doch „nur eine (wahre) Reeinem langwierigen Scheidungsverfahren herausgeschält werden. Auch in diesem Sinne sei, so Kants entscheidender Hinweis, die dem genetisierenden Fehlschluss zugrunde liegende Verwechslung zu vermeiden, „die Gelegenheit, zu diesen [apriorischen] Begriffen zu gelangen, nämlich die Erfahrung, für die Quelle“ zu halten (Refl. 4866, AA XVIII, 14). 90 In diesem modifizierten Sinne wäre Kants Hinweis auch in diesem Kontext aufzunehmen: „Es ist von der äußersten Erheblichkeit, Erkenntnisse, die ihrer Gattung und Ursprunge nach von andern unterschieden sind, zu isolieren, und sorgfältig zu verhüten, daß sie nicht mit andern, mit welchen sie im Gebrauche gewöhnlich verbunden sind, in ein Gemische zusammenfließen. Was Chemiker beim Scheiden der Materien, was Mathematiker in ihrer reinen Größenlehre tun, das liegt noch weit mehr dem Philosophen ob, damit er den Anteil, den eine besondere Art der Erkenntnis am herumschweifenden Verstandesgebrauch hat, ihren eigenen Wert und Einfluß sicher bestimmen könne. Daher hat die menschliche Vernunft seitdem, daß sie gedacht, oder vielmehr nachgedacht hat, niemals einer Metaphysik entbehren, aber gleichwohl sie nicht, genugsam geläutert von allem Fremdartigen, darstellen können“ (II 702 f ). 91 So Kant offenbar mit Blick auf 1 Kor 15,28. 92 Vgl. auch Refl. 7060 (schon für den Zeitraum 1776–1778 datiert: AA XIX, 238 f ), die in einer Konzentriertheit wie wohl nirgends sonst bei Kant die Anliegen bzw. Vorzüge des „Lehrers des evangelii“ vorstellt und anpreist: „Der Lehrer des evangelii … setzte mit Recht zum Grunde, dass die zwei principia des Verhaltens, Tugend und Glückseligkeit, verschieden und ursprünglich wären. Er bewies, dass die Verknüpfung davon nicht in der Natur (dieser Welt) liege. Er sagte, man könne sie jedoch getrost glauben. Aber er setzte die Bedingung hoch an und nach dem heiligsten Gesetz. Zeigte die menschliche Gebrechlichkeit und Bösartigkeit und … nahm den moralischen Eigendünkel weg (Demut) und, indem er das Urteil dadurch geschärft hatte, so ließ er nichts übrig als Himmel und Hölle, das sind … Richtersprüche nach der strengsten Beurteilung. Er nahm noch alle unmoralischen Hilfsmittel der Religionsobservanzen weg und machte dagegen die Gütigkeit Gottes in allem dem, was nicht in unseren Kräften ist, zum Gegenstande des Glaubens, … wenn wir … so viel als in unseren Kräften mit Aufrichtigkeit zu leisten bestrebt sind. Er reinigte die Moral also von allen nachsichtlichen und eigenliebigen Einschränkungen. Das Herz von … moralischem Eigendünkel. Die Hoffnung der Glückseligkeit von phantastischen Aussichten. Den Begriff der Gottheit von den schwachen Begriffen nachsichtlicher Gütigkeit, imgleichen dem dienstbedürftigen Willen Observanzen zu verlangen, von … kindischem Leichtsinn leerer Hoffnung und von knechtischer Furcht kriechender Andächtelei und gab ihm Heiligkeit des Willens als die Norm der Gütigkeit seiner Absichten. Folglich wurde die Moral mit einer Stütze versehen, worauf sich alle Hebel …, die das Herz bewegen sollen, fest stützen, aber zugleich rein, ohne Beimengung der eigennützigen Absichten oder fremdartiger Ersetzungsmittel.“
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ligion“ (IV 768) geben – d. i. „nur eine einzige, für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion“ (VI 225 f, Anm.). Dergestalt rückt erneut die zentrale Frage nach der „Einheit und Differenz“ von Genesis (bzw. „historischer Faktizität“) und Geltung in der bestimmten Akzentuierung ins Blickfeld, dass auch diese „in allen Zeiten gültige Religion“ sich doch erst in bzw. aus den geschichtlichen Religionen entwickeln konnte – jene selbst in der Geschichte auftretende Religion gewissermaßen, die von sich selbst als einer bloß „historischen Glaubensart“ frei geworden sei und ebendeshalb auch allein als „natürliche Religion“ gelten dürfe. Das Christentum sah Kant in solcher Hinsicht als „historische Religion“ dadurch ausgezeichnet, dass es, in der geschichtlichen Entwicklung desselben als einer „historischen Glaubensart“, selbst jene Prinzipien „in ihrer reinsten Gestalt“ ausgebildet habe,93 die das „apriorische“ Fundament des Vernunftglaubens im Sinne der (von ihm so bezeichneten) „natürlichen Religion“ darstellen, mithin als „moralische Religion“ auch das kritische Richtmaß zur Prüfung der Vernunftverträglichkeit aller „historischen Glaubensarten“ anzubieten vermögen.94 Obgleich es sich hinsichtlich seines eigenen religionsgeschichtlichen bzw. historischen Herkunfts- bzw. Entdeckungszusammenhangs darin „realisiert“ hat und insofern also selbst unter entsprechenden Realisierungs-Bedingungen bzw. geschichtlichen Vorgaben steht, sei das Christentum eben zu würdigen als „die Idee von 93 Dass Kant der – in diesem Sinne verstandenen – „Religionsgeschichte“ für bzw. in der „Geschichte der reinen Vernunft“ eine wichtige Bedeutung einräumte, legt auch schon die Refl. 1439 (AA XV, 629) nahe: „Die Religionsgeschichte muss darin vorgetragen werden, so fern die Menschen die Freiheit und Hilfsmittel gehabt haben, sich darin zu bessern, also auch nach ihrem ursprünglichen Recht“. Insofern gibt es bei Kant (in einer Analogie zur notwendigen „Schule der Naturerfahrung“) durchaus Anknüpfungspunkte für ein Verständnis der Religionsgeschichte als einer „Schule der Erfahrung“, die Schaeffler (1995, 683) bei Kant noch vermisst. – Schon in seinen Vorlesungen über Moralphilosophie (AA XXVII, 294) heißt es dann freilich: „Seit der Zeit des Evangelii ist nun die völlige Reinigkeit und Heiligkeit des moralischen Gesetzes eingesehen, ob es gleich in unsrer Vernunft liegt.“ Vieles spricht gerade im Sinne der Einheit des „Vernunftbegriffs in concreto“ und „in abstracto“ dafür, in analogem Sinn auch die Entfaltung der „anima naturaliter religiosa“ und die „metaphysische Naturanlage“ zu sehen. Schon Kants Konzeption eines „Vernunftbegriffs in abstracto“ im Unterschied von einem „Vernunftbegriff in concreto“ und das darin gedachte genealogische Verhältnis lässt sich so verstehen, dass ersterer aus letztgenanntem „herkünftig“ ist. 94 Dass nach Kant mit dem als „natürliche Religion“ verstandenen Christentum, d. h. deren Vollendung, diese Entwicklungsgeschichte zu einem Abschluss kommt, bedeutet jedoch nicht einfachhin: „Accordingly, the ecclesiastical history in which Kant was interested, the central theme of which is the struggle for supremacy between a pure religion of reason and one based on an historical faith, begins with Christianity. […] rather than being a stage in the development of the religious consciousness, the history of the Christian Church is this history“ (Allison 2011, 49). Gegenüber Lessing, der das Christentum als Nachfolger der jüdischen Religion und als Vorgänger des „ewigen Evangeliums“ verstehe, gelte für Kant: „Kant, by contrast, did not regard ancient Judaism as a genuine religion, because it was neither based on moral principles nor included a doctrine of immortality. Accordingly, Christianity for Kant, as in principle a pure moral religion, marked a radical break with Judaism rather than a development of it. And since Kant was a theist and regarded Christianity as already a moral religion, he saw no need for a development beyond it. Rather, the only historical development to which Kant attached any importance was one within Christianity, through which it gradually becomes conscious of its pure moral content and casts off the extrinsic factors connected with the belief in its revealed status“ (Allison 2011, 54 f ). Ungeachtet der unzweifelhaften Entstellung der jüdischen Religion durch Kant scheint Allisons Urteil jedoch wichtige religionsgeschichtliche Akzente bei Kant zu ignorieren.
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der Religion, die überhaupt auf Vernunft gegründet, und so fern natürlich sein muss“ (VI 310). Dass der geltungstheoretische „Prinzipiencharakter“ und Bedeutungsgehalt bzw. deren recht verstandene „Übergeschichtlichkeit“ selbst, eben durch „gelegentliche [geschichtliche] Veranlassung“ bedingt, sich aus dieser religions- bzw. kulturgeschichtlichen „Einbettung“ erst herausschälte, kann in geltungstheoretischer Hinsicht jene beanspruchte „Allgemeinheit, Einheit, und Notwendigkeit“ in keiner Weise relativieren und bleibt in solcher Hinsicht nach Kant ohne Relevanz. Der Sachverhalt, dass die „christliche“ Religion (als „natürliche“ in dem genannten Sinne) in derlei Hinsicht sich zwar als historisch „vermittelt“, jedoch gerade nicht als lediglich „historisch bedingt“ erweist, bringe also vornehmlich den geschichtlich nicht relativierbaren „ideellen“ Charakter des Christentums ans Licht, der es – aufgrund seiner „Qualifikation zur Allgemeinheit“ (d. h. „Gültigkeit für jedermann“: IV 826) – in besonderer Weise dazu qualifiziere, „allgemeine Weltreligion zu sein“ (VI 190).95 Gerade in der historischen Erscheinungsgestalt der christlichen Religion sah Kant idealiter die geschichtlich-„aposteriorische“ Herkünftigkeit bzw. Vermittlung in eigentümlicher Weise mit der „apriorischen“ Gültigkeit seiner Prinzipien („quid juris, quid facti“) unzertrennlich vereint. In dieser Formation indiziere sie, als jene historisch auftretende „Glaubensart“, die indes keine bloße „Glaubensart“, sondern „natürliche Religion“ ist, den gereinigten Kerngehalt aller geschichtlich-positiven Religionen und deren „sinnliche Vorstellungsarten“ (IV 691; VI 301) bzw. fungiere als kritischer Maßstab derselben. Der daran geknüpfte Hinweis Kants (in der späteren Schrift über den „Streit der Fakultäten“: VI 301), dass, „soviel wir wissen, das Christentum die schicklichste Form“ sei,96 ist diesbezüglich freilich unüberhörbar zurückhaltender als die in seiner „Religionsschrift“ geäußerte Bezugnahme auf die „moralische Religion“, als die im Grunde, „unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche“ (IV 703) gelten dürfe.97 Eine hi95 Gelegentlich weisen die Ansprüche Kants aber doch darüber hinaus: „Das Christentum ist nicht die reine moralische Vernunftreligion selbst, wohl aber die einzige Religion in der bisherigen Entwicklung der Menschheit, die vermöge ihres ethischen Gehaltes einer Verkörperung jener fähig [!] ist. Insofern kommt dem Christentum bei Kant tatsächlich die Höchstgeltung unter allen Religionen zu. Aber es ist keine supranatural-exklusive, sondern eine vernünftig-komparative Absolutheit, weil sie aus dem kritischen Vergleich erwächst und weil der Beurteilungsmaßstab von der Vernunft überprüft werden kann“ (U. Barth 2005c, 382). 96 Wohl auch als ein berührendes Zeugnis für die noch beim späten Kant beibehaltene Einstellung zum Christentum darf die in Refl. 6369 (AA XVIII, 693, aus der Zeit nach 1800) angeführte Zustimmung zu einer Notiz Lichtenbergs gelesen werden. Dort heißt es: „Neben dem Anfang des [Lichtenberg’schen] Satzes: ‚Ich glaube von Grund meiner Seele und nach der reifsten Überlegung, dass die Lehre Christi, gesäubert vom Pfaffengeschmiere, und gehörig nach unserer Art sich auszudrücken verstanden, das vollkommenste System [!] ist, das ich mir wenigstens denken kann, Ruhe und Glückseligkeit in der Welt am schnellsten, kräftigsten, sichersten und allgemeinsten zu befördern‘ stehen, mit Rotstift von Kant geschrieben, die Worte: Ich auch.“ Dies weckt nicht nur Assoziationen zu Kants Bestimmung des Christentums als „natürlicher Religion“, sondern ruft gleichermaßen seine Bemerkung in Erinnerung, wonach es „unmöglich“ sei, „ohne Religion seines Lebens froh werden zu können“ (s. o. IV., 3.3.). 97 Nach Derrida ist dies eine „(s)eltsame Behauptung“, die er gleichwohl „samt ihren Prämissen sehr ernst nehmen“ will (Derrida 2001, 21). Bestimmter noch würdigt Kant das Christentum nicht nur, „so viel wir wissen …, als die schicklichste“ Religion: „So lange Aufklärung in der Welt bleibt wird nie ein für das Volk in Sachen der Religion schicklichers und kräftiges Buch angetroffen werden“ (AA XXIII, 451); die
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storisch auftretende „Glaubensart“, die sich gleichwohl an den „universalistischen Prinzipien“ der „natürlichen Religion“ orientiert, kann und darf, aufgrund dieser „Einzelheit und Allgemeinheit“ vermittelnden „Besonderheit“, nicht bloß eine „geschichtliche Glaubensart“ bleiben, sondern ist – eben als solche – nach Kant dazu berufen, „allgemeine Weltreligion“ zu werden.98 Dies scheint ja tatsächlich die eigentliche Pointe der kantischen (von Lessing inspirierten, und doch unverkennbar neue Akzente setzenden) Argumentation auch in diesem religionsphilosophischen Kontext zu sein: Dass die grundlegenden Prinzipien und „Elemente“ der „reinen Vernunftreligion“ (ihre „Allgemeinheit, Einheit, und Notwendigkeit“) zugleich eben als „religionsgeschichtliches“ Aposteriori zu buchstabieren sind, worin Erstere in zunehmender „In-sich-Reflektiertheit“ ausgebildet, d. h., in dieser „historischen Religion“ zunehmend von „den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen befreit, in ihrer Lauterkeit dargestellt“99 werden. Derart wären die Fragen „quid facti?“ und „quid juris?“ in einer offensichtlich zur „ursprünglichen Erwerbung“ bei „Gelegenheit der Erfahrung“ analogen Argumentation zu vermitteln. Dies führt vor Augen, dass und wie jene „überhaupt auf Vernunft“ gegründete „Idee von der [natürlichen] Religion“ hinsichtlich ihrer „realen“ Genese ebenso als religionsgeschichtliches „Aposteriori“ verstanden werden darf und auch auf diesem Gebiet den läuternden Bildungsprozess einer radikal und konsequent vollzogenen Analyse ihrer „Elementarideen“ und der erst daraus zu gewinnenden „Scheidung des Empirischen vom Rationalen“ durchläuft. Dieses religionsgeschichtliche „Aposteriori“ erweist sich so gewissermaßen – ein besonderer Aspekt der „teleologia rationis humanae“ – als das in der Vernunftreligion (in der gefügten Einheit jener „Vernunftideen“) manifest gewordene „Apriori“ („Allgemeinheit“, „Notwendigkeit“, „Einheit“) der Religionsgeschichte. Auch Kants Hinweis darauf, dass „lange“ [!] vor dem „Volksglauben“ „die Anlage zur moralischen Religion in der menschlichen Vernunft verborgen lag“ (IV 773),100 bringt dies im Vorblick auf eine „alles Bibel sei „die einzige heilige Schrift zu heißen und in unabsehliche Zeiten zu bleiben geeignet“ (ebd. 453). Im „Streit der Fakultäten“ nennt Kant die „Bibel … das beste vorhandene, zur Gründung und Erhaltung einer wahrhaftig seelenbessernden Landesreligion auf unabsehliche Zeiten taugliche, Leitmittel der öffentlichen Religionsunterweisung“ (VI 271). Dabei ist es freilich die von Kant – wohl auch infolge der Vernachlässigung bzw. der grob verzerrenden Einschätzung des Judentums (s. dazu auch Brachtendorf 2011) – dem Christentum zugeschriebene Einsicht in die „aus der größeren Bearbeitung der sittlichen Ideen“ hervorgegangene Verbindung der Prinzipien der „Moralität“, der Idee einer „universalen Menschheit“ und des gereinigten „Monotheismus“, die diesbezüglich einen besonderen Stellenwert einnimmt. Die „Vernünftigkeit“ der Religionsgeschichte manifestiert sich allein in der allmählichen Ausbildung der Prinzipien der „allgemeinen Weltreligion“. 98 Ein detaillierter Vergleich der kantischen Position mit derjenigen Voltaires (nicht zuletzt was die Auszeichnung der christlichen Religion, aber auch die Toleranz-Forderung betrifft) wäre gewiss aufschlussreich (vgl. den Hinweis v. J. Derrida 2001, 38 f ). 99 Dies ist wiederum in unverkennbarer Anlehnung an Kants „Zergliederung des Verstandesvermögens“ (d. h. die „Analytik der Begriffe“) in der „transzendentalen Analytik“ formuliert. 100 Schon der Rekurs auf eine „Geschichte der menschlichen Vernunft“ macht deutlich, dass „(a)uch für Kant … die Vernunft keine ein für allemal fertige, sondern eine sich entwickelnde Größe“ ist (Wundt 1924, 448), innerhalb welcher zuletzt, in dem von Kant so bezeichneten „dritten Stadium“, auch das komplementäre Verhältnis von „Glauben und Wissen“ ausgebildet wird und sich reflexiv innerhalb der so eröffneten „Vollendung der Metaphysik“ selbst begreift.
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vereinigende“ Kirche, freilich in nicht unmissverständlicher Weise, zur Geltung. In der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und der darin durchlaufenen „Erfahrung“ (dem darin konkreten „Vernunftbegriff in concreto“) entfaltet sich (in der erst zu leistenden Legitimation des „ursprünglich Erworbenen“) erst der „Vernunftbegriff in abstracto“, der als solcher in der „praktisch“ verankerten Metaphysik zu begründen ist. Hier wird es besonders deutlich: Jenem frühen Bezug auf die „größere Bearbeitung sittlicher Ideen“ (II 685 f ) und auf die korrespondierende Gottesidee entspricht der späte Verweis auf den von den „ersten rohen Äußerungen“ ausgehenden Läuterungsprozess, in dem „die Anlage zur moralischen Religion in der menschlichen Vernunft“ (IV 773) sich abarbeitet und derart auch entfaltet. In solchem – d. i. ihrem – Bildungsprozess101 kommt sie als – daraus resultierender und doch „ursprünglich erworbener“ – Maßstab derselben letztendlich „zu sich“ und begrenzt sich darin zugleich wiederum selbst in ihrem Anspruch: „man kann es, ohne zu heucheln, der moralischen Lehre des Evangelii mit aller Wahrheit nachsagen: daß es zuerst, durch die Reinigkeit des moralischen Prinzips, zugleich aber durch die Angemessenheit desselben mit den Schranken endlicher Wesen, alles Wohlverhalten des Menschen der Zucht einer ihnen vor Augen gelegten Pflicht, die sie nicht unter moralischen geträumten Vollkommenheiten schwärmen läßt, unterworfen und dem Eigendünkel sowohl als der Eigenliebe, die beide gerne ihre Grenzen verkennen, Schranken der Demut (d. i. der Selbsterkenntnis) gesetzt habe“ (IV 208 f ). So bestätigt sich: Das „religionsgeschichtliche Aposteriori“ (im Sinne der „historischen Glaubensart“) sah Kant mit den „apriorischen Prinzipien“ für jede „natürliche Religion“ auf eine Weise vereint, die ihm zufolge offenbar die Sichtweise eröffnet und legitimiert, dass diese – eben dadurch ausgezeichnete – „historische Glaubensart“ im Begreifen ihrer selbst als „historischer Religion“ sich zugleich selbst als eine solche überwindet, sich „dergestalt“ also von sich selbst als einer bloß partikulären „historischen Glaubensart“ gleichsam befreit. Die Selbsterhaltung als „Religion“ wäre somit geradewegs mit einer notwendigen Selbstrelativierung als „historischer Glaubensart“ engstens verbunden. Ebendeshalb sah Kant nicht zuletzt auch die christliche Religion unzertrennlich mit der „Geschichte der reinen Vernunft“ verbunden (und zur „Weltreligion berufen“), weil in ihr selbst – als „übergeschichtlicher Gehalt“ – vornehmlich doch dies offenbar werde, dass allein Moral das unumstößliche Fundament und das „Wesentliche“ der Religion darstellt, diese Moral aber auch „unumgänglich zur Religion führt“; andererseits müssen sich auch die konkreten Gottesvorstellungen der geschichtlichen Religionen am kritischen Maßstab jener Prinzipien einer autonomen Moral und des kritisch geläuterten Gottesbegriffs 101 Von der in einem Bildungsprozess erst entfalteten Korrelation von moralischem Selbstverständnis und Gottesidee ist auch in jenem schon zitierten (s. o. V., Anm. 26) bemerkenswerten Passus der „Religions schrift“ (IV 847 f) die Rede. – Freilich, vom „Tempel (dem öffentlichen Gottesdienste geweihte Gebäude)“ bleiben nach Kant „Kirchen (Versammlungsörter zur Belehrung und Belebung in moralischen Gesinnungen)“ (IV 767) genau zu unterscheiden, da gibt es ihm zufolge keine unmittelbaren Anknüpfungspunkte. Vgl. auch die diesbezüglich aufschlussreichen Notizen Kants aus den Vorarbeiten zum späten „Streit der Fakultäten“ (AA XXIII, 448): „1. der rein mosaische Glaube. 2. der mosaisch Christliche Glaube. 3. der rein Christliche Glaube. Wenn also vom mittlern Glauben der mosaische weggelassen wird so bleibt der letzte als Vernunftglaube […] Mosaisch-Messianischer Glaube, 2. Messianisch evangelischer 3. rein evangelischer oder christlicher Glaube [.] Fängt jetzt erst an“.
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der die „kritische Transzendenz“ wahrenden kritischen Metaphysik – „ex negativo“, als Probierstein (IV 839 f, Anm.) – bemessen lassen,102 weil andernfalls, mit Schelling gesprochen, eine „geistige Auszehrung“ in der Tat die unvermeidliche Folge wäre.103 Das Bestreben Kants ist jedenfalls deutlich erkennbar, die moralischen und religiösen Ideen in ihrer Genese aus der religiösen Entwicklung, d. h. ihr geschichtliches „Geworden-Sein“, zu begreifen und gleichermaßen deren Apriorität (Allgemeinheit, Notwendigkeit …) auszuweisen, um so die Verbindung von „historischer Glaubensart“ und der (von Kant [vgl. VI 311] so bezeichneten) „natürlichen Religion“ zu gewährleisten. Darin ist enthalten, dass die Betonung des Entstehungs-, besser wohl: des Entdeckungs-Zusammenhanges vom Begründungs-Zusammenhang und somit vom sachlichen Geltungsanspruch und den daran geknüpften Lernprozessen unterschieden bleiben muss; dies verbietet es aber auch, letztgenannten Aspekt durch Ersteren zu relativieren, wenn andernfalls doch auch die Würdigung des Christentums als „natürlicher Religion“ ebenso wenig aufrechtzuhalten wäre wie jener erhobene Anspruch darauf, dass gerade das Christentum dazu berufen sein sollte, „allgemeine Weltreligion zu sein“ (VI 190). Es sei das Christentum, das vom „ersten Anfange an den Keim und die Prinzipien zur objektiven Einheit des wahren und allgemeinen Religionsglaubens bei sich führte, dem sie [diese Kirche] allmählich näher gebracht wird“ (IV 798)104 und der so die komplementären Hinsichten „quid facti?“ und „quid juris?“ in sich vereint. Erst dadurch, dass sich das Christentum aus seinen partikulären Erscheinungsformen als „historischen Glaubensarten“ entbindet, vermag es seinen substanziellen Gehalt als „natürliche Religion“ auf eine Weise zu entwickeln, die es nunmehr dazu freisetzt, „allgemeine Weltreligion“ zu sein. Letzteres ist nach Kant eben allein jenem tradierten „Geschichtsglauben“ vorbehalten, der sich von den Fesseln und Immunisierungsabsichten des bloßen Kirchenglaubens als eines „bestimmte(n) sich selbst erhaltenden Systems“ (IV 776) zu lösen vermag und diese tradierten Ansprüche und interpretationsbedürftigen Glaubensinhalte in einer „authentischen Auslegung“ verflüssigt. Solche „Verflüssigung“ läuft jedoch gerade nicht einfachhin auf deren „Auflösung“ hinaus, sondern ermöglicht allererst ihre „Einlösung“ und somit dies, dass – jenseits von partikularistischen Sonderansprüchen – jene überschießenden Sinnansprüche als ein der „Vernunft fremdes Angebot“ auch „existenzerhellend“ vernehmbar werden. Die „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ voll102 Insoweit und in dem Maße ist Kant ein „Religionskritiker“, als sein Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zwar nicht einfachhin als Maßstab, sondern als „negatives“ „Richtmaß und [als] Probierstein“ der positiv-geschichtlichen Religionen fungiert, dem diese nicht „zuwider“ sein dürfen. 103 „Jede Philosophie, die nicht im Negativen ihre Grundlage behält, und ohne dasselbe, also unmittelbar das Positive, das Göttliche erreichen will, stirbt zuletzt an unvermeidlicher geistiger Auszehrung“ (Schelling X, 150 f ). 104 Insofern finden sich bei Kant wenigstens ansatzweise Möglichkeiten für jene Aufgabe, die R. Schaeffler (in seiner grundsätzlich freilich zutreffenden Bemerkung) vermisst: „Kant kennt, wie die meisten seiner Zeitgenossen, kaum eine andere Religion als den christlichen Glauben. […] Seine Religionsphilosophie dient weder einem kritischen Vergleich der verschiedenen Religionen noch einer Rekonstruktion der Religionsgeschichte, sondern fragt, wie der christliche Glaube vernünftig gerechtfertigt werden kann“ (Schaeffler 2005, 163).
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zogene Prüfung der Gestalten des „Geschichtsglaubens“ spannt einen weiten Bogen – deren Maßstab und die darin gewahrte Sensibilität für die durch „hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ bezieht sich mit der darin vollzogenen Läuterung der Idee des „Unbedingten“ einerseits auf eine „Moralisierung“ der Ansprüche des „Heiligen“ und leistet andererseits mit den erst auf dieser Basis möglich gewordenen Differenzierungen auch eine „Selbstbegrenzung“ der Ansprüche der „praktischen Vernunft“. Kants eigene Differenzierung der Idee des „höchsten Gutes“ lässt sich in ihren religionsgeschichtlichen Bezügen am Leitfaden dieser „historischen Glaubensarten“ rekonstruieren, worin sich das Verhältnis der „Geschichte der menschlichen Vernunft“ und der „Geschichte der reinen Vernunft“ widerspiegelt. Aus der Charakterisierung des – seine eigene „Partikularität“ als historische „Glaubensart“ überwindenden – Christentums als „natürlicher Religion“, die aus den genannten „universalistischen“ Gründen „allgemeine Weltreligion“ zu sein berufen ist, folgt freilich auch dies: Weil „Gott ein aus der Moral [des „Gottes in uns“] hervorgehender Begriff“ sei, ist es dieser Gott als „Gegenstand der Religion“ (und nicht einer bloßen partikulären historischen „Glaubensart“), der darin als derjenige „erscheint“, der eben nicht nur „unser“ Gott, sondern im moralischen Verhältnis zu ihm tatsächlich „ein Gott aller Menschen“ sein muss; zeigt sich darin doch jener bedeutsame Sachverhalt, dass das gedachte „Verhältnis Gottes zur Welt“ in Wahrheit das vernunft-orientierte „Verhältnis der Welt zu Gott“ besagt bzw. darin „dargestellt“ wird und ebendies auch alle Rückfälle in partikularistische Engführungen und Ansprüche jedweder Art verbieten muss. Auch in solcher Akzentuierung darf demzufolge der – gleichermaßen provozierende wie auch mahnende – kantische Anspruch aufgenommen werden, dass erst durch die aus der „anhängenden historischen Gelegenheit“ hervorgehenden „genugsam gereinigten“ moralischen Begriffe, über eine bloße „Verträglichkeit“ hinaus, auch ein entsprechender „Begriff vom göttlichen Wesen“ resultieren kann. Es sind diese moralische Fundierung der Vernunftreligion und die darauf gegründeten bzw. darüber hinausweisenden grenz-orientierten Sinnpotenziale, die nach Kant dem Christentum diese vergleichsweise Vorrangstellung einräumen. Letzterem wäre gewissermaßen auch zugemutet, in seiner als „historischer Glaubensart“ geschichtlich realen „Partikularität“ den Anspruch, „Weltreligion zu sein“ und die damit verbundene „Universalität“ mit Blickrichtung darauf zu verwirklichen, dass es sich – in Preisgabe der „Selbsterhaltung als eines historischen Systems“, d. h. auch in solcher Hinsicht aus sich „heraustretend“ – vornehmlich am Dienst für das „Wohl und Heil“ auch der Nichtgläubigen und Ausgegrenzten orientiert – und solcherart sich freilich nicht nur erhält, sondern doch allererst gewinnt. Jenes schon wiederholt angeführte Analogie-Motiv in Kants „Gemeinspruch“-Aufsatz (über den „sich nach der Analogie mit der Gottheit denkenden Menschen“) erhält in solcher Blickrichtung noch einmal ganz besonderes Gewicht (s. o. V., Anm.71). Freilich wird vor diesem Hintergrund – wohl im Sinne einer sehr provokanten Zuspitzung – die Frage geradezu unabweislich: Liefe Kants Programm einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ letztendlich nicht darauf hinaus, dass das von seinen historisch bedingten „Hüllen“ und „Observanzen“ befreite Christentum, das eben als „natürliche Religion“ dazu bestimmt wäre, „allgemeine Weltreligion zu sein“, sich selbst
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konsequenterweise in seinen Ansprüchen als „historischer Glaube“ relativieren müsste – d. h.: sich als „sich selbst erhaltendes System eines Kirchenglaubens“ nicht lediglich zu den anderen (monotheistischen) „Glaubensarten“ ins Verhältnis zu setzen, sondern sich, ungeachtet gegenteiliger Versicherungen, auch selbst als eine solche „aufzuheben“ (aufzugeben?) hätte? Müsste es sich, einer solchen kantischen Perspektive zufolge, somit nicht aus dem geschichtlichen Entwicklungsprozess der Religionen gleichermaßen als „sich relativierend“ begreifen – möglicherweise eine kantische Version der Lessing’schen Ringparabel und ebenso ein Versuch, den Absolutheitsanspruch des Christentums als der „natürlichen Religion“ – eben als Weltreligion – aus den genannten Gründen zugleich noch einmal zu legitimieren? Der christlichen Religion als „historischer Religion“ bliebe demnach nach Kant folgerichtig ihre besondere Stellung bzw. die Erfüllung der Aufgabe einzuräumen, dass sie, gemäß jenem Hinweis auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“, diesen für die Entfaltung der „Geschichte der reinen Vernunft“ so bedeutsamen Fortschritt selbst ermöglicht und auch „bewirkt“ hat105 und nur daraus auch die resultierende „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit“ als „natürliche Religion“ beanspruchen kann. Zweifellos weckt jener kantische Satz: „Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben“ (IV 768), nochmals Assoziationen zu jenem schon genannten kusanischen Motiv „una religio in varietate rituum“; ebenso lässt das thematische Umfeld durchaus die Absicht erkennen, dass Kant dieses darin implizierte Programm über die innerchristlichen „Varietäten“ hinaus auf die Weltreligionen als die verschiedenen Formen des „Geschichtsglaubens“ überhaupt ausgedehnt wissen wollte. Dafür spricht jedenfalls auch seine Anregung bzw. Ermutigung, „dass der Geschichtsglaube, der als Kirchenglaube ein heiliges Buch zum Leitbande der Menschen bedarf, aber eben dadurch die Einheit und Allgemeinheit der Kirche verhindert, selbst aufhören und in einen reinen, für alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben übergehen werde; wohin wir dann jetzt, durch anhaltende Entwickelung der reinen Vernunftregion aus jener gegenwärtig noch nicht entbehrlichen Hülle, fleißig arbeiten sollen“ (IV 802, Anm.),106 damit auch in solcher Hinsicht „am Ende Gott alles in allem sein wird“. Derart ist nach Kant den jeweiligen Gestalten des „Kirchenglaubens“ sodann freilich das selbst105 Nicht zuletzt hätte Schelling in solcher Relativierung lediglich eine notwendige Konsequenz aus dem „vulgären Rationalismus“ der kantischen Religionsphilosophie gesehen, die den wesentlich geschichtlichen Charakter des Christentums verkennt – und damit auch dies, dass der geschichtliche „Jesus als der Christus“ eben nicht nur Lehrer, sondern der wesentliche Inhalt des Christentums ist. Gegen Lessing und auch gegen Kant richtet sich wohl Schellings Bemerkung, „dass der Begriff einer Offenbarung entweder gar keinen Sinn hat und völlig aufgegeben werden muss, oder dass man genötigt ist, einzuräumen, der Inhalt der Offenbarung müsse ein solcher sein, der ohne sie nicht nur nicht gewusst würde, sondern nicht einmal gewusst werden könnte“ (Schelling XIV, 5). 106 Sehr bemerkenswert ist freilich, dass Kant dies in der 2. Auflage der „Religionsschrift“ präzisiert, besser wohl: behutsam korrigiert – sieht er sich doch nunmehr zu der Klarstellung veranlasst: „Nicht dass er [der „Geschichtsglaube“ als „Kirchenglaube“] aufhöre (denn vielleicht mag er als Vehikel immer nützlich und nötig sein), sondern aufhören könne; womit nur die innere Festigkeit des reinen moralischen Glaubens gemeint ist“ (IV 802, Anm.; Hervorhebung v. Verf ). Hier ist eine motivliche Nähe zu einer These Lessings (im Schlussparagraphen des Fragments „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“: Lessing 1968, Bd. 7, 281) wohl besonders deutlich zu erkennen: „Die beste geoffenbarte oder
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relativierende Bewusstsein zugemutet, „dass der geglaubte Gegenstand [nicht] so und nicht anders sein müsse, sondern nur, dass er so sei“, d. h. somit auch eingeräumt werden müsse, dass es „deren … mehrere geben kann“ (IV 777). Indes, die von Kant nur beiläufig angedeutete letzte – paradoxe – Konsequenz daraus wäre sodann, wie erwähnt, freilich dies, dass das „zur Weltreligion“ bestimmte Christentum sich hinsichtlich seiner eigenen geschichtlichen Partikularität und Kontingenz – d. h. freilich: als „bloßer Geschichtsglaube“ überhaupt – gewissermaßen selbst überwinden, von sich selbst loslösen (bzw. gerade von seiner partikulären geschichtlichen Erscheinung „abstrahieren“) müsste und erst dergestalt, das heißt in bzw. durch solche „Selbstaufhebung“, „absolut“ werden könnte. Kant zufolge wären von daher auch erst jene verbindlichen Maßstäbe für die Prüfung bereitzustellen, welche „historischen Glaubensarten“ Substanzielles zur Ausbildung und Etablierung jenes „Grundgerüsts“ und gleichermaßen zur Abtragung bzw. Relativierung des „Statutarischen“ beigetragen haben. Dies erst erlaube eine „Selbsterhaltung der Vernunft“ im Sinne einer Unabhängigkeit von der „Fremdbestimmung“ des „historischen Glaubens“ als eines (für sich jedoch unzureichenden) sich selbst „erhaltenden Systems“ (IV 776) und könnte zugleich – in Überwindung ihrer bloß „partikulären Gültigkeit“ (IV 777) – als ein unverzichtbares und gleichermaßen als solches anerkanntes Richtmaß dafür fungieren. Ähnliches stand Kant offenbar in jenem Rekurs auf die „von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen“ (IV 785), befreiten „Religion“ „idealiter“ vor Augen, die nur so als „reine Vernunftreligion“ zuletzt über alle herrschen könne, ‚damit Gott sei alles in allem‘ [sollte es besser heißen: in allen]?“ (IV 785) – das heißt nunmehr eine „Herrschaft“ ausübt, die allein diejenige der Vernunft (bzw. deren „Ideen“) selbst ist, freilich immer „noch in unendlicher Weite von uns entfernt“ (IV 786). Kants Perspektive, dass „reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche“, „damit Gott sei alles in allem“, wäre dann nicht notwendigerweise einfachhin als Ersetzung der „Glaubensarten“ zu verstehen, sondern dahingehend, dass jene „reine Vernunftreligion“ eher als negatives „Richtmaß“ und auch als „Schutzwehr“ allgemeine Anerkennung findet. Die schon angeführten späten Erwägungen, dass „Religion objektiv eine natürliche, obwohl subjektiv eine geoffenbarte“ (IV 824) sein und ebenso von einer „‚Religion innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft‘, die aber nicht aus bloßer Vernunft abgeleitet, sondern zugleich auf Geschichts- und Offenbarungslehren gegründet ist …, die Rede sein könnte“ (IV 629), verdeutlichen dieses Motiv der Einheit von geschichtlicher „Aposteriorität“ und der darin geschichtlich hervorgetretenen „Apriorität“ der Prinzipien der „Vernunftreligion“, die sodann in einer philosophischen Begründung einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ihre reflexive Gestalt gewinnt und darin „Religion“ als „reine Vernunftsache“ (VI 338) legitimiert. Dies verweist nach Kant wiederum auf das „Christentum“ als die „Idee von der Religion, die überhaupt auf Vernunft gegründet ist“, gleichwohl in seiner religionsgeschichtlichen „Aposteriorität“ verortet und daraus verstanden werden muss als jene geschichtlich-reale „historische Glaubenspositive Religion ist die, welche die wenigsten konventionellen Zusätze zur natürlichen Religion enthält, die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten einschränkt.“
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art“, die sich dergestalt gerade selbst als eine solche relativiert bzw. überwindet, aber auch die anderen „historischen Glaubensarten“ an ihrem geschichtlichen Ort und in ihrer Wahrheit zu begreifen vermag. Eben dies wäre demnach erst der bleibende Ertrag jener „Archäologie der Vernunft“: Das darin Freigelegte wäre eben nicht ein beliebiges, geschichtlich ausgebildetes „Aposteriori“, sondern ein solches, das zugleich jene „apriorischen Prinzipien“ in ihrer Reinheit und in ihrem Zusammenhang geschichtlich als „Vernunftbegriff in abstracto“ zur Ausbildung bringt; in jener „Zweckverbindung“ der „Ideen des Übersinnlichen“ begreift dieser „Vernunftbegriff in abstracto“ innerhalb des „dritten Stadiums der Metaphysik“ sich selbst in seiner „aposteriori“ vermittelten „Apriorität“ und bringt dergestalt in solcher „Selbstreflexivität“ dieses Stadium auf eine Weise zum Abschluss, in dem der erhobene Anspruch, dass „Religion eine reine Vernunftsache ist“ (VI 338), erst seine vollständige Einlösung findet. Lediglich als eine Konsequenz aus diesem Gedanken könnte demnach die gewissermaßen paradoxe Zumutung erscheinen, dass dergestalt die eigentliche „Realisierung“ als eine „geschichtlich-positive Religion“ geradewegs auf ihre Selbstaufhebung hinauslaufen müsste –, das heißt aber: dass ihre besondere „Positivität“ als „geschichtliche Religion“, aber auch deren spezifische Legitimation als „reine Vernunftsache“, infolgedessen doch genau darin zu sehen wäre. Indes, (wie) könnte dies eine „historische Glaubensart“ denn als „universale concretum“ leisten, ohne damit ihre besondere Identität als geschichtliche Religion preiszugeben?107 Jedenfalls weist Kants bemerkenswerte Interpretation des bibli schen „dass Gott alles in allem ist“, im Sinne einer praktisch-regulativen Idee, unverkennbar in solche Richtung: Denn, so Kants Vorschlag, dieser „Ausdruck“ („Gott alles in allem“) könnte ja auch im Sinne jenes zu erstrebenden Zieles verstanden werden, wonach „durch anhaltende Entwicklung der reinen Vernunftreligion“ letztendlich der „reine, für alle Welt gleich einleuchtende Religionsglaube“ resultieren könne (IV 802, Anm.). Die für den moralischen Vernunftglauben maßgebenden Gottesprädikate sind demnach selbst im Sinne des in der Geschichte der reinen Vernunft durchlaufenen Läuterungsprozesses gewissermaßen „ursprünglich erworben“, somit aber auch der Vernunftglaube selber, der „sich aller menschlichen Vernunft von selbst“ darbietet. In diesem Sinne ist dann wohl auch Kants späte Auskunft zu nehmen, dass solcher „Vernunftglaube“ „eigentlich kein Geheimnis“ enthält, „weil er lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt; auch bietet er sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar und wird daher in der Religion der meisten Völker angetroffen“ (IV 807). Denn: „Man kann nicht wohl den Grund angeben, warum so viele alte Völker in dieser Idee überein kamen, wenn es nicht der ist, dass sie in der allgemeinen Menschenvernunft liegt, wenn man sich eine Volks- und (nach der Analogie mit derselben) eine Weltregierung denken will“ (ebd.). 107 Diese Konsequenz zieht offenbar B. Dörflinger, der im Blick auf die „entwickelten aufgeklärten Maßstäbe Kants“ zu dem „ernüchternden Befund“ darüber gelangt, „in welchem Religionszustand … sich unsere Zeit befindet“: „Es ist nicht zu erkennen, dass eine der partikularen historischen Glaubensarten den absoluten Anspruch aufgegeben hätte, die einzig wahre zu sein. Verlangt wäre allerdings noch mehr als dies, nämlich das Ziel der letztlichen Selbstaufhebung um der Universalität der moralischpraktischen Vernunft willen ins Selbstverständnis aufzunehmen“ (Dörflinger 2009b, 178); erst so wären die Ansprüche der geschichtlichen „Besonderheit“ mit dem „Allgemeinen“ vereint.
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Diese Auskunft Kants steht indes, wie sich noch zeigen wird, in einer unübersehbaren Spannung zu den von ihm durchaus eingeräumten, nämlich über praktische Vernunftansprüche vermittelten „Geheimnissen“, auf die Freiheit sich verwiesen sieht; er selbst spricht in solchem religionsphilosophischen Kontext gelegentlich von Fragen, vor denen die Vernunft „ins Stocken gerät“ (s. dazu u. VI., 1.2.1.). Auch so bestätigt sich: Jenes in dem Gefüge der „Ideen des Übersinnlichen“ verankerte und dennoch auf dem langen Weg der geschichtlichen Erfahrung „ursprünglich erworbene“ Grundgerüst einer „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ wurde von Kant als unumstößliches Fundament der „auf dem Kritizism der praktischen Vernunft gegründete(n) wahre(n) Religionslehre“ (VI 328) und gleicherweise als negativ-kritisches Richtmaß für die je bestimmten geschichtlichen Religionen beansprucht, das so als unentbehrlicher Ausleger dessen fungiert, „was uns ein Geschichtsglaube immer verheißen mag“ (IV 855). Als ein solches bleibt es schon deshalb unverzichtbar, weil andernfalls auch einschlägige Ansprüche in pluralen Religionstheorien bzw. Theorien religiöser Erfahrung völlig maßstablos blieben und über ein – vermeintlich tolerantes, in Wahrheit jedoch buchstäblich „anspruchsloses“ – bloßes Nebeneinander wohl kaum hinaus kämen. Es hat sich gezeigt: Jenes eine innere „Zweckverbindung“ enthüllende Ideengefüge wäre demnach in seiner Idealität selbst als ein erst „bei Gelegenheit der Erfahrung“ ausgebildetes bzw. daraus in seiner Reinheit „vermitteltes“ zu begreifen, das freilich in den geschichtlichen Religionen in verschiedenen Erscheinungs- und Vollendungsweisen in concreto repräsentiert wird. Gleichwohl könne jedoch keine der „historischen Glaubensarten“ einen Absolutheitsanspruch für sich selbst reklamieren, zumal keine diesem unentbehrlichen „idealen Richtmaß“ schlechthin entspricht. Anknüpfend an schon im I. Teil vorgestellte Überlegungen zur Verbindung von „Theologie und Moral“ (s. o. bes. I., 1.1.1.; 2.2.1.) legt sich hier noch ein weiterer Gedanke nahe. Eine daraus resultierende religionsphilosophisch sehr bedeutsame – und auch für gegenwärtige Debatten durchaus aktuelle – Problemkonstellation wäre doch dies: Jene aus der „Geschichte der reinen Vernunft“ hervorgegangenen gereinigten „Vernunftideen“ des „theoretisch“ und „praktisch Unbedingten“ (die „Gottesidee“ als „allerealstes Wesen“ bzw. als das „unbedingte moralische Gesetz“) stellen das unumstößliche Fundament für die von Kant schon früh intendierte Verbindung von „Theologie und Moral“ zur „Religion“ (vgl. II 338 Anm.) dar; die aus dieser Verbindung hervorgegangene „Religion“ als „reine Vernunftsache“ (VI 338) bedeutet eine radikale Entpsychologisierung“ derselben (und ihrer partikulären Ansprüche), zumal der diese „Vernunftideen“ auszeichnende Unbedingtheitsanspruch eine – kritizistisch legitimierte – theoretische und praktische „Letztbegründung“ darstellt, die sich an den Ideen der „Wahrheit“ und des „Unbedingt-Guten“ orientiert und insofern einen entscheidenden Fortschritt bedeutet (s. dazu auch o. III., Anm. 160). Die aus solcher Verbindung dergestalt resultierende „Vernunftreligion“ (als „negatives Richtmaß“ bzw. „Schutzwehr“) bleibt somit mit der regulativen Idee einer „Religionsgeschichte“ verbunden und lässt so eine interessante religionsphilosophische Konstellation zutage treten: Theologie und „Ethik“ sind darin (auch im Sinne einer „Ethisierung“ der Gottesidee) unauflöslich „relativ“ zueinander und gleichermaßen „relativ“ zu den Ansprüchen der „historischen Glaubensarten“ – und zwar
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sowohl im Sinne ihrer Selbstrelativierung als solche historische Glaubensarten als auch der Forderung, als „Vernunftgestalten“ in ihren Ansprüchen miteinander in Beziehung zu treten; diese Orientierung an der „Idee der Wahrheit“ als auch ihre „Ethisierung“ (durch „größere Bearbeitung sittlicher Ideen“: II 686) implizieren so ihre (recht verstandene) Selbstrelativierung als „partikuläre“ historische Erscheinungsformen. 2.1.2. Der bloße „Geschichtsglaube“ ist „tot an ihm selber“: Zu Kants Lesart der Unterscheidung zwischen „geistigem Sinn“ und „Buchstabensinn“ Sofern religiöse Traditionen selbst an ihre Adressaten einen Sinn-Anspruch stellen – besser: nur durch diesen alles Verstehen begründenden Anspruch überhaupt „angehen“, d. h. ein „Sich-daran-gelegen-sein-Lassen“ fordern können und nur so auch das Selbstverständnis des Angesprochenen berühren und verwandeln –, bleibt der in dem „Primat der praktischen Vernunft“ und in den „Prinzipien der praktischen Vernunft“ fundierte „reine Religionsglaube“ nach Kant der „oberste Ausleger“108 – gewissermaßen als ein unverzichtbares, weil in produktiver Weise sinn-erschließendes (und insofern durchaus „aufklärendes“) Vor-Urteil. Dass jedwede Offenbarung als „historisches System“ (IV 659) andernfalls selbst vollends sinn- und anspruchslos bliebe, besagt unmissverständlich Kants Urteil: „Der Geschichtsglaube ist ‚tot an ihm selber‘“ (IV 773).109 Diese provozierende 108 Mit der Lehre von dem „Gott in uns“ als dem „obersten Ausleger“ knüpfte Kant möglicherweise, in freier Variation, an das traditionelle Prinzip an: „Nemo audit verbum, nisi spiritu intus docente“ (vgl. Otto 1932, 203). Eben daran orientierte sich in kritischer Absicht Kants Bemühung um „philosophische Grundsätze der Schriftauslegung“, die sich damit jedoch keineswegs eine philosophische Auslegung („zur Erweiterung der Philosophie“) anmaßen will (VI 303 f ). – Es wird sich sogleich zeigen: Kants daran geknüpfte Kritik richtet sich vornehmlich gegen eine „Gläubigkeit“, die sich auf einen „Buchstabenglauben“ fixiert, d. h. darauf reduziert. Weil der Sinn des Textes seine Bedeutung nicht aus sich selbst hat, sondern in vernünftiger Auslegung erst „bedeutend“ wird, unterschied Kant den „Buchstabensinn“ vom „geistigen Sinn“; die Auslegung gemäß Ersterem („da stehts geschrieben“) bleibe unvermeidlich „tot an ihm selber“, weshalb der unverzichtbare Leifaden für die angemessene Auslegung des Textes zunächst nur die „moralisch bestimmte Vernunft“ selbst sein könne, die den Anspruch des Textes erst „zur Sprache bringt“, d. h. vernehmbar macht. – N. Hinske verweist auf einen Brief Kants an Hamann, der ein „frühes Motiv von Kants später Religionsphilosophie“ sichtbar mache, nämliche seine Sensibilität für eine philologische Kurzschlüssigkeit einer Glaubensbegründung: „Wenn eine Religion einmal so gestellet ist, dass kritische Kenntnis alter Sprachen, philologische und antiquarische Gelehrsamkeit die Grundveste ausmacht, auf die sie durch alle Zeitalter und in allen Völkern erbauet sein muss, so schleppt der, welcher im Griechisch – Hebräisch – Syrisch – Arabischen etc. imgleichen in den Archiven des Altertums am besten bewandert ist, alle Orthodoxen, sie mögen so sauer sehen wie sie wollen, als Kinder, wohin er will‘ (AA 10, 160)“ (Hinske 2005, 202 f ). Kants späte Betonung des „authentischen Auslegers“ der Texte und die Frage nach deren bleibenden Sinnanspruch verdankt sich offensichtlich immer noch der Erinnerung an diese schon früh erkannte Schwierigkeit. 109 Eine eindrucksvolle Erläuterung dafür gab Kant mit Blick auf seine Unterscheidung zwischen dem „Kirchenglauben“ und dem „reinen Religionsglauben“, wo er den „lebendigen Glauben“ vom „empirischen Glauben“ abgrenzt: „Der lebendige Glaube an das Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit (den Sohn Gottes) an sich selbst ist auf eine moralische Vernunftidee bezogen, sofern diese uns nicht allein zur Richtschnur, sondern auch zur Triebfeder dient, und also einerlei, ob ich von ihm, als rationalem Glauben, oder vom Prinzip des guten Lebenswandels anfange. Dagegen ist der Glaube an eben dasselbe Urbild in der Erscheinung (an den Gottmenschen), als empirischer (historischer) Glaube, nicht einerlei mit dem Prinzip des guten Lebenswandels (welches ganz rational sein muß), und es wäre ganz etwas anders,
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und wohl auch mehrdeutige Kennzeichnung des „Geschichtsglaubens“ zielt keineswegs allein auf die drohende „Heteronomisierung“ der moralischen Subjekte110 ab; ebenso wenig könnte ein „vernünftiges, endliches Wesen“ aus einem solchen gewissermaßen „auswendigen Fürwahrhalten“ sein Leben in freier Verantwortung und auch Zustimmung führen, d. h. dieses auf ein Ganzes hin orientieren und letztendlich auch sammeln.111 von einem solchen anfangen, und daraus den guten Lebenswandel ableiten zu wollen“ (IV 782). Auch diesbezüglich gilt Kants Notiz: „Das Historische dient nur zur Illustration, nicht zur Demonstration“ (AA XXIII, 437) – und bestätigt so die Einschätzung O. Pfleiderers, wonach für Kant „die Veranschaulichung des sittlichen Ideals in einem geschichtlichen Exempel von so hervorragender sittlicher Erhabenheit, wie Jesus es darstellte, anregend wirken könne“ (Pfleiderer 1893, 177); vgl. Troeltsch (1904, 94 f ), der den Vorschlag Kants zitiert, Jesus als die „vom angeborenen Hange zum Bösen freie Person“ als das „Symbol der sich selbst über die Versuchung zum Bösen erhebenden (diesem siegreich widerstehenden) Menschheit“ (IV 736, Anm.) zu verstehen. Kants Bezugnahme auf Jesus als den „ersten Lehrer“, aus dessen Munde die Religion „als eine nicht statutarische, sondern moralische Religion hervorgegangen“ sei (IV 838), scheint dies zu bestätigen und verdankt sich vielleicht einer Erinnerung daran, dass Leibniz es als das besondere Verdienst Christi gewürdigt hatte, dass er „die natürliche Religion vollkommen in ihrem Gesetzes-Charakter erkennen ließ“ (Leibniz 1968, 3). – Mit Recht bemerkt Murrmann-Kahl (2005, 265), dass Kant der „,Sohn Gottes‘ als Vorbild moralischer Selbsttätigkeit“ interessiere, „aber nicht die historische Person Jesu in ihrer Besonderheit“; Murrmann-Kahl verweist auf eine Anmerkung von J. Rohls, die diesen (bei Kant nicht zu leugnenden) kritischen Punkt recht genau trifft: „Es ist für Kant dieses als Sohn Gottes verstandene ewige Urbild selbst, das das Zentrum der moralisch interpretierten Christologie ausmacht, während der geschichtliche Jesus nur als eine Exemplifikation des Urbildes gefasst wird“ (Rohls 1997, 283). – Hier finden die auch von Sala (1992; 2004) geäußerten Bedenken gegen Kants Christologie – genauer: gegen deren „Orthodoxie“ – zweifellos wichtige Anhaltspunkte. In Verweis auf Salas einschlägige Kritik an Kant bemerkt auch Stangneth (freilich ohne den bei Sala spürbaren „bedauernden Unterton“) insbesondere mit Blick auf Kants Christologie: „Was Kant hier betreibt, ist in der Tat eine radikale Demontage des Christentums, die schwerlich als Interpretation verstanden werden kann“ (Stangneth 2000, 240). Dass diese von Kant vorgenommenen (unübersehbaren, freilich am Maßstab der christlichen Dogmatik bemessenen) „Reduktionismen“ „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ als von ihm intendierte „radikale Demontage des Christentums“ zu verstehen sein sollen, scheint aber doch zweifelhaft, zumal dies seine Bemühungen um eine moralphilosophische Aneignung christologischer Motive verkennt bzw. ignoriert. Kants Bemühen um eine philosophische Aneignung wesentlicher Gehalte der christlichen Religion ist wohl nicht zu bestreiten – ebenso wenig dies, dass Kants Interpretation zentraler – vor allem „christologischer“ – Lehrstücke mit der dogmatischen Lehre der christlichen Kirchen wohl kaum so ohne Weiteres verträglich ist. Dieser Befund hätte den „Aufklärer“ Kant wohl zwar einerseits zu besonders angestrengter Nachdenklichkeit und Prüfung inspiriert – darüber hinaus eingeschüchtert und irritiert hätte es ihn im „Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss“ (II 13), jedoch wohl kaum. – Auch die von Dörflinger (2012c) vorgebrachten Einwände gegen Kants Versuch, Jesus Christus als die „personifizierte Idee des Guten“ (im Sinne „moralischer Perfektion“) zu verstehen (worin jedoch „etwas gedacht“ wird, „das nie als realisiert erkannt werden kann“, ebd. 189), sind wohl nicht leicht zu entkräften. 110 Kant hat diese Züge einer „frommen Unmündigkeit“ schon in Refl. 1524 deutlich benannt: „Andere, welche die Sprache der heiligen Urkunden verstehen, sagen uns, was wir glauben sollen; wir selbst haben kein Urteil. An die Stelle des natürlichen Gewissens tritt ein künstliches, welches sich nach der Sentenz der Gelehrten richtet. Und an die Stelle der Sitten und Tugend treten Observanzen“ (AA XV, 899). Nicht zuletzt dagegen war ja schon sein Motiv gerichtet, wonach „eine Bemühung …, in der Schrift denjenigen Sinn zu suchen, der mit dem Heiligsten, was die Vernunft lehrt, in Harmonie steht, nicht allein für erlaubt“, sondern „vielmehr für Pflicht gehalten werden“ müsse (IV 740). 111 An einer solchen hermeneutischen Sichtweise Kants orientiert sich offensichtlich auch H. Cohens „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“: „… wenn ich schon für den Begriff der Religion auf die literarischen Quellen der Propheten hingewiesen bin, so bleiben diese doch stumm und blind, wenn ich nicht, freilich von ihnen belehrt, aber nicht schlechthin durch ihre Autorität geleitet, mit einem
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Leitend ist dabei vor allem die Einsicht, dass in einer von Kant so bezeichneten authentischen (im Unterschied zu einer doktrinalen) Schriftauslegung eben „der Gott in uns … selbst der Ausleger“ ist, „weil wir niemand verstehen, als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft, soferne sie rein-moralisch und hiemit untrüglich sind, erkannt werden kann“ (VI 314 f ).112 Daraus speist sich auch sein energischer Protest gegen solch drohende „Existenz-Vergessenheit“ (und einen daraus folgenden „Religionswahn“) und nötigt demgegenüber dazu, „in Glaubenssätze einen moralischen Sinn“ hineinzutragen. Jene Auszeichnung des „reinen Religionsglaubens“ als „höchsten Ausleger“ des „Kirchenglaubens“ enthält mithin auch dies, dass Religion – jenseits der bloß historischen Gelehrsamkeit eines doktrinalen Glaubens – allein solcherart eine auf das gelingende „Ganze der Existenz“ abzielende Orientierung anzubieten vermag, an der „endlichen Vernunftwesen“ in ihrer Lebensführung auch „gelegen sein“ muss. „Tot an ihm selber“ ist der „bloße Geschichtsglaube“ für sich genommen deshalb, weil erst jener „Ausleger in uns“ den diesen Schriften zwar immanenten „semantischen Sinn“ über bloße „Gelehrsamkeit“ hinaus zum Leben erweckt, also nur so den existenziellen Sinn derselben zu erschließen vermag, d. h. ihn erst, „subjektiv geworden“, vernehmbar macht und andernfalls, ungeachtet jenes „semantischen Sinnes“, „geistlos“ bleibt. Im Sinne jener offenbar auch schon von Kant geteilten hermeneutischen Einsicht in das unverzichtbare, im Verhältnis zur Sache selbst begründete „Vorverständnis“ ist dann wohl auch sein frühes Bekenntnis zu lesen, von dem sich noch sein später Rekurs auf die „moralische Schriftauslegung“ leiten lässt: „[So] suche ich in dem Evangelio nicht den Grund meines Glaubens sondern dessen Befestigung …“.113 Allein in derlei durch den „Geist der Moral“ inspirierter „Auslegung“ vermag der Schrift-Sinn (gegenüber schiefen Objektivierungen) in seinem „geistigen Sinn“ (IV 771) „lebendig“ zu werden. Erst durch das aus der „Anlage zur moralischen Religion in der menschlichen Vernunft“ (IV 773) gespeiste Vorverständnis kann sich sonach auch ein authentisches Verständnis der historischen Quellen erschließen – während andernfalls, so Kants bemerkenswerte Mahnung, „Religion“ nicht „der Geist Gottes“ sein könnte, „der uns in alle Wahrheit leitet“ (IV 773), also hierfür nicht „Vernunft, Herz und Gewissen“ (IV 813) in Anspruch nehmen könnte. Für jedes sinn-erschließende Verstehen ist gerade nach Kant ein „ursprüngliches Verhältnis zur Sache“, d. h. eben ein entsprechendes „Es-sich-daran-gelegen-sein-Lassen“, vorausgesetzt. Dass ein Vor-Verständnis dessen, worauf der Text eine Antwort gibt, sich als unentbehrlich erweist, ist übrigens gerade in jener kantischen Unterscheidung zwiBegriffe vielmehr an sie herangetreten bin, den ich der Belehrung durch sie selbst erst zugrunde gelegt habe“ (Cohen 1966, 4 f ). 112 In einem ähnlichen Sinne heißt es auch in Refl. 6310 (AA XVIII, 604): „In die Schrift einen Sinn legen, davon man nicht gewiss ist, dass er darin sei, wenn dieser Sinn nur moralisch ist, heißt: ihr eine gute Absicht beimessen, welches wir immer verbunden sind, so lange das Gegenteil nicht bewiesen ist und welches auch das Vornehmste ist.“ 113 Briefentwurf Kants (an Lavater) v. 28. April 1775, AA X, 179. Zu diesen hermeneutischen Aspekten der „Religionsschrift“ vgl. Höffe 2011a.
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schen „geistigem Sinn“ und „Buchstabensinn“ unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. In Verbindung mit seinem Rekurs auf den Geist, „der uns in alle Wahrheit leitet“, bringt sich derart seine „hermeneutische“ Einsicht zur Geltung, der zufolge alles Verstehen immer zugleich einen Anspruch der „Sache“ an den Verstehenden impliziert – freilich auch in dem Sinne, dass dies dessen „Vorverständnis“ und „Interesse“ nicht nur verwandelt, sondern auch radikal in Frage stellt, ja es geradezu erschüttert. Mehr noch: Dass der „Gott in uns oberster Ausleger“ ist, besagt wohl auch, dass dieses „Übersinnliche in uns“ nicht nur für jedwedes beanspruchte Verstehen des „Wortes Gottes“, sondern für diesen Wort-Sinn selbst geradezu konstitutiv ist, weil nur in dem so freigelegten „intellektuellen Sinn“ dessen „tua res agitur“ gleichermaßen als belebende Botschaft und Anspruch vernehmbar wird114 – ein gewiss nicht nebensächlicher Aspekt des traditionellen Motivs, wonach „Göttliches allein durch Göttliches“ erkannt werden kann. Nur auf diesem Weg kann solche Auslegung aber auch des Anspruchs und der Zumutung eines ihr „fremden Angebotes“ (s. u. V., 3.) innewerden und daran lebendiges (und nicht bloß historischgelehrtes) Interesse (im Unterschied zu bloßer historischer „Neugierde“) nehmen, dem sich solcherart auch allererst eine Antwort auf die grundlegende Frage erschließen kann, welchen Sinn es denn überhaupt haben mag, „von Gott zu reden“. Die leitende Intention Kants, im Ausgang von der Weltstellung des Menschen als eines „vernünftigen Weltwesens“ den Zusammenhang von Moral und Religion zu begründen und so den Nachweis zu erbringen, wie allein auf diesem Vermittlungsweg die „Gottesidee“ auch „zur Religion tauglich“ wird, lässt sich der hier vorgeschlagenen Lesart zufolge als eine von Kant ganz selbstverständlich geteilte hermeneutische Grundeinsicht rekonstruieren. Dass der als geschichtliche Vorgabe zwar vorausgesetzte „Kirchenglaube … zu seinem höchsten Ausleger den reinen Religionsglauben“ hat (IV 770), weil andernfalls auch das darin Tradierte „tot an sich selber“ bliebe, ist eben gemäß dieser hermeneutischen Einsicht Kants zu verstehen, so wie folgende Bemerkung: „Offenbarung kann zum Begriff einer Religion nur durch die Vernunft hinzugedacht werden, weil dieser Begriff selbst, als von einer Verbindlichkeit unter dem Willen eines moralischen Gesetzgebers abgeleitet, ein reiner Vernunftbegriff ist“ (IV 824). Damit verträgt sich durchaus 114 Diese moralisch-authentische Auslegung, die sich darin an dem „tua res agitur“ und somit am Anspruch der im Text „zur Sprache“ kommenden Sache selbst orientiert, setzt damit im Grunde immer schon den über die Aussageabsicht des Autors hinausgehende „Bedeutungsüberschuss“ voraus. Das darin intendierte „Offenbar-Werden“ seines Anspruchs lässt sich nach Kant eben nicht in den doktrinalen Glauben und sein Fürwahrhalten von „Glaubenssätzen“ auflösen bzw. darauf reduzieren. – Hinske trifft eine damit verbundene Intention Kants wohl recht präzis: „Die Konsequenz, die Kant … zieht, ist eine Reflexion auf das elementare, anthropologisch verwurzelte Interesse des Menschen an – oder auf seine Sensibilität für – so etwas wie Offenbarung. Kants Antwort lautet: So wichtig die philologische Arbeit auch sein mag – der Schrifttext gewinnt seine Bedeutung nicht aus sich selbst. Er gewinnt seine Bedeutung aus dem Umstand, dass der Mensch auf seine Grundaussagen insgeheim schon immer gewartet hat, so dass das geschriebene Wort im Inneren des Menschen so etwas wie eine Antwort findet. Eben deshalb (und nicht aus einem Wunsch platter Rationalisierung von allem und jedem) gilt es, die Schrift sozusagen am Leitfaden der ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ zu buchstabieren. Gegen den ständigen Wechsel der wissenschaftlich begründeten Schriftauslegungen setzt Kant als Korrektiv die Konstante der conditio humana. Der Gegenspieler ist nicht etwa die Offenbarung, sondern deren schleichende Ersetzung durch Philologie“ (Hinske 2005, 203 f ).
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jenes Motiv, dass der „oberste Ausleger des Geschichtsglaubens“, obgleich selbst aus jener „größere(n) Bearbeitung der sittlichen Ideen“ hervorgegangen, sodann selbst wiederum als der von allen „empirischen Schlacken“ gesäuberte kritische Maßstab für jene geschichtliche Positivität der Religionen fungiert.115 Damit ist aber auch etwas über den Status der geschichtlichen Religionen im Denken Kants in einer besonderen Hinsicht gesagt: Es muss sich zeigen lassen, dass in ihnen und durch sie etwas für das menschliche Selbstverständnis „offenbar“ wird, das den Blick auf das „Ganze seines Daseins“ und die Frage seines „Gelingens“ auf eine Weise erschließt, die sich für dieses „vernünftige, aber endliche Wesen“ ohne „privatistischen Kurzschluss“ als „existenz-erhellend“ erweist. Erneut bestätigt sich: Die Gewissheit und „Authentizität“ jenes „Glaubens“, für den Kant erst „Platz bekommen“ wollte, muss es geradezu verbieten, dass dieser Glaube lediglich ein „Glaube an den (historischen) Glauben anderer“ wäre und in diesem Sinne, unbeschadet deren „Authentizität (Tüchtigkeit) und Integrität“ (III 502), auf deren Zeugnisse hinreichend begründet sein könnte – ohne dass damit die in jenem Rekurs auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete Vernunft“ angezeigte Vermittlungsfigur indessen wiederum relativiert wäre. Wohl in einer ähnlichen Hinsicht wollte Kant aber auch die recht verstandene Unbegreiflichkeit der von der Religion zugemuteten „Geheimnisse“ von ihrer Verstehbarkeit abgrenzen: „Man trägt gemeiniglich kein Bedenken, den Lehrlingen der Religion den Glauben an Geheimnisse zuzumuten, weil, dass wir sie nicht begreifen, d. i. die Möglichkeit des Gegenstandes derselben nicht einsehen können, uns ebenso wenig zur Weigerung ihrer Annahme berechtigen könne, als etwa das Fortpflanzungsvermögen organischer Materien. […] Von einem jeden zum Glauben aufgestellten Geheimnisse kann man nun mit Recht fordern, dass man verstehe, was unter demselben gemeint sei; welches nicht dadurch geschieht, dass man die Wörter, wodurch es angedeutet wird, einzeln versteht, d. i. damit einen Sinn verbindet, sondern dass sie, zusammen in einem Begriff gefasst, noch einen Sinn zulassen müssen und nicht etwa dabei alles Denken ausgehe“ (IV 811 f, Anm.).116 Eben dafür sei die durch „praktische Vernunft“ geleitete „moralische Auslegung“ unverzichtbar, weil andernfalls auch in dieser Hinsicht ein bloßer Geschichtsglaube „tot an ihm selber“ bleiben müsste: Nicht „zueigen“ gemacht und deshalb unangeeignet-fremd, d. i. schlechte „Positivität“, wie Kants Nachfolger in Anknüpfung an seine Kritik, ungeachtet aller beanstandeten moralisierenden Engführungen, einen derartigen „an sich selber toten Geschichtsglauben“ sodann bezeichneten. All diese Motive variieren in unterschiedlicher Weise Kants aufklärungs-affine Einsicht, dass auch ein „heiliger Text“ in seinem Anspruch doch nur dann als sinnhaft vernommen werden kann, d. h. auch „etwas zu sagen“ hat, wenn er „mit sich reden lässt“ – und ebendies ist durch den moralisch orientierten „obersten Ausleger in uns“ vermittelt; „heilige Texte“, die sich diesem Anspruch entziehen wollten, könnten niemand ansprechen, sondern ledig115 Vgl. noch einmal den schon zitierten Brief Kants an Jacobi: AA XI, 76. 116 Es liegt nahe, diesen Passus mit jener schon zitierten Anmerkung über die „Unbegreiflichkeit“ des Wirklichen (Prolegomena § 56: III 222 ff ) zu vergleichen. Und nicht zu vergessen: In einer anderen Hinsicht „unbegreiflich“ ist für Kant die Wirklichkeit des Bösen und dessen „Ursprung“.
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lich formelhaft wiederholt werden, ohne dass die Sache selbst wieder-geholt wäre. Der Text muss also deshalb mit sich reden lassen, weil er nur so in seinem „geistigen Sinn“ – Kant sprach auch von „Geist und Vernunftsinn“ (IV 739) – einen motivierenden und orientierenden Sinnanspruch an den Adressaten stellt, der freilich anderes als bloße Fremdbestimmung und Unterwerfung meint; denn allein „subjektiv“ geworden, d. h. in den Lebensvollzug „vernünftiger, aber endlicher Wesen“ aufgenommen, vermag er in der durch „Vernunft, Herz und Gewissen“ bestimmten Existenz Resonanz zu finden, wogegen – genau darauf zielt Kants „authentische Auslegung“ – auch die hartnäckige doktrinale Berufung auf ein vermeintlich pures „da steht’s geschrieben“ (IV 767) nichts ausrichten kann,117 vielmehr buchstäblich nichts-sagend-„tot“ bliebe. Nur insoweit Religion vernunft-verträglich ist, kann die geschichtlich-positive Religion den berechtigten Anspruch erheben, ein orientierendes Selbstverständnis menschlicher Existenz zu eröffnen, d. h. für dieses „vernünftige Weltwesen“ zu einem wirklichkeits-erschließenden und lebensbestimmenden Anspruch zu werden. Darauf zielt auch der von Kant erhobene Anspruch, wonach zwar nicht die „Schriftauslegung“ „philosophisch“ zu sein habe, jedoch eben „die Grundsätze der Auslegung so beschaffen sein müssen“ (VI 303) und deshalb von ihm angeboten werden. Kants Religionshermeneutik und deren Bezug auf den „Ausleger in uns“ darf somit auch dahingehend resümiert werden, dass das „Übersinnliche in uns“ – d. h. in allen Menschen, der „Menschheit“ – es geradewegs verbieten muss, dass die Auslegung des göttlichen Willens lediglich als das Privileg einiger „außerordentlich Begünstigte(r) (Auserwählte(r)“ (IV 879) beansprucht bzw. erteilt wird,118 weil eine solche Berufung auf derart Bevorzugte, d. h. auf die über die Auslegung des göttlichen Willens Verfügenden, sich unweigerlich entweder in unverbindliche Sonderansprüche oder gar in bloße Herrschaftsmittel bzw. Willkür-Dekrete verkehren müsste. Vor allem dagegen richtet sich offensichtlich auch Kants – gewiss nicht unmissverständliche – Bestimmung der Religion als einer „reinen Vernunftsache“, denn: „Der Gott, der durch unsere eigene (moralischpraktische) Vernunft spricht, ist ein untrüglicher allgemein verständlicher Ausleger dieses seines Worts, und es kann auch schlechterdings keinen anderen (etwa auf historische Art) beglaubigten Ausleger seines Wortes geben; weil Religion eine reine Vernunftsache ist“ (VI 338). Dies besagt freilich vorerst nicht mehr als jene schon angeführte Mahnung, dass „eine Religion, die sich mit der Vernunft anlegt, auf die Dauer den Kürzeren ziehen“ wird – ebenso die Einsicht in die unumgängliche Verwiesenheit auf die „durch hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft“ (VI 186). Auch dies bestätigt noch einmal die eigentliche Intention jener kantischen Unterscheidung zwischen „Buchstabensinn“ und „geistigem Sinn“: Allein Letzterem gemäß können also jene Glaubenssätze ihren „in praktischer Absicht hinreichenden Beglaubigungsgrund“ (VI 334) finden und so als „rationabile“ in einer Weise „anverwandelnd“ 117 Gegenüber solcher Berufung auf ein „da steht’s geschrieben“ fordert die „authentische Auslegung“ indes Gründe; sie sprengt damit den Rahmen eines immunisierungs-geleiteten „Kirchenglaubens“ als eines „sich selbst erhaltenden Systems“ und relativiert entsprechende Ansprüche auf „Interpretations-Hoheiten“. 118 In diesem Sinne heißt es auch in der „Religionssc