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German Pages 356 [352] Year 2006
6UTERSL0HER VERLAGSHAUS
G
Gütersloher V e r l a g s h a u s . Dem Leben v e r t r a u e n
TROELTSCH-STUDIEN Neue Folge Herausgegeben von Reiner Anselm · Jörg Dierken Friedrich Wilhelm Graf · Georg Pfleiderer
TROELTSCH-STUDIEN Neue Folge Ί
»Geschichte durch Geschichte überwinden« Ernst Troeltsch in Berlin Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf
Gütersloher Verlagshaus
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
1. Auflage Copyright © 2006 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung, Layout und Typografie: Grafik Design Jürgen Bartz, München Satztechnik (LaTeX): David Kastrup, Bochum Satz: Stefan Pautler, München Druck und Einband: Hubert & Co, Göttingen Printed in Germany ISBN-13: 978-3-579-05429-2 ISBN-10: 3-579-05429-5 www.gtvh.de
Inhalt Einleitung FRIEDRICH WILHELM GRAF
9
Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne HEINZ DIETER KITTSTEINER
21
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler' FOLKART WITTEKIND
49
Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik. Ernst Troeltschs Berliner Historik GANGOLF HÜBINGER
75
Nur das Individuum überwindet die Geschichte. Zum Topos der Selbstüberwindung bei Ernst Troeltsch VOLKER GERHARDT
93
Die protestantische Ethik und der „Geist" des Liberalismus. Zum Problem der Sozial-Moral moderner Gesellschaften bei Ernst Troeltsch KARSTEN FISCHER
11 7
Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik ANDRZEJ PRZYLEBSKI
137
Die historische Methode der Theologie. Zu Ernst Troeltschs Programm einer theologischen Standortepistemologie FRIEDEMANN VOIGT
155
6
Inhalt
„Verantwortung" als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit. Zur Pragmatisierung der Geschichtstheologie nach Ernst Troeltsch GEORG PFLEIDERER
175
„Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden" Ernst Troeltsch und die geschichtspolitische Überwindung der Ideen von 1914 JÖRN LEONHARD
205
Philosophisch reflektierte Kriegserfahrung. Einige Überlegungen zu Ernst Troeltschs „Kaisergeburtstagsrede" FRIEDRICH WILHELM GRAF
231
Erinnerungsarbeit durch Klassikeredition. Die Bedeutung akademischer Selbsthistorisierung für die Zukunft des Protestantismus CHRISTIAN ALBRECHT
253
MARK D. CHAPMAN
257
THOMAS KAUFMANN
261
CHRISTOPH MARKSCHIES
264
ARIE L. MOLENDIJK
270
JOACHIM VON SOOSTEN
275
Geschichte durch Geschichte überwinden. Beobachtungen zur methodischen Struktur des Historismus TRUTZ RENDTORFF
285
Inhalt
7
Ernst Troeltsch: Philosophie der Geschichte. Nachschrift der Berliner Vorlesung im Zwischensemester 1919 HANS BARON
herausgegeben und eingeleitet von HANS CYMOREK, FRIEDRICH WILHELM GRAF und CHRISTIAN Ν EES
327
Personenregister
345
FRIEDRICH WILHELM GRAF Einleitung Am 1. Mai 1915 hielt Ernst Troeltsch seine erste Vorlesung als Berliner Ordinarius für „Religions-, Sozial- und Geschichts-Philosophie und christliche Religionsgeschichte". „Geheimrat Troeltsch dankte und sprach über seine Berufung auf den Lehrstuhl, den einst Schleiermacher innehatte", heißt es in einem Bericht des „Berliner Tageblatts". Troeltsch „betonte die starke geistige Verwandtschaft, die ihn mit dem Kulturphilosophen Dilthey verbinde, doch sein Streben sei die ,Anarchie der Werte', der jener Forscher nicht habe Herr werden können, endlich zu meistern - um so mehr, als es eine brennende Frage dieser großen Zeit sei". 1 Der Berliner Troeltsch gab seiner Kulturphilosophie und Ethik eine dezidiert gegenwartsbezogene Zuspitzung. Als Geschichtsphilosoph schrieb er Geschichte des modernen Geschichtsdenkens, um angesichts historistischer Relativitätserfahrungen ethisch orientierungskräftige Überlieferungen zu beleben. Als Geschichtstheologe wollte er die bleibende Bedeutung der jüdischen und christlichen Herkunftsgeschichte Europas für eine humane Zukunftsgestaltung erweisen. Als Ideenhistoriker und politischer Publizist betrieb er Geschichtspolitik, um deutsche politische Traditionen mit denen der westlichen Demokratien produktiv zusammenzuführen und so der fragilen Weimarer Demokratie sozialmoralische Ressourcen zu erschließen. Bei ihrem 8. Internationalen Kongreß versuchte die Ernst-TroeltschGesellschaft vom 26. bis 29. Februar 2004 im Bonhoeffer-Haus zu Berlin, Wissenschaftler aus unterschiedlichen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen zum kontroversen Gespräch über die spezifische Signatur von Troeltschs „Historismus"-Projekt zusammenzuführen. Schon die im Gespräch mit dem Hochschulreferenten im Preußischen Kultusministerium Ludwig Elster am 1. Juli 1914 eigens ausgehandelte Lehrstuhlbezeichnung läßt erkennen, daß sich der Berliner Troeltsch klassischen disziplinaren Zuordungen entzieht; er wollte als „Religions-, Sozialund Geschichtsphilosoph" zugleich ein Kultur- und Religionshistoriker des Christentums bleiben. Die spannungsreiche Trias von Geschichtsphilosophie, Geschichtstheologie und Geschichtspolitik läßt sich insoweit
1
Berliner Tageblatt, 2 . 5 . 1 9 1 5 , Morgenausgabe.
Friedrich Wilhelm Graf
nur erschließen, wenn die Perspektivität disziplinenspezifischer „Sehepunkte" ( J o h a n n Martin Chladenius) bewußt gemacht und zugleich durch Konfrontation mit den Sichtweisen anderer Disziplinen relativiert wird. Produktive Geistes- und Kulturwissenschaft lebt v o m argumentativen Streit der verschieden Denkenden. Der Vorstand der
Ernst-Troeltsch-
Gesellschaft
Historiker
hatte
deshalb
Philosophen,
Theologen,
und
Politikwissenschaftler höchst unterschiedlicher intellektueller Herkunft und gegensätzlicher Positionalität eingeladen. Der Bielefelder schafthistoriker Texten
Hans-Ulrich
mehrfach
Wehler,
dazu bekannte,
der sich
in
entscheidende
Gesell-
autobiographischen Anregungen
durch
Ernst Troeltsch erhalten zu haben, hatte dem in Frankfurt an der Oder lehrenden Kulturhistoriker und Philosophen Heinz Dieter Kittsteiner, einem Koselleck-Schüler, 1999 die „Hybris einer Geschichtsphilosophie" attestiert; 2 Kittsteiner hatte darauf mit programmatischen Ankündigungen einer geschichtsphilosophisch fundierten europäischen Kulturgeschichte reagiert. 3 Dieser Streit u m die epistemologischen Perspektiven einer neuen spezifisch europäischen Geschichtsphilosophie bot Anlaß, Kittsteiner zu bitten, seine Sicht eines „Aufbaus der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne" mit Blick auf Troeltschs Europäismus-Konzept zu skizzieren, im kritischen Gegenüber zu den geschichtstheoretischen Reflexionen in der protestantischen Theologie der 1920er Jahre und der liberaldemokratischen Gedächtnispolitik, die sich in der Weimarer Republik mit dem Nam e n des „Gelehrtenrepublikaners" (Gangolf Hübinger) Troeltsch verband. Kittsteiner will drei „Stufen der Moderne" unterscheiden, 4 indem er nach den „Grundaufgaben" fragt, die eine Epoche sich jeweils gestellt habe. Von einer „Stabilisierungsmoderne" zwischen 1 6 4 0 und 1 6 8 0 / 1 7 1 5 grenzt er eine „evolutive Moderne" von 1 7 7 0 bis 1 8 8 0 und eine „heroische Moderne"
2
3 4
Hans-Ulrich Wehler: Die Hybris einer Geschichtsphilosophie, in: Rechtshistorisches Journal 18 (1999), S. 540-547, jetzt in: ders.: Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000, S. 89-97. Heinz Dieter Kittsteiner: Out of control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin 2004. Daß er mit diesem Stufen-Bild an den Sprachgebrauch Ernst Troeltschs anknüpft, scheint Kittsteiner zunächst nicht bewußt gewesen zu sein. Siehe seinen programmatischen Text: Die Stufen der Moderne, in: Johannes Rohbeck, Herta Nagl-Docekal (Hg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik, Darmstadt 2003, S. 91-117.
Einleitung
zwischen 1 8 8 0 und 1 9 4 5 / 8 9 ab. Wie auch immer man diese Konstruktion geschichtswissenschaftlich, etwa ideen- oder kulturhistorisch beurteilen mag - nach Kittsteiner leben wir, im Unterschied zu Theoretikern wie Weber, Simmel und Troeltsch, in einer postheroischen Zeit. Die C h a n c e n , mit Konzepten Troeltschs den gegenwärtigen „clash of civilizations" 5 auf den Begriff bringen oder gar befrieden zu können, beurteilt er eher skeptisch auch wenn er die „von Troeltsch geforderte Kultursynthese" als „eine v o n der historischen Vielfalt ausgehende Wendung nach i n n e n " deutet, die aktiv zu erinnern der spezifisch europäische Beitrag in der „Globalisierungsmoderne" des 21. Jahrhunderts sein könne. Folkart Wittekind, Privatdozent für Systematische Theologie in Bochum, entfaltet seine Sicht der von den Gottesexpressionisten der 1920er Jahre geführten theologischen Geschichtsdiskurse in entschiedener Abgrenzung vom Deutungsvorschlag, den Kurt Nowak und ich selbst mit Blick auf die von den jüngeren Kombattanten damals beschworene Diskontinuität und den evidenten Generationenbruch unter dem Signalbegriff der „antihistoristischen Revolution" entfaltet hatten; 6 Wittekind betont Kontinuitäten zwischen Troeltsch und den „Jüngeren" wie insbesondere Rudolf Bultmann, Karl Barth und Paul Tillich, die bei aller pathetischen Distanzrhetorik doch nur seine Fäden fortgesponnen hätten. Was bei Nowak und mir als antihistoristische Revolte erscheine, sei genau gelesen einer „begründungsmäßigen Vertiefung der geschichtlichen Sicht des Lebens" geschuldet - einer Vertiefung, die sich theologisch insbesondere als Abwehr jeder theologischen Überdetermination der Geschichte überhaupt u n d als Radikalisierung von Reflexivität bis hin zur reflexiven Verflüssigung jedes geschichtsphilosophischen Reflexionsdrucks vollzieht. Die Troeltsch kritisierenden Jüngeren hätten auf ihre Weise nur jenen Modernisierungsschritt
5 6
Samuel P. Huntington: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 20. Jahrhundert, München 1996. Kurt Nowak: Die „antihistoristische Revolution". Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien, Band 4), Gütersloh 1987, S. 133-171; Friedrich Wilhelm Graf: Die ,antihistoristische Revolution' in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Jan Röhls, Gunther Wenz (Hg.): Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfhart Pannenberg, Göttingen 1988, S. 377-405.
Friedrich Wilhelm Graf
theologischer Reflexion vollzogen, den Troeltsch, um des programmatischen Gegenwartsbezugs der Theologie willen, selbst immer wieder eingeklagt habe: „Nicht als bloßes Gegenprogramm zu Troeltsch, sondern im Gegenteil als spezifisch theologisches Programm unter Anerkennung der geschichtsphilosophischen und methodologischen Einsichten Troeltschs ist die auf ihn folgende und ihn theologisch ablehnende Theologie zu verstehen." Wittekind will die abstrakten Oppositionen von Theologie und Geschichte, dogmatischer und historischer Methode hinter sich lassen, die die konventionelle, herrschende Sicht der Geschichte der deutschsprachigen protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert weithin prägten. Sein Revisionsvorschlag dürfte neuen gelehrten Streit über die Methoden einer politisch sensiblen Ideengeschichte der theologischen Diskurse im „age of extremes" 7 provozieren. Gangolf Hübinger, Kulturhistoriker an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder, führt seine prägnanten Analysen von Troeltschs „Heidelberger Historik" 8 fort, indem er nun die für die „Berliner Historik" Troeltschs kennzeichnenden Spannungen zwischen „Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik" analysiert. Gegen die modischen Tendenzen, diese Spannungen zu überdehnen und die Geschichtstheorie oder Geschichtsphilosophie von der Erinnerungskultur abzukoppeln, will Hübinger zeigen, wie in Troeltschs Historik beide Pole konstruktiv aufeinander bezogen sind - in Relationsfiguren, die in Geschichtstheologie wie Geschichtsphilosophie entworfen worden seien. Im Zusammenhang mit seinen Editionsarbeiten am Band 17 der Troeltsch KGA, der die „Fünf Vorträge für England und Schottland" sowohl in deutscher als auch in englischer Fassung bieten wird, erläutert er die spezifische Leistungskraft von Troeltschs ethisch-praktisch orientierter Historik an seiner Sicht Englands (bzw. Großbritanniens); die geforderte „Kultursynthese des Europäismus" kann dann auch als ein Entwurf von Kultur- und Ideentransfer gelesen werden, bei dem alle Beteiligten sich in einer win-win-Situation befinden: Indem man sich bisher Fremdes, exotisch anderes aneignet,
7 8
Eric J. Hobsbawm: The age of extremes: a history of the world, 1914-1991, New York 1994. Gangolf Hübinger: Troeltschs Heidelberger Historik, in: Wolfgang Schluchter, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Asketischer Protestantismus und der ,Geist' des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005, S. 185-200.
Einleitung
kann zugleich die eigene Erwartung als realistisch gelten, vom jeweils anderen konstruktiv wahrgenommen zu werden. Der an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrende Philosoph Volker Gerhardt rekonstruiert den „Topos der Selbstüberwindung bei Ernst Troeltsch". In Fortführung seiner Studien zum Individualitätsbegriff 9 entfaltet er stringent die komplexen gedanklichen Voraussetzungen von Troeltschs programmatischer Aussage: „Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen". In 26 wohlkomponierten Argumentationsschritten gewinnt Gerhardt einen systematischen Zugang zum Topos der Überwindung, in dem eigene konstruktive Intentionen mit der Vergegenwärtigung von Reflexionsfiguren des späten Troeltsch eng verknüpft sind. Der Individualitätsphilosoph sieht, ganz im Sinne Troeltschs, im selbstverantwortlichen Individuum den einzigen innerweltlichen Akteur der Überwindung der Geschichte: „Die Selbstüberwindung hat sich allemal geschichtlich zu bewähren, ehe das Individuum für die Gnade empfänglich ist, als Person über die Geschichte hinaus zu gelangen." Im Tod des Individuums hingegen geschehe keineswegs eine Wende ins Überzeitliche, sondern allein die Überwindung der Geschichte durch die Natur. Gerhardts dichte Analyse läuft insoweit auf Troeltschs These hinaus, daß nicht irgendein „Endstadium der Menschheit auf Erden, sondern der Tod der Individuen [ . . . ] die Grenze aller Geschichtsphilosophie" markiere. 10 Karsten Fischer, Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin, knüpft schon in der Titelformulierung „Die protestantische Ethik und der ,Geist' des Liberalismus" an Max Webers berühmte Protestantismus-Studie an. In vier Argumentationsschritten entfaltet Fischer ein faszinierendes Forschungsprogramm, eine komparatistische Analyse der „Politischen Ethik der Weltreligionen", der mit Blick auf die aktuellen Konflikte im Spannungsfeld von Politischem und Religiösem hohe gegenwartsdiagnostische Leistungskraft zukommen dürfte. Auf dem Hintergrund seiner kulturhistorischen Analysen der Ethiken von Calvinismus und Luthertum habe Troeltsch den liberalen Individualismus
9 10
Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999; ders.: Individualität. Das Element der Welt, München 2000. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 3. Band), Tübingen 1922, S. 199.
Friedrich Wilhelm Graf
trotz seiner sozialmoralischen Problematik als einzig tragfähige Grundlage einer Ethik des Politischen anerkannt, wobei er insbesondere die „motivationale Leistungskraft" des christlichen Ethos für eine bürgerschaftlich freiheitliche politische Ethik betont habe; Fischer sieht in Troeltsch hier gleichsam einen Vordenker von Ernst-Wolfgang Böckenfördes These, daß der freiheitliche Staat auf Voraussetzungen beruhe, die er selbst nicht garantieren könne, wolle er nicht zum ideologisch autoritären Sittenstaat werden. In Troeltschs Spätwerk, insbesondere den für Großbritannien bestimmten Vorträgen, findet er Ansätze zu einer „politik-ethischen Religionskomparatistik", die einer neuen „Religionspolitologie" Instrumente zur trennscharfen Wahrnehmung der in religiösen Symbolwelten jeweils imaginierten Beziehungen von Glaube und Politik liefern könne. Der in Posen lehrende Philosoph Andrzej Przylebski, der beste Kenner der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus in Polen, versucht Troeltschs Konzept einer „europäischen
Kultursynthese" als „halbier-
te Hermeneutik" zu lesen. Troeltsch lehne im Historismus-Band eine neukantianische Konstitutionstheorie der geschichtlichen Welt jektivität als Konstitutionsort aller historischen
Gehalte -
Sub-
zugunsten
einer phänomenologisch-lebensphilosophischen Geschichtssicht ab, die Kontinuitäten und Entwicklungspotenzen in der Geschichte wahrnehmen können soll, weil die Betrachter alles Geschichtlichen selbst immer schon geschichtliche Wesen bzw. „in Geschichten verstrickt" 1 1 sind. Mit seiner hermeneutischen Lesart Troeltschs knüpft Andrzej Przylebski an Vorschläge Karl Achams an. Die von Folkart Wittekind verfolgten Spuren des späten Troeltsch in den Christologie-Debatten der 1920er Jahre werden mit deutlich anderen Methodenbrillen auch von den beiden protestantischen Theologen Friedemann Voigt und Georg Pfleiderer zu entziffern versucht. Mit der Erinnerung an Troeltschs programmatische Grundunterscheidung von „historischer und dogmatischer Methode in der Theologie" verknüpft Voigt den Hinweis, daß sich weder der Heidelberger Dogmatiker noch der Berliner Geschichtsphilosoph selbst als „Geschichtstheologe" bezeichnete auch wenn andere, wie beispielsweise Albert Schweitzer, Troeltsch mehrfach als „Geschichtstheologen" charakterisierten. In allen Phasen seines
11
Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Ding und Mensch, Hamburg 1953.
Einleitung
Denkens habe die „historische Methode" den entscheidenden Grundzug gebildet, gleichsam das Spezifikum seines Denkstils, der religiöse Sinngewißheit und wissenschaftliche Rationalität gegenwartsbezogen zu vermitteln suchte. Die Verfahren einer Theologie, die der Entwicklung und Bildung der Religion dient, beschreibt Voigt in der Formel: „Standortepistemologie als Selbsteinholung des eigenen theologischen Standortes". In allen historischen Analysen habe Troeltsch die „Plattform eines praktischkonstruktiven Verhältnisses zur eigenen Gegenwart [...] bilden" wollen. Voigts Ausführungen zu Troeltschs „Standortproblematik" berühren sich hier eng mit Gangolf Hübingers Rekonstruktion der „Historiken" des Heidelberger und Berliner Geschichtsdenkers. Georg Pfleiderer, Inhaber des einstmals von Karl Barth zu weltweitem Ruhm gebrachten Lehrstuhls für Systematische Theologie in der Theologischen Fakultät der Universität Basel, entwickelt in seinem Beitrag über ,„Verantwortung' als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit. Zur Pragmatisierung der Geschichtstheologie nach Ernst Troeltsch" eine signifikant andere Deutungsperspektive. In Fortführung seiner Barth-Interpretation 1 2 und mit Blick auf die aktuelle ethische Konjunktur des Verantwortungsbegriffs will Pfleiderer den von Troeltsch vor allem im Spätwerk vielfältig gebrauchten Verantwortungsbegriff als einen „Modus kultureller Individuatio n " deuten. Dem Begriff eigne in Troeltschs Texten die „performative Funktion [...] eines Modernisierungssignals", in dem Grundelemente der westeuropäischen politischen Kultur wie Menschenrechte und Autonomie mit spezifisch deutschen Leitbegriffen wie Individualität und Persönlichkeit zu einem Ethos aktiver bürgerschaftlicher Partizipation verschmolzen seien. Übernahme von Verantwortung stehe in einem engen Zusammenhang mit religiösem Glauben, der in Gott den geschichtstheologisch erschließbaren Garanten der kulturellen Individualisierung vorgegebener Allgemeinheit der Natur sehe. Die „Schwebelagen", die Troeltschs Verantwortungskonzept kennzeichnen, hätten Jüngere wie Friedrich Gogarten und Dietrich Bonhoeffer dann durch theozentrisches Absolutheitsdenken in neue Eindeutigkeit zu überführen versucht, durch eine Theorie absoluten Handelns, die, im Sinne einer „Verantwortungstheologie", letztlich Verantwortungsethik als radikale Zuspitzung v o n Gesinnungsethik erscheinen lasse.
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Georg Pfleiderer: Karls Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert (Beiträge zur historischen Theologie, Band 115), Tübingen 2000.
Friedrich Wilhelm Graf
Der junge Historiker Jörn Leonhard, Autor einer grundlegenden komparatistischen Studie zur Ideengeschichte der europäischen politischen Liberalismen, 1 3 zeichnet das von Troeltsch in „geschichtsphilosophischer Überwindung der Ideen von 1 9 1 4 " vertretene Politikideal als Verknüpfung der Rollen des kritischen Intellektuellen mit publizistischer Deutungsmacht, des gewählten Abgeordneten und des parlamentarischen Staatssekretärs, eng eingebunden in die Ministerialbürokratie. Die mit großen persönlichen Belastungen verbundenen Versuche Troeltschs, parteiübergreifend die gemäßigten Reformkräfte bzw. die republikanische Mitte der Gesellschaft zu sammeln, brachten ihn jedoch in einen tiefen Gegensatz zu den „strukturellen Politikdeterminanten" der frühen Weimarer Republik, die den diskursiven Spielraum für eine freiheitliche „europäische Kultursynthese" eng begrenzten. Gerade auf dem Hintergrund der Liberalismus-Konzepte des 19. Jahrhunderts, an deren individualistischer Gesinnungsethik Troeltsch im Kern festhielt, tritt die „tragische Seite" seines Versuchs zutage, die sozialmoralischen Fundamente der Weimarer „sozialen Demokratie" mitzulegen - die Bildungsideale des Gelehrten blieben Erfahrungskategorien des gebildeten bürgerhumanistischen Individuums, die sich nicht direkt parteipolitisch oder interessenspezifisch reifizieren ließen. Friedrich Wilhelm Grafs Beitrag „Philosophisch reflektierte Kriegserfahrung" geht zurück auf eine Gastvorlesung an der Universität Tübingen, die am 6. Februar 2 0 0 3 zur Feier des 60. Geburtstages von Dieter Langewiesche gehalten wurde. Den Sprecher des dortigen Sonderforschungsbereiches 4 3 7 „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" suchte ich durch ein close reading von Troeltschs bekannter „Kaisergeburtstagsrede" „Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge" 1 4 zu ehren; diese Rede ging stark verändert in das II. Kapitel von „Der Historismus und seine Probleme" ein. Durch eine möglichst dichte Beschreibung des bisher weithin unbekannten Ablaufes der Berliner akademischen Kaisergeburtstagsfei-
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Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Band 50), München 2001. Ernst Troeltsch: Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge. Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 27. Januar 1916, Berlin 1916. Zu den verschiedenen Textfassungen siehe Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Ruddies (Hg.): Ernst Troeltsch Bibliographie, Tübingen 1982, S. 141 f.
Einleitung
er wollte ich, bei einer Tübinger akademischen Historikergeburtstagsfeier, zeigen, wie Troeltsch am 27. Januar 1916 zum Kriege Stellung nahm, ohne den naheliegenden Versuchungen bellizistischer Appellrhetorik zu erliegen. Troeltsch bezieht hier Position, indem er mögliche kontextuelle Zwänge zur Unmittelbarkeit mit einer geschichtstheoretischen Reflexivitätssteigerung beantwortet. Trutz Rendtorff, als grand old man der protestantischen Ethik in Deutschland zugleich seit den späten 1960er Jahren der entscheidende Wegbereiter der neuen Troeltsch-Forschung, 15 hatte in seinem kurzen Schlußbeitrag zum Berliner Kongreß die Programmformel „Geschichte durch Geschichte überwinden" thetisch expliziert. Auch um einer prägnanteren, orientierungskräftigen Erfassung des gegenwärtigen „Religionsproblems Europas" willen hat Trutz Rendtorff seine Berliner Thesen nun zu einer ausführlichen Mikroanalyse der „methodischen Struktur" von Troeltschs „Historismus" erweitert. Mit Entschiedenheit weist Rendtorff darauf hin, daß das große Unternehmen einer Kritischen Gesamtausgabe der Werke Ernst Troeltschs sich durch das legitime Interesse an „Historisierung" der Geschichtsdiskurse in den inzwischen als „klassisch" geltenden Historischen Kulturwissenschaften um 1900 nicht zureichend rechtfertigen läßt, sondern, gemäß Troeltschs praktisch fokussierter Historik, im Vordergrund neue „Verlebendigung" stehen muß. Es seien vorrangig die konstruktiven Intentionen Troeltschs, seine Arbeit an einem gemeineuropäischen, in aller Differenz ethischen Konsens fördernden religionskulturellen Gedächtnis Europas, die den großen Aufwand einer umfassenden kritischen Edition seines Werkes als kulturpolitisch geboten erscheinen ließen - „im Gegenwartsinteresse", das durch einen neuen religiösen Pluralismus geprägte „Religionsproblem Europas" analytisch zu durchdringen, ohne bleibende Differenzpotentiale in leerer Versöhnungsrhetorik abstrakt zu negieren. Die am 17. Februar 1981 in Haunstetten bei Augsburg gegründete Ernst-Troeltsch-Gesellschaft hatte sich in ihrer Satzung darauf verpflichtet,
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Nicht intendierte Folgen lassen sich in rezeptionsgeschichtlichen Theoriesprachen insbesondere der „Siebenstem"-Edition der Absolutheitsschrift attestieren: Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte und zwei Schriften zur Theologie (Siebenstern-Taschenbuch 138), München, Hamburg 1969. Trutz Rendtorff erscheint hier nicht als Editor, son-
Friedrich Wilhelm Graf
diese Kritische Gesamtausgabe der Werke ihres Helden auf den Weg zu bringen. Nach langen Vorbereitungen konnte 1998 als erster Band die kritische Edition der beiden Fassungen der „Absolutheitsschrift" erscheinen. 1 6 Inzwischen liegen fünf Bände vor, und 2 0 0 6 werden weitere zwei Bände erscheinen. Zwar fließen in die Troeltsch KG Α sehr viel weniger Mittel als in vergleichbare andere kulturwissenschaftliche Editionsprojekte wie beispielsweise die Max Weber Gesamtausgabe. Aber dies kann kein Grund dafür sein, gebotene Reflexivität zu verweigern. Sind die Mittel, die im deutschen Wissenschaftssystem für Klassikerpflege durch kritische Edition aufgewendet werden, angesichts knapper werdender Ressourcen sinnvoll investiert? Kritische Gesamtausgaben sollen, jedenfalls der üblichen kultur- und wissenschaftspolitischen Legitimationsrhetorik zufolge, die Textgrundlagen für immer neue, differenzierte Vergegenwärtigung eines Klassikers zur Verfügung stellen. Dabei gilt als Klassiker gemeinhin ein Geistesheld, der über den Abstand der Zeiten hinweg Gegenwartsorientierung, etwa im Sinne sensibler Nachdenklichkeit über mögliche normative Grundlagen des Zusammenlebens, zu fördern vermag. Die um des Interesses an immer neuer Aktualisierung betriebene Klassikeredition droht jedoch leicht steriler Monumentalisierung Vorschub zu leisten Anlaß, über „Erinnerungsarbeit durch Klassikeredition. Die Bedeutung akademischer Selbsthistorisierung für die Zukunft des Protestantismus" nachzudenken. Christian Albrecht, Mark D. Chapman, Thomas Kaufmann, Christoph Markschies, Arie L. Molendijk und Joachim von Soosten taten dies mit kritischer Argumentationsfreude, auch mit Blick auf ein Grundproblem der deutschen Geistes- und Kulturwissenschaften: den schnell wachsenden Relevanzverlust des Deutschen als Wissenschaftssprache. Im Zusammenhang der Editionsarbeiten am Band 16 der Troeltsch KGA, der in zwei Teilbänden „Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie" mit allen Textstufen bietet, konnten verschiedene Mit- und Nachschriften von Vorlesungen Troeltschs aus seiner Berliner Zeit erschlossen werden. Besonderes Ge-
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dern begnügt sich mit einer höchst programmatischen knappen „Einleitung" von dreieinhalb Druckseiten! Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Emst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 5), Berlin, New York 1998.
Einleitung
wicht kommt den kurzen, zumeist prägnanten Nachschriften des jungen deutschjüdischen Studenten Hans Baron zu. Im sog. „Zwischensemester 1919", das vom 22. September bis zum 20. Dezember 1919 vor allem den von der Front heimkehrenden Soldaten und „Grenzschutz Ost"-Kämpfern den Weg zurück in die Universität erleichtern sollte, las Ernst Troeltsch Freitag nachmittags von 17 bis 19 Uhr in einem großen Hörsaal Unter den Linden über „Philosophie der Geschichte". Die von Christian Nees u n d Dr. Hans Cymorek entzifferte Nachschrift Barons wird hier erstmals ediert - als ein Text, der hervorragend Einblick in die mit dem „Historismus"-Projekt verknüpfte Suche nach Differenzierungen des Geschichts- und Zeitbegriffs, etwa der Unterscheidung von „chronometrischer" und „historischer" Zeit, gibt. Das Gütersloher Verlagshaus hat im vergangenen Jahr die Initiative zu einer Reihe „Troeltsch-Studien. Neue Folge" ergriffen. Mit dem vorliegenden Kongreßband werden die neuen Troeltsch-Studien n u n eröffnet. Die Herausgeberschaft haben Professor Dr. Reiner Anselm, Göttingen, Professor Dr. Jörg Dierken, Hamburg, Professor Dr. Georg Pfleiderer, Basel, u n d ich übernommen. Die neue Reihe soll insbesondere jüngeren Gelehrten dazu dienen, ihre sei es systematisch-theologischen oder philosophischen, sei es ideenhistorischen Arbeiten zu Troeltsch u n d seinem intellektuellen wie politischen Umfeld der gebildeten Öffentlichkeit zu präsentieren. Keine Einleitung ohne fälligen Dank. Der 8. Kongreß der ErnstTroeltsch-Gesellschaft stand unter dem Titel „,Geschichte durch Geschichte überwinden'. Ernst Troeltsch in Berlin". Die Kosten konnten aus dem mir verliehenen Leibniz-Preis gedeckt werden; dafür gebührt der Deutschen Forschungsgemeinschaft mein aufrichtiger Dank. Geld allein tuts freilich nicht. Für die erfolgreiche Durchführung des Kongresses und die Publikation dieses Bandes war und ist entscheidend Herr Dr. Stefan Pautler verantwortlich gewesen. Frau Julia Inthorn hat das Register erstellt u n d Korrekturen übertragen. Ihnen und den studentischen Hilfskräften Frau Nadja Neuburger, Frau Franziska Reil und Frau Shelly Steinberg sollte ich nur für tatkräftige Unterstützung danken. Aber sehr viel wichtiger dürfte der Dank für einige wunderschöne Tage und Nächte im Berlin des Februar 2004 sein. Friedrich Wilhelm Graf München, am 6. September 2005
HEINZ DIETER KITTSTEINER Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne Der „Historismus und seine Probleme" endet mit dem Kapitel IV „Über den Aufbau der europäischen Kulturgeschichte". Und dieser Abschnitt endet wiederum mit dem Aufruf, Geschichte durch Geschichte zu überwinden. Der Satz aber, in dem Troeltschs programmatischer Appell steht, verweist auf den nicht mehr erschienenen zweiten Band der Historismus-Schrift: „Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen. Auf ihr muß die gegenwärtige Kultursynthese beruhen, die das Ziel der Geschichtsphilosophie ist. Davon soll, soweit es im Vermögen eines Einzelnen steht, der nächste Band handeln." 1 Dazu ist es nicht mehr gekommen. Hans Baron, der Herausgeber der „Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie", hatte seinerzeit vergeblich bei „Frau Geheimrat Troeltsch" um Entwürfe und Skizzen angefragt und dann an Stelle einer „materialen Geschichtsphilosophie" eben jene Aufsätze herausgebracht.2 In dem Essay „Meine Bücher", einem Überblick von 1922 über seine geistige Entwicklung, hatte Troeltsch gesagt: „Der zweite Band soll dann die hier angekündigte Analyse des Europäertums bringen und daraus die kulturphilosophisch-ethischen Positionen der Gegenwart entwickeln." Dabei sollte das „Religiöse" im Mittelpunkt bleiben, analysiert von Logik, Erkenntnistheorie und Psychologie, überwölbt von oder selbst Grundlage einer neuen „Metaphysik". Denn bei seinem Werdegang von Dilthey und Lotze zu Rickert und Weber war Troeltsch auf das Problem gestoßen, daß die Geltungsphilosophie „irgendwie ein Durchgangspunkt zur Metaphysik" sein müsse, ein Zusammenhang, der aber erst aus ihr zu entfalten sei.3 1
2
3
Emst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes (einziges) Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosopie (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 3), Tübingen 1922 , ND 1977, S. 772. Ernst Troeltsch: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. von Hans Baron (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 4) (im folgenden: GS IV), Tübingen 1925, ND Aalen 1981, S. VI. Ebd., S. 10 und S. 14 ff.; Ernst Troeltsch: Moderne Geschichtsphilosophie, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 2) (im folgenden: GS II), Tübingen 1913, S. 727.
Heinz Dieter Kittsteiner
I. „Der Historismus und seine Überwindung" Die Triftigkeit dieser Problemstellung bleibt zu untersuchen. Sie ist am kürzesten formuliert in den für England bestimmten Vorträgen, herausgegeben von Freiherrn Friedrich von Hügel. Es geht um die endlose Bewegtheit des geschichtlichen Lebensstromes und das Bedürfnis des menschlichen Geistes, ihn durch „feste Normen zu begrenzen und zu gestalten". Es geht um den Historismus und seine Überwindung. Diese Aufgabe hatte Troeltsch der „Geschichtsphilosophie" zugewiesen, und diese Aufgabenstellung bestimmt ihre Definition: „Hinter alledem liegen die Probleme der Geschichtsphilosophie, d. h. eine Bewältigung und Begrenzung des ungeheuren, immer reißender und breiter werdenden historischen Lebensstromes, nicht bloß der Konstruktion seiner Stadien und Bewegungsgesetze. Das aber heißt mit anderen Worten: Die Historie verlangt eine Auseinandersetzung mit der Idee eines bleibenden und maßgebenden Systems der Werte, das doch gerade von diesem Strom unterwaschen und zerfetzt zu werden schien." 4 Doch in dem gleichen Aufsatz über „Ethik und Geschichtsphilosophie" räumt Troeltsch ein, daß diese endgültige Wert-Stabilisierung wohl nicht zu erreichen sei; es bleibe ein Kampf der Werte - das gemahnt an Max Weber 5 - der bestenfalls zu Kompromissen führen könne. 6 Kompromiß-
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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung, eingeleitet von Friedrich von Hügel, Berlin 1924, ND Aalen 1979, S. 3. „Wie man es machen will, wissenschaftlich' zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander [ . . . ] Und über diesen Göttern und ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine ,Wissenschaft'." Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1968, S. 604. „Unter diesen Umständen bleibt für die Verwirklichung der moralischen Humanitätsidee überhaupt keine Hoffnung übrig, den Strom des geschichtlichen Lebens endgültig und vollständig durch zeitlos gültige, überhistorische Moralität einzudämmen und zu kanalisieren. Es bleibt in alle Ewigkeit der Kampf und immer neuer Kampf das Los des Moralischen auf Erden. [ . . . ] Der Ausgleich kann nur in einem immer neuen Kompromiß bestehen, den jeder Handelnde auf eigene Rechnung und Gefahr schließen muß und der vor allem in der Politik, d. h. dem zwischenstaatlichen Handeln immer besonders schwierig und verwickelt sein muß." Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 4), S. 18.
Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne
bereitschaft unterscheidet Troeltsch von Weber. In dem Vortrag über „Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen" hat Troeltsch näher angedeutet, was darunter zu verstehen sei. Es geht um eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Schrift von 1902 „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte". Im Rückblick unterscheidet er zwei Legitimationsstrategien, um dann beide zu verwerfen. Die ursprüngliche war die Legitimierung des Christentums durch das Wunder, gemeint war nicht das „Wunder" in der Durchbrechung der Naturgesetze, sondern das Wunder einer sich im Individuum kundgebenden Absolutheit Gottes. Die andere Möglichkeit hatte Hegel ergriffen: Für ihn waren Christentum und Geschichte nichts sich wechselseitig Ausschließendes, sondern in diesem evolutionistischen Konzept erfüllte sich die Geschichte mit christlichem Geist und brachte ihn zur abschließenden Größe.7 Beide Wege sind nicht mehr gangbar; das Christentum ist in seinen Ausprägungen kulturgebunden, es ist historisch zu relativieren. Nimmt man die Religionen der anderen „Kulturkreise" hinzu, so wird man dort vergleichbare Phänomene der Ausrichtung des Individuellen auf das Religiöse finden, selbst wenn sie anders sich ausdrücken. So sagt Troeltsch von sich selbst, er sei immer „überkonfessioneller" geworden. Dem globalen Wetteifer der religiösen Werte stellt er aber eine Bedingung - und wir werden noch sehen, daß es eine Bedingung des „Europäertums" ist: „Aber es muß vor allem ein Wetteifer um innere Reinigung und Klarheit sein. Suchen wir in jeder Gruppe selber nach dem Höchsten und Tiefsten, dann dürfen wir hoffen, uns zu begegnen." 8 Die Überwindung des Historismus erfordert eine Überwindung der Geschichte durch Geschichte. Das war die Ausgangsfrage. Troeltsch sucht den Halt in ihrem historistischen Strom im „eigentlich Religiösen". Das aber ist selbst kulturgebunden und in die Dynamik des Geschehens hineingerissen. Dennoch soll es im globalen Wettkampf der Werte ein Höchstes und Tiefstes geben, auf das alle sich einigen könnten. Wir stellen diesen schwierigsten Punkt seiner Geschichtsphilosophie zunächst zurück und wenden uns dem vergleichsweise Einfacheren zu. Das andere Aufgabengebiet einer Philosophie der Geschichte war die „Konstruktion ihrer Stadien und Bewegungsgesetze". Es geht um die Gliederung der sogenannten „Neuzeit" nach
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Ebd., S. 6 6 f.
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Ebd., S. 8 3 .
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Einschnitten oder Epochen. Wir behandeln, um einen gewissen Überblick zu geben, nacheinander Ernst Troeltsch, Carl Schmitt und Leo Strauss nicht ohne die Darstellung ihrer Zäsuren mit einem eigenen Entwurf zu vergleichen. II. „lieber den Aufbau der europäischen Kulturgeschichte" Wer einen „Aufbau" im Titel führt, ist durch die Problemstellung Wilhelm Diltheys gegangen. Er weiß, daß der „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" eigentlich „Wiederaufbau" heißen müßte: ein Wiederaufbau, nachdem Hegels metaphysische Darlegung des inneren Zusammenhangs der Weltgeschichte nicht mehr möglich war. Dilthey setzte an die Stelle des Geistes die Trias von Leben, Ausdruck und Verstehen.9 Den Verlust der Hegeischen Lösung verspürten auch andere, selbst wenn sie sich polemisch gegen ihn wandten. Schopenhauer hatte den „Geist" zum dunkel-drängenden Weltwillen depotenziert; Jacob Burckhardt suchte mit seiner Potenzenlehre an Zusammenhängen zu retten, was zu retten war.10 Nietzsche wütete zwar gegen Hegels „kuhmäßigen schwäbischen Optimismus", hatte die Leerstelle aber ebenfalls gewittert: das historische Chaos bändigte sich nun qua „List der Vernunft" nicht mehr von selbst.11 Noch Ernst Cassirer stellte seine „symbolischen Formen" an den systematischen Ort, den vormals der „Begriff" eingenommen hatte. 12 Motiv bei allen war die Rettung der Phänomene vor dem Zugriff des Weltgeistes. Troeltsch seinerseits spricht von zwei Linien einer „materialen Geschichtsphilosophie": von einem Zusammenhang zwischen Universalgeschichte und Kultursynthese. Doch das letztlich religiöse Grundvertrauen auf das „Wiederzusammentreffen logisch weit ausgesponnener Hypothesen mit dem tatsächlichen Lauf der Dinge" ist erschüttert, ebenso die 9 10
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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 1), S. 522 f. Heinz Dieter Kittsteiner: Jacob Burckhardt als Leser Hegels, in: ders.: Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin 2004, S. 75-102. Heinz Dieter Kittsteiner: Erinnern - Vergessen - Orientieren. Nietzsches Begriff des ,umhüllenden Wahns' als geschichtsphilosophische Kategorie, in: ,Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben', hrsg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1996, S. 4 8 - 7 5 . Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Band 1, Darmstadt 1988, S. 15 f.
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objektive Wertgewißheit von „ruhigen Zeiten". 1 9 2 2 herrscht eine „unruhige und katastrophenhafte Gesamtlage", und da ist es verführerisch, Kultursynthesen zum Mittel subjektiver „Zielkonstruktionen" zu nutzen. 1 3 Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes" scheint Troeltsch drei „politischen Quälgeistern" in die Hände zu arbeiten: dem auswärtigen Dogma der Kriegsschuld und den Links- und Rechtsterroristen in Deutschland. 1 4 Ungeachtet dessen nutzt auch Troeltsch den Begriff des Kulturkreises. Im Zusammenwirken von „Kultursynthese" und „Universalgeschichte" soll der „Aufbau der großen Schichtungen unseres Kulturkreises" bestimmt werden. Dabei liegt das eigentlich philosophische Element der Universalgeschichte in der Periodisierung, und der Begriff des „Aufbaus" ist an die Stelle der nicht mehr selbstverständlichen „Entwicklung" getreten. 1 5 Was
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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 1), S. 695-698. Ernst Troeltsch: [Rez.] Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Band 1, Wien, Leipzig 1918, Band 2,München 1922, in: GS IV, S. 677-691, hier S. 691. - Es ist im übrigen interessant zu sehen, daß Troeltsch wie die meisten anderen Rezensenten eine wesentliche Botschaft Spenglers übersehen hat. Auch er spricht davon, daß Spenglers Philosophie der Skepsis selbst das Indiz sei, „daß das Abendland in seine letzte, seine Untergangsperiode eingetreten ist". Ebd., S. 684. - Es geht bei Spengler aber gar nicht das „Abendland", sondern nur seine „Kultur" unter; die faustische Seele vollzieht einen Formwechsel im Übergang zur Zivilisation. Spengler war sich wohl bewußt, daß er diese beiden Begriffe, die in der professoralen Kriegsliteratur nach 1914 immer als gleichzeitige Gegensätze behandelt worden waren, als historische Stadien hintereinandergeschaltet hat. Kulturmorphologisch war damit zwar das Endstadium erreicht, zugleich aber ein neuer Aufbruch in einen künftigen „Cäsarismus" und einen Endkampf zwischen „Geld" und „Blut". Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, München 1923, Band 1, S. 42; Band 2, S. 634. - Manfred Schroeter behandelt die Stadien der Troeltschschen Spenglerkritik als stufenweise Annäherung an den Meister, jedenfalls als Überwindung der ursprünglichen Ablehnung. Manfred Schroeter: Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker, München 1922, S. 104 ff., Anm. 1. Er bezieht sich auf Bemerkungen im „Aufbau der europäischen Kulturgeschichte" (Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 1), S. 712 und S. 734 f.). Auch hier spricht Troeltsch angesichts der Zivilisation nur vom „Zurücksinken in ein Fellachendasein" (ebd., S. 735) und vernachlässigt, daß Spengler für die künftige Zivilisation ein faszinierendes, ein faustisch-deutsches Gepräge vorgesehen hatte. Er wollte die Deutschen „in Form" bringen für ihre Zukunft. Vgl. dazu: Heinz Dieter Kittsteiner: Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen, in: ders.: Out of Control (wie Anm. 10), S. 150-164. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 1), S. 700. -
Heinz Dieter Kittsteiner
Troeltsch Schichtung
offensichtlich der
vor Augen
„Moderne",
steht,
ist die Idee einer
die das Kulturpotential
in sich
Europas
als
gegliederten Möglichkeit
umreißt. D a b e i spitzt s i c h die Frage d e r E p o c h e n g l i e d e r u n g a u f d e n B e g i n n der „ M o d e r n e " zu: d a ß A n t i k e u n d M i t t e l a l t e r v e r g l e i c h s w e i s e e i g e n s t ä n d i g e K u l t u r e i n h e i t e n sind, s c h e i n t T r o e l t s c h u n p r o b l e m a t i s c h . 1 6 D e r schwierigste P u n k t ist d i e A n s e t z u n g d e s B e g i n n s d e s „ m o d e r n e n G e i s t e s " . Das ist die P r o b l e m l a g e ; w a s b i e t e n die f o l g e n d e n A b s c h n i t t e a u s d e r „ A u f b a u s c h r i f t " a n Aufschlüssen? 1. „Der Europäismus"
ist bei T r o e l t s c h i m G r u n d e d a s G e g e n t e i l e i n e s sie-
g e s g e w i s s e n E u r o z e n t r i s m u s - u n d d a s g e r a d e in j e n e n J a h r e n , als z u m l e t z t e n M a l e v o n Versailles a u s die W e l t m i t d e m L i n e a l aufgeteilt w u r de. Für T r o e l t s c h ist der n a i v e o d e r v e r f e i n e r t e E u r o p ä e r h o c h m u t d a h i n ; 1 7 s i c h e r l i c h ist d a s a u c h die G e f ü h l s l a g e e i n e r i m E r s t e n W e l t k r i e g g e s c h l a g e n e n N a t i o n . E u r o p a ist a u f sich selbst z u r ü c k g e w o r f e n ; s e i n e U n i v e r s a l -
Natürlich war die Kulturkreislehre zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht auf Spengler beschränkt. Vgl. dazu die Bemerkungen bei: Leo Frobenius: Schicksalskunde im Sinne des Kulturwerdens, Leipzig 1932, S. 6 8 f. Frobenius selbst hatte den Begriff schon 1 8 9 7 in seiner „Kulturkreislehre" benutzt. Spengler und Frobenius waren seit 1918 befreundet, bis die Bekanntschaft an Spenglers Kritik an der Arbeitsweise des Afrika-Instituts und der Auffassung der „Kulturkreislehre" zerbrach. Vgl. den Brief von Spengler an Frobenius v o m 8 . 1 . 1 9 2 7 und das lange Antwortschreiben von Frobenius an Spengler v o m 2 4 . 2 . 1 9 2 7 . Oswald Spengler: Briefe 1 9 1 3 - 1 9 3 6 , hrsg. von Manfred Schröter und Anton M. Koktanek, M ü n c h e n 1963, S. 4 8 6 ff. u n d S. 5 0 1 ff. - Einen weit ausholenden Überblick über Kulturkreislehren gibt Frits Boterman, der hervorhebt, im Gegensatz zu Nietzsche sei es Spengler gerade darum gegangen, die fehlende Möglichkeit einer „Revitalisierung" im Kreislaufkonzept festzuhalten. Frits Boterman: Oswald Spengler und sein ,Untergang des Abendlandes', Köln 2 0 0 0 , S. 132. - Das schließt allerdings n i c h t aus, sondern ein, daß für Spengler auch die „Zivilisation" sich n o c h Jahrhunderte hinziehen k o n n t e und daß, wie Hans Freyer in seiner Rezension bemerkte, „spätherbstliche Taten" ebenso getan werden müßten wie „frühlingshafte". Vgl. dazu: Manfred Schroeter: Der Streit u m Spengler. Kritik seiner Kritiker, M ü n c h e n 1922, S. 11. 16
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„Nur an e i n e m Punkte ist natürlich mitbedingt, bei der Ansetzung der in der die für die Gegenwart und entstanden sind." Ernst Troeltsch: Anm. 1), S. 702. Ebd., S. 707.
die Setzung des Einschnitts stark subjektiv modernen Welt, d. h. der ganzen Periode, Zukunft entscheidenden Kulturprobleme Der Historismus und seine Probleme (wie
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geschichte ist nur noch seine eigene geschichtsphilosophische Selbstvergewisserung. 18 Gleichwohl - und das gemahnt nun doch an Spengler ist das Gefühl der Einzigartigkeit der europäischen Kultur am historischen Sinn verankert: „Nur der Europäer ist aus dem Chronisten und Epiker, dem Propheten und Mystiker, dem Urkundensammler und Politiker zum Geschichtsphilosophen geworden, weil nur er aus einer bewußt festgehaltenen Vergangenheit eine bewußt geleitete Zukunft zu gewinnen strebt." 1 9 Die Weltgeltung Europas kam ohnehin spät; andererseits sind gemeinsame Ursprünge etwa mit dem Vorderen Orient mitzubedenken; auf der anderen Seite des Zeitspektrums steht der Bezug zum immer geschichtsmächtiger werdenden Amerika. 20 2. „Das Problem einer objektiven Periodisierung" war am großartigsten von Hegel gelöst, der nicht nur Philosoph, sondern auch „ein mit historischer Realität tief gesättigter Forscher war." 21 Tatsächlich ist Hegels Geschichtsphilosophie in ihren materialen Partien eine kaum zu übertreffende Kulturgeschichte des menschlichen Geistes - in logifizierte Form gebracht. An eben diesem Logozentrismus aber stört sich der Geist des Historismus; er übersieht gerne - und das ist auch bei Troeltsch nicht anders - daß Hegel eine Theorie der unbewußten Produktion der Geschichte geliefert hat. 2 2 Troeltsch gibt einen Überblick über dessen Nachfolger, die wissen, daß man
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„So wird also die Universalgeschichte, die Geschichtsphilosophie und die Zukunftsgestaltung in Wahrheit zu einem möglichst einheitlichen Selbstverständnis des eigenen Gewordenseins und der eigenen Entwicklung. [ . . . ] Das ist es, was von Geschichtsphilosophie und Universalgeschichte übrig bleibt. Aber das ist kein dürftiges Überbleibsel, sondern die brennend wichtige Aufgabe der Formulierung des europäischen Wesens und der Herausarbeitung der europäischen Zukunft." Ebd., S. 710 f. Ebd., S. 710. - „Wir Menschen der westeuropäischen Kultur sind mit unserem historischen Sinn eine Ausnahme und nicht die Regel. ,Weltgeschichte' ist unser Weltbild, nicht das ,der Menschheit'. Für den indischen und den antiken Menschen gab es kein Bild der werdenden Welt und vielleicht wird es, wenn die Zivilisation des Abendlandes einmal erloschen ist, nie wieder eine Kultur und also einen menschlichen Typus geben, für den ,Weltgeschichte' eine so mächtige Form des Wachseins ist." Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes (wie Anm. 14), Band 1, S. 20. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 1), S. 724 ff. Ebd., S. 731. Zum Ursprung dieser Einsicht bei Kant und Schelling vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Freiheit und Notwendigkeit in Schellings ,System des transcendentalen Idealismus', in: ders.: Out of Control (wie Anm. 10), S. 49-74.
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nicht mehr wie Hegel, sondern nur noch nach Hegel denken kann, wenngleich Hegels geschichtsphilosophische Einsicht in das Unverfügbare des historischen Prozesses gleichsam unter der Hand vom „Schicksalsbegriff" aufgesogen wird. So kommt er von Spengler und Breysig zu Max Weber, Werner Sombart und Georg Simmel. 3. „Die Schichtung des Aufbaus" als das Endstück der Periodisierung macht indes vor der eigentlichen Problemstellung halt. Denn es sollte doch um die Bestimmung der Moderne gehen. Die älteren Schichten Europas scheinen klar zu Tage zu liegen: 1. Der Hebräische Prophetismus als das einzige Element des alten Orients, das für uns kulturbedeutsam geworden ist. 2. Das klassische Griechentum, „das heißt das Griechentum der PoIis, in das mit den Homerischen Gedichten noch aus der griechischen Ritterzeit ein der Bibel vergleichbares Elementarbuch naiver Phantasie und einfacher menschlicher Helden- und Familienethik hineinragt." 23 3. Der antike Imperialismus, die römisch-hellenistische Monarchie, die mit ihren Bauten, Straßen, Recht, Verwaltung, Sprache und Technik zum Fundament der germanisch-romanischen Völker geworden ist. 4. Darauf aufbauend das abendländische Mittelalter. „Diese vier Urgewalten sind es, die als die tragenden Grundpfeiler und als die fortzeugenden Kräfte noch die moderne Welt tragen und durchwirken und mit deren Eigenem sich unübersehbar kreuzen und vermischen." 24 Besonders originell ist das nicht; und wie nun das Eigene der „Moderne" sich entfalten soll, bleibt ebenfalls undeutlich. Denn mit einer Reihe von methodischen Bemerkungen und der Rückkehr von der Periodisierung zum Grundproblem der Stabilisierung des Historismus bricht der Entwurf ab. Nehmen wir den von Hans Baron edierten IV. Band der „Gesammelten Schriften" hinzu, werden allerdings einige Linien deutlicher. Luthers Reformation liegt eindeutig vor der „Moderne"; sie ist in ihren gedanklichen Voraussetzungen noch dem Mittelalter verhaftet. Zudem ist Luther eine primär deutsche, und erst Calvin eine universale Gestalt. 25 Gleichwohl hat sich eine „moderne Welt" erst mit dem 18. Jahrhundert durchgesetzt.26 Die
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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 1), S. 766. Ebd., S. 767. Ernst Troeltsch: Epochen und Typen der Sozialphilosophie des Christentums, in: GS IV (wie Anm. 2), S. 136 f. Vgl. auch: Calvinismus und Luthertum, ebd., S. 255. „Freilich hat die moderne Welt, deren schwer bestimmbares, aber von uns al-
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Aufklärung ist die „Grandlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur" - sicherlich: aber wann hat sie eingesetzt? Ein von der Offenbarung abgelöstes Naturrecht gibt es schon bei Hugo Grotius. Und muß man nicht dann auch den Neustoizismus des Justus Lipsius erwähnen? 27 Die neuen Naturwissenschaften spielen eine Rolle: Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton. Aber welche? 28 Man müßte insofern doch vom 18. zumindest in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückgehen. Wir lassen Troeltschs Periodisierung in diesen Fragen vorerst auf sich beruhen und wenden uns dem Entwurf von Carl Schmitt zu. III. Carl Schmitt oder das „Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen" Daß Ernst Troeltsch und Carl Schmitt politische Gegensätze waren, brauche ich nicht näher darzulegen. Troeltsch hat den aufstrebenden katholischen Juristen in dessen Schriften über die „Politische Romantik" und die „Diktatur" wahrgenommen; er zitiert sie wohlwollend und beiläufig im Zusammenhang seiner Studien über die Organologie der historischen Schule und die Marxistische Dialektik. 29 Umgekehrt hat auch Carl Schmitt Troeltsch gelesen; wo er ihn aber einmal zitiert, nimmt er es nicht so genau. 30 Nun geht es uns nicht um wechselseitige Beeinflussungen, sondern
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len gefühltes Wesen erst seit dem achtzehnten Jahrhundert sich durchgreifend durchgesetzt hat, dem gegenüber neue Gewalten heraufgeführt. [ , . . ] Dieses Neue hängt nun aber mit den alten Urgewalten nicht bloß überall näher oder enger entwicklungsgeschichtlich zusammen [ . . . ] . " Ebd., S. 203. Ebd., S. 3 4 2 und S. 347. Ebd., S. 349. Ebd., S. 2 8 6 und S. 337. „Was die Leugnung der Erbsünde sozial- und individualpsychologisch bedeutet, haben Troeltsch (in seinen ,Soziallehren der christlichen Kirchen') und Seilliere (in vielen Veröffentlichungen über Romantik und Romantiker) an dem Beispiel zahlreicher Sekten, Häretiker, Romantiker und Anarchisten gezeigt." Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1979, S. 64. - Zumindest für Troeltsch trifft das nicht zu. Denn er betont zu Recht, daß die pietistischen Sekten nach dem Dreißigjährigen Krieg gerade erst die „konsequente Folgerung aus Luthers Erbsünden- und Bekenntnislehre" gezogen hätten. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 1), Tübingen 1919, S. 828 f.
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um die Gliederung der „Moderne". Und da hat Carl Schmitt 1928 einen großen Wurf vorgelegt. Er gliedert die Zeit zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert in vier säkularen Schritten: vom Theologischen, zum Metaphysischen, zum Humanitär-Moralischen und zum Ökonomischen, nicht ohne zu betonen, daß dies keine kultur- und geistesgeschichtliche „Dominantentheorie", kein „Drei-Stadien-Gesetz", kein „Rhythmus der Weltgeschichte" oder dergleichen sei. Weder gebe es in der Geschichte eine aufsteigende, noch eine absteigende Linie. Er wolle auch nicht behaupten, als sei neben dem jeweiligen „Zentralgebiet" nichts anderes wirksam gewesen, vielmehr müsse man die Gebiete als pluralistisches Nebeneinander denken. 31 Trotz dieser eher rituellen Abgrenzung gegen ungeliebtes „liberales" Fortschrittsdenken hat Schmitt ein verblüffend einfaches kulturelles Schema entworfen: das der „Zentralgebiete" und ihrer inneren Dialektik in der Suche nach einer „neutralen Sphäre". Die diskutierenden Eliten des 16. Jahrhunderts denken theologisch, die des 17. metaphysisch, die des 18. humanitär-moralisch, die des 19. ökonomisch - und die des 20. Jahrhunderts technisch. In diese jeweilige Begrifflichkeit fassen sie ihre Problemlagen. „Ist ein Gebiet einmal zum Zentralgebiet geworden, so werden die Probleme der anderen Gebiete von dort aus gelöst und gelten nur noch als Probleme zweiten Ranges, deren Lösung sich von selbst ergibt, wenn nur die Probleme des Zentralgebietes gelöst sind." 32 Die Abfolge der Zentralgebiete kommt nun aber dadurch zustande, daß die Probleme im Grunde gar nicht lösbar sind; sie werden gleichsam vor sich hergeschoben und verändern ihre kulturelle Prägung in der Überlagerung mit neuen Aufgaben. „Nach den aussichtslosen theologischen Disputationen und Streitigkeiten des 16. Jahrhunderts suchte die europäische Menschheit ein neutrales Gebiet, in welchem der Streit aufhörte, und wo man sich verständigen, einigen und gegenseitig überzeugen konnte. Man sah daher von den umstrittenen Begriffen und Argumentationen der überlieferten christlichen Theologie ab und konstruierte ein natürliches' System der Theologie, der Metaphysik, der Moral und des Rechts. Der geistesgeschichtliche Vorgang ist von Dilthey in einer mit Recht berühmten Darlegung geschildert worden, in der vor allem die große Bedeutung der stoischen Tradition hervorgehoben ist. Aber das Wesentliche scheint mir doch darin zu liegen, 31
Carl Schmitt: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, in: ders.: Der Begriff des Politischen (wie Anm. 30), S. 8 0 f.
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daß das bisherige Zentralgebiet, die Theologie, verlassen wird, weil es Streitgebiet ist, und daß man ein anderes neutrales Gebiet aufsuchte." 33 Indes: Auch das neu gefundene Zentralgebiet wird wieder zum Zentrum neuen Streites. Nach diesem Schema vollziehen sich die anderen Übergänge. Um es hegelianisch auszudrücken: Die Metaphysik erweist sich als die Wahrheit der Theologie, die Moralphilosophie aber als die Wahrheit der Metaphysik. Von der Ökonomie erhofft man sich die Einlösung der Ansprüche der Ethik, und die Widersprüche der Ökonomie sollen technisch neutralisiert werden. Diesen letzten Übergang lasse ich außer acht; er ist ohnehin der schwächste, ganz abgesehen davon, daß Carl Schmitt zuletzt einen „Begriff des Politischen" favorisiert, der sich der „Technik" bemächtigen soll. Daß diese Abfolge in den Kampf gegen Weimar, Genf und Versailles einmündet, kann ebenfalls nicht überraschen. 34 Wichtiger bleibt ihre innere Dialektik: jedes gefundene Zentralgebiet erweist sich wieder als neues „Kampfgebiet". Wir nehmen das Schema des Carl Schmitt als das, was es eigentlich nicht sein wollte, als einen Beitrag zur Frage nach dem Aufbau der Schichten der europäischen Moderne. IV. Leo Strauss und „The Three Waves of Modernity" Carl Schmitts Neutralisierungsaufsatz endet mit der feierlichen Versicherung „Ab integro nascitur ordo". Von diesem Ordnungsdenken war der junge Leo Strauss beeindruckt; welche Rolle es bei seiner Kritik am „Begriff des Politischen" gespielt hat, kann ich jetzt nicht darlegen. 35 Auch hier geht es uns wiederum nur um seine Epochengliederung der „Moderne"; sie ist prägnant niedergelegt in dem postum 1975 erschienenen Aufsatz von den drei Wellen der Moderne, der im Umkreis von „Naturrecht und Geschichte" angesiedelt ist. 36 Der Aufsatz beginnt mit einer ungenauen Erinnerung an den „Untergang des Abendlandes", denn Spengler hatte
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Ebd., S. 88. Ebd., S. 94. Vgl. dazu: Heinz Dieter Kittsteiner: Der ,Begriff des Politischen' in der Heroischen Moderne. Carl Schmitt, Leo Strauss, Karl Marx, in: Moritz Baßler, Ewout van der Knaap (Hg.): Die (k)alte Sachlichkeit. Herkunft und Wirkungen eines Konzepts, Würzburg 2004, S. 161-187. Clemens Kauffmann: Leo Strauss zur Einführung, Hamburg 1997, S. 47.
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keinesfalls „the decline or setting of modernity" prophezeit, sondern, wie bereits dargelegt, nur den Formwechsel von Kultur zur Zivilisation als Untergangsproblem gefaßt. Die Eigenart bei Strauss ist es, daß er die „Moderne" von der Krise des politischen Denkens her bestimmt. 37 Diese Krise ist an drei bzw. vier Namen geküpft: An Machiavelli und Hobbes (1), an Rousseau (2) und an Nietzsche (3). 1. Machiavelli und Hobbes „Machiavelli rejects the whole philosophic and theological tradition." Was mit ihm beginnt, vollendet sich bei Hobbes. Es ist die Negierung einer transzendenten Fundierung der Ethik. Die Politik schließt sich in die praktischen, gesellschaftlich bedingten Probleme einer „geschichtlichen Höhle" ein und verzichtet darauf, Tugend als einen „übergeschichtlichen Standard" aufzufassen. 38 Das erinnert strukturell an Troeltschs Frage nach einer theonomen Normierung des Historismus und ebenso an Heideggers Klage über den Verlust der Transzendenz in den „Beiträgen zur Philosophie". 39 Es ist bei Strauss aber historisch anders verortet; eben als erste Schicht der „Moderne", die das kosmozentrische Denken der Antike und das theozentrische des Mittelalters in ein anthropozentrisches Denken transformiert habe. Daß Strauss mit dieser anthropozentrischen Wende die naturwissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts in Verbindung bringt, darf allerdings eher als ein Mißverständnis betrachet
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„That may seem strange: why should the crisis of a culture primarily be the crisis of one academic pursuit among many? But political philosophy is not essentially an academic pursuit: the majority of the great political philosophers were not university professors." Leo Strauss: The Three Waves of Modernity, in: ders.: An Introduction to Political Philosophy. Ten Essays by Leo Strauss, hrsg. von Hilal Gildin, Detroit 1989, S. 82. - „Die Frage, auf die Strauss mit seinen geschichtlichen Interpretationen eine Antwort zu geben sucht, lautet erklärtermaßen nicht ,Was ist Metaphysik?', sondern ,Was ist Politische Philosophie?'" Heinrich Meier: Die Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philosophie und die Intention des Philosophen, Stuttgart, Weimar 1996, S. 19. Clemens Kauffmann: Leo Strauss zur Einführung (wie Anm. 36), S. 48. - Zur Genese der Auffassung von der „zweiten Höhle" in Anlehnung an die platonische vgl. Heinrich Meier: Die Denkbewegung von Leo Strauss (wie Anm. 37), S. 22, Anm. 2. Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: ders.: Gesamtausgabe, Band 65, Frankfurt a. M. 1994, S. 24.
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werden, d e n n Kopernikus war ein gläubiger Sohn der Kirche, 4 0 Kepler ein Neuplatoniker 4 1 u n d N e w t o n b r a u c h t e Gott als aktiven Erhalter eines n i c h t ganz perfekten Universums 4 2 . U n d n i c h t einmal Hobbes scheint ein treuer G e w ä h r s m a n n dieser These zu sein; Strauss unterstreicht sein „natural law in terms of self-preservation a l o n e " 4 3 , übergeht (wenn ich r e c h t sehe) aber die friedensstiftende Funktion des Satzes „ t h a t Jesus is t h e C h r i s t " . 4 4 2. Rousseau „The characteristics of t h e first wave of m o d e r n i t y were t h e r e d u c t i o n of t h e moral and political p r o b l e m t o a technical p r o b l e m . " 4 5 Das klingt m e h r n a c h einer vorgezogenen Endstufe aus Carl Schmitts „Neutralisierungsaufsatz" als n a c h einer z u r e i c h e n d e n Beschreibung des Denkens der Frühen Neuzeit. Ähnliche Schwierigkeiten habe ich m i t Strauss' E i n o r d n u n g v o n Rousseau. Zwar ist es richtig, daß er sich gegen Absolutismus u n d Kommerzialismus gleichzeitig ausgesprochen hat; i h n aber v e r a n t w o r t l i c h zu
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Vgl. dazu die Interpretation von Thomas S. Kuhn zu der von Kopernikus entworfenen Vorrede zu „De Revolutionibus" an Papst Paul III. Thomas S. Kuhn: Die kopernikanische Revolution, Braunschweig, Wiesbaden 1981, S. 136 f. Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650, Berlin 1988, S. 231 ff. Alexandre Koyre: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt a. M. 1969, S. 211 ff. Leo Strauss: The Three Waves of Modernity (wie Anm. 37), S. 88. Thomas Hobbes: Leviathan, hrsg. von Crawford Brough Macpherson, Harmondsworth 1977, S. 530. - Insofern nennt Rousseau Hobbes bewußt einen „christlichen Denker", weniger, um ihn gegen antike Autoren abzugrenzen, sondern um zu sagen, daß er mit seiner Christlichkeit gegen den Herrschaftswillen der Kirche aufgetreten ist. „Unter allen christlichen Autoren ist der Philosoph Hobbes der einzige, der das Übel und die Abhilfe richtig erkannt hat und vorzuschlagen wagte, die zwei Köpfe des Adlers zu vereinigen und alles zur politischen Einheit zurückzuführen, ohne die weder Staat noch Regierung jemals in guter Verfassung sein werden. Doch hat er einsehen müssen, daß der Herrschaftssinn des Christentums mit seinem System unvereinbar war und daß das Interesse des Priesters immer stärker als das des Staates sein würde. Nicht so sehr das Abscheuliche und das Falsche in seiner Politik hat diese verhaßt gemacht als vielmehr das Rechte und Wahre an ihr." Jean-Jacques Rousseau: Staat und Gesellschaft. ,Contrat Social', hrsg. von Kurt Weigand, München 1959, S. 114 (Buch IV, Kap. VIII). Leo Strauss: The Three Waves of Modernity (wie Anm. 37), S. 89.
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machen für die Konzeption eines historischen Prozesses schlechthin, halte ich für eine Fehldeutung: „The concept of history, i.e. of the historical process as a single process in which man becomes human without intending it, is a consequence of Rousseau's radicalization of the Hobbesean concept of the state of nature." 46 Zwar ist hier nur von einer „Konsequenz" die Rede, aber auch die scheint mir unzutreffend: vielmehr ist Rousseau der letzte große „Stabilisierungsdenker", der einen Gesellschaftsvertrag als „zweite Natur" in freier Übereinstimmung mit der ersten entwirft.47 Der Begriff einer unbewußt sich vollziehenden Geschichte mit gleichwohl humanem Resultat kommt fast gleichzeitig über Adam Smith und Kant. Die Grundformeln der Geschichtsphilosophie: Naturabsicht und unsichtbare Hand haben ihre Ursprünge im Deismus und der Umformulierung der „Teleologie" zu einer „Teleologie in praktischer Absicht" - letztlich in einer geschichtsphilosophischen Dynamisierung der göttlichen Gnade. 48 3. Nietzsche
Präziser ist Nietzsches Rolle in der dritten Welle der Modernität charakterisiert. Strauss betont den Anti-Hegelianismus Nietzsches. Er sieht, daß Nietzsche kein Vertrauen mehr in die unbewußte Produktion von Vernunft in der Geschichte hat. Und er sieht auch, daß Nietzsches Konzept des „Overman" damit zusammenhängt. Auch sein Vergleich von Nietzsche und Marx ist nicht von der Hand zu weisen: „Yet in spite of the radical opposition between Marx and Nietzsche, the final state of the peak is characterized in the eyes of both Marx and Nietzsche by the fact that it marks the end of the rule of chance: man will be for the first time the master of his fa-
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Ebd., S. 90. „Nach Rousseau steht das Recht, das der Mensch von Natur hat, nicht in Beziehung auf die Zwecke, die ihm die Natur (der Dinge und seine eigene) gewährt, sondern auf die Freiheit als Grund allen Rechts." Manfred Riedel: Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie, Frankfurt a. M. 1975, S. 264. Vgl. dazu: Heinz Dieter Kittsteiner: Ethik und Teleologie. Das Problem der ,unsichtbaren Hand' bei Adam Smith, in: Franz-Xaver Kaufmann, Hans-Günter Krüsselberg (Hg.): Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, Frankfurt a. M., New York 1984, S. 41-73; ders.: Kraft der Vernunft. Religion, Aufklärung und Geschichte in Kants ,Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft', in: ders.: Listen der Vernunft, Frankfurt a. M. 1998, S. 43-87.
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te." 4 9 Allerdings ist hier eine spezifische Differenz nivelliert: Marx, der letzte große Hegelianer, verlegt die Rückgabe der Geschichte an die Menschen aus ihrem kapitalistischen Zustand der Naturwüchsigkeit in einen Endzustand des Kommunismus, an dem die innere Dialektik des falschen Gottes' Kapital selbst mitwirken muß, 50 Nietzsches „Übermensch" stellt sich der nicht-verfügbaren Geschichte in einer Rhetorik entgegen, die alle Teleologie durchschaut hat. 51 Insofern trifft Strauss' Aufsatz über Nietzsche einen zentralen Punkt: Nietzsche setzt schließlich den Willen der „vornehmen Naturen" an die Stelle der „göttlichen Natur". 52 Das heißt aber: An den systematischen Ort einer liberal-normativen Bändigung der Geschichte durch universale Werte ist die Frage nach ihrer real-politischen Beherrschung getreten. Das Unglück liegt schon in dieser verfehlten Fragestellung selbst. Ein Hinweis von Leo Strauss auf Ernst Troeltsch sollte hier nicht unterschlagen werden: „Naturrecht und Geschichte" von 1953 beginnt mit einer Reminiszenz an Troeltschs Aufsatz über „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik" von 1922/23. Damals habe Troeltsch die Differenz zwischen dem deutschen und dem westeuropäischen Denken als die Abkehr von der Naturrechtstradition gekennzeichnet; so sei es zum uneingeschränkten Relativismus des „historischen Sinns" gekommen. Was vor 27 Jahren eine leidliche Charakterisierung des deutschen Denkens gewesen sei, habe nun auf ganz Europa übergegriffen. Strauss erhebt warnend seine Stimme: Schon oft sei es in der Geschichte vorgekommen, daß die Sieger im Kriege unter das geistige Joch der Besiegten geraten seien. 53 Die Erin49 50
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Leo Strauss: The Three Waves of Modernity (wie Anm. 37), S. 97. Karl Marx: Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 70 f. - Vgl. zur gnostischen Fundierung des Kapitalbegriffs bei Marx: Heinz Dieter Kittsteiner: Mit Marx für Heidegger - mit Heidegger für Marx, München 2004. „Hat es einen Sinn, sich einen Gott jenseits von Gut und Böse' zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellungen aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß? - Das wäre der Fall, wenn etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde - und immer das gleiche." Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht, hrsg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt a. M. 1992, S. 53 (Nr. 55). Leo Strauss: Note on the Plan of Nietzsche's Beyond Good and Evil, in: ders.: Studies in Platonic Political Philosophy. With an Introduction by Thomas L. Pangle, Chicago 1983, S. 191. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1953, S. 1 f.
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nerung an Troeltsch ist bemerkenswert in mehrerlei Hinsicht. Zum einen ging es Troeltsch nicht um eine bloß affirmative Darstellung der deutschen Entwicklung, sondern um eine Überwindung des Historismus. Insofern ist er bei Strauss unzureichend wiedergegeben. Troeltsch kritisiert sehr deutlich die Neigung des deutschen Denkens, in der Spannung zwischen Romantik und zynischem Realismus „die Romantik zu brutalisieren und den Zynismus zu romantisieren".54 Spengler erscheint ihm wiederum als Exponent dieser unguten Vermischung. Nur - und das kommt bei Strauss nicht zum Tragen: Troeltsch sucht eine Überwindung des Historismus von dessen eigener gedanklicher Voraussetzung her. Es ging ihm nicht um einen Übergang zu einem überhistorisch aufgefaßten Naturrecht.55 Einlassungen wie die von Strauss zeigen, daß die Themenstellung: „Geschichte durch Geschichte überwinden" so harmlos gar nicht ist. Ungeachtet meiner Schwierigkeiten mit Leo Strauss:56 Er hat die dialektische Viererkette von Carl Schmitt in größere Einheiten zusammengefaßt. Seine Epochengliederung ist von der Frage nach der Krise des politischen Denkens bestimmt und insofern vereinseitigt; wichtig ist aber, daß er - wie Ernst Troeltsch - eine Zäsur im 18. Jahrhundert setzt und eine andere im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, für die Nietzsche als symbolische Form steht. Wir werden in anderer Absicht zumindest in diesen beiden Punkten zu vergleichbaren Einschnitten kommen. V. Historische Überleitung Zuvor soll aber das Denken dieser drei: eines vom Historismus irritierten Theologen, eines mit Geschichte befaßten „schrecklichen Juristen" und ei54
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Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 15), Berlin, New York 2002, S. 505 . „Die sog. natürlichen Normen sind um nichts fester begründet als die sog. übernatürlichen, und das Bemühen, die einen von der anderen Seite her zu begründen, ist eine Illusion, bei welcher Seite man auch einsetzen möge." Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 4), S. 2. Daß er in „Naturrecht und Geschichte" (wie Anm. 53), S. 179 f., auf Cassirer fußt, ohne ihn zu erwähnen, sei nur angemerkt. - Vgl. zum Problem der „genetischen Definition" bei Hobbes und Spinoza: Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Band 2, Darmstadt 1974, S. 98 f.
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nes „große Texte" k o m m e n t i e r e n d e n Geisteswissenschaftlers m i t d e m Befund eines Historikers konfrontiert werden. Ein bloßer Fachhistoriker allerdings ist a u c h er nicht; eigentlich ist er Soziologe. Ich m e i n e I m m a n u e l Wallerstein u n d sein Werk „The M o d e r n World-System". 5 7 In e i n e m Forschungsüberblick hatte er die Auffassungen v o m Beginn der M o d e r n e zusammengestellt u n d war zu folgenden Möglichkeiten g e k o m m e n : Als Eckdaten bieten sich an: 1 5 0 0 , 1 6 5 0 u n d 1 8 0 0 . Die ersten beiden Zäsuren sind geläufig: Wer das Schwergewicht auf 1 5 0 0 setzt, m e i n t die Renaissance u n d die Ausweitung des europäischen Blickfeldes durch die E n t d e c k u n g Amerikas. 5 8 Wer mit 1 8 0 0 die „ M o d e r n e " b e g i n n e n läßt, spricht v o n der politischen und der ö k o n o m i s c h e n Doppelrevolution a m Ende des 18. J a h r h u n derts 5 9 u n d h a t s c h o n die Industrialisierung des 19. J a h r h u n d e r t s i m Blick. Relativ unüblich ist dagegen die Terminierung des Beginns der „ M o d e r n e " u m 1 6 5 0 . U n d d o c h spricht einiges dafür: Es ist der Zeitpunkt, a n d e m die starken „kapitalistischen" Staaten die F ü h r u n g Europas ü b e r n e h m e n : Hol-
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Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem: Kapitalistische Landwirtschaft und die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert, Frankfurt a. Μ. 1986; ders.: Das moderne Weltsystem II: Der Merkantilismus. Europa zwischen 1600 und 1750, Wien 1998; ders.: The Modern World-System III: The Second Era of Great Expansion of the Capitalist WorldEconomy 1730-1840, San Diego 1989. Wallerstein ist seinerzeit von den deutschen Historikern kaum rezipiert worden. Heute gilt sein Werk - bei aller Kritik - als eine der Grundlagen der „Globalisierungsgeschichte". Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003, S. 19. - Zur Kritik an Wallersteins eurozentrischer Perspektive vgl. inzwischen: Friedrich Edelmayer, Peter Feldbauer, Marija Wakounig (Hg.): Globalgeschichte 1450-1620. Anfänge und Perspektiven, Wien 2002; Margarete Grandner, Andrea Komlosy (Hg.): Vom Weltgeist beseelt. Globalgeschichte 1700-1815, Wien 2004. Als der klassische Befürworter dieses Einschnitts kann Hegel gelten: „Diese drei Tatsachen der sogenannten Restauration der Wissenschaften, der Blüte der schönen Künste und der Entdeckung Amerikas und des Weges nach Ostindien sind der Morgenröte zu vegleichen, die nach langen Stürmen zum ersten Male wieder einen schönen Tag verkündet." Bewußt hat Hegel die deutsche Reformation dagegen abgesetzt. Während die anderen Völker hinausstürmen, um eine Welt zu gewinnen, zieht sich mit Luther das deutsche Volk in seine „Innigkeit" zusammen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, Band 12, S. 489 ff. EricJ. Hobsbawm: Europäische Revolutionen, Zürich 1962.
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land und England. 60 Zum anderen werden um 1650 herum die zentralen Ideen der Neuzeit formuliert, oder sie beginnen sich allmählich durchzusetzen. Wallerstein nennt Descartes, Leibniz, Spinoza, Newton und Locke. 61 Den in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch geläufigen Begriff „Krise des 17. Jahrhunderts" 62 möchte Wallerstein lieber durch den einer Stagnationsphase ersetzen. Der stürmische Aufbruch des „langen 16. Jahrhunderts" von 1450-1550 (Fernand Braudels Phase A) verlangsamt sich in einer Phase B, die etwa um 1600 einsetzt und sich eigentlich bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts durchzieht. VI. Die Stufen der Moderne In gebotener Bescheidenheit möchte ich Ihnen nun meine eigene Epochengliederung vorlegen; immerhin habe ich das sechzigste Jahr überschritten - und da darf man auch schon einmal selber denken. 63 Ausgangspunkt war eine Sentenz Ernst Cassirers über die Aufgabe des Geschichtsschreibers: „Gelingt es dem Historiker nicht, die symbolische Sprache seiner Denkmäler zu entziffern, so bleibt die Geschichte für ihn ein Buch mit sieben Siegeln." 64 Dieser Warnung eingedenk habe ich mich gefragt, worauf eigentlich sich diese „symbolische Sprache" nur beziehen kann; meine Antwort: auf die Geschichte selbst. Die Quellen und Denkmäler des Historikers geben Auskunft darüber, in welcher Art
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Diese Vorstellung ist den Deutschen heute noch unvertraut. Zu sehr wirkt die kleindeutsche Geschichtsschreibung nach, die immer zwischen dem „liberalen" England, das in seiner Insellage eigentlich gar kein „Staat" sei, und der Festlands-Militärmacht Preußen unterschieden hatte. Nur letzteres galt als starker Staat. Gerne wurde verdeckt, daß in der globalen Auseinandersetzung zwischen England und Frankreich im 18. und frühen 19. Jahrhundert Preußen bestenfalls eine sekundäre Rolle spielte. Paradigmatisch für diese Auffassung zu Beginn der 20er Jahre war Oswald Spengler mit seiner Broschüre von 1919 „Preussentum und Sozialismus". Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem II: Der Merkantilismus (wie Anm. 57), S. 1 - 9 und S. 11-36. Vgl. dazu: Trevor Aston (Hg.): Crisis in Europe 1560-1660, London 1965. Heinz Dieter Kittsteiner: Die Stufen der Modernen, in: Johannes Rohbeck, Hertha Nagl-Docekal (Hg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, Darmstadt 2003, S. 9 1 - 1 1 7 . Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt a. M. 1990, S. 271.
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von „Geschichte" die Menschen leben oder zu leben glaubten, und wie sie es mit ihrer Geschichte aufnehmen wollten. Es ist etwas anderes, ob sie davon ausgehen, daß die Weltgeschichte in einem geschlossenen Horizont etwa 6000 Jahre währen wird, der an seinen beiden Enden von einer von Gott erfüllen Unendlichkeit wie von einem Ozean umgeben ist, oder ob sie glauben, daß sie auf dem Zeitstrahl des Fortschritts in immer neue Zukünfte vorwärtsgeschleudert werden. Im ersten Fall wird es ratsam sein, sich rechtzeitig auf das „ewige Leben" vorzubereiten, im anderen Fall, die Zukunft zu antizipieren. Es geht darum, welche „Grundaufgaben" sich die verschiedenen Epochen gestellt haben. Auch da kann noch einmal Cassirer weiterhelfen: „Die verschiedenen Formen einer Kultur werden nicht durch eine Identität in ihrem inneren Wesen zusammengehalten, sondern dadurch, daß sich ihnen eine gemeinsame Grundaufgabe stellt." 65 Der Versuch, diese „Grundaufgaben" herauszufinden, liegt meiner Epochengliederung zugrunde. Ich unterscheide: 1. eine „Stabilisierungsmoderne" zwischen 1 6 4 0 - 1 6 8 0 / 1 7 1 5 , 2. eine „evolutive Moderne" zwischen 1770 und 1880, 3. eine „heroische Moderne" zwischen 1 8 8 0 - 1 9 4 5 / 8 9 . 1. Die Stabilisierungsmoderne
Sie folgt in ihrem Konzept dem Buch von Theodore K. Rabb: „The Struggle for Stability in Early Modern Europe", modifiziert durch die Einsichten des alten Zweibänders von Paul Hazard: „Die Krise des europäischen Geistes" und „Die Herrschaft der Vernunft" (letzterer Band wird leider meistens vergessen). Rabb hat die kulturellen Bemühungen in der Mitte des 17. Jahrhunderts unter einem einzigen Aspekt zusammengefaßt: Es ging um die Stabilisierung einer krisenhaften Zeit. „The determination to extend ,human empire' reflected the most urgent need of an age confronted by dissolving standards of truth und knowledge. Control was the antidote to disarray." 66 Diese Suche nach Kontrollmöglichkeiten führt Rabb auf den verschiedenen Gebieten durch: von der Selbstkontrolle der Affekte, über die Beendigung der Kriege, bis hin zur Kunst und zur neuen Kosmologie. Huldigen die Maler zu Beginn des Krieges noch ihren kriegführenden Für65 66
Ebd., S. 3 3 7 . Theodore K. Rabb: The Struggle for Stability in Early Modern Europe, New York 1975, S. 53.
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sten, so schlägt die „Übergabe von Breda" des Velazquez 1635 schon versöhnliche Töne an - es war das Jahr des nie in Kraft getretenen Friedens von Prag
gefolgt vom müde gewordenen Mars von 1642. Und welch ein Un-
terschied zwischen den Karrieren Wallensteins und des Prinzen Eugen. Der eine ist ein letzter Condottiere, der andere ein treuer Diener seines Herrn. Welch ein Unterschied zwischen dem von der Kirche bedrängten Galilei und dem gefeierten Newton. Ich habe vor einiger Zeit damit begonnen, auf der Grundlage dieser Epochengliederung eine dreibändige „Deutsche Geschichte in den Stufen der Moderne" zu schreiben. Das ist nützlich, denn man macht dann am empirischen Material leidvolle Erfahrungen mit dem eigenen theoretischen Entwurf. Ich kann gegenwärtig dazu nur folgendes sagen: Als „symbolische Formen" der Stabilisierung kristallieren sich heraus: die großen Friedensschlüsse und der Ausgleich der Konfessionen; das Ende der Hexenverfolgung und der großen Angst vor okkulten Qualitäten der Materie; die neue Kosmologie und Himmelsmechanik; die neue verinnerlichte Religiosität; insgesamt der Übergang vom religiösen zum metaphysischen Diskurs, so wie Carl Schmitt es beschrieben hatte. Insofern kann man sagen: o h n e Konfessionsspaltung keine „frühneuzeitliche Kriegsverdichtung", 6 7 o h n e den Dreißigjährigen Krieg und seine Schrecken keine in politische Formen gefaßte religiöse Toleranz und letztlich keine Aufklärung; ohne Aufklärung kein Sonderweg Europas gegenüber anderen Weltkulturen. Ein Problem bleibt die Frage nach dem „Zeitfenster" der Stabilisierung. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es bei Rabb zwischen 1 6 4 0 und 1 6 8 0 zu eng gefaßt ist. Der Friede von Utrecht 1 7 1 3 / 1 4 gehört auch noch mit dazu; ebenso der Friedensplan des Abbe de St. Pierre. Und die Kosmologie? Wann hat Newton sich denn durchgesetzt? Wann leben zumindest die Gebildeten in diesem neuen Universum, das keine Trennung von supra- und sublunarischer Sphäre mehr kennt? Nicht vor 1 7 3 0 / 4 0 . 6 8 So bin ich dazu gekommen, das „Ancien Regime" als zweite Phase noch mit in die Stabilisierung einzubeziehen; als die ruhigeren Zeiten der europäischen Kultur, nachdem die Konvulsionen des 17. Jahrhunderts überwunden waren, eben so wie das Rokoko den Barockstil heiter
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Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1992, S. 18. Fritz Wagner: Isaac Newton im Zwielicht zwischen Mythos und Forschung, Freiburg, München 1976, S. 106 ff.
Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne
modifiziert. 6 9 So besehen zeigt die Französische Revolution ein JanusGesicht: Sie ist zwar Setzung eines Neuen, zugleich aber die Rückführung der Gesellschaft in eine endlich gefundene, natur-konforme Form, der letzte Ausdruck der Stabilisierung und der Schlußpunkt des Ancien Regime. 2. Die „evolutive Moderne" (1770-1880) In dieser Stufe der „Moderne" ist unschwer die „Sattelzeit" Reinhart Kosellecks wiederzuerkennen; sie ist nur um etwa 2 0 Jahre verschoben. Auch überlagern sich meine Schichten oder Stufen. Das Problem der „Stabilisierung" wird nie endgültig gelöst; es drängen sich aber neue Phänomene in den Vordergrund. Das eigentlich „Revolutionäre" an der politischen und ökonomischen Doppelrevolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts kommt auch gar nicht aus Frankreich; es k o m m t aus England. W e n n Adam Ferguson sagt: Das Sinnbild des Menschen sei nicht ein „stehendes Gewässer", sondern ein „fließender Strom", dann spricht er eine neue Erfahrung mit einer sich beschleunigenden Zeit aus. 7 0 Für die Europäer der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war China wegen seiner Stabilität n o c h ein Gegenstand der Bewunderung; es war Adam Smith vorbehalten, es zu einer lediglich „stagnierenden Wirtschaft" herabzustufen. 7 1 Denn der „Reichtum der Nationen" ist kein fester Zustand, sondern besteht im permanenten Wachstum. 7 2 Wer aber ist der Herr dieser neuen Entwicklung? Der Mensch? Die klassische deutsche Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel antwortet als erste Wissensform auf diese Frage. Die Geschichte vollzieht sich nicht unter der Herrschaft des „Menschen", sondern sie ist ein „Prozeß" jenseits seiner Verfügung. Hinter seinem Rücken bewegt sich „die Geschichte" beschleunigt in die Zukunft. Doch die Geschichtsphilosophie bietet nicht nur eine Diagnose; sie versucht sich zugleich an einer Therapie. Hegels Anspruch, das
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„Das 17. Jahrhundert hatte in der Respektlosigkeit geendet, das 18. begann voll Ironie." Paul Hazard: Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert, Hamburg 1949, S. 31. Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hrsg. von Zwi Batscha, Hans Medick, Frankfurt a. M. 1986, S. 104. Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 383 ff. Heinz Dieter Kittsteiner: Ethik und Teleologie (wie Anm. 48), S. 63.
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Negative in der Weltgeschichte begriffen zu haben, erneuert in dynamisierter Form noch einmal das Theodizee-Problem.73 Die Geschichte schien auf ein vernünftiges Ziel zuzulaufen, auch wenn sie - wie schon Kant unwillig geklagt hatte - nicht von vernünftigen Weltbürgern nach einem vereinbarten Plan gemacht wird.74 Es ist die nach wie vor gültige Einsicht von Karl Marx, in Hegels „Weltgeist" den „Weltmarkt" erkannt zu haben. Das sich selbst bewegende „Substanz-Subjekt" als Motor der beschleunigten Geschichte existiert real: Es ist die Verwertungsbewegung des Kapitals. Daß Marx als Schüler Hegels sie ebenfalls noch einmal teleologisch überlagert hatte und den tieferen Sinn der kapitalistischen Entwicklung in der unbewußten Vorbereitung eines „Sozialismus" sah, kann weggestrichen werden.75 Was bleibt, ist Hegels schlechte Unendlichkeit. Die Menschen werden von einer Geschichte der Durchkapitalisierung der Welt in die Zukunft gerissen, die außer den immanenten Bewegungsformen des Kapitals (Ware, Geld, Konsum, Profit) kein Ziel und keinen Sinn hat. Wir nennen das heute „Globalisierung". 3. Die „heroische M o d e r n e " (1880-1945/89) 7 6
Diese im späten 18. Jahrhundert in Gang gekommene kapitalistische Beschleunigung der Geschichte hat bis heute nicht aufgehört fortzuwirken, und es besteht kein Grund zu der Annahme, daß sie überwindbar wäre. Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß der Kapitalismus die endgültig kristallisierte Form der globalen „Kultur" ist. Es hat in der Epoche, die ich als die „heroische Moderne" bezeichne, Gegenbewegungen gegeben, die ihrerseits allerdings ein unrühmliches Ende gefunden haben. Ihre mentale Grundstruktur: Der „Fortschritt" wird nicht mehr positiv überlagert, sondern zum Gegenstand der „Zivilisationskritik". Nietzsche kündigt den geschichtsphilosophischen Synergismus Hegels auf. Mit der 73 74 75 76
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 48. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Akademie-Textausgabe, Band 8, Berlin 1968, S. 17. Heinz Dieter Kittsteiner: Mit Marx für Heidegger - Mit Heidegger für Marx (wie Anm. 50), S. 105 ff. Auch Osterhammel/Petersson sind zu dieser Epochengliederung gekommen in dem Abschnitt „Weltkapitalismus und Weltkrisen", in: Geschichte der Globalisierung (wie Anm. 57), S. 63 ff.
Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne
Geschichte kann man nicht zusammenarbeiten wollen; man muß gegen sie antreten. 77 Die Optionen dieser Stufe der Moderne scheinen zu sein: eine nihilistische Konfrontation mit dem sinnlosen Weltgeschehen, ein heroisch-leidendes Standhalten - oder ein letzter Bändigungsversuch mit übermenschlichen Kräften. Gerade in Deutschland ist diese brisante Mischung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und einer Inkubationszeit in der Weimarer Republik zur Explosion gekommen. Was bei Nietzsche noch Spiel war, wird für diese Generation von Nietzsche-Lesern zum blutigen Ernst. Oswald Spengler und das ist das Neue an seinem Entwurf - schaltet „Kultur" und „Zivilisation" hintereinander. Deutschland ist Rom, die Westmächte sind Karthago. Spengler erschaut einen Endkampf im Rahmen der Zivilisation zwischen „Geld" und „Blut". 78 Als er 1933 dann kommt, wird der Prophet zur Seite geschoben. Ähnlich ergeht es anderen Vordenkern der „Konservativen Revolution", auch dem Denker Martin Heidegger, der 1933/34 mit den neuen Machthabern mitmarschiert, begeistert vor allem allerdings für seinen eigenen Entwurf, den er für die Läuterung des Nationalsozialismus vorgesehen hatte. Doch Heideggers „Drittes Reich" war nicht Hitlers Drittes Reich. 79 Die Stufe der „Heroischen Moderne" verabschiedete sich asymmetrisch aus der Geschichte. Auch das andere große totalitäre System in der UdSSR hatte den „Heroismus" adaptiert. So durften die Bürger der DDR noch eine Zeitlang „Helden" bleiben, 80 bis auch das 1989/90 zu Ende war. Wir waren ausgegangen von dem Gedanken Ernst Cassirers, daß man sich die „Grundaufgaben" vergegenwärtigen muß, die eine Epoche in ihrem Verhältnis zur Geschichte sich gestellt hat, um die symbolischen Formen ihrer Kultur entschlüsseln zu können. Die „heroische Moderne" zeigt uns in ihren Auswirkungen, daß sich ganze Epochen auch falsche Grundaufgaben haben stellen können. Das führt uns zurück zu der Frage Ernst Troeltschs nach einer normativen Bändigung der Geschichte. Allerdings
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Heinz Dieter Kittsteiner: Geschichtsschreibung im Dienst des Lebens. Nietzsches ,souveränes Individuum' in seiner plastischen Kraft', in: ders.: Listen der Vernunft (wie Anm. 48), S. 1 3 2 - 1 4 9 .
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Vgl. oben, Anm. 14.
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Heinz Dieter Kittsteiner: Mit Marx für Heidegger (wie Anm. 50), S. 1 4 5 ff. Heinz Dieter Kittsteiner: Die in sich gebrochene Heroisierung. Ein geschichtstheoretischer Versuch zum Menschenbild in der Kunst der DDR, in: Historische Anthropologie. Kultur-Gesellschaft-Alltag 2 ( 1 9 9 4 ) , S. 4 4 2 - 4 6 1 .
Heinz Dieter Kittsteiner
hat sich mir die Aufgabenstellung verschoben. Eine „Überwindung des Historismus" ist nicht mehr mein Problem: Es geht vielmehr um eine erneute Stellungnahme zu einem unverfügbaren, in sich sinnlosen historischen Prozeß in dem Wissen, (1) daß er sich nicht „dialektisch" selbst bändigt, und (2) daß die gewaltsamen Bändigungsversuche der „heroischen Moderne" in die Irre geführt haben. VII. Noch einmal Ernst Troeltsch Zwei Aufgaben hatte Troeltsch der Geschichtsphilosophie zugewiesen: die der Epochengliederung und der Frage nach der normativen Stabilisierung des Historismus. Es geht jetzt abschließend nicht darum, die vorgestellten Entwürfe der Moderne nach Übereinstimmungen abzutasten, sondern um die zurückgestellte Frage nach der Überwindung der Geschichte durch Geschichte. Allerdings hat sich diese Fragestellung selbst durch die Art der Epochengliederung verändert. Zur begrifflichen Abgrenzung: Ich beschränke den Begriff „Geschichtsphilosophie" auf die Entwicklung des Deutschen Idealismus zwischen Kant und Marx, also auf die Wissensform, die sich einem nicht-machbaren historischen Prozeß gegenübersah und ihn teleologisch überlagerte. Troeltsch bezeichnet hingegen auch die „Geschichtsphilosophie nach Hegel" 81 noch als „Geschichtsphilosophie", meint damit aber die Wertphilosophie des Typus Rickert-Weber. 82 Die aber setzt schon die Kritik an der Hegeischen „Metaphysik" voraus. 83 Meine Stellung dazu ist anders: Ich gehe davon aus, daß die wirkliche Einsicht der klassischen Geschichtsphilosophie mit einer Kritik an ihrer Teleologie nicht entwertet ist; sie hat den wirklichen Prozeß „hinter unserem Rücken" entdeckt, und es blieb Marx vorbehalten, ihn begrifflich zu erfassen. Auch wenn alle Zielsetzungen des Prozesses im Sinne einer „Vernunft in der Geschichte" weggeschlagen sind, so bleibt doch noch dieser Prozeß selbst - bar jeder Vernunft. Seit den 90er Jah-
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Herbert Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel, Freiburg, München 1974. Ernst Troeltsch: Moderne Geschichtsphilosophie (wie Anm. 3), S. 6 7 3 - 7 2 8 . Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die Historischen Wissenschaften, 5. Aufl., Tübingen 1929, S. 14.
Z u m Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der M o d e r n e
ren hat sich dafür der „historische Prozeßbegriff" Globalisierung eingebürgert.84 Ich werde wohl oder übel meinen drei Stufen der „Moderne" noch eine vierte, die „Globalisierungsmoderne" anfügen müssen. Der Sachverhalt ist nicht neu; ökonomische Globalisierung existiert seit dem „Modern World-System", auch wenn Wallersteins eurozentrische Perspektive mit ihrer Einteilung in „Kern", „Peripherie" und „Semi-Peripherie" heute durch eine Darstellung der Interaktion der an der Vernetzung beteiligten Kulturen unterlaufen wird.85 Die Frage nach der „Überwindung der Geschichte durch Geschichte" hat sich insofern auf die Frage zugespitzt, ob mit Troeltsch im Rahmen der „Globalisierungsmoderne" noch gedacht werden kann; das führt noch einmal auf seinen Aufsatz über „Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen" zurück. Troeltsch ging noch von in sich abgeschlossenen „Kulturkreisen" aus, die sich gleichwohl verständigen könnten. Die Nivellierung der Welt durch ihre McDonaldisierung86 konnte er sich noch nicht vorstellen, ebensowenig den politischen Jihad 87 als Abwehrkampf dagegen. Insofern hat sich die Problemlage verschärft. Aus der Vorstellung einer gütlichen Verständigung - „Sie können sich gegenseitig verstehen, wenn sie den allzu menschlichen Eigensinn und Gewaltgeist ablegen" 88 - ist im Rahmen der Globalisierung ein wirklicher „Kampf der Kulturen" geworden. Nur kurzsichtige political conectness kann behaupten, dieser Kampf existiere nicht - wir sind schon mitten darin. Das erneute Vordringen des Islam nach Europa ist auch keine politisch oder wirtschaftlich bedingte „Immigration" mehr, sondern nimmt Züge einer Völkerwanderung und einer Landnahme an. Wie politisch und theologisch damit umzugehen ist, bleibt vorerst offen. 89 Welche Denkfiguren stehen dafür bereit? Das viel gescholtene Buch
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Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung (wie Anm. 57), S. 7 - 1 5 . - Die abschließende „Warnung" vor einer „Verdinglichung" dieses Prozesses und seine Rückführung auf „Resultate individuellen oder kollektiven Handelns" verharmlost allerdings die kapitalistischen Sachzwänge der Globalisierung. Ebd., S. 112.
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Vgl. oben, Anm. 5 7 . Benjamin R. Barber: Imperium der Angst. Die USA und die N e u o r d n u n g der Welt, M ü n c h e n 2 0 0 3 , S. 171 ff.
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Zum Begriff des „Jihad" vgl. Malise Ruthven: Der Islam. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2 0 0 0 , S. 1 5 8 ff.
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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 4), S. 8 2 . Der Art. 4 des Grundgesetzes ist inzwischen mit religiösen Verhaltensmustern
Heinz Dieter Kittsteiner
von Samuel P. Huntington endet beispielsweise versöhnlicher, als man denken sollte. Denn Huntington will die „westliche" Kultur nicht universalisieren - sie ist zwar einzigartig, aber eben nicht universal. Daher muß sie nach einem Ausgleich suchen, nach einer „gemeinsamen conditio humana durch eine ,dünne' minimale Moral". 90 Mit der Suche nach einer dünnen, minimalen Moral sind wir aber mit einem Zeitsprung in das Europa des 17. Jahrhunderts zurückverwiesen. Was sich damals in der Verständigung der friedensunfähigen Konfessionen als Aufgabe der „Stabilisierungsmoderne" stellte, wird heute im globalen Maßstab wiederholt werden müssen, ohne daß wir noch Stabilisierungsillusionen hegen dürfen. Es hat wenig Sinn, die ausformulierten „Menschenrechte" des späten 18. Jahrhunderts den anderen Kulturen entgegenzuhalten, zumal sie nicht nur im 16./17., sondern auch noch seit dem 18. Jahrhundert mit den europäisch-amerikanischen „Menschenrechten" ihre eigenen Erfahrungen machen durften. Es gilt, einen Schritt zurückzugehen von der voll entfalteten Aufklärung des 18. in die Toleranzdebatte des 16. und 17. Jahrhunderts. Das hat für den „Europäismus" die Unbequemlichkeit, daß er überhaupt wieder in theologischen Begriffen zu denken lernt. Es ist im Sinne Carl Schmitts ein - wenn auch nur fiktiver - Schritt zurück von einem moralphilosophischen und metaphysischen Diskurs in einen religiösen. Wieder anzuknüpfen an die Debatten des 17. Jahrhunderts, das bedeutet, zurückzugehen auf die Einigungsversuche zwischen den verfeindeten Konfessionen, auf die Suche nach jenen Sätzen, denen alle zustimmen können. Herbert von Cherbury - und Troeltsch geht auf ihn ein in dem Abschnitt über die „moderne Welt" bei der Entstehung des englischen Deismus - hatte versucht, den Streit der Religionen auf die notitiae communes zu reduzieren: 1. Daß ein Gott ist, 2. daß er verehrt werden soll, 3. daß die wahre Verehrung Gottes moralisch-praktischen Charakter hat, 4. daß die Sünden bereut werden und 5. daß es eine göttliche Vergeltung im Jenseits gibt.91 Man
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konfrontiert, auf die er nicht vorbereitet war. Er setzte Konfessionen voraus, die von der europäischen Aufklärung gebändigt worden waren. Vgl. zu dem Problem der Rückführung der Auslegung der Glaubensfreiheit auf ein sozialverträgliches Niveau: Uwe Volkmann: Risse in der Rechtsordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. März 2004, S. 8 f. Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen, München, Wien 1997, S. 525. Ernst Troeltsch: Der Deismus, in: GS IV (wie Anm. 2), S. 437.
Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne
wird wohl heute geneigt sein, den fünften Punkt auszuklammern. Spinoza hatte im „Theologisch-Politischen Traktat" darüber geklagt, ob j e m a n d Christ, Jude, Türke oder Heide sei, erkenne man nur an Äußerlichkeiten seines Kultes. „Im übrigen ist der Lebenswandel bei allen der gleiche". 9 2 Er seinerseits schlägt sieben Punkte vor, die, wenn sie befolgt würden, keinen Raum mehr für kirchliche Streitigkeiten ließen. Sie sind so ferne von den fünf Punkten des Herbert von Cherbury nicht. Zentral ist der sechste Punkt: „Die Verehrung Gottes und der Gehorsam gegen ihn besteht b l o ß in der Gerechtigkeit und in der Liebe oder Nächstenliebe." 9 3 Gehen wir v o n hier aus n o c h einmal auf Troeltsch zurück. Ich hatte eingangs gesagt, seine Forderung an die Weltreligionen sei von einer spezifisch-europäischen Erfahrung durchtränkt. „Das schließt Wetteifer nicht aus. Aber es m u ß vor allem ein Wetteifer um innere Reinigung und Klarheit sein. Suchen wir in jeder Gruppe selber nach dem Höchsten und Tiefsten, dann dürfen wir hoffen, uns zu begegnen." 9 4 Das Höchste und Tiefste zeigt sich aber in der Reduktion auf den Kern, im Abstreifen des b l o ß Kultischen. Die von Troeltsch geforderte Kultursynthese war kein Synkretismus, sondern eine von der historischen Vielfalt ausgehende Wendung nach Innen. Sie stand im 17. Jahrhundert am Beginn der modernen Welt; die Erinnerung daran kann auch Europas Beitrag zur Kultur der Globalisierungsmoderne sein.
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Baruch de Spinoza: Theologisch-Politischer Traktat, hrsg. von Günter Gawlick, Hamburg 1976, S. 7. Ebd., S. 217 f. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 4), S. 83.
FOLKART WITTEKIND Christologie als Ceschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler' „Reflexion vermag jedem Schicksal die Spitze zu nehmen." 1 Bereits die inhaltliche Aussage dieses Satzes ist schwierig, so vorsichtig sie auch formuliert ist. Denn hier ist zuviel philosophische Weisheit im Spiel, die dem Ernst und der Unentrinnbarkeit des Schicksals nicht gerecht wird. Aber auch die formale Voraussetzung der Aussage (nämlich die Unterscheidung von Reflexion und Schicksal, die es möglich macht, daß Reflexion dem Schicksal die Spitze nimmt) ist überaus fraglich - denn vielleicht ist der Gegensatz falsch und Reflexion schon selbst Schicksal? J o h a n n Hinrich Claussen schreibt in seinem Troeltsch-Buch: „Troeltsch selbst gesteht ein, daß zwischen dem religiösen Bewußtsein und der geschichtsphilosophischen Reflexion eine Differenz besteht." 2 Um diese Differenz geht es im folgenden, und zwar hinsichtlich der produktiven theologiegeschichtlichen Kraft, die Troeltschs Aufrichtung der Geschichtsphilosophie an der Religion und in der Differenz zu ihr in der Rezeption durch die jüngere Generation gehabt hat. Emanuel Hirsch schreibt 1934: „Er [sc. Paul Tillich] und ich haben beide von der [ . . . ] Erkenntnis, daß der Begriff ganz und gar, nach Form und Inhalt, geschichtsbedingt sei, [ . . . ] einen für immer verwundenden Eindruck empfangen. [ . . . ] Diese zugleich aufbauende und kritische Dialektik von Wahrheit und Geschichte [ . . . ] ist ihm wie mir als das philosophische Grundfragmal unserer Generation erschienen". 3 Dieses ,Grundfragmal', so die hier aufzuzeigende Behauptung, bestimmt aber auch diejenigen Generationsvertreter, die theologieintern argumentieren, und auch diese knüpfen weiterführend an die Thematik und Problemstellung von Troeltschs Geschichtsphilosophie an. Als vorläufige Antwort dieser jüngeren Theologen auf Troeltsch sei behauptet, daß hier nicht Geschichte durch Geschichte überwunden werden soll, sondern durch Geschichtsphi-
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Rüdiger Bubner: Wie wichtig ist Subjektivität?, in: Wolfram Hogrebe (Hg.): Subjektivität, München 1998, S. 246. Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie, Tübingen 1997, S. 60. Emanuel Hirsch: Christliche Freiheit und politische Bindung. Ein Brief an Dr. Stapel u. a., Hamburg 1935, S. 25.
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losophie - und zwar durch eine in der Theologie reflexiv gewordene Geschichtsphilosophie, die sowohl die Überwindung der Geschichte ist als auch sie überflüssig macht. Der Erweis dieser theologischen Anknüpfung geschieht in drei Fragebereichen zu Troeltschs Theorie, die im ersten Teil des Beitrags skizziert werden. Anschließend wird die abweichende Bearbeitung dieser Problembereiche bei Bultmann, Barth und Tillich dargestellt. Die Auseinandersetzung mit Troeltschs vielschichtigen Texten muß dafür auf die zentralen Fragen reduziert werden, die die jüngeren Theologen gesehen haben. Wie ist die Fragestellung einer theologiehistorischen Konstruktion des geschichtstheoretischen Verhältnisses von Troeltsch und seinen „Schülern" einzuordnen? Dazu dürften theologiehistorische und systematische Gesichtspunkte zu nennen sein. Zunächst zur Theologiegeschichte. Es hat sich hier ein Bild durchgesetzt, nach welchem Troeltsch als Exponent einer entschiedenen Historisierung der Theologie zu stehen kommt. Da er gegenüber seinen Lehrern eine konsequente Vergeschichtlichung der Anschauung der christlichen Religion fordert und andererseits von den jüngeren Theologen diese konsequente Historisierung als aporetische Lage der Theologie beurteilt wurde, die es zu überwinden gelte, wird Troeltschs Theologie einerseits zum einzig angemessenen exemplarischen Fall einer modernegemäßen neuprotestantischen Theologie, die um die Unhintergehbarkeit ihrer eigenen Geschichtlichkeit und der Geschichtlichkeit ihrer Gehalte weiß.4 Theologen hingegen, die der Redogmatisierung der Theologie insbesondere durch Karl Barth folgen, halten diese Historisierung der Theologie bei Troeltsch für einen falschen Bezugspunkt dogmatischer Arbeit und schließen Troeltsch damit aus der Geschichte der neueren protestantischen Dogmatikentwicklung aus.5 Damit spiegelt die Theologie selbst den Dissens von Geschichte und Theologie, der in der theologiegeschichtlichen Abfolge von Ernst Troeltsch und der antihistoristischen Generation zu Tage getreten ist. Hier ist ein
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Dies gilt auch da, wo Troeltschs Konzept selbst noch als wegen individualitätsbezogener falscher Residuen nicht durchgeführte rationale Geschichtsphilosophie beurteilt wird. Vgl. Michael Murrmann-Kahl: Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880-1920, Gütersloh 1992. Ein immer wieder geäußertes Urteil lautet, in Aufnahme von Walter Bodenstein: Neige des Historismus. Troeltschs Entwicklungsgang, Gütersloh 1959, S. 207, Troeltsch sei ein „gescheiterter Dogmatiker".
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
theologiegeschichtliches Begreifen erfordert, das jenseits dieses Dissenses steht, um die Weiterführung des Geschichtsthemas in der dogmatischen Theologie adäquat erfassen zu können. 6 Eine solche Sicht muß aber wiederum fundiert sein in einer systematischen Position, die die Bedeutung der Geschichte für den Glauben entschieden festhält. Die Themen der Individualisierung der Religion, des Verstehens der Religion in der Lebenswelt und die Zunahme soziologischer Beschreibungsmuster in der modernen praktischen Theologie sind begründet in der Entwicklung, die die protestantische Theologie seit Ritsehl und seinen Schülern in der Analyse des Glaubensbegriffs und des Verhältnisses von Theologie und Religion genommen hat. Für die Überwindung eines nur von außen auf die Religion gewendeten Geschichtsblicks und die innere Anreicherung des personalen Religionsverständnisses mit geschichtlichen Merkmalen - gegen die Auffassung eines ungeschichtlichen, ewigen, transzendenten Personkerns - hat aber gerade die dogmatische, scheinbar auf dem Antihistorismus beruhende Theologie gesorgt, auch wenn die allgemeine anthropologische Anwendung dieses Ergebnisses wiederum nur in einer kritischen Absetzung von ihr in den 1960er Jahren erfolgen konnte. Das Interesse meiner folgenden Überlegungen ist es deshalb, eine kontinuierliche Entwicklung des zusammengehörenden Komplexes von Geschichte und Glaube in der Theologie zu schreiben - und die verschiedenen, sich historisch ausschließend aufeinander beziehenden bzw. sich voneinander absetzenden Positionen als fortlaufende Arbeit an einzelnen Elementen eines als ganzen zu begreifenden Komplexes zu verstehen. Dazu gehört die selbstverständliche Voraussetzung, daß weder Troeltsch als Dogmatiker gescheitert ist noch die antihistoristischen Theologen eine Verabschiedung des Themas Geschichte aus der Theologie verfolgt haben. I. Drei Probleme sollen im Hinblick auf Troeltschs Werk kurz genannt werden. Sie betreffen den Subjektbegriff, das Religionsverständnis und die Zielbestimmung der Geschichte.
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Und zwar auch in derjenigen systematischen Theologie, die nicht wie die von Wolfhart Pannenberg das Thema Geschichte in offenbarungstheologischer Absicht offensiv weiterverfolgt hat.
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Erstens: Welche Sicht des Verhältnisses von Individuum und Geschichte wird in der Behandlung der Christologie deutlich? Troeltsch bestreitet die Bedeutung Jesu Christi für die individuelle Glaubensgewißheit und knüpft die geschichtlichen Elemente des Glaubens an die Sozialpsychologie, an Kult und Kirche an. 7 Individuelle Gewißheit bedarf keiner geschichtlichen Begründung und Anknüpfung, sie ist selbst ein ungeschichtlicher - oder besser: übergeschichtlicher Geltungspunkt. Explizit gegen Wilhelm Herrmanns Einbindung geschichtlicher Begründung in die Durchsichtigkeit der individuellen
Glaubensgewißheit richtet sich Troeltschs Christolo-
gie, die den personalen Kern der Gotteskindschaft Jesu von aller geschichtlichen Vermittlung, Einbindung und Darstellung löst. „Das [sc. die Bindung an eine historisch wirkliche Autorität] ist das Berechtigte an der Herrm a n n s c h e n Rede von der ,Tatsache Christus'. Es handelt sich nur nicht darum, daß die Heilsgewißheit des Individuums erst durch die Gewißwerdung an Jesus gewonnen werden könne, sondern darum, daß es keinen tragenden und stärkenden Lebenszusammenhang des christlichen Geistes o h n e Sammlung u m Jesus geben kann [ . . . ]." 8 Geschichte ist ein Ausdrucksund Betätigungsfeld von Individuen, die in ihrem eigentlichen Selbstsein vorausgesetzt werden und in einer geschichtstranszendenten Ewigkeit verankert erscheinen. Die Christologie zeigt deutlich diesen bleibenden Hiat zwischen ewigem Personkern und geschichtlichem Leben. 9 Geschichtlich verstehbar ist nur der geschichtliche Ausdruck, mit dem die Person sich
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Vgl. zum folgenden Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (wie Anm. 2) sowie Friedrich Wilhelm Graf: Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs, in: ders., Horst Renz (Hg.): Protestantismus und Neuzeit (Troeltsch-Studien, Band 3), Gütersloh 1984, S. 2 0 7 230. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, in: ders.: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte und zwei Schriften zur Theologie, hrsg. von Trutz Rendtorff (Siebenstern-TB), München, Hamburg 1969, S. 151. Vgl. Ernst Troeltsch: Glaubenslehre, München 1925, ND mit einer Einleitung von Jacob Klapwijk, Aalen 1981. Vgl. dazu Sarah Coakley: Christ without absolutes. Α study of the Christologie of Ernst Troeltsch, Oxford 1988, sowie dies.: Christologie auf „Treibsand"? Zur Aktualität von Troeltschs Christusdeutung, in: Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Ruddies (Hg.): Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien, Band 4), Gütersloh 1987, S. 338-351.
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
in ihrem geistigen Umfeld deutet, und die Person selbst bleibt eine ungeschichtliche Fiktion, um Geschichte als freies Handeln solcher freien Instanzen beschreiben zu können. Aber ist dieses substanzgestützte monadologische Freiheitsgarantiemodell wirklich eine theoretisch befriedigende Darstellung dessen, was Person ist und wie sie sich zur Geschichte verhält? Das zweite Problem liegt in der Zuordnung von Religion und Geschichte - genauer: des Verhältnisses der Erkenntnis der Geschichtlichkeit der Religion zu dieser Religion selbst. Religion, das setzt Troeltsch voraus, ist ein selbständiges Vermögen des Menschen, sie hängt inhaltlich, abgekürzt gesprochen, am Transzendenzbewußtsein. Dieses Transzendenzbewußtsein gestaltet sich geschichtlich in Form der religiösen Gehalte und Dogmen, es entwickelt sich hin zur personalistischen Erlösungsreligion im Christentum, in dem es erstmals als reines Transzendenzbewußtsein sich ausspricht.10 Das Ziel der Religionsgeschichte bleibt damit in dem durch die erkenntnistheoretische Vermögenstheorie und die am Christentum abgelesene Inhaltlichkeit und Werthaftigkeit bereitgestellten Rahmen gefangen. Das Wissen, daß die Religion geschichtlich ist und sich auf die Selbstrealisierung des Geistes hinbewegt, bleibt bei Troeltsch der geschichtlichen Betrachtung der Religion von außen und ihrer geschichtsphilosophischen Reflexion vorbehalten. Troeltsch vermeidet es konsequent, die Religion in die Betrachtung ihrer Geschichtlichkeit zu überführen. 11 Gleichwohl ist die historische Betrachtung der Religion durch den Religionsgeschichtler durchaus in der Lage, theologische Grundlagen in der Religionsgeschichte zu erkennen. Doch formuliert er diese Einsichten in einer zwar theologieaffinen, aber für Troeltsch eben nicht selbst theologischen Perspektive: „Die historisch geschilderten und wirksamen Normen
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Vgl. Georg Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992, S. 24-73. Die ganze Absolutheitsschrift läßt sich gleichsam als Problembeschreibung dieser Vermeidung interpretieren, vgl. Folkart Wittekind: Die geschichtsphilosophische Grundlegung eines ethischen Glaubensverständnisses in Troeltschs Absolutheitsschrift - oder: Das Reich Gottes als Universalgeschichte, in: Reinhold Bernhardt, Georg Pfleiderer (Hg.): Christlicher Wahrheitsanspruch - historische Relativität. Auseinandersetzungen mit Ernst Troeltschs Absolutheitsschrift im Kontext heutiger Religionstheologie (Christentum und Kultur. Basler Studien zu Theologie und Kulturwissenschaft des Christentums, Band 4), Zürich 2004, S. 131-168.
Folkart Wittekind
sind nicht ohne weiteres die geltenden, von uns anzuerkennenden Normen, aber Offenbarungen desselben Prinzips, aus dem wir die geltenden Normen entwickeln." 12 Genau aber um diese Erkennbarkeit der Ableitung aus dem schöpferischen Prinzip wird es gehen. Die Anfrage spitzt sich drittens zu auf dem Feld der Geschichtsphilosophie selbst, sie lautet hier, wie das Verhältnis der materialen Geschichtsphilosophie zur Geschichte selbst zu bestimmen ist, bzw. historisch gesehen, was eigentlich das Ziel der Geschichte in der menschlichen Erkenntnis ist. Troeltschs Arbeiten zur europäischen Kultursynthese sind der Versuch einer materialgeschichtlichen Herleitung der inhaltlichen Prinzipien des modernen Lebens und der Versuch, auf dieser Herleitung aufbauend die ethischen Ziele für die Zukunft der europäischen Kultur zu bestimmen. Die materiale Geschichtsphilosophie steht für Troeltsch im Dienste eines sowohl freien als auch informierten Handelns in der Gegenwart, das sich ganz in die Entwicklung der Geschichte einschreibt. 13 Ohne inhaltlich darauf einzugehen, kommt es hier auf folgendes an: Wenn die Geschichtsphilosophie dazu dient, die Freiheit des realen Handelns sowohl inhaltlich zu konkretisieren als auch zu bewahren, und wenn die Freiheit zu den Grundideen der abendländischen Geschichte zählt und in ihr sich realisiert hat, dann scheint die abendländische Geschichte doch auch auf die geschichtsphilosophische Selbstbesinnung des Handelns - und nicht nur auf dieses selbst - hinauszulaufen. Die Geschichtsphilosophie kann dann nicht nur reflexiv dem wirklichen Handeln äußerlich bleiben, nicht nur klären, weshalb und wozu geschichtliches Wissen im Handeln nötig ist, sondern sie müßte sich selbst als Inhalt der Entwicklung, sie müßte die geschichtsphilosophische Durchsichtigkeit des Handelns diesem als Ziel der Geschichte zuordnen. Geschichte entwickelt sich hin zur geschichtsphilosophischen Durchsichtigkeit dieser ihrer Entwicklung, und gerade Troeltschs Ausführungen zur modernen Notwendigkeit der Geschichtsphilosophie und der historischen
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Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 5), Berlin, New York 1998, S. 189. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch: Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Josef Speck (Hg.:) Grundprobleme der großen Philosophen (Philosophie der Neuzeit, Band 4), Göttingen 1986, S. 128-164.
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch u n d seine ,Schüler'
Gesinnung h a b e n a n vielen Stellen die Tendenz, in dieser Weise reflexiv zu werden. 1 4 Der a) Subjektbegriff der Christologie, der b) Religionsbegriff u n d c) die historische Bedeutung der Geschichtsphilosophie, also die Reflexivität der Geschichte im Geschichtsbewußtsein, werden i m folgenden die Darstellung des Bezugs auf die v o n Troeltsch geschaffene Problemlage bei Rudolf Bultmann, Karl Barth u n d Paul Tillich gliedern. II. a) Rudolf B u l t m a n n s
Christologie
neutestamentlich-exegetischen
und
knüpft
n i c h t n u r hinsichtlich
urchristentumsgeschichtlichen
gestellungen a n die Religionsgeschichtliche
Schule an,
sondern
der Fraauch
hinsichtlich der m e t h o d i s c h e n Probleme der Geschichtsschreibung u n d der Geschichtlichkeit des Lebens ist die N ä h e zu Troeltsch - a u c h in inhaltlich anderen Entscheidungen - deutlich. 1 5 Die eigenen Ergebnisse
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Vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 3), Tübingen 1922, S. 75 f.: „Dann also muß die materiale Geschichtsphilosophie sich auf den Kulturkreis des Betrachters beschränken, diesen vom Standpunkt der Gegenwart so durchdringen, daß der ganze Prozeß als in innerer Kontinuierlichkeit auf diese Gegenwart hinführend und wiederum diese Gegenwart in ihrer tieferen Struktur als von dieser ganzen Vergangenheit her gebildet erscheint. [... ] Es ist ein einheitlicher Lebensprozeß, in dem der Betrachter sich das richtige Verhältnis zu diesem Prozeß gibt, indem er sich zugleich als dessen durchaus bestimmtes Ergebnis und als dessen gegenwärtiglebendiger Zusammenfasser und Fortbildner empfindet. Darin liegt [... ] die schwierige Antinomie, daß wir zugleich die Vergangenheit aus der Gegenwart und die Gegenwart aus der Vergangenheit deuten unter der Voraussetzung der Einheitlichkeit des Lebensprozesses, zumal eine solche auch wirklich nachweisbar ist." Vgl. dazu Hartmut Ruddies: Gelehrtenpolitik und Historismusverständnis. Über die Formierung der Geschichtsphilosophie Ernst Troeltschs im Ersten Weltkrieg, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus" (Troeltsch-Studien, Band 11), Gütersloh 2000, S. 135-163, hierS. 145: „Als integrale Theorie der Geschichte enthält Troeltschs Geschichtsphilosophie auch Ansätze für eine Kritik des Historismus, die er zwar angedacht, die er aber nicht ausgeschöpft hat: Es geht Troeltsch dabei um ein Konzept historischen Verstehens, das das objektivistische Selbstverständnis des Historismus überwindet und den Weg für ein genuin historisches Sinnverstehen freilegt."
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Vgl. zur Entwicklung Bultmanns insbesondere: Rudolf Bultmann: Die Bedeu-
Folkart Wittekind
seiner sich langsam entwickelnden methodischen Überlegungen zur Bedeutung des historischen Jesus für den Glauben hat Bultmann in der Einleitung zu seinem Jesus-Buch (zu kurz) dargestellt. „Wenn also von Jesu Lehre oder Jesu Gedanken die Rede ist, so liegt dem nicht die Vorstellung von einem allgemeingültigen idealen Gedankensystem zugrunde, das für jedermann einleuchtend gemacht werden kann. Sondern die Gedanken sind als das verstanden, was sie in der konkreten Situation eines in der Zeit lebenden Menschen sind: als die Auslegung der eigenen, in der Bewegung, in der Ungesichertheit, in der Entscheidung befindlichen Existenz; als der Ausdruck für eine Möglichkeit, diese Existenz zu erfassen [ . . . ] . Begegnen uns also in der Geschichte Jesu Worte, so [ . . . ] begegnen [sie] uns als Fragen, wie wir selbst unsere Existenz auffassen wollen. [ . . . ] [Dies führt] zu einer Begegnung mit der Geschichte, die selbst ein zeitlicher Vorgang ist; das wäre ein Dialog mit der Geschichte." 1 6 Auch bei Troeltsch sind die religiösen Ideen zeitbedingte Auslegungen des Transzendenzbezugs der Existenz, nur wird bei ihnen dieser Transzendenzbezug als Besitz, als Substanz, als feste Rekursinstanz der Selbstauslegung gesehen. Bultmann löst diese Vorstellung von der Seele und ihrem Gott auf, indem er die Innerlichkeit verzeitlicht, in Bewegung setzt. „Begegnung mit der Geschichte" ist das individualitätsbezogene Eingeständnis, daß die Person auch im Innersten, in ihrem Kern immer nur das ist, was sie aus sich macht. Dieses Machen hat keinen festen, substanzhaft gegebenen Bezugspunkt des Selbst, sondern ist der Ort, an dem erst ein richtig autonomes, auf die wahre Transzendenz bezogenes Personalitätsbewußtsein entsteht. Die Person wird nicht erst gleichsam nachträglich in die Geschichte gestellt und muß sich in ihr durch geschichtliches Verhalten bewähren und bewahren. Sondern Geschichtlichkeit ist die Grundlage personalen Seins selbst, der geschichtliche Vollzug konstituiert erst die geschichtliche Größe und die Instanz „Subjekt". Die von Troeltsch dem „Lebenszusammen-
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tung der Eschatologie für die Religion des Neuen Testaments, in: Martin Rade, Horst Stephan (Hg.): Festgabe für Wilhelm Herrmann zu seinem 70. Geburtstage, Tübingen 1917, S. 76-87. Rudolf Bultmann: Jesus (1925), Tübingen 1951, S. 13 f. Zu Bultmanns Arbeit an der Christologie vgl. die brieflichen Quellen bei: Bernd Jaspert: Rudolf Bultmanns Wende von der liberalen zur dialektischen Theologie, in: ders. (Hg.): Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, Darmstadt 1984, S. 2 5 - 4 3 .
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
h a n g " 1 7 als der sozialen und kulturell eingebundenen Geschichte zugeordnete Lebendigkeit und Wirklichkeit der Person ist für Bultmann jetzt genau der Konstruktionspunkt der auf Gott bezogenen Innerlichkeit. Der Bezug auf das „Wort" Jesu steht damit für die geschichtsreflexive Erneuerung des Individualitätsverständnisses. Denn der historische Jesus ist ein vergangener und historisch erkennbarer Gegenstand, aber die christologische Lesart macht ihn zum Urbild reflexiven Verständnisses des geschichtlichen Selbst. Dieses Verlassen des historischen Zusammenhangs als Grundlage eines neuen, vollzugsorientierten Selbstverständnisses ist die Bedingung für die Erkenntnis der Geschichtlichkeit alles individuellen Selbstverhältnisses. Bultmann bleibt allerdings insofern Historiker, als für ihn dieser Vollzug des Selbst, die Entscheidung im Jetzt und Hier immer auch eine geschichtliche Größe bleibt. Reflexivität auf Geschichte ist selbst ein geschichtliches Geschehen. Diese Durchsichtigkeit manifestiert sich deshalb immer wieder in der Geschichte und damit in deren weltlichen Bezügen und Abhängigkeiten. Doch bleibt die reflexive Unterscheidung von Geschichte als freiem (und zugleich schicksalhaftem) Reflexivitätsgeschehen und Geschichte als abhängigem, historisch eingebundenem und religiös traditionsverhaftetem Geschehen Sache des individuellen Vollzugs. b) Bei Bultmann läßt sich gut verfolgen, wie es zu der neuen Bestimmung des Religionsbegriffs und seines Verhältnisses zur Geschichte k o m m t . Darüber geben seine beiden Aufsätze von 1 9 2 0 Auskunft. 1 8 „Geistesgeschichte gibt es nur als die Geschichte von Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, als Darstellung der Selbstentfaltung der Vernunft im Ringen mit dem Natürlich-Stofflichen. Dagegen gibt es keine Geschichte der Religion. Es kann sie nicht geben, wenn das Leben der Religion nicht in objektiven Gestaltungen, sondern im individuellen Leben vorhanden ist." 1 9 ,,[F]ür das Individuum gibt es Höheres als Kultur; sein Leben, sein Glück, das so zu heißen verdient, wird nicht erarbeitet, sondern als Geschenk
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Vgl. oben, Anm 8. Rudolf Bultmann: Religion u n d Kultur ( 1 9 2 0 ) , in: Jürgen M o l t m a n n (Hg.): Anfänge der dialektischen Theologie, Teil II, 3. Aufl., M ü n c h e n 1 9 7 7 , S. 1 1 - 2 9 ; sowie Rudolf Bultmann: Ethische und mystische Religion im Urchristentum (1920), in: ebd., S. 2 9 - 4 7 . Vgl. dazu Martin Evang: Rudolf Bultmanns Berufung auf Friedrich Schleiermacher vor und u m 1 9 2 0 , in: Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung (wie Anm. 16), S. 3 - 2 4 .
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Rudolf Bultmann: Religion und Kultur (wie Anm. 18), S. 22.
Folkart Wittekind
empfangen. Höher als Schaffen steht das Erleben." 2 0 Die vermögenstheoretischen Konstruktionen des Neukantianismus, die der Gültigkeit und Wahrheit von Denken, Handeln und Fühlen gelten, werden als abstrakte und verallgemeinernde Zugänge zum Menschen abgelehnt. Kulturgeschichte wird als über das Individuum hinweggehende Realisierung einer abstrakten Vernunft verstanden. Dagegen wird die Individualität als Ort unmittelbarer Wirklichkeit, des Lebens und Erlebens gesehen. Die berechtigte Rückfrage, ob nicht auch „Individualität" eine kulturgeschichtlich abhängige Deutungsperspektive sei, wird durch Hinweis auf die Unverrechenbarkeit und Vollzugsabhängigkeit dieser Individualität beantwortet. Die hier eigentlich vorliegende moderne Neugestaltung des Individualitätsverständnisses durch die Einbeziehung seiner prozessualen Momente wird als gleichsam anthropologisch motivierte Modernekritik und Kulturrevolution ausgegeben. Die Religion rückt damit - gegenüber ihrer Behandlung als Kulturfaktor bei Troeltsch - jetzt auf die Seite des ausschließlich Individuellen. Genauer: Es wird die Differenzierung im Religionsbegriff aufgenommen, die zwischen den geschichtlich abhängigen und kulturgeschichtlich entwicklungsfähigen
Bestandteilen
und
deren eigentlich religiösen Begründungselementen unterscheidet.
Daß
nun aber diese Begründungselemente nicht zeitlos, ewig und transzendent sind, sondern selbst als vollzugsproduziertes Zustandekommen des Selbst, als seine eigentliche geschichtliche Lebendigkeit gedeutet werden, läßt wiederum auf die Einbeziehung von Troeltschs geschichtsphilosophischen Überlegungen in den Religionsbegriff, oder umgekehrt, die religiöse Tiefenschichtdeutung der Geschichtsphilosophie schließen. Die Religion wird damit zur geschichtsphilosophischen Vollzugsreflexion jeder kulturellen geschichtlichen Tätigkeit, und das Vollziehen dieser Reflexion selbst ist als Geschenk und Schicksal zu sehen, weil es nicht Inhalt einer „verstandesmäßig gedachte [n] Gesetzmäßigkeit" 2 1 ist, sondern das innere Leben (also die religiöse Seele) des Subjekts als ganzes sieht und zugleich selbst ist. c) Wie steht es mit dem Ziel der religiösen Besinnung, welche Funktion hat sie für das Leben des Menschen? ,,[E]ine Ethik [ . . . ] setzt Ideale
20 21
Ebd., S. 2 9 . Ebd., S. 2 5 . Vgl. Folkart Wittekind: Gott - die alles bestimmende Wirklichkeit? Zum Verständnis von Bultmanns Deutung der Gottesvorstellung Jesu, in: Ingolf Dalferth, Johannes Fischer, Hans-Peter Großhans (Hg.): Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre, Tübingen 2 0 0 4 , S. 5 8 3 - 6 0 4 .
Christologie als Ceschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
oder zum mindesten Zwecke voraus, die durch unser Handeln verwirklicht werden sollen, sie setzt damit eine uns zur Verfügung stehende Zukunft voraus. [... ] In ihr [sc. der eschatologischen und ethischen Botschaft Jesu] waren ja [... ] nicht dem Menschen Zwecke gesetzt und ihm die Zukunft zur Verfügung gestellt! Jedes Persönlichkeitsideal und jedes Gemeinschaftsideal, jede Wert- und Güterethik war ja abgelehnt! Es handelte sich ja in ihr nur darum, daß der Mensch das Jetzt seiner konkreten Situation als die Entscheidung, in die er gestellt ist, erfaßt und sich in ihr für Gott entscheidet und seinen natürlichen Willen opfert. [... ] Indem also die Botschaft vom Kommen der Gottesherrschaft wie vom Willen Gottes den Menschen hinweisen auf sein Jetzt als letzte Stunde im Sinne der Stunde der Entscheidung, bilden beide eine Einheit".22 Setzt Bultmann hier die Ethik des Gottesreiches gegen weltliche Entscheidungen, geschieht hier Weltflucht im Namen der Religion, wird der Kampf um ethische Gehalte und Normen eschatologisch entwertet und vergleichgültigt, wird der Rückzug aus inhaltlich plausibilisierten Verantwortlichkeiten gepredigt? Deren Notwendigkeit setzt Bultmann voraus, er akzeptiert gleichsam den Durchgang durch die geschichtlich sich verändernden Soziallehren als materiale Bedingung des eigenen Handelns. Verantwortlichkeiten und konkrete moralische Entscheidungen bleiben, sie sind selbstverständliche Anforderungen der Lebensführung. Aber die religiöse Funktion, die Durchsichtigkeit dieser Lebensführung selbst ist nicht auf der inhaltlichen Ebene der Werte und Entscheidungen angesiedelt. In der staatspolitisch gelenkten und sozial gewordenen Moderne ist ein Streit um die Christlichkeit der Ethik (im Gegensatz zu einem unchristlichen Handeln) sinnlos geworden, es geht vielmehr nur noch um verschiedene mögliche Auslegungen des Christentums. Umso wichtiger wird es, sich dieser von allen geteilten Grundlage zu versichern und sie im Streit der Meinungen präsent zu halten. Deshalb beschreibt der Gottesglaube die reflexive und strikt allgemeine Wendung auf die Bedingungen des konkreten Handelns. Hier wird die schöpferische Kraft, die alle Entscheidungen ermöglicht, gleichsam die Verantwortlichkeit und ethische Handlungsfähigkeit selbst sich thematisch. Indem aber Bultmann dieses reflexive Thematischwerden der Religion als letzte Stunde, als eigentliches Ziel der Geschichte auffaßt, endet die geschichtliche Existenz des Menschen, mit und in allem verantwortlichen und material-
22
Rudolf Bultmann: Jesus (wie Anm. 16), S. 1 1 1 f.
Folkart Wittekind
geschichtlichen Herleiten und Begründen tatsächlich in der reflexiven Einstellung auf das Handeln, in der Durchsichtigkeit der Geschichtlichkeit der Existenz. Der von Troeltsch nur angedeutete Zusammenfall von Geschichte und Einsicht in die Geschichte wird hier entschieden zum geschichtlich letztgültigen Punkt möglicher Selbsterkenntnis gemacht. Die Troeltschsche Trennung von unmittelbarem geschichtlichen Leben in der Kulturtätigkeit einerseits und geschichtsphilosophischer Analyse dieses Lebens andererseits wird damit aufgehoben und die geschichtsphilosophische Analyse als Ort der bewußten Lebendigkeit individueller Existenz religiös gewendet. III. Karl Barth hat nach dem Ersten Weltkrieg die in der Formation seines theologischen Denkens liegenden Bezugnahmen auf Ernst Troeltsch bzw. seinen schon früh artikulierten Wunsch, ein in bewußter Überwindung von Troeltschs theologischen Konsequenzen aus dem Historismus angelegtes neues theologisches System zu begründen, in den Hintergrund gedrängt. 23 Gleichwohl lassen sich die theologischen Versuche einer Einordnung des Historismus in seinen Texten erkennen, a) Zunächst stehen wieder Überlegungen zur geschichtsphilosophischen - bei Barth hermeneutisch gewendeten und durchgeführten - Veränderung des Subjektbegriffs, wie er in der Christologie und der christologischen Glaubensvorstellung deutlich wird. „Das Zeugnis lautet, daß das Wort Fleisch ward, Gott selbst menschlich-geschichtliche Wirklichkeit, und zwar in der Person Jesu Christi. Aber daraus folgt für mich keineswegs, daß dieses Geschehen auch Gegenstand menschlich-geschichtlicher Erkenntnis sein kann, sondern gerade das ist, weil und sofern es sich um diese Wirklichkeit handelt, ausgeschlossen. Die allenfalls historisch erkennbare Existenz eines Jesus von Nazareth zum Beispiel ist nicht diese Wirklichkeit. [ . . . ] Der Gegenstand des Zeugnisses
23
Vgl. Karl Barth: Der christliche Glaube und die Geschichte (1910), in: ders.: Vorträge und kleinere Arbeiten 1 9 0 9 - 1 9 1 4 (Karl Barth-Gesamtausgabe, Band 3/2), Zürich 1993, S. 149-212. Vgl. dazu Folkart Wittekind: Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritsehl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909-1916), Tübingen 2000, S. 146-209. Zum Verhältnis Barth-Troeltsch vgl. Hartmut Ruddies: Karl Barth und Ernst Troeltsch. Aspekte eines unterbliebenen Dialogs, in: Umstrittene Moderne (wie Anm. 9), S. 2 3 0 - 2 5 8 .
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
aber ist [... ] so sehr als Offenbarung, als Handeln Gottes selbst kenntlich gemacht, [... ] so sehr gegen alles direkte Verstehenwollen geschützt worden, daß [... ] von einer direkten geschichtlichen Erkennbarkeit der hier behaupteten geschichtlichen Wirklichkeit (der Offenbarung!) keine Rede sein kann." 24 Ich deute dies so, daß Barth die zentrale Aussage der Christologie als geschichtsphilosophische Reflexion auf das Verstehen von geschichtlichen Gehalten reformuliert. Hermeneutisch gesehen - und das zeigen in besonderer Weise die Vorreden zum Römerbrief - ist das „Evangelium" nicht ein Gegenstand des Verstehens wie andere geschichtliche Gegenstände, ist der Skopus der Bibel nicht ein Fall von zu verstehendem Gehalt, sondern das Verstehen des Vorgangs,Verstehen' selbst.25 Das Subjekt, das hier religiös erkannt werden soll, ist deshalb gerade nicht gegeben, sondern nur Vollzugsorgan des Offenbarungszeugnisses. Es bleibt selbst entzogen, ist kein Träger noch Objekt geschichtlichen Handelns, sondern immer nur Vollzugsort des Verstehens von geschichtlichem Erkennen. Barths Sicht des christologischen wie des Glaubenssubjekts versucht, geschichtliche Vermittlung als Konstitutionsort der Person zu denken. Herrmanns Glaubensbegründung auf den historischen Jesus wird ihrer inhaltlich historischen Elemente entkleidet und nur als Erkennen des notwendigen Geschehens von historischer Bezugnahme stehengelassen. Dadurch kommt es zu einer Aufnahme von Troeltschs Geschichtsphilosophie als Beschreibung der Selbstvollzugsweise des Subjekts im Hintergrund der historischen Person. Barth versteht die Christologie so als Begründung und Ermöglichung des individuellen Glaubensvollzugs, dessen Selbstverstehen nichts anderes
24
25
Karl Barth: Antwort auf Herrn Professor von Harnacks offenen Brief (1923), in: Jürgen Moltmann (Hg.): Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I, 4. Aufl., München 1977, S. 333-345, hier S. 338 f. Karl Barth: Der Römerbrief. Vorwort zur ersten Auflage, in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I (wie Anm. 18), S. 77-78, hier S. 77: „Die historischkritische Methode der Bibelforschung hat ihr Recht: sie weist hin auf eine Vorbereitung des Verständnisses, die nirgends überflüssig ist. Aber wenn ich wählen müßte zwischen ihr und der alten Inspirationslehre, ich würde entschlossen zu der letzteren greifen: sie hat das größere, tiefere, wichtigere Recht, weil sie auf die Arbeit des Verstehens selbst hinweist, ohne die alle Zurüstung wertlos ist. Aber meine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist." Vgl. zu Barths Hermeneutikentwicklung Georg Pfleiderer: Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 2000, S. 331-342.
Folkart Wittekind
ist als die Erkenntnis der eigenen Geschichtlichkeit. Christus ist Bild für die Existenz des Subjekts als bloßer Vollzug desjenigen übergeordneten Verstehens, in welchem alles historische inhaltliche Beziehen ermöglicht und durchsichtig gemacht wird. Dieses übergeordnete Verstehen und das Subjekt, das es selbst ist, ist nur indirekt, reflexiv erkennbar, aber nicht selbst als Gegenstand fixierbar. Sobald man dies versucht, rückt es in seinem eigentlichen Sinn wieder in die intentio obliqua. Die Harnack-Troeltschsche Grunddifferenzierung von Glaube und Geschichte (oder von Reflexion und Leben) schreibt Barth damit auf einer reflexiven geschichtsphilosophischen Ebene fort. b) „Sie wollen [... ] eine ,ganze' Antwort von mir auf die Frage, ,ob Gott alles das schlechthin nicht ist, was aus der Entwicklung der Kultur und ihrer Erkenntnis und Moral von ihm ausgesagt wird'. [... ] Nein, Gott ist,alles das schlechthin nicht', so gewiß der Schöpfer nicht das Geschöpf oder gar das Geschöpf des Geschöpfes ist. Aber eben in diesem Nein, das nur im Glauben an die Offenbarung ganz scharf ausgeprochen werden kann, erkennt sich ja das Geschöpf als Werk und Eigentum des Schöpfers, eben in diesem Nein wird Gott als Gott erkannt, als der Ursprung und das Ziel auch der Gedanken, die der Mensch sich in der Finsternis seiner Kultur oder Unkultur von Gott zu machen pflegt."26 Ich interpretiere dieses Zitat im Anschluß an das oben von Troeltsch gegebene, nach dem alle wirkliche Geschichte auf Offenbarungen desselben Prinzips beruhe. Genau dieses schöpferische Prinzip aller Geschichte ist hier mit der Gottesoffenbarung gemeint. Zunächst: Gottesgedanke und Gott selbst in seiner Offenbarung werden von Barth in diesem Sinne gegenübergestellt. Der Gottesgedanke gehört auf die Seite der Kultur und der Geschichte, der verschiedenen geschichtlichen Weisen des Menschen, sich Gott vorzustellen. Diesem liegt aber zugrunde das geschichtliche Prinzip selbst, das die Schöpfungskraft zu den verschiedenen historischen Lebensbewältigungen darstellt. Entsprechend gilt es sodann, zwischen der Religion als einer geschichtlichen Ausprägung des Lebens und dem Gott der Offenbarung zu unterscheiden. Barth verfährt also nicht so, daß er der Troeltschschen Anwendung der Geschichte auf die Religion einfach wieder das Bild einer rein transzendenten und geschichtsunabhängigen Religion gegenüberstellt. Vielmehr wird die ge-
26
Karl Barth: Antwort auf Herrn Professor von Harnacks offenen Brief (wie Anm. 24), S. 3 4 3 .
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
schichtsphilosophische Durchdringung der Kultur und der geschichtlichen Existenz in eine strikt offenbarungstheologische Reflexionsweise überführt, die sich selbst von allen geschichtlichen Religionen - auch der christlichen Religion als einer religionsgeschichtlichen Entwicklung - unterscheidet. Glaube ist damit wiederum zu beschreiben als geschichtsphilosophische Reflexivität, als Einsicht in und Durchsichtigwerden jener schöpferischen Kraft, die allem geschichtlichen Leben und damit auch der Geschichte der Religionen zugrundeliegt. Barth nimmt also die geschichtsphilosophische Beschreibung der Religion auf, aber er beseitigt die Trennung von Geschichtsphilosophie und inhaltlicher Materialfortschreibung, die insbesondere in Troeltschs Absolutheitsschrift das Verhältnis von Religion und Geschichtsphilosophie bestimmt. Der Ausstieg aus der Geschichte geschieht gerade zugunsten des geschichtsphilosophischen Prinzips und der reflexiven Selbstanwendung dieses Prinzips in der Durchsichtigkeit der geschichtlichen Existenz selbst. Die Offenbarung wird damit zu einem die Vielfalt der Religionen begründenden und sie an ihrem Orte zugleich zusammenhaltenden reflexiven Prinzip.27 c) „So ist das Ziel der Geschichte [...] kein geschichtliches Ereignis neben anderen, sondern die Summe der Geschichte Gottes in der Geschichte [... ] Wir glauben also darum an einen Sinn, der den einmal gewordenen Verhältnissen innewohnt, aber auch an Evolution und Revolution, an Reform und Erneuerung der Verhältnisse [...], weil wir noch ganz anderer Dinge warten, nämlich eines neuen Himmels und einer neuen Erde. [... ] Denn immer ist ja das letzte, das eschaton, die Synthesis, nicht die Fortsetzung, die Folge, die Konsequenz, die nächste Stufe des Vorletzten etwa, sondern im Gegenteil der radikale Abbruch von allem Vorletzten, aber eben darum auch seine ursprüngliche Bedeutung, seine bewegende Kraft." 28 Das Ziel
27
28
Die Frage, wie pluralismusfähig wiederum diese Begründung des Pluralismus selbst ist, gehört zur neueren theologiegeschichtlichen Entwicklung. Karl Barth hat sie sich nicht gestellt, da der historische Fortschritt überhaupt erst einmal darin bestand, eine theologische grundsätzliche Anerkennung des Pluralismus zu entwickeln. An diesem Ort dürften andere und neue Konzepte nötig sein, die aber selbst nur als Weiterführung der reflexiven Struktur jeder Pluralismusbegründung gedacht sein können. Vgl. dazu Christian Danz: Pluralismus als Thema evangelischer Theologie, in: Amt und Gemeinde 54 (2003), S. 107-113. Karl Barth: Der Christ in der Gesellschaft (1919), in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I (wie Anm. 18) S. 3-37, hier S. 34 f.
Folkart Wittekind
der Geschichte - als der Sinn der wirklichen Geschichte, ihre eigentliche Synthese - liegt nicht in einer Weiterentwicklung der geschichtlichen Umstände, liegt nicht in einer materialgeschichtlich-ethischen Durchdringung der Gegenwart unter dem Gesichtspunkt einer weiterführenden Kultursynthese. Vielmehr liegt der Sinn der Geschichte, wie Barths berühmter EthikVortrag ausführt, in einer neuen Bewegung, die als Durchsichtigkeit der Schöpferkraft Gottes im geschichtlichen Bewußtsein am besten zu bestimmen ist. „Dieses Erwachen der Seele ist die Bewegung, in der wir stehen, die Bewegung der Gottesgeschichte oder der Gotteserkenntnis, die Bewegung im Leben auf Leben hin." 2 9 Der Begriff der Bewegung trägt hier den Gottesgedanken, und zwar als eine geschichtliche Bewegung der Erkenntnis, deren Charakteristik im Gegensatz zu vermögenstheoretisch und bewußtseinskonstitutiven Erkenntnisprozessen bestimmt wird. Diese Bewegung Gottes ist „nicht ein Erlebnis neben anderen Erlebnissen, sondern die senkrechte Linie, die durch alle unsere Frömmigkeiten und Erlebnisse hindurch[...]geht, der Durchbruch und die Erscheinung der Gotteswelt". 30 Es handelt sich, so deute ich, um ein reflexives Innewerden des Bestimmtseins des Bewußtseins durch seine Geschichtlichkeit, die zugleich der tragende Grund der einzelnen geschichtlichen Akte ist. Die Durchsichtigkeit der Geschichtlichkeit ist das Ziel der Geschichte, und die Geschichte bleibt deshalb offen für Neues, weil diese Durchsichtigkeit nicht als geschichtlich-inhaltliche Erkenntnis formuliert, fixiert und begriffen werden kann, sondern in jedem Moment neu als Reflexion des bestimmten geschichtlichen Aktes, den wir leben und der wir sind, vollzogen werden muß. Barth knüpft an die Geschichtsphilosophie an, wendet ihre Erkenntnisse als Selbstinnewerden des sich vollziehenden geschichtlichen Bewußtseins und formuliert so als Ziel der Geschichte die Durchsichtigkeit des geschichtlichen Bewußtseins hinsichtlich seiner eigenen Geschichtlichkeit. Dieses Durchbruchs- und Vollzugsgeschehen ist aber (im Unterschied zu Bultmann) nicht selbst ein geschichtlicher Akt, sondern bleibt allen Akten als Möglichkeit zugeordnet. IV. Daß Tillich als Schüler Troeltschs sich auf die Problemlage des Historismus bezieht, daß er in seinem Wissenschaftssystem und in seiner Geschichts29
Ebd., S. 14.
30
Ebd., S. 12.
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
philosophie explizit auf die methodischen und philosophischen Ergebnisse des Denkens über die Geschichte Bezug n i m m t , ist nicht begründungsbedürftig. 31 Aufgeführt wird er hier jedoch, u m die theologische Einordnung der Geschichtsphilosophie und geschichtsphilosophische Durchdringung der Theologie aufzuzeigen. Was bei Bultmann und Barth im Bereich der Theologie sich abspielt und dort zu neuen Lösungen führt, ist bei Tillich philosophisch reflektiert und erst dann theologisch systematisch angewendet worden. 3 2 a) Tillich bezeichnet und reflektiert die Christologie als Sinndeutung der Geschichte. „Es bleibt also ein Drittes, das, was sich ergab, als das Mythische auf das Historische traf. Das Mythische kennen wir einigermaßen, können es aber in unserer Gegenwärtigkeit nicht nacherleben. Das Historische kennen wir kaum, und was wir davon kennen, hat keine dogmatische Bedeutung. Wohl aber kennen wir das Dritte, denn in diesem Dritten stehen wir; es ist unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart; das, was uns geformt hat. [ . . . ] D. h. das Dritte ist nicht fixierbar. Es ist das Offenbarungselement, das von beiden Seiten her gefaßt wird, das aber, wie es sich gebührt, nicht in fixierter Form da ist. Denn sonst wäre es nicht Offenbarung. Es ist das, was ergreift, nicht das Gefühl, sondern uns; das, wodurch dieses Christusbild das Medium ist für dieses Ergriffensein v o m Unbedingt-Seienden. Es ist das, was erschüttert und durchbricht und umwendet. [ . . . ] Wir treiben keine Christologie, um Mythisches oder Historisches über Jesus von Nazareth zu sagen, sondern wir treiben Christologie, um über den Charakter der vollkommenen Offenbarung, den wir dort
31
Vgl. Paul Tillich: Das System der Wissenschaften nach Gegenständen u n d Methoden (1923), in: ders.: Main Works, Band 1 (Philosophische Schriften, hrsg. von Gunther Wenz), Berlin, New York 1 9 8 9 , S. 1 1 3 - 2 6 4 ; ders.: [Rez.]: Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung, in: Theologische Literaturzeitung 4 9 (1924), Sp. 2 3 4 - 2 3 5 ; ders.: Zum Tode v o n Ernst Troeltsch, in: ders.: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere (GW XII), Stuttgart 1971, S. 1 7 5 - 1 7 8 . Vgl. dazu Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch und Paul Tillich. Eine theologische Skizze, in: Wilhelm Ludwig Federlin, E d m u n d Weber (Hg.): Unterwegs für die Volkskirche. Festschrift für Dieter Stoodt, Frankfurt a. M., Bern 1 9 8 7 , S. 4 0 9 - 4 2 2 .
32
Vgl. dazu Ulrich Barth: Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2 0 0 3 , S. 8 9 - 1 2 3 .
Folkart Wittekind
suchen, aus unserer Lage heraus symbolkräftige Begriffe zu geben." 3 3 Das Christusbild ist einerseits die Projektionsfläche für die Selbstanschauung des Menschen. Andererseits ist es das Medium für die Veränderung der Existenz. Am Begriff dieser Umwandlung, dem Durchbruch der Offenbarung hängt also diese Zusammenführung von Geschichte und Deutung. Es handelt sich um eine Bewegung im Subjekt, in welcher Gedanke und Wirklichkeit vereint sind. Deshalb kann nur ein hochstufiger Reflexionsbegriff gemeint sein, ein Ort, an dem sich das Subjekt in seiner Geschichtlichkeit begreift und zugleich noch dieses Begreifen als geschichtliche Bewegung erfaßt. Tillichs Theologie, so meine These, verbindet den idealistischen Gedanken, daß die Geschichte das Medium des Selbstverständnisses des Geistes ist, mit Troeltschs geschichtsphilosophischen Überlegungen zur Freiheit des Individuums von geschichtsphilosophischer Spekulation. Das Ergebnis ist eine universalistische Deutung der Existenz, und zwar nicht als faktische Vorfindlichkeit, sondern in ihrer Bewegung zu sich selbst, in der sie sich selbst durchsichtig wird. Diese Bewegung der Selbstdurchsichtigkeit stellt das Subjekt erst her, und es erfaßt sich selbst als in dieser Bewegung Hergestelltes. In dieser Struktur ist das Subjekt aber nur Platzhalter für die gesamte Wirklichkeit. Es ist, als was es sich erfaßt, es ist sich selbst Realbild. Indem Tillich diese Realbildhaftigkeit des Subjekts auf Jesus Christus überträgt, wird die Christologie selbst n o c h einmal zur historischen Durchführung des transzendental-ontologischen Systemgedankens. Denn als reale geschichtliche Bewegung ist das Selbstverständnis des Subjekts zugleich der universale Ort, an dem auch die Geschichte sich mit sich selbst zusammenschließt und sich in ihrer zeitlichen Ausfaltung begründet. Die Reflexion auf sich selbst führt die Differenz von Ewigkeitsreligion und geschichtlichem Leben in sich selbst zusammen. Geschichtlichkeit ist nicht nur ein notwendiges Element der Religion, und die Religion deshalb ein reflexives Verhalten zur eigenen Geschichtlichkeit, sondern Religion ist zugleich das ursprüngliche Element einer materialen Geschichtserfassung, die
33
Paul Tillich: Dogmatik. Marburger Vorlesung v o n 1 9 2 5 , hrsg. von Werner Schüßler, Düsseldorf 1986, S. 3 0 7 f. Vgl. zur folgenden Tillich-Deutung Christian Danz: Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin, New York 2 0 0 0 .
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
immer schon auf den Zusammenhang der Geschichte in der existentiellen Reflexionsbewegung aufbaut. 3 4 b) Tillichs System der Wissenschaften ordnet Religion und Geschichte in den Grundaufbau der einzelnen Wissensgebiete ein. Beide gehen n ä m l i c h ein in das auf die gegenwärtige Weiterentwicklung gerichtete normative Wesenselement
von deren Selbstbesinnung.
Zwischen
Evidenz und der materialen Wahrscheinlichkeit"
„der
formalen
der Erkennens
liegt
ein drittes Element, die auf Entscheidung beruhende Wesensdeutung als „geistiges Verstehen der Wirklichkeitszusammenhänge". 3 5 Tillich führt an diesem erkenntnistheoretischen Ursprungspunkt im Selbstbewußtsein des einzelnen Subjektes sowohl die Religionstheorie als auch die Geschichtsphilosophie zusammen: „Die Entscheidung, von der hier gesprochen wird, ist keine moralische. Sie ist das so wenig wie eine intellektuelle. Sie liegt in einer tieferen Schicht, von der diese beiden abhängig sind und die auch nur undeutlich bezeichnet ist, wenn wir sie religiös n e n n e n . D e n n auch nicht u m Entscheidung im Sinne einer spezifisch religiösen Haltung handelt es sich. Gemeint ist vielmehr die Stellung zum Unbedingten, die Freiheit und Schicksal zugleich ist, und aus der das Handeln ebenso quillt wie das Erkennen. [ . . . ] In dem dritten Element des Erkennens ruht sein Entscheidungscharakter, seine echte Geschichtlichkeit, sein Stehen im Schicksal und im Kairos." 3 6 Geschichtsreflexion und Religionsdeutung werden in einer neuen Erkenntnistheorie begründet, die auf der von Troeltsch geschichtsmethodologisch eingeführten Normativität der Wesensdeutung aufbaut. In der reflexiven Erfassung des Entscheidungsmomentes Gegenwart wird das Erkennen
als individuell-schöpferische
der
Tätigkeit
begriffen und die Formalität allgemeiner Aufbaugesetze durchbrochen. Im reflexiven Akt wird die Wirklichkeit, die im Erkennen immer schon in konstruierendes Erkennen und erkannten Stoff, in
geschichtliches
Verstehen und in vergangene Geschichte geteilt ist, als Eine zugleich
34
Vgl. Folkart Wittekind: „Sinndeutung der Geschichte". Zur Entwicklung u n d Bedeutung von Tillichs Geschichtsphilosophie, in: Christian Danz (Hg.): Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs (TillichStudien, Band 9), Wien 2 0 0 4 , S. 1 3 5 - 1 7 2 .
35
Paul Tillich: Kairos und Logos. Eine Untersuchung zur Metaphysik der Erkenntnis (1926), in: ders.: Main Works, Band 1 (wie A n m . 31), S. 2 6 5 - 3 0 5 , hier S. 2 7 9 . Ebd., S. 2 8 0 f.
36
Folkart Wittekind
erlebt und gestaltet. Das Unbedingte wird damit in Tillichs Denken als reflexive Durchsichtigkeit des Zusammenfalls von Wirklichkeit und System, von Sein und Denken, von Individuellem und Allgemeinem im Ursprungspunkt von Bewußtsein erkennbar. Dieser schöpferische Ursprungspunkt ist nicht denkbar, er ist auch nicht die bloß faktische Handlung selbst, sondern er ist die Selbstanschauung des immer nur individuellen Vollzugs von Leben im wirklichkeitsgebundenen Bewußtsein. Troeltschs Geschichtsphilosophie wird damit reflexiv gemacht und als gedanklicher Fluchtpunkt einer zwar idealistisch aufgebauten, aber zugleich geschichtlich-individualitätsbezogenen Erkenntnistheorie eingesetzt. c) Was ist für Tillich das Ziel der Geschichte? „So konnte man Universalgeschichte schreiben, so lange man glaubte, daß durch Christus der Anfang und das Ende der Menschheitsgeschichte bestimmt ist. Mit dem Zweifel daran [ . . . ] ist die Universalgeschichte aufgehoben. Und doch darf nicht der übergeschichtliche Charakter aufgehoben sein von dem, was meine Geschichte organisiert. [ . . . ] Das bedeutet aber: Die echte Mitte jedes Geschichtsverlaufs ist Ausdruck des Sinnes der Geschichte überhaupt, von deren Anfang und Ende wir nichts wissen. [ . . . ] Das in Jesus Christus erschienene [Sein] ist übergeschichtlich, sofern es unsere Geschichte schafft, ihr einen unbedingten Sinn und Mittelpunkt gibt. Dieses kann sie aber nur, insofern in ihr das die Geschichte überhaupt schaffende Sein, die göttliche Heilstat zum Durchbruch kommt." 3 7 Hier ist deutlich der geschichtsreflexive Charakter der Geschichtsdeutung zu erkennen. In der theologischen Kultursynthese 38 wird die geschichts-
37
38
Paul Tillich: Dogmatik (wie Anm. 33), S. 343. Vgl. zur trinitätstheologischen Deutung der Geschichtsphilosophie bei Tillich (mit der er an Troeltsch anknüpft) Christian Danz: Geschichtliche Offenbarung. Die Trinitätslehre als Inbegriff des Theologieverständnisses Paul Tillichs, in: Gert Hummel, Doris Lax (Hg.): Trinität und/oder Quatemität. Tillichs Neuerschließung der trinitarischen Problematik (Tillich-Studien, Band 10), Münster 2004, S. 173-187. Bereits 1919 hat Tillich Troeltschs Begriff der Kultursynthese aufgenommen und in die Forderung einer spezifischen, umfassenden und rein deutungs- und gegenwartsbezogenen Kulturf/ieo/o^ie umgeformt: „Kulturtheologische Aufgaben sind oft gestellt und gelöst worden von theologischen, philosophischen, literarischen und politischen Kulturanalytikern (z. B. Simmel); aber die Aufgabe als solche ist nicht erfaßt und in ihrer systematischen Bedeutung erkannt worden. Man hat nicht gesehen, daß es sich hier um eine Kultursynthese von
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
philosophische Durchsichtigkeit der eigenen Geschichte im Akte ihrer individuellen Schöpfung thematisch. Tillich verdeutlicht dies dadurch, daß die Christologie selbst geschichtlich eingeordnet wird: Der Durchbruch als reflexive Selbsterkenntnis des geschichtlich existierenden Menschen strukturiert die Gesamtgeschichte
als Vorbereitung und
Realisierung.
Die Geschichte zielt, und damit n i m m t Tillich den in Troeltschs materialer Synthese
untergründig
wirkenden
Konvergenzpunkt
auf,
auf
ihre eigene geschichtliche Durchsichtigkeit hin. Die Religionsgeschichte wird zur Herkunftsgeschichte der reflexiven Selbsterfassung der Gegenwart. Indem aber die Reflexion sich zugleich als reales Ergebnis dieser Geschichte weiß, erfaßt und ereignet sie sich als Integral von formaler und materialer Geschichtsschreibung. In der christologischen Reflexion der sich individuell vollziehenden Erkenntnisfundierung im schöpferischen Akt zwischen Wirklichkeit und Gedanke ist die Geschichte mit sich selbst zusammengefaßt und wird dadurch als Feld der Selbstdeutung des Menschen, als wahre Geschichte verstanden. Die Sinndeutung der Geschichte ist selbst das zentrale Heilsereignis, von dem Tillichs Christologie redet. Damit wird die geschichtsphilosophische
Erweite-
rung und Vertiefung des Religionsbegriffs an ein Ende geführt.
Die
Materialgeschichte wird von Tillich ebenfalls mit in die geschichtsphilosophische
Bewußtheit
hineingenommen.
Im
Selbstverständnis
des
Menschen, das als Zusichkommen seine gegenwärtige Existenz jederzeit ausmacht, ist nicht nur ein Wissen von der schöpferischen Kraft, die Geschichte begründet, sondern zugleich ein Wissen darum, daß diese schöpferische Kraft zugleich das Wissen v o n ihr geschichtlich begründet. Deshalb erfüllt sich in diesem Wissen, das in der Gegenwart des Menschen geschichtlich wirklich ist, diese Kraft erst. Die Religionsgeschichte entwickelt sich hin auf die gleichzeitige Erfassung des geschichtlichen Werdens und geschichtlichen Wesens des Selbstverständnisses des Menschen.
eminenter Bedeutung handelt, eine Synthese, die nicht nur die verschiedenen Kulturfunktionen zusammenfaßt, sondern auch den kulturzerstörerischen Widerspruch von Religion und Kultur überwindet durch den Entwurf eines religiösen Kultursystems [...]". Paul Tillich: Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919), in: ders.: Main Works, Band 2, Kulturphilosophische Schriften, hrsg. von Michael Palmer, Berlin, New York 1990, S. 70-85, hier S. 77.
Folkart Wittekind
V. Im Anschluß an den Versuch, die Anknüpfung an das geschichtsphilosophische Werk Ernst Troeltschs innerhalb der Theologie bei Bultmann, Barth und Tillich aufzuzeigen, sollen drei abschließende Punkte formuliert werden. 1. Die jüngeren Theologen beerben die Geschichtsthematik theologisch, und zwar dadurch, daß die geschichtlichen Elemente des Wissens in die Religion selbst hineingespiegelt werden. Troeltsch läßt den Leser im Unklaren, ob nicht bei ihm nur eine methodische Anwendung der geschichtlichen Sicht auf die Religion erfolgt. Insbesondere die Ausführungen der Absolutheitsschrift schwanken zwischen einer vermeintlich der modernen Geschichtssicht geschuldeten Ermäßigung der religiösen Gewißheit und der strikteren Auskunft, daß anders als unter Einbeziehung geschichtlicher Elemente in diese Gewißheit Religion selbst gar nicht angemessen gedacht werden kann. 3 9 An Troeltschs Behandlung der Christologie läßt sich sein Festhalten an einem separaten, fixe Transzendenzen präsupponierenden Person- und Religionsverständnis aufzeigen. 40 Es ist festzustellen, daß die sogenannte antihistoristische Wende der Theologie entschieden an einer begründungsmäßigen Vertiefung der geschichtlichen Sicht des Lebens und damit entschieden an der bewußten Modernisierung der Theologie gearbeitet hat. Nur fordert, und diese Sicht ist den an Troeltsch anknüpfenden Erneuerern der Theologie gemeinsam, die innere Durchdringung des Religionsbegriffs mit Hilfe der neuen Geschichtsthematik eine völlig neue Konzeption des Subjektbegriffs und des Gottesverständnisses. Dies erfolgt 39
Jörg Dierken hat ein Schwanken Troeltschs zwischen individualitätstheoretischem Personalismus und metaphysischem Pantheismus konstatiert: Jörg Dierken: Individuelle Totalität. Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Ernst Troeltschs „Historismus" (wie Anm. 14), S. 2 4 3 -
40
Wie läßt sich die von Troeltsch noch für nötig gehaltene „Metaphysik des Personalismus" (Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologie als Kulturwissenschaft des Historismus, in: Peter Neuner, Gunther Wenz [Hg.]: Theologen des 20. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 2002, S. 53-69, hier S. 66) im Hinblick auf das Personverständnis theologisch modernisieren, ohne die von Troeltsch durchgeführte Modernisierung der historischen Sicht der Dinge und das an die Geschichte gebundene Freiheitsverständnis aufzugeben? so könnte man die Problemstellung der modernen Theologie im Anschluß an Troeltsch formulieren.
260.
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
durch die Einbeziehung von Troeltschs Begriff des schöpferischen Prinzips in der Geschichte in die Innerlichkeit des religiösen Subjekts selbst. „Bewegung", „Entscheidung", „unbedingtes Schaffen" werden zu Grundbegriffen der religiösen Selbstwahrnehmung, nicht mehr Seele, Person und Transzendenz. Gleichwohl handelt es sich dabei in den Augen der Jüngeren nicht bloß um einen üblichen inhaltlichen generationsspezifischen Anschauungswechsel, sondern um die Rückführung des Religionsbegriffs in die Tiefe desjenigen Produktionsortes, an dem die Verschiedenheit religiöser Anschauungen überhaupt erst ermöglicht wird. Insofern ist die religionstheoretische Anknüpfung an Troeltschs Geschichtsphilosophie zugleich die Überwindung nicht nur seines, sondern überhaupt eines über sich selbst unaufgeklärten historischen Ausdrucksdenkens über Religion. Hier wird die reflexive Verschiebung in der Zuordnung von Religion und Geschichtsphilosophie zur grundsätzlichen Verabschiedung der bürgerlichen, historisch und anthropologisch gebildeten Religion.41 Die Religion ist jetzt nicht mehr bloß Ausdruck einer historischen Mentalität, die selbst nur in der modernen Geschichtswissenschaft angemessen erkannt werden kann. Sondern die Religion durchschaut sich selbst und formuliert ihre Gehalte als Produktionstheorie über den historischen Religionen. Damit wird ein genuin theologisches - also die Theologie autonomisierendes - Pluralismuskonzept für die moderne, sich ihrer geschichtlichen Vielfalt bewußten Welt erarbeitet.42 Die dogmatischen Gehalte funktionieren als Theorie der Ermöglichung religiöser Vielfalt in der Geschichte und zugleich als Begründung für die lebensweltliche Gewißheit der bestimmten Religion. Ohne das Zugeständnis einer solchen Möglichkeit reflexiver Begründung am eigenen Ort bleibt jede wirkliche geschichtliche religiöse Entscheidung theoretisch unbegriffen und weiterhin latent außenabhängig - entweder von der historischen Wissenschaft oder von der ideologischen Usurpation. Insofern ist der theologische Antihistorismus43 als vertiefte, historisch angemessenere Theorie derjenigen Freiheit zu verstehen, die das geschichtliche Leben ist.
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Insofern ist es berechtigt, mit dem Selbstverständnis der gemeinten Theologen von einem Neueinsatz der Theologie nach dem Ersten Weltkrieg zu reden. Vgl. Thies Gundlach: Selbstbegrenzung Gottes und die Autonomie des Menschen. Karl Barths Kirchliche Dogmatik als Modernisierungsschritt evangelischer Theologie, Frankfurt a. M., Bern 1992. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die „antihistoristische Revolution" in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Jan Röhls, Gunther Wenz (Hg.):
Folkart Wittekind
2. Auf dieser gemeinsamen Grundlage einer reflexionslogischen, die Bedeutung der Geschichtsphilosophie in der Theologie anerkennenden Modernisierung des Religionsbegriffs lassen sich auch die Differenzen zwischen den neuen Konzeptionen verstehen. Denn es tritt die Frage auf, wie die geschichtsbegründende Reflexion an der geschichtlichen Tat selbst Geschichte bildet. Welche Form von geschichtlicher Wirklichkeit, welche Form von Handlungsbestimmtheit kommt eigentlich der als Reflektiertheit von Geschichte, Freiheit und Vielfältigkeit gedachten Religion zu? Und wie ist das Verhältnis einer Theorie, die die interne Reflexion des Lebens zum Gegenstand hat, zu diesem ihren Gegenstand? Ist sie es nicht notwendigerweise auch selbst? Und ist sie nicht gleichwohl notwendigerweise auch unerreichbar weit vom unmittelbaren Leben entfernt? Bultmanns später als Entmythologisierung bekannt gewordenes Beharren auf der historischen Sachkritik und sein Reduktionsprogramm auf das „Daß" des Historischseins Jesu lassen hier ein Konzept erkennen, daß die Historizität der Reflexion und ihre inhaltliche geschichtliche Erkennbarkeit anerkennt, aber so, daß dies nur dem Subjekt selbst in unverfügbarer Weise im Moment der Gegenwart zukommt. Karl Barths Version besteht an dieser Stelle darin, Reflexion grundsätzlich in den unerkennbaren Hintergrund geschichtlichen Lebens abzudrängen. Jede bewußte Reflexion ist selbst immer schon inhaltlich-geschichtlich gebunden, und immer nur wieder an ihr ereignet sich wahre religiöse Reflexivität. Man mag sich fragen, ob nicht in Barths Theorie die Freiheit des handelnden Subjekts in der Geschichte am angemessensten zum Ausdruck kommt, weil jede theologische Überdetermination der Geschichte (und das gilt dem Prinzip entsprechend eben auch für die Jesusgeschichte) strikt ausgeschlossen wird. Der zeitgenössische und geschichtsphilosophisch auf die Spitze getriebene Reflexionsdruck auf das religiöse Leben wird gleichsam selbst noch einmal wegreflektiert und geschichtlich verflüssigt. Tillichs Theologie zeichnet sich demgegenüber44 da-
Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre, Göttingen 1 9 8 8 , S. 3 7 7 - 4 0 5 ; Kurt Nowak: Die „antihistoristische Revolution". Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung n a c h dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Umstrittene Moderne (wie Anm. 9), S. 1 3 3 171. 44
Vgl. zur diesbezüglichen Differenz v o n Barth und Tillich, die sich in der Grundlagendeutung der Homiletik bzw. ihrer instrumentellen Benutzung zeigt, Folkart Wittekind: Karl Barth und die moderne Predigt: Homiletik und
Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ,Schüler'
durch aus, daß sie selbst eine reflektierte Antwort auf das beschriebene Problem zu formulieren versucht. Sie ist der Skopus seiner religiösen Kulturtheologie, die im Protestantismusbegriff gipfelt und schließlich das Konzept eines realistischen, gestaltenden Protestantismus hervorbringt. Reflexivität wird hier in ein Stufenmodell gebracht, das sowohl historisch gewachsene als auch strukturell notwendige Komplexität beschreibt. Die Geschichte reichert sich hinsichtlich ihrer Tiefendurchsichtigkeit zugleich mit der theoretischen Erfassung ihrer reflexiven Muster an. Im gegenwartsbezogenen Kairos ereignen sich Sprünge dieser geltungsbezogenen Tiefendurchsichtigkeit, die der Bewegung des geschichtlichen Lebens parallel gehen und in ihr wiederzufinden sind. Tillich hat damit die Berechtigung der materialgeschichtlichen Erfassung der Gegenwart in der aus der Geschichte aussteigenden Reflexion wiederhergestellt. Mir scheint damit, daß Tillich die Intention von Troeltschs Berliner Geschichtsphilosophie am striktesten bewahrt hat. Und gegenüber Barths Verzicht auf eine abschließende Theorie ist Tillichs Theologie intellektuell befriedigender, weil sie die Durchsichtigkeit der Gegenwart als erfüllbaren Letztbezugspunkt aller theoretischen Bemühungen des Subjekts um sich selbst versteht - und an diesem Punkt den Zusammenhang von geschichtlichem Handeln und reflexivem Begreifen fordert und zu begreifen sucht. 3. Das theologische Geschichtsbild, das ich damit vorschlage, rückt von einer theologiepositionell geleiteten Entgegensetzung von Troeltsch und der Theologie des 20. Jahrhunderts ab. Vielmehr geht es um eine analytisch erhobene Antwort auf die Frage, wie die Veränderungen der modernen Welt in der Theologie mit welchen Mitteln und welchen dogmatischen Elementen reflektiert werden. Auch die systematische Theologie ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Troeltsch hat seine Absetzung von der Ritschlschen Schultheologie seit den 1890er Jahren immer als einzig möglichen Weg einer historisch aufgeklärten Theologie stilisiert. Er hat dadurch sein eigenes, aus heterogenen Bestandteilen zusammengesetztes Denken und Gesamtbild über das menschliche Leben unter den Bedingungen des Historismus innerhalb der Theologie kanonisch zu machen versucht. 45 Theo-
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Glaubensverständnis bei Niebergall, Tillich u n d Karl Barth, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 9 8 (2001), S. 3 4 4 - 3 7 1 . Vgl. die - auf Pannenbergs eigenes Konzept einer Theologie der Religionsgeschichte hinauslaufende und insofern aporetische - Anknüpfung an
Folkart Wittekind
logiegeschichtlich aber gilt, daß sich Troeltsch schon in der Begründung seiner Theologie an Harnacks Weise der Weiterführung Ritschis und an Harnacks Auffassung von Dogmatik angelehnt und alternative Versuche, die Geschichte theologisch zu begreifen, wie sie insbesondere durch Wilhelm Herrmann und Julius Kaftan, aber auch Franz Overbeck repräsentiert waren, beiseite geschoben hat. 46 Zwar hat Troeltsch hinsichtlich der Reichweite des historischen Denkens Recht behalten. Aber die religionsphilosophische, systematisch-theologische und dogmatische Rückwirkung der geschichtlichen Frage ist nicht mit Troeltschschen Mitteln abschließend zu beantworten. Die Entwicklung der Theologie über Troeltsch hinaus ist deshalb als Antihistorismus unzureichend beschrieben. Vielmehr ging es um die Modernisierung der Theologie, die durch die Anerkennung der historischen Weltanschauung in der Moderne notwendig wird. Nicht als bloßes Gegenprogramm zu Troeltsch, sondern im Gegenteil als spezifisch theologisches Programm unter Anerkennung der geschichtsphilosophischen und methodologischen Einsichten Troeltschs ist die auf ihn folgende und ihn theologisch ablehnende Theologie zu verstehen. Die Frage wiederum, wie es zu der durchgängigen antithetischen Beurteilung der Theologiegeschichte, wie es zu der abstrakten Entgegensetzung von Theologie und Geschichte und zu dem Verdacht, man könne sich nur für eines entscheiden, entweder für eine Anerkennung der historischen Weltanschauung und damit die Anerkennung der modernen Welt oder aber für eine theologische Antimoderne und eine im Namen der Theologie notwendige Kulturkritik, kommen konnte, dürfte eine der spannendsten Frage einer Theologiegeschichte der 1940er und 50er Jahre sein.
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Troeltsch bei Wolfhart Pannenberg: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen 1997, S. 327-331. Vgl. Brent W. Sockness: Against false apologetics. Wilhelm Herrmann und Ernst Troeltsch in conflict, Tübingen 1998; Nikiaus Peter: Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck. Das Problem des Historismus in der Perspektive zweier Theologen, in: Ernst Troeltschs Historismus (wie Anm. 14), S. 9 4 122.
GANGOLF HUBINGER Ceschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik. Ernst Troeltschs Berliner Historik Der gedankliche Ort, an dem die Grunddimensionen des modernen geschichtlichen Denkens zusammengeführt werden, heißt seit J o h a n n Gustav Droysen „Historik". 1 Geschichtstheologie, Geschichtsphilosophie und Geschichtspolitik sind solche Grunddimensionen. Und die Frage ist schlicht die: Verfügt Troeltsch über eine derartige Historik, die seine theoretischen Dauerreflexionen über die historische Maßstabbildung und die Praxis seiner Kulturgeschichtsschreibung steuert? Aus den einschlägigen Beiträgen zum Troeltsch-Kongreß des Jahres 1997 über Ernst Troeltschs „Historismus" lässt sich herauslesen, wie radikal sich Troeltsch an allen Dimensionen historischer Erkenntnis abgearbeitet hat. 2 Die Zirkularität von ethischen Normen und chaotisch-mannigfaltiger Geschichtlichkeit wurde zum Kardinalproblem spätestens seit seiner Rezension zu Georg von Belows „neuer historischen Methode" in der „Theologischen Literaturzeitung" von 1899. 3 Am Lebensende fand dieses Problem seine rhetorische Zuspitzung in der Formel „Geschichte durch Geschichte überwinden", die auch immer wieder Gegenstand geschichtstheologischer Deutung ist. Ich habe auf dem Troeltsch-Kongreß von 1997 das Berliner Kommunikationsfeld abzustecken versucht, in dem Troeltsch wissenschaftlich und 1
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Johann Gustav Droysen: Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriss der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), Textausgabe von Peter Leyh, Stuttgart 1977. Troeltsch hat die Druckfassung des „Grundriss der Historik" von 1868 benutzt, siehe: Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes (einziges) Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 3) (im folgenden: GS III), Tübingen 1922, S. 305 f. Demnächst als Band 16 der historisch-kritischen Ernst-Troeltsch-Gesamtausgabe, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger. Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus" (TroeltschStudien, Band 11), Gütersloh 2000, 2. Aufl. 2003. Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg von Below: Die neue historische Methode / Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, in: Theologische Literaturzeitung 24 (1899), Sp. 3 7 5 - 3 7 7 .
Gangolf Hübinger
politisch agierte und in den geistigen Kämpfen um die „Welthauptstadt des Historismus" eine deutliche, aber intellektuelle Minderheitenposition bezog. Dabei habe ich eine nicht näher ausgeführte These aufgestellt, auf die ich mich noch einmal beziehe, weil mir das Leitthema des jetzigen Kongresses die Möglichkeit bietet, die Begründung nachzuliefern. Und die editorische Arbeit für die Kritische Gesamtausgabe von Troeltschs fünf Vorträgen für England und Schottland, die werbewirksam, aber nicht autorisiert als „Überwindung des Historismus" auf den historischen Büchermarkt gebracht worden sind, gibt mir die Chance, meine Überlegungen zu Troeltschs Geschichtstfreorie durch Beispiele aus seiner geschichtspraktischen Anwendung zu illustrieren.4 Es ging um die folgende Genealogie des historischen Denkens: „Troeltsch bildet [... ] in der Geschichte des Historismus den Schlußpunkt einer imposanten Deutungskette. Zuerst leitete Droysens ,Historik' einen geschichtstheoretischen Paradigmenwechsel ein. Im Anschluss sah Treitschkes Lehre der Politik im preußischen Großmachtstreben das Walten sittlicher Mächte. Wilhelm Dilthey bemaß die philosophischen Grundlagen der historischen Vernunft neu und wünschte Troeltsch als Erben. Friedrich Meinecke wetteiferte mit Troeltsch freundschaftlich um die historistische Grundkategorie der Individualität'. Und Adolf von Harnack verhalf dem Berliner Historismus zu einer ungeahnten Renaissance durch seine religionsgeschichtlichen Studien". 5 Ernst Troeltsch übergipfelt diese Genealogie, wenn er das klassische historische „Zirkelverhältnis" von Universalgeschichte und politischer Synthese moderner Ideen- und Interessenkonflikte in einer neuartigen „europäischen Kulturgeschichte" fruchtbar machen will.6 Von dieser wissenschaftsgeschichtlichen Überlegung her wäre jetzt in der ganzen problemgeschichtlichen Breite, die seit Droysen auf der Tagesordnung steht, zu klären: Wie sieht Troeltschs „Historik" konkret aus?7 Die 4
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Emst Troeltsch: Fünf Vorträge für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924) / Christian Thought. Its History and Application (1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Andreas Terwey (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 17) (im folgenden: KGA 17, erscheint 2006). Gangolf Hübinger: Ernst Troeltschs Berlin. Im „Bund der Intellektuellen", in: Ernst Troeltschs „Historismus" (wie Anm. 2), S. 164-180, hier S. 170. So der Beginn des Schlußkapitels zum Historismus-Band, „Über den Aufbau der europäischen Kulturgeschichte", in: GS III, S. 694. Otto Gerhard Oexle hat Troeltsch vor-Droysenianisch, weil entschieden vor-
Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik
historisch-kritische Edition des „Historismus und seiner Probleme" wird in den Kommentaren erweisen, wie gründlich sich Troeltsch vor allem mit dem „glänzenden ,Grundriss der Historik'" Droysens in der Version von 1868 beschäftigt hat, um das „Maßstabproblem" historischer Gegenstandskonstitution neu durchdenken zu können. 8 Eine „Historik" ist praxisorientiert. Sie kann sich nicht auf die theologischen Letztbegründungssemantiken oder philosophischen Metareflexionen beschränken. Sie m u ß den analytischen Werkzeugkasten öffnen und die Kriterien zu erkennen geben, nach denen Troeltsch sachhaltige Aussagen über die historische Wirklichkeit gewinnt. Der Titel meines Beitrages, durch den Theorie und Praxis von Troeltschs Geschichtsdenken verbunden werden sollen, hat zwei Implikationen. Mit „Berliner Historik" ist ausgedrückt, daß es auch eine andere „Historik" gibt, in der Troeltsch in einem alternativen intellektuellen Umfeld zu Berlin die Trias von Geschichtstheologie, -philosophie und -politik anders arrangiert. Gemeint ist natürlich die „Heidelberger Historik" im dortigen akademischen Milieu. Mit „Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik" ist diejenige Grundspannung des historischen Denkens angesprochen, die in den Kulturwissenschaften heute große Aktualität besitzt. Nur unterliegt die heutige Diskussion um Geschichte und Gedächtnis der Gefahr, diese Spannung zu überdehnen und die Geschichtstheorie oder Geschichtsphilosophie von der Erinnerungskultur abzukoppeln. Möglicherweise hat hier der Altmeister Pierre Nora mit seinem Diktum „Das Gedächtnis ist ein Absolutes, die Geschichte kennt nur das Relative", eine problematische Weiche gestellt. 9 Den Ertrag kann man an den dreibändigen „Deutschen Erinnerungsorten" ablesen, die sich neben hochqualifizierten Einzelartikeln durch eine Beliebigkeit der Gedächtnistopographie zwischen Karneval und Bundesliga auszeichnen. 1 0 In Troeltschs Historik sind beide Pole konstruktiv aufeinander bezogen. Geschichtsphilosophie, und in der Berliner Historik immer dominanter die Geschichtstheologie, haben die Aufgabe, diese Beziehung zu regeln. Das
kantianisch interpretiert. Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma, in: Ernst Troeltschs „Historismus" (wie Anm. 2), S. 2 3 - 6 4 , bes. S. 47, S. 5 1 . 8 9 10
GS III, S. 31, S. 119. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1 9 9 0 , S. 13. Etienne Francois, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bände, München 2001.
Gangolf Hübinger
ist zwar im Historismusband als eine „formale" geschichtslogische Denkoperation ausgewiesen. Es läßt sich aber durchaus ein inhaltliches Prüffeld benennen, dessen Aussagekraft noch nicht hinreichend ausgelotet ist: Troeltschs England. Was für Jacob Burckhardts historische Anthropologie der Neuzeit die Chiffre „Italien", ist für Troeltschs Kulturgeschichte der modernen Welt die Chiffre „England". Das hat den Nebeneffekt, daß sich die Troeltsch-Forschung einmal systematischer mit der Rivalität Troeltschs zu Burckhardt und Burckhardts 1905 erstmals veröffentlichter „Historik" unter dem Titel „Weltgeschichtliche Betrachtungen" zu beschäftigen hätte. 11 1905, das ist exakt der Zeitpunkt, zu dem Troeltsch zuerst für Hinnebergs Archiv und im folgenden Jahr für den Deutschen Historikertag sein master narrative der „Genese und Struktur der modernen Welt" niederschreibt und gleichzeitig begriffsanalytisch differenziert, weil ihm der Begriff „Welt" zu abstrakt klingt. Ins Zentrum seines historischen Denkens rückt stattdessen die Erschließung der „europäisch-amerikanischen Kultur" 12 . Der Zusammenhang zwischen Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik läßt sich für Troeltsch in drei Argumentationsschritten herstellen. Zuerst muß der Konstruktionsplan von Troeltschs Berliner in seiner Differenz zur Heidelberger Historik in seinen systematischen Bezügen vorgestellt werden (I). Damit das keine begriffsarchitektonische Trockenübung bleibt, ist zweitens zu fragen, wie sich Troeltschs kulturgeschichtliche Darstellung Englands in diese Historik einfügt (II). Schließlich drittens, dazu regen die fünf Vorträge Troeltschs für England und Schottland in einer umfassenderen Weise als nur in der sogenannten „Überwindung des Historismus" an, sind erst einmal die Bedingungen des europäischen Wissenstransfers zu klären, also die Prozesse von Aneignung und Abwehr des „deutschen Geistes" in „Westeuropa" wie umgekehrt die Aneignung oder die Abwehr der westeuropäischen Denkstile im deutschen Kulturraum zu untersuchen.
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In Ergänzung zu Wolfgang Hardtwig: Jacob Burckhardt und Max Weber. Zur Genese und Pathologie der modernen Welt, in: ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 189-223. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hrsg. von Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht, Berlin, New York 2004 (KGA 7), und Ernst Troeltsch: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin, New York 2001 (KGA 8), Zitat ebd., S. 208.
Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik
Auch Troeltsch stellt wissenschaftlich bereits das in Rechnung, was m a n heute „histoire croisee" n e n n t (III). 13 I.
Eine Historik ist der Ort, alle Begründungszusammenhänge historiographischer Erkenntnisakte in ihrer inneren Dynamik darzustellen. Auf den Schultern von J o h a n n Gustav Droysen hat dies zu Beginn der 1980er Jahre das letzte Mal J ö r n Rüsen versucht und in einem fünfpoligen Modell die lebensweltlichen und fachwissenschaftlichen Dimensionen historischen Denkens analytisch unterschieden: 1 4 die Orientierungsbedürfnisse Menschen in seiner Gegenwart, die geschichtsphilosophischen
des
Grund-
a n n a h m e n und Hinsichten auf die Vergangenheit, die methodischen Regeln empirischer Forschung, die Formen der Darstellung und zuletzt die Funktionen historischen Erinnerns, die wiederum anthropologisch auf den Menschen als historischen „Orientierungswaisen" zurückverweisen. Kurt Nowak hat dieses Modell eher beiläufig in die Troeltsch-Diskussion u m die „umstrittene Moderne" und die „Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs" eingeführt. 1 5 Mit den inzwischen vorliegenden Bänden der historisch-kritischen Troeltsch-Ausgabe, dem Nachweis der Textvarianz oder der breitgestreuten interdisziplinären Lektüre, ist es jetzt leichter möglich, die Trias von Geschichtstheologie, Geschichtsphilosophie und Geschichtspolitik auf die innere Dynamik zwischen den genannten fünf Polen einer „Historik" zu befragen. So haben in KGA 8 mit den „Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt" Trutz Rendtorff und Stefan Pautler detailliert die Umstände rekonstruiert, unter denen Troeltsch auf Vorschlag von M a x We-
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Vgl. Michael Werner, Benedicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisee und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607-636. Jörn Rüsen: Grundzüge der Historik, 3 Bände, Göttingen 1983-1989; zur fünfpoligen „disziplinaren Matrix", in der sich der dynamische Prozeß historischer Forschung darstellen läßt, vgl. Band 1: Historische Vernunft, bes. S. 2 4 - 3 2 . Kurt Nowak: Die „antihistoristische Revolution". Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien, Band 4), Gütersloh 1987, S. 133-171, hier S. 137.
Gangolf Hübinger
ber auf dem deutschen Historikertag in Stuttgart mit einem spektakulären Vortrag als einziger „etwas Neues geboten" habe, so die Presse. Worin das konzeptionell Neue lag, erwies sich klarer, als Troeltsch auf Aufforderung von Friedrich Meinecke den zwischen den Konfessionen arg umstrittenen Historikertagsvortrag „Über die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" der „Historischen Zeitschrift" zur Verfügung stellte und seiner entwicklungsgeschichtlichen Darstellung eine mündlich nicht vorgetragene Miniatur einer „Historik" voranschickte. „So ist das Verständnis der Gegenwart immer das letzte Ziel aller Historie", lautet die klare Distanzierung vom antiquarischen Historismus. Auch die methodische Konsequenz dieses Geschichtsbegriffs muß die Fachhistoriker verwirrt haben: „Die ausdrückliche Stellung einer solchen Aufgabe bedeutet freilich unleugbar ein konstruktives Unternehmen: Die Zusammenfassung der Gegenwart zu einem ihr Wesen charakterisierenden allgemeinen Begriff und die Beziehung dieses Ganzen auf die Vergangenheit als auf eine Gruppe von geschichtlichen Mächten und Tendenzen, die ebenfalls mit allgemeinen Begriffen bezeichnet und charakterisiert werden müssen." 16 Troeltsch kombiniert hier Standortreflexion und Erkenntnisinteresse mit expliziter Kategorien- und Typenbildung, demgegenüber sind Fragen der Metaphysik und Ethik für seine Leitfrage der kulturgeschichtlichen Maßstabbildung stark heruntergestimmt. Das ist hervorzuheben, weil in der Berliner Historik die letztgenannten Pole ganz anders in den Vordergrund treten. Nicht mehr Tatsachenkonstruktion und neukantianische Begriffskritik universalhistorischer Entwicklungstendenzen stehen im Vordergrund, sondern geschiehtstheologische Reflexionen zum „religiösen Apriori" und geschichtspolitische Erwartungen an den „Aufbau der europäischen Kulturgeschichte" werden jetzt unmittelbarer miteinander verknüpft. Dagegen wird Max Webers Methode einer historischen Konstellationsanalyse aus sozialem Handeln, institutionellen Lebensordnungen und ideellen Handlungsorientierungen, die noch den gemeinsamen Heidelberger Diskurs um die protestantische Ethik bestimmt hatte, 17 von
16 17
KGA 8, S. 205, Hervorhebung vom Verf.; in der Variante von 1906 gegenüber dieser Fassung von 1911: „eine konstruktive Aufgabe". Vgl. dazu meinen komplementären Beitrag: Gangolf Hübinger: Ernst Troeltschs Heidelberger Historik, in: Friedrich Wilhelm Graf, Wolfgang Schluchter (Hg.): Asketischer Protestantismus und ,Geist' des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005, S. 185-199.
Ceschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik
Berlin aus als schädlicher, weil heidnischer „Polytheismus der Werte" 18 explizit bekämpft. Einer Historik der Wertkollisionen steht in Troeltschs Spätwerk eine Historik der Kultursynthese unvermittelbar gegenüber. Von den vielen Passagen, die dies dokumentieren, sei eine besonders markante aus dem für Oxford gedachten Vortrag über „Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen" über die religiöse Verankerung historischen Erkennens zitiert: „Auf der einen Seite die zerfließende Überfülle historischer Mannigfaltigkeiten [ . . . ] . Auf der anderen Seite die Zusammendrängung auf einen bestimmten praktischen Standort und die hingebende vertrauende Lebenshaltung, die sich der göttlichen Offenbarung und Forderung öffnet und beugt. Aus diesem Konflikt, der kein erdachter, sondern ein praktisch erlebter ist, entsprang im Grunde meine ganze wissenschaftliche Fragestellung." 19 In seinem letzten Werkstadium überführt Troeltsch in dieser Zusammenführung der irdischen und göttlichen Sphäre die jeden „Konstruktionsversuch" der Kulturgeschichte lenkende Geschichtsphilosophie in eine Geschichtstheologie. Das lenkt ihn auf die bildungsreligiöse Bahn des Altmeisters der „Historik" Johann Gustav Droysen zurück. Droysen lehrt im Kapitel „Die historische Methode" seiner Historik: „Aus der Geschichte, auch aus ihr lernen wir Gott verstehen, und nur in Gott können wir die Geschichte verstehen." Der nachfolgende Paragraph erläutert, was gemeint ist: „Zwischen die falsche Alternative der supranaturalistischen und materiellen Weltanschauung hat die historische einzutreten." 20 Wie dies erkenntniskritisch aufgehen kann und wo sich Widersprüche zwischen Troeltschs metaphysischen Prämissen und methodischen Regeln ergeben, das ist unter anderem von Trutz Rendtorff, Friedrich Wilhelm Graf oder Hartmut Ruddies intensiv beschrieben worden, 21 und der Historiker
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19 20 21
Emst Troeltsch: Krisis des Historismus, in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie, hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (KGA 15), Berlin 2002, S. 4 3 7 - 1 5 6 , hier S. 448 f. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung, Berlin 1924, S. 64, demnächst KGA 17. Johann Gustav Droysen: Historik (wie Anm. 1), S. 398. Trutz Rendtorff: Art. Geschichtstheologie, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4., völlig neu bearbeitete Aufl., hrsg. von Hans Dieter Betz u. a., Band 3, Tübingen 2000, Sp. 8 1 3 - 8 1 7 ; ders.: Art. Geschichte/Geschichtsauffassung, in: ebd., Sp. 791-794; Friedrich Wilhelm Graf: Distanz aus Nähe. Einige Anmerkungen zum
Gangolf Hübinger
ist auf die theologische Fachkompetenz in der Erschließung solcher Gottessemantiken wie bei Droysen angewiesen. Dazu gehört auch die eigentümliche Tatsache, daß es hinter der Berliner Historik n o c h eine dritte gibt, ich n e n n e sie der Einfachheit halber die Darmstädter Historik. In Graf Keyserlings Darmstädter „Schule der Weisheit" spricht Troeltsch im September 1 9 2 2 über „zufällige Geschichtswahrheiten" und ewige Vernunftwahrheiten. So existentialistisch wie an keiner anderen Stelle macht Troeltsch den Kierkegaardschen „Sprung" zur Voraussetzung jedweder historischen Erkenntnis, damit sie nicht vom Tatsachen-Relativismus erdrosselt oder von der Anarchie der Werte erschlagen wird. Die neuartige Semantik einer christlichen Lebensphilosophie hinderte nicht, daß Hermann Graf Keyserling nach Troeltschs Tod alle Register der Nachruf-Politik gezogen hat und Troeltsch zu einem intellektuellen „Subalternoffizier" degradiert, dessen Historismusbuch besser auf 5 0 Seiten eingedampft worden wäre. 2 2 Das war im Weltbürgerkrieg der Weltanschauungen nach 1 9 1 8 wohlfeile Polemik. Die heutigen historischen Kulturwissenschaften dürfte an der triadischen Spannung zwischen religiösen Letztbegründungen, begrifflichen Konstruktionsgeboten und praktischer Geschichtsschreibung etwas anderes interessieren: Wie generiert Troeltschs Historik eine Kulturgeschichte der europäischen Moderne, in der zugleich eine wissenschaftliche Klärung derjenigen kollektiven Erinnerungsorte eingebunden ist, die einer pluralisierten Industrie- und Massenkommunikationsgesellschaft als Bindemittel ihrer politischen Selbstinterpretation dienen kann? Dieser für Troeltsch fundamentale Antagonismus von Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik kann an Troeltschs England gut veranschaulicht werden.
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„Weber-Paradigma" in Perspektiven der neueren Troeltsch-Forschung, in: Gert Albert u. a. (Hg.): Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2003, S. 234-252; Hartmut Ruddies: „Geschichte durch Geschichte überwinden". Historismuskonzept und Gegenwartsdeutung bei Ernst Troeltsch, in: Wolfgang Bialas, Gerard Raulet (Hg.): Die Historismusdebatte in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1996, S. 198-217. Ernst Troeltsch in Nachrufen, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf unter Mitarbeit von Christian Nees (Troeltsch-Studien, Band 12), Gütersloh 2002, S. 510.
Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik
II. Dazu wurde oben die These aufgestellt: So wie für Jacob Burckhardts große Geschichtserzählung Italien den Schlüssel liefert zur Selbstermächtigung des modernen Menschen durch Habgier, Herrschsucht und Sinnlichkeit, aus dem die Hochleistungen der Ökonomie, des Staates und der Kunst entstehen, liefert für Troeltsch England den Schlüssel zur Problemgeschichte der Moderne. Das zeigt sich in den Vorkriegsschriften in aller Rivalität zu Burckhardts Renaissance-Interpretation und durch eine eher zögerliche Aneignung der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" des ansonsten äußerst rezeptionseifrigen Troeltsch. Dafür übersteigert Troeltsch vor 1914 noch das liberale Englandbild Max Webers. Weber hatte eine MontesquieuPassage aus „L'esprit des lois" isoliert und den Engländern einen „Frömmigkeitsrekord" aus Religion, Handel und politischer Freiheit attestiert und als Leitmotiv seiner „Protestantischen Ethik" vorangestellt. 23 Troeltsch zieht die Linien dieses Geschichtsbildes noch bis in die „soziale Schichtung und Klassenbildung" der industriellen Massengesellschaft aus. Er sieht in den englischen Sekten die entscheidende historische Triebkraft „für die Hebung der Mittel- und Unterschicht, ihre Erfüllung mit demokratischen Ideen, mit moderner Wirtschaftsgesinnung", er rechnet ihnen „die Ausbildung des Vereins- und Assoziationswesens, die ganze Beweglichkeit der Gesellschaft, [ . . . ] den Aufstieg der Massen" zu. 24 Troeltschs positives Englandbild einer europäischen Avantgarde-Nation ist geleitet von reichhaltigen empirischen Beobachtungen und starken geschichtsphilosophischen Annahmen über die Entwicklungsstufen der Moderne gleichermaßen. Im Ersten Weltkrieg wird diese Erzählung geschichtspolitisch umgeschrieben. Jedoch in keiner Weise durch simple ideologische Engführung. Troeltsch brandmarkt öffentlich England als den Hauptgegner im „Kulturkrieg" gegen die „deutsche Idee von der Freiheit" und begründet dies, wie zu erwarten, aus der Geschichte. Aufschlußreich, aber bisher unbeachtet, erscheint mir hier eine Beobachtung des Weimarer Historikers Eckart Kehr, der seinen Aufsatz über „Englandhass und Weltpolitik" mit Ernst Troeltschs Historismusbuch eröffnet. Kehr ist als Vertreter der These vom „Primat der Innenpolitik" in die Geschichte der Geschichtswissenschaft 23 24
Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist" des Kapitalismus, hrsg. von Klaus Lichtblau, Johannes Weiß, Weinheim 1993, S. 10. KGA 8, S. 284.
Gangolf Hübinger
eingegangen; sein Aufsatz variiert das Thema der Ableitung innerer Konflikte nach außen: „Der deutsche Konservatismus übertrug seinen Hass gegen die Stadt und die Industrie auf die Außenpolitik", vorrangig England. 2 5 Bezeichnenderweise thematisiert Troeltsch in seiner vielzitierten Kriegsrede v o m Juli 1915 unter dem sprechenden Titel „Der Kulturkrieg" genau diesen Punkt und spricht vom „Kampf gegen die Ausländerei bei uns selber". Dadurch erhält die lange Passage, in der Troeltsch England „die führende Rolle in diesem Kulturkriege" zuweist, eine ganz andere historische Tiefenstruktur: „Die führende Rolle in diesem Kulturkrieg spielt England, und in enger Fühlung mit englisch-demokratischem
Denken
Amerika." Eine treibende Kraft sei der englische Protestantismus: „Den englischen Christen ist die Aufgabe gegeben, der Welt Freiheit, Ordnung und persönliche Unabhängigkeit zu bringen. Den Engländern hat eben damit Gott die Weltkontrolle, die Unterstützung der schwachen und gedrückten Völker, die Befreiung der geknechteten und die Besiegung der kulturfeindlichen zur Aufgabe gemacht." Für seinen Vergleich der konkurrierenden
Zivilisationsansprüche
lehnt
sich Troeltsch
an
Max
Scheler an: „Es ist der bekannte englische Cant, jenes Zusammenfallen von Instinkt und Selbstsucht mit Moral und Religion, jene ehrliche Heuchelei, in der Freiheit, Herrensinn, Reichtum und Weltherrschaft der Engländer o h n e weiteres zusammenfällt mit dem moralischen Interesse der Welt und der Völker überhaupt. Dieser englische Cant ist zum Cant der angelsächsischen Demokratie überhaupt geworden und hat sogar auch sehr bedeutende Geister gefangen, vom Durchschnitt gar nicht zu reden." 2 6 In diesem Fall interessieren weniger die
zivilisationsvergleichenden
Deutungsmuster und Stereotypen 2 7 als ein fundamentalerer geschichtstheoretischer Gesichtspunkt. In den Kategorien von Reinhart Koselleck ausgedrückt, ist Troeltschs Historik auf eine innere Dynamik von „Er-
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Eckart Kehr: Englandhass und Weltpolitik, in: ders.: Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 2 0 . Jahrhundert, hrsg. und eingeleitet v o n Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt a. M. 1 9 7 0 , S. 1 4 9 - 1 7 5 , hier S. 1 4 9 und 152.
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Alle Zitate aus: Ernst Troeltsch: Der Kulturkrieg, Berlin 1 9 1 5 , S. 2 0 und S. 22. Vgl. dazu Barbara Beßlich: Wege in den „Kulturkrieg". Zivilisationskritik in Deutschland 1 8 9 0 - 1 9 1 4 , Darmstadt 2 0 0 0 ; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2 0 0 0 ; reichhaltig jetzt vor allem Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2 0 0 4 .
Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik
fahrungsraum"
und
„Erwartungshorizont"
der Moderne
angelegt,
in
der die Elemente einer europäischen Kultursynthese nicht positivistisch fixiert sind, sondern in veränderlichen Horizonten aus geschichtspolitischer Erwartung und kulturgeschichtlicher
Erfahrung
zeitspezifisch
verschmelzen. 2 8 Im „Krieg der Geister", in den Troeltsch zwischen 1914 und 1918 prominent einbezogen wurde, 2 9 wurden Feinheiten des historischen Vergleichs oder der offenen Zeithorizonte nicht bemerkt, zumal Troeltsch England auch als „physisch unkräftiges Weib mit den Mitteln einer wohlberechtigten giftigen Zunge" den deutschen Lesern vorführen konnte. 3 0 Politisch engagiert wertende Geschichtsbilder wie das über England werden immer in einem öffentlichen Kommunikationsraum verhandelt. Das wußte niemand besser als Troeltsch selbst, als er in der Vorbereitung seiner Englandreise 1 9 2 2 den Weltkrieg als „Gipfel der Verwirrung" erkannte, in dem der Kampf aller Werte gegen alle eskaliert sei: „Das Ästhetentum gegen die Christlichkeit, die Völkischen gegen die Antike, die Verehrer des Christentums untereinander und gegen die moderne Kultur, der Bolschewismus gegen Kapitalismus und Bürgertum, der Amerikanismus gegen den Europäismus" - in dem hier zitierten Aufsatz, der programmatisch „Krisis des Historismus" heißt, bürdet Troeltsch der Historik gegen alle Trends der Sozial- und Kulturwissenschaften die Aufgabe einer „Wertlehre" auf. „Es ist ihre Aufgabe, die historischen Werte anschaulich und suggestiv zu m a c h e n , indem sie nur sachlich ihre Bildungsgeschichte erzählt, und die modernen Gegenwartsentscheidungen vorzubereiten durch die Orientierung über die geschichtliche Fülle und den Zusammenhang der Wertwelt." 3 1 Das ist das schwere geschichtsphilosophische Gepäck, mit dem er beabsichtigte, nach England zu reisen. Die britischen Wissenschaftler und Intellektuellen hatten bekanntlich Schwierigkeiten, Troeltschs argumentative Verknüpfungen von Geschichts-
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Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 349-375. Vgl. zusätzlich zu der in Anm. 27 genannten Literatur Ulrich Platte: Ethos und Politik bei Ernst Troeltsch. Von der ethischen Theorie zur politischen Konkretion in seiner Kriegspublizistik, Egelsbach 1995. Ernst Troeltsch: Deutscher Glaube und Deutsche Sitte in unserem großen Kriege, Berlin 1914, S. 8 und S. 7. Zitate KGA 15, S. 448 f.
Gangolf Hübinger
theologie, Philosophie und Politik in dieser Weise nachzuvollziehen. Hans Rollmann und Mark Chapman haben die schwierige Aufnahme in den englischen Nachkriegsdiskurs rekonstruiert. Aber war das Ganze nur eine „sad story"? 3 2 Wie fügt sich Troeltschs Englandreise in die komplexe Beziehungsgeschichte von Aneignung und Abwehr deutscher und britischer Geschichtsbilder? 3 3 Das ist eine Frage des übergreifenden Kulturtransfers, in den Troeltsch mit seinem Beitrag zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte hineingestellt ist. Die Europa-Geschichtsschreibung wendet das Modell des Kulturtransfers an, u m zwei Dinge zu ermitteln: Was ist das Wissen vom Anderen? Und welche Elemente der vermeintlichen Fremdkultur sind längst Bestandteile der eigenen Lebenswelt geworden? Daran hat sich Troeltsch bereits abgearbeitet. Es sind Fragen des Kultur- und Wissenstransfers, die dem Entwurf einer materialen Geschichtsphilosophie, wie sie Troeltsch für den zweiten Band des „Historismus" versprochen hat, erst einmal vorgeschaltet sein müssen.
III.
Ernst Troeltsch war mehr als eine marginale Figur im deutsch-britischen Kulturtransfer nach 1918. Und für eine „sad story" war er in den einschlägigen britischen Theologenkreisen wohl doch zu präsent. Insbesondere Friedrich von Hügel publizierte über ihn auch nach Kriegsausbruch kontinuierlich. 3 4 Sein vorgesehener Gastgeber in Edinburgh, Hugh Ross Mackin-
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Vgl. Mark D. Chapman: The „sad story" of Ernst Troeltsch's Proposed British Lectures of 1923, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 1 (1994), S. 97-122; ders.: „Der Historismus" in England und England in „Der Historismus", in: Ernst Troeltschs „Historismus" (wie Anm. 2), S. 181-199. Vgl. Rudolf Muhs, u. a. (Hg.): Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Bodenheim 1998. Friedrich von Hügel: On the Specific Genius and Capacities of Christianity. Studied in Connection with the Works of Professor Ernst Troeltsch, in: The Constructive Quarterly 2 (1914), S. 6 8 - 9 8 und 8 (1914) S. 673-701. Wiederabdruck in: ders.: Essays and Adresses on the Philosophy of Religion, London 1921; ders.: German Soul in its Attitude towards Ethics and Christianity, the State and War, London 1916, dort S. 75-86 eine durchaus kritische Auseinandersetzung mit Troeltschs Staatsethik am Beispiel des Essays „Die deutsche Idee von der Freiheit" in der einflußreichen „Neuen Rundschau" (Januar 1916). Hügel präsentiert den englischen Lesern Troeltsch als in dem typischen
Geschichtskonstruktion und Cedächtnispolitik
tosh, n a h m ihn systematisch als theologischen Typus in sein späteres Werk auf. 3 5 Die Nachrufe in britischen Zeitungen und Zeitschriften waren breit gestreut. 3 6 Nur mußte Troeltsch, darauf insistierte von Hügel nachdrücklich, in einer schriftlichen Deklaration den Vorwurf des deutschen Chauvinismus entkräften, was er umgehend tat. 3 7 Auch hier interessiert primär die geschichtstheoretische Denkoperation. So wie Troeltsch vor dem Weltkrieg die Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt erschließen wollte, will er nach dieser „Urkatastrophe für die westliche Zivilisation" (George F. Kennan) die Bedeutung der Kulturgeschichte für die Ordnungspolitik der modernen Nachkriegsgesellschaften viel grundsätzlicher einfordern. Wie verleiht Troeltsch seiner geschichtsphilosophischen Idee einer europäisch-amerikanischenen Kultursynthese für das 20. Jahrhundert ihre kulturpolitischen und forschungsstrategischen Konturen? Diese Beweislast trägt wiederum die Historik. Sie ist nicht auf eine „intuitive Entwicklungsmetaphysik" angelegt, wie Manfred Schroeter und andere zeitgenössische Troeltschleser vermutet haben. 3 8 Die „eigentliche Aufgabe der Historie", so der oberste Merksatz seiner Berliner Historik, gilt der „Synthese großer Entwicklungszusammenhänge". 3 9 Die neue EuropaGeschichtsschreibung sei ein intellektuell konstruktiver Akt, sie erfordere
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intellektuellen Dilemma befangen: „that you cannot be both fully, definitely Machiavellian in politics, and deeply, tenderly Christian in the life of the individual, the family and the church" (S. 86). Hugh Ross Mackintosh: Types of Modern Theology, London 1937; vgl. bereits Robert Skillen Sleigh: The Sufficiency of Christianity and Ernst Toeltsch, London 1923. Belege bei Ernst Troeltsch in Nachrufen (wie Anm. 22); ferner den Nachruf von Robert Skillen Sleigh: Personal Recollections, in: The British Weekly. Α Journal of Social and Christian Progress, No. 1, 894, Vol. LXXIII, 15.2.1923, S. 441. Die Deklaration ist abgedruckt bei Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel 1901-1923, hrsg. von Karl-Ernst Apfelbacher, Peter Neuner, Paderborn 1974, S. 128-130. Hügel hatte diese als Brief mit Datum vom 15.2.1922 übersandte Deklaration übersetzt und die maschinenschriftliche Fassung redigiert: „finished corrections of Troeltsch's last letter - as typed", Diaries of Friedrich von Hügel, 19. Juli 1922, Nachlass Hügel, St. Andrews University Library (SAUL). Manfred Schroeter: Ernst Troeltsch (f), in: Münchner Neueste Nachrichten, 3. Februar 1923, jetzt in: Ernst Troeltsch in Nachrufen (wie Anm. 22), S. 246. Ernst Troeltsch: Krisis des Historismus, in: KGA 15, S. 442 f.
Gangolf Hübinger
die „souveräne
Kraft der Umschmelzung,
Vereinfachung,
Vertiefung
und Neubelebung des historischen Besitzes". 4 0 Troeltschs Englandreise und ihr literarischer Niederschlag können höchst aufschlußreich diesen dreifachen Kraftakt demonstrieren. Die Publizistik in der Vorbereitungszeit ist auf Neubelebung gemeineuropäischer
Gedächtnisorte
ausgerichtet.
Das Arrangement der Vorträge selbst zielt auf Umschmelzung der im 19. Jahrhundert separierten Entwicklungszusammenhänge. Schließlich ist die postume Doppelpublikation dieser Vorträge ein exzellenter Beleg für die mühsamen Neuansätze des intendierten Wissenstransfers. In den Spektatorbriefen begann Troeltsch ein gegenüber seiner Weltkriegskritik revidiertes und positives Bild der historisch
gewachsenen
Verzahnung von Weltwirtschaft und Weltpolitik zu zeichnen:
„Jeder
Kundige weiß, dass das alte englisch-liberale Ideen sind und dass das mit angelsächsisch-politischem Denken eng zusammenhängt. Wirtschaft und Wirtschaftssicherung sind ihnen das eigentliche Zentrum der Politik. Das verlangt eine die See beherrschende und befriedende Zentralmacht, im übrigen Verständigung und Solidarität, Freiheit und Autonomie der schaffenden Völker, eine bis zu einem gewissen Grad freihändlerische und pazifistische Überwindung der politischen und wirtschaftlichen Anarchie." 4 1 Troeltschs Nachkriegsmission war das historisch sensibilisierte und optimierte Wissen vom jeweils Anderen. So wie er die idealistische Tradition aus dem „Mutterland des Historismus" in seinen fünf Vorträgen den Engländern und Schotten präsentieren wollte, führte er die britische Sozial- und Wirtschaftstheorie in den deutschen Diskurs ein. Neben dem in Berlin dankbar aufgenommenen Ö k o n o m e n J o h n Maynard Keynes waren das am Rande der Philosoph Bertrand Russell und in der Hauptsache der Schriftsteller H. G. Wells. Troeltschs Historik weist Wells eine Schlüsselrolle im Prozeß der „Umschmelzung des historischen Besitzes" zu. Wells' 1 9 2 0 erschienene Universalgeschichte, „The Outline of History", wird den deutschen Lesern als „in vieler Hinsicht auch großartige Synthese [für] die Stellung der praktischen Gegenwartsaufgabe der europäischen Völkerwelt" 4 2 und darin als Gegenpol zu Spenglers „Untergang des Abendlandes" präsentiert. Die zwei ab-
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GS III, S. 724. Ernst Troeltsch: Die neue Weltlage (11. Mai 1922), in: Spektator-Briefe, Tübingen 1 9 2 4 , S. 2 6 5 .
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Ernst Troeltsch: Krisis des Historismus, in: KGA 15, S. 4 4 5 .
Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik
soluten Bestseller in ihrem jeweiligen Kulturraum markierten für Troeltsch die Extrempunkte einer philosophisch zu synthetisierenden Universal- und Kulturgeschichte Europas. So wie der „Untergang des Abendlandes" den romantischen Geschichtsdiskurs aus „Mystik und Brutalität" repräsentiere, stehe Wells in idealtypischem Gegensatz für die planetarische Planwirtschaft und einen demokratischen Pazifismus in der Tradition des westeuropäischen Positivismus. 4 3 In seiner Berliner Nachkriegshistorik verschließt sich Troeltsch Spengler und öffnet sich Wells, wenn auch nicht o h n e schwere Vorbehalte: „was haben wir dem [englisch-liberalen Naturgesetz] entgegenzusetzen, wenn wir es nicht bejahen können? Oder, wenn wir nichts entgegenzusetzen haben, wie läßt sich eine solche Denkweise von unserem Standpunkte aus umbilden und vertiefen?" 4 4 Das auszuloten, rüstete sich Troeltsch im letzten halben Lebensjahr für seine Englandfahrt, darunter die Einladung des Historikers und Politikwissenschaftlers Ernest Barker nach Oxford, nebenbei bemerkt, derselbe Barker, der im Titel der „Outline of History" als einer der Fachberater des Literaten H. G. Wells aufgeführt ist. 4 5 Zu einer positiven Kategorie in dieser Historik und zu einer Übersetzungshilfe für den zentralen Begriff der „Kultursynthese", den Troeltsch in seinen Vortragsmanuskripten selbst nicht verwendet, wird der „Komprom i ß " . „Wenn das Wesen der ganzen Geschichte Kompromiß ist, wird sich der Denker dem nicht entziehen k ö n n e n " , so begründete Troeltsch seine Verknüpfung von historischer Kulturanalyse und politischer Kultursynthese im Londoner Vortrag über „Politics, Patriotism, and Religion". 4 6 Das ist gegen ein Geschichtsdenken gerichtet, das „Wertkollisionen" radikalisiert und auf intellektuelle Verschärfung politischer Krisen setzt. Es ist außer-
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Diese Gegenüberstellung im Rahmen seiner Rezension für die Historische Zeitschrift (1922), Ernst Troeltsch: [Rez.] H. G. Wells: The Outline of History, Written with the advice and editorial help of Mr. Ernest Barker, Sir Η. H. Johnston, Sir E. Ray Lankester and Professor Gilbert Murray. Revised and corrected edition. Cassell a. Cie., London u. a. 1920, aufgenommen in: Ernst Troeltsch: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. von Hans Baron (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 4. Band), Tübingen 1925, S. 6 9 9 - 7 0 5 . Ebd., S. 705. Vgl. Ernest Barker: Age and Youth. Memories of three Universities and Father of the Man, London 1953, S. 137. Ernst Troeltsch: Christian Thought. Its History and Application, London 1923, S. 132-167 (demnächst KGA 17).
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dem ein nachgerade klassisches Bekenntnis zum Historismus in der Tradition Droysens. 47 Aber das wirklich Erstaunliche ist etwas anderes: Troeltsch wähnt die sozialen Träger der künftigen europäischen Kultursynthese kraft ihrer Wissenstradition in den Briten. Zumindest schließt Troeltsch so seinen Londoner Vortrag: „It is thus easier for me to confess my adhesion to the principles of compromise here than in my own country." 4 8 Der deutsche Buchmarkt war auf den von Troeltsch intendierten Wissenstransfer so nicht eingestellt. In der postumen Ausgabe dieses Vortrags in „Der Historismus und seine Überwindung" von 1924 sind Troeltschs Schlußpassagen mit einer Würdigung der westlichen Denktraditon von „Rousseau, Tom Paine and Bentham" 4 9 gegenüber der schon Ende 1923 erschienen englischen Fassung in „Christian Thought, its History and Application" gestrichen. Auch die Buchtitel zeigen die unterschiedlichen Erwägungen, unter denen der deutsche und der englische Text in den jeweiligen nationalen Leseraum gestellt werden sollten. Die deutsche Erstedition stellt Troeltsch dezidiert in die zeitgenössischen Theoriedebatten um die Krise des historistischen Geschichtsdenkens. Aufs Ganze gesehen aber, durch die Regie des Baron von Hügel und die Assistenz von Ernest Barker, sind die deutsche und die englische Fassung in verläßlicher Übersetzung eng aufeinander bezogen. Troeltsch entwarf sein Modell der europäischen Kultursynthese zu einem prekären Zeitpunkt, als sich England vom Vorbild der deutschen Bildungsinstitutionen gelöst und Amerika zugewandt hatte. Es war die Zeit der wissenschaftlichen Kommunikationsabbrüche. 5 0 Die deutschen Historiker etwa kamen auf dem internationalen Historikertag erst wieder 1928 in Oslo mit ihren europäischen Kollegen zusammen. 5 1 Vor diesem Hintergrund
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Dessen Historik „Geschichte" und „Geschäfte", Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf auf hegelianische Weise verbindet. Ernst Troeltsch: Christian Thought (wie Anm. 46), S. 166. Ebd., S. 166. Stuart Wallace: War and the Image of Germany. British Academics 1914-1918, Edinburgh 1988; Peter Hoeres: Krieg der Philosophen (wie Anm. 27). Vgl. Peter Alter: „Beschwerliche Reisen über den Kanal" - Großbritannien und Deutschland zwischen den Weltkriegen, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Die ungleichen Partner. Deutsch-britische Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, S. 140-154; Karl Dietrich Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comite International des Sciences Historiques, Göttingen 1987.
Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik
kam der doppelsprachigen Publikation der fünf Vorträge Troeltschs erst einmal die Aufgabe zu, die transnationale Ideenzirkulation - als Bedingung der Möglichkeit der als Ziel seiner Geschichtsphilosophie benannten Kultursynthese - auf dem literarischen Markt der beiden Länder neu in Gang zu setzen. Wenn wir uns angesichts der spärlichen Quellen weiter Gedanken machen, wie der nicht geschriebene zweite Band über das materiale Problem der Geschichtsphilosophie und die Triebkräfte, Zäsuren und Stufen der europäischen Kulturgeschichte 52 in Troeltschs Kopf ausgesehen hat, 5 3 dann werden wir Troeltschs Rede von der „Kultursynthese" noch stärker als Vermittlung, als „Umschmelzen" neuzeitlicher Wissenskulturen in dem kulturtransferierenden Sinn erschließen müssen, wie er sie in London, Oxford und Edinburgh demonstrieren wollte.
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Das Thema einer Stufenlehre der europäischen Geschichte ist jetzt wieder aufgegriffen bei Heinz Dieter Kittsteiner: Die Stufen der Moderne, in: Johannes Rohbeck, Herta Nagl-Docekal (Hg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik, Darmstadt 2003, S. 9 1 - 1 1 7 . Vgl. dazu ausführlicher die Einleitung zu KGA 17 (wie Anm. 4).
VOLKER GERHARDT Nur das Individuum überwindet die Geschichte. Zum Topos der Selbstüberwindung bei Ernst Troeltsch „Natürlich bedarf der Philosoph eines Systems; nur durch ein solches ist er Philosoph." 1
1. Eine Formel für das ganze Werk. Das Motto des 8. Ernst-TroeltschKongresses besteht aus einem eindrucksvollen Paradox, das viel zu denken geben kann: „Geschichte durch Geschichte überwinden". Bekanntlich ist dies der Appell, mit dem der erste Band der Studien über den „Historismus und seine Probleme" endet, um mit Blick auf einen zweiten Band die Elemente für den Aufbau einer über die Moderne hinausweisenden Zukunft anzukündigen: „Die Idee des Aufbaues [einer Zukunft, V. G.] heißt Geschichte durch Geschichte überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen." 2 Ernst Troeltsch hat sein auf zwei Bände angelegtes Werk nicht zum Abschluß bringen können. Wir wissen daher nicht, wie er die paradoxe Aufgabe nach ihrer Ankündigung angegangen wäre. Doch es spricht vieles dafür, schon seine Jahrzehnte vorher einsetzende Auseinandersetzung mit dem Historismus als Anlauf zu dessen geschichtlicher Überwindung zu verstehen. Mit der Aufzählung der vier „elementaren Grundgewalten", des hebräischen Prophetismus, der griechischen Poliskultur, des antiken Imperialismus und des abendländischen Mittelalters, hat er die Kräfte benannt, die es so zu bündeln und zu steigern gelte, daß sie die Energie freisetzen, die nötig ist, um mit der Moderne über sie hinauszugehen.3 Man braucht also auf die Deutung der paradoxen Formel nicht zu verzichten, nur weil der zweite Band der Historismusstudien nicht vorliegt. Ernst Troeltschs geschichtsphilosophisches Werk kann als Ganzes zum Verständnis des Appells, die Geschichte durch Geschichte zu überwinden, herangezogen werden. 1
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Ernst Troeltsch: Meine Bücher, in: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. von Raymund Schmidt, Leipzig 1921, S. 1 6 1 - 1 7 3 , hier S. 172. Emst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes (einziges) Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen 1922, S. 772. Ebd., S. 765 ff.
Volker Gerhardt
2. Zukunft als angestaute Vergangenheit. Ehe die geschichtlichen Akteure nach der Realisierung einer solchen Chance suchen u n d bevor die Theoretiker der epochalen Gegenwart ihnen ihre Ratschläge geben, empfiehlt es sich jedoch zu fragen, was d e n n eine „Überwindung der Geschichte durch Geschichte" heißen könnte u n d wie sie überhaupt gedacht werden kann. Ist sie nicht die im Tonfall des Triumphs verkündete Kapitulation vor dem, was sich gar nicht besiegen läßt? Wie will m a n die Geschichte überwinden, die überall schon ist, wo immer wir a n k o m m e n ? Und wie will man ausgerechnet mit der Geschichte in oder bei etwas a n k o m m e n , was selbst keine Geschichte mehr ist? Ist sie nicht so unentrinnbar wie die Zeit? Ja, ist sie nicht eben die Zeit, die wir haben u n d o h n e die wir gar nichts sind? Nicht genug, daß uns die Geschichte selbst in der fernsten Zukunft auf den Fersen bleibt: Sie ist es auch, die unsere Gedanken beflügelt, wann immer wir uns auf Kommendes richten. Nicht genug, daß es die Geschichte ist, die uns das Material für alles Künftige liefert: Schon als Naturwesen sind wir die dynamische Anordnung gemachter Erfahrungen, die sich unter den Kommunikationsbedingungen des menschlichen Daseins nur in Antizipationen äußern können. Im Prozeß des Lebens staut sich die in die Form der Mitteilung gebrachte Vergangenheit notwendig als Zukunft an. 3. Der Umschlag der Zeit. Die einzige Form, der Geschichte zu entkommen, läge im vollkommenen Schweigen, das ununterscheidbar vom Vergessen wäre. Es ist nicht nötig, darüber zu reden, daß wir nicht definitiv schweigen können. Es ist schon schwer genug, etwas wirklich zu vergessen. Wer darin auch nur annähernd erfolgreich wäre, der vergäße sich selbst. Der Selbstvergessene aber gibt nicht nur seine Vergangenheit, sondern mit ihr auch seine Gegenwart preis. O h n e Vergangenheit u n d Gegenwart hat er aber auch keine Zukunft mehr, ganz gleich wie lange er lebt. Das ist keine sinnlose Rede. Denn wir haben zu bedenken, daß es die Zukunft in einem strengen Sinn von Existenz o h n e h i n nicht gibt. Sie ist unsere Aussicht auf etwas, das es geben kann. Diese Aussicht braucht der Mensch, solange sein tätiges Leben auch nur ein Minimum an Bedeutung haben soll. Also ist sie es, die der eigenen Gegenwart ihren Sinn verleiht. Dieser die Gegenwart auf Kommendes ausrichtende Sinn ist aber o h n e Erinnerung nicht zu haben. Den Stoff für die Vorstellungen, aus denen die Aussicht auf die Zukunft besteht, e n t n e h m e n wir dem Gedächtnis. Vergangenheit u n d Zukunft sind somit im selbstbewußten Handlungsanspruch des tätigen Menschen verbunden. Es ist die Gegenwart, in der
Nur das Individuum überwindet die Geschichte
sich entscheidet, ob der Mensch eine Geschichte hat; es ist die Gegenwart, in der diese Geschichte in Zukunft umschlagen muß. Und es spricht vieles dafür, daß sich dieser Umschlag der Zeit nicht auf dem Wege einer Übersetzung oder Übertragung, sondern in der Form der Überwindung vollzieht. Deshalb ist das Bild vom Stau, der sich in jeder bewußten Gegenwart bildet und dessen Damm der von Erinnerungen schwere Mensch nur in der eigenen Tätigkeit durchbricht, durchaus angebracht. Die nicht näher ausgeführte Losung, die nun Ernst Troeltschs Lebenswerk beschließt, erklärt sich somit nicht von selbst. Fragen wir daher genauer, was sie bedeuten könnte. Dabei konzentriere ich mich zunächst auf den vieldeutigen Begriff der „Überwindung" und komme erst am Ende auf Troeltsch zurück. 4. Transformation im Widerstand. Bei der „Überwindung" kann es nicht um „Verneinung" oder definitive „Ablösung" gehen, wenn das von Troeltsch formulierte Paradox einen Sinn haben soll. Auch der von Nietzsche für die „Überwindung" verwendete Begriff der „großen Loslösung" rettet sie nicht. Denn man kann, der alltäglichen Redewendung zum Trotz, die Geschichte nicht hinter sich lassen wie eine Krankheit - auch dann nicht, wenn sie keine sichtbaren Narben hinterläßt. Die Historie reicht nicht nur nahtlos an die Gegenwart heran; sie drückt ihr noch im Augenblick der Gegenwart ihren Stempel auf. Mehr noch: Sie setzt die Motive frei, die uns über Vergangenes und Gegenwärtiges in die Zukunft führen. Was immer wir wollen, hat seine Anlässe hinter sich. Nur die Geschichte stellt das Material bereit, aus dem wir uns die Zukunft zu bauen haben - auch wenn vielleicht am Ende alles anders ist. Vor jeder historischen Rückfrage an Ernst Troeltsch ist somit zu prüfen, ob sich das, was er mit der geschichtlichen „Überwindung" der Geschichte fordert, überhaupt denken läßt. Darauf beschränke ich meine Überlegungen. Wenn ich am Ende als theologischer und soziologischer Laie noch eine Bemerkung zur Bewertung der von Troeltsch versuchten Überwindung anfüge, dann ist das lediglich ein Angebot, meine philosophische Analyse leichter angreifbar zu machen. 5. Geschichte ist alles, was vergangen ist. Gesetzt, jemand hätte wirklich die Absicht, Geschichte durch Geschichte zu „überwinden": Wie ließe sich die Realisierung dieses Zieles denken? Obgleich es viele Begriffe von Geschichte gibt und streng genommen jedem Geschehen und jedem Ort seine eigene
Volker Gerhardt
Geschichte zugeschrieben werden kann (so daß sich mit jedem Wandel des Geschehens und mit jedem Übergang an einen anderen Ort - und natürlich auch mit jedem neuen Akteur - in eine andere Geschichte überwechseln ließe), gehe ich nur von einem Begriff der Geschichte aus. In ihm ist alles verbunden, was überhaupt gewesen ist. Geschichte ist das Insgesamt des Vergangenen. Gleichwohl muß ein so umfassend verstandener Begriff der Geschichte nicht alles einbeziehen. Wenn er trennscharf und gehaltvoll bleiben soll, kann er nicht auch das noch historisieren, was ihn als Begriff möglich macht. Der Ursprung der Geschichte kann nicht in ihr selber liegen; schon der Impuls, sie zu begreifen, geht über sie hinaus; außerdem setzt jedes individuelle Datum eine universelle Disposition voraus, ohne die nichts Einzelnes zu erkennen ist. Deshalb kann weder die spezifische Gegebenheit der Historie noch ihre allgemeine Ordnung ausschließlich geschichtlich sein. Das hat, so meine ich, der Historismus nicht ausreichend bedacht, und sein erster großer Kritiker, Friedrich Nietzsche, hat es vergessen. Beide begreifen die Geschichte als eine Totalität, der grundsätzlich alles zugehört und der sich niemand entziehen kann. Die Relativierung alles Geschehens als bloß geschichtlich ist die natürliche Folge. - Hätte der Historismus diese Einsicht auf sich selber angewandt, hätte er sich mit Leichtigkeit selbst überwinden können. Es wäre ihm zumindest erspart geblieben, sich in der generellen Form einer Einsicht oder gar mit der Prätention einer wissenschaftlichen Einstellung zu behaupten. Denn die logische Konstruktion einer totalen Historisierung widerspricht bereits den Bedingungen historischen Denkens. Um meinen Vortrag nicht vorzeitig zum Abschluß zu bringen, führe ich diese These nicht näher aus.4 6. Komplexe Konditionen. Die Definition der Geschichte als Insgesamt des Vergangenen hat den Vorteil, daß sie uns augenblicklich einen Sinn ihrer immer schon erfolgten Überwindung erkennen läßt: Wer jetzt lebt, hat das Vergangene überwunden. Denn er hat es in der Gegenwart seines Daseins überstanden. Das bloße Überstehen der Vergangenheit ist nicht zu unterschätzen. Es ist die empirische Bedingung nicht nur des Jetzt und Hier, sondern alles Folgenden. Doch es genügt unserem Anspruch auf bewußten Umgang mit
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Dazu demnächst vom Verf.: Universalität. Der Sinn des Sinns, München 2006.
Nur das Individuum überwindet die Geschichte
dem Vergangenen nicht. Das Geschehene soll nicht einfach n u r als das vorläufig Abgeschlossene hinter uns liegen; es soll expressis verbis gegenwärtig sein, u m in seiner bewußt gemachten Präsenz ein ausdrückliches Element des Handelns zu werden. Es bildet die Erwartung, mit der sich der Akteur dem Kommenden stellt. Der Topos der Überwindung fordert einen aktiven Bezug auf das Vergangene, damit es in der bewußten Gegenwart so anwesend ist, daß es als erkanntes M o m e n t in die gedachte Konstellation des vorgestellten Geschehens überführt werden kann. Man sieht, wie voraussetzungsvoll die gedankliche Figur der „Überwindung der Geschichte durch Geschichte" nicht nur in ihrer komplexen Beziehung zur Geschichte ist: Man braucht A n n a h m e n über den konstitutiven Beitrag des Bewußtseins zum menschlichen Handeln; m a n benötigt eine Vorstellung von der durch bewußtes Handeln möglichen Bewältigung der Gegenwart (die m a n nicht einfach nur überstehen möchte). Und schließlich m u ß es Erwartungen an die Gestaltung der Zukunft geben, wenn sie nicht als die automatische Verlängerung der Vergangenheit über die Gegenwart hinaus erscheinen soll. Einem Skeptiker fiele es nicht schwer, diese Pyramide von A n n a h m e n als extrem aufwendig u n d unerweislich darzutun. Von ihm wäre eine Unterstützung des Appells zur Überwindung der Geschichte durch Geschichte nicht zu erwarten. Das Problem des Skeptikers ist jedoch, daß er selbst, sobald er auch nur hofft, seine Skepsis möge irgendeine Wirkung tun, auf die Möglichkeit der Überwindung der Geschichte durch Geschichte setzt. 7. Überwindung anderer Art. Zur Illustration der Schwierigkeiten, die dem philosophischen Verständnis der Formel von der Überwindung der Geschichte durch Geschichte entgegenstehen, mögen die gegebenen Hinweise genügen. Wenn jemand behauptete, der Sinn der Formel erschöpfe sich im trotzigen Anspruch auf eine eigene Zukunft, sei im Grunde aber nicht mehr als die Ermutigung, sich von der Übermacht der Geschichte nicht unterkriegen zu lassen, so hätte m a n keine triftigen Argumente, u m i h m zu widersprechen. Ich will es trotzdem versuchen. Der Anspruch auf Überwindung ist mehr als ein mutwilliges oder verzweifeltes Trotzalledem. Um dies zu zeigen, wähle ich ein auf den ersten Blick befremdlich erscheinendes Beispiel von einer Überwindung eigener Art. Aber es führt, dem ersten Anschein entgegen, nicht von der Geschichte ab, sondern, wie wir sehen werden, mitten in sie hinein: Wir sind, so möchte ich zumindest hoffen, ständig damit beschäftigt,
Volker Gerhardt
unsere augenblicklich gegebene Natur zu überwinden. In einer Morgenstunde kämpfen die Hörer nicht selten gegen die nachhängende Müdigkeit der Nacht. Doch sie überwinden sich, weil sie aufmerksam sein oder erscheinen möchten. Der Referent hat weniger Probleme mit der Müdigkeit, denn im eigenen Sprechen wird die Schläfrigkeit mit eigenen physiologischen Mitteln abgewehrt. Außerdem steht der Referent unter der belebenden Suggestion, daß es interessant ist, was er zum Vortrag bringt. Als Referent aber hat er ein anderes Problem: Wenn er mehr als zehn Minuten spricht, hat er, neben vielem anderen, auch die Trockenheit in seiner Kehle zu überwinden. Das geschieht in der Regel durch beiläufige Nichtbeachtung störender Reize, kann aber nachdrücklich durch eine bewußte Atemtechnik oder durch einen Schluck Wasser behoben werden. Gut organisierte Organisatoren eines Vortrags tragen vorher Sorge dafür, daß für einen solchen Schluck ein Glas griffbereit steht. Über die jeweiligen Gründe der morgendlichen Müdigkeit dieses und jenes Individuums läßt sich generell wenig sagen. Aber es ist bekannt, daß der Mensch in vergleichsweise kurzen Abständen immer wieder müde wird, weil er, wie andere Lebewesen auch, von Natur aus auf Schlaf angewiesen ist. Alle Versuche, die Notwendigkeit des Schlafs auf rein historische Ursachen zurückzuführen, scheitern. Wir müßten schon die Naturgeschichte der Evolution bemühen, um hier zu einer historisch klingenden Mutmaßung zu kommen. 8. Die Natur überwindet sich selbst. Im gewählten Beispiel entsteht die Trockenheit in der Kehle durch die kultivierte Aktivität des Sprechens. Sie kann sich durch die Nebeneffekte einer Heizung, die zur Reduktion der Luftfeuchtigkeit führt, verstärken und wäre insofern technisch erzeugt. Sie kann aber auch als Folge einer gesteigerten Nervosität in der isolierenden Exposition am Vortragspult auftreten. Dann beruhte sie auf gleichermaßen sozialen und psychischen Ursachen. Doch wie immer wir die auslösenden Faktoren der physiologischen Austrocknung auch benennen: Die Reizung der Luftröhre ist ein Vorgang der Natur. Unser Organismus hat eine bestimmte Verfassung, deren Erhaltung wesentlich (wenn auch nicht ausschließlich) auf günstige Bedingungen in der Umwelt des Lebewesens angewiesen ist. Diese Umwelt mag noch so sehr durch künstliche Prozesse und Produkte angereichert sein: In der Wechselwirkung mit dem Lebewesen ist sie Natur. Selbst wenn das Lebewesen (in diesem Fall der gerade über das Beispiel trockener Atemwege
Nur das Individuum überwindet die Geschichte
sprechende Sprecher) den Schluck Wasser aus etwas so künstlichem wie einem Glas (oder aus der bei den Jüngeren beliebten Plastikflasche) nehm e n würde, wäre das, was d a n n lindernd auf seine Atemwege wirkte, ein Natureinfluß auf einen Naturvorgang. Selbst wenn jemand vor seinem Vortrag ein Medikament zu sich gen o m m e n hätte, das mit Hilfe eines synthetisch erzeugten Wirkstoffs für eine Stimulation der Speicheldrüsen während des Sprechens sorgte, wäre die Reaktion der körpereigenen Moleküle auf die künstlich eingeschleuste Chemikalie eine Wirkung von Natur auf Natur. Was immer uns in unserer tatsächlichen Bewegung als Lebewesen beeinflussen k ö n n e n soll, m u ß uns letztlich als Natur erreichen. Das heißt: Wir k ö n n e n als Natur, die wir sind, nur durch Natur, die uns betrifft, gereizt, befriedigt, versorgt oder verändert werden. Es ist somit die Natur, die die Natur überwindet. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Nicht nur die meine Brust durchschlagende Pistolenkugel, sondern auch der aufwendig fokussierte Laserstrahl m u ß als Natur wirken können. Kugel oder Strahl k ö n n e n mich nur zerstören, weil ich selbst Naturwesen bin. Und als Naturwesen kann mir n u r ein Naturgegenstand eine tödliche Verletzung zufügen. Stirbt jemand aus Kummer, hat auch der sein natürliches Korrelat, das den Tod bewirkt. 9. Die Natur in uns. Bei dem Schluck Wasser oder dem n o c h nicht erfundenen Medikament mag die Schlußfolgerung, der zufolge die Überwindung der Natur durch Natur erfolgt, unstrittig sein. Aber wie ist es mit der Überwindung der Müdigkeit im Auditorium? Wirkt hier nicht doch der reine Geist auf das schwache Fleisch? Ich n e h m e an, alle Hörer des heutigen Morgens haben die ortsübliche psychochemische Intoxikation schon hinter sich, haben ihren Kaffee oder ihren Tee getrunken, ihre Zigarette geraucht u n d durch ein m e h r oder weniger ausgiebiges Frühstück für die Anregung des Stoffwechsels gesorgt. Das führt bei den einen tatsächlich zur Belebung ihrer geistigen Tätigkeit. Bei ihnen tut die gewohnheitsmäßig in Anspruch g e n o m m e n e Natur bereits ihre Wirkung auf die Natur; deshalb braucht von ihnen nicht weiter die Rede zu sein. Sie sind, trotz des Vortrags, wach. Bei den anderen, die sich, trotz oder wegen des Frühstücks gegen die Schläfrigkeit zu wehren haben, ist es schwieriger. Wie schaffen sie es, auch unter Vortragsbedingungen wach zu bleiben? Nun, sie zwingen sich zur Aufmerksamkeit, achten darauf, daß sie aufrecht sitzen, rücken sich immer wieder einmal auf dem Stuhl in Position, sind dankbar, daß er nicht beque-
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mer ist, sorgen für wiederholte Bewegung der Beine und Arme, halten sich durch Mitschreiben im vorgetragenen Gedankenfluß oder reißen, wenn es arg wird, einfach die Augenlider hoch. Bei starker Gefährdung hilft die Beifügung einer schmerzhaften Störung, so, wie man sich kneift, wenn man nicht weiß, ob man träumt oder wacht. - Von jenen, bei denen das alles nichts hilft, oder die es gar nicht erst versuchen, den wohltuenden Schlummer zu verscheuchen, braucht nicht die Rede zu sein. Sie hören jetzt ja gar nicht zu. Wir brauchen die fortgeschrittenen Einsichten der Neurophysiologen nicht, um zu wissen, daß in allen diesen Techniken des Umgangs mit einer unerwünschten Schläfrigkeit, physiologische Antagonismen zur Geltung kommen, bei denen letztlich körpereigene Stoffe auf körpereigene Stoffe wirken, um zu dem aus der Erfahrung bekannten Effekt selbststimulierter Aufmerksamkeit zu führen. Also gilt auch hier, daß die Natur durch Natur überwunden wird. 10. Die Natur, die wir sind. Das erzielte Ergebnis bleibt bestehen, wenn wir einen weniger engen Begriff von Natur zugrunde legen und nicht mehr bloß auf die physikalische oder chemische Wirkung von Stoffen auf Stoffe sehen, sondern die komplexe Bestimmung der Eigenart eines Menschen als seine „Natur" bezeichnen. Es ist genau dies, was Aristoteles unter dem - ja stets individuell gemeinten - Begriff der „Substanz" (ousia) verstand. Man stelle sich vor, jemand holte einen der tüchtigen Bauarbeiter draußen von der Straße in diesen Vortragssaal: Man müßte ihm schon eine hohe Belohnung aussetzen, wenn er dem ganzen Vortrag mit der Miene der Aufmerksamkeit folgen sollte. Die Art seiner alltäglichen Beschäftigung sowie der biographische Weg dorthin haben ihn davon abgehalten, eine Gewohnheit auszubilden, die es ihm erlaubte, stundenlang weitgehend reglos in geschlossenen Räumen bloß auf den Sinn einer durch Gestik und Mimik dürftig unterstützten Rede zu achten. Seine Natur böte ihm keine Chance, dem Vortrag zu folgen. Es gäbe nichts, womit er sich, auch wenn er es wollte, überwinden könnte. Diese Chance hat nur jemand, dessen Natur im Laufe seines Lebens auf kathederartige Darbietungen ausgerichtet ist. Wenn es stimmt, was die Entwicklungspsychologen sagen, werden diese auf rhetorische Monologe dressierten Akroamatiker bald ausgestorben sein. Wer der vor dem Fernseher groß gewordenen Generation nicht wenigstens mit einem PowerPoint zu Leibe rückt, wird künftig gar keine Aufmerksamkeit mehr finden.
Nur das Individuum überwindet die Geschichte
Das glauben heute viele. Ich glaube es nicht. Aber ich nehme die weitverbreitete Überzeugung gerne auf, um an ihr kenntlich zu machen, daß auch die Fähigkeit, die ein entwickeltes Individuum als Hörer eines Vortrags in den Stand setzt, gegen seine Müdigkeit anzugehen, eine Natur voraussetzt, die ihm überhaupt erst die Mittel für die Überwindung eines Zustands durch einen anderen zur Verfügung stellt. 11. Die Natur im unablässigen Gegensatz zu sich selbst. Zum Verständnis des menschlichen Handelns und damit auch für unseren Begriff von Geschichte ist es essentiell, zu wissen, daß sich die Natur unermüdlich auf sich selber bezieht. Es ist die Erdrotation auf ihrer solaren Umlaufbahn, die zum Unterschied zwischen Tag und Nacht und damit vermutlich schon vor Jahrmilliarden zur Disposition von Wachheit und Müdigkeit geführt hat. In Abhängigkeit von ihrer Entfernung zum Zentralgestirn bringt der kosmische Lauf der Erde periodische Temperaturschwankungen mit sich, die Wind und Wetter nach sich ziehen, nach deren Einfluß sich alles auf der Erde bewegt. Ganz gleich, ob man an den Zug der Wolken, die Drift der Kontinente oder die Gezeiten des Meeres denkt: In allem wird Natur durch Natur bewegt. Sie ist es, die sich in unzählbar viele Einzelkräfte differenziert, welche mit- und gegeneinander wirken, um erst dadurch das zu schaffen, was wir als einzelnes Naturgeschehen zur Kenntnis nehmen. Es mag trivial erscheinen, auf die Vielfalt der mit- und gegeneinander wirkenden Kräfte der Natur zu verweisen. Doch angesichts der Rede von der „Einheit" der Natur und von dem alles an eine Kette legenden Begriff der „Naturkausalität" vergißt man nur zu leicht, daß es die Natur selber ist, die sich in unendlicher Mannigfaltigkeit in, mit und stets gegen sich selbst bewegt. Jede Störung der Natur ist notwendig Natur. Und wo immer Natur sich durchsetzt, obsiegt sie gegen nichts anderes als gegen sich selbst. Im Großen wie im Kleinen führt sie ihre Gewalten gegeneinander an, baut unablässig Neues auf und beschleunigt dadurch die Erosion des Alten. Jede Naturkraft tritt erst mit ihrem Widerpart hervor, und als Kraft eines singulären Wesens kommt sie zur Erscheinung nur, sofern sie die ihr entgegenstehenden Kräfte überwindet. Auch dasjenige ist Natur, was den kosmischen Ausgleich aller Kräfte durch Entropie betreibt. Aber es ist zugleich nichts anderes als Natur, was sich ihm in begrenztem Umfang entgegenstellt. Unter den solaren Bedingungen der planetaren Oberfläche der Erde begünstigt Natur die Entstehung sich aus sich selbst bewegender Zentren, die sich vom Ge-
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geneinander der lokal wirksamen Kräfte nach eigenen Kriterien von den umgebenden Bedingungen abzugrenzen vermögen. Damit beginnt das organische Dasein einzelner Individuen, die sich in sich verschließen, um sich nach eigenen Regeln anderem gegenüber gezielt öffnen zu können. 12. Verfügung der Natur über sich selbst. Schon der einfache Organismus kann sich mit Stoffen versorgen, die den Aufbau eigener Kräfte ermöglichen. Der selbstorganisierte Abschluß in einem so nie zuvor existenten „Inneren" erlaubt es ihnen, in Distanz zum nunmehr „äußeren" Geschehen zu gehen, um in der Antizipation möglicher Effekte den Einsatz eigener Kräfte zu fördern. Darauf basieren nicht nur Selbstbewegung und Selbsterhaltung der Lebewesen, sondern auch die periodische Erneuerung ihrer eigenen Kräfte, die ihre durchschnittliche Grenze im Erfolg der Vermehrung durch neue Individuen hat. 5 Das auch im Inneren der Lebewesen vorhandene Gegeneinander von Kräften wird in den Dienst ihrer Selbstbildung und Selbstsicherung gestellt, die ohne Opposition gegen die Außenwelt noch nicht einmal gedacht werden können. Gleichwohl ist das lebendige Wesen in allen seinen Vollzügen an die äußeren Bedingungen seiner Umwelt gebunden. Es hat sich anzupassen; aber die Notwendigkeit dazu besteht nur, weil es sich bereits in eine konstitutionelle Opposition zu dem begeben hat, worauf es angewiesen ist. Gemeint ist seine Umwelt. Die relative Selbständigkeit von Organismen besteht in ihrer Selbstbehauptung gegen die Natur, auf die sie bereits im Einsatz ihrer Kräfte angewiesen sind - ganz zu schweigen davon, daß sie alle ihre spezifischen Energien aus den allgemeinen Energien der sie umgebenden Natur beziehen. Hätten wir einen Begriff für dieses paradoxe Geschehen des Lebens zu suchen, könnten wir davon sprechen, daß sich in, an und mit den individuellen Lebewesen die Natur fortwährend durch Natur überwindet. 13. Freiheit in der Natur. Der Terminus der Überwindung ist an die (reale oder fiktive) Gegenwart eines Hindernisses gebunden, in dem die entgegenstehenden Kräfte erfahren werden. Von einer solchen Erfahrung kann im 5
Die Generativität des Lebens wird bis heute systematisch unterschätzt, was insbesondere für die Geschichtsphilosophie zu bedauern ist. Welche Bezüge zwischen der Freiheit der Individuen und der Generationenfolge bestehen, habe ich in „Individualität. Das Element der Welt", München 2000, skizziert.
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strengen Sinn nur unter Bedingungen eines bewußten Erlebens gesprochen werden, das immer auch die Wahrnehmung alternativer Handlungsoptionen voraussetzt. Davon kann ernsthaft nur im Kontext des menschlichen Daseins die Rede sein. Gleichwohl kann man sich in der Betrachtung der belebten Natur nicht von dem Eindruck lösen, daß Hemmungen überall im Leben nach Art eines (zu überwindenden) Hindernisses wahrgenommen und gemieden, umgangen oder durch Integration in den jeweiligen Lebensprozeß bewältigt werden. Wir n e h m e n das Wachstum einer Pflanze, die Heilung einer Wunde oder das Fluchtverhalten eines Tieres nach Art einer Handlung wahr und können in Kenntnis der natürlichen Lebensbedingungen sogar davon sprechen, daß sich ein Organismus „frei" oder „eingeschränkt" verhalten kann. Spalierobst, Bonsaibäumchen oder eine Katze im vergitterten Transportgerät erscheinen uns zwangsläufig „unfrei". Hier sind die Lebewesen Hemmnissen ausgesetzt, die sie nicht in Übereinstimmung mit ihrer Konstitution überwinden und nicht nach Art einer eigenen Aufgabe angehen k ö n n e n . Der Mensch hat hier die größten Freiheiten. Denn er ist am wenigsten festgelegt und kann seine Natur vor allem durch weitläufige Kombinationen sozialer Kompetenzen beträchtlich erweitern. Die Antizipationen der dadurch möglichen Effekte n e n n e n wir Geist oder Bewußtsein. Deshalb binden wir den Gebrauch der Freiheit im strengen Sinn des Wortes auch an die Präsenz einer Einsicht, die uns konkrete Handlungsmöglichkeiten vor Augen führt und schon dadurch zur Abstraktion gelangt. 14. Der Geist als Repräsentant der Natur. Um Mißverständnisse zu vermeiden, füge ich hinzu, daß der Begriff der Natur weit genug ist, u m auch Phän o m e n e wie Geist oder Bewußtsein einzubeziehen. Die Vernunft wird v o n Piaton bis Kant zur Natur des Menschen gerechnet. Damit ist aber nicht behauptet, die intelligiblen Leistungen des Menschen ließen sich v o n körperlichen Vorgängen nicht unterscheiden. Schon der Appetit ist etwas anderes als der Speichelfluß. Der Geist, wie jeder weiß, der auch nur ein bißchen von i h m hat, ist nicht das, was sich mit dem Auftritt seiner bekannten physiologischen Korrelate spüren oder sehen läßt. Das wird durch nichts besser belegt als durch die elektrophysiologisch verfahrende Neurologie. Sie kann nur jene Vorgänge messen, die den uns vorab bekannten sensitiven, affektiven und intellektuellen Leistungen zugrunde liegen. Und die Leistungen selbst können nur aus sich heraus verstanden werden: Geistiges teilt sich als Geistiges
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nur Geistigem mit. Aus diesem Zirkel kommt, so leid es mir tut, auch der Dümmste nicht heraus. Der Geist ist darauf beschränkt, die Einheiten, die sich im Gegensatz innerer und äußerer Kräfte bilden, vor einander zu repräsentieren. Dabei führt er die Antizipationen des lebendigen Daseins fort und stellt sich (in Konflikt und Kooperation mit jenen Einheiten, die sich ebenfalls vertreten lassen) vor, welcher Vorgang welche Folgen haben kann. Seine Wirksamkeit ist somit auf symbolische Akte eingeschränkt, die dort, wo sie in Übereinstimmung mit den von ihm repräsentierten Kräften stehen, zu physischen - und das heißt letztlich auch: zu historischen Wirkungen führen können. 15. Selbstüberwindung in Freiheit. „Frei" ist der Mensch zunächst immer dann, wenn er seinen natürlichen Impulsen folgt. Der Impuls wirkt beim Menschen aber nur selten unmittelbar. Er ist vielmehr durch Gewöhnung und Erwartung gesteuert; in den Normallagen des Daseins untersteht er der jeweils eigenen Einsicht. Die Einsicht übernimmt bewußt, was über Affekte und Emotionen in der Regel nur unbewußt vermittelt wird, nämlich die ganzheitliche Einstellung auf erlebte oder erfahrene Lebensbedingungen. Dazu gehört die unerläßliche Kooperation mit anderen Menschen. Ein Mensch kann dann als frei gelten, wenn er im Respekt vor seinesgleichen der eigenen Einsicht folgt. Er erlebt sich selbst als frei, wo er entgegenstehende Hindernisse o h n e äußeren Zwang, also aus eigener Einsicht, überwindet. Daß er sich auch dabei in einem polaren Feld opponierender Kräfte bewegt, sollte als selbstverständlich gelten. Die Einsicht, die ein Mensch mit Blick auf eine Handlung faßt, manifestiert sich in seinem Willen. Den Willen braucht er, um entgegenstehenden Hindernissen bewußt zu widerstehen. Im Willen macht er sich selbst zum Hindernis, das sich gegen Hindernisse behauptet. Das Individuum begreift sich selbst als sich konzentrierende Kraft, die opponierenden Kräften widersteht. So verstehen wir das Wollen im ersten ausdrücklichen „Nein" des Kindes. Hat es Erfolg in seinem Widerstand, kann es zur aktiven Überwindung opponierender Kräfte übergehen. Dabei setzt der Begriff des Willens voraus, daß er sich gegen seinesgleichen, also gegen den Willen anderer behauptet. Die ganze Debatte über die Willensfreiheit könnte anders verlaufen, wenn diese Kleinigkeit, daß Wille nur auf Wille wirkt, beachtet würde.
Nur das Individuum überwindet die Geschichte
16. Das Paradigma
der Selbstüberwindung.
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Auch wenn es in der alltägli-
chen Praxis des Wollens anders erscheinen mag: Willensleistungen sind nie direkt gegen störende Naturkräfte gerichtet, sondern stets gegen ihre gedachten oder erlebten Repräsentanten in der Form eines opponierenden oder kooperierenden Willens. In genetischer Perspektive ist es zunächst wohl immer der wirkliche Wille der Anderen, gegen den sich der eigene Wille richtet. Erst nachdem er in die realen Oppositionen des sozialen Lebens eingeübt ist, läßt er sich auch auf interne Strebungen übertragen. Dann hat sogar der „innere Schweinehund" einen Willen, der überwunden werden muß, und es ist klar, daß er nur überwunden werden kann, wenn in der eigenen Natur genügend Energien zur Verfügung stehen, dem Opponenten in der eigenen Brust zu widerstehen. D a n n m u ß es gelingen, mit den besten Kräften der eigenen Natur, die abweichenden Tendenzen (die freilich auch zur eigenen Natur gehören) zu überwinden. In systematischer Perspektive dürfte das Wollen nach dem Modell einer Selbstüberwindung eigener Gegensätze Vorrang haben: Auch im offenen sozialen Feld m u ß der Wille des real entgegenstehenden Anderen wie ein Zeichen von meinesgleichen verstanden werden können, damit ich ernsthaft opponieren (oder ausdrücklich folgen) kann. Den Willen des Anderen habe ich so zu begreifen, als könne er mein eigenes Wollen sein. Und wenn es richtig ist, daß sich ein Wille stets auf einen anderen Willen richtet, 6 dieser andere Wille aber als Wollen von j e m a n d e m verstanden wird, an dessen Stelle sich auch sein Opponent versetzen k ö n n e n m u ß (um ihn überhaupt in seinem Wollen zu verstehen), dann folgt jedes Wollen dem Paradigma der Selbstüberwindung. Noch im durchweg repräsentativen, h o c h symbolischen und vollkommen intelligiblen Wollen tritt die Allgegenwart der Natur hervor: Sie überwindet sich in der Selbstüberwindung des menschlichen Handelns allemal selbst. In der Vielfalt ihrer mit- und gegeneinander wirkenden Kräfte wird den mit Einsicht verknüpften Energien situativ
der Vorzug gegeben.
Dabei werden die Kräfte als Einheiten erfahren, die der im Selbstbewußtsein symbolisierten Einheit des Handelnden entsprechen. Es ist Natur, sich aktuell zu einem Selbst
aufgipfelt, das unter Berufung auf
die
Einsicht
und Wille gegen analog symbolisierte O p p o n e n t e n antritt, die ebenfalls
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So sagen wir es in der Tradition v o n Rousseau und Kant; siehe dazu v o m Verf.: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1 9 9 9 .
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Natur sein müssen, um überhaupt praktische Bedeutung zu erlangen. Jedes ausdrückliche Wollen eines Menschen kann als die sich an, mit und in ihm selbst vollziehende Überwindung von Natur durch Natur verstanden werden. 17. Die Selbstüberwindung der Natur als Modell für die Geschichte. Nach vorherrschendem Verständnis ist mit den von mir vorgetragenen Reflexionen zu Freiheit, Wille, Geist und Einsicht der Bereich der Natur schon längst verlassen. Das dürfte meinen Kritikern den Vorwurf erschweren, ich hätte mein Thema verfehlt. Tatsächlich bewege ich mich mit allen Überlegungen zum menschlichen Selbstverhältnis immer auch auf dem Terrain der Geschichte. Um so leichter fällt es, eine Schlußfolgerung für die „Überwindung der Geschichte durch Geschichte" zu ziehen. Jedes menschliche Handeln ist, bevor es im zeitlichen Abstand geschichtlich wird, nichts anderes als das gegenwärtige Tun des sich selbst bestimmenden Individuums. Es ist das Leben nach eigenen Vorstellungen, es ist das Handeln aus eigener Einsicht, das, sofern es so etwas überhaupt geben kann, Geschichte „macht": Wir bringen unsere Gewohnheiten, Fertigkeiten und Erwartungen ein, suchen die Lage als ein Ganzes einzuschätzen, setzten sie in Beziehung zu uns, die wir uns selbst als Einheit begreifen, und spitzen dann den Impuls unserer Kräfte in Motiven zu, die wir für wirksam halten. Dieser Punkt ist von größter Wichtigkeit: Wir setzen die vorgestellte Einheit unserer Selbst zur mehr oder weniger begrifflich erfaßten Ganzheit einer Handlungslage in Beziehung und versuchen die vergegenwärtigten Widerstände im Interesse eines erklärten Ziels zu überwinden. Und indem wir die Widerstände, die sich im sozialen Feld immer auch geschichtlich fassen lassen, überwinden, überwinden wir die im Ganzen oder im Einzelnen begriffene Geschichte durch die Geschichte, die sich in den Antizipationen unseres Wollens manifestiert. Der Geschichte ergeht es also nicht anders als der Natur, was auch nicht verwundert, denn sie ist die Fortsetzung der Natur mit anderen Mitteln. Der historische Austausch von Kräften vollzieht sich in repräsentierten und repräsentierenden Einheiten, die symbolisch vermittelt sind. Dabei bleibt er in jeder Phase auf den Naturprozeß angewiesen. Geschichtliches Handeln kann gar nicht umhin, den Naturprozeß in seiner unablässigen Anwesenheit und in seiner zeitlichen Dynamik anzuerkennen; aber es begreift ihn stets unter den Bedingungen möglicher Handlungserfolge, es antizipiert
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die Selbstbewegungen des Menschen und transformiert so die Natur in Geschichte. In dieser Herkunft ist die Geschichte mit dem Geist verwandt, der Ausdruck einer Steigerung der von der Natur stimulierten Selbstreferenz kooperierender Kräfte in Relation zu ihresgleichen ist. Damit ist eine systematische Lösung für das Problem einer Überwindung von Geschichte durch Geschichte in greifbare Nähe gerückt. Versuchen wir abschließend zu sagen, was die Auszeichnung der Individualität im skizzierten Übergang von Natur in Geschichte bedeutet. 18. Der Auftritt des Individuums. Das einzige uns bekannte Lebewesen, das seine Individualität selbstbewußt ausprägen kann, ist der Mensch. Er ist eine von der Natur angelegte Einheit, die im Gang ihrer Phylo- und Ontogenese selbst schon historischen Einflüssen unterliegt. Dennoch ist das menschliche Individuum in jedem Augenblick seines selbstbewußten Auftritts über die separaten Elemente seiner naturgeschichtlichen Herkunft hinaus. In ihm präsentiert sich nämlich eine Einheit, die nicht aus ihren physiko-historischen Bedingungen abgeleitet werden kann, weil der Mensch immer auch das ist, was er von sich antizipiert. In seinen Vorstellungen, Erwartungen und Rollen, die jeweils zu ihm gehören, ist er notwendig mehr als das, was sich empirisch von ihm feststellen läßt. Schon dadurch, daß er sich ausdrücklich zur Empirie verhält, ist er ihr nicht restlos unterworfen. Das alles gilt für den Menschen nur, sofern er Individuum ist. Also ist seine Individualität die Instanz, in und vor der die Überwindung der bloßen Gegenwart erfolgt. Das zeigt sich schon darin, daß sich im Individuum empirische und normative Elemente nicht eindeutig trennen lassen. Wenn aber im individuellen Selbstverständnis Sein u n d Sollen ineinander übergehen, wenn das, was einer ist, immer schon das vorgreift, was er will, und wenn das, was er darin von sich verlangt, immer auch dadurch bestimmt ist, was er war, dann greift ein seiner Herkunft bewußtes Individuum in seiner Gegenwart ursprünglich auf die Zukunft aus. 19. Das Individuum als Instanz. Im einzelnen Menschen haben wir sowohl den epistemischen wie auch den technischen, politischen u n d ethischen Prototyp für das, was in der Überwindung der Geschichte gesucht wird. Erst an ihm erhält die zur Natur gehörende Überwindung eine geschichtliche Dimension; denn nur der Mensch antizipiert seine Handlungserfolge aus bewußt erinnerter Erfahrung, mit der er sich stets auch gegen etwas stellt,
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das er als hinderlich begreift. Erst in und mit ihm kommen Vorstellungen in Umlauf, die sich im Interesse der Sicherung seiner Kontinuität im selbst erzeugten Wandel an Werten und Normen orientieren, die wiederum nur an ihm Bedeutung haben. Damit ist der entscheidende systematische Schritt getan: In der absichtsvollen Bewältigung erkannter Handlungslagen kann das Individuum nicht nur Probleme lösen - das tun alle anderen Lebewesen auch. Es kann Probleme „überwinden", indem es die aus eigener Kraft bewältigte Veränderung in der Kontinuität einer eigenen Entwicklung erfährt, einer Entwicklung, in der es es selber bleibt und dennoch zu etwas Neuem wird. Wenn es an sich selbst die Erfahrung macht, sich in der Lösung von Problemen persönlich zu entwickeln, dann überwindet es nicht nur die Herausforderungen und Gefahren seiner Welt, sondern immer auch sich selbst. Und so wird der selbstbewußte einzelne Teil seiner eigenen Geschichte, die eine Geschichte der Selbstüberwindungen ist, sofern er auch nur ein Minimum von sich verlangt. Damit tritt die eminente Rolle des moralischen Selbstanspruchs und der Ethik hervor. Ohne sie läßt sich die unter Ideen, Normen oder Werten vollzogene Überwindung eines geschichtlichen Zustands gar nicht denken. Es ist daher nur konsequent, wenn Ernst Troeltsch die Ethik ins Zentrum seiner Überlegungen zum Topos der Selbstüberwindung rückt. 20. Die ethische Wende. Die Überwindung eines Zustands durch einen anderen gründet in der Erfahrung der Selbstüberwindung, und die Selbstüberwindung ist an das Selbstbewußtsein individueller Lebensleistung gebunden. - Mit diesem Ergebnis unserer Reflexion kommen wir am Ende auf eben jenen Punkt, auf den Ernst Troeltsch bei seiner Konzeption einer Überwindung der Geschichte durch Geschichte setzt. In dem dafür wohl aufschlußreichsten Text über Ethik und Geschichte spricht der Autor vom „Individualitätscharakter" der „aus der Historie selbst auftauchenden ideellen Kräfte". Sie sind es, welche die Geschichte bewegen und gestalten. In ihrer Idealität sind sie notwendig individuiert, denn anders könnten sie sich nicht, wie gefordert, ethisch in sich selber „spiegeln und konzentrieren". Und nur darin können sie - „überwunden" werden.7
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Emst Troeltsch: Ethik und Geschichtsphilosophie. Drei Vorträge, Weinheim 1 9 9 5 , S. 4 8 f.
Nur das Individuum überwindet die Geschichte
Soviel in seinen geschichtstheoretischen Überlegungen von den kollektiven Kräften der Geschichte und vom unerläßlichen „Gemeingeist" die Rede ist: Für Troeltsch ist der Vorgang der Überwindung unabdingbar an die ethische Selbststeigerung des menschlichen Individuums gebunden. Wie immer die Bedingungen und Ziele des geschichtlichen Handelns auch sein mögen: Wenn etwas erreicht werden soll, das als Entwicklung der Kultur begriffen werden kann, dann ist das Individuum in seinem anspruchsvollen Selbstbezug gefordert: „Die Persönlichkeitsidee bleibt entscheidend." 8 21. Exemplarische Ethik. Es gibt vieles, das an dieser Auszeichnung der Individualität bemerkenswert ist. Ich beschränke mich auf zwei Punkte, die auch heute noch zu Einwänden gegen den systematischen Vorrang des Individuums führen. Der erste hat mit dem unverzichtbaren Allgemeinheitsanspruch der Ethik zu tun und geht mit der Vorstellung von einem Gegensatz zwischen Individualität und Universalität einher. Immer wieder ist die Behauptung zu hören, eine universalistische Ethik, wie sie beispielsweise Immanuel Kant entwickelt hat, könne niemals wirklich individuelle Geltung erlangen. Denn eine Ethik könne entweder nur universell oder nur individuell angelegt sein. Ein Drittes scheint es nach diesem Einwand nicht zu geben. Tatsächlich bedarf es dieses Dritten nicht, denn schon die Alternative ist ohne Sinn. Alles, was wahrhaft als Einzelnes verstanden werden soll, ist auf den Begriff der Gesamtheit angewiesen, zu dem das Einzelne gehört. Die Individualität, um die es in der Ethik geht, ist die Individualität des Menschen, der mit seiner Ausstattung und seinen Fähigkeiten notwendig die Eigenart seiner Population zum Ausdruck bringt. Ein angemessenes Verständnis des Einzelnen ist daher nur im Zusammenhang seiner Gattung möglich. Wenn ein Kritiker des universalistischen Ansatzes von einem „Kurzschluß zwischen der Person und der Menschheit" spricht, 9 dann hat
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Ebd., S. 3 6 . Rüdiger Safranski im Prolog seiner bemerkenswerten Schiller-Biographie, in der er eine Lanze für den „Idealismus" zu brechen sucht, aber in diesem Punkt die Pointe des (richtig verstandenen) Idealismus verfehlt (Rüdiger Safranski: Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus, M ü n c h e n 2 0 0 4 , S. 13). Der angebliche „Kurzschluß" ist das unverzichtbare begriffliche Gelenk zwi-
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er ungewollt die Quintessenz der individuellen Ethik erfaßt, die den Einzelnen nur als Exemplar der Menschheit begreifen kann. Folglich kann eine die wechselseitige Angewiesenheit von Individualität und Universalität reflektierende Ethik nur exemplarisch sein. Denn es kann keine wahrhaft universalistische Ethik geben, die ihre allgemeine Bezugsgröße, sei es die der Menschheit oder die aller vernünftigen oder empfindungsfähigen Wesen, nicht bereits theoretisch aus dem Verständnis der einzelnen Exemplare gewinnt. Zwar wird im Begriff der Menschheit, wie man sagt, vom Individuum „abstrahiert". Aber das ist nur der theoretische Vorgang, der in der Ethik seine praktische Ergänzung findet. In der Ethik kann der Allgemeinbegriff nur wirksam sein, wenn er sich in wirksamer Weise auf die Individuen bezieht, die aus ihrer Einsicht in das Allgemeine (dem sie selber zugehören) eine ihnen tatsächlich mögliche Konsequenz zu ziehen in der Lage sind. Folglich ist auch eine universalistische Ethik, sofern sie tatsächlich den Anspruch auf ethische Verbindlichkeit erhebt, notwendig individuell. 22. Selbstbestimmung von innen heraus. Der bis heute immer wieder behauptete Gegensatz zwischen zwei Formen der Ethik entfällt nicht nur aus der Perspektive der Individualität, sondern auch aus der der Universalität: Zwar wird man nicht leugnen können, daß es Einseitigkeiten und Mißverständnisse auf beiden Seiten gibt, aber die gehen alle zu Lasten des begrifflichen Aufbaus der jeweils zu kurz greifenden Theorie, die als Ethik stets die praktische Vermittlung zwischen Individuellem und Universellem zu sein hat. Ernst Troeltsch kommt erst gar nicht darauf, den inneren Zusammenhang zwischen Individualität und Universalität in Frage zu stellen. Er nimmt ihn vielmehr emphatisch in Anspruch, auch wenn er vor einem Übergewicht des „Logischen" warnt. 10 In seinem Verständnis von Selbst-
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schen dem Begriff der Person und dem der Menschheit. Beide sind untrennbar miteinander verbunden. Dies geschieht mit Recht, obgleich Troeltsch nicht zu wissen scheint, wie sehr er mit seiner Warnung vor einer zu großen Annäherung zwischen Ethik und Logik (Ernst Troeltsch: Ethik und Geschichtsphilosophie [wie Anm. 7], S. 33) den Intentionen der kritischen Ethik entgegenkommt. Es ist Kant, der die Moral nicht ohne ein von der Vernunft „gewirktes Gefühl", das Gefühl der Achtung, begründen kann und der die aus der praktischen Vernunft folgende konkrete Konsequenz in einer „Tugendlehre" anschaulich macht.
Nur das Individuum überwindet die Geschichte
Überwindung läßt er sich von Kants kritischer Ethik leiten. Mit Blick auf den kategorischen Imperativ, der vom Einzelnen fordert, die „Menschheit in seiner Person niemals bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck" zu brauchen, heißt es: „In dieser b e r ü h m t e n Kantischen Formel ist alles Wesentliche gesagt." 11 Also kann Troeltsch auch davon ausgehen, daß die Selbstüberwindung nach dem Modell einer „Selbstbestimmung von innen heraus" erfolgt. Die aber benötigt einen praktisch leitenden Begriff, der in nichts anderem besteht als im „Ideal einer gesollten, verpflichtenden inneren Einheit u n d Klarheit unseres Wesens". 12 23. Gemeingeist als Rahmenbedingung. Die Wirkung, die Ernst Troeltsch auf seine Zeitgenossen hatte, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß er in unerhört kundiger Weise auf die soziologischen Konstellationen der Geschichte zu reflektieren vermochte. Sein umfänglicher Bezug auf die kollektiven Kräfte der Geschichte, deren Verständnis er sich mit dem aktuellsten methodologischen Instrumentarium erschließt, m a c h t ihn bis heute zu einer singulären Gestalt in der nachsäkularen Theologie. Im Topos der Überwindung aber läßt er die soziologische Fragestellung weit hinter sich, o h n e freilich genötigt zu sein, ihr zu widersprechen. Damit bin ich beim zweiten Einwand gegen die Verbindung von Individualität u n d Universalität. Auch hier löst sich Troeltsch souverän von einer in den öffentlichen Debatten vorherrschenden Opposition. In dem für den Anspruch auf Überwindung grundlegenden Vortrag über Ethik und Geschichtsphilosophie skizziert Troeltsch zunächst die Notwendigkeit der moralischen Selbstüberwindung, entfaltet d a n n die den Prozeß anleitende „Ethik der Kulturwerte", u m abschließend den „Gemeingeist" zu behandeln. Man erwartet, daß n u n m e h r das kollektive Subjekt einer Überwindung der Geschichte b e n a n n t wird. Durch die Individuelles („Persönlichkeit") u n d Universelles („Ideal"/„Werte") verknüpfende ethische Perspektive ist m a n auf eine geschichtsphilosophisch erweiterte Soziologie eingestellt, die in der Lage wäre, die gesellschaftlichen Agenten der Überwindung zu b e n e n n e n . Doch diese Erwartung wird enttäuscht. Troeltsch betont zwar, wie schon im vorangehenden Abschnitt, die Bedeutung allgemeiner Synthesen u n d
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Ebd., S. 38. Ebd., S. 36.
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kollektiver Leistungen. Aber der für die gesuchte geschichtliche Wende benötigte Impuls kann aus seiner Sicht offenbar nur aus der Perspektive der Individuen gerechtfertigt werden, ja, er bedarf, um geschichtlich zur Geltung zu kommen, der Tatkraft des Einzelnen. So unerläßlich „zentrale Werte" auch immer sein mögen, und so sehr es der „An- und Eingliederung der übrigen" bedarf, ist doch gerade der „zentrale Wert [... ] nur durch den persönlichen Eindruck der Forderungen der Wirklichkeit und des eigenen Gewissens zu begründen". 13 Statt vom Gewissen kann Troeltsch auch von der „Persönlichkeit" sprechen. Denn sie treibt erst die Freiheit und die Verantwortlichkeit hervor, mit der die Ethik ihren Anfang nimmt. Die „Objektivität" der Ethik ist „eingewickelt in eine tiefe Subjektivität und begründet auf persönlichen Entschluß". 14 Ohne ihn kommt kein verheißungsvoller geschichtlicher Prozeß in Gang. Der Gemeingeist ist somit nur eine Rand- oder Rahmenbedingung der Überwindung; der für sie wesentliche Impuls hat seinen Ursprung nirgendwo anders als im sich selbst überwindenden Individuum. 24. Individuelle Synthesen. Die vergleichsweise schwache Stellung des Gemeingeistes im Prozeß der Überwindung der Geschichte durch Geschichte mag erklären, warum sich im Schlußabschnitt von Ethik und Geschichtsphilosophie nur reichlich abstrakte Aussagen über seine Unverzichtbarkeit als soziohistorische Kondition finden: „Gemeingeist bleibt Gemeingeist und ohne diesen Überindividualismus ist überhaupt keine starke und gesunde ethische Formung des Lebensstromes möglich." 15 Kaum wird der Gemeingeist angesprochen, ist von der Ethik die Rede. Die Ethik aber ist, wie es auch in diesem Kontext heißt, auf „individualisierende Reifezeiten" und auf eine immer wieder neu einsetzende „Befreiung des Individuums" angewiesen. 16 Troeltsch hebt hervor, daß es unter den modernen Handlungsbedingungen zahlreiche, auch wirkungsmächtige Formationen des Gemeingeistes gibt; er betont deren unvermeidliche Pluralität und nimmt damit ein großes Thema aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorweg. Deshalb wird man wohl von „Gemeingeistern" sprechen dürfen, was auch in-
13 14 15 16
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
68. 73. 81. 80.
Nur das Individuum überwindet die Geschichte
sofern berechtigt ist, als sie unfähig sind, eine konzentrierte Gesamtwirkung zu erzielen. Vom Gemeingeist, in welcher Form auch immer, ist die erhoffte Überwindung der Geschichte aber nicht zu erwarten. Mehr n o c h : Dort, wo eine kollektive Formation die Anderen zu dominieren sucht, droht Gefahr für die gesuchte freie Entwicklung. Eindringlich warnt Troeltsch vor der „monistischen Übertreibung der Idee des Gemeingeistes", für die er hellsichtig den Nationalismus als Beispiel nennt. 1 7 - Woher, so fragt sich, kann dann die Kraft zu einer Überwindung k o m m e n ? Die Antwort ist eindeutig: Sie kann nur durch eine „persönliche und schöpferische Gesinnung der individuellen Synthese" angeleitet werden. Es ist eine Synthese, die mit einem „tiefen Gefühl für ihre innere Notwendigkeit" verbunden ist. Aber wer soll dieses Gefühl erspüren, wenn nicht ein dazu fähiges Individuum? Wie nachdrücklich Troeltsch für die Selbstüberwindung des Individuums plädiert, wird deutlich, wenn er hinzufügt: Man dürfe die individuelle Synthese „nicht als interessantes oder tolerables Spiel persönlicher Stimmung und M e i n u n g " verstehen. Sie darf also nicht beliebig sein. Aber wodurch läßt sich die Beliebigkeit begrenzen? Nur durch das „Verantwortlichkeitsgefühl" des Einzelnen, das in der bewegenden Schlußreflexion mit dem „Mitteilungsdrang einer übergreifenden Liebe" verbunden wird. 18 25. „Es allein transzendiert die Geschichte." Niemand wird behaupten wollen, mit den in der Schlußbetrachtung exponierten Gefühlen der Verantwortung und der Liebe sei die Individualität suspendiert. Im Gegenteil: Sowohl in der eigenständigen wie in der wechselseitigen Verbindlichkeit selbstbewußter Personen wird die Individualität zur „Persönlichkeit" gesteigert. Und nur dadurch, daß sich der Mensch in der als notwendig begriffenen Hingabe an ein überpersönliches Ideal selbst überwindet, kann auch die Geschichte überwunden werden. Man sieht sofort, wie abwegig es wäre, den Vorgang der Selbstüberwindung des Individuums mit der Versicherung zu versehen, das Individuum hebe sich darin keineswegs selber auf. Es ist vielmehr offenkundig, daß sich das Individuum mit seiner Selbstüberwindung als Individuum umso stärker
17
Ebd., S. 8 5 .
18
Ebd., S. 8 7 .
113
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Volker Gerhardt
konturiert und damit vermutlich auch anderen in seiner Unverwechselbarkeit deutlicher vor Augen steht. Nicht anders ist es mit der sich selbst überwindenden Geschichte. Troeltsch proklamiert keineswegs ihr Ende. Er verspricht keine Transformation in einen geschichtsfreien Raum, er beschwört kein Heil am nahen Ende der Zeit und ist auch weit davon entfernt, einen utopischen Abschluß in Aussicht zu stellen. Die philosophische Pointe liegt vielmehr darin, daß er den Menschen mit allem Nachdruck auf die Geschichte verpflichtet. Ihren Konditionen ist nicht zu entkommen, jedenfalls nicht durch ein Handeln, für das sich argumentieren ließe. Jede Besserung ist auf die Kontinuität der Zeit gegründet; jede Entwicklung hat an das Gewesene und Gegebene anzuschließen und ist nur im Anschluß daran voranzutreiben. Also: Die Geschichte läßt sich nur geschichtlich überwinden. 26. Rückkehr zur Natur. Die Verpflichtung des menschlichen Handelns auf die säkularen Bedingungen der geschichtlichen Zeit ist bemerkenswert, nicht nur, weil es sich bei dem Autor um einen Theologen handelt. Denn die Transzendierung der Geschichte in ein Jenseits ihrer Bewegung ist keine theologische Spezialdisziplin, sie wird, wie uns die Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts gezeigt haben, vornehmlich von jenen betrieben, die angeblich ganz auf das Diesseits setzen. Außerdem wird das Theologische von Troeltsch ja keineswegs versteckt: „Die Geschichte", so heißt es, „ist innerhalb ihrer selbst nicht zu transzendieren und kennt keine Erlösung anders als in der Gestalt gläubiger Vorwegnahmen des Jenseits oder verklärender Steigerungen partieller Erlösungen." 19 Aber das Jenseits und die Erlösung fallen aus der Geschichte heraus, und schon deren „Vorwegnahme" und deren „Verklärung" stehen unter den geschichtlichen Konditionen. Hier ist es dann das ernsthaft Verantwortung auf sich nehmende, zur Liebe fähige Individuum, das sich in seiner immer schon geschichtlichen Lebensleistung für ein Anderes der Geschichte öffnen kann: „[...] nicht umsonst stellt die religiöse Idee das Individuum, seine Entscheidung und sein Heil in den Mittelpunkt. Es allein transzendiert die Geschichte [... ]".20 Die Selbstüberwindung hat sich allemal geschichtlich zu bewähren, ehe das Individuum für die Gnade empfänglich ist, als Person über die Geschichte
19 20
Ebd., S. 90. Ebd., S. 48.
Nur das Individuum überwindet die Geschichte
hinaus zu gelangen. Stärker, so meine ich, läßt sich die mögliche Leistung der Individualität nicht artikulieren. Was für die Geschichte gilt, läßt sich auch auf die Natur übertragen. Sie trägt das Verständnis der Geschichte, o h n e auch nur an einem einzigen historischen Zeitpunkt suspendiert zu sein. In der Natur kommt die Bewegung in Gang, die in der Geschichte ihre Fortsetzung findet. In die Natur läuft alle Überwindung der sich in ihr selbst bildenden Widerstände zurück. Das habe ich im systematischen Zugang zum Topos der Überwindung auch deshalb kenntlich zu machen versucht, weil Ernst Troeltsch darauf nicht eingeht. Darin liegt ein Defizit des soziologischen Paradigmas, dem er, in verständlicher Bindung an den Zeitgeist, folgt. Es gibt aber mindestens einen auch von Troeltsch ausgezeichneten individuellen Punkt, an dem eine geschichtliche Bewegung an ihr Ende k o m m t und der Natur vollständig anheim fällt. Dieser Zeitpunkt ist der Tod. Er ist aber nicht das Datum, an dem der individuelle Übergang in die Transzendenz erfolgt! Die „Selbstbestimmung von innen heraus", die überhistorische Einsicht, der Akt des Glaubens und die Taten der Liebe müssen in der Geschichte, „mitten im Leben" wirksam werden. Die Transzendenz kann sich nur in einem M o m e n t des Daseins eröffnen. Deshalb ist der Tod, was immer auch auf ihn folgen mag, nicht jene Wende ins Überzeitliche, auf das sich unsere Hoffnungen richten mögen. Im Zeitpunkt des Todes geschieht nicht mehr und nicht weniger als die Überwindung der Geschichte durch die - Natur: „Nicht das Endstadium der Menschheit auf Erden, sondern der Tod der Individuen ist die Grenze aller Geschichtsphilosophie." 2 1
21
Ernst Troeltsch: Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge, in: ders.: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 2), S. 1 9 9 (entsprechend: S. 1 8 2 ff.). Für den Hinweis auf diese Stelle bin ich Trutz Rendtorff sehr verbunden.
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KARSTEN FISCHER Die protestantische Ethik und der „Geist" des Liberalismus. Zum Problem der Sozial-Moral moderner Gesellschaften bei Ernst Troeltsch* Die hier als Titel gewählte Anspielung auf Max Webers berühmte Studie „Die Protestantische Ethik und der ,Geist' des Kapitalismus" zielt auf die Beobachtung ab, daß Ernst Troeltsch ein sozialethisches beziehungsweise politik-ethisches Interesse an der Rolle der protestantischen Ethik bei der Herausbildung des westlichen Liberalismus hatte, das analog zu Webers wirtschaftsethischem Interesse an den Weltreligionen zu verstehen ist und ebenfalls durch Nietzsches Kulturkritik inspiriert ist. Dies verweist auf die gedankliche Linie zwischen Troeltschs Problematisierung des Historismus sowie der sozial-moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, hinsichtlich derer er seine Idee entwickelt, „Geschichte durch Geschichte überwinden" zu wollen und den sozial-moralisch problematischen, liberalen Individualismus gleichwohl als einzig akzeptable politische Ethik anzuerkennen (1.). Diese Haltung sieht Troeltsch vom Calvinismus vorgezeichnet, der, entgegen der autoritären politischen Ethik des Luthertums, eine Konvergenz mit dem modernen Liberalismus vorsehe (2.). Von hier aus unternimmt Troeltsch eine für das Problem der motivationalen Kraft ethischer Normen sensible Wesensbestimmung der politischen Ethik des Christentums, die sich als komplementär zu dem vielzitierten BöckenfördeTheorem rekonstruieren läßt (3.)· Abschließend wird angedeutet, daß diese, weder von Troeltsch selber systematisch entfaltete oder gar umgesetzte, noch seitdem hinreichend weiterverfolgte, komparatistische Perspektive auf die Weltreligionen im Weber'schen Sinne, allerdings nicht in wirtschaftsethischer, sondern in sozial- beziehungsweise politik-ethischer Hinsicht, eine bedeutsame und aktuelle Forschungsperspektive bietet, mit der sich das interreligiöse Problem des Verhältnisses zwischen Politik und Religion in der Moderne aufarbeiten läßt (4.).
Für wertvolle Hinweise, Diskussionen u n d Kritik d a n k e ich Harald Bluhm, Winfried Schröder u n d - wie immer! - besonders Hans Grünberger, sowie den Diskutanten auf d e m 8. Internationalen Kongreß der Ernst-TroeltschGesellschaft „,Geschichte durch Geschichte überwinden'. Ernst Troeltsch in Berlin" v o m 26.-29. Februar 2004 in Berlin.
Karsten Fischer
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1. „Fluch und Qual der modernen Welt", oder: Ethik in Zeiten der „grenzenlosen historischen Bewegung" Was die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen seinem Denken und demjenigen Max Webers angeht, so hat Troeltsch selber betont, „eine besonders glücklich sich ergänzende Arbeitsgemeinschaft in Heidelberg" habe „eine Anzahl von Gelehrten zu verwandten
wissenschaftlichen
Neigungen und Problemstellungen geführt", die sich „in dem Interesse an soziologischen Problemen" verknüpft hätten; gleichwohl beschäftigten Weber und ihn „sehr verschiedene Gegenstände und sehr verschiedene Erkenntnisziele", und zwar kontrastiere Webers rein wirtschaftsgeschichtliche
Fragestellung
mit
seinen
„wesentlich
religionsgeschichtlichefn]
Untersuchungen". 1 Troeltschs Konzentration auf religionsgeschichtliche anstelle wirtschaftsgeschichtlicher Untersuchungen aus Interesse an soziologischen Problemen ist demnach nicht „begrenzter" als die Perspektive Webers, 2 sondern resultiert, bei ansonsten weitestgehenden
Parallelen
zu Webers Fragestellung, aus einer stärkeren Gewichtung der Bedeutung des Geschichtsdenkens und der politischen Ethik. Wo Weber die Wirtschaftsethik
der Weltreligionen komparativ zu erfassen sucht, um die
Frage zu klären, weshalb sich nur im Okzident der moderne originär entwickelt hat, n i m m t Troeltsch stärker die politische
Kapitalismus Ethik der
Weltreligionen in den Blick, mit der entsprechend naheliegenden, anderen, aber analogen - von ihm nicht explizit gestellten - Frage, weshalb
1
2
Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus, in: Max Weber: Die protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Gütersloh 1987, S. 188-215, hier S. 188 ff. Eine Vielzahl von Studien hat seither diese differenzierende Selbstbeschreibung als zutreffend bestätigt, vgl. vor allem Friedrich Wilhelm Graf: Max Weber und die protestantische Theologie seiner Zeit, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 39 (1987), S. 122-147, hier S. 133 ff.; ders.: Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu „Max Weber und Ernst Troeltsch", in: Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schwentker (Hg.): Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen, Zürich 1988, S. 313-336; Johannes Weiß: Troeltsch, Weber und das Geschichtsbild des Kulturprotestantismus, in: Hans Martin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, S. 230-244. So aber Mark D. Chapman: Polytheism and personality: aspects of the intellectual relationship between Weber and Troeltsch, in: History of the Human Sciences 6 (1993), No. 2, S. 1-33, hier S. 4.
Die protestantische Ethik und der „Geist" des Liberalismus
sich nur im Okzident der moderne Liberalismus originär entwickelt hat. Die Antwort auf diese jeweiligen Fragen finden beide, Weber wie Troeltsch, in den Charakteristika der protestantischen Ethik, insbesondere der calvinistischen Prädestinationsethik, die für Weber eine Entwicklungsbedingung des kapitalistischen „Geistes" ausmacht, während sie Troeltsch als Bedingung für das Arrangement der ursprünglich apolitischen und später autoritativen, christlichen Ethik mit dem neuzeitlichen Liberalismus gilt. Den geistesgeschichtlichen Kontext seines Untersuchungsobjektes identifiziert Weber in der Entzauberung des Weltbildes als Konsequenz „jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen". 3 Troeltsch hingegen problematisiert unter dem Stichwort des Historismus just jenes universalgeschichtliche Bewußtsein, das Webers historischer Soziologie zugrunde liegt, und hieraus resultiert auch die größte Diskrepanz zwischen beiden: Während Weber das heroische Aushalten der freudlosen Existenz im stahlharten Gehäuse4 fordert und keinen akzeptablen Ausweg aus dem Polytheismus der Werte zu konzedieren bereit ist, ist Troeltsch wesentlich konkreter und politischer besorgt über die Folgen des in seinen Augen gleichwohl alternativlosen, modernen Liberalismus; folglich ist er hinsichtlich der anhaltenden Bedeutung der Religion in der modernen Gesellschaft wesentlich positiver eingestellt als Weber.
3
4
Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Wissenschaft als Beruf: 1917/1919. Politik als Beruf: 1919, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod (Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, Band 1/17), Tübingen 1994, S. 9. Vgl. zur Aufnahme dieser berühmten Formel Ernst Troeltsch: Privatmoral und Staatsmoral, in: Die neue Rundschau 23 (1916), S. 145-169, hier S. 169: „Das humane, internationale, mit Wissenschaft und Kunst gesättigte, zugleich kapitalistische und freihändlerische Zeitalter ist im Schwinden begriffen. Ein hartes, eisernes, die Völker in sich selber vor allem zusammenschließendes, ihre Kulturunterschiede stark betonendes Zeitalter zieht für die nächste Zeit herauf."
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Typologisch läßt sich diese Differenz zwischen Weber und Troeltsch folgendermaßen rubrizieren: Troeltsch
Autor
Weber
Forschungsobjekt
Wirtschaftsethik Weltreligionen
Fragestellung
Weshalb hat sich nur im Okzident der moderne Kapitalismus originär entwickelt?
Weshalb hat sich nur im Okzident der moderne Liberalismus originär entwickelt?
Antwort
Aufgrund der protestantischen Ethik, insbesondere der calvinistischen Prädestinationslehre
Aufgrund der protestantischen Ethik, insbesondere der calvinistischen Ethik
Geistesgeschichtliche Bedingung Problematik
,,Entzauberung"
Historismus
„Stahlhartes Gehäuse"
„Richtungslose ranz"
der
Politische Ethik Weltreligionen
der
Tole-
Unbenommen ihrer Diskrepanz in puncto Webers negativem Bekenntnis, religiös unmusikalisch zu sein, und ihrer entsprechend unterschiedlichen zeitdiagnostischen Vorstellungen, haben Troeltschs und Webers Positionen interessanterweise gleichwohl eine gemeinsame Referenz, und zwar Friedrich Nietzsche. 5 Ihm, dem sich Webers ansatzweise Einsicht in die
5
Vgl. zu Weber die hervorragende Rekonstruktion von dessen Fragestellung durch Hartmann Tyrell: Worum geht es in der „Protestantischen Ethik"? Ein Versuch zum besseren Verständnis Max Webers, in: Saeculum 41 (1990), S. 130-177; und zu Troeltschs Beziehung zu Nietzsche Ingeborg Schüssler: Troeltsch et Nietzsche. Reflexions critiques concernant l'image de Nietzsche chez Troeltsch, in: Pierre Gisel (Hg.): Histoire et theologie chez Ernst Troeltsch, Geneve 1992, S. 101-122; sowie Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus" (TroeltschStudien, Band 11), Gütersloh 2000, S. 2 3 - 6 4 . Besonders aufschlußreich ist Troeltschs Bezugnahme auf Nietzsche in: Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes (einziges) Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 3), Tübingen 1922, ND Aalen 1977, S. 139 f., hier S. 495 ff.
Die protestantische Ethik und der „Geist" des Liberalismus
Dialektik der Rationalisierung verdankt, 6 folgt Troeltsch in der n o c h entschieden radikaleren Hinsicht, jenes historisch-kritische Bewußtsein der Moderne, das Weber nicht in Frage gestellt, sondern zur Grundlage seines Forschungsprogramms gemacht hatte, auf seine sozial-moralischen Kosten hin zu befragen. „Das ungeheure historische Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur [ . . . ] , die durch alles, was sie verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung sich die kräftigste, heilsamste Nahrung in,Historie und Kritik' zu verwandeln pflegt", 7 wird für Troeltsch zum von Nietzsche aufgeworfenen Zentralproblem. Anders als Nietzsche hält Troeltsch allerdings daran fest, daß die Ethik jene von Nietzsche nur m e h r als Verlustanzeige apostrophierte, „kräftigste, heilsamste Nahrung" darstelle. So problematisiert Troeltsch zwar, daß „die Historie [ . . . ] eine Auseinandersetzung mit der Idee eines bleibenden und maßgebenden Systems der Werte" verlange, „das doch gerade von diesem Strom unterwaschen und zerfetzt zu werden schien". 8 Dies irritiert ihn jedoch nicht darin, als „die große Frage" aufzuwerfen, welches „Rolle und Bedeutung des Systems der Ethik für die große Aufgabe einer Bewältigung und Begrenzung der an sich grenzenlosen historischen Bewegung" sei. 9 Wo Weber die universalhistorische Forschungsperspektive von einer Nietzscheanischen Fundamentalkritik ausgenommen hat, versucht Troeltsch mithin Gleiches für die Ethik, die er nicht im Nietzscheschen Sinne genealogisch sezieren, sondern mit ihrer Historizität versöhnen m ö c h t e . 1 0 Mit dieser „Vermittlung von Geschich-
6
Vgl. Karsten Fischer: „Verwilderte Selbsterhaltung". Zivilisationstheoretische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud, Weber u n d Adorno, Berlin 1 9 9 9 ; ders.: Ein Geruch v o n Grausamkeit. Nietzsche als Avantgardist der Rationalisierungskritik, in: Neue Rundschau 111 ( 2 0 0 0 ) , H. 1, S. 5 8 - 7 6 .
7
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v o n Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 1: Die Geburt der Tragödie, 2. Aufl., M ü n c h e n 1988, S. 1 4 5 f.
8
Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung. Fünf Vorträge, eingeleitet v o n Friedrich von Hügel, Berlin 1 9 2 4 , ND Aalen 1 9 7 9 , S. 3. Ebd. Nur aufgrund dieser Relativierung des Nietzscheschen Kritizismus kann Troeltsch auch umstandslos feststellen, „von sich allein" zwinge „das historische Denken in keiner Weise zu diesem Nihilismus", was ihn zu folgender, seltsamer Aussicht bringt: „Wie der Mensch biologisch zur festen Art geworden ist, so wird auch sein geistiges Wesen in den prinzipiellen Grundzügen offenbar geworden und kein bisher ungeahnter Uebermensch irgendwelcher Art zu erwarten sein." Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums u n d
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te und Normativität" 1 1 sind die Probleme des Historismus einerseits und der sozial-moralischen Grundlagen der modernen, liberalen Gesellschaft andererseits gleichsam ineinander geschoben, so daß Troeltschs Anliegen, „Geschichte durch Geschichte überwinden" zu wollen, nicht nur an Horkheimers und Adornos Vorsatz gemahnt, angesichts der Selbstzerstörung der Aufklärung am aufklärenden Denken festhalten zu wollen, 1 2 sondern die Denkfigur dafür zur Verfügung stellt, den liberalen Individualismus gleichermaßen als Quelle wie als die unter den Bedingungen der Moderne einzig angemessene Lösung ihrer sozial-moralischen Probleme darstellen zu können. Welch weitreichende Erwartungen Troeltsch hinsichtlich der Vermittlung von Geschichte und Normativität hegt, zeigt sich schon an seiner Bemerkung, als Soziologe verzichte Weber „gerade auf die Konstruktion eines universalhistorischen Sinnzusammenhangs", und „die Ursachen jenes Versiegens der Universalgeschichte" seien „die Erschütterungen der Wertideen, der Idee eines religiösen oder ethischen Gesamtziels, die ganze Auflösung der europäischen Humanitätsidee". 1 3 Umfassender kann eine Krisendiagnose kaum ausfallen - Troeltsch sieht die gesamte „moderne okziden-
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13
die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 5) (im folgenden: KGA 5), Berlin, New York 1998, S. 174 f. Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch: Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Josef Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit IV, Göttingen 1986, S. 128-164, hier S. 132. Vgl. zur „Dialektik der Aufklärung" bei Troeltsch Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch: Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht (wie Anm. 11), S. 137; dies.: Religiöser Historismus. Ernst Troeltsch (18651923), in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Band 2: Kaiserreich, Gütersloh 1993, S. 295-335, hier S. 314; Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologie als Kulturwissenschaft des Historismus, in: Peter Neuner, Gunther Wenz (Hg.): Theologen des 20. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 2002, S. 53-69, hier S. 66. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 5), S. 653 f.; Gangolf Hübinger: Harnack, Rade und Troeltsch. Wissenschaft und politische Ethik, in: Kurt Nowak, Otto Gerhard Oexle (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, S. 85-102, hier S. 101, beschreibt dies mit der treffenden Formulierung, für Troeltsch dramatisiere sich die „Zirkulär!tät von Geschichte und Ethik".
Die protestantische Ethik und der „ G e i s t " des Liberalismus
tale Kultur durch eine ethische Steuerungskrise bedroht", 14 und solchermaßen ist die Krise des Historismus für ihn gleichbedeutend mit der „Krise der religiösen Integrationsfähigkeit einer modernen Zivilgesellschaft", insofern diese dem „Relativismus moderner Weltanschauung, wie ihn namentlich Max Webers Wissenschaftslehre befördere", anheimfalle. 15 Diese Kulturkrise äußert sich für Troeltsch in „lässigem Liberalismus und richtungsloser Toleranz";16 „daß sie nur nebeneinander spielende individuelle Lösungen, keinen Gemeingeist, keine Autorität, keine Tradition, keine überpersönliche Realität der geistigen Richtkräfte kennt", 17 sei demnach „Fluch und Qual der modernen Welt", denn ohne gemeinsinnigen „Überindividualismus" sei „überhaupt keine starke und gesunde ethische Formung des Lebensstromes möglich". 18 Ganz bewußt verortet Troeltsch diese Problematik allerdings im „Wesen der modernen Kultur", das gekennzeichnet sei durch die ubiquitäre „Bekämpfung der kirchlichen Kultur und deren Ersetzung durch autonom erzeugte Kulturideen, deren Geltung aus ihrer überzeugenden Kraft, aus ihrer immanenten und unmittelbar wirkenden Eindrucksfähigkeit folgt." 19 Hiermit folgt er ganz offensichtlich Hegels Bestimmung der Moderne, deren Prinzip laut des Zusatzes zu § 317 der Rechtsphilosophie fordert, „daß, was jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige"; außerdem wolle noch „jeder mitgesprochen und mitgeraten haben", so daß sich jedwede autoritative Normgeltung fortan verbietet. Diesem Verständnis folgt Troeltsch auch durchaus nicht bloß notgedrungen, sondern er erkennt, daß es sich hierbei um die Basis für jenes „große Prinzip der politischen Freiheit" handelt, „das die atlantischen Völker oder die Westmächte im Zusammenhang mit einer voranschreitenden politischen und
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Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Kulturgeschichte des Christentums, in: Notker Hammerstein (Hg.): Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Wiesbaden 1988, S. 130-152, hier S. 133. Gangolf Hübinger: Einleitung, in: Ernst Troeltsch: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 15) (im folgenden: KGA 15), Berlin, New York 2002, S. 1-42, hier S. 34). Vgl. Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus, in: KGA 15, S. 437-455. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 8), S. 47. Ebd., S. 45. Ebd., S. 51 f. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München, Berlin 1911, S. 12.
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wirtschaftlichen Entwicklung zuerst ausgebildet haben", mithin „um eine der größten und durchgreifendsten Errungenschaften der modernen Welt, die sowohl dem Individuum gegenüber dem Staate eine unantastbare Sphäre persönlicher Rechte sichert, als die Staatsgewalt selber aus den vereinigten Individuen hervorgehen läßt, so daß die Völker als ihre eigenen Selbstherrscher erscheinen." 2 0 Diese Einsicht in das demokratische Paradox der Henschaft des Volkes über sich selbst (Niklas Luhmann) legt es dann nahe, auch angesichts der Gefahr einer „geistigen Anarchie" keinen einfachen oder gar dogmatischen Lösungsversprechen zu folgen, sondern sich auf die Entfaltung der Paradoxie einzulassen, daß ein der sozial-moralischen Problematik angemessener Individualitätsbegriff „ein anderer sein" müsse „als der des durchschnittlichen Liberalismus", diese Lösung aber von
20
Ernst Troeltsch: Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1925, ND Aalen 1966, S. 81. Wenn Troeltsch ebd., S. 102, feststellt, „der deutsche Staatsgedanke und der deutsche Bildungsindividualismus" seien „zum guten Teil Verweltlichungen der kirchlich-religiösen Idee, ihre Übertragung auf Staat und Bildung, ihre Einschmelzung und Auflösung in die moderne politische und geistige Entwicklung Deutschlands", so ist dies eine um so interessantere Vorwegnahme der berühmten Säkularisierungsthese aus Carl Schmitts „Politischer Theologie", als sie, anders als bei Schmitt, einen westlich-liberaldemokratischen Tenor hat. Zu Troeltschs Liberalismus und seinem historischen Kontext vgl. Gustav Schmidt: Deutscher Historismus und der Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Untersuchungen zu den politischen Gedanken von Meinecke, Troeltsch, Max Weber, Lübeck, Hamburg 1964, S. 184 ff.; Hans-Joachim Dahms: Politischer und religiöser Liberalismus. Bemerkungen zu ihrem Verhältnis im Wilhelminischen Kaiserreich am Beispiel der „Religionsgeschichtlichen Schule", in: Gerd Lüdemann (Hg.): Die „Religionsgeschichtliche Schule". Facetten eines theologischen Umbruchs, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 225-242; und vor allem Gangolf Hübinger: Liberalismus und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich, in: Richard Faber (Hg.): Liberalismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2000, S. 115-129, hier S. 125, der „die für die Gründungsgeschichte der Weimarer Republik verhängnisvolle Asymmetrie" betont, „die darin bestand, daß der Liberalismus substantiell auf den Protestantismus angewiesen" war, „der Protestantismus seinerseits aber nicht auf den Liberalismus". Diese Verbindung habe Ernst Troeltsch „kulturgeschichtlich neu zu begründen und politisch neu zu beleben versucht". Vgl. auch das treffende Bild von der kulturellen Versäulung der wilhelminischen Gesellschaft bei Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, S. 303 ff.
Die protestantische Ethik und der „Geist" des Liberalismus
jenem „Individualitätsbegriff aus gefunden werden" müsse,21 der sich dem modernen Liberalismus verdankt. Dieses paradoxe Projekt politischer Ethik verweist Troeltsch nun mit gleicher Stringenz auf den Calvinismus, wie es Max Weber mit seiner wirtschaftsethischen Fragestellung widerfahren war. 2. Luthertum, Calvinismus und moderner Liberalismus Den Nachweis der historischen Verbindungen und systematischen Vereinbarkeit zwischen Calvinismus und modernem Liberalismus führt Troeltsch in kontrastiver Abgrenzung vom Luthertum, das für ihn „einen Typus politischer Passivität und agrarisch-konservativer Gesellschaftsauffassung erzeugt, der heute noch in der Gestaltung der deutsch-preußischen Dinge sehr fühlbar sei." 22 Dieses lutherische Konkubinat von Thron und Altar (Hans Grünberger) sei nämlich zu einer patriarchalischen „Stütze der konservativ-aristokratischen, rechtspositivistischen und gewaltgläubigen Lebensordnung" in Deutschland geworden.23 Daher bejahe das Luthertum „mit seiner antidemokratisch-absolutistischen Staatsgesinnung, seiner Nichtresistenz und Gehorsamsverklärung, seiner wirtschaftlichtraditionalistischen Haltung und seiner Verherrlichung des gegebenen Systems ständischer Berufsgliederungen" an den „modernen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen [... ] nur die Herausbildung der absolutistischen Staatsallmacht".24 Dementgegen sei der Calvinismus „viel aktiver und aggressiver, aber auch viel planmäßiger und weltklüger"25 und habe die „freiheitlichsozialreformerischen" Elemente der christlichen Ethik „in den Vordergrund gestellt", wodurch er „zu einer christlichen Akzentuierung des demokratisch-liberalen Gedankens geworden" sei und die „Tugenden der Selbständigkeit, Freiheit, Menschenliebe, christlichen Weltverbesserung" 21 22 23
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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 8), S. 45. Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus (wie Anm. 1), S. 200. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 1. Band), Tübingen 1912, S. 791. Vgl. zum Staatsbegriff des Luthertums ebd., S. 560 ff. Ernst Troeltsch: Calvinismus und Luthertum, in: ders.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. von Hans Baron (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 4. Band), Tübingen 1925, S. 2 5 4 - 2 6 1 , hier S. 255. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (wie Anm. 19), S. 38.
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entfaltet habe. 2 6 Der Calvinismus habe sich, so Troeltsch,
regelrecht
„mit der politisch-liberal-demokratischen und der modern bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft innerlich verschmolzen", 2 7 weil er „von seinen Ideen aus die Möglichkeit" gehabt habe, „auf die großen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der westlichen Welt einzugehen, die demokratischen, modern-staatsrechtlich-politischen und die modernen wirtschaftlich-fortschrittlichen Prinzipien sich anzueignen". 2 8 So habe der Calvinismus nicht nur in ideengeschichtlicher Hinsicht „der Staatsidee des älteren Liberalismus vorgearbeitet", indem er „dem Staat wesentlich nur die Rolle des Wächters über Sicherheit und Disziplin gelassen" habe. 2 9 Darüber hinaus entfalte der Calvinismus systematisch „das Ideal einer christlichen modernen Gesellschaft, in welcher politischer Liberalismus, freie wirtschaftliche Erwerbsentwicklung, relative Selbständigkeit der rein politischen Machtinteressen zugleich doch mit dem Aufbau einer strengen christlich-ethischen Gemeinschaft auf den Prinzipien der Glaubensfreiheit der Kirchen, mit der strengsten Einigung der Gemeinde in christlicher Sittenzucht und mit der agitatorischen Einwirkung auf die öffentliche politische und soziale Meinung zusammengehen". 3 0 Ganz offensichtlich zielt Troeltsch mit diesen Ausführungen nicht nur darauf ab, analog zu Weber, den Beitrag des calvinistischen Protestantismus „an der Hervorbringung der modernen Welt" nachzuweisen. 3 1 Diesbezüglich ist er mitnichten deterministisch, vielmehr „auffällig zurückhaltend" 3 2
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Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (wie Anm. 23), S. 790 ff. Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus (wie Anm. 1), S. 200. Ernst Troeltsch: Calvinismus und Luthertum (wie Anm. 24), S. 255. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (wie Anm. 19), S. 56. Ernst Troeltsch: Calvinismus und Luthertum (wie Anm. 24), S. 255, mit Verweis auf den „holländischen Exminister Kuyper", was eine ähnliche Konzentration auf eine apokryphe Referenz darstellt wie Webers Bezugnahme auf Benjamin Franklin; vgl. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (wie Anm. 19), S. 56. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (wie Anm. 19), S. 23; vgl. ebd., S. 69, die Bemerkung, dieser Nachweis sei Weber „vollständig gelungen". Johannes Weiß: Troeltsch, Weber und das Geschichtsbild des Kulturprotestantismus (wie Anm. 1), S. 238. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (wie Anm. 23), S. 729 f., mit dem Hinweis auf den
Die protestantische Ethik u n d der „ G e i s t " des Liberalismus
und betont, die moderne Demokratie sei nicht aus dem Calvinismus hervorgegangen, sondern dieser habe sich „als mit ihr wahlverwandt empfinden [...] und ohne jeden Schaden an seiner religiösen Idee auf sie eingehen" können. 33 Weitaus stärker als sein ideengeschichtliches Interesse ist Troeltschs Anliegen, den Calvinismus als Idealtypus der Vereinbarkeit von christlicher Ethik und politischem Liberalismus vorzuführen. 34 Insofern er als neuralgischen Punkt des gleichwohl alternativlosen modernen Liberalismus dessen fehlende Sensibilität gegenüber der sozial-moralischen Ressource des Gemeingeistes konstatiert hatte, bedarf es freilich eines weiteren Schrittes, in dem Troeltsch zu zeigen hat, wie das Verhältnis von christlicher und politischer Ethik zu verstehen ist, wenn man ihm einen Beitrag zur Sicherstellung der Motivation zu moralischem Verhalten abgewinnen möchte. 3. Die „Temperatur der politischen Gesinnung" und die „Motivationskraft des Sittlichen"
Fragt man nach dem möglichen Nutzen des christlichen Ethos für die Reproduktion der unter den Bedingungen des modernen Liberalismus unkalkulierbaren sozial-moralischen Orientierung, zumal im Bereich der politischen Ethik, so macht man ein funktionalistisches, sozialtechnologisches Religionsverständnis geltend, das unter dem Begriff der Zivilreligion Prominenz erlangt hat, unter Theologen jedoch zumeist als reduktionistisch
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nicht mit demokratischer Verfaßtheit kompatiblen, jeweiligen Doppelcharakter des Calvinismus als Bekenntnis- und Volkskirche und in der Vereinigung des Sekten- und des Kirchenideals; zum Luthertum vgl. ebd., S. 461 ff. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (wie Anm. 23), S. 702 f. Vgl. Luise Schorn-Schütte: Ernst Troeltschs „Soziallehren" und die gegenwärtige Frühneuzeitforschung. Zur Diskussion um die Bedeutung von Luthertum und Calvinismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Friedrich Wilhelm Graf, Trutz Rendtorff (Hg.): Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation (Troeltsch-Studien, Band 6), Gütersloh 1993, S. 133-151, hier S. 135, die betont, es sei gerade Troeltschs kirchlicher wie politischer Liberalismus gewesen, „der sein historisches Erkenntnisinteresse an den frühneuzeitlichen Ursprüngen von Luthertum und Calvinismus bestimmte, aus dem heraus er vor allem die konservativen Züge des Luthertums betonte". Zur Kritik an der Kontrastierung zwischen demokratischem Calvinismus und autoritärem Luthertum vgl. ebd., S. 145.
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beargwöhnt wird. Troeltsch hingegen leistet eine ingeniöse Verbindung zwischen der Reklamation religiösen Eigenwertes und der Betonung des sozial-moralischen Mehrwertes religiöser Orientierung, indem er eine prinzipielle Apolitizität des Christentums betont, das erst infolge der historisch evident gewordenen Notwendigkeit, auch die irdische Ordnung nach Maßgabe der „moralischen Humanitätsidee" zu gestalten, überhaupt politisiert werde. Mithin wird die Religion nicht funktionalistisch reduziert, sondern ihre soziale Funktion wird als identisch mit ihrem Weltbezug überhaupt interpretiert, der sich wiederum nach der religiösen Heilserwartung und Wirklichkeitsdeutung bemißt. Demnach kann das Christentum laut Troeltsch zunächst „seinem ganzen Sinn und Wesen nach keine direkte politische Ethik haben. Es hat von Hause aus überhaupt keine politischen Gedanken. Es bezieht sich mit seinen sittlichen Geboten zunächst rein auf die Sphäre der Privatmoral,"35 denn „in der Erwartung des baldigen Weltendes und des kommenden Gottesreiches" verblassen ursprünglich alle weltlichen Belange.36 Läßt die Apokalypse auf sich warten, erlangen indessen die irdischen Angelegenheiten gleichermaßen α posteriori wie α fortiori Relevanz: Das Christentum wird vor die „politischen und sozialen Aufgaben einer dauernden Welt gestellt" und muß „mit der Dauer dieser Welt auch die Notwendigkeit anerkennen [...], ihre Ordnungen und Bildungen vom christlichen Geiste aus zu beeinflussen". 37 Das Sittliche versteht sich nun nicht mehr einfach von selbst;38 vielmehr wird die Parusieverschiebung gleichsam zur Quelle christlicher Sozialethik, welche von vornherein auf ihre praktische Wirkung in politicis gerichtet ist: 35
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Ernst Troeltsch: Politische Ethik und Christentum, Göttingen 1904, S. 23; vgl. Ernst Troeltsch: Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft, in: Die Verhandlungen des fünfzehnten Evangelisch-sozialen Kongresses abgehalten in Breslau am 25. und 26. Mai 1904, Göttingen 1904, S. 11-40, hier S. 26. Ernst Troeltsch: Politische Ethik und Christentum (wie Anm. 35), S. 32. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (wie Anm. 23), S. 34 ff., S. 326: „Das Christentum braucht die Welt nicht umzugestalten; Gott regiert sie vielmehr so, daß sie der Kirche entgegen wächst." Ernst Troeltsch: Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft (wie Anm. 35), S. 32 f. Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 2), Tübingen 1913, S. 552-672, hier S. 89.
Die protestantische Ethik und der „Geist" des Liberalismus
„Die politische Ethik des Christentums ist daher die Wirkung seines Ideals auf den Staat, der aus dem natürlichen Fluß und Kampf des Lebens entstanden ist und seine eigene politisch-sittliche Idee hervorgebracht hat, der aber nun unter den Einfluß der christlichen Idee gerät und unter diesem Einfluß in seinem innersten Gefüge bestimmt wird. Die christliche Idee ergreift sowohl die Auffassung von der Bildung der Staatsgewalt als die Auffassung vom Staatszweck. Sie erkennt den Staat an als eine der notwendigen natürlichen Lebensformen, die kraft der politischen Idee das Gefäß und die Voraussetzung für alles höhere Leben formt. Aber als Religion der Persönlichkeit und als Religion der Fügung in die Ordnungen Gottes flößt sie den politisch-sittlichen Ideen einen neuen Blutstropfen ein, die unbedingte Schätzung der Persönlichkeit und die pietätvolle Selbstbescheidung."39 Troeltsch zufolge kann man also nicht von einer christlichen politischen Ethik sprechen, sondern nur von einem „Beitrag der christlichen Ethik zur politischen Ethik", denn die christliche Ethik stehe „über dem Staat", und lasse ihm sittliche Gedanken zufließen". 40 Um so unverzichtbarer sei aber dieser Beitrag, der sich „auf die ganze Temperatur der politischen Gesinnung selbst bezieht". 41 Hiermit ist nun Troeltschs Interesse an dem nicht nur ideengeschichtlichen, sondern zukunftsträchtigen Einfluß protestantischer Ethik auf den „Geist" des Liberalismus pointiert. In eigentümlicher Anspielung sowohl auf Marxsche Terminologie als auch auf Max Webers Fassung des Verhältnisses zwischen Ideen und Interessen 42 stellt er fest, neben Machtinstinkt und wirtschaftlichen Interessen trügen auch „Ideenmächte" und sittliche Vorstellungen zur Staatserhaltung bei, indem sie „auf dem massiven Unterbau der elementaren Instinkte und Bedürfnisse" einsetzten und darüber einen „Oberbau" errichteten, „der in letzter Linie selbst erst die feste Klam-
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Ernst Troeltsch: Politische Ethik und Christentum (wie A n m . 35), S. 3 6 .
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Ernst Troeltsch: Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft (wie Anm. 35), S. 35. Ebd., S. 3 7 . Vgl. M. Rainer Lepsius: Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber, in: Friedhelm Neidhardt, M. Rainer Lepsius, J o h a n n e s Weiß (Hg.): Kultur und Gesellschaft (KZfSS, Sonderheft 27), Opladen 1 9 8 6 , S. 2 0 - 3 1 .
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mer um den Unterbau schlingt" und ihn davor schütze, „von denselben Instinkten zerrissen zu werden, die ihn gebaut haben". 4 3 Demzufolge ist es nicht die geltungstheoretische Begründung sittlicher Normen, die Troeltsch unter den Bedingungen des modernen Liberalismus Sorge bereitet, n o c h nicht einmal „die tatsächliche Verbreitung oder Nichtverbreitung" jener „allgemeinen Moralität", von der er unverdrossen sprechen zu können glaubt - als „das eigentliche Problem" stellt sich ihm vielmehr „die Frage nach ihrer realen Durchführbarkeit" 4 4 und also nach der „Motivationskraft des Sittlichen", die nur durch Gottesglauben überhaupt hinreichend verbürgt sei, 45 auch in dieser Vermittlung jedoch unzulänglich sei, da man „für die allgemeinste Gemeinschaft, die Menschheitsgemeinschaft, nur gegenseitiges Verständnis und Toleranz und ein Gefühl letzter menschlicher Verbundenheit ohne sehr bestimmten Inhalt fordern" dürfe, ein echtes „Solidaritätsgefühl" hingegen „der engeren Verwandtschaft" vorbehalten bleibe. 4 6 Will sie nicht der Ohnmacht
bloßen
Sollens
(Hegel)
anheimfallen, bedarf also auch die christliche Ethik, sofern sie ihren Beitrag zur politischen Ethik leisten will, des Überforderungs-Checks begründeter
Ansprüche
auf die knappe Ressource Gemeinsinn
moralisch
*7 Konkret be-
deutet dies für Troeltsch, daß das christliche Ethos „für sich allein nicht leben und genügen" kann „in einer dauernden Welt" und die Gestaltung der erforderlichen Ergänzung also zu den „Aufgaben einer neuen christli-
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Ernst Troeltsch: Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft (wie Anm. 35), S. 16. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 8), S. 17. Ernst Troeltsch: Atheistische Ethik, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 2), Tübingen 1913, S. 525-551, hier S. 535. Vgl. zur Unterscheidung zwischen der geltungstheoretischen und der motivationalen Ebene normativer Fragen am Beispiel der Diskursethik Karsten Fischer, Raimund Ottow: Das „Godesberg" der Kritischen Theorie. Theorie und Politik im Generationenwechsel von Horkheimer/Adorno zu Habermas, in: Politische Vierteljahresschrift 43 (2002), S. 5 0 8 523 und S. 653-669, hier S. 660 ff. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 8), S. 55, vgl. ebd., S. 52. Alfred Gierer: Biologie, Menschenbild und die knappe Ressource „Gemeinsinn", in: Herfried Münkler, Harald Bluhm (Hg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Zwischen Normativität und Faktizität, Berlin 2002, S. 19-36, hier S. 33 ff.
Die protestantische Ethik und der „Geist" des Liberalismus
chen Ethik" gehöre. 4 8 Kommen soll diese Ergänzung von dem Staat, der, im Kontrast zu Troeltschs Betonung der ursprünglichen Situierung christlicher Ethik in reiner Privatmoral und offenkundig hegelianisierend, charakterisiert wird als „überindividuelle sittliche Willeneinheit, die für das Handeln der Privatmoral die innewohnende Voraussetzung, für den Einzelwillen eine sittliche Aufgabe und ein sittliches Gut ist". 4 9 Religion und Politik, Kirche und Staat sind mithin untrennbar aufeinander verwiesen. Es ist „das Verhältnis zweier Souveränitäten, die sich nicht entbehren und doch auch nicht ertragen können" und damit „in seinem Wesen irrational"; jeder Versuch ihrer Trennung würde „die Probleme nur auf einen neuen Boden hinüberschieben, nicht lösen". 5 0 So wenig die weltliche Macht der religiös motivierten Humanitätsmoral entraten kann, so wenig Aussicht hat „die christliche Idee", ihren „sehr idealistischen ethischen Forderungen" staatsfern Wirkung zu verschaffen. 51 Diese Überlegung erhält eine interessante Pointe, wenn man sie mit Troeltschs Formel zusammendenkt, das Christentum sei „demokratisch und konservativ zugleich". 5 2 Denn auf den ersten Blick ist dies überraschend, und zwar sowohl angesichts Troeltschs Parteinahme für den liberalen Calvinismus und gegen das konservative Luthertum, wie auch insbesondere angesichts seiner Betonung, das Christentum kenne keine originäre politische Ethik. Wie also soll es legitimerweise, das heißt ohne auf die pagane Funktion einer Zivilreligion reduziert zu werden, mit solch fundamental politischen Kategorien vereinbar sein?
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Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (wie Anm. 23), S. 975. Ernst Troeltsch: Privatmoral und Staatsmoral (wie Anm. 4), S. 158. Vgl. zum Hegelianismus solch eines Staatsverständnisses Karsten Fischer: Die Tugend, das Interesse und der Weltlauf. Hegel jenseits des Etatismus, in: Politisches Denken. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens, 2002, S. 111-127. Ernst Troeltsch: Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten, Heidelberg 1906, S. 35. Ernst Troeltsch: Religion, Wirtschaft und Gesellschaft, in: ders.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. von Hans Baron (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 4. Band), Tübingen 1925, S. 2 1 - 3 3 , hier S. 31 f. Ernst Troeltsch: Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft (wie Anm. 35), S. 37.
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Eine widerspruchsfreie Lösung erscheint denkbar, wenn man Troeltschs Ansatz als komplementär zu dem vielzitierten Böckenförde-Theorem rekonstruiert, das dann zu lauten hätte: Die christliche Ethik lebt von Voraussetzungen, die sie nicht selber garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das sie, um der Immanenz willen, eingegangen ist. Als weltzugewandte Ethik kann sie einerseits nur bestehen, wenn sie die Ergänzung durch die Staatsmoral sucht. Andererseits kann sie diese weltlichen Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit Mitteln der Glaubenslehre, zu garantieren suchen, ohne ihre Transzendenz aufzugeben und zivilreligiösfunktionalistisch zu regredieren.53 Dies bedeutet, daß die auf politische Belange gerichtete christliche Ethik ihre religiösen Kategorien einer tiefgreifenden Politisierung zu unterziehen hätte, um nicht umgekehrt einer Politisierung ihrer weltflüchtig-heilsgeschichtlichen Perspektive zu unterliegen. Solche ,,ethisch-politische[n] Prinzipien, die in das innere Gefüge der staatlichen Institutionen eingedrungen sind und die es nach politischen und doch zugleich ethischen Idealen beurteilen und gestalten lehren, die daher dem Staat, ob groß oder klein, einen inneren ethischen Wert geben, sind nur die Demokratie und der Konservatismus".54 Demokratisch bedeutet dabei, „in immer weiterem Umfang Versittlichung, Verselbständigung und geistigen Gehalt der Persönlichkeit" zu fordern „und diese Persönlichkeit in der Bildung der Staatsgewalt zur Wirkung kommen" zu lassen; konservativ hingegen bedeutet, „die Autorität in ihrer Begründung durch sittliche Überlegenheit und durch politische Machtverhältnisse" anzuerkennen „und die Beugung unter die Autorität als Quelle sittlicher Kräfte" zu verste53
54
Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 60 f.: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und - auf säkularisierter Ebene - in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat." Ernst Troeltsch: Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft (wie Anm. 35), S. 19.
Die protestantische Ethik und der „Geist" des Liberalismus
hen. Und als einziges Kriterium für die Wahl zwischen beiden politischen Prinzipien und für die Klärung der Frage, „wie beide Tendenzen jedesmal auszugleichen sind", nennt Troeltsch wiederum ein radikal politisches,
und zwar die jeweilige Lage und ihre Umstände.55
Wenn Troeltsch im Jahr 1916 formuliert, man könne „mit einer Veränderung des Wortes des Apostels Paulus sagen [ . . . ] : Nun aber bleiben diese drei: Privatmoral, Staatsmoral, Völkergemeinschaftsmoral; aber die Staatsmoral ist für die Gegenwart das Größte unter ihnen" 5 6 , so muß dies mithin nicht als bloße etatistisch-nationalistische Konzession an den Weltkriegskontext erklärt werden. Vielmehr erscheint dieser Satz als Konsequenz sowohl aus Troeltschs Einsicht in die universalistische Entwürfe betreffende Ohnmacht bloßen Sollens, wie auch aus seiner kompromißlosen Kunst der Trennung zwischen den in sozial-moralischer Hinsicht gleichwohl zur Zusammenarbeit verpflichteten, sozialen Funktionssystemen Religion und Politik.
4. Politik-ethische Perspektiven der „Religionsvergleichung" Mit dieser Deutung von Troeltschs politik-ethischer Fragestellung läßt sich nun auch der Kreis zu der eingangs heuristisch behaupteten Parallele zwischen Max Webers komparativem Projekt einer Wirtschaftsethik der Weltreligionen und der entsprechenden, wenn auch nicht ausgearbeiteten Perspektive bei Troeltsch systematisierend schließen. Troeltschs Strategie zur Handhabung der sozial-moralischen Motivationsproblematik im allgemeinen und der desintegrativen Tendenzen des modernen Liberalismus im besonderen ist nämlich bis hierhin die Plausibilisierung schuldig geblieben, daß dem Christentum in der Moderne überhaupt noch ein privilegierter Anspruch auf sozialethische Kompetenz zukommt. Dieser Nachweis soll nun mit einem komparatistischen Blick auf die Weltreligionen unter Einbeziehung ihrer kulturellen Kontexte indirekt geführt werden, 57 getreu Troeltschs erster Promotionsthese von der Theolo-
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Ebd., S. 37. Ernst Troeltsch: Privatmoral und Staatsmoral (wie Anm. 4), S. 169. Vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 8), S. 78 f.; Wolfgang Stegemann: Zur Deutung des Urchristentums in den „Soziallehren", in: Ernst Troeltschs Soziallehren (wie Anm. 34), S. 5 1 - 7 9 , hier S. 72, betont treffend, „ohne einen umfassenden Kulturvergleich" lasse sich „auch
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gie „als Bestimmung des Inhalts der christlichen Religion durch Vergleichung mit den wenigen großen Religionen, die wir genauer kennen". 5 8 An die Stelle des „dogmatischen Werturteils" tritt somit der „wertende historische Religionsvergleich",59 und Troeltsch wird schnell fündig bei seiner Suche nach der politik-ethischen Einzigartigkeit des Christentums: So habe das Judentum „eine Politik nur im Traume und in der Hoffnung, seit es von der Politik der Davididen sich gelöst und im Elend eine Idealpolitik der Religiosität und Moralität aufgerichtet" habe, und im Islam habe die Religion stets die Politik bestimmt, da sie selbst politisch sei und „auf dem Standpunkt der Binnenmoral" stehe, 6 0 weswegen sich keine der christlichen „irgend ähnliche Sozialphilosophie" entwickelt habe. 6 1 Der Buddhismus wiederum bedeute „den schärfsten Gegensatz gegen den Geist der Politik"; 62 ebenso wie dem „indisch-brahmanischen System" fehle ihm „eine bewußte Sozialphilosophie vollständig", und so führe er „aus der praktisch-sozialen Welt heraus". 6 3 Überhaupt gebe es historisch nur zwei Beispiele für eine „wirklich durchgreifende Beeinflussung" der Politik durch Religionen, und zwar „China in der Blütezeit der Konfuzianischen Ethik und das europäische
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das Neue Testament nicht einfach als Autorität christlicher Ethik beanspruchen". Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1987, hier Band 1, S. 85 f., der bemerkt, „unter dem Titel des Historismusproblems" sei die „Frage nach Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit von Zivilisationen und Weltanschauungen verhandelt worden", „dieser Teil der Diskussion" sei jedoch „Ende der 20er Jahre eher versandet als beendet worden, weil es nicht gelungen ist, dem Problem eine hinreichend scharfe Fassung zu geben". Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Der „Systematiker" der „Kleinen Göttinger Fakultät". Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte (Troeltsch-Studien, Band 1), 2. Aufl., Gütersloh 1985, S. 2 3 5 290. Trutz Rendtorff, Stefan Pautler: Einleitung, in: Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 5), Berlin, New York 1998, S. 1-50, hier S. 25. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 8), S. 86 f. Ernst Troeltsch: Die Sozialphilosophie des Christentums, Gotha, Stuttgart 1922, S. 3 f. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 8), S. 86 f. Ernst Troeltsch: Die Sozialphilosophie des Christentums (wie Anm. 61), S. 4.
Die protestantische Ethik und der „Geist" des Liberalismus
Mittelalter", 6 4 wobei sich aber eben nur im Okzident, verbunden mit der Entwicklung des Calvinismus, jene komplexe Komplementarität zwischen Religion und Politik ausdifferenziert habe, auf die Troeltsch seine Hoffnung gründet, die Pathologien des modernen Liberalismus durch seine Selbstheilungskräfte überwinden zu können. In diesem, auf das Problem der sozial-moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften gerichteten Ansatz politik-ethischer Religionskomparatistik steckt, wie hier nur mehr kurz anhand zweier Punkte anzudeuten ist, zudem eine noch unausgeschöpfte Forschungsperspektive von aktueller Bedeutung. So liegt es beispielsweise nahe, zum einen die Verdrängung des altgriechischen Könnensbewußtseins (Christian Meier) in der christlichen Patristik und die sukzessive Wiederentdeckung des Politischen seit der Scholastik mit der islamischen Geschichte zu vergleichen, hinsichtlich derer sich die Hypothese aufdrängt, daß ihr die im christlichen Mittelalter bereits von Marsilius von Padua aristotelisch begründete Trennung zwischen Politik und Religion nicht gelungen ist, weil die islamische AristotelesRezeption seine politische Dimension weitgehend ausgespart hat und neoplatonisch geprägt blieb. 6 5 Was zum anderen den Buddhismus angeht, so gilt es indessen, jenes Zerrbild unpolitischer Weltflüchtigkeit zu korrigieren, das Max Weber in n o c h stärkerem Maße als Troeltsch befördert hat. 6 6 Dies ist nicht nur u m der
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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 8), S. 86 f. Vgl. Reza Hajatpour: Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus. Zum Diskurs über Herrschafts- und Staatsdenken im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2002, S. 60 ff., mit Bezug auf Gawad Tabatabai und Reza Dawari sowie Tjitze J. de Boer: Geschichte der Philosophie im Islam, Stuttgart 1901, und Max Horten: Die Philosophie des Islam. In ihren Beziehungen zu den philosophischen Weltanschauungen des westlichen Orients, München 1924. Weber behauptet, „der alte Buddhismus" sei eine vom „Quietismus" bestimmte, „spezifisch unpolitische und antipolitische Standesreligion" gewesen, die, weil „schlechthin apolitisch", „nicht das mindeste sozialpolitische' Ziel aufgestellt" habe, denn die Bewegung sei das „Erzeugnis nicht etwa negativ, sondern vielmehr stark positiv privilegierter Schichten" (Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie II, hrsg. von Marianne Weber, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 223, S. 220, S. 256, S. 245 und S. 247), was schlicht falsch ist, insofern die „Botschaft des Buddha besonders Stadtbewohner und die neuen sozialen Klassen ansprach" (Richard Gombrich: Der Theravada-Buddhismus. Vom alten Indien bis zum modernen Sri Lanka, Stuttgart u. a. 1997, S. 64; vgl. auch Stanley J. Tambiah: Max Webers Untersuchung des frühen Buddhis-
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religionssoziologischen und, sit venia verbo, religionspolitologischen Wahrhaftigkeit willen geboten, sondern zumal angesichts der Vermutung, daß das buddhistische Mitleidskonzept sensibel für jene motivationale Seite der Ethik ist, 6 7 der Ernst Troeltsch so viel Problembewußtsein entgegengebracht hat.
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mus. Eine Kritik, in: Wolfgang Schluchter (Hg.): Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus. Interpretation und Kritik, Frankfurt a. M. 1984, S. 202-246; Gananath Obeyesekere: Exemplarische Prophetie oder ethisch geleitete Askese? Überlegungen zur frühbuddhistischen Reform, in: ebd., S. 2 4 7 273) und große Teile der überlieferten Reden Gautamas auf soziale Themen eingehen (Volker Zotz: Buddha. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 5. Aufl., Reinbek 1998, S. 92 ff.). Zur politischen Anschlußfähigkeit des politischen Denkens Gautama Buddhas vgl. Amartya Sen: Why We Should Preserve the Spotted Owl, in: London Review of Books 26, No. 3, 05. Feb. 2004, http://www.lrb.co.uk/v26/n03/sen_01_.html sowie Anna Catherin Loll: Äußere und Innere Freiheit. Zwei Weltanschauungen mit politischen Konsequenzen, Ms., Berlin 2004. Harvey Β. Aronson: Motivations to Social Action in Theravada Buddhism: Uses and Misuses of Traditional Doctrines, in: Awadh K. Narain (Hg.): Studies in History of Buddhism [Papers presented at the International Conference on the History of Buddhism at the University of Wisconsin, Madison, WIS, USA, August, 19-21, 1976], Delhi 1980, S. 1-12.
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ANDRZEJ PRZYLEBSKI Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik Die Entwicklung der Transzendentalphilosophie Kants hat im deutschsprachigen Raum ihre fulminante Kulmination in der Geschichtsphilosophie Hegels gefunden. Als Reaktion auf diese Entwicklung, die mit der Steigerung des philosophischen Idealismus von dem Apriorisch-Formalen ins Substantiell-Absolute sowie mit der Verabschiedung des Universalismus der Aufklärung zugunsten der Geschichtlichkeit und historischen Verankerung jedes Sinngebildes einherging, gilt die nüchterne Rückkehr zum wissenschaftlich Begründbaren und Beweisbaren. Im Bereich der Naturwissenschaften war diese Rückkehr etwas Einleuchtendes, Evidentes und mit der inneren Entwicklungslogik dieser Wissenschaften Zusammenhängendes. Anders in den sogenannten Geisteswissenschaften, die mit der menschlichen Interpretationsfähigkeit stehen und fallen. 1 Der Deutsche Idealismus hat einerseits die Bedeutung der Geschichte, und dadurch der Erforschung der historischen Prozesse, präzedenzlos hervorgehoben, andererseits aber die Auffassung dieser Prozesse zu sehr in den konzeptuellen Rahmen einer historiosophischen Geschichtsphilosophie eingeengt. Es wundert also nicht, daß das erste, d. h. die empirische Geschichtsforschung, im 19. Jahrhundert eine blitzschnelle Entwicklung erfuhr, während das zweite - die idealistische Geschichtsphilosophie - in seiner spekulativen, auf das Überempirische (d. h. auf den absoluten Geist) hinweisenden Form - auf eine breite Ablehnung der Historiker stieß. Das Ergebnis war eine unübersehbare und unverbundene Fülle der Beschreibungen des Gewesenen, die als wissenschaftlich betriebene Geschichtsforschung gelten und die historische Bildung maßgeblich prägen sollte. Als erste unter den Philosophen haben bekanntlich Schopenhauer und Nietzsche auf diese Situation reagiert, und zwar mit einer scharfen Kritik, die die Unbedeutsamkeit einer so verstandenen Geschichtswissenschaft für das menschliche Leben betonte. 2
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Eine sehr gute Einführung in die Entwicklung der deutschen Philosophie nach Hegel bietet Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1 8 3 1 - 1 9 3 3 , Frankfurt a. M. 1983. Auf die Problematik des Historismus und seiner Überwindung bezieht sich insbesondere das Kapitel 2 (S. 5 1 - 8 8 ) . Diese Kritik kulminierte im sogenannten 2. Stück der „Unzeitgemässen Be-
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Andrzej Przylebski
Der durch den rasanten Fortschritt der empirischen Naturwissenschaften mitverursachte Zerfall des Idealismus Hegels (und seiner Nachfolger), samt ihm zugehöriger Geschichtsphilosophie sowie das allmähliche SichDurchsetzen der Lebensphilosophie (Schopenhauer, Nietzsche, Dilthey, Simmel), zu deren Hauptfiguren das ewige Fortschreiten der Wirklichkeit, die ewige Wandelbarkeit der Lebensgestaltungen usw. gehörten, ergaben ein Klima, zu dem die immer wachsende Anzahl der historischen Arbeiten und Forschungen sehr gut paßte. Denn auch sie ließen sich als Teil dieses Stroms des Lebens interpretieren. Auf viele, darunter auch auf Ernst Troeltsch, wirkte diese Entwicklung als etwas höchst Suspektes, sogar Abstoßendes, etwas, das den Boden für eine nihilistische Katastrophe bereitet. Die Anzeichen dieser Katastrophe sah er vor allem im Zerfall aller allgemeingültigen (bzw. -geltenden) Sinn- und Wertstrukturen, der wiederum aus dem allgemeinen Abschied von der Metaphysik, d. h. von der erkenntnismäßig verbindenden Suche nach einem Zusammenhang zwischen dem Zeitlich-Geschichtlichen und dem Ewig-Geltenden, resultierte. Troeltsch n e n n t dieses bedrohliche Phänomen bekanntlich „Krisis des Historismus" und unternimmt den Versuch, dieser Krisis durch eine neue Kultursynthese vorzubeugen bzw. entgegenzuwirken. Als Motto seines Versuchs wählt er die Formel „Geschichte durch Geschichte überwinden". Diese paradox klingende Formulierung läßt sich ganz unparadox deuten. Denn es geht ihm nicht um die bloße Verbesserung des wissenschaftlichen Standards der Geschichtsforschung, sondern um die Überwindung des Historismus durch eine neue, moderne Geschichtsphilosophie. Dies stellt ihn einerseits in die Nachfolge Hegels (aber auch Marx', Marcuses und des späten Heideggers), von dem er sich aber deutlich durch die explizite Anerkennung der Ergebnisse der wissenschaftlich betriebenen Historie - an Stelle der apriorisch-spekulativen, faktographisch
unbegründeten
Konstruktionen der Entwicklung des absoluten Geistes - unterscheidet. Ernst Troletsch unternimmt diese Forschungen relativ spät, kurz vor seinem Tod, und vermag sie deshalb nicht zu einem würdigen Abschluß zu bringen. So gelten seine Ausführungen allgemein eher als Mißerfolg. Woran liegt bzw. lag es, daß dieses ambitionierte Projekt sich zu seiner
trachtungen" von Nietzsche, das den Titel „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben" trägt. (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 1: Die Geburt der Tragödie, u. a., 2. Aufl., München 1988, S. 243-334).
Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik
Zeit nicht durchsetzen konnte und auch heute eher abstoßend wirkt? 3 Ich glaube, daß dem nicht so sehr der aporetische Charakter des mutigen Versuchs von Troeltsch, sondern übertriebene Ansprüche, die er erhebt oder anders formuliert: das falsche Bewußtsein des Problems - zugrunde liegt. Eines jedoch scheint klar zu sein: Troeltsch zählte nicht zu jenen, die einfache Lösungen gesucht haben. Sein Protest gegen die antirealistische Einstellung der Philosophie seiner Zeit (vor allem Kantianismus und Neukantianismus) ist der beste Beweis dafür. Deshalb lohnt es sich meines Erachtens, der Intuition nachzugehen und zu überlegen, ob eine Annäherung seiner Auffassung an die Positionen der philosophischen Hermeneutik möglich ist. Unter der philosophischen Hermeneutik verstehe ich weder die Troeltsch bekannten und v o n ihm abgelehnten Versuche Diltheys zu einer epistemologischen Begründung der Geisteswissenschaften, n o c h eine mögliche, aber n o c h nirgendwo zufriedenstellend dargestellte Philosophie, die den Begriff des Verstehens und der Interpretation in den Vordergrund stellt. 4 Es geht mir hier in erster Linie um die bekannteste Hermeneutik des 20. Jahrhunderts, die philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, in dessen Denken über die Präsenz und Wirkung der Geschichte im und für das Leben gewisse Ähnlichkeiten zu Troeltsch zu konstatieren sind. Auf die grundsätzlichen Aporien des Vorschlags einer allgemeingültigen und dadurch wissenschaftlichen Kultursynthese hat sehr eingehend und kompetent Otto Gerhard Oexle in seinem Aufsatz „Troeltschs Dilemma" hingewiesen. 5 Diese Arbeit wird im folgenden einfach vorausgesetzt. Während es aber Oexle eher darum ging, die von Troeltsch beabsichtigte und 3
4
5
Mit der abstoßenden Wirkung meine ich nicht nur die Reaktionen der subtilen Kritiker wie Kracauer oder Oexle. Vor einem Jahr ungefähr veranstaltete ich, gemeinsam mit Gangolf Hübinger, an den Universitäten Poznan und Frankfurt/O. ein deutsch-polnisches Seminar zum Denken von Troeltsch und konnte feststellen, daß die Studenten von heute mit der Problemstellung, mehr noch aber mit der Problemlösung von Troeltsch relativ wenig anfangen konnten. An so einer Philosophie versuche ich seit einigen Jahren zu arbeiten. Vgl. u.a. meinen Aufsatz „Hermeneutik als die Zukunft der Philosophie", in: Ewa Czerwinska-Schupp (Hg.): Die Philosophie an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2002, S. 39-52. Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus" (Troeltsch-Studien, Band 11), Gütersloh 2000, S. 23-64.
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wegen seines plötzlichen Todes nicht zu Ende gebrachte Kultursynthese im Rahmen eines breit konzipierten Projektes der sogenannten „historischen Kulturwissenschaften" zu plazieren, m ö c h t e ich - u.a. durch die scharfe Opposition Troeltschs gegen Max Webers Polytheismus der Werte und Heinrich Rickerts Formalismus der Werte veranlaßt - seine bescheidenen Versuche eher in der Nähe einer hermeneutischen Überwindung des Historismus sehen. Bereits bei einer oberflächlichen Lektüre der Schriften von Troeltsch, die unter anderem seine Idee einer neuen, zukunftweisenden Kultursynthese thematisieren, entsteht der Eindruck, daß er - erstens - etwas wirklich Wichtiges und Brennendes im Auge hatte, und - zweitens - daß es mit seinen Mitteln nicht zu erreichen war. Im folgenden werde ich versuchen zu zeigen, inwiefern die philosophische Entwicklung Ernst Troeltschs ihn vor Fragen gestellt hat, die in dem damals in Deutschland herrschenden Denkparadigma unlösbar waren. Erst nach seinem Tode, infolge der Entwicklung der hermeneutischen Philosophie (unter anderem in Nachfolge von Dilthey, Husserl und Heidegger), konnten Probleme, die Troeltsch vorschwebten, in einem neuen Licht gesehen werden. Meine Darstellung wird weniger einen systematischen, mehr einen mosaikartigen Charakter tragen. D. h. ich werde auf die Elemente in seiner Problemstellung hinweisen, die die Tiefe seines philosophischen Denkens bezeugen, für die er jedoch keine überzeugenden Ausdrucks- bzw. Lösungsmöglichkeiten finden konnte. Als Ernst Troeltsch 1914 den Ruf nach Berlin a n n a h m , war er bereits ein anderer Mensch als kurz davor in Heidelberg. Zwar hielt er dort bereits Vorträge, die auf seine späteren, in Berlin erfolgten Entwürfe hingewiesen haben, völlig selbständig war sein philosophisches Denken in Heidelberg aber mit Sicherheit nicht. Und es konnte kaum anders sein - er wirkte vor allem als Theologe, philosophisch im Schatten der stärksten Schule des Neukantianismus, im Schatten solcher Autoritäten wie Wilhelm Windelband und solcher philosophischen Talente wie Emil Lask ( 1 8 7 5 - 1 9 1 5 ) . 6 Anfänglich deutlich durch diese Schule philosophisch inspiriert, befreite er sich mit der Zeit v o n dem Einfluß des kantischen und nachkantischen Idealismus und kehre zur realistischen Wirklichkeitsauffassung zurück. Deshalb wun-
6
Emil Lask gehörte der dritten Generation der badischen Schule des Neukantianismus an. Er starb an der russischen Front im Jahre 1915. Den Einfluß seiner ersten Arbeiten auf Heinrich Rickert, Georg Lukäcs und Martin Heidegger habe ich in meinem Buch „Emila Laska logika filozofii" dargestellt (Poznan 1990).
Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik
dert es nicht, daß er in Berlin mit Freude Mitglied nicht der theologischen, sondern der philosophischen Fakultät wurde. Dies artikulierte nur die Entwicklung seiner eigenen Denkperspektive. Er wollte nicht wie bisher von den Kollegen Philosophen nur die wichtigen Inspirationen und Impulse für seine theologische Arbeit erhalten; er wollte selber philosophieren, eigene Philosophie machen, und zwar in Gestalt einer Kulturphilosophie, die mit der neu entstandenen, unter anderem von Max Weber geförderten, historischen Kulturwissenschaft in Verbindung stand. Kulturphilosophie war bekanntlich an seiner alten Heidelberger Universität sehr stark vertreten. Heinrich Rickert, der Erfinder des Begriffs „Kulturwissenschaften", eines Begriffs, der den in seinen Augen obsolet gewordenen Terminus „Geisteswissenschaften" ersetzen sollte, war sein guter Bekannter, von dem er immer wieder Wichtiges zu lernen glaubte. Nun, der Wechsel vom Neckar an die Spree ging, wie oben angedeutet, merkwürdigerweise mit der wachsenden Distanzierung vom Transzendentalismus, Formalismus und Apriorismus des badischen Neukantiansmus und ebenso einer wachsenden Annäherung an die Lebensphilosophie Diltheys und die Phänomenologie Husserls und Schelers einher. Diese Distanzierung war selbstverständlich damit verbunden, daß er aufgrund eigener Überlegungen zum Themenbereich Geschichte-GesellschaftKultur mit den Theorien der Neukantianer nicht mehr einverstanden sein konnte. Es gab aber noch etwas anderes, was mit dem Umzug nach Berlin zusammenhing. Der Geist der Zeit hatte sich geändert. Der brutale Verlauf des Ersten Weltkrieges hatte sehr deutlich gezeigt, daß die europäische Kultur in einer sehr tiefen Krise steckte, in einer Krise, in die sie unter anderem die Entwicklung der europäischen Philosophie getrieben hatte. Für Troeltsch zeigte sich nun nicht nur eine Veränderung dieser Kultur, sondern eine existentielle Gefahr für ihr weiteres Bestehen. Er bezeichnete diesen Zustand bekanntlich mit der Formel „Anarchie der Werte", und in seiner Berliner Antrittsvorlesung kündigte er an, sie bekämpfen zu wollen. Diese nihilistische Krise seiner Gegenwart verbindet Troeltsch bekanntlich mit der von ihm erfundenen „Krisis des Historismus", wie sein 1922 veröffenlichter Essay heißt. Erfunden ist die Krisis insofern, als er eigentlich weder eine Krisis des Historismus als einer philosophischen Position, noch die Krisis der Geschichtswissenschaft meint. 7 Was er damit meint, ist
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Vgl. hierzu Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma (wie Anm. 5), S. 27.
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eher eine durch den Historismus mitverursachte Krisis der Gesellschaft, vor allem ihrer jüngeren Generationen. Den Begriff „Historismus" definiert er so, daß er eigentlich mit der Entstehung des historischen Bewußtseins zusammenfällt. In voller Bewußtheit dessen, daß dieses Phänomen sowohl Vorteile wie auch Nachteile hat, schreibt er: „ [ . . . ] das Wort ,Historismus' [ . . . ] bedeutet [ . . . ] die Historisierung unseres ganzes Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Wir sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmung durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in den Fluß des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich. Das festigt auf der einen Seite den Sinn für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten überindividuellen Zusammenhängen und führt jeder Gegenwart die Kräfte der Vergangenheit zu. Aber es erschüttert auf der anderen Seite alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler [... ] Art, seien es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit, seien es staatliche Erziehungszwänge, die sich auf die weltliche Autorität und ihre herrschende Form beziehen". 8 Die Gefahren, die durch eine parallele Entwicklung der Naturwissenschaften in Richtung auf Naturalismus, d. h. Determinismus, verstärkt wurden - vor allem als Bedrohung für die Bildung und Weltanschauung - scheinen ihm jedoch viel gewichtiger zu sein als die möglichen Vorteile, d. h. die Chancen, die - könnte man mit Vattimo sagen - mit der „Schwächung des Seins" zusammenhängen, die der Historismus mit sich brachte. 9 Rein philosophisch gesehen ist Troeltsch im Jahre 1915 kein Neukantianer mehr, keiner, der an die Konstitution der Gegenstände durch Sub-
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Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus, in: Ernst Troeltsch: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 15) (im folgenden: KGA 15), Berlin, New York 2002, S. 437 (Hervorhebungen von A.P.). Zum erfrischenden Konzept des „geschwächten Seins" des italienischen Hermeneutikers und Postmodernisten Gianni Vattimo s. seine Bücher: Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990; Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, Frankfurt a. M. 1997.
Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik
jektivität geglaubt hätte. Er wurde eher zu einem ein wenig konservativen Lebensphilosophen, indem er schreibt: „Das geistige Leben ist nicht mehr Teilhaber an überirdischen und übersinnlichen, festen, unveränderlichen Wahrheiten, [ . . . ] sondern es ist ein kontinuierlicher, aber stets sich verändernder Lebensstrom, in d e m sich stets nur vorübergehende, den Schein der Dauer und Eigenexistenz vortäuschende Wirbel bilden. Das sind dann die jeweiligen größeren oder kleineren individuellen historischen Gebilde, die sich der geschichtlichen Selbsterkenntnis mit so viel Liebe und Hingebung als Mutterboden des eigenen Daseins erweisen, aber bei jeder Überschau von h ö h e r g e n o m m e n e m Augpunkt aus als treibende, sich bildende und wieder auflösende Erzeugnisse des Stromes darstellen". 1 0 Es gibt aber - fügt er hinzu - einen tieferen Zusammenhang in diesem Strom. Wenn wir ihn heute nicht erblicken können, dann deshalb, weil die Geschichtswissenschaft sich von der Philosophie völlig abgekoppelt hat. Für die Naturwissenschaften ist die gleiche Abkoppelung weniger gefährlich, denn sie streben auf die Entdeckung der Naturgesetze, in denen sie ihre Tatsachen und Erscheinungen unterbringen, d. h. erklären k ö n n e n . Für die Geschichtswissenschaft, die von der Entdeckung solcher allgemeinen Gesetze nicht einmal träumen kann, bedeutet so eine Abkoppelung eine ins Unendliche schreitende Multiplizierung der Beschreibungen der historischen Fakten, die kaum jemanden interessieren und die schon Nietzsche zur Verzweiflung an dem Nutzen der Historie und der historischen Bildung brachte. Die Einstellung Troeltschs - das sollten wir uns merken - ist dabei sehr hermeneutisch: Er glaubt an die Kontinuität der Geschichte, er glaubt an ihre auf uns positiv wirkenden Kräfte, will sie erkennen und nutzen für die Orientierung in der Wirklichkeit. Er ist überzeugt, daß die Gestalten, die uns in der Geschichte begegnen, selbständige, subjektunabhängige Gegenstände sind, in denen sich die im historischen Prozeß verwirklichten Werte und Normen offenbaren. Wir können sie erkennen, weil wir selber geschichtliche Wesen sind - ein ebenso hermeneutischer Gedanke. Der einzige Ausweg aus der durch den so begriffenen Historismus verursachten Krise kann für Troeltsch nur ein neuer Versuch sein, die Ge-
ld
Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus (wie Anm. 8), S. 4 3 8 .
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schichtswissenschaft mit der Philosophie zu verbinden, und das heißt eine posthegelianische Geschichtsphilosophie zu wagen. Wenn die Historie eine dem Leben dienende Wissenschaft bleiben will, dann ist es ihre eigentliche Aufgabe, „an die Synthese großer Entwicklungszusammenhänge" heranzugehen. 1 1 Da sich aber in der Geschichte Beispiele für alle möglichen, oft widersprüchlichen Tendenzen bzw. Ideen finden lassen, entsteht für Historiker „die peinigende Frage nach der Objektivität solcher Historie, nach ihrer Entsprechung mit dem wirklichen Verlauf". 1 2 Aus dem Strom des geschichtlichen Lebens m u ß also eine Auswahl getroffen werden, die aus einem Historiker einen Geschichtsphilosophen macht. Daß solche Synthesen immer schon u n t e r n o m m e n wurden, und zwar was Troeltsch betont - meistens von Dilettanten, zeigt deutlich, wie nötig sie für die menschliche Weltorientierung sind. Es wäre also besser, meint er, wenn sie möglicherweise wissenschaftlich untermauert würden. Und so sind wir bei der Idee der gegenwärtigen Kultursynthese angelangt.
Das Wort
„gegenwärtig"
weist deutlich
auf die
praktische,
handlungsbezogene Bedeutung dieses Begriffs. Noch deutlicher markiert Troeltsch es in seinem wohl bekanntesten Buch: „Der Historismus und seine Probleme". In diesem Hauptwerk zeichnet Troeltsch den Weg der Philosophie, die nach dem Abschied von den Spekulationen Hegels auf dem Umweg über die geschichtslogischen Untersuchungen im Bereich der Erkenntnistheorie wieder in die Nähe der Hegeischen Geschichtsphilosophie gelangt ist (erinnert sei an die Heidelberger Rede von Wilhelm Windelband über eine „Erneuerung des Hegelianismus"). Neben Heinrich Rickert und Max Weber ist Hegel mit Sicherheit die größte Herausforderung für Troeltsch. Klar ist, daß der zu schaffende Übergang von Historie zu Geschichtsphilosophie in zwei Schritten zu leisten ist, „die natürlich auch zuletzt zusammenmünden müssen". 1 3 Erstens durch eine formale Geschichtslogik, zweitens durch inhaltliche „Konstruktion des Prozesses" der Geschichte. Die erste Aufgabe ist den erkenntnistheoretischen Untersuchungen im Stile Rickerts über den Gegenstand der Geschichtswissenschaft e n t n o m m e n , führt aber bei Troeltsch viel weiter als bei Rickert, und zwar zur Analyse des Verstehens der historischen Gebilde, also zu einer Art
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Ebd., S. 4 4 2 f. Ebd., S. 443. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 3), Tübingen 1922, S. 26.
Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik
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Protohermeneutik des geschichtlichen Wissens. Man kann bei i h m sogar von einer Theorie des historischen Verstehens sprechen. 1 4 Diese Theorie versucht, den Unterschied zwischen dem b l o ß ontischen und dem historischen zu verdeutlichen. Auch dem Ideal der Alleinherrschaft der wissenschaftlichen Methode huldigt Troeltsch n i c h t vorbehaltlos. Die Erkenntnis des historischen Gegenstandes ist so komplex, daß man verschiedene Zugangsweisen zulassen darf, die einerseits die mögliche Exaktheit, andererseits den erreichbaren Grad der Tiefe und Erkenntnis der Bedeutsamkeit des Verstandenen gewährleisten. Mit anderen Worten: einen Kompromiß zwischen der theoretischen Korrektheit und dem Lebensbezug erzielen. Das geschichtliche Verstehen lebt von der Voraussetzung einer Selbstbegegnung des Menschen in und durch die Geschichte, denn -
wie
Troeltsch schreibt - die Geschichte ist „die Gesamtlebenserfahrung unseres Geschlechts" und Historie „die verstandene Erfahrung der Gattung". Die geschichtliche Erkenntnis m u ß also methodisch vorgehen. Troeltsch n e n n t in diesem Zusammenhang bekanntlich die historisch-kritische Methode. Diese Erkenntnis kann aber allein durch die Anwendung einer Methode nicht gelingen. In diesem Kontext spricht Troeltsch über den historischen Sinn, als einer Art kunstmäßigen Ergänzung der methodisch gesicherten Forschung. Der historische Sinn bildet die individuell-subjektive Komponente des historischen Verstehens. Damit knüpft Troeltsch an die romantische Hermeneutik mit ihrer Idee der Kongenialität und Divination an. 1 5 Er versucht dies allerdings erneut in dem i h m wohl vertrautesten badisch-neukantischen Vokabular auszudrücken, indem er sagt, daß die historisch-kritische Methode den nomothetischen und der historische Sinn den idiographischen Teil der Auffassung des historischen Gegenstandes erfüllen. Sein Denken scheint aber moderner zu sein als seine Formulierungen. Denn er meint die Kunst des erfahrenen und begabten Historikers,
der Einzelzusammenhänge
zusammenschauen
kann,
und
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Vgl. hierzu Gerhold Becker: Neuzeitliche Subjektivität u n d Religiosität. Die religionsphilosophische Bedeutung von Herkunft und Wesen der Neuzeit im Denken v o n Ernst Troeltsch, Regensburg 1 9 8 2 .
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Als bester Vertreter dieser Hermeneutik gilt zu Recht Friedrich D. E. Schleiermacher. Vgl. seine „Hermeneutik und Kritik", hrsg. v o n Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1 9 7 7 .
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zwar nicht nur als Kausal-, sondern als Sinnzusammenhänge. Gadamer benutzt in einem ähnlichen Kontext das griechische Wort „syntheke" zusammenschauen - zur Bezeichnung der hermeneutischen Erfahrung. Obwohl Troeltsch immer wieder die Rolle der Geschichtsphilosophie im Verstehen des Sinns von Geschichte betont, unterscheidet er sich von Hegel auch durch das Wissen um die menschliche Kontingenz, die bei ihm unter anderem eine Gegeninstanz zu einer „Logisierung der Geschichte im Sinne der hegelschen Selbstentfaltung des Geistes" ist. 1 6 Für die moderne philosophische Hermeneutik ist menschliche Endlichkeit der eigentliche Ausgangspunkt alles Philosophierens. Hierin treffen sich die Gedanken von Gadamer und Heidegger mit denen von Odo Marquard. 1 7 Kehren wir aber zur Idee der Kultursynthese zurück. Sie war für Troeltsch die Verwirklichung dessen, was ihn seit jeher bewegte. In seiner Selbstdarstellung, die er kurz vor seinem Tode unter dem Titel „Meine Bücher" veröffentlichte, schreibt er: „Metaphysik und Historie, das waren n u n einmal die beiden spannungsreichen Probleme, die mich von Hause aus gleichzeitig und im Zusammenhang reizten". 1 8 Der bisher größte, der so eine Synthese des Allgemeinen (d. h. des Metaphysischen) mit dem Einmaligen (d. h. dem Historischen) versuchte, war kein Geringerer als Hegel. „Ernst Troeltschs Gedanke einer Kultursynthese" - schreibt deshalb völlig zu Recht HansGeorg Drescher - „geht letztlich auf Hegel zurück". 1 9 Das, was Troeltsch an der Hegelschen Verwirklichung dieser Idee kritisiert, gibt zugleich Auskunft über seine eigene Position. Was ihm nämlich bei Hegel nicht gefällt, ist erstens - mangelnde Verbindung der Geschichtsphilosophie mit der Arbeit für die Zukunft, mit der Zukunftsausrichtung der menschlichen Handlung, und - zweitens - die Marginalisierung des Individuell-Konkreten, deren Fol-
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Wie es Gerhold Becker in seinem obengenanten Buch (wie Anm. 14, S. 151) treffend formuliert. Vgl. hierzu Odo Marquard: Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in: Hans Poser (Hg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin, New York 1979, S. 40-58. Ernst Troeltsch: Meine Bücher, in: ders.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. von Hans Baron (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 4), Tübingen 1925, S. 4. Vgl. Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, S. 498. (Anderer Meinung ist übrigens Otto Gerhard Oexle, der sie auf Nietzsche zurückführt; vgl. dessen bereits zitierte Abhandlung über „Troeltschs Dilemma" [wie Anm. 5], S. 30).
Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik
ge ist, daß die Logik der Entwicklung des absoluten Geistes die Rolle der menschlichen Kreativität außer acht läßt. Die von Troeltsch angestrebte Kultursynthese ist - wie er explizit feststellt - eine „Kultursynthese des Europäismus, allerdings auf dem Untergrunde einer Universalgeschichte des Europäismus und im Rahmen eines Bildes der Gesamtmenschheit, soweit das letztere überhaupt möglich ist". 2 0 M a n merkt, glaube ich, sofort, mit was für einer komplizierten Aufgabe wir hier konfrontiert sind. Europäismus wurde aus zwei Gründen hervorgehoben. Erstens, weil es unsere Kultur ist, die Kultur, die wir kennen und verstehen, weil wir in ihr leben. D e n n laut Troeltsch können wir andere, v o n unserer abweichende und sich deutlich unterscheidende Kulturen nicht begreifen. Und zweitens, weil diese Kultur Troeltsch besonders wertvoll und deshalb bewahrungswürdig zu sein scheint. Ein paradoxer, aber zugleich hermeneutischer Zug an dem Gedanken einer Kultursynthese k o m m t zum Vorschein, wenn wir uns dem zweiten Teil der Aufgabe, nämlich der materiellen, inhaltlichen Geschichtsphilosophie zuwenden. Die Basis soll das wirklich Gewesene bilden, also die historischen Fakten bzw. ihre Verknüpfungen - „individuelle Totalitäten", wie bei Troeltsch historische Gegenstände heißen. In diesen sollten aber Sinnzusammenhänge festgestellt werden, und zwar ausgehend von den philosophischen Ideen. „Dabei handelt es sich nicht darum" - schreibt Troeltsch - „die historische Facharbeit mit philosophischen Ideen zu imprägnieren. Diese wird vielmehr bleiben müssen wie sie ist, und nur in ihrer T h e m e n stellung und ihren Gegenständen dem Bedürfnis nach dem Großen, Bedeutenden und Wirksamen mehr Rechnung tragen müssen". 2 1 Wie jedoch das Große v o m Kleinen und das Bedeutende vom Unwichtigen ohne einen philosophischen Leitfaden zu unterscheiden sei, sagt er nicht. Es scheint doch, daß er mit philosophischen Ideen das historische Material betrachten bzw. beleuchten will und sich zugleich von der Analyse und Synthese eben dieses Materials die Gewinnung dieser Ideen verspricht. Für den theoriebewußten Menschen bildet so etwas einen circulus vitiosus, für die handelnden und sich in ihrer Umgebung verständigenden Menschen - eine Selbstverständlichkeit. Das praktisch orientierte Ziel der gegenwärtigen Kultursynthese ist auch darin zu sehen, daß sie - wie Dre-
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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 13), S. VIII. Ebd., S. 4 5 4 .
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scher treffend bemerkt - „Synthese von und durch Kultur ist, und zwar als Einheitsstiftung von Leben und Lebenskräften vermittels der Kultur". 2 2 Was ist also gemeint, wenn ich mir erlaube, bei Troeltsch über eine halbierte Hermeneutik zu reden? Verschiedenes, vielleicht auch nicht immer Zusammenhängendes. Er weiß zwar, daß die Entstehung des historischen Bewußtseins ein Gewinn und ein Fortschritt ist, und dadurch unüberwindbar, und daß die metaphysische Weltdeutung und Werteordnung von ihrer Plausibilität einiges eingebüßt hat. Während aber die phänomenologische und die hermeneutische Philosophie seiner Zeit die Lebenswelt als die ursprüngliche, und zwar historisch geprägte Wirklichkeit 2 3 des Menschen jenseits des Objektivitätsanspruchs der Wissenschaften entdeckt haben, geht Troeltsch - wie seine neukantianischen Kollegen - von der Tatsache der wissenschaftlichen Wahrheit aus und glaubt ungerührt an die M a c h t der durch die Wissenschaften garantierten Objektivität alles Wissens. Deshalb versucht er - vergeblich - den Sprung von dem wissenschaftlich festgestellten ,Sein' in das,Sollen' der praktischen Handlung. Im Grunde ist ihm viel von dem Wissenschaftsglauben (Szientismus) geblieben, denn er will Werte aus der Geschichtswissenschaft herausholen, nicht aus der Praxis des gesellschaftlichen Lebens, dessen Teil er selber ist. Andererseits aber sieht er ganz klar, daß die uns umgebende Wirklichkeit nicht das Produkt der Subjektivität - und das heißt auch der Wissenschaften - sein kann, daß sie an sich bestehend etwas Vorgegebenes ist, an dem wir teilhaben, indem wir sie - immer partiell und perspektivisch - verstehen und erkennen. Er unterscheidet ebenfalls zwischen dem Gegenstand der Naturwissenschaft und dem der Historie. Die Kategorien der Einmaligkeit und Ursprünglichkeit 2 4 , die er einführt, zeigen sehr deutlich, daß er die Individualität und Wertbeziehung des historischen Gegenstandes sehr klar gesehen hat. Dies bringt ihn in die Nähe des hermeneutischen Denkens. Das ist der eine Aspekt dieser Nähe. Ein anderer wäre die Betonung des Praktischen, darunter des praktischen Wissens. Ernst Troeltsch weiß genau, daß der von ihm unternommene Übergang von der Geschichtswissenschaft über die Geschichtsphilosophie zu einer Kultursynthese theoretische Lücken aufweist, das heißt an sich unwissenschaftlich ist. Er weiß aber
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Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch (wie Anm. 19), S. 514. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke, Band 1), Tübingen 1990, S. 251 ff. Vgl. Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch (wie Anm. 19), S. 490.
Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik
zugleich, daß es hier nicht nur u m theoretische Reinheit und Abgeschlossenheit geht. Deshalb betont er - im Anschluß an Kierkegaard, ähnlich wie später Heidegger - die Bedeutung des Sprungs, der persönlichen Entscheidung, die jedoch bei ihm auf einer möglichst aufgeklärten Überlegung basiert. Manche Kritiker seiner Philosophie - z. B. Oexle 2 5 - behaupten, daß er diesen Sprung nur postuliert, ihn aber selber nicht vollzogen habe. Es mag so sein. M u ß jedoch - dürfen wir mit Schopenhauer fragen - der Wegweiser den Weg gehen, den er weist? Eine Theorie der Entschlossenheit bzw. des Sprungs ist per definitionem
etwas Allgemeines (Ontologisches, wie es
Heidegger gesagt hätte). Die faktische Entscheidung ist praktisch, konkret und individuell (ontisch, in der Heideggerschen Terminologie). Hier hat der Theoretiker keinen Vorrang und kann ebenso irren wie jeder andere. Die von Heidegger 1933 vollzogene Entscheidung, die sein Leben - n i c h t aber seine Philosophie - bis heute belastet, ist ein deutlicher Beweis dafür. Auf eine in ähnliche Richtung gehende Annäherung Troeltschs an das hermeneutische Denken hat vor Jahren bereits Karl Acham hingewiesen. U m den katastrophalen Wirkungen des durch den Historismus verursachten Werterelativismus und des naturalistischen Determinismus vorzubeugen, will Troeltsch einen neuen Maßstab für das moralische Handeln herausarbeiten. „Dieser Maßstab" - schreibt Acham - „werde gebildet,,indem wir den geschichtlichen Erwerb und die lebendige Gegenwart zu einer neuen Synthese zusammenfassen'. Damit sind wir freilich nach Troeltsch bei einem von i h m wiederholt konstatierten ,Zirkel' angelangt. Dazu bemerkt der Autor (Troeltsch - A. P.): ,Aber, indem wir einsehen, wie dieser Zirkel notwendig aus der Struktur unseres Bewußtseins hervorgeht, kann er n u n so verstanden werden, daß in ihm die Elemente einer Lösung des Problems liegen'". 2 6 Auch die Hervorhebung dieser zirkelhaften Struktur verbindet das Denken Troeltschs mit dem der philosophischen Hermeneutik. „Den bezeichneten Zirkel löst nur die Tat auf, aber die Tat einer gewissensmäßigen Urteilsbildung auf Grund größtmöglicher wissenschaftlicher Erkenntnis der Erfahrung", schrieb 1 9 2 2 Troeltsch. 2 7 Heidegger würde dem in Sein und Zeit
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Vgl. Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma (wie Anm. 5), S. 49. Karl Acham: Geschichte und Soziologie, Freiburg, München 1995, S. 709. Ebd., S. 181.
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hinzufügen: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen". 28 In seinem bahnbrechenden Hauptwerk hat Heidegger deutlich betont, daß diese Entschlossenheit geworfen ist, das heißt sich auf der Grundlage der „jeweiligen faktischen Möglichkeit eigentlichen Existierens aus dem Erbe" vollzieht. 29 Den Gedanken des Erbes hat sein Nachfolger Hans-Georg Gadamer in den Begriffen der Überlieferung, der Wirkungsgeschichte und des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins weiterentwickelt und in das Zentrum seines Denkens gestellt. Dies wäre vielleicht auch die von Troeltsch gesuchte Rettung vor den Bedrohungen des Relativismus und des Determinismus: Nicht die theoretisch herausgearbeiteten, wissenschaftlich beweisbaren bzw. philosophisch begründbaren, sondern die gelebten Wertestrukturen garantieren es, daß unser Leben sich durch Kontinuitäten weiter entwickelt, und zwar gar nicht unbedingt in der Geschlossenheit seines euroamerikanischen Kulturkreises, wie es Troeltsch vorschwebt. 30 Denn seine These, die er über die Unmöglichkeit des Verstehens anderer Kulturen aufstellt, ist schlicht und einfach nicht wahr. In das universalistische Wesen der europäischen Kultur gehört nämlich auch die Kraft der Reflexion und die Kritik möglicher Selbsttranszendenz, das heißt die allmähliche Erweiterung des Verstehenshorizontes. Das Verstehen anderer Kulturen - was auch heißen muß: der Träger dieser Kulturen - ist ein zu kompliziertes Phänomen, um es hier anschneiden zu können. Es gab viele Erklärungsversuche, ob und inwiefern dies möglich ist und uns gelingen kann. Eines scheint relativ sicher zu sein: Wir sind in unserer Kultur nicht wie in einem Käfig eingeschlossen. Unser Verstehen von Sinngebilden hat keine unüberwindbaren Grenzen, es ist zwar immer durch eine Vorstruktur des Verstehens bedingt, diese ist aber kein ahistorisches, unbewegliches Apriori, sondern eher ein Horizont, der sich mit dem Verstehenden bewegt.31 Er verschiebt sich infolge der Erweiterung unserer Welterfahrung. Und diese Erweiterung geschieht im wesentlichen
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Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1927, S. 153. Ebd., S. 383 (Hervorhebungen von A. P.). Vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 13), S. 708 ff. Zur Vorstruktur des Verstehen vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit (wie Anm. 28), §§ 3 2 - 3 4 und Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (wie Anm. 23), S. 281 ff. (Vorurteile als Bedingungen des Verstehens).
Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik
durch die Begegnung mit etwas, was ihr anfänglich fremd ist und sie herausfordert. In diesem Sinne ist Geschichte bzw. Überlieferung - als etwas, was auf uns einwirkt - auch eine Palette der erprobten Lebensmöglichkeiten, Erfahrungen, die die Menschheit gemacht hat und die sie konstituieren. Was der Mensch sei - hat bekanntlich einmal Dilthey gesagt - , sagt ihm nur seine Geschichte. Und wir können mit Ernst Troeltsch völlig übereinstimmend sagen, daß es sich für unser Weltverständnis und für unsere wertbezogenen Handlungen wirklich lohnt, diese Überlieferung zu erkennen und den Versuch zu unternehmen, sie zu verstehen. Dadurch bekommen wir einen Einblick in die tragenden Kräfte und Entwicklungstendenzen der Geschichte, der uns ermöglicht, neue Chancen zu ergreifen und unsere Zukunft in einer durch den postmodernen Polytheismus der Werte geprägten Welt vernünftig zu gestalten. Das aber ohne die Garantie, daß wir unsere Handlung wissenschaftlich - auch im Sinne der Geschichtswissenschaft je begründen werden können. Meine Ausführungen zum hermeneutischen Geist, der das Philosophieren Troeltschs heimlich zu durchdringen scheint, möchte ich mit einem Zitat aus einem an Rickert gerichteten Brief abschließen. Da schreibt Troeltsch unter anderem, daß ihm immer mehr an Anschaulichkeit und Substanz als an logischem Scharfsinn liege. Er sehe den deutschen Zentralphilosophen eher in Leibniz als in Kant und könne den zweiten nur von dem ersteren her begreifen. Er fürchte auch nicht, mit anderen in Widerspruch zu liegen. Und er fügt hinzu: „Das kommt davon, daß ich im Grunde immer konversatorisch und mit Hilfe der Tradition denke. Monologe sind nichts für mich". 3 2 Es braucht hier nicht wiederholt zu werden, daß die Kunst des Gesprächs und die Suche nach dem Dialog die ursprünglich hermeneutischen Tugenden sind, wenigstens was die philosophische Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer anbetrifft. Das gleiche gilt für das Bewußtsein der Verankerung in der Tradition. Die merkwürdige Distanz Gadamers zu Nietzsche weist zugleich auf ein Moment hin, das auch für Troeltschs Überwindung des Nihilisums (der „Anarchie der Werte") nicht ohne Bedeutung sein könnte. Der kanadische Philosoph Jean Grondin, möglicherweise der treueste Schüler Gadamers,
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Der Brief ist vom 15.5.1922 und wird von Hans-Georg Drescher (wie Anm. 19) auf S. 497 zitiert (Hervorhebungen von A. P.).
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Andrzej Przylebski
schreibt in dieser Hinsicht sogar von einer gewissen „Nietzscheferne" Gadamers. Um genau zu sein, zitiere ich: „Gadamers Nietzscheferne ist nicht mit einer persönlichen Abneigung zu erklären, sie hat einen sachlichen Grund. Gadamer sieht nämlich in Nietzsches hermeneutischem Radikalismus (alles ist Interpretation, also gibt es keine Wahrheit) einen Kurzschluß, der auf einem geheimen Kartesianismus gründet. Die Wahrheit, die es nicht gibt, ist die von Descartes, d. h. die auf einem fundamentum inconcussum gegründete, die schlechthin gewisse. Allein im Vergleich mit einer solchen Wahrheit können unsere Verstehensversuche wie bescheidene Perspektiven' oder Interpretationen' wirken, die völlig relativ und relativierbar sind. Der Paralogismus steckt für Gadamer darin, daß für Nietzsche daraus folgt, daß alle Wahrheit und alle Verständigung dahin sind. Dies ist nur stichhaltig, folgert Gadamer, wenn man die kartesianisch-methodische Wahrheit voraussetzt. Deshalb ist Gadamers ganze Hermeneutik bestrebt, an eine Erfahrung, besser: an Erfahrungen von Wahrheit zurückzuerinnern, die in dieser methodischen Wahrheit nicht aufgehen, aber die unser ganzes Verstehen nähren, die hermeneutische Wahrheit, die wir beispielsweise in der Begegnung mit anderen oder mit einem Kunstwerk erfahren, wo Wahrheit weniger auf Distanzierung als auf Anteilnahme beruht". 33 Und wer „Wahrheit und Methode" gelesen hat, der weiß, daß die hermeneutische Wahrheitserfahrung auch unsere Erfahrung der Geschichte einschließt und miteinbezieht. 34 In der oben zitierten Passage kommt aber noch etwas anderes zum Vorschein, was auf die Nähe Troeltschs zu einer hermeneutischen Perspektive hindeutet. Es ist der Gedanke der Teilnahme. Troeltsch weist bekanntlich Rankes Geschichtsschreibung sowie seine Theorie der historischen Erkenntnis zurück, will aber dennoch die „Objektivität" der historischen Erkenntnis epistemologisch begründen. Um dies zu erreichen, rekurriert er auf eine im Zeichen der,Partizipation' und Identität' stehende Erkenntnistheorie. Er deutet diese Teilnahme zwar in der ihm wohl am bekanntesten Begrifflichkeit der Monadologie von Leibniz
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Jean Grondin: Hans-Georg Gadamer und die französische Welt, in: Günter Figal (Hg.): Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, Stuttgart 2000, S. 157158. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (wie Anm. 23), S. 2 2 2 245, insbes. Teil 2: Ausweitung der Wahrheitsfrage auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften, wo er u.a. die Aporien des Historismus analysiert.
Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik
und Malebranche. Sie würde sich aber vielleicht viel besser mit dem hermeneutischen Begriff der Teilnahme an der Überlieferung und Wirkungsgeschichte auffassen lassen. Dies würde übrigens auch den Vorwurf relativieren, daß Troeltsch hier auf eine „vormoderne Begründung von Erkenntnis" zurückgreift. 35 Der paralysierende Eindruck, den Nietzsches Entwertung aller Werte auch bei Troeltsch hinterlassen hat, ließe sich ebenfalls mit Hilfe der Hermeneutik entschärfen. Nietzsches Nihilismus gründet darauf, daß es keine geltenden Werte mehr gibt. Auch hier kann man einen Kurzschluß konstatieren. Denn die Voraussetzung bzw. der Maßstab sind hier überzeitliche, absolute Werte. Seit Piaton wissen wir jedoch, daß der Zugang zu solchen Werten mit unserer Endlichkeit schlicht unvereinbar ist, was nicht heißt, daß wir o h n e jeglichen Halt bleiben. So schreibt J e a n Grondin völlig zu Recht: „Es ist in Gadamers Augen intellektueller Hochmut, das Fehlen einer für unsere Beweisansprüche letztbegründeten Wahrheit mit der Abwesenheit eines jeden Haltes bzw. mit einem heillosen Perspektivismus gleichzusetzen. Gibt es nicht die Solidarität, die tragende Gemeinschaft des Gesprächs, der Verständigung und des Zusammenseins? Selbst ihr Fehlen bezeugt ihre tragende Kraft. Denn man kann nur unter mangelnder Orientierung leiden und dies beklagen, wenn man einen gewissen gemeinsamen Boden teilt, und sei es nur den der fehlenden Orientierung, die sehr wohl eine neue Solidarität zu bilden vermag". 3 6 In seiner Selbstdarstellung aus dem Jahre 1923 hat Troeltsch seine Bemühungen als o h n e den erhofften Erfolg gebliebene bewertet, versuchte aber den Rang und das Ausmaß des Problems deutlich zu m a c h e n , das ihn seit jeher bewegte. Die Größe und die Bedeutung dieses Problems bleiben bis heute unangetastet. Troeltsch selbst war mit den Antworten, die i h m die zu seiner Zeit maßgebliche Transzendentalphilosophie Kants und des Neukantianismus angeboten hat, zu Recht nicht zufrieden. Er sah tiefer als sie, blieb aber in der Begrifflichkeit der Epoche verhaftet. In dem Sinne war er nur auf dem Weg zu einer hermeneutischen Lösung seines Grundproblems.
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In bezug auf dieses Problem vgl. Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma (wie Anm. 5), S. 4 7 - 4 8 . Jean Grondin: Hans-Georg Gadamer und die französische Welt (wie Anm. 33), S. 158 f.
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FRIEDEMANN VOIGT Die historische Methode der Theologie. Zu Ernst Troeltschs Programm einer theologischen Standortepistemologie 1. Vor der Geschichtstheologie Wenn in dieser Sektion von der „Geschichtstheologie" Ernst Troeltschs die Rede sein soll, dann erscheint es zunächst notwendig, eine kurze begriffliche Klärung vorzunehmen. 1 Der Begriff ist relativ jung: Als positioneile Selbstbezeichnung tritt er in den 1920er Jahren als Gegenentwurf zu geschichtsphilosophisch reflektierenden theologischen Ansätzen auf. In einer „Geschichtstheologie" sollte das geschichtliche Handeln Gottes gegenüber der philosophisch-kategorialen Erörterung von Geschichtskonstruktionen wieder ins Recht gesetzt werden. Die Geschichtstheologen wandten sich damit dezidiert gegen Ernst Troeltsch. Der Begriff Geschichtstheologie ist daher für die Position Troeltschs nicht gebräuchlich, weder als Selbst- noch als Fremdbezeichnung. 2 Troeltsch selbst gebraucht den Begriff „Geschichtstheologie", soweit ich sehe, ein einziges Mal und zwar lediglich deskriptiv für eine Auffassung des biblischen Judentums. 3 Während also den „Geschichtstheologen" die Abgrenzung von Troeltsch und der Geschichtsphilosophie dazu diente, ihren eigenen Theologiebegriff besonders eigenständig, von anderen Wissenschaften unabhängig zu definieren, soll im folgenden davon die Rede sein, welchen Sinn es hat, 1
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Für die folgenden begriffsgeschichtlichen Bemerkungen vgl. Trutz Rendtorff: Geschichtstheologie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3 (1974), Sp. 4 3 9 - 4 4 1 ; sowie ders.: Geschichtstheologie, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 4., völlig neu bearbeitete Aufl., hrsg. von Hans Deiter Betz u. a., Band 3, Tübingen, 2000, Sp. 8 1 3 - 8 1 7 . Eine Ausnahme ist die Bezeichnung der „Geschichtstheologie von E. Troeltsch" durch Albert Schweitzer: Von Reimarus zu Wrede. Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906), S. 495. Hier zitiert nach Trutz Rendtorff: Geschichtstheologie (wie Anm. 1), Sp. 439. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, in: ders.: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 5) (im folgenden: KGA 5), Berlin, New York 1998 , S. 8 1 - 2 4 4 , hier S. 235.
Friedemann Voigt
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in der Theologie historisch zu verfahren. Und dies nicht lediglich als Erörterung theologiegeschichtlicher Natur, sondern in der grundsätzlichen und Troeltsch angemessenen Verhandlung der Bedeutung des historischen Denkens für die Grundlegung der Theologie. Daß es sich bei der Begegnung von theologischem und historischem Denken u m einen für seine Theologie sowohl dem Entdeckungszusamm e n h a n g wie der Systematik nach grundlegenden Sachverhalt handelt, hat Troeltsch mehrfach ausgesprochen. Zitiert sei hier die Formulierung aus dem Aufsatz „Die Stellung des Christentums unter den Weltreligion e n " . Er gehört zu den postum erschienenen Texten, die Troeltsch für eine Einladungsreise nach England und Schottland im März 1923 vorgesehen hatte. Der Vortrag zu den Weltreligionen sollte in Oxford gehalten werden, und Troeltsch beabsichtigte, sich den englischen Zuhörern in den ersten Sätzen vorzustellen. Er ordnet dabei die geschichtsphilosophische Fragestellung nach dem Verhältnis von „Entwicklung" und „Maßstab" werkgenetisch und systematisch in seine theologische Arbeit ein. Der „Zusammenstoß des historischen Denkens und der normativen Festsetzung von Wahrheiten und Werten", so Troeltsch, bilde „Kern und Ausgangspunkt" seiner wissenschaftlichen Arbeit. 4 Schon in seinen „frühesten Jugendjahren" habe ihn das Problem beschäftigt, wie die „objektive, kontemplative" Betrachtung der Geschichte auf der einen Seite und die „starke und zentrale religiöse Lebensposition" als „Zentrum in allen praktischen Fragen" auf der anderen Seite zu vermitteln seien. Dieser Konflikt zwischen historisch kontemplativer objektiver Betrachtung und religiös motivierter persönlicher Lebensgestaltung sei freilich nur die „persönliche Form", in der ihn ein allgemeines „Lebensproblem der modernen Welt" affiziert habe. Die wiederum spezifische Auseinandersetzung mit diesem allgemeinen Problem, die Troeltsch wählte, sei die Analyse der „Mittel", „mit denen sich die Theologie dieser Schwierigkeiten erwehren kann. Es ist also die Prüfung der Grundkonzeptionen aller Theologie überhaupt." 5 Nehmen wir diesen Hinweis Troeltschs zum Anlaß, einen Blick zurück in die Formationsphase von Troeltschs wissenschaftlicher Arbeit zu wer-
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Ernst Troeltsch: Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen, in: Ernst Troeltsch Lesebuch. Ausgewählte Texte, hrsg. von Friedemann Voigt, Tübingen 2003, S. 45-60, hier S. 45 f. Ebd., S. 48.
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Die historische Methode der Theologie
fen, um dort die Verbindung von historischem und theologischem Denken gleichsam im status nascendi zu beobachten.
2. Der theologisch-religionsgeschichtliche Troeltschs Theologie
Entstehungskontext
von
Die Prüfung der theologischen Grundkonzeptionen durch ihre Zusammenführung mit dem historischen Denken - dies ist die Aneignung und Fortentwicklung von Anstößen, welche durch die „Entdeckung der Religionsgeschichte" gegeben wurden. Hans G. Kippenbergs gleichnamiges Buch zeigt die Entwicklung der Religionsgeschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. 6 Die Aufbruchsstimmung, welche von der religionsgeschichtlichen Arbeit ausging, war nicht zuletzt die, eine dezidiert „wissenschaftliche" Religionsanalyse zu betreiben. Dieser Anspruch der Wissenschaftlichkeit konnte sich einerseits mehr oder weniger deutlich gegen die Theologie richten und befeuerte so die Entstehung einer sich von der Theologie emanzipierenden Religionswissenschaft, für deren Impetus die Formel „Religion ohne Theologie" gewählt werden kann. 7 Auf der anderen Seite inspirierte die religionsgeschichtliche Arbeit die Theologen der Lehrergeneration Troeltschs vor allem in der Bibelkritik. Ihre Schüler fragten dann nach der prinzipiellen Bedeutung der historischen Betrachtungsweise für die Theologie. In Göttingen war das Epizentrum dieser Bewegung: die sogenannte „Religionsgeschichtliche Schule", die sich um Troeltsch, Bousset, Gunkel und andere bildete. 8 Ihre Überlegungen führten zu Debatten, in denen sich die-
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Hans G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997. Zu dieser Formel vgl. auch Trutz Rendtorff: „Wesen des Christentums" und Welt der Religionen. Beobachtungen zu Harnacks Stellung im Diskurs über Theologie und Religionswissenschaft, in: Kurt Nowak, Otto Gerhard Oexle, Trutz Rendtorff, Kurt-Victor Selge (Hg.): Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft. Wissenschaftliches Symposion aus Anlaß des 150. Geburtstages, Göttingen 2003, S. 2 5 9 - 2 7 4 , bes. S. 2 5 9 - 2 6 1 . Vgl. den Rückblick von Ernst Troeltsch: Die Dogmatik der „religionsgeschichtlichen Schule", in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 2), Tübingen 1913, S. 5 0 0 - 5 2 4 . Dazu vgl. auch Friedrich Wilhelm Graf: Der „Systematiker" der „Kleinen Göttinger Fakultät". Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Untersuchungen zur Bio-
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Friedemann Voigt
se Theologen der jüngeren Generation, auch einfach „Troeltsch und Genossen" genannt, 9 zunehmend kritisch mit der Theologie Albrecht Ritschis auseinandersetzten, von der auch sie noch im Studium geprägt worden waren. Dies führte zu heftigen Auseinandersetzungen mit älteren Vertretern der Ritschl-Schule, wie etwa Ferdinand Kattenbusch und Julius Kaftan. In diesen Streitigkeiten benannte Troeltsch mit „historischer" und „dogmatischer" Methode der Theologie die Differenzen.10 Nach seiner eigenen, der historischen Methode stehe die „Verwandlung der Theologie in eine phänomenologisch-historische Beschäftigung mit der Religion" an, 11 während die „alte", dogmatische Methode mit dem Dualismus von Profan- und Heilsgeschichte gerade in der Rekonstruktion der Heilsgeschichte ihre Aufgabe sehe. Die Konzentration auf diese Heilsgeschichte bedeute aber, daß die so verfahrende Theologie kein Interesse an der geschichtlichen Religion nehme. Troeltsch spitzte also seine Kritik an der dogmatischen Methode gleichsam daraufhin zu, sie bilde eine „Theologie ohne Religion". Daß für Troeltschs Standpunkt die Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Theologie tatsächlich entscheidende Bedeutung hat, soll hier an dem Text „Zur theologischen Lage" aus der „Christlichen Welt" des Jahres 1898 gezeigt werden.12 Schon der Anlaß dieses Traktats führt den religionswissenschaftlichen und den innertheologischen Kontext von Troeltschs Erörterungen auf charakteristische Weise zusammen: Der Auslöser waren Angriffe auf Troeltsch und andere jüngere Theologen durch den Altritschlianer Ferdinand Kattenbusch. Kattenbusch grenzte diese Gruppe wegen ihres Bemühens um eine historische Methode, das „ihr Bedürfnis,modern' zu sein" zeige, aus der Ritschl-Schule aus.13 Diese maliziöse Wendung von dem „Bedürfnis, modern zu sein", schloß den Vorwurf in sich, mit der Berücksichtigung historischer Methoden nicht nur dem skeptisch-relativistischen
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graphie und Werkgeschichte (Troeltsch-Studien, Band 1), 2. Aufl., Gütersloh 1985, S. 235-290. Vgl. die Einleitung in KGA 5, S. 1-50, hier S. 10. Ernst Troeltsch: Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie (1900), in: Ernst Troeltsch Lesebuch (wie Anm. 4), S. 2 - 2 5 . Ebd., S. 16. Ernst Troeltsch: Zur theologischen Lage. Erste Hälfte, in: Die Christliche Welt 12 (1898), Sp. 627-631; ders.: Zur theologischen Lage. 2 [Duhm], in: Die christliche Welt 12 (1898), Sp. 650-657. Ferdinand Kattenbusch: In Sachen der Ritschlschen Theologie, in: Die Christliche Welt 12 (1898), Sp. 5 9 - 6 2 und Sp. 75-81, hier Sp. 77.
Die historische Methode der Theologie
Zeitgeist zu folgen, sondern zudem der Entmächtigung der Theologie im Namen einer betont szientifischen Religionswissenschaft das Wort zu reden. Troeltsch hielt dem entgegen, die Theologie leide seit hundert J a h r e n darunter, daß in ihr das historische Denken zwar in Bibelforschung und Kirchengeschichte zu bedeutenden Einsichten führe, aber die sich von daher aufdrängende Frage, was die Einsicht in die Entwicklung des Christentums für dessen Würdigung bedeute, durch den doppelten Geschichtsbegriff der dogmatisch verfahrenden Theologie abgewehrt werde. „Es gilt, die allgemeinen religionsgeschichtlichen Methoden, denen wir außerhalb des christlichen Gebietes alle Erfolge verdanken, und denen auch das M a ß geschichtlichen Verständnisses, das wir auf christlichem Gebiet besitzen, teils willig, teils widerwillig verdankt wird, o h n e jeden Vorbehalt anzuwenden und zu sehen, was dabei herauskommt, eine Aufgabe, deren Lösung v o n der Dogmatik der Schule Ritschis überall im Keime erstickt wird." 1 4 Zugleich, so Troeltsch weiter, sei es gerade das Ziel, „bei aller Anerkennung der modernen Methoden doch Möglichkeit und Notwendigkeit fester religiöser Überzeugungen zu erweisen". 1 5 Als positives Vorbild für die Verbindung allgemeiner historischer Methoden mit dem religiösen Interesse zieht Troeltsch den Alttestamentier Bernhard D u h m heran. 1 6 D u h m habe den „Unterschied von Religion und Theologie" sehen gelehrt. Diese Differenz sei zwar altbekannt, jedoch habe Duhm den „tiefere[n] Grund und die eingreifenden Folgen dieses Unterschieds" deutlich gemacht, der meist „nur eine instinktive Einsicht des natürlichen religiösen Gefühls" gewesen sei. „Den eigentlichen Grund entdeckte erst die vergleichende religionswissenschaftliche Forschung, die in aller Theologie die Religion als die eigentliche, von ihr nur scheinbar verhärtete, in Wahrheit aber immer flüssige und immer bewegliche Grund-
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Ernst Troeltsch: Zur theologischen Lage. 2 [Duhm] (wie Anm. 12), Sp. 629 f. Ebd., Sp. 630. Troeltsch hatte in seinem Studium im Sommersemester 1887 bei Duhm eine fünfstündige Vorlesung „Erklärung der Psalmen" und im Wintersemester 1887/88 vierstündig „Religionsgeschichte" gehört, s. Horst Renz: Troeltschs Theologiestudium, in: Untersuchungen zu Biographie und Werkgeschichte (wie Anm. 8), S. 48-59. Zum Einfluß Duhms auf Troeltsch s. auch die Bemerkungen bei Friedrich Wilhelm Graf: Licentiatus theologiae und Habilitation, in: ebd., S. 78-102, bes. S. 81-83, sowie ders.: Der „Systematiker" der „Kleinen Göttinger Fakultät" (wie Anm. 8).
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kraft aufzeigt." Stehe in diesem Verständnis der dynamischen Religion eine starre Theologie gegenüber, sei es die nun anstehende Aufgabe, „die Religion der psychologisch-analytischen und entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung" zu unterziehen, und so eine Theologie zu erhalten, die „alle Religionen psychologisch und geschichtlich zu beschreiben und in ihrer Entwicklung aufzuzeigen sucht. Eine solche Wissenschaft ist aber in ihrem Wesen nie fertig, kann keine fertige und vollkommene Wahrheit beweisen, ist vielmehr beständig bereit zur Selbstberichtigung und zu neuen Erkenntnissen." In dieser dynamischen Verfassung stimme sie „vollständig überein mit dem Wesen des Gegenstandes, mit dem Wesen religiöser Vorgänge". 1 7 Das Modell Duhms kann oberflächlich zwar als eine Variante der Formel „Religion o h n e Theologie" erscheinen, für Troeltsch jedoch repräsentiert es mehr: nämlich ein Übergangsmodell für den Umbau der Theologie im Geiste des historischen Denkens. Die Unterscheidung von Religion und Theologie dient dem besseren wissenschaftlichen, sprich: historischen Verständnis der Religion. Sie erfolgt aber ebenso im Interesse der Religion selbst, indem sie den Schutz vor Festlegung des religiösen Lebens bietet. Dieses religiöse Interesse unterscheidet die Theologie Duhms von der Religionswissenschaft. 1 8 Unbefriedigend, so Troeltsch, bleibe bei Duhm aber die Beschränkung der Wissenschaft auf Beschreibung und Erklärung der Religion ohne Behandlung der normativen Fragen. 1 9 Zweitens tendiere Duhms Version der Unterscheidung von Religion und Theologie zu ihrer völligen Trennung. Duhms „Begriff der theologiefreien Religion", so Troeltsch an anderer Stelle, ist „ein sehr undeutlicher und aller Wirklichkeit der höheren Religionen widersprechender". 2 0 Dies ist der entscheidende Punkt: Eine absolute Trennung von Religion und Theologie, erfolgt sie auch im Interesse an der Unversehrtheit des religiösen Lebens, wird den Wechselwirkungen von Religion und Theologie, 17 18
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Ernst Troeltsch: Zur theologischen Lage. 2 [Duhm] (wie Anm. 12), Sp. 651. Signifikant hierfür folgende Formulierung Troeltschs: „Nur eins muß die Religion aufgeben, wenn sie im Konflikt mit der Religionswissenschaft nicht erliegen soll, die Verwechslung der Religion mit der Theologie", ebd., Sp. 652 (Hervorhebung durch mich, F. V.). Ebd., Sp. 652. Ernst Troeltsch: [Rez.] Carl Albrecht Bernoulli: Die wissenschaftliche und kirchliche Methode in der Theologie, Freiburg 1897, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 160 (1898), S. 425-435, hier S. 432.
Die historische Methode der Theologie
Religion und Wissenschaft nicht gerecht. Werden diese Wechselwirkungen aber nicht berücksichtigt, entsteht die Gefahr eines Dualismus, wie dies bei der dogmatischen Methode und ihrer Unterscheidung einer Profan- und Heilsgeschichte der Fall ist. Ernst Troeltsch markiert hingegen das Interesse an der „Zusammenbestehbarkeit" von religiöser und wissenschaftlicher Weltanschauung. 21 Diese Zusammenbestehbarkeit muß aber mehr sein als Postulat, sie muß auch Ermöglichungsgründe in der historischen Wirklichkeit besitzen. Erst diese historischen Ermöglichungsgründe geben dann wieder dem theologischen Postulat Gründe. Oder in anderen Worten: Die Theologie als „phänomenologisch-historische Beschäftigung mit der Religion" gewinnt Gestalt in der Beschäftigung mit der Geschichte von Christentum und moderner Welt. Die Ermittlung des eigenen theologischen Standortes wird zum Anlaß, dessen Herkunft und Gegenwart im Verhältnis von Religion und moderner Welt darzulegen. Im folgenden sollen die wichtigsten Strukturmerkmale dieses Verhältnisses dargestellt werden, so wie sie sich in Troeltschs Analysen dargestellt finden: im Blick auf die Frömmigkeit, die Institutionen und die Lebensordnungen.
3. Strukturwandel der Frömmigkeit In der Absolutheitsschrift entfaltet Troeltsch den Gedanken, im Christentum sei die persönliche Gottesbeziehung in höchster Weise ausgebildet. Korrelat dieser persönlichen Gottesbeziehung ist die Schätzung der individuellen Persönlichkeit. Hierin liege die kulturbedeutsame Prägekraft des Christentums begründet, die nicht zuletzt dem Christentum eine positive Beziehung zur Moderne ermöglicht. Vor allem im vierten Kapitel der Absolutheitsschrift hatte Troeltsch diese personalistische Signatur des Christentums auf dem Weg religionsgeschichtlicher Betrachtungsweise, im Vergleich mit anderen Religionen, also durchweg „historisch" und nicht „dogmatisch" erhoben. 2 2 So kann er zwar sagen, das Christentum sei die „stärkste und gesammeltste Offenbarung der personalistischen Religiosität", 23 relativiert dabei aber gleichzeitig - gemäß der Geltungskraft historischer Er-
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So die bekannte Formulierung in Ernst Troeltsch: Die christliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Gegenströmungen, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 3 (1893), S. 4 9 3 - 5 2 8 , und 4 ( 1 8 9 4 ) , S. 1 6 7 - 2 3 1 , hier S. 4 9 4 .
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KGA 5, S. 1 9 0 - 1 9 9 . Ebd., S. 195.
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kenntnisse - den Anspruch der „Absolutheit" auf das Urteil einer „Höchstgeltung" des Christentums. Diese wissenschaftliche Relativierung aber tue der subjektiven Frömmigkeit keinen Abbruch, denn sie stärke die Anschauung vom Christentum als „einer wirklichen Offenbarung Gottes und der Gewißheit, daß er [der Fromme, F. V.] eine höhere sonst nirgends finden könne". 24 Troeltsch ist es mit dieser Argumentation um den Aufweis zu tun, daß die historisch verfahrende Theologie in einem konstruktiven Verhältnis zu Religion und Frömmigkeit steht. In seinen Worten: Der subjektiven Frömmigkeit genügt die historische Betrachtungsweise, „um ihr volle Kraft und Sicherheit zu geben". 25 Ist dies der Fall, kann gesagt werden, daß zwischen dem christlichen Glauben und dem historischen Denken, daß zwischen Christentum und moderner Welt ein konstruktiver und lebensfähiger Zusammenhang besteht. Bestand und Erhalt dieses Zusammenhanges sind freilich alles andere als selbstverständlich. Für Troeltsch steht die Frage im Zentrum, welches der theologische Beitrag dazu sein kann. Es muß immer wieder gesagt sein, daß diese innertheologische Fragestellung sowohl Anlaß wie Zielpunkt von Troeltschs Absolutheitsschrift ist. 26 Hatte Troeltsch also die grundsätzliche Möglichkeit eines Zusammenbestehens von christlicher und wissenschaftlicher Weltanschauung erhoben, muß im Interesse einer theologischen Wahrung dieser Möglichkeit die Analyse tiefer in deren Verhältnis eindringen. Dies geschieht auch tatsächlich: Den Unterschied zwischen der Gewißheit subjektiver Frömmigkeit einerseits und wissenschaftlicher Relativität andererseits hat Troeltsch durch die Begriffe von „naiver" und „wissenschaftlicher" Absolutheit markiert. „Naive Absolutheit" mache ein Strukturmerkmal aller Frömmigkeit aus, während die wissenschaftliche Absolutheit unter Bedingungen des historischen Denkens unmöglich geworden ist.27 Dieses Problem der zwei Absolutheiten aber, so Troeltsch, steht für „das allgemeine Problem des Verhältnisses des
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Ebd., S. 2 0 4 . Ebd., S. 2 0 5 .
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Vgl. dazu auch die Einleitung zur Kritischen Ausgabe der Absolutheitsschrift (KGA 5), S. 3 7 . Vgl. Kap. 6 der Absolutheitsschrift, in: KGA 5, S. 2 1 0 - 2 4 4 , u n d Ernst Troeltsch: Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen (wie Anm. 4), S. 4 8 54.
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Die historische Methode der Theologie
naiven Weltbildes zum wissenschaftlichen in seiner Anwendung auf die Religion". 28 Denn auch und gerade unter den Bedingungen der Zusammenbestehbarkeit von christlichem Glauben und wissenschaftlichem Denken sind die Einwirkungen modernen Wissens und Denkens auf die subjektive Frömmigkeit unverkennbar. Dazu zählt, daß die Unmöglichkeit wissenschaftlicher Absolutheit den Verlust des apologetischen Fundamentes der Kirche mit sich bringt. 2 9 Dies bedeutet den Schwund gemeinschaftsorientierter und das Anwachsen individualistischer Frömmigkeitstypen heute würden wir von einer Privatisierungsthese sprechen. Dazu zählt weiter das Bewußtsein konkurrierender Wahrheitsansprüche, das zur Auflösung gegenständlich-eindeutigen Wahrheitsbewußtseins führt. Das hat tiefgreifende Folgen sowohl für den Umgang des Frommen mit gegenständlichen Glaubensinhalten, den „Dogmen", als auch für das religiöse Innenerleben, für welches das Differenzbewußtsein gegenüber anderen Wahrheitsansprüchen nicht folgenlos bleiben kann. Troeltsch bezeichnet hier ein Phänomen, für das in der Religionssoziologie des 20. Jahrhunderts der Begriff der „Dauerreflexion" geprägt wurde. 30 Bei Troeltsch lautet das gegen Ende der Absolutheitsschrift wie folgt: „Die Verwandelung des naiven Weltbildes in das wissenschaftliche hat die Erde um die Sonne und die Sonne um unsichtbare Sternenwelten kreisen lassen, hat die Erkenntnis statt einfach nach den Dingen nach Gesetzen und Nötigungen des Bewußtseins sich richten lassen, hat die objektiven Kulturwerte zu widerspruchsreichen menschlichen Hervorbringungen gemacht; es hat auch die naive Selbstgewißheit der Religion zu wissenschaftlichen Begründungen und Auseinandersetzungen genötigt, in denen schließlich die Religion psychologisch zu einem vielfach bedingten Phänomen des Subjekts und
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KGA 5, S. 215. Ebd., S. 230 f. Helmut Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 1 (1957), S. 1 5 3 - 1 7 4 . Während aber bei Schelsky die Dauerreflexion zu einer reinen Funktion der Individualität zu werden scheint (S. 161) und sich daher von den traditionellen Gehalten des Christentums ablöst, bleibt sie bei Troeltsch als kritisches Bewußtsein gegenüber den traditionellen Gehalten dennoch auf diese bezogen.
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historisch zu einem unbegrenzten Reiche einzelner, großenteils gleiche Ansprüche erhebender Religionen geworden ist." 3 1 Der selbständige Kern der Religion, die „Leben und nicht Denken" 3 2 ist, bleibt bestehen. 3 3 Gegen alle „Radikalismen" formuliert Troeltsch dabei das Ziel, „daß der naive Bestand der Wirklichkeit nicht vernichtet, sondern in höherem Zusammenhang gesehen wird". Geschieht das, so Troeltsch weiter, „dann zeigt sich, daß die wissenschaftliche Verwandelung nicht bloß Schmerzen, Sorgen und Brüche mit sich bringt, sondern andererseits auch eine erhebende und befreiende Wirkung". 3 4 Das freilich sind visionäre Formulierungen Troeltschs, gleichsam die Version von „Geschichte durch Geschichte überwinden" anno 1902. Troeltschs Einschätzung der zersetzenden Wirkungen des modernen Individualismus hat sich in den folgenden Jahren weiter verstärkt. Genannt seien nur die Krisenanalytik aus „Das Wesen des modernen Geistes" 35 und seine Vergleiche deutscher und westeuropäischer Individualitätskonzepte unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges. Troeltsch wies immer wieder darauf hin, daß deren Unterschiede in Religionsproblemen Europas gründeten, die nur scheinbar überwunden seien. 3 6 An dem Ziel einer Weltbildsynthese „in praktischer Absicht" hat Troeltsch dabei aber immer festgehalten. Bleiben wir hier aber bei den Umbildungsaufgaben, die aus dieser Analyse des Strukturwandels der Frömmigkeit entstehen. Sie liegen auf dem
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KGA 5, S. 215. Ernst Troeltsch: Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen (wie Anm. 4), S. 53. Bei Schelsky dagegen scheint an eine Auflösung dieses selbständigen Kerns der Religion gedacht. Religion wird bei ihm als reine Individualitätsfunktion begriffen, in der „das moderne Verhältnis des Ich zu sich selber gesucht" wird, Helmut Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? (wie Anm. 30), S. 161. KGA 5, S. 216. Ernst Troeltsch: Das Wesen des modernen Geistes (1907), in: Ernst Troeltsch Lesebuch (wie Anm. 4), S. 124-166. Vgl. zur Krisenanalytik Troeltschs auch Friedrich Wilhelm Graf: Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Protestantismus und Neuzeit (Troeltsch-Studien, Band 3), Gütersloh 1984, S. 2 0 7 - 2 3 0 . Vgl. z. B. Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft (1921), in: Ernst Troeltsch Lesebuch (wie Anm. 4), S. 3 1 5 - 3 4 6 .
Die historische Methode der Theologie
Feld der Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Theologie und praktischer Frömmigkeit. Troeltsch hat dies deutlich gesehen. Für diese Vermittlungsaufgabe erachtete er vor allem die Institutionen für entscheidend. Damit sind wir beim zweiten wichtigen Aspekt seiner Analyse der Beziehung von Christentum und Moderne.
4. Strukturwandel der Institutionen Für Troeltschs eingehende Beschäftigung mit den religiösen Vergemeinschaftungsformen Kirche, Sekte und Mystik bedarf es hier im einzelnen keiner Nachweise. Auch wenn die historischen Untersuchungen von Troeltschs diesbezüglichem Hauptwerk, den „Soziallehren", bekanntlich nur bis zum 18. Jahrhundert reichen, besitzen sie einen hohen zeitdiagnostischen Wert. 37 Die traditionellen Formen von Kirche, Sekte und Mystik sind in Troeltschs Urteil den gegenwärtigen Aufgaben ebenso unangemessen wie die traditionale dogmatische Theologie. Sie stellen entweder mißglückte Adaptionen an die modernen Erfordernisse dar oder haben, wie im Falle der Mystik, die Tendenz, zu einer gemeinschaftslosen Frömmigkeit zu werden und sich damit vom Christentum zu lösen. Troeltsch beschreibt deshalb im Schlußkapitel der „Soziallehren" die Errichtung einer der modernen Lage angemessenen Organisationsform als eine der vordringlichen Aufgaben des Protestantismus. 38 In seinen Analysen von Kirche, Sekte und Mystik nahm Troeltsch Anregungen der sich formierenden Soziologie auf und wirkte durch seine eigenen Beiträge bereichernd auf die Soziologie zurück. 39 Hat Troeltschs Typologie in der Religionssoziologie einen fast schon kanonischen Status, ist seine Anerkennung als Kirchendenker in der Theologie durchaus umstritten. Hier hat es zu widersprüchlichen Deutungen geführt, daß Troeltsch einerseits den Individualisierungsprozessen der Religion so große Aufmerk-
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Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 1), Tübingen 1912. Vgl. das Schlußkapitel der „Soziallehren", ebd., S. 9 6 5 - 9 8 6 . Vgl. hierzu Arie L. Molendijk: Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik (Troeltsch-Studien, Band 9), Gütersloh 1996; Friedemann Voigt: „Die Tragödie des Reiches Gottes"? Ernst Troeltsch als Leser Georg Simmeis (TroeltschStudien, Band 10), Gütersloh 1998.
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samkeit geschenkt hat, andererseits bei der Frage nach der Sozialgestalt des modernen Christentums als entschiedener Verfechter einer „elastisch gemachten Volkskirche" aufgetreten ist. 4 0 Troeltschs soziologische Analysen haben die Einsicht hervorgebracht, daß das Christentum o h n e eine angemessene organisatorische Gestalt nicht überlebensfähig ist. Dafür sieht Troeltsch allein den Kirchentypus befähigt. Nur er kann die verschiedenen Erscheinungsformen der Frömmigkeit umfassen und zusammenzuführen. Gegenüber der Ausprägung des Kirchentypus, wie ihn die Untersuchungen in den „Soziallehren" vor allem für das Mittelalter gezeigt hatten, kann dessen moderne Gestalt aber natürlich nicht mehr durch Gewalt, Staatsreligion und Konformität bestimmt werden, sondern bedarf einer Aufnahme von Momenten der Freiwilligkeit und Toleranz, wie sie für die Verfassung von Sekten und Mystik kennzeichnend sind. Troeltsch war sich der Schwierigkeiten dieser Umbildungsaufgaben für die Kirchen bewußt: Die historische Betrachtungsweise fordert nicht nur die Anerkennung einer nicht mehr vollständig kirchlich integrierten Theologie, sondern ebenso einen Verzicht auf die kirchliche Totalintegration der Religion. Positiv formuliert ist es freilich eben diese Form, in der das gegenwärtige Christentum den in seiner Religionsgeschichte ausgebildeten Personalismus am Ort gelebter Religion befördert, indem es die notwendige institutionelle Rahmenbedingung für die Bewahrung und Förderung der personalistischen Potentiale des Christentums bietet. Die Betonung dieser rein religiösen Schutz- und Bildungsaufgabe der Kirche ermöglichte Troeltsch dann auch, die Trennung von Staat und Kirche zu befürworten. An der Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche in der Weimarer Verfassung, wie sie in weiten Teilen in unser Grundgesetz übernommen wurde, wirkte er maßgeblich mit. 4 1
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Zu diesen Schwierigkeiten der Rezeption s. Arie L. Molendijk: Zwischen Theologie und Soziologie (wie Anm. 39), S. 145-148. Das Zitat der „elastisch gemachten Volkskirche" in: Ernst Troeltsch: Die Kirche im Leben der Gegenwart, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 2 (wie Anm. 8), S. 91-108, hier S. 105. Vgl. etwa Ernst Troeltsch: Der Religionsunterricht und die Trennung von Staat und Kirchen (1919), in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 15) (im folgenden: KGA 15), Berlin, New York 2002, S. 123-146. Vgl. auch den Editorischen Bericht zu diesem Vortrag, ebd., S. 111-122, sowie die Einleitung, ebd., S. 16-23.
Die historische Methode der Theologie
Die Verbindung der theologischen Standortanalyse mit den praktischen religiösen Gestaltungsaufgaben ist im Falle von Troeltschs Kirchentheorie von hoher konzeptioneller Geschlossenheit: Seine Begriffe von personalistischer Frömmigkeit und Volkskirche sind komplementär zueinander angelegt. Doch sind die Erwägungen zur organisatorischen Gestalt und Verfassung der Kirche noch keine vollständige Antwort auf ihre Vermittlungsaufgaben. Vielmehr muß die von Troeltsch in Aussicht gestellte Aufhebung des Widerstreits von naivem und wissenschaftlichem Weltbild mit den kirchlichen Funktionen der Verkündigung und Unterweisung verbunden sein, für deren Konzeption der Hinweis auf die volkskirchliche Verfassung der Kirche nicht ausreichend ist. Troeltsch hat dies auch durchaus gesehen und hierfür der Dogmatik eine bestimmende Rolle zugeschrieben. Die Dogmatik habe „ein Bekenntnis und eine Zergliederung des Bekenntnisses als Anleitung für Predigt und Unterricht" zu sein. 4 2 Daher gehört die Dogmatik in diesem Sinne einer „Glaubenslehre" bei Troeltsch auch zur Praktischen Theologie. 4 3 Troeltsch empfiehlt hier übrigens eine relativ „konservative" Ausdrucksgestalt, die sich zunächst an die überlieferten Bestände hält und weniger diese umformt als vielmehr mit Blick auf die Lebenswelt interpretiert. Die „Dogmatik" diesen Zuschnitts rückt also gegenüber der Religion und der sie rekonstruierenden Theologie in eine Mittellage. 44 Wenn sich Kirche und Dogmatik so verstehen, werde es „dem Pfarrer dann leichter werden", so Troeltsch, „die Wissenschaft zu benutzen und sich doch unabhängig von ihr zu erhalten. Es wird dem Laien erspart sein, daß er auf der Kanzel das beständig bekämpft und beschimpft hört, was er zu Hause in allen seinen Büchern liest oder bei seiner Arbeit überall voraussetzt, aber auch daß er
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Ernst Troeltsch: Die Dogmatik der „religionsgeschichtlichen Schule" (wie Anm. 8), S. 513. Für Troeltschs Dogmatik-Konzeption vgl. Hans-Joachim Birkner: Glaubenslehre und Modernitätserfahrung. Ernst Troeltsch als Dogmatiker, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Umstrittene Moderne. Die Zukunft im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien, Band 4), Gütersloh 1987, S. 3 2 5 337; Walter E. Wyman Jr.: The Concept of Glaubenslehre. Ernst Troeltsch and the Theological Heritage of Schleiermacher, Chico 1983. Vgl. zu dieser „Mittelstellung" der Dogmatik als Glaubenslehre Martin Weeber: Unterscheidungen - Zuordnungen - Äquivalente. Über Problemstellungen der Dogmatik, in: Christian Albrecht, Friedemann Voigt (Hg.): Vermittlungstheologie als Christentumstheorie, Hannover 2001, S. 1 4 7 - 1 7 1 .
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eine freisinnige Versöhnung von Wissenschaft und Theologie rühmen hören muß, von der draußen nirgends etwas zu merken ist. Darin wird jeder einen Gewinn sehen, der nicht durchaus ein System haben muß, und der sich darein finden kann, in einer Zeit religiöser Krisis und Gärung zu leben." 45 Nirgends geht der Vorwurf einer modernitätsseligen Akkommodation der Theologie Troeltschs so weit an den Tatsachen vorbei wie im Falle seines Dogmatik-Begriffs. 5. Strukturwandel der Lebensordnungen Die bisherigen Erörterungen zum modernen Wandel von Frömmigkeitsund Organisationsform des Christentums sind auf die traditionellen Felder der Religion, Glauben und Kirche, bezogen. Dabei geht es Troeltsch darum, das selbständige personalistische Potential des Christentums hervorzuheben, das ihm Distanz und Nähe zur modernen Welt ermöglicht. Es ist nur ein kleiner und naheliegender Schritt, von hier zu Analysen der Beziehung des Christentums zur modernen Welt überzugehen. Die Darstellung der vom Christentum teils bedingten, teils unabhängigen Entwicklung der modernen Welt ist aber für Troeltschs theologisches Programm nicht nur naheliegend, sondern auch notwendig: Sie bringt wesentliche Argumente zur Berechtigung der eigenen theologischen Position bei, deren Angemessenheit von der Analyse der Genese der modernen Welt gleichsam überprüft wird. Dies darf freilich nicht so mißverstanden werden, daß dabei ein objektiver historischer Blick über eine subjektive theologische Position zu Gerichte sitzt, sondern es wird eine Selbstbestimmung der theologischen Position vollzogen, die das Wissen über sich selbst als historische Position einschließt. Dies erfordert und ermöglicht erstens die streng wissenschaftliche, „wertfreie" historische Forschung, setzt diese aber in einem zweiten Schritt in einen konstruktiven Zusammenhang mit den normativen Urteilen über den Wert der Religion. Sehr gut illustrieren läßt sich dieses zweistufige Vorgehen an Troeltschs Vortrag über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt". In der „Vorbemerkung"46 hebt 45 46
Troeltsch faßt hier zustimmend die Position Duhms zusammen, in: Zur theologischen Lage. 2 [Duhm] (wie Anm. 12), Sp. 653. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: ders.: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die
Die historische Methode der Theologie
Troeltsch mehrfach den streng wissenschaftlichen Charakter der folgenden Ausführungen hervor und läßt auch während des Vortrages mehrfach den Konstruktionscharakter der Darstellung deutlich werden. Deren Ausführungen erfolgen materialiter, indem Troeltsch zunächst die Unterschiede der modernen Kultur zu Mittelalter und Altprotestantismus darlegt und die tiefgreifenden Gegensätze der kirchlichen zur modernen, „kirchenfreie n " Kultur hervorhebt, u m sodann im Neuprotestantismus eine zur modernen Kultur vermittlungsfähige Gestalt des Christentums zu identifizieren. Die Erörterungen des Kausalzusammenhanges von Protestantismus und moderner Welt münden schließlich in die bekannte Doppelthese von der weitgehend v o m Protestantismus unabhängigen Entstehung der Lebensordnungen der modernen Welt einerseits sowie der indirekten Folgen des christlichen Persönlichkeitsgedankens für den modernen Individualismus andererseits. W e n n Troeltsch dann im Schlußkapitel im neuprotestantischen Personalismus die Gestalt der Religion identifiziert, die der modernen individualistischen Kultur auf Augenhöhe zu begegnen erlaubt, 4 7 vollzieht er den Brückenschlag hin zur normativen Bestimmung. Dabei verläßt er die Ebene der rein historischen Betrachtung und erweitert diese, gleichsam in einer Beobachtung zweiter Ordnung, zu einer theologischen Standortepistemologie. Troeltsch bestimmt dabei erstens die eigene theologische Position hinsichtlich ihres historischen Ortes - als eine Gestalt des Neuprotestantismus - und bringt zweitens für die Frage der Angemessenheit seiner theologischen Position historische Gründe bei, indem er darlegt, weshalb der neuprotestantische Personalismus eine der Moderne angemessene Religiosität präsentiert. Das heißt: Die historische Analyse des Verhältnisses von Christentum und Welt erfolgt somit im theologischen Interesse und gehört zur Theologie, insofern diese ein reflexives Verhältnis zu ihrem eigenen Tun ausbildet. Troeltschs Analysen des Wandels der Lebensordnungen bilden daher sowohl den inhaltlichen wie den methodischen Horizont seiner Standortanalyse.
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moderne Welt (1906-1913), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 8), Berlin, New York 2001, S. 199-316, hier S. 201-207. Ebd., S. 297-316, bes. S. 314.
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6. Nach der Geschichtstheologie Die „historische Methode" in dem hier dargestellten Zuschnitt ist nicht nur ein, sondern schlechthin der bestimmende Zug des theologischen Denkens Troeltschs, sie bildet die Grundstruktur seiner Theologie von den Anfängen. Troeltsch verknüpft dabei historisches und religiöses Denken so, daß sowohl der wissenschaftliche Standort der Gegenwart als vom religiösen Denken mitbedingt verstanden wird, als auch der religiöse Standort bedingt vom wissenschaftlichen Denken erkannt wird. Dabei erschöpft sich die Theologie nicht in dieser Analyse, sondern sie benötigt diese Selbstbestimmung der theologischen Position um ihres Zweckes, der Entwicklung und Bildung der Religion willen. Sie ist Standortepistemologie als Selbsteinholung des eigenen theologischen Standpunktes. Betrachten wir die materialen Arbeitsfelder Troeltschs auch über die Theologie hinaus, lassen diese sich insgesamt als Aufgaben und Themen darstellen, die aus einer solchen Standortanalyse hervorgehen. Werkgenetisch betrachtet, sind die vielfältigen Bezüge von Troeltschs Wirken als thematische Ausweitungen der standortepistemologischen Fragestellung zu verstehen, wie sie Troeltsch zunächst in der Theologie und für die Theologie entwickelt hatte. Ihnen allen eignet die für Troeltschs Denken charakteristische Denkfigur, neben der sachgemäßen Analyse zugleich die Plattform eines praktisch-konstruktiven Verhältnisses zur eigenen Gegenwart zu bilden. 48 Die Standortproblematik ist Troeltsch in seinem geschichtsphilosophischen und geschichtspolitischen Spätwerk in eigener Weise zum Thema geworden. Einen seiner letzten öffentlichen Vorträge über „Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten", in dem er die Grundgedanken seines Historismus-Bandes zusammenfaßte, hatte er folgendermaßen angekündigt: „Gemeint ist das Problem des historischen Relativismus und der aus ihm entspringenden Skepsis. Wie soll ich das untechnisch ausdrücken. ,Standpunkt u[nd] Standpunktlosigkeit'". 49
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Sie lassen sich derart, in einer Formulierung Hans Freyers, als Bausteine zu einer „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" verstehen. Vgl. dazu auch den Beitrag v o n Trutz Rendtorff in diesem Band, unten S. 3 2 3 f. Brief Troeltschs an Hermann Graf Keyserling v o m 8. Mai 1 9 2 2 , zitiert n a c h : Editorischer Bericht zu „Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten", in: KGA 15, S. 5 3 7 - 5 5 0 , hier S. 5 4 7 .
Die historische Methode der Theologie
Beschränken wir uns hier auf die Frage nach der Gestalt von Troeltschs Theologie: Im Sinne einer solchen Standortepistemologie mag von ihr als „Geschichtstheologie" gesprochen werden. 50 Es ist aber aufgrund der oben dargelegten Begriffsgeschichte sinnvoller und klarer, diese Bezeichnung für Troeltschs Theologie nicht zu verwenden. Vielmehr ist in Troeltschs Programm eine Umformungsgestalt der neuzeitspezifischen Herausforderungen an die Theologie zu sehen, die in der Reflexion auf das Verhältnis von Religion und Theologie ihren Ursprung hat und der Troeltschs Theologie durch die entschiedene Einstellung auf das historische Moment eine besonders deutlich konturierte und bemerkenswert kohärente Formulierung gegeben hat. Troeltsch hat an diesem Begriff der Theologie als „historischphänomenologischer Beschäftigung mit der Religion" bis in die Berliner Zeit festgehalten. Dafür steht u. a. sein konstantes Eintreten für eine Volkskirche sowie sein Engagement für die Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche in der Weimarer Verfassung. Und auch der konstruktive Beitrag, den das Christentum für eine „Kultursynthese" übernehmen sollte, ist nur denkbar, wenn das Christentum ein Verhältnis zu sich als einer historischen Größe ausbildet, das es ihm aus eigenen Gründen erlaubt, einen solchen konstruktiven Beitrag zu leisten. Gerade der Blick auf die späten Texte Troeltschs zeigt, daß die innere Forderung einer historisch verfahrenden Theologie darin besteht, selbst nicht „dogmatisch", sondern mit Sinn für das Historische aufgenommen zu werden. So ist schon Troeltsch selbst verfahren: In dem eingangs zitierten Text über „Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen" etwa hat er sein Konzept der „Höchstgeltung" des Christentums relativiert, indem er zugestand, sein inzwischen erfolgtes Studium der nichtchristlichen Religionen habe ihm gezeigt, daß auch deren „naive Absolutheit eine echte Absolutheit" sei. 51 Und wenn er in seinen Berliner Schriften zur Zukunft Europas die Auslegung der „naiven Absolutheit" durch das Christentum 50
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Eine solche Verwendung des Begriffs „Geschichtstheologie" scheint bei Gangolf Hübinger vorzuliegen, dem es eben um die Markierung jener gemeinsamen Fragestellung von Philosophie, Politik und Theologie bei jeweils individueller und selbständiger Durchführung dieser Arbeitsgebiete geht. Vgl. Gangolf Hübinger: Einleitung, in: KGA 15, S. 1 - 3 6 ; ders.: Ernst Troeltsch - Die Bedeutung der Kulturgeschichte für die Politik der modernen Gesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 3 0 (2004), S. 1 8 9 - 2 1 8 . Ernst Troeltsch: Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen (wie Anm. 4), S. 54.
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in eine vielgestaltige Kultur der Individualität für normgebend erachtete, war dieses Europäismus-Konzept nur möglich, weil er gegenüber den scharf konturierten Gegensätzen innerhalb der christlichen Konfessionen aus früheren Arbeiten nun stärker auf deren Gemeinsamkeiten abhob. Troeltschs Ausführungen zur „europäischen Kultursynthese" und dem dabei zu leistenden Beitrag der christlichen Religion sind mit Blick auf die gegenwärtig virulenten Debatten u m die Zukunft Europas erstaunlich aktuell. Auch der - selbst durchaus diskutable - Hinweis, das heutige Europa k ö n n e nicht mehr wie zu Zeiten Troeltschs als christlich gelten, macht eher den Blick dafür frei, wie mit den ja durchaus nicht allein von Troeltsch aufgezeigten kulturellen Folgen der christlichen Prägung Europas verfahren wird und werden soll. Für die Frage nach dem Umgang mit den individualitätsbestimmenden und -schützenden Errungenschaften in einem zukünftigen Europa sind Troeltschs Überlegungen orientierend, gerade weil sie den Beitrag des Christentums zur modernen Welt höchst differenziert darlegen. Es ist diese Differenziertheit, das Bewußtsein von den Grenzen der Bedeutung der Religion für die moderne Welt, welche die Aktualität und Deutungskompetenz historisch verfahrender Theologie durchaus nicht an eine kulturelle Hegemonialstellung des Christentums oder gar des Protestantismus gebunden sein läßt. Vielmehr ist erst bei den „geschichtstheologischen" Kritikern Troeltschs ein Verständnis der Säkularisierung als Verdrängung des Glaubens aus der Welt und in die Kirche gepflegt worden, dessen Folge eine Fixierung auf die Dichotomie von Kirche und Welt ist. 5 2 In erneuter Reaktion auf dieses Selbstverständnis der Theologie entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Betonung der historischen Forschung eine zweite Welle der Religions-, Kirchen- und Christentumsgeschichte. In verschiedenen Ansätzen wurde hier eine Synthese von historischer Methode und Geschichtstheologie erwogen. In diesem Zuge erhielten auch Ernst Troeltsch und seine Theologie der „historischen Methode" neue Aufmerksamkeit. 5 3 Daß sich dieses Interesse seitdem intensiviert, war und ist nur möglich, weil die Entwicklungen des Christentums und der Theologie im 20. Jahr-
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Vgl. dazu die Texte in Anm. 1. Den Beginn markiert Trutz Rendtorffs Ausgabe der Absolutheitsschrift im Jahr 1969: Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte und zwei Schriften zur Theologie, hrsg. von Trutz Rendtorff, München, Hamburg 1969.
Die historische Methode der Theologie
hundert die Frage nach sich selbst in neuer Weise als nicht abkoppelbar von den historischen und kulturellen Zusammenhängen erwiesen haben. Die Orientierung an der Fragestellung Troeltschs bedeutet, sich bei der Deutung des gegenwärtigen Standortes den Schwierigkeiten der Frage nach „Entwicklung" und „Maßstab" in Beziehung auf die Problemkonstellation von Religion und Theologie weiterhin auszusetzen. Die dieser Fragestellung verpflichtete Anknüpfung an Troeltsch führt daher nicht zurück in die Vergangenheit, sondern führt vielmehr die Theologie aus der Geschichtstheologie hinaus zum vertieften Verständnis unserer Gegenwart und ermöglicht so dem Christentum ein konstruktives Verhältnis zu dieser Gegenwart.
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GEORG PFLEIDERER „Verantwortung" als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit. Zur Pragmatisierung der Geschichtstheologie nach Ernst Troeltsch 1. „Verantwortung" als Schlüsselbegriff der ethischen Lebenswirklichkeit in der Technologiegesellschaft Der Verantwortungsbegriff ist in den letzten Jahren zu einer Vokabel geworden, die in sozialethischen, sozialwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskursen eine beinahe schon inflationäre Verbreitung erfahren hat. „Verantwortung" ist nicht nur, was den engeren Raum der wissenschaftlich ethischen Theoriebildung angeht, zum Titelbegriff unterschiedlicher, ja gegensätzlicher ethischer Ansätze geworden; 1 er nimmt darüber hinaus ganz allgemein, wie Trutz Rendtorff formuliert, „für das heutige Verständnis der ethischen Lebenswirklichkeit eine Art Schlüsselfunktion ein" 2 . „Verantwortung" ist zum Grundbegriff der handlungspraktischen Zurechnung von Funktionen oder Ereignissen geworden, die solche Zurechnungsreflexionen erforderlich zu machen scheinen. Der Begriff ist in unserem Sprachgebrauch eng verknüpft mit dem Zeitmodus Zukunft und darin mit dem Begriff des Risikos, insbesondere des Risikos von „Risikotechnologien" bzw. „Zukunftstechnologien", aber darüber hinaus mit allen erdenklichen kontingenten Ereignissen oder Abläufen meist katastrophischer Natur, die in einer massenmedial vermittelten Sicht in besonderer Weise nach einer handlungspraktischen Zurechnung verlangen: Bergbahn- und Eisenbahnunglücke, ökologische Katastrophen, aber auch drohende Staatsverschuldungskollapse, künftige Rentenlücken etc. Schon in der Struktur der Frage
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Die große Heterogenität von Verantwortungsethiken in der Philosophie, aber auch in der Theologie, zeigt an, daß dem Begriff eine transtheoretische Anschlußfähigkeit zugetraut wird, von der her die Theorie ihrerseits gewissermaßen moralische Rückendeckung bezieht. Als Beispiele vgl. nur etwa Dieter Birnbacher: Verantwortung für zukünftige Generationen, bibliogr. ergänzte Ausg., Stuttgart 1995; Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, 3. Aufl., Frankfurt 1997. Trutz Rendtorff: Vom ethischen Sinn der Verantwortung, in: Anselm Hertz u. a (Hg.): Handbuch der christlichen Ethik, aktualisierte Neuausgabe, Band 3, Freiburg i. Br., S. 117-129, hier S. 117.
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n a c h der V e r a n t w o r t u n g für solche g e s c h e h e n e n o d e r d r o h e n d e n Katastrop h e n liegt ein Versuch ihrer B e a n t w o r t u n g : I n d e m H a n d l u n g s z u r e c h n u n g e n v o r g e n o m m e n u n d verlangt werden, wird ein O r d n u n g s m u s t e r , eben das der H a n d l u n g , der H a n d l u n g s m ä c h t i g k e i t des M e n s c h e n b e s c h w o r e n u n d d a d u r c h Sinn wiederherzustellen versucht, oft d u r c h a u s kontrafaktisch, g e g e n d e n A u g e n s c h e i n . 3 So ist der E i n d r u c k schwer v o n der H a n d zu weisen, d a ß d u r c h Verknüpf u n g m i t d e m Verantwortungsbegriff die Irritationspotentiale der Beschleun i g u n g s t e c h n o l o g i e n der M o d e r n e sinnpraktisch e i n g e b u n d e n u n d darin g e w i s s e r m a ß e n v e r l a n g s a m t w e r d e n sollen. Seit der Initialzündung v o n
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Die Literatur, die sich des Verantwortungsbegriffs konstruktiv bedient, ist mittlerweile unübersehbar. Studien, die den Begriff analytisch bzw. begriffsgeschichtlich ausarbeiten, sind sehr viel dünner gesät. Zu den angesprochenen Zusammenhängen vgl. z. B. Franz-Xaver Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung. Risiko und Ethik in einer unüberschaubaren Welt, Freiburg, Basel, Wien 1992. Kulturdiagnostisch ausgerichtet und mit Elementen von Ratgeberliteratur angereichert ist Stephan Wehowski: Über Verantwortung. Von der Kunst seinem Gewissen zu folgen, München 1999. Eine begriffsgeschichtliche Studie zum Verantwortungsbegriff, die sich den soziokulturellen Bedingungshintergründen der Begriffskarriere zuwendet, ist Kurt Bayertz: Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, in: ders. (Hg.): Verantwortung: Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995, S. 3 - 7 1 . Unter den Lexikonartikeln sind m. E. besonders ergiebig die beiden Teilartikel „Verantwortung" von J a n n Holl/Red. bzw. Hans Lenk/Matthias Maring im „Historischen Wörterbuch der Philosophie" hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Band 11, Basel 2001, Sp. 5 6 6 - 5 7 5 und der Artikel von Johannes Schwartländer im „Handbuch philosophischer Grundbegriffe", hrsg. von Hermann Krings u. a., Studienausgabe, Band 6: Transzendenz - Zweck, München 1974, S. 1577-1588. Eine neuere Monographie mit Fallstudien zur Begriffsgeschichte im 20. Jahrhundert ist Günter Banzhaf: Philosophie der Verantwortung. Entwürfe, Entwicklungen, Perspektiven, Heidelberg 2002. Ein kritischer Essay ist Wolfgang Wieland: Verantwortung - Prinzip der Ethik? (Schriften der Philosophischhistorischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Band 16), Heidelberg 1999. Alle hier aufgelisteten Arbeiten dokumentieren den kulturdiagnostischen Zug, welcher dem Begriff bzw. seiner heutigen Verwendung bereits inhärent ist. Aus der Theologie seien für diesen Zusammenhang exemplarisch genannt: Hartmut Kreß, Wolfgang Erich Müller: Verantwortungsethik heute. Grundlagen und Konkretionen einer Ethik der Person, Stuttgart, Berlin, Köln 1997; sowie Ulrich H. J. Körtner: Schöpfungsglaube und Verantwortungsethik, in: ders.: Freiheit und Verantwortung. Studien zur Grundlegung theologischer Ethik (Studien zur theologischen Ethik, Band 90), Fribourg, Freiburg i. Br., Wien 2001, S. 101-115.
.Verantwortung" als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit
Hans Jonas 4 ist der Verantwortungsbegriff zum Ferment der Selbstreflexion einer sich in gesteigertem M a ß als „technologische Zivilisation" begreifenden, massenmedial vermittelten Moderne geworden; ihm ist ein Unbehagen an der Moderne eingeschrieben, dem er sich zugleich heroisch entgegenstemmt. Denn durch Verantwortungszuschreibung, also durch Personalisierung, werden solche temporalen Irritationen massenmedial verarbeitet. „In Personen trifft [ . . . ] eine bekannte oder doch kennbare, jedenfalls unabänderliche Vergangenheit zusammen mit einer unbekannten Zukunft. Personen symbolisieren die Einheit des Schemas bekannt/unbekannt, interpretiert durch die Zeitdifferenz von Vergangenheit und Zukunft. Sie absorbieren damit gleichsam die Aufmerksamkeit für Zeit, sie dienen als greifbare Symbole für Zeit. Sie integrieren in ihren Handlungen Vergangenheit und Zukunft. Aber damit bleibt eine andere Seite dieser Form der Beobachtung von Zeit unbeleuchtet, nämlich die, daß es vielleicht auch ganz andere Möglichkeiten der Trennung und Reintegration von Vergangenheit und Zukunft geben könnte, etwa durch Organisation." 5 Indem der Autounfall auf den „zu langen Bremsweg" zurückgeführt wird, wird der „gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung [gebracht] und zu einem technischen Problem [ . . . ] , das die Zuschauer [ . . . ] nicht mehr unmittelbar [angeht]." 6 Die Ordnung der Technik ist die Ordnung von Organisation par excellence. Solange der Verweis auf diese Ordnung noch per se sinnstiftend und darin beruhigend wirkt, ist die Welt, wiewohl schon modern, doch immer n o c h ,in Ordnung'; das ist, in kulturhistorische Erinnerungszeiten projiziert, der Fall an einem ,,schöne[n] Augusttag des Jahres 1 9 1 3 " 7 . Heute wäre der lange Bremsweg von „schweren Kraftwagen" 8 eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. In der berühmten Unfallszene zu Beginn von Robert Musils „Der M a n n o h n e Eigenschaften" fällt das Stichwort Verantwortung charakteristischerweise nicht. Dennoch ist dieser 1 9 3 0 - 3 2 erstmals (teilweise) erschienene
4
Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die t e c h n o l o gische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1 9 7 9 .
5
Niklas L u h m a n n : Die Realität der Massenmedien, 2. erw. Aufl., Opladen 1 9 9 6 ; im Original teilweise kursiv.
6
Robert Musil: Der M a n n o h n e Eigenschaften. Roman, hrsg. v o n Adolf Frise, Erstes und zweites Buch, 6 8 . - 7 1 . Tsd., Reinbek bei Hamburg 1 9 8 9 , S. 11. Ebd., S. 9. Ebd., S . I I .
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Roman für einen Historiker des Verantwortungsbegriffs wie Kurt Bayertz 9 v o n hoher Illustrationskraft für die kulturhistorische Problemlage der Ära, dem seine Emergenz als Theoriebegriff zugehörig ist. Denn der Roman beschreibt die Folgen der etablierten rational-technologischen Zivilisation für individuelle und kollektive Selbstverständigungsprozesse; er läßt sich damit geradezu als ein narratives Seitenstück zur perspektivischen Fluchtlinie von Max Webers modernitätstheoretischer Rationalisierungstheorie lesen. In beiden Fällen geht es, jedenfalls wenn man, was Weber angeht, Wilhelm Hennis folgt, zentral um die Einflüsse der technologischen Zivilisation auf die ^Entwicklung des
Menschentums'"10.
Die nachfolgenden Überlegungen sollen einen kleinen Beitrag zur Deutung der Geschichte des Verantwortungsbegriffs im 20. Jahrhundert leisten. Sie sind getragen von der Vermutung bzw. These, daß der Aufstieg des Begriffs in der Tat einen fundamentalethischen Paradigmenwechsel anzeigt. Ich meine, daß jener Paradigmen Wechsel und seine Tiefenstruktur es mit der handlungspraktischen und darin temporalen Verflüssigung von Personalität zu tun haben. „Die Zeit bewegte sich." 1 1 Um diese Vermutung zu stützen, m u ß zwischen zeitgenössischen soziologischen, kultur- bzw. geschichtsphilosophischen und vor allem auch theologischen Verwendungen des Verantwortungsbegriffs hin und her geblendet werden. Was die letzteren Aspekte angeht: Der rasante Bedeutungsaufstieg des Begriffs gerade auch in der Formierungsphase der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts ist m. E. keineswegs ein Epiphänomen der Geschichte des Verantwortungsbegriffs; er hat es vielmehr mit dessen Kernstruktur zu tun. Das ist meine zweite These und die eigentliche Hauptthese, die freilich im Rahmen dieses Aufsatzes (ähnlich wie die erste) vielleicht nur ansatzweise plausibilisiert werden kann. 1 2
9 10 11 12
Vgl. Kurt Bayertz: Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung (wie Anm. 3), S. 11 und S. 16. Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 21 u. ö. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (wie Anm. 6), S. 13. Ich setze im folgenden Deutungsthesen zum Gang der Theologiegeschichte in den zwanziger Jahren um und führe sie weiter, die ich breiter in meiner Habilitationsschrift entwickelt habe. Vgl. Georg Pfleiderer: Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert (Beiträge zur historischen Theologie, Band 115), Tübingen 2000.
.Verantwortung" als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit
2. Verantwortungsethik versus Cesinnungsethik: Max Weber als ,Matrix' Max Webers Münchner Vortrag von 1919 über „Politik als Beruf" 1 3 gilt bekanntlich als locus classicus für die Emergenz des Verantwortungsbegriffs als neuen programmatischen Theoriebegriffs der Sozialethik. Indem Weber „Verantwortungsethik" „Gesinnungsethik" gegenüber und jene normativ über diese stellt, wird die Ethik von personenbezogener Moralität auf handlungsbezogene Ethizität 14 umgestellt. Nicht an den subjektiven' Gesinnungen von Personen, sondern an den ,objektiven' Qualitäten von Handlungen, nämlich an den - sozialen - Folgen von Handlungen, soll sich das Moralische inskünftig entscheiden; und eben diesen Bezug signalisiert der Begriff „Verantwortungsethik". Das wäre, beim Wort genommen, nichts weniger als ein „Rollback" der Fundamentaleinsichten neuzeitlicher, etwa Kantischer Moralitätstheorie. Weil er das sieht und nicht beabsichtigt, nimmt Weber die einfache Opposition denn auch gleich de facto wieder zurück: Die Frage nach den Folgen einer Handlung muß auf die subjektive Motivationsebene, auf die Intentionalität des Handelns nämlich, bezogen bleiben, sonst verliert die Betrachtungsweise ihren ethischen Charakter und wird mit einer bloßen kausallogischen Zurechnung verwechselbar. 15 Diese Unausgeglichenheiten zeigen an, daß Weber sich hier in der Tat auf gedanklichem Neuland bewegt; was er mit dem Begriff Verantwortungsethik vor Augen hat, ist weder nur eine terminologische Innovation, noch nur der Hinweis darauf, daß das Handeln, gerade als politisches Handeln, seine guten Zwecke mitunter auf indirektem Wege verfolgen muß. Die Innovation, die Weber mit seiner Begriffsprägung verfolgt, ist vielmehr methodologischer und mehr noch, sie ist fundamentaltheoretischer Art. Sie ist, das wäre jedenfalls meine Interpretationsthese, bedingt und getragen von der Einsicht, daß nicht die gleichsam prästabilisierte Einheit und (moralische) Insichbestimmtheit des Handlungssubjekts den Referenzhorizont ethischer Reflexion bilden kann, zu dem dann die jeweiligen Handlungszwecke gewissermaßen additiv hinzuträten; Subjektivität muß vielmehr als
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Max Weber: Politik als Beruf (1919), 6. Aufl. von 1977, ND Darmstadt 1982. Vgl. dazu Trutz Rendtorff: Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie (Theologische Wissenschaft, Band 13, 1), 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart u. a. 1990, S. 11. Vgl. Max Weber: Politik als Beruf (wie Anm. 13), S. 57.
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Handlungssubjektivität durchbestimmt werden, nur dann ist sie sich selbst ethisch durchsichtig. Allerdings ist eine subjektive, und aus Webers Sicht hinsichtlich ihrer inhaltlichen Bestimmtheit ihrerseits nicht mehr rational zu begründende Zwecksetzung die Möglichkeitsbedingung des Handelns als intentionalen Tuns. 16 Diese Zwecksetzung muß, und das ist der eigentliche Grund für ihre Irrationalität, im Rahmen der Setzung eines umfassenden Orientierungshorizonts des Handelns stehen, der weltbildhafte Züge trägt, wenn dem Sinnlosigkeitsdruck eben durch das eigene Handeln Widerstand entgegengesetzt werden können soll. Aber diese subjektive Setzung darf nicht psychologisch mißverstanden werden; sie hat, darauf kommt es an, einen strikt handlungstheoretisch-methodologischen Sinn: Sie ist diejenige praktischtranszendentale Voraussetzung, ohne welche - analog zur Notwendigkeit der Setzung von normativ-axiologischen Werten bzw. Grundannahmen im Falle sozialwissenschaftlicher Erkenntnis17 - rationales Handeln gerade nicht möglich ist. Allen inhaltlichen Zwecksetzungen vorausgehend, hat eine solche Wertsetzung es damit zu tun, daß ,die Welt' überhaupt als Ort sinnhaften Handelns bestimmt wird. „Sonst lastet [... ]", wie Weber in bezug auf das politische Handeln sagt, „[...] der Fluch kreatürlicher Nichtigkeit auch auf den äußerlich stärksten politischen Erfolgen". 18 Diese Bestimmung der Welt als Ort sinnhaften Handelns kann nur im Medium einer inhaltlichen Bestimmung erfolgen, im Medium eines jeweils bestimmten „Glaubens". Hier liegt also gewissermaßen das gesinnungsethische Element einer Verantwortungsethik.
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Ebd., S. 53: „Wie die Sache auszusehen hat, in deren Dienst der Politiker Macht erstrebt und Macht verwendet, ist Glaubenssache. Es kann nationalen oder menschheitlichen, sozialen und ethischen oder kulturlichen, innerweltlichen oder religiösen Zielen dienen, er kann getragen sein von starkem Glauben an den Fortschritt' - gleichviel in welchem Sinn - oder aber diese Art von Glauben kühl ablehnen, kann im Dienst einer ,Idee' zu stehen beanspruchen oder unter prinzipieller Ablehung dieses Anspruchs äußeren Zielen des Alltagslebens dienen wollen, immer muß irgendein Glaube da sein." Vgl. Max Weber: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 146-214, hier S. 175 ff. Max Weber: Politik als Beruf (wie Anm. 13), S. 53.
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Dieses hat jedoch, wie gesagt, darauf kommt es m. E. an, bei Weber methodologisch einen strikt handlungsanalytischen Sinn. Denn so (und nur so) verstanden, bildet es die Basis für eine rationale Orientierung des Handelnden an den jeweiligen „immanenten Eigengesetzlichkeiten des Berufs", 19 also eines bestimmten Handlungsfeldes, das er in seinen potentiellen - weil durch das eigene Handeln mitbestimmten - Wechselwirkungsverhältnissen zu analysieren hat. Handeln ist für Weber stets „,soziales' Handeln [ . . . ] , welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist". 2 0 „Verantwortlich" kann solches soziale Handeln in dem Maße genannt werden, in welchem sich sein Akteur genau dieser Handlungsrationalität bewußt ist und sie seinem tatsächlichen Handeln zugrunde legt. Verantwortung ist mithin nichts anderes als die Orientierung des Handelns an seiner eigenen immanenten (und insofern rationalen) Struktur. Darum auch ist verantwortliches Handeln per se berufliches, professionelles Handeln. Aufgrund der ihm eigentümlichen Struktur der Folgenorientierung, der Wirkungsreflexivität, ist das Erkennungsmerkmal so verstandener Verantwortung ihre Zukunftsorientierung. Verantwortung ist bei Weber konstitutiv „Verantwortung vor der Zukunft"21. Diese Futurisierung des Ethischen ist die präzise Folge und der erkennbarste Ausweis der (intentional) prinzipiellen Umstellung der Ethik von retrospektiven Subjektivitäts- auf wirkungsreflexive Handlungskategorien. Wo nämlich von einem solchermaßen rational-durchsichtigen Handlungsbegriff ausgegangen wird, ist dieses Handeln insgesamt zumindest implizit immer schon als der Zusammenhang all derjenigen Vollzüge gedacht, in denen das Subjekt sich selbst, nämlich sich selbst als handlungsmächtiges, konstituiert und als solches präsent ist. Wenn Handlungen nicht mehr referenziell auf eine gleichsam hinter ihnen stehende ontologisch-zeitlose Entität, eben auf das so verstandene Subjekt, verweisen, sondern wenn Subjektivität selbst als temporaler Vollzug von Handlungssubjektivität, als Handlungsmächtigkeit zu denken ist, dann entsteht für die ethische Selbstreflexion solchen Handelns eine neue Matrix. Seine Selbstreflexion ist dann
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Ebd., S. 61. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1922), 5., rev. Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, 14.-18. Tsd., Tübingen 1980, S. 1. Max Weber: Politik als Beruf (wie Anm. 13), S. 55.
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ebenfalls als ein Handlungsvollzug in der Zeit zu denken, nämlich als derjenige Reflexionsvollzug, in welchem das Subjekt seine Einheit in der Vielheit seiner sonstigen Vollzüge thematisiert und sich dadurch präsent macht. Genau diese sozialontologische Vertiefung der Soziologie, die Umstellung von Subjektontologie auf Handlungsontologie, scheint mir also insgesamt hinter Webers Umstellung von einer Gesinnungs- oder Pflichtenethik auf eine Verantwortungsethik zu stehen. Denn die Vorstellung einer handlungstranszendenten Innerlichkeit ist mit dem rationalmethodischen Prinzip einer durchgängig vollzugsaktualen Bestimmung von Subjektivität genauso wenig zu vereinbaren wie der Gedanke eines im Grunde feststehenden Gebäudes von Pflichten. Subjektivität ist dann aber nichts anderes als so verstandene rational-selbstdurchsichtige Handlungsmächtigkeit. Daß Max Weber seinen Begriff der Verantwortungsethik am Politischen entdeckt und entwickelt, ist dabei durchaus signifikant. Man darf etwa in den zahlreichen Verweisen auf die Machtthematik im allgemeinen, auf Machiavelli 22 im besonderen, nicht einfach die zeitgenössischen Eierschalen einer machtpositivistisch infizierten Gedankenführung sehen; sie repräsentieren vielmehr die neuzeitliche Souveränitätskonzeption, deren handlungstheoretische Struktur hier durch Max Weber zumindest implizit auf ihre subjektivitätstheoretischen und fundamentalethischen Konsequenzen hin durchsichtig gemacht wird. „Wirkliche Macht" ist für Weber per se, weil aus inneren methodischen Gründen, „sachlich" 2 3 , d. h. verantwortlich ausgeübte Macht. 2 4 Der so verstandene Verantwortungsbegriff hat also einen auf die Konstitution des Handelns bezogenen Sinn. Man kann darin eine Fortschreibung kantisch-fichtescher Grundeinsichten in das Verhältnis von Handeln und
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Vgl. ebd., S. 61. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53: „Seine [sc. des Demagogen] Unsachlichkeit legt ihm nahe, den glänzenden Schein der Macht statt der wirklichen Macht zu erstreben, seine Verantwortungslosigkeit aber: die Macht lediglich um ihrer selbst willen, ohne inhaltlichen Zweck zu genießen. Denn obwohl, oder vielmehr: gerade weil Macht das unvermeidliche Mittel, und Machtstreben daher eine der treibenden Kräfte der Politik ist, gibt es keine verderblichere Verzerrung der politischen Kraft, als das parvenumäßige Bramarbasieren mit Macht und die eitle Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht, überhaupt jede Anbetung der Macht als solcher."
Verantwortung" als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit
seiner inhärenten Ethizität sehen. Verantwortung wird bei Weber n u n aber konsequent modernisiert zum Bewegungsbegriff, weil das Subjekt i m Mediu m reflexiv-verantwortlichen Handelns seine Selbstkonstitution vollzieht. Eben darum ist Verantwortung bei Weber konstitutiv „Verantwortung vor der Zukunft"25.
Das Gesetz, nach dem diese Verantwortung wahrgenom-
m e n wird, ist dann aber, so kann gefolgert werden, - ganz wie bei Kant die Logik dieses Vollzugs selbst: die Logik des Aufbaus von sozialer Handlungsmächtigkeit überhaupt, die ihre Legitimität darin hat, daß sie anderen - und sich selbst - den Aufbau v o n Handlungsmächtigkeit ermöglicht und zugleich reflexiv - in Gestalt v o n Verantwortung - durchsichtig und auf diese Weise seiner selbst gewiß macht. Handlungsmächtige Subjektivität, Souveränität, vollzieht sich so in einer gleichsam induktiven und reflexiven Anpassung an die Vielzahl von Handlungsanforderungen in der modernen Welt; sie prozediert nicht starr, in unmittelbaren Durchsetzungsakten, sondern folgenbewußt, also wirkungsreflexiv; sie reagiert auf die Folgen und Reflexionen der Signale, die ihre eigene Machtaktivität in der Welt auslöst. In dieser Weise löst bei Weber der zukunftsgerichtete, handlungsreflexive und insofern bewegliche Verantwortungsbegriff den vergangenheitsorientierten, auf Imputation zu einem als feststehend gedachten Subjekt bezogenen, ab. Ein solcher neu strukturierter Verantwortungsbegriff fällt natürlich nicht v o m Himmel; er liegt vielmehr in der Luft. Ideengeschichtlich lassen sich
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vor allem Kierkegaards 26 und auch - via negationis - Nietzsches 27 Verwendungen des Begriffs im Zusammenhang der Konstitutionsproblematik indi-
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Der Verantwortungsbegriff findet sich als ethischer Begriff auch schon bei Kant, hat dort aber keine tragende Theoriebedeutung. Der Befund ist jetzt bzw. in naher Zukunft leicht zu übersehen dank der elektronischen Recherchehilfe unter http://linux-s.ikp.uni-bonn.de/cgi-bin/Kant/lade.pl7/default.htm. - In Kierkegaards Analysen des ethischen Individuums (im Unterschied zum ästhetischen) gewinnt der Verantwortungsbegriff tragende, nämlich eine das Individuum in seiner Handlungsfähigkeit konstituierende Bedeutung: „Denn wohl darf das ethische Individuum den Ausdruck gebrauchen, es sei sein eigener Redakteur, aber es ist sich zugleich voll bewußt, daß es verantwortlicher Redakteur ist; verantwortlich vor sich selbst in persönlichem Sinne, insofern es entscheidenden Einfluß auf es selbst haben wird, was es wählt, verantwortlich gegenüber der Ordnung der Dinge, in der es lebt, verantwortlich gegenüber Gott. Wenn man es so sieht, so glaube ich, daß die Distinktion richtig ist, denn wesentlich gehört mir doch nur das zu, was ich ethisch als eine Aufgabe übernehme. Lehne ich es ab, es zu übernehmen, so gehört es mir wesentlich zu, daß ich es abgelehnt habe. Wenn ein Mensch sich selbst ästhetisch betrachtet, so distinguiert er etwa folgendermaßen. Er sagt: Ich habe Talent zum Malen, das halte ich für eine Zufälligkeit; aber ich habe Witz und Scharfsinn, das halte ich für das Wesentliche, das mir nicht genommen werden kann, ohne daß ich ein anderer würde. Darauf möchte ich erwidern: Diese ganze Distinktion ist eine Illusion; denn wenn du diesen Witz und Scharfsinn nicht ethisch übernimmst, als eine Aufgabe, als etwas, wofür du verantwortlich bist, so gehört er dir nicht wesentlich zu, und zwar vornehmlich aus dem Grunde, weil, solange du nur ästhetisch lebst, dein Leben total unwesentlich ist. Wer ethisch lebt, hebt nun bis zu einem gewissen Grade die Distinktion zwischen dem Zufälligen und dem Wesentlichen auf, denn er übernimmt sich ganz und gar als gleich wesentlich; aber sie kehrt wieder, denn, nachdem er dies getan hat, unterscheidet er, doch so, daß er für das, was er als das Zufällige ausschließt, eine wesentliche Verantwortung übernommen hat im Hinblick darauf, daß es ausgeschlossen ist." Soren Kierkegaard: Entweder - Oder. Teil II, unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hrsg. von Hermann Diem und Walter Rest (1975), München 1988, S. 827; (Hervorhebungen vom Verf.). Wiewohl in Kierkegaards ethischer, darin vollzugstheoretischer Konzeption von individueller Subjektivität der Verantwortungsbegriff eine signalhaft-tragende Rolle einnimmt, ersetzt er doch den Pflichtbegriff nicht, sondern bleibt gerade auf ihn bezogen. Vgl. z. B.: „Sobald nämlich die Persönlichkeit in der Verzweiflung sich selbst gefunden, absolut sich selbst wählt, sich selbst bereut hat, hat sie sich selbst als ihre Aufgabe unter einer ewigen Verantwortung, und somit ist die Pflicht gesetzt in ihrer Absolutheit." Ebd., S. 839.
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Anders als bei Kierkegaard dient bei Nietzsche gerade die Einsicht in die fundamentale NichtVerantwortlichkeit des Menschen als Basis zur Gewinnung von
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vidueller Subjektivität und ihrer spezifischen Modernität als wichtige Voraussetzungen, Albert Schweitzers Ethik verantwortlichen Lebens als zeitgenössische Parallelaktion 28 und beispielsweise Michel Foucaults Gouverne-
freier Individualität: „Was kann allein unsre Lehre sein? - Daß niemand dem Menschen seine Eigenschaften gibt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst [... ] Niemand ist dafür verantwortlich, daß er überhaupt da ist, daß er so und so beschaffen ist, daß er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird. [... ] Man ist notwendig, man ist ein Stück Verhängnis, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, - es gibt nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurteilen könnte, denn das hieße das Ganze richten, messen, vergleichen, verurteilen [... ] Aber es gibt nichts außer dem Ganzen! - Daß niemand mehr verantwortlich gemacht wird, daß die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, daß die Welt weder als Sensorium, noch als ,Geist' eine Einheit ist, dies erst ist die große Befreiung, - damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt [... ] Der Begriff ,Gott' war bisher der größte Einwand gegen das Dasein. Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt." Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: ders.: Der Fall Wagner, u. a. (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 6), 2. durchges. Aufl., München 1988, [Die vier großen Irrtümer, Schlussaphorismus Nr. 8], S. 55-162, hier S. 97 (originale Hervorhebungen im Text getilgt; die jetzigen vom Verf.) Der Zusammenhang zwischen der Bestreitung von substanzialer Subjektivität, Kausalität, Verantwortung im Sinne von Zurechnung und Gottesbegriff als Basis einer wirklichen, vollzugsaktualen Freiheit zeigt sich auch im Kapitel „Moral als Widernatur" im Aphorismus Nr. 3 „Irrtum einer falschen Ursächlichkeit", ebd., S. 90 f. Nietzsches Polemik gegen den Verantwortungsbegriff läßt sich als Vorbereitung der futurisierenden Wende lesen, die im vorliegenden Aufsatz für Max Webers Begriffsverwendung in Anschlag gebracht wird. 28
Die Fundamentalbedeutung des Verantwortungsbegriffs bei Schweitzer erhellt aus ihrer Stellung in dem zentralen Kapitel XXI „Die Ehrfurcht vor dem Leben", in: Albert Schweitzer: Kultur und Ethik (1923), Sonderausgabe 1990, 82. Tsd., ND München 1996, S. 328-353. Sie wird beispielhaft deutlich in der These: „Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt" (ebd. , S. 332). Vgl.: „Die subjektive, extensiv und intensiv ins Grenzenlose gehende Verantwortlichkeit für alles in seinen Bereich tretende Leben, wie sie der innerlich von der Welt freigewordene Mensch erlebt und zu verwirklichen sucht: dies ist Ethik." (Ebd., S. 327, vgl. S. 342, S. 345-350); vgl. S. 342 f.: ,,[Di]e Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben [...] erwartet alles von der Steigerung des Verantwortlichkeitsgefühls des Menschen." Zu der theoriestrategischen Bedeutung dieses Steigerungsgedankens vgl. meinen Beitrag: Theo-
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mentalitätstheorie als späte Nachfahrin erkennen. 2 9 Webers Verantwortungsbegriff, den man durchaus gouvernementalistisch nennen könnte, ist in der Tat ein „Krisenbegriff" 30 ; in zweifacher Weise: Zum einen signalisiert und reflektiert die Emergenz des Begriffs eine Fundamentalkrise neuzeitlicher Subjektivität, nämlich die Bedrohung von Handlungsmächtigkeit, von individueller und politischer Handlungsmächtigkeit, durch die moderne technologisch-ökonomische Zivilisation und ihre komplexen und abstrakten, apparatehaften Prozesse. Zum andern ist „Verantwortung" ein Krisenbegriff, weil ihre innere Verfaßtheit eine - und zwar programmatisch - krisenhafte ist: Indem Verantwortung wirkungsreflexiv flexibilisiert wird, internalisiert sie gleichsam die Mechanik technologischer Ökonomik; sie internalisiert die Logik des Marktes. Damit aber ist letztlich keine Gewähr gegeben für das Gelingen von verantwortungsvoller Machtpolitik als Subjektkonstitution. Solche gouvernementalistische, also wörtlich nach der Art von Schiffsteuerung gedachte, Handlungsmächtigkeit ist - wie bei Nietzsche - stets ins Offene eines nautischen Horizonts gewiesen 31 und zugleich stets bedroht von tragischem Scheitern, Havarie und Untergang.
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logische Ethik nach Nietzsche. Zum ,Aristokratismus' protestantischer Ethik im 20. Jahrhundert, in: Volker Gerhardt und Renate Reschke (Hg.): Ästhetik und Ethik nach Nietzsche (Nietzscheforschung, Jahrbuch der NietzscheGesellschaft, Band 10), Berlin 2003, S. 81-100, hier S. 86 ff. Vgl. Michel Foucault: Die Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling u. a (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen (stw 1490), Frankfurt a. M. 2000, S. 41-67. Foucault bezeichnet mit „Gouvernementalität" die Entdeckung der ökonomischen Binnenverfaßtheit neuzeitlich-souveränen politischen Handelns (vgl. ebd., S. 48 f., S. 58 f., S. 62 f.; zum gouvernementalistischen Verantwortungsbegriff vgl. ebd., S. 51). Hartmut Kreß: Verantwortungsethik als Ethik der Person, in: ders., Wolfgang Erich Müller: Verantwortungsethik heute. Grundlagen und Konkretionen einer Ethik der Person, Stuttgart, Berlin, Köln 1997, S. 115-237, hier S. 117. Vgl. etwa den unmittelbar vor dem Aphorismus „Der tolle Mensch" (Nr. 125) plazierten Aphorismus „Im Horizont des Unendlichen" (Nr. 124) in: Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza"), in: ders.: Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 3), 2. durchges. Aufl., München 1988, S. 343-652, hier S. 480.
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3. Verantwortung als M o d u s kultureller Individuation bei Ernst Troeltsch In den in die Weimarer Zeit fallenden kulturphilosophischen und politischen Schriften von Ernst Troeltsch spielt der Verantwortungsbegriff eine quantitativ 3 2 und qualitativ-systematisch durchaus bemerkenswerte Rolle. Zwar hat bei Troeltsch im Unterschied zu Weber der Begriff ein selbständig reflektiertes konstruktives Gewicht, so weit ich sehe, nicht. Gleichwohl findet er - und finden seine Derivate - sich regelmäßig in hervorgehobenen Textzusammenhängen, die entweder grundlegende Schlüsselargumentationen von Troeltschs später Kulturphilosophie oder aus ihr gezogene praktisch-politische Schlußfolgerungen, häufig in appellativer Zuspitzung, enthalten. Troeltsch verwendet den Verantwortungsbegriff oft im attributiven Umkreis seines (klassischen) Persönlichkeitsbegriffs und dessen Äquivalente. 3 3 So spricht er etwa vom „Gefühl einer großen Verantwortung" 3 4 , bzw. v o n „der Idee der persönlichen Würde und Verantwortung" 3 5 , v o n der „Selbsterziehung zur Verantwortung", v o n der „Erziehung [ . . . ] verantwortungsbewußter Männlichkeit" 3 6 , von der „Verantwortlichkeit und Gewissensmäßigkeit des Handelns" bzw. v o m „Willen zur Verantwortung und Entscheidung" 3 7 , v o m „Sinn für persönliche Würde und verantwortliches Führert u m " 3 8 und „vom äußersten Verantwortlichkeits- und Gemeingefühl aller Beteiligten" 3 9 . In letzterem klingt die Übertragung auf das politische Kollektiv an, die ausdrücklich wird in der Formulierung vom „Gefühl der Gesamt-
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In KGA 15 zähle ich 52 Nennungen des Begriffs oder seiner Derivate. Vgl. Ernst Troeltsch: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 15) (im folgenden: KGA 15) Berlin, New York 2002 (ausgewählte Belege folgen nachstehend). Ernst Troeltsch: Demokratie, in: KGA 15, S. 211-224, hier S. 224. Ernst Troeltsch: Für das Neue Deutschland, in: KGA 15, S. 53 f., hier S. 53. Vgl. KGA 15, S. 57. Ernst Troeltsch: Demokratie, in: KGA 15, S. 221. Ernst Troeltsch: Die Hochschulen im öffentlichen Leben, in: KGA 15, S. 4 3 0 432, hier S. 432. Ernst Troeltsch: Die Persönlichkeits- und Gewissensmoral, in: ders: Der Historismus und seine Überwindung. Fünf Vorträge, eingeleitet von Friedrich von Hügel, Berlin 1924, ND Aalen 1979, S. 1-21, hier S. 19. Ernst Troeltsch: Aristokratie, in: KGA 15, S. 270-283, hier S. 281. Ernst Troeltsch: Sammlungspolitik, in: KGA 15, S. 405-409, hier S. 405.
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Verantwortlichkeit des Volkes für sein Glück und Schicksal" 40 oder auch, demokratisch-operationaler, in der Rede von dem „auf Freiheit und politische Mitverantwortung jedes einzelnen begründete^] Einheitsstaat" 41 . Troeltsch scheint der Verantwortungsbegriff vor allem dann in die Feder zu fließen, wenn es um eine bestimmte Qualifizierung, nämlich um den Aufweis einer zeitgemäßen ethisch-praktischen Qualifizierung seiner geschichts- und kulturphilosophischen Theoriearbeit geht. 42 Der Verantwortungsbegriff hat hier eine gewissermaßen sekundärtheoretische, eine performative Funktion; in dieser Funktion aber ist er tragend und durchaus theoriekonstitutiv. Die performative Funktion des Verantwortungsbegriffs ist näherhin die eines Modernisierungssignals. Sie gilt einem Ethos des individuellen politischen Engagements und einer dafür förderlichen bzw. darauf aufgebauten politischen Kultur: einem demokratischen Ethos der politischen Partizipation. Indem der Verantwortungsbegriff Signalelemente der aus Troeltschs Sicht westeuropäischen Kultur (Autonomie, Menschenrechte) bündelt 43 und mit Signalelementen der europäisch-deutschen Kultur
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Ebd., S. 408. Ernst Troeltsch: Deutsche Einheit, zum 18. Januar, in: KGA 15, S. 4 1 1 - 4 1 7 , hier S. 417. Vgl. zu diesem Grundzug von Troeltschs Geschichtsphilosophie Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch: Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Josef Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit IV. Lotze, Dilthey, Meinong, Troeltsch, Husserl, Simmel, Göttingen 1986, S. 128-164, hier besonders den Abschnitt: „Das Subjekt der Kultursynthese", S. 148 ff.; sowie Jörg Dierken: Individuelle Totalität. Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus" (Troeltsch-Studien, Band 11), 2. Aufl., Gütersloh 2003, S. 2 4 3 - 2 6 0 . Vgl. dazu jetzt vor allem aber auch Folkart Wittekind: Die geschichtsphilosophische Grundlegung eines ethischen Glaubensverständnisses in: Troeltschs Absolutheitsschrift - oder: Das Reich Gottes als Universalgeschichte, in: Reinhold Bernhardt, Georg Pfleiderer (Hg.): Christlicher Wahrheitsanspruch - historische Relativität. Auseinandersetzungen mit Ernst Troeltschs Absolutheitsschrift im Kontext heutiger Religionstheologie (Christentum und Kultur. Basier Studien zu Theologie und Kulturwissenschaft des Christentums, Band 4), Zürich 2004, S. 131-168. Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, in: KGA 15, S. 4 9 3 - 5 1 2 , hier S. 510: „Aber bei alledem bedarf doch die dabei vorausgesetzte und nur individuell gestattete Idee der grundsätzlichen persönlichen Mündigkeit, Verantwortung und Autonomie der Persönlichkeit einer sehr viel stär-
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(Individualität, Entscheidung) verknüpft, 44 leistet bzw. signalisiert er selbst diejenige ethisch-politische Kultursynthese, auf deren Propagierung Troeltschs kulturpolitisches Engagement in den Weimarer Jahren hinzielt. Bereitschaft zu politisch-öffentlicher Verantwortung, zu Selbstverantwortung oder auch zu „Verantwortung und Initiative" 45 , ist bei Troeltsch zwischen 1918 und 1923 das wesentliche Ingrediens eines demokratischen „Gemeingeistes". Wie kommt es nun aber zu diesem ja doch auffälligen Befund, daß dem Verantwortungbegriff beim späten Troeltsch, wenn diese Beobachtungen stimmen, eine zentrale explikative, aber gerade keine entsprechende reflektiert-konstruktive Funktion zukommt? Die Antwort nötigt zu einer kurzen Besinnung auf einige Grundüberlegungen von Troeltschs später geschichts- und kulturphilosophische Theorie. 46 Mit Max Weber teilt Troeltsch eine kulturontologische Grundüberzeugung: die Auffassung von der antagonistischen Verfaßtheit der menschlichen Natur bzw. Kulturnatur, die sich aus der Spannung von Naturalität, von Selbsterhaltungszwängen auf der einen Seite und dem Streben nach vernünftiger Kulturalität auf der anderen Seite durch die Anstrengungen der Vermögen
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keren Hervorhebung, als das namentlich in den weiteren Umbildungen und politischen Verwertungen dieses Ethos bei uns geschehen ist. In der Idee der Menschenrechte, die nicht vom Staat verliehen werden, sondern ihm und aller Gesellschaft selbst als ideale Voraussetzungen dienen, liegt ein Kern von Wahrheit und von Forderungen des europäischen Ethos, der nicht vernachlässigt werden darf, sondern in jene Ideen eingearbeitet werden muß." Ernst Troeltsch: Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten, in: KGA 15, S. 5 5 1 569, hier S. 561: „Unserer Lage gehört nur der Überreichtum historischer Überlieferungen, die verblassende und entkräftende Wirkung dieser Überhelle auf die einzelnen darin befaßten Glieder und damit die Bewußtheit der Entscheidung an. Die Sache ist komplizierter geworden, aber nicht anders. Wir müssen dies Schicksal auf uns nehmen und die Kraft und Souveränität der Ursprünglichkeit und wagenden Verantwortung aus tieferen Schichten unseres Wesens heraufholen. Das ist das eigentümliche Ethos der schwer ringenden Gegenwart, die den Mut zu Verantwortung, Ursprünglichkeit und Entscheidung wieder finden muß." Ernst Troeltsch: Demokratie, in: KGA 15, S. 211-224, hier S. 218. Ich beziehe mich dabei überwiegend auf die drei Englandvorträge: „Die Persönlichkeits- und Gewissensmoral", „Die Ethik der Kulturwerte", „Der Gemeingeist" (alle in: Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung [wie Anm. 37]) sowie auf einzelne Aufsätze aus KGA 15 (Schriften zur Politik und Kulturphilosophie 1918-1923).
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der letzteren nicht grundsätzlich befreien kann. „Der Ausgleich", so heißt es in einem der späten Englandvorträge Troeltschs, „kann nur in einem immer neuen Kompromiß bestehen, den jeder Handelnde auf eigene Rechnung und Gefahr schließen muß und der vor allem in der Politik, d. h. dem zwischenstaatlichen Handeln immer besonders schwierig und verwickelt sein muß. Es kann sich immer nur darum handeln, das Moralische soweit wie möglich durchzusetzen, unter Umständen starke Naturtriebe in seinen Dienst zu nehmen und unter anderen Umständen den Naturgewalten den Lauf zu lassen, den man nicht ändern kann [ . . . ] Gerade darin besteht die Verantwortlichkeit und die Gewissensmäßigkeit des Handelns, daß man in gegebenen Situationen nach bestem Wissen und Gewissen den richtigen Weg zu finden unternimmt und den Streit zwischen Natur und Vernunft auf eigene Verantwortung zu schlichten unternimmt. Die Gesinnungsmäßigkeit des Moralischen, die Kants überidealistischer Rationalismus lehrte, besteht nicht in der reinen Intention der Vernunftgemäßheit, bei der man dann den wirklichen Verlauf sich selbst überlassen muß und sich an seiner Tugend wärmen kann, sondern in dem Willen zur Verantwortung und Entscheidung, wo der Kompromiß zwischen Natur und Vernunft jeweils nach den Umständen getroffen wird. Das ist der gute Wille, auf den es ankommt". 4 7 Der Gedankengang ist, wie ohne weiteres zu sehen, von Webers Münchner Vortrag deutlich beeinflußt. Troeltsch übernimmt hier Webers Unterscheidung von Gesinnung und Verantwortung; aber er übernimmt gerade nicht dessen Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Er zieht vielmehr beides zusammen: „Verantwortlichkeit" ist bei ihm synonym mit „Gewissens-" bzw. „Gesinnungsmäßigkeit", jene expliziert diese. Trotz augenscheinlich ähnlicher materialethischer Grundüberlegungen bleibt Troeltsch also im Unterschied zu Weber im traditionellen, klassischen Schema individuell-personaler Subjektivität. Er versucht, unter dessen Rahmenbedingungen jene strukturelle Verflüssigung zu initiieren, die ein zeitgemäßes Verständnis von Verantwortung auch aus seiner Sicht erforderlich macht. Nähe und Differenz zu Weber erhellen aus folgendem Gedankengang, der sich ebenfalls in jenem Englandvortrag findet: „Man wird bedenken müssen, daß das Sittliche ein Handeln ist, daß alles Han47
Ernst Troeltsch: Die Persönlichkeits- und Gewissensmoral, in: ders.: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 37), S. 1-21, hier S. 19 (Hervorhebungen vom Verf.).
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dein eine Verwirklichung von Zwecken ist und daß daher auch seine Einheit nur aus dem Zweck konstruiert werden kann, wie das ja schließlich selbst Kant in einigen Neben- und Hilfsgedanken getan hat. Der zunächst ins Auge springende Zweck des sittlichen Handelns ist die Gewinnung und Behauptung der freien, in sich selbst begründeten und einheitlichen Persönlichkeit. Die Persönlichkeitsidee ist entscheidend. Aus dem Fluß und Wirrsal des natürlichen Trieblebens m u ß Einheit und Geschlossenheit der Persönlichkeit erst geschaffen und erworben werden. Niemand wird als Persönlichkeit geboren, jeder m u ß sich selbst dazu erst durch Gehorsam gegen einen zu Einheit und Zusammenschluß führenden Trieb umschaffen. Freiheit und Schöpfung sind das Geheimnis der Persönlichkeit." 4 8 Dies gilt individuell, auf der Ebene der persönlichen Lebensführung, es gilt aber auch sozial, auf der Ebene kultureller Kollektive, und es gilt damit zugleich auch kulturgeschichtlich. Die Konzeption der gewissermaßen teleologisierten Persönlichkeit als normatives Ziel kulturellen Handelns ist ihrerseits der normative Kern von Troeltschs Kulturphilosophie, die er in den Weimarer Jahren bekanntlich - unter reflexiver Rückblendung jenes Normgedankens - als Theorie kollektiv-individueller „Kulturkreise" ausgeführt hat. Die teleologische Grundstruktur läßt sich auf der praktischkulturpolitischen Ebene zwanglos mit der Forderung nach sozial umgesetzten Kultursynthesen verknüpfen, nach „Gemeingeist", der sich angesichts der prinzipiellen und zugleich in der Moderne prinzipiell vorangeschrittenen Individualisierung und Pluralisierung ebenfalls nur im Plural organisieren kann. So findet die in der Kompromißnatur des M e n s c h e n angelegte „unaufhebliche Vielspältigkeit" 4 9 in dem als pluralistischer Individuierungsprozeß verstandenen Kulturprozeß eine Entsprechung, welche sie, wie der Begriff sagt, in ihrem antagonistischen Charakter jedoch immer nur näherungsweise, aber nicht grundsätzlich aufzuheben vermag. Es bleibt der „unaustilgbare Kampf- und Arbeitscharakter dieser Lösung" 5 0 . In diesem Kulturkampf werden, gerade unter modernen, massenmedialen Bedingungen, wie Troeltsch scharf gesehen hat, Moral und Geschichtsphilosophie selbst zur Waffe. 5 1 Sie müssen es werden, weil die Bildung von
48 49
Ebd., S. 9. Ernst Troeltsch: Der Gemeingeist, in: ders.: Der Historismus u n d seine Überwindung (wie Anm. 37), S. 4 1 - 6 1 , hier S. 4 3 .
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Ebd., S. 4 3 . Vgl. Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, in: KGA
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kultursynthetischen Gemeingeistkreisen zwar wissenschaftlich-reflexiv, kulturphilosophisch gesteuert, aber von Kulturphilosophen alleine gerade nicht getragen werden kann. Denn: „Jede wirkliche Lösung [der kulturellen Grundproblematik] fordert Massenüberzeugungen, Gemeingeist, breite Stoßkraft, öffentliche Meinung." 52 Seinerseits benützt und zugleich reflexiv durchsichtig gemacht wird dieses Instrument von Troeltsch selbst durch den Aufruf zu einer politischen Kultur der Verantwortung. Damit heilt der Verantwortungsbegriff auf der Performanzebene, was eben nur im Gesamtgang des Kulturprozesses geheilt bzw. gerade nicht geheilt werden kann: den anthropologischen Antagonismus von Naturzwang und individuell-kultureller Freiheit. Möglich ist diese performative Heilung, weil im Akt der Übernahme von Verantwortung genau jene Übernahme der Naturalitätsbedingungen in die eigene Lebensführung stattfindet, die der Theoretiker bei seinen Leseradressaten nicht erzwingen kann, weil deren Möglichkeitsbedingung von ihm nur beschrieben, aber nicht andemonstriert werden kann: Religion. Es ist der Glaube, der den Möglichkeitsgrund kulturellen Handelns darstellt, weil
15, S. 493 f.: „Die von beiden Seiten geführte Kultur- und Moralpropaganda des Weltkrieges [ . . . ] zeigt, daß in den heutigen demokratischen Verhältnissen moralische und geschichtsphilosophische Bemäntelungen der Politik zur Mobilisation der Massen unentbehrlich sind. Es ist Moral und Geschichtsphilosophie als Kriegsmittel in der Hand eines politisch geleiteten, zentralisierten Journalismus, dem sich die Gelehrten nur allzuhäufig anpassen. Insofern gehört das ganze Problem zu der Frage der Kriegsmittel eines demokratisierten und technisierten Zeitalters und zu der Frage nach der Möglichkeit der Volkskriege der allgemeinen Wehrpflicht. [ . . . ] Die Massen demokratisierter Zeitalter kennen nur Liebe oder Hass, Bewunderung oder Verachtung, moralisches Recht oder moralisches Unrecht. Wer sie in den Krieg peitschen will, muß diesen Masseneigenschaften Rechnung tragen, und daher muß eine ganze Literatur mit wirklicher oder scheinbarer Gelehrsamkeit die moralische Nichtswürdigkeit des Gegners durch historische und ethische Beweisführung dartun. [ . . . ] Das ist ja überhaupt heute in dem furchtbar gesteigerten Daseinskampf die Rolle des Moralischen, wenigstens der öffentlichen und politischen Moral, geworden, daß sie wesentlich als Waffe zur moralischen Entwertung der Gegner, nicht aber als Regel des eigenen Verhaltens dient. [ . . . ] Hinter diesen praktischen und augenblicklichen Fragen steht nun aber doch ein dauerndes und theoretisches Problem, das des Unterschieds des deutschen politisch-geschichtlich-moralischen Denkens gegenüber dem westeuropäischamerikanischen." 52
Ernst Troeltsch: Der Gemeingeist, in: KGA 15, S. 44.
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er die Möglichkeit, das Natural-Allgemeine durch kulturelle Individualisierung zu internalisieren in Gott selbst, im Individuellen-Allgemeinen begründet sieht. Diese kulturphilosophische und letztlich geschichtstheologische Garantenstellung des religiösen Gottesglaubens freilich wird bei Troeltsch nicht immer in der nötigen systematischen Weise deutlich; denn sie wird konterkariert durch ein prästabilisiertes Individualitätsaxiom, welches die naturalen Differenzen selbst immer schon als im Keim individualitätshaltig denkt. Die Neigung dazu gründet in der Teilaktualisierung, die bei Troeltsch der Subjektivitätsgedanke erfährt: Der Gedanke der kulturellen Selbsterschaffung der Persönlichkeit setzt diese Persönlichkeit und ihre Freiheit als quasinatural gegebene auch immer schon voraus. Dadurch aber gerät auch der Verantwortungsbegriff als die reflexive Form des Vollzugs solcher Selbsterschaffung in eine zweideutige Lage, in der er zwischen dem Festhalten an einer prästabilisierten Persönlichkeit und den Effekten ihrer kulturellen Selbsterzeugung hin und her schwingt. Eben diese Schwebelage bringt Troeltschs kulturphilosophische Sozialethik gegenüber den hochgradig vermittelten und komplexen Lebensformen und Lebensbedingungen der technisch-ökonomischen Welt - trotz aller Vielspältigkeitsrhetorik - doch in eine eher defensive Position. Diese gewisse Uneindeutigkeit haftet auch der Funktionszuschreibung an, die dem religiösen Glauben und dem Absoluten als seinem Grund bei Troeltsch zuteil wird. So sehr das Jenseits als die subjektive Kraft des Diesseits beschworen wird; so sehr droht das Jenseits dem Diesseits eben doch jenseits, nämlich konstitutionstheoretisch äußerlich zu bleiben: Der Gedanke, daß Gott und gerade nicht die Natur per se theologisch als principium individuationis anzusehen ist, daß dieser Gedanke sogleich so zu explizieren ist, daß unter seinen und nur unter seinen Bedingungen Naturalität als Entstehungsort von kultureller Individualität in den eigenen Lebensvollzug aufnehmbar ist, bleibt bei Troeltsch zumindest in ein gewisses Zwielicht gehüllt. Erkennbar wird die systematisch nicht einheitliche Stellung des Glaubensgedankens im Verhältnis zum Kulturbegriff konkret daran, daß bei Troeltsch das soziologische Verständnis von Kirche als einer Vergemeinschaftungsform unter anderen dominiert. Damit aber droht der Bezug auf die Bedingung der Möglichkeit von Vergemeinschaftung überhaupt, welche dem Kirchenbegriff aus theologischer Perspektive inhärent sein muß, bei Troeltsch, auch beim späten Troeltsch, nicht mit der nötigen Klarheit zum Ausdruck zu kommen.
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An diesen Zusammenhängen haben Troeltschs dialektisch-theologische Kritiker angesetzt, indem sie die Troeltschschen Schwebelagen entschlossen fixierten. Unter diesen Kritikern ragen, wenn man wiederum auf Stellung und Funktion des Verantwortungsbegriffs in ihrem Denken blickt, vor allem zwei deutlich heraus: Friedrich Gogarten, der direkte Schüler (jedenfalls Hörer) Troeltschs, und Dietrich Bonhoeffer.
4. Geschichtstheologische Verantwortungsethik bei Friedrich Gogarten und Dietrich Bonhoeffer Der theologische Grundlagenstreit, den die Dialektische Theologie nach dem Ersten Weltkrieg ausgelöst hat, kann beschrieben werden als innertheologischer Richtungsstreit um die adäquate Wahrnehmung
der
kulturpraktischen Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie, als Debatte um ihre kulturpraktische Verantwortung,
genauer: als Streit um den Modus
der Verantwortungsstruktur der Theologie. Denn die Voraussetzung, das darf die Schärfe der Debatte nicht übersehen lassen, ist auf Seiten der Liberalen wie der Dialektischen Theologie grundsätzlich die gleiche: Theologie hat nicht lediglich eine neutrale explikative Funktion in bezug auf ihren Gegenstand, der dann bloßer Gegenstand wäre (Objekt), sondern diese Explikationsfunktion ist selber ein aktiver, praktischer Auslegungsakt des christlich-religiösen Bewußtseins (gen. subj.) respektive seines Begründungszusammenhangs; er hat infolgedessen selbst eine kulturprägende Kraft und ist als solcher Aktzusammenhang theoretisch-praktisch zu verantworten. Auf beiden Seiten wird damit - wenn auch teilweise verdeckt - der wissenschaftlichen Kriteriologie der Logizität, verstanden als korrespondenztheoretische Sachadäquanz, eine pragmatische Kriteriologie der Handlungs- bzw. Subjektadäquanz untergezogen. „Verantwortung", nämlich die Verantwortung des theologischen Theoretikers, wird darin selbst zu einer gnoseologischen Fundamentalkategorie. Das ist der Hintergrund für die schon bei Troeltsch nachweisliche Betonung des Wagnischarakters aller geschichtsphilosophischen Konstruktionsarbeit, 5 3 die bei Barth zu
53
Vgl. Troeltschs Hinweis darauf, daß „die Stellungnahme bei einem diese Konstruktion leitenden Gütersystem das Wagnis einer lebensmäßigen Entscheidung und Festlegung ist, bei der man sein Leben auf die Karte seiner Entscheidung setzt." Genau in diesem Zusammenhang ist zwei Sätze später von „Verantwortung und Schaffenswille" die Rede, die „aus aller Gelehrsamkeit entste-
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einer Overbeckschen Lebensgefährlichkeitsrhetorik gesteigert wird. 5 4 Dieser m i t h i n
ethische U n t e r g r u n d der Auseinandersetzung
ist
auf
beiden Seiten gut erkennbar. In seinem 1 9 2 1 in der „Christlichen W e l t " abgedruckten Aufsatz „Ein Apfel v o m B a u m e Kierkegaards" dekonstruiert Troeltsch das theologische Pathos seines jungtürkischen Friedrich Gogarten,
i n d e m er dieses auf ein Kierkegaardsches
Kritikers Entwe-
d e r / O d e r zurückführt, das sich ethisch gibt, tatsächlich aber ästhetisch substrukturiert ist. 5 5 U m g e k e h r t attestiert in seinem 1 9 2 4 veröffentlichten
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55
hen [können], die Kräfte, die wir vor allem brauchen." Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 3. Band), Tübingen 1922, S. 82. Vgl. z. B. die Dogmatikanfänge: Karl Barth: Unterricht in der christlichen Religion, 1. Band: Prolegomena 1924, hrsg. von Hannelotte Reiften (Karl Barth: Gesamtausgabe, II. Akademische Werke. 1924) Zürich 1985, S. 3; vgl. ders.: Die christliche Dogmatik im Entwurf, 1. Band: Die Lehre vom Worte Gottes, Prolegomena zur christlichen Dogmatik 1927, hrsg. von Gerhard Sauter (Karl Barth: Gesamtausgabe, II. Akademische Werke. 1927) Zürich 1982, S. 22, S. 23 f. In KD 1/1 weicht der existenztheologische Alarmismus dem Hinweis auf das Gebet. Vgl. Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik, 1. Band: Die Lehre vom Wort Gottes, Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 1. Halbband [1932], 10. Aufl., Zürich 1981, S. 23. Vgl. Ernst Troeltsch: Ein Apfel vom Baume Kierkegaards, in: ders.: Anfänge der dialektischen Theologie. Teil II: Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen, hrsg. von Jürgen Moltmann, 3. Aufl., München 1977, S. 134-140. - In einem der vielleicht emotional engagiertesten Texte aus seiner Feder, dem Nachruf auf Walther Rathenau vom August 1922, überschrieben „Dem ermordeten Freunde", schreibt Troeltsch Rathenau folgendes Verdikt über „die deutschen Intellektuellen" zu. Diese „seien eine nicht regierende und nicht verantwortliche Klasse, die, selbst in kleinen Ämtern gesichert, die Feder grenzenlos unverantwortlich spazieren gehen lasse und die ungeheuerlichsten ethischen Revolutionen und Zynismen ebenso verbreite wie die dunkelste Mystik und Abstrusität oder die langweiligsten Plattheiten." (KGA 15, S. 469-475, hier S. 474) Es mag sein, daß einige dieser Merkmale („dunkelste Mystik", „Abstrusität") in Troeltschs Verwendung auch auf die Dialektischen Theologen zu beziehen sind. - Auch noch, um ein anderes markantes Beispiel zu nennen, die bekannte Auseinandersetzung, die der (eher ,modern-positive' als liberale) Otto Dibelius mit Karl Barth 1931 über die theologisch zu bestimmende Aufgabe der Kirche und der Kirchenleitung geführt hat, steht von Seiten Dibelius' ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt der „Verantwortung der Kirche" für die Gesellschaft. Vgl. Otto Dibelius: Die Verantwortung der Kirche. Eine Antwort
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Aufsatz „Historismus" Friedrich Gogarten seinem Lehrer Ernst Troeltsch, daß es diesem mit seiner historistischen Geschichtsphilosophie „nicht um die bloße kontemplative Geschichtsbetrachtung zu tun ist, sondern [daß er] aus der Geschichte heraus ein gegenwärtiges und die nächste Zukunftsrichtung bestimmendes Kultursystem' gewinnen und damit eine , historische Tat' tun will, [daß er] [ . . . ] also nicht nur Geschichte schreiben, sondern selbst Geschichte bestimmen will. Denn ihm ist nicht Gelehrsamkeit Selbstzweck, sondern aus ihr sollen ,Verantwortung und Schaffenswille entstehen, die Kräfte, die wir vor allem brauchen.' 5 6 Das aber, was Geschichte in diesem nicht nur kontemplativen, sondern verantwortungsvollen Sinne konstituiert, das ist einmal, daß sie eine tatsächliche Begegnung mit dem anderen Menschen, dem Du ist - dem Fremdseelischen, wie Troeltsch höchst bezeichnender Weise sagt - . Und das andere Merkmal ist dieses, daß die Geschichte eine Begegnung mit Gott ist - oder irgendeinem Analogon zu ihm, sagt Troeltsch auch hier, [ . . . ] höchst bezeichnender Weise." 57 Die Differenz zu Troeltsch, die aus Gogartens Sicht eine scharfe ist, besteht nun gleichwohl darin, daß die fundamentale , Doppeldeutigkeit' dieser doppelten Begegnung, als welche „wirkliche Geschichte" als Geschichte von Handlungen 5 8 zu bestimmen sei, nicht auf den einen „,Lebensprozeß des Absoluten'" 5 9 zurückgenommen werden dürfe. 60 Wo das geschieht, werde „die Dreidimensionalität der wirklichen Geschichte in eine zweidimensionale, flächige, deutende Darstellung verwandelt. Hier hat man sich aus der actio zurückgezogen in die contemplatio." 6 1 Die Kritik des Dialektischen Theologen an seinem liberalen Lehrer gilt mithin dessen geschichtsphilosophischem Idealismus und Monismus (wie er das sieht) vor allem aus dem Grund, weil diese gnoseologische Voraussetzung zu einem performa-
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an Karl Barth, Berlin o. J. [1931], hier besonders den Abschnitt „4. Verantwortungen", S. 2 2 - 2 7 . Gogarten zitiert hier Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 53), S. 82. Friedrich Gogarten: Historismus, in: Anfänge der dialektischen Theologie. Teil II (wie Anm. 55), S. 171-190, hier S. 187. Vgl. ebd., S. 188. Ebd., S. 188. Vgl. zum folgenden auch den ausführlicheren Gogarten-Abschnitt in meinem Buch: Karl Barths praktische Theologie (wie Anm. 12), S. 1 1 0 - 1 3 8 . Friedrich Gogarten: Historismus (wie Anm. 57), S. 188.
.Verantwortung" als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit
tiven Widerspruch in bezug auf die in ihr liegende Selbstdeutung des Tuns des Theoretikers führe. Dieses Tun werde damit seinerseits - und gerade entgegen dessen eigentlichen Intentionen streng genommen - nicht mehr als ein Akt geschichtlichen Handelns, der als solcher innerhalb des von ihm entworfenen geschichtsphilosophischen Referenzrahmens plaziert ist, gedacht, sondern als einer, der diesem Rahmen im Grunde exemt ist, gewissermaßen von der Warte Gottes aus. Diese Kritik Gogartens an Troeltsch ist, wie hier nicht gezeigt werden kann, aber leicht gezeigt werden könnte, strukturell symptomatisch für die Dialektische Theologie insgesamt. Deren steiler dialektischnormativer Theozentrismus verdankt sich der gemeinsamen Überzeugung, daß die Selbsterfassung endlich-geschichtlicher Handlungsmächtigkeit und darin ihr bewußter und verantwortlicher Vollzug nur möglich sei, indem sie sich theoretisch und zugleich handlungspraktisch in die Handlungsbewegung des Absoluten einstelle, was freilich, so bekanntlich der ursprüngliche Ansatz, nur im Medium der Negation endlicher Selbstmächtigkeit möglich, und darin wiederum unmöglich sei. Kategorial betrachtet, kann man in diesem Ansatz den Versuch einer ins Spekulativ-Theologische übersetzten Korrektur des Ansatzes von Ernst Troeltsch mit Weberschen Mitteln sehen. Die Dialektische Theologie entwirft gewissermaßen eine ins Absolute verschobene Soziologie des Handelns, des absoluten Handelns, des Handelns des Absoluten, die freilich als solche vom Gegenzug gegen alle empirische Soziologie lebt. Eben diese abstrakte Gegenzüglichkeit haben Friedrich Gogarten und dann vor allem Dietrich Bonhoeffer zu korrigieren versucht, ohne den Grundgedanken preiszugeben. Das Motiv für diese Korrektur zeigt in beiden Fällen die tragende Kategorie des Verantwortungsbegriffs an. Die Attraktivität, die vor allem für Gogarten, aber auch für Barth, der Verantwortungsbegriff hat, lebt über das bereits Gesagte hinaus auch von seinem semantischen Gehalt. In „Verantwortung" steckt, wie die Dialektischen Theologen zu betonen nicht müde werden, „Antwort". Damit läßt sich der Begriff einpassen in die Umstellung der philosophisch-theologischen Grundkategorialität von Logizitäts- auf Rhetorizitätsstrukturen, die mit den beschriebenen handlungstheoretischen Grundüberlegungen eng zusammenhängt. Rhetorizität ist handlungspraktisch verflüssigte Rationalität. Spätestens seit Gogartens 1926 erschienenem Buch „Ich glaube an
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den dreieinigen Gott. Eine Untersuchung über Glaube und Geschichte" 6 2 steht bei ihm der Verantwortungsbegriff auch begrifflich im tragenden Zentrum seines Denkens. 6 3 Diese verantwortungsethische Grundstruktur der Theologie Gogartens steht jedoch in den zwanziger und dreißiger Jahren im Zusammenhang eines dezidiert autoritätstheoretischen Denkens, das, anders als bei Barth, v o m Autoritätsbegriff nicht nur theologischbegründungstheoretischen,
sondern
auch
ausgiebig
sozialethischen
Gebrauch macht. Insofern wird besonders bei Gogarten, aber auch bei Barth der neue, wenn man so will, Webersche Verantwortungsbegriff autoritätstheoretisch restringiert, was konkret bedeutet, daß er in die Bahnen einer theo-ontologischen Pflichtenethik zurückgelenkt und erkenntnistheoretisch an die Kirche als exklusiven Erkenntnisort zurückgebunden wird. Die situative Freiheit und Offenheit der Verantwortung wird durch die Rückbindung an das autoritative göttliche Wort, das in der Kirche ergeht, zumindest begründungstheoretisch resubstantialisiert, was sich, jedenfalls bei Gogarten, auch in einer entsprechend substantialistischen Sozialontologie bekundet. Zwar sagt Gott den Glaubenden je und je neu, was zu tun ist, aber Spielräume oder Neutralitäten, also Erlaubtes, oder, n o c h wichtiger, Pflichtenkollisionen im eigentlichen Sinne, und darum auch Nötigungen zum Kompromiß gibt es dabei nicht. Die Fundamentalisierung der Verantwortungskategorie führt bei Gogarten, aber auch bei Barth zumindest in ihrer Frühzeit zu einer ekklesialen Eindeutigkeitsethik, die - zumindest auf der Ebene theologischer Begründung, nicht notwendig auch in der ethischen Praxis - dazu neigt, alle Vielspältigkeit des Ethischen auf die menschliche Sündhaftigkeit zurückzuführen. Da solchermaßen ein theoretisch und praktisch produktiver Umgang mit den Anforderungen, die den modernen Weberschen Verantwortungsbegriff provoziert haben, nur sehr bedingt möglich ist, wird man den
Modernisierungsimpuls
der Dialektischen Theologie als gewissermaßen auf halbem Weg von den
theologischen
Grundlagen
in
die
sozialethischen
Konkretionen
steckengeblieben beschreiben müssen. Genau hier kann man nun den Einsatzpunkt von Dietrich Bonhoeffers Verantwortungsethik sehen, die wie diejenige Gogartens eigentlich eine
62 63
Verlagsort: Jena. Vgl. Friedrich Gogarten: Ich glaube an den dreieinigen Gott. Eine Untersuchung über Glaube und Geschichte, Jena 1926, S. 46, S. 59, S. 69, S. 78 f., S. 80, S. 96-98, S. 104, S. I l l , S. 113, S. 143 f., S. 164, S. 171 f., S. 174, S. 176 ff. u. ö.
Verantwortung" als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit
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Verantwortungstheologie ist und sich dabei ausdrücklich und im Gestus kritischer Überbietung auf Max Weber bezieht. 6 4 Bonhoeffer löst in seinen späten Ethikfragmenten den Verantwortungsbegriff aus den Engführungen personalistischer
und
rhetoristischer
Ich-Du-Frage-Antwort-Semantik, 6 5
auch einer übersteigerten Autoritätsfixierung, in die er bei Gogarten eingebunden wurde, indem er ihn strukturell auf den Begriff der Stellvertretung zurückführt. 6 6 Dieser Begriff erfüllt aufgrund seiner christologischen u n d soziologischen Doppelkodierbarkeit bei Bonhoeffer die Funktion, Verantwortung als Reflexionsmoment handlungspraktischer Konstituierung von Ich-Identität gerade angesichts der komplexen Vielzahl moderner Rollenanforderungen auszuweisen. „Der Vater handelt an der Stelle der Kinder, indem er für sie arbeitet, für sie sorgt, eintritt, kämpft, leidet. Er tritt damit real an ihre Stelle. Er ist nicht ein isolierter Einzelner, sondern er vereinigt in sich das Ich mehrerer Menschen. Jeder Versuch zu leben als wäre er allein, ist eine Verleugnung der Tatsächlichkeit seiner Verantwortlichkeit." 6 7 Unbeschadet der nicht sehr modernen,
sondern
eher altväterlichen Diktion wird hier erkennbar, wie Bonhoeffer versucht, Verantwortung als Grundvollzug menschlichen Lebens in seinen Vielspältigkeiten auszusagen: „Kein Mensch, der der Verantwortung und das heißt der Stellvertretung überhaupt entgehen k ö n n t e . " 6 8 Diesen Allgemeinheitsgehalt expliziert die Christologie in einer ihrerseits normativen Weise: „Weil Jesus, - das Leben, unser Leben, - als der Menschgewordene Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt hat, darum ist alles menschliche Leben durch i h n wesentlich stellvertretendes Leben. Jesus [ . . . ] lebte nur als der, der in sich das Ich aller Menschen aufgenommen hat und trägt. Sein gesamtes Leben, Handeln und Leiden war Stellvertretung." 6 9 Den normativen Duktus n o c h steigernd zu einem dezidiert Imperativischen, interpretiert Bonhoeffer den Stellvertretungs- und Verantwortungsgedanken durch den Gedanken selbstloser Lebenshingabe: „Stell-
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Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Ethik, hrsg. v o n Ilse Tödt, Heinz Eduard Tödt, Ernst Feil und Clifford Green (Dietrich Bonhoeffer: Werke, 6. Band), 2. Aufl., M ü n chen 1 9 9 8 , S. 2 5 4 .
65 66 67
Allerdings ist auch bei ihm verantwortliches Leben „Antwort auf das Leben Jesu Christi". Dietrich Bonhoeffer: Ethik (wie Anm. 64), S. 2 5 4 . Vgl. ebd., S. 2 5 6 . Ebd., S. 2 5 7 .
68 69
Ebd., S. 2 5 7 . Ebd., S. 2 5 8 .
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Vertretung und also Verantwortlichkeit gibt es nur in der vollkommenen Hingabe des eigenen Lebens an den anderen Menschen. Nur der Selbstlose lebt verantwortlich und das heißt nur der Selbstlose lebt."70 Indem solche selbstlose Lebenshingabe nicht nur als situativkulminatorischer Akt, sondern als Inbegriff und Grundvollzug verantwortlichen Lebens überhaupt gedacht wird, bekommt die Ethik Bonhoeffers eine geradezu elitäre moralisch-imperativische Aufladung. Zugleich entsteht so zwischen der weiten sozialontologischen Struktur von verantwortlicher Stellvertretung (s. oben am Beispiel des Vaters) überhaupt und jener partikularistischen Zuspitzung eine Spannung, die durch die Abtragung auf die Differenz von Kirche und Gesellschaft nicht gemildert, sondern eher fixiert wird. 71 Das Motiv hinter jener Zuspitzung ist nun freilich seinerseits ein verantwortungstheoretisches. Bonhoeffer möchte nämlich, in Auseinandersetzung mit Nietzsche und Aufnahme von ihm, 7 2 den Gedanken verantwortlicher Stellvertretung gewissermaßen in den Vollzug moralischer, also verantwortungsethischer Reflexion selbst introjizieren. Darum denkt er verantwortliche Stellvertretung als „Schuldübernahme" 7 3 . „Es gibt [ . . . ] für das verantwortliche Handeln so etwas wie eine relative Sündlosigkeit, die sich gerade im verantwortlichen Aufnehmen fremder Schuld erweist." 74 Damit freilich drohen die moralischen Begriffe sich paradox zu verkehren. Wenn Bonhoeffer in diesem Zusammenhang in einer an Max Weber erinnernden Weise eine kantische Gesinnungsethik als Ethik unmittelbaren und damit unmoralischen Selbstinteresses kritisiert, 75 dann
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72
73 74 75
Ebd., S. 258. Ebd., S. 406: „Der von der Kirche verkündete Herrschaftsanspruch Jesu Christi bedeutet zugleich die Befreiung der Familie, der Kultur, der Obrigkeit zu ihrem eigenen - in Christus begründeten - Wesen. Erst aufgrund der aus der verkündigten Christusherrschaft entspringenden Befreiung gibt es jenes rechte Miteinander, Füreinander und Gegeneinander der göttlichen Mandate". Vgl. dazu Peter Köster: Nietzsche als verborgener Antipode in Bonhoeffers Ethik, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 3 6 7 - 4 1 8 ; sowie meinen Beitrag: Theologische Ethik nach Nietzsche (wie Anm. 28), S. 94 ff.; sowie Nicoletta Capozza: Im Namen der Treue zur Erde. Versuch eines Vergleichs zwischen Bonhoeffers und Nietzsches Denken (Religion - Geschichte - Gesellschaft, Band 33), Münster 2003. Dietrich Bonhoeffer: Ethik (wie Anm. 64), S. 275. Ebd., S. 280. Vgl. ebd., S. 280.
.Verantwortung" als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit
scheint er Webers Verantwortungsethik darin überbieten zu wollen, daß er den Verantwortungsbegriff in den Schuldbegriff zurückbiegt, wodurch Verantwortungsethik zu einer radikalen Steigerung von Gesinnungs-, also Zurechnungsethik mutiert. Auf diese Weise wird, so könnte man es sehen, zugleich Ernst Troeltschs Anliegen grundsätzlich Rechnung zu tragen versucht; denn die als Intensitätssteigerung gedachte Inversionsoperation dient dem Zweck, den theologischen, geschichtstheologischen Begründungshorizont verantwortlichen Handelns kenntlich zu machen. 7 6 Ich meine, das geschieht grundsätzlich mit Recht; denn sich als verantwortliche reflektierende Handlungsmächtigkeit weiß, daß ihr Vollzugsmoment ihrem Reflexionsmoment faktisch immer schon vorausgelaufen ist; dies kann als Schuld beschrieben werden oder besser: als Sich-angewiesenWissen auf die Gnade Gottes: „Gerade der in der Freiheit eigenster Verantwortung Handelnde sieht sein Handeln einmünden in Gottes Führung. Freie Tat erkennt sich zuletzt als Gottes Tat, Entscheidung als Führung. [ . . . ] In der freien Preisgabe des Wissens um das eigene Gute geschieht das Gute Gottes. Erst in dieser letzten Perspektive kann vom Guten im geschichtlichen Handeln gesprochen werden." 7 7 Damit hat sich der Kreis (von Weber über Troeltsch zu Gogarten und Bonhoeffer) in gewisser Weise geschlossen.
5. Ausblick Die Viererkonstellation, genauer: die Konstellation je zweier intellektueller Brüderpaare, könnte gewiß, jedenfalls was die Kluft zwischen den beiden Paaren angeht, in vielen Hinsichten kaum größer sein. Und doch sollte eine gemeinsame Theoriematrix ebenfalls nicht zu übersehen sein. Sie wurde hier herauszupräparieren versucht als die Einsicht in den Verantwortungsbegriff als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit und damit als Grundbegriff geschichtlichen Handelns überhaupt. Dem Verantwortungsbegriff kommt damit eine praktisch und zugleich theoretisch transzendentaltheoretische Stellung zu: Ohne Verantwortung gibt es weder geschichtliches Handeln noch die adäquate methodische Erkenntnis von ihm. Zumindest die drei theologischen Autoren sind sich - bei allen Unterschieden - darin einig, daß solche geschichtliche Handlungsmächtigkeit in ihrem Sosein ad76 77
Freilich bleibt der prinzipielle, philosophische Anspruch dieser Gedanken durch ihre dogmatisch-theologische Formulierung weitgehend verdeckt. Ebd., S. 2 8 5 .
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äquat nur in einem theologischen, einem geschichtstheologischen Denkrahmen gedacht werden kann. Blickt man auf die heutigen Debatten um den Verantwortungsbegriff in der Risikogesellschaft, dann erscheint jener fundamentalsoziologisch/geschichtstheologische Denkzusammenhang als Ausdruck eines überholten metaphysisch-theologischen Denkrestes, der bei vollkommener Soziologisierung der Leitbegriffe leicht zu überwinden sein sollte. Einen Widerhalt gegenüber einer solchen allzu leichtfüßigen Antiquarisierungsstrategie mag derjenige Entwurf bieten, der die neueren verantwortungsethischen Debatten angestoßen hat: Hans Jonas' „Das Prinzip Verantwortung" 78 . Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit kommt hier zum Ausdruck, daß Verantwortung nicht sozialethisch restringiert werden darf, sondern sozioontologische Dimensionen hat, weil und insofern es dabei nicht nur um die ethische Qualität des Handelns, sondern um dessen Mächtigkeit als solche geht. 79 Verantwortung hat es mit Handlungsmächtigkeit zu tun, insofern sie deren reflexive Selbstthematisierung ist. 80 Bei Hans Jonas führt diese Feststellung freilich zu einer Konzeption, die der Menschheit als kollektivem Gattungssubjekt nahezu Allmachtsattribute zuschreibt. Die Verantwortung für die kommenden Generationen hat - auch wenn Jonas die Grenze zu wahren sucht Züge einer creatio ex nihilo,81 Daran mag man beispielhaft ersehen, daß
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Vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung (wie Anm. 4). Vgl. bei Jonas insbesondere den Abschnitt „Die Macht des Menschen - Wurzel des Soll der Verantwortung", ebd., S. 2 3 1 - 2 3 3 ; ferner auch die These „Macht im Verein mit Vernunft führt an sich Verantwortung mit sich." Ebd., S. 248. Die Verbindung von Verantwortungs- und Machtbegriff betont auch Hartmut Kreß: Verantwortungsethik als Ethik der Person (wie Anm. 30), S. 131 ff. Ziel der im vorliegenden Aufsatz angestellten Überlegungen war es, den Zusammenhang als einen intrinsischen auszuarbeiten. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung (wie Anm. 4), S. 233: „Wir schweigen von dem, was über dies zu Bewahrende hinausgeht: das Sollen hinsichtlich von Zwecken, die er [sc. der Mensch] sozusagen aus dem Nichts erschafft; denn Schöpfung liegt jenseits des Kreises von Verantwortung." Unbeschadet dieser Kautele ist wenige Seiten (S. 241) weiter von der paradigmatischen Verantwortung der Eltern, d. h. „Erzeuger" (!), für ihre Kinder mit folgenden Worten die Rede: „sind also total verantwortlich, und dies ist mehr als die gemeinmenschliche Pflicht gegenüber nebenmenschlicher Not, deren Grundlage etwas anderes als Verantwortung ist. Verantwortung im ursprünglichen und massivsten Sinn folgt aus der Urheberschaft des Seins, an der über die aktuellen Erzeuger
Verantwortung" als Signatur reflexiver Handlungsmächtigkeit
gerade in den Zeiten der technologischen Zivilisation die Machtfrage aus dem Verantwortungsbegriff nicht nur nicht zu tilgen ist, sondern, weil das so ist, möglicherweise auch immer von einer latenten theologischen Substruktur ist. Wenn dem aber so wäre, könnte die explizit machttheologische Reflexion des Verantwortungsbegriffs, als welche man jenen Diskussionszusammenhang zwischen Weber und Bonhoeffer verstehen kann, den Vorzug eben der Explizität haben. In der Explizität gründete dann zugleich die Aufmerksamkeit für die Nötigung zur Beschränkung der Macht auf die beschränkte und gerade nicht allmächtige Handlungsmacht - auch der Menschheit als Kollektiv. Diese Einsicht dürfte ihrerseits von fundamentaler verantwortungsethischer Bedeutung sein.
hinaus alle beteiligt sind, die der Fortpflanzungsordnung durch NichtWiderruf ihres Fiat im eigenen Fall beipflichten, also alle, die sich selber das Leben erlauben - kurz, die jeweils seiende Menschenfamilie als solche."
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JÖRN LEONHARD „Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden" - Ernst Troeltsch und die geschichtspolitische Überwindung der Ideen von 1914 Einleitung: Ernst Troeltsch und die bürgerlich-intellektuelle Deutungselite im Erfahrungsumbruch seit 1914 „Erinnern wir uns des Anfangs - jener nie zu vergessenden ersten Tage, als das nicht mehr für möglich Gehaltene hereinbrach! Wir hatten an den Krieg nicht geglaubt, unsere politische Einsicht hatte nicht ausgereicht, die Notwendigkeit der europäischen Katastrophe zu erkennen. Als sittliche Wesen aber - ja, als solche hatten wir die Heimsuchung kommen sehen, mehr noch: auf irgendeine Weise ersehnt; hatten im tiefsten Herzen gefühlt, daß es so mit der Welt, mit unserer Welt nicht mehr weitergehe. Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens und der cancanisierenden Gesittung [ . . . ] Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation?". So erinnerte Thomas Mann in seinen 1918 publizierten „Gedanken im Kriege" die unmittelbare Wirkung des August 1914. Diese intellektuelle Kriegsdeutung stand bei ihm ganz im Bann einer nationalen Schicksalsgemeinschaft, in der alle Spannungsmomente der Gesellschaft des Kaiserreichs aufgehoben schienen und die im historisch einmaligen Augenblick zugleich jene Generation auszeichnete, die diese Prüfung anzunehmen hatte: „Es war der nie erhörte, der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zu tiefster Prüfung - einer Bereitschaft, einem Radikalismus der Entschlossenheit, wie die Geschichte der Völker sie vielleicht bisher nicht kannte". 1 Wenn der August 1914 in der deutschen Gesellschaft zumindest kurzzeitig eine Deutungsgemeinde schuf, dann am ehesten im akademischen Bildungsbürgertum und den persönlichen Netzwerken der Intellektuellen, die sich besonders intensiv mit den Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten, den Belastungen und Potentialen von Nationalstaat, Industriege-
1
Thomas Mann: Gedanken im Kriege, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, hier: Band 13, Frankfurt a. M. 1974, S. 5 2 7 - 5 4 5 , hier S. 531 ff.
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Jörn Leonhard
sellschaft u n d Moderne auseinandergesetzt h a t t e n . 2 Innerhalb dieser vern e t z t e n Deutungselite n a h m Ernst Troeltsch o h n e Zweifel eine besonders einflußreiche Position ein, die sich durch seine publizistische u n d politische Tätigkeit n a c h 1 9 1 8 n o c h steigerte u n d i h n zu einer der Zentralfiguren in diesem krisenhaften Erfahrungsumbruch der deutschen u n d europäischen Geschichte m a c h t e . Daher k o m m t seinen Reaktionen auf den Krieg u n d ihrer Revision durch eine eigene geschichtspolitische Strategie n a c h 1 9 1 8 eine erhebliche Erklärungskraft zu, w e n n m a n n a c h den Disposition e n des d e u t s c h e n protestantischen Bürgertums u n d den soziokulturellen Ressourcen fragt, v o n deren Wirkung das Schicksal der ersten deutschen Demokratie wesentlich abhing. Die folgenden Überlegungen gehen z u n ä c h s t den allgemeinen Tend e n z e n u n d D e t e r m i n a n t e n der intellektuellen Kriegsneurose zu Beginn des Krieges u n d der sogenannten „Ideen v o n 1 9 1 4 " nach, fragen d a n n n a c h den spezifischen Kriegsdeutungen Troeltschs u n d verfolgen ihre Entwicklung bis zur Revision dieser Auffassungen u n d zur Ausbildung seiner p r o g r a m m a t i s c h e n Gegenentwürfe n a c h 1 9 1 8 . 3 Abschließend soll
2
Vgl. im Überblick die in der neueren Historiographie zum Weltkrieg stark hervortretenden kultur- und erfahrungsgeschichtlichen Fragestellungen: JeanJacques Becker u. a. (Hg.): Guerre et Cultures 1914-1918, Paris 1994; Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994; Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch . . . ". Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Essen 1993, ND 1996; Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Dieter Langewiesche, Hans-Peter Ulimann (Hg.): Kriegserfahrungen. Studien zur Sozialund Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges, Essen 1997; Wolfgang Kruse (Hg.): Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914-1918, Frankfurt a. M. 1997; John Hörne (Hg.): State, Society and Modernization in Europe during the First World War, Cambridge 1997; Aviel Roshwald, Richard Stites (Hg.): European Culture in the Great War. The Arts, Entertainment and Propaganda 1914-1918, Cambridge 1998; sowie aus vergleichender Perspektive Roger Chickering, Stig Förster (Hg.): Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914-1918, Cambridge 2000.
3
Vgl. Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, S. 413-452; Bernd Sösemann: Das erneuerte Deutschland'. Ernst Troeltschs politisches Engagement im Ersten Weltkrieg, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Protestantismus und Neuzeit (Troeltsch-Studien, Band 3), Gütersloh 1984, S. 120-144; Gangolf Hübinger: Einleitung: Ernst Troeltsch und die Gründungsgeschichte der Weimarer Republik, in: Ernst Troeltsch: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923), hrsg. von Gangolf Hübinger
Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden"
kritisch nach den Faktoren gefragt werden, welche die C h a n c e n auf Durchsetzung und Vermittlung von Troeltschs Geschichtspolitik von vornherein einschränkten und die von daher generelle Belastungen der politischen Kultur der frühen Weimarer Republik widerspiegelten.
Der bellizistische Diskurs und die Ethnisierung des politischen Bewußtseins: Von der intellektuellen Kriegsneurose zum national konnotierten „Kulturkrieg" Das reale Kriegsgeschehen wurde in allen beteiligten Ländern 1 9 1 4 v o n einer „intellektuellen Kriegsneurose" begleitet, für die Hermann Kellermann 1915 die Formel „Krieg der Geister" fand. 4 Hinter ihm stand eine primär von den bildungsbürgerlichen Schichten, vor allem von Hochschullehrern, Schriftstellern, Theologen und Publizisten ausgelöste Flut v o n Aufrufen, Stellungnahmen und Predigten und eine Welle nationaler Bekenntnisschriften. In ihnen dominierte ein national konnotiertes Schema v o n positiven Eigen- und diskreditierenden Fremdbildern, das in der Vorstellung eines „Kulturkrieges" gipfelte und im Sommer 1914 eine neue Kampflinie eröffnete, an welcher der Universalismus der internationalen Gelehrtenrepublik in einen umso aggressiveren Nationalismus der Intellektuellen mündete, exemplarisch faßbar in den Erklärungen deutscher und britischer Hochschullehrer zum Ausbruch und zur Berechtigung des Krieges. 5
4
5
in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 15) (im folgenden: KGA 15), Berlin 2002, S. 1 - 5 2 ; vgl. im weiteren Zusammenhang auch Barbara Beßlich: Wege in den ,Kulturkrieg'. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, Darmstadt 2000; Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die ,Ideen von 1914' und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; sowie zuletzt vergleichend Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2004. Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914, hrsg. von Hermann Kellermann, Dresden 1915, Vorwort; vgl. auch Woldemar von Sedlitz: Das erste (zweite, dritte) Jahr des Kulturkrieges, München 1914-1917. Vgl. Jeffrey Verhey: Krieg und nationale Identität: Die Ideologisierung des Krieges, in: Eine Welt von Feinden (wie Anm. 2), S. 167-75; Klaus Böhme (Hg.): Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg. Deutsche Dokumente 1914-1918, München 1973; Klaus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des
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Die hier zutage tretende nationale Ideologisierung des Krieges beruhte auf mindestens zwei unterschiedlichen Wirkungsebenen, zum einen der gezielten staatlichen Kriegspropaganda, zum anderen auf der Eigendynamik der Kriegsdeutung als nationales Erlebnis und Fluchtpunkt nationaler Selbstvergewisserung. 6 Damit traten die endogenen Wirkungen in den Vordergrund, die von der Herausforderung des Krieges auf Nation und Gesellschaft ausgingen. Das jeweils nationale Muster intellektueller Kriegsdeutung unterschied sich dabei in den beteiligten Ländern zunächst nur wenig voneinander. 7 Während man in Frankreich glaubte, „gegen den Alpdruck des Materialismus, des behelmten Deutschlands" zu kämpfen, und daher die eigene Nation vor einer Auferstehung sah, betonten englische Publizisten, der Krieg eröffne die Chance, gegenüber der in der Vorkriegszeit eingetretenen gesellschaftlichen Dekadenz genuin nationale Tugenden wiederzubeleben. 8 Das Motiv der nationalen Wiederfindung durch den Krieg bestimmte auch den deutschen Kriegsdiskurs der Intellektuellen. So feierte Hermann Bahr die Wiedergeburt des „deutschen Wesens": „Wo war es so lange geblieben? Über Nacht stand es auf. Und steht so stark da, daß nichts mehr daneben Platz hat auf der deutschen Erde. Jeder andere Gedanke, jedes andere Gefühl ist weg. Es müssen Gespenster gewesen sein, was wir sonst noch alles dachten und fühlten [... ] Wir haben uns wieder, nun sind
6
7
8
Ersten Weltkriegs, Göttingen 1969; vgl. Reinhard Rürup: „Der Geist von 1914" in Deutschland. Kriegsbegeisterung und Ideologisierung des Krieges im Ersten Weltkrieg, in: Bernd Hüppauf (Hg.): Ansichten vom Krieg, Königstein/Ts. 1984, S. 1-30. Vgl. Jörn Leonhard: Vom „Nationalkrieg" zum „Kriegsnationalismus" - Projektion und Grenze nationaler Integrationsvorstellungen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg, in: Ulrike von Hirschhausen, Jörn Leonhard (Hg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001, S. 204-240. Vgl. Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, hier v. a. die Beiträge von Friedrich Lenger: Werner Sombart als Propagandist eines deutschen Krieges, in: ebd., S. 65-76; Stefan Meineke: Friedrich Meinecke und der „Krieg der Geister", in: ebd., S. 97-118; sowie Gerd Krumeich: Ernest Lavisse und die Kritik an der deutschen „Kultur", 1914-1918, in: ebd., S. 143-154. Zitiert nach Romain Rolland: Das Gewissen Europas. Tagebuch der Kriegsjahre 1914-1919, 3 Bände, 2. Aufl. Berlin 1983, hier: Band 1, S. 46 ff.; vgl. Samuel Hynes: A War Imagined. The First World War and English Culture, New York 1992, S. 12 ff.
Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden"
wir nichts als deutsch; es genügt uns auch ganz, wir sehen jetzt, daß man damit völlig auskommt, fürs Leben und fürs Sterben". 9 Dieser projizierten Selbstfindung der Nation im Krieg, einer gleichsam bellizistischen Nationalisierung, die die Spannungsmomente der Vorkriegsgesellschaften zu überbrücken und konkurrierende regionale, konfessionelle oder milieubestimmte Identitätsangebote zurückzudrängen schien, entsprach die Stilisierung des nationalen Einheitsgedankens, der auf der Amalgamierung von Selbst- und Fremdbildern beruhte. Auch dies fand zu Beginn des Krieges in allen Gesellschaften statt. Der britische Historiker A. L. Smith hob hervor, daß erst der Krieg eine nationale Einheit und emotionale Kohärenz schaffe, er offenbare die eigentlichen Grundlagen der modernen Nation, nämlich die Gemeinschaft von Lebenden, Toten und Ungeborenen. 1 0 In Deutschland wurde vor dem Hintergrund der besonderen Spannungsmomente nationaler Integration nach 1871, im Hinblick auf die „inneren Reichsfeinde" - die Katholiken und vor allem die sozialdemokratischen Industriearbeiter - der Krieg als „Zauberkünstler und Wundertäter" propagiert, der die innere Reichsgründung und damit die eigentliche Nationsbildung vollende. Dazu gehörte in den Augen vieler Zeitgenossen zumal „das größte aller Wunder", denn der Krieg zwinge „die Sozialdemokratie an die Seite ihrer deutschen Brüder". 11 Die Dynamik der intellektuellen Deutungsentwürfe erwuchs aus der interdependenten Polarisierung von nationalen Kriegsaneignungen. Die in dem berühmten Aufruf von 93 deutschen Hochschullehrern „An die Kulturwelt!" im Spätjahr 1914 beschworene nationale Einheit von Kultur und Militarismus rief auf der Gegenseite entsprechende Reaktionen hervor und schien die These vom vordemokratischen System Deutschlands umso plausibler zu machen. Als nationale Aufgabe mit universalistischem Horizont wirkte bei den Alliierten dementsprechend das Ziel, das von einer militaristisch-feudalen und autoritären Machtelite unterdrückte deutsche Volk zu befreien. Diese Unterscheidung von Regierungssystem
9
10 11
Hermann Bahr: Das deutsche Wesen ist uns erschienen, in: Das Eiserne Buch. Die führenden Männer und Frauen zum Weltkrieg 1914/15, Hamburg 1915, S. 76 f. Vgl. Stuart Wallace: War and the Image of Germany. British Academics 1 9 1 4 1918, Edinburgh 1988, S. 77. Tägliche Rundschau, 5. August 1914.
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und Bevölkerung lag etwa der Projektion von H. G. Wells, eines „war to end all wars", zugrunde. 12 Einen solchen universalistischen Anspruch suchte man in der nationalen Ideologisierung des Krieges in Deutschland zunächst vergebens. Vielmehr reflektierten die deutschen „Ideen von 1914", die auch explizit als Gegenentwurf zu den Prinzipien von 1789 konzipiert wurden und für den intellektuellen Diskurs um 1914 den nationalisierten Fluchtpunkt darstellten, eine in vierfacher Hinsicht signifikante Nationsprojektion. 13 Erstens gründete die nationale Einheitsideologie im Zeichen des Krieges auf einer Absage an die Konzepte der westlichen Zivilisation und Gesellschaft. Dem Feindbild einer vermeintlich oberflächlichen und materialistischen Zivilisation wurde das positive Selbstbild deutscher Kultur entgegengesetzt, exemplarisch etwa in Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen", in denen ein Antagonismus von deutschen und nicht-deutschen Bestimmungen dominierte: „Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht und Literatur". 14 Gegenüber einer demokratisch organisierten Gesellschaft nach westlichem Muster verhieß diese Nationsvorstellung nach innen eine klassenlose „Volksgemeinschaft". Nicht ein parlamentarisches System, sondern die „Freiheit einer selbständigen und bewußten Bejahung des überindividuellen Gemeingeistes [ . . . ] , die Freiheit einer freiwilligen Verpflichtetheit für das Ganze, die Freiheit des Gemeinsinns und der Disziplin" standen im Vordergrund und bedingten zugleich die Formel, nach der industriegesellschaftliche Interessenkonflikte aufgehoben werden sollten: „Fort aber mit den Klassenkämpfen" - „Wer künftig von solchen wieder reden wollte, den erinnere man an die ersten Augusttage des Jahres 1914". 1 5
12 13 14 15
Vgl. Jeffrey Verhey: Krieg und nationale Identität (wie Anm. 5), S. 171 f. Vgl. Rudolf Kjellen: Die Ideen von 1914 - Eine weltgeschichtliche Perspektive, Leipzig 1915. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1918, S. 22 f. Ernst Troeltsch: Die Ideen von 1914. Rede gehalten in der Deutschen Gesellschaft von 1914 (1916), in: ders.: Deutscher Geist und Westeuropa, hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1925, S. 31-58, hier S. 48 f.; Alois Riehl: 1813 - Fichte - 1914, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, gehalten von den Professoren an der Berliner Universität, Band 1, Berlin 1915, S. 191-210, hier S. 207.
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Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden"
Zweitens
rekurrierte
Gemeinwirtschaft"
die unter
firmierende
„Kriegssozialismus"
nationale
und
Ideologisierung
„Deutsche anders
als
in Großbritannien oder den USA auf eine spezifische Mischung aus technologisch-industrieller Effizienz und organisch-korporativem Gesellschaftsideal. Ihr Ausdruck war, in den Worten Walther Rathenaus, eine Wirtschaft als „Produktionsgemeinschaft, in der alle Glieder organisch ineinandergreifen, nach rechts und links, nach oben und unten zur lebendigen Einheit zusammengefaßt, mit einheitlicher
Wahrnehmung,
Urteil, Kraft und Willen versehen, nicht eine Konföderation,
sondern
ein Organismus". 1 6 Drittens avancierte nicht allein Frankreich oder Rußland, sondern vor allem England zum ideologischen Feindbild. Dabei verband
sich
die
Ablehnung
eines parlamentarischen
Regierungssy-
stems, die „englische Krankheit" des Liberalismus, mit der Absage an ein materialistisch-wertlos erscheinendes Gesellschaftsbild, die bei Werner Sombart in den zur Weltanschauung kondensierten Gegensatz zwischen englischem
„Händlertum"
und
deutschem
„Heldentum"
mündete. 1 7
Viertens büßten solche Berufungen auf traditionelle Nationskonzepte bald an Überzeugungskraft ein, denn es zeigte sich, daß der Krieg nur von modernen Industriegesellschaften entschieden werden konnte. Die Mischung aus traditionellen Nationskonzepten, geschichtsphilosophischer Überprägung und neuartigen Faktoren der Gemeinschaftsbildung im Zeichen des industriellen Massenkrieges ließ im deutschen Kriegsnationalismus schließlich auch einen Anspruch auf Modernität deutlich werden. Unter den extremen Bedingungen des Krieges kündigte sich darin für manche Zeitgenossen der Übergang v o m bürgerlichen Nationsverständnis des 19. Jahrhunderts in eine neue Epoche an. Anläßlich des Kriegsausbruchs im August 1914 schrieb das Zentralorgan der deutschen Kriegervereine, die Zeitschrift „Die Wehr", 1914 sei das deutsche Volk „aufgestanden, um sich als Nation, Volk und Staat endgültig durchzusetzen. Der Nationalismus hat
16 17
Walther Rathenau: Die Neue Wirtschaft, in: ders.: Gesammelte Werke in 5 Bänden, hier Band 5, S. 179-261. Vgl. Jörn Leonhard: Construction and Perception of National Images: Germany and Britain, 1870-1914, in: The Linacre Journal 4 (2000), S. 45-67, hier S. 59 ff.; sowie Christoph Jahr: „Das Krämervolk der eitlen Briten". Das deutsche Englandfeindbild im Ersten Weltkrieg, in: Christoph Jahr, Uwe Mai, Kathrin Roller (Hg.): Feindbilder in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 115-142.
Jörn Leonhard
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in Deutschland über den Individualismus gesiegt; nicht mehr das Glück der einzelnen, des jetzt lebenden Geschlechts, ist das Ziel staatlicher Entwicklung; wir kämpfen um Größe, Macht und Ansehen unseres Volkes. Eine ungeheure innere Umwälzung hat sich vollzogen; ein anderes deutsches Volk wird nach diesem Kriege sein". 1 8 Friedrich Meinecke betonte: „Eine neue geschichtliche Epoche begann für die Welt und voran für das deutsche Volk mit dem 1. August 1 9 1 4 " . 1 9 Im Schlüsselbegriff der „deutschen Organisation", den man in militärischer, politischer und ökonomischer Mobilisierung und Zentralisierung erkannte, schien das neue nationale Gemeinschaftsideal verwirklicht, das Deutschland von seinen Nachbarn unterscheide, wie der Nationalökonom J o h a n n Plenge bekannte: „Da ist unser neuer Geist geboren, der Geist der stärksten Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und staatlichen Kräfte zu einem neuen Ganzen, in dem alle mit gleichem Anteil leben. Der neue deutsche Staat!" 2 0 Diese nationale Ideologisierung ließ sich gegen die vermeintlichen historischen Deutungsmuster des Westens kehren. In den Worten Rudolf Kjellens fand eine „Umkehr von den Ideen von 1789 zu dem neuen Stern von 1914, dem kalten, aber hellen Stern der Pflicht, der Ordnung, der Gerechtigkeit" statt. 2 1 J o h a n n Plenge rekurrierte sogar auf den Begriff der „Revolution", aber nicht als Ausdruck politisch-sozialer Konfliktkonstellationen, sondern als Mittel, um die „Volksgenossenschaft des nationalen Sozialismus" zu verwirklichen: „Seit 1789 hat es in der Welt keine solche Revolution gegeben, wie die deutsche Revolution von 1914. Die Revolution des Aufbaus und des Zusammenschlusses aller staatlichen Kräfte im 20. Jahrhundert gegenüber der zerstörenden Befreiung im 19. Jahrhundert [ . . . ] Zum zweiten Mal zieht ein Kaiser durch die Welt als Führer eines Volkes mit dem ungeheuer weltbestimmenden Kraftgefühl der allerhöchsten Einheit. Und man darf behaupten, daß die ,Ideen von 1914', die Ideen der deutschen Organisation, zu einem so nachhaltigen Siegeszug über die Welt
18
19
20 21
Brüderlich mit Herz und Hand, in: Die Wehr 11/12 (1914); vgl. Marilyn Shevin Coetzee: Popular Nationalism in Germany during World War I, in: History of European Ideas 15 (1992), S. 369-375, hierS. 371. Friedrich Meinecke: Geschichte und öffentliches Leben, in: Ernst Jäckh (Hg.): Der große Krieg als Erlebnis und Erfahrung, Band 1, Gotha 1916, S. 18-26, hier S. 18; vgl. Eine Welt von Feinden (wie Anm. 2), S. 174 f. Johann Plenge: Der Krieg und die Volkswirtschaft, Münster 1915, S. 187 f. Rudolf Kjellen: Die Ideen von 1914 (wie Anm. 13), S. 46.
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bestimmt sind, wie die,Ideen von 1789"'. 2 2 Die emotionale Selbstvergewisserung im Zeichen des Krieges verlangte nach einem integralen Deutungsschema, und die kollektive Ordnung und Gemeinschaft der Nation schien genau dies zu bieten.
Vom Internationalismus der Gelehrtenrepublik zur Nationalisierung des Kulturbegriffes: Ernst Troeltsch und das Paradigma der „Ideen von 1914" 1910 gehörte Ernst Troeltsch zu den Gründungsmitgliedern der Zeitschrift „Logos", einem als „Internationaler Zeitschrift für Philosophie und Kultur" programmatisch charakterisierten Forum für kulturphilosophische Fragen. Dem Herausgeberkollegium, einem Netzwerk meinungsbildender und innovativer Wissenschaftspersönlichkeiten, gehörten neben Troeltsch selbst Rudolf Eucken, Otto von Gierke, Edmund Husserl, Friedrich Meinecke, Heinrich Rickert, Georg Simmel, Max Weber, Wilhelm Windelband und Heinrich Wölfflin an. Das Vorwort der Herausgeber im ersten Band las sich im Kontext betonter internationaler Offenheit der Zeitschrift wie das Manifest einer universellen und transnationalen Gelehrtenrepublik. Es gehe um die „Durchdringung der verschiedensten Kulturgebiete, insbesondere der Wissenschaft, der Kunst, des sozial-ethischen, des rechtlichen, staatlichen, nationalen Lebens, der Religion". 23 Nach dem August 1914 suchte man nach solchen international ausgerichteten Bekenntnissen vergebens. Der Universalismus der Gelehrtenrepublik trat hinter die Nationalisierung des Kulturbegriffes zurück, und Ernst Troeltsch beteiligte sich an dieser Deutungsoffensive des akademischen Bildungsbürgertums maßgeblich, so bereits 1914 mit einer bemerkenswerten Stellungnahme zum Begriff des deutschen Militarismus und seiner Bedeutung. „Militarismus" stand hier nicht mehr nur für eine negativ konnotierte Fremdbezeichnung zur Abqualifizierung des Gegners. Aus deutscher Sicht war er Ausweis und Synonym für die deutsche Staats- und Gesellschaftsordnung. Troeltsch gab dieser semantischen Ausweitung des Begriffes zu einem emotionalisierten und sinnstiftenden Wertmuster Ausdruck, wenn er im November 1914 zwar analytisch, aber doch zustimmend die
22
J o h a n n Plenge: 1 7 8 9 und 1 9 1 4 . Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Berlin 1 9 1 6 , S. 8 2 .
23
Logos, Vorwort der Herausgeber, in: Logos 1 ( 1 9 1 0 / 1 1 ) , S. I; vgl. Barbara Beßlich: Wege in den ,Kulturkrieg' (wie Anm. 3), S. 3 4 0 .
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historische Notwendigkeit der Sonderentwicklung und Sonderstellung des deutschen Nationalstaates betonte: „Militarismus heißt, daß Deutschland bei seiner kontinentalen Lage, mit sehr schlechten natürlichen Grenzen und als allseitig bedrohter Spätling der europäischen Staatengesellschaft eine schwere militärische Rüstung tragen m u ß und daß er diese Rüstung mit allen Mitteln vervollkommnet [ . . . ] Militarismus heißt ferner, daß die kriegerische Organisation in gewissem Grade abfärbt auf unser ganzes bürgerliches Leben [ . . . ] Militarismus heißt schließlich, daß wir unser Heer nicht b l o ß aus Vernunftgründen schätzen und pflegen, sondern daß wir es lieben aus unwillkürlichem Zwange unseres Herzens". 2 4 Ging es 1914 bei Troeltsch zunächst n o c h u m die Verteidigung deutscher Wertbegriffe, dann zeigte sich schon bald eine Wendung ins Grundsätzliche. In einer Rede vom Juli 1915 versuchte Troeltsch, den 1914 entstandenen tiefen Riß zwischen Deutschland und Westeuropa zu erklären. Gängigen Hinweisen auf die „nun einmal in der Welt bestehende Unbeliebtheit der Deutschen" und auf die „großen inneren Gegensätze der nationalen Kulturen in der abendländischen Welt" sprach er keine besondere Erklärungskraft zu. 25 Entscheidend war für ihn eine Veränderung im Charakter des Krieges, eine Erfahrungslehre aus dem Bellizismus des späten 19. Jahrhunderts, nämlich die tendenzielle Demokratisierung des Krieges und der ihr zugrundeliegenden Legitimationsmuster, seine Transformation von einem Staaten- und Mächtekonflikt zu einem „Volkskrieg". Es sei entscheidend, „daß demokratisierte Nationen [ . . . ] Kriege nur als Volkskriege" führen könnten, „nur mit allgemein einleuchtenden moralischen Gründen". 2 6 Ihre „Führer mögen handeln, aus welchen Motiven sie wollen, sie dürfen sie nicht eingestehen, wenn es real- oder machtpolitische Motive sind. Sie müssen den Krieg [ . . . ] moralisch als Defensivkrieg, als Angelegenheit des ganzen Volkes inszenieren und begründen k ö n n e n " . 2 7 Das sei, so Troeltsch, der eigentliche Grund für den „künstli-
24
25 26 27
Ernst Troeltsch: Unser Volksheer, Rede, Heidelberg 1914, S. IS ff.; vgl. Werner Conze u. a.: Militarismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Band 4, Stuttgart 1978, S. 1-47, hier S. 40. Ernst Troeltsch: Der Kulturkrieg, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, Band 3, Berlin 1915, S. 207-249, hier S. 211 ff. Ebd., S. 218. Ebd., S. 220 f.
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chen Defensivkrieg, den moralischen Kulturkrieg" gegen Deutschland gewesen, und zum Beweis führte er das ganze Spektrum von Nationaleigenschaften auf, das man Deutschland unterstelle: „Gleichzeitig mit der Vorbereitung der diplomatischen Einkreisungsaktion setzte in der Voraussicht dieser Lage schon der Kulturkrieg ein. Deutschland ist das Land der Reaktion, der Gewalt, der Staatsvergötterung und des Antiindividualismus, des inhumanen Staatszwanges, der amtlichen Gesinnungsstempelung, der Klassenherrschaft, des kaum verhüllten fürstlichen Absolutismus, des unfreien und unnoblen Sklavensinnes, der stets unterwürfigen Gesinnung, der Rohheit und Gewalt, des Unteroffiziers und Subalternbeamten, der geistigen Enge und Derbheit, der hungernden Armut und des sich überall vordrängenden Erwerbssinnes, des Unchristentums und der liberalen Theologie oder der Geschmacklosigkeit und Formlosigkeit. Alle diese Schreckgespenster verdichteten sich zu dem Greuel des Militarismus, der die Versklavung des Individuums, die Verherrlichung der Gewalt und die Bedrohung der Welt darstellt". 2 8 Die Steigerung dieser Interpretationsrichtung durch die systematische Dichotomisierung von Selbst- und Feindbild zeigte sich 1915 in der öffentlich vielbeachteten
Deutungsoffensive
der akademischen
Eliten
Deutschlands mit der Publikation des v o n dem Heidelberger Historiker Hermann Oncken herausgegebenen Sammelbandes „Deutschland
und
der Weltkrieg". Dazu gewann Oncken Troeltsch für einen zentralen und von den anderen Beiträgern hochgelobten Beitrag über den „Geist der deutschen Kultur". In i h m entwickelte Troeltsch die bereits gefundene Formel des „Kulturkrieges" weiter und m a c h t e sie zum Symbol für die Radikalisierung des Krieges, der mit einer neuartigen moralischen Herabsetzung des Feindes einhergehe: „Die homerischen Helden begleiteten ihre Kämpfe mit mächtigen Scheltreden, und so hat wohl immer der Kämpfende Lust gehabt, seinen Gegner auch als moralisch minderwertig zu bezeichnen [ . . . ] Das scheint ein psychologisches Gesetz zu sein und trifft - je nach dem Temperament verschieden - auf alle kämpfenden Parteien zu. Aber das, was wir heute erleben, das ist darüber hinaus n o c h etwas ganz anderes. Es ist ein neues, durch die moderne Presse ermöglichtes Kriegsmittel. Es ist geradezu ein Kreuzzug oder ein Kulturkrieg
28
Ebd., S. 2 2 2 ; vgl. Jürgen v o n Ungern-Sternberg: Wie gibt m a n d e m Sinnlosen einen Sinn? Zum Gebrauch der Begriffe ,deutsche Kultur' und Militarismus' im Herbst 1 9 1 4 , in: Kultur und Krieg (wie Anm. 7), S. 7 7 - 9 6 , hier S. 8 8 .
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gegen Deutschland, der vorhandene Gefühlsdispositionen und Gegensätze benutzt, um möglichst überall eine entschlossene und unüberwindliche Antipathie zu erzeugen". 29 Troeltschs Selbstbild der deutschen Nation rekurrierte auf den philosophischen Neoidealismus. Nirgendwo wurde die Frontstellung gegen Sachlichkeit, Rationalität und Utilitarismus als Chiffren einer von deutscher Innerlichkeit weit entfernten westeuropäischen Aufklärung so deutlich wie im Antagonismus zwischen „Kultur" und „Zivilisation". Gegen die Kultur des deutschen Idealismus und die historischen Erfahrungssubstrate der antinapoleonischen Kriege bis 1815, sedimentiert in Fichtes „Reden an die deutsche Nation" und der Formel vom moralisch „wahrhaften Krieg" und übersetzt in ein organisches deutsches Freiheitskonzept, das stets die Gemeinschaftsbildung und nicht den demokratischen Repräsentationsgedanken ins Zentrum stelle, stand die oberflächliche Zivilisationsphilosophie des Westens in der Tradition der Aufklärung und Französischen Revolution. Troeltsch stellte fünf Hauptelemente der deutschen Kultur als nationale Eigenart heraus. Als monarchisches, militärisches und „streng angespanntes Arbeitsvolk" seien die Deutschen von der Schule und vom „Wesen der deutschen Verwaltung" geprägt. Diese Elemente beruhten auf einem singulären Ordnungssinn, der sich mit strenger Disziplin und einem ausgeprägten Pflichtbewußtsein verbinde. Troeltsch ließ offen, ob diese Elemente zur ursprünglichen Anlage der Nation gehörten oder Ergebnis historischer Entwicklung seien: „genug, daß es so ist". 3 0 Troeltsch wandte, darin repräsentativ für die Reaktion des akademischen Bildungsbürgertums, den neoidealistischen Kulturkrieg vor allem gegen Frankreich, gegen den „Kultus der Form und der Klarheit, der eleganten Leichtigkeit und mathematischen Schärfe". 31 Deutsche Innerlichkeit als semantische Chiffre eines emotionalisierten und nationalisierten Kulturbegriffes und französische Äußerlichkeit stellten eine sinnstiftende
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Ernst Troeltsch: Der Geist der deutschen Kultur, in: Otto Hintze u. a. (Hg.): Deutschland und der Weltkrieg, Berlin 1915, S. 52-90, hier S. 52; vgl. Barbara Beßlich: Wege in den ,Kulturkrieg' (wie Anm. 3), S. 1. Ernst Troeltsch: Der Geist der deutschen Kultur (wie Anm. 29), S. 70-79; vgl. Christoph Cornelißen: Politische Historiker und deutsche Kultur. Die Schriften und Reden von Georg v. Below, Hermann Oncken und Gerhard Ritter im Ersten Weltkrieg, in: Kultur und Krieg (wie Anm. 7), S. 119-142, hier S. 130. Ernst Troeltsch: Der Geist der deutschen Kultur (wie Anm. 29), S. 62.
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Dichotomie dar. Der Deutsche achte auf „Inhalt, Ausdruck, Bewegung, nicht auf Linie, Form, Symmetrie und Delikatesse". 32 Diese zunächst auf Literatur und Philosophie bezogenen Werturteile ließen sich universalisieren und zu einem unversöhnlichen Antagonismus zweier Weltanschauungen verdichten: „Auch bei den Franzosen fallen Staat, Gesellschaft, Philosophie und ästhetischer Geschmack gleichfalls enger zusammen. Aber sie nennen es nicht wie die Deutschen Kultur, sondern civilisation, progres, humanite, um den logisch-notwendigen, rationalistischen Charakter auszudrücken, während an der deutschen Kultur etwas Romantisch-IndividualistischIrrationales hängt, der Gedanke der individuellen Selbstbildung der einzelnen und der Völker". 33 Gegenüber diesen kontrastiven Deutungsmustern blieb eine klare Konturierung des politisch-konstitutionellen oder gar gesellschaftlichen Selbstbildes der deutschen Nation hier noch weitgehend aus. Immerhin fiel Troeltsch nicht der Idealisierung einer allmächtigen Staatsidee anheim, in der nicht wenige Intellektuelle 1914 die historische Erfüllung des Hegeischen Idealismus erkannten, denn er warnte ausdrücklich vor einer „Verstaatlichung des Gehirns". 3 4 Von Johann Plenges Diktum, der „Gegensatz zwischen 1789 und 1914" sei „in der Philosophie der Gegensatz zwischen Kant und Hegel", war Troeltsch jedenfalls weit entfernt. Auch Rekurse auf eine bürgerliche Kapitalismuskritik und die damit verbundene Projektion eines konservativen Staatssozialismus sucht man bei ihm vergebens. Andererseits ließ die Selbstvergewisserung auf der Grundlage eines einseitig nationalisierten Kulturbegriffs bei Troeltsch kaum etwas anderes zu als das Bekenntnis zum monarchischen Nationalstaat des Kaiserreichs, das sich im Weltkrieg einer Welt von Feinden ausgeliefert sah. 35 Genauer läßt sich Troeltschs Staats- und Politikbegriff in seiner Rede über „Die Ideen von 1914" rekonstruieren, die er 1916 vor der Deutschen Gesellschaft von 1914 hielt. Hier formulierte Troeltsch ein deutsches Staatsverständnis, das sich grundlegend von französischen und britischen Politikvorstellungen unterscheide. Auch darin ließ sich die ungemein suggestive Antinomie der Ideen von 1914 gegenüber dem bloß seelenlosen Utilitarismus Westeuropas artikulieren. Deutschland verkörpere einen hi-
32
Ebd., S. 8 1 .
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Ebd., S. 49, Anm. 7. Ebd., S. 73. Vgl. Barbara Beßlich: Wege in den ,Kulturkrieg' (wie Anm. 3), S. 8 f.
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storisch entwickelten idealistischen Freiheitsbegriff und dementsprechende Staatsinstitutionen, die jetzt unter den Bedingungen des Krieges zu sich selbst befreit würden und sich v o m Zwang der Nachahmung vermeintlicher westeuropäischer Vorbilder lösen konnten: „Das Jahr 1914 m u ß einen Fortschritt in der Freiheit bedeuten, aber diese Freiheit wird von französischen und englischen Nachahmungen sich lösen und eine deutsche Freiheit sein, die in erster Linie Sache der Gesinnung und des Lebensstiles, dann aber auch der klar erkennbare Geist unserer öffentlichen Einrichtungen sein muß. Die Westeuropäer mögen dazu sagen, was sie wollen". 3 6 Die deutsche Gemeinschafts- und Pflichtethik wurde den utilitaristischwertneutralen Prinzipien der Repräsentation in Frankreich und Großbritannien entgegengehalten. Troeltsch stellte fest, die besondere deutsche Freiheit bedeute eben nicht „Hervorbringung des Regierungswillens aus der Summierung der Einzelwillen und nicht die Kontrolle der Geschäftsführer durch den Auftraggeber, sondern die freie, bewußte, pflichtmäßige Hingabe an das durch Geschichte, Staat und Nation schon bestehende Ganze". 3 7 Während Hugo Preuß 1916 bereits die „Umbildung des deutschen Obrigkeitsstaates zum Volksstaat" forderte, weil nur so die künftige „weltpolitische Entfaltung Deutschlands" möglich sei, 3 8 blieb Troeltsch zunächst n o c h bei der Feststellung, Deutschland sei „ein Obrigkeitsstaat und nicht ein Volksstaat". 3 9 Das lehnte sich an seinen Freund Friedrich Meinecke an, der programmatisch noch 1917 auf die Gegensatzpaare „Obrigkeitsstaat wider Volksstaat; Autorität wider Majorität; Konstitutionalismus wider Parlamentarismus; eigenartiges deutsches Staatsideal wider Nachahmung fremder Vorbilder" verwies. 4 0 Troeltschs Staats- und Freiheitsverständnis blieb aber im Gegensatz etwa zu Rudolf Eucken prinzipiell historisch. Während Troeltsch auf die historischen Prozesse verwies, die der Entwicklung von Staat und Freiheit in Deutschland zugrunde lagen und damit einer meta-
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Ernst Troeltsch: Die Ideen von 1914 (wie Anm. 15), S. 50. Ernst Troeltsch: Die deutsche Idee von der Freiheit (1916), in: ebd., S. 94; vgl. Görg Haverkate u. a.: Staat und Souveränität, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 24), Band 6, S. 1-154, hier: S. 90. Hugo Preuß: Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915, S. 182. Ernst Troeltsch: Deutsche Zukunft, Berlin 1916, S. 20. Friedrich Meinecke: Die Lösung der inneren Krisis (1917), in: ders.: Politische Schriften und Reden, hrsg. von Georg Kotowski, Darmstadt 1958, S. 207; vgl. Volker Sellin: Regierung, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 24), Band 5, S. 361-421, hier S. 415.
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historistischen Interpretation entschieden entgegentrat, 41 verstand Eucken Freiheit, Staat und Geschichte nur als Ausdruck eines besonderen deutschen Wesens, das er überhistorisch konnotierte. Nicht die deutsche Geschichte habe, so Eucken, ein deutsches Wesen hervorgebracht, sondern erst aus diesem Wesen habe sich die deutsche Geschichte entwickeln können. Das ließ keinen Raum für politische Kritik oder die Hoffnung auf konstitutionellen Wandel, sondern erhöhte den monarchischen National- und Kriegsstaat zum natürlichen Garanten der „deutschen Freiheit". Ohne Zweifel trug Troeltschs Rede über die „Ideen von 1914" erheblich zur Popularisierung dieses Schlagworts bei, das aber den Höhepunkt seiner integrativen Wirkung 1916 bereits hinter sich gelassen hatte. Die Popularisierung ging mit einem Verlust polemischer Schärfe einher und verkürzte die Halbwertzeit seiner semantischen Bestimmungen. Als allgemeines Schlagwort jedenfalls hatten die „Ideen von 1914" an ideologischer Eindeutigkeit eingebüßt und reflektierten eher die Vieldeutigkeit von Erwartungen in einem ausgesprochenen Meinungspluralismus, der einen krisenhaften Erfahrungsumbruch und die Fragmentierung der Kriegsdeutungen reflektierte. In den kritischen Worten Hermann Bahrs: „So wurde Plenges Thema der Ideen von 1914 erst durch Kjellen, darauf durch Tröltsch [sie!], bald auch in den Zeitungen übernommen, gleich umgesetzt, ausgeführt, verflacht, vertieft, verstärkt, moderiert und moduliert, abgewandelt, aber auch abgegriffen und abgenützt, bis es, halb verwischt und kaum mehr kenntlich, eins von den leidigen Schlagworten geworden ist, die jedermann gebraucht, ohne recht zu wissen, in welchem Sinne". 4 2
Von der Revision der „Ideen von 1914" zur Geschichtspolitik nach 1918: Stabilisierung der demokratischen Republik und europäisches Ethos als Zielhorizonte Troeltschs Spätestens seit Ende 1916 deutete sich bei Troeltsch eine zunehmend kritische Revision seiner Vorstellungen an. Das stand im Zusammenhang mit
41
Vgl. Ernst Troeltsch: Humanismus u n d Nationalismus in unserem Bildungswesen, Berlin 1 9 1 7 ; vgl. dazu H e r m a n n Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte ( 1 9 6 3 ) , M ü n c h e n 1 9 7 4 , S. 2 2 8 ; sowie Barbara Beßlich: Wege in den ,Kulturkrieg' (wie Anm. 3), S. 110.
42
Hermann Bahr: Nationalismus, in: Hochland 1 4 / 2 ( 1 9 1 7 ) , S. 2 5 7 f.; vgl. Barbara Beßlich: Wege in den ,Kulturkrieg' (wie A n m . 3), S. 3 0 4 .
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seinem Wechsel von Heidelberg an die Berliner Universität und den engen Kontakten zu führenden Vertretern von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in der Reichshauptstadt. Bereits in den ersten Jahren des Krieges hatte Troeltsch nicht zu den Vertretern des Maximalprogramms eines Annexionsfriedens gehört. 1917 setzte er sich für einen möglichen Verständigungsfrieden mit den Alliierten ein und monierte den Machtzuwachs der Dritten Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff. 43 Auch unter dem Eindruck seiner Kontakte in der „Deutschen Gesellschaft von 1914" und der „Mittwochsgesellschaft" trat die Deutung des Krieges als „Kulturkrieg" um Weltanschauungsprinzipien gegenüber ökonomischen Interessen zurück. 44 Obwohl ein prägnant formulierter Patriotismus und seine Überzeugung von der Superiorität des deutschen Idealismus über westeuropäisches Aufklärungsdenken weiterhin dominierten, rückten nun Fragen der politisch-konstitutionellen Zukunft Deutschlands und damit einer möglichen Verfassungsreform in den Vordergrund. Dieses Nebeneinander von national-exklusiven Interpretamenten und konkretpolitischen Reformvorstellungen war für die liberalen Teile des akademischen Bildungsbürgertums 1916/17 nicht untypisch. In ihm spiegelte sich die Auseinandersetzung mit den um diese Zeit besonders hervortretenden Gegensätzen in der Kriegszieldebatte, die ideologische Polarisisierung innerhalb der politischen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite und damit die latente Legitimationskrise des monarchischen Nationalstaates im Krieg.45 Kriegsende und Revolution schufen für Troeltsch eine neue Situation, die für seine Positionsbestimmung und die Entwicklung einer eigenen Geschichtspolitik prägend sein sollte. Das hatte mit temporär erheblich vergrößerten kommunikativen und politischen Handlungsspielräumen, mit Troeltschs Vernetzung in zahlreiche einflußreiche Zirkel und Gruppen und seiner persönlichen Ansehensmacht in der Öffentlichkeit zu tun. Die Revision setzte in den „Spektator-Briefen" mit der Hoffnung ein, der Ausgang des Weltkrieges werde auch das „Ende des Militarismus" bedeuten - eine
43
Vgl. Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2 0 0 1 , S.
44
Vgl. Gangolf Hübinger: Einleitung (wie Anm. 3), S. 5 f.
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Vgl. Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1 9 8 8 , S. 2 2 7 - 2 3 2 .
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klare Distanzierung von seiner 1914 noch emphatisch vorgetragenen Identifikation mit dem Begriff. 46 Nun machte er gerade den Militarismus, das Übergewicht des Militärischen über das Politische, wie zuletzt die verhängnisvolle Politik der Dritten Obersten Heeresleitung bewiesen hatte, mitverantwortlich für den Untergang des monarchischen Reiches und die Situation Deutschlands 1918. In den Vordergrund rückte sodann die Stabilisierung der neuen demokratischen Republik und die entscheidende Frage, wie vor dem Hintergrund der Traumatisierung des deutschen Bildungsbürgertums, das sich als der eigentliche Träger und Garant des 1871 begründeten Nationalstaates empfunden hatte und 1918 vor den Trümmern des Kaiserreichs und in gewisser Weise seiner eigenen Geschichte stand, eine Aussöhnung mit der demokratischen Republik gelingen konnte. Dabei erwiesen sich Friedrich Naumanns Bemühungen um eine positive Renaissance des DemokratieBegriffes, in dem er Liberalismus und Sozialismus politisch verbunden sehen wollte, zumindest bei Troeltsch als erfolgreich. 1919 wählten er und Walther Rathenau die Bezeichnung „Demokratischer Volksbund", um ganz in der Tradition der bürgerlichen Sammlungspolitik einen politischen Neuanfang unter republikanischen Zeichen zu markieren. 47 Das Ziel bestand in der Sammlung aller bürgerlichen Reformkräfte unter Einschluß der Mehrheitssozialdemokraten zur Abwehr der politischen Extreme von „Bolschewismus" und „Fascismus". Das politisch-soziale Programm, konzipiert von Rathenau, markierte bereits eine weitestgehende Abkehr von den „Ideen von 1914" und rekurrierte eher auf eine durch den Krieg veränderte Tektonik zwischen Staat, Gesellschaft und organisierten Interessen sowie eine institutionalisierte Garantie von sozialen Teilhaberechten. Hier ging es nicht mehr um die weltanschaulichen Antagonismen von „Kultur" und „Zivilisation", sondern um das Grundrecht auf Arbeit und Bildung, Maßnahmen zur Vermögensbegrenzung und die Verstaatlichung einzelner Wirtschaftsbetriebe. 48
46
47 48
Ernst Troeltsch: Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution u n d die Weltpolitik 1 9 1 8 / 1 9 2 2 , hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1 9 2 4 , S. 1; vgl. Werner Conze u. a.: Militarismus (wie Anm. 24), S. 4 4 . Vgl. Werner Conze u. a.: Demokratie, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 24), Band 1, S. 8 2 1 - 8 9 9 , hier S. 8 9 6 . Vgl. Gangolf Hübinger: Einleitung (wie Anm. 3), S. 6.
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Troeltschs Antwort auf die neue Situation, die er gemäß einer von Max Weber beeinflußten rationalen Wahrnehmungsstrategie als „Sachlage" charakterisierte, auf ihre Notwendigkeiten, aber auch die durch sie vergrößerten Handlungsspielräume, setzte auf eine geistige Regeneration, auf die Mobilisierung sozialmoralischer Ressourcen, wo auf andere Mittel zunächst nicht zu hoffen war. Zu Beginn der Verfassungsberatungen der Nationalversammlung betonte er: „Das Werk Bismarcks muß erneuert und ersetzt werden, ohne den Hintergrund einer starken, realen Macht, ganz wesentlich mit Hilfe rein ideeller Kraftquellen". Deutschland sei von einer neuen „Fülle der Gegensätze" bedroht, die an die Situation nach 1648 erinnere und die nur im Zeichen einer Anknüpfung an die positiven Ideale von 1848 und deren konsequenter Weiterentwicklung überwunden werden könne. 4 9 „Über Nacht" sei Deutschland „zur radikalsten Demokratie Europas" geworden, so Troeltsch in einem Vortrag vor dem „Demokratischen Studentenbund" am 16. Dezember 1918. Aber er machte sofort klar, daß diese krisenhafte Transformation sich nicht allein aus dem Zusammenhang von Kriegsniederlage und Revolution ergeben habe, sondern Konsequenz langfristiger Strukurveränderungen sei: „Bedenkt man es genauer, dann ist es freilich doch nicht so ganz über Nacht geschehen. Die Demokratie ist die natürliche Konsequenz der modernen Bevölkerungsdichtigkeit, verbunden mit der zu ihrer Ernährung notwendigen Volksbildung, Industrialisierung, Mobilisierung, Wehrhaftmachung und Politisierung". 50 Die zweite radikal-sozialistische Revolution von 1918/19 vehement ablehnend, plädierte er dafür, die politischen Ideale des Liberalismus von 1848 im Hinblick auf die neu eingetretene Situation zur sozialen Demokratie fortzuentwickeln: Die Demokratie sei heute „das einzige Mittel, die umgekehrte Klassenherrschaft, die Herrschaft des Proletariats, in die Bahnen einer gesunden und gerechten Staatsbildung hineinzuführen und den gesunden Kern eines staatserhaltenden Sozialismus zu retten". Die Demokratie sei in Deutschland eben kein bloßes „Erzeugnis der Doktrin", sondern ein „Ausdruck der wirklichen gesellschaftlichen, durch Krieg und Niederlage klar aufgedeckten und wirksam gewordenen Sachlage". Das aber bedeute, und hier folgte Troeltsch einer Kritik des bürgerlichen Liberalismus, die auf Friedrich Naumann zurückging, daß „sie anders als die rein bürgerli-
49
Ernst Troeltsch: Nationalgefühl (Februar 1 9 1 9 ) , in: KGA 15, S. 5 5 - 5 9 , hier S. 5 6 und S. 5 9 .
50
Ders.: Demokratie (August 1919), in: ebd., S. 2 0 7 - 2 2 4 , hier S. 2 1 1 .
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che Demokratie von 1848 nicht auf Verwirklichung von bloßen politischen Formen ausgehen kann und darf, sondern zugleich ein beginnender Umbau der sozialen Ordnung sein muß [... ] Es kann sich nicht bloß um eine rechtlich und ethisch gedachte ,Formaldemokratie' handeln". 51 Bereits hier wies Troeltsch auf das Vorbild der Vereinigten Staaten hin, wo eine Synthese aus demokratischen und konservativen Elementen gelungen sei. Charakteristisch an seiner Rezeption dieses Modells war die Betonung der ideellen sozialmoralischen Ressourcen und ihres religiösen Ursprungs: „So ist hier eine radikale Demokratie vereinigt mit der vollen Freiheit einer äußerst konservativen Sitte und einem aus eigenen Quellen sich nährenden geistigen Leben [... ] Erleichtert ist das den Amerikanern allerdings durch den Puritanismus, der eine der Wurzeln ihrer Existenz bildet und die Heiligung demokratischer Ideen aus sich heraus ohne Schwierigkeit vollziehen konnte". Im Blick auf diese Synthese von demokratischen und konservativ-aristokratischen Elementen, die er auch in Großbritannien erkannte, fügte Troeltsch seine eigene Hoffnung hinzu: „So wird es auch bei uns werden können und müssen. Auch unsre klassische Geisteswelt bietet Verbindungslinien zu einer geistig-ethischen Auffassung der Demokratie genug". 52 Das aber war genau die Zielsetzung und das inhaltliche Programm von Troeltschs Geschichtspolitik, welche die Abschottung des deutschen Idealismus und deutscher „Kultur" gegenüber westeuropäischer „Zivilisation" zu überwinden suchte. Systematisch läßt sich diese Geschichtspolitik erfassen, wenn man zunächst nach Leitkategorien, Zielen und Inhalten differenziert. Geschichte war für Troeltsch die übergeordnete Leitkategorie jener nationalmoralischen Sinnstiftung, um die es nach 1918 vordringlich gehe. Nicht ein irrationales deutsches Wesen, wie bei Eucken, stand am Anfang, sondern das Bekenntnis zum historischen Entwicklungsprozeß und der damit untrennbar verbundenen Rezeption von transnationalen kulturellen Deutungsmustern, also der Berührungszonen zwischen geistesgeschichtlichen Partikularentwicklungen und universellen Wertgütern der europäischen Kulturgeschichte. Daraus ergab sich auch die Verbindung der geistesgeschichtlichen Entwicklungsgeschichte mit den Fragen, Problemen und Herausforderungen der Gegenwart. Der Sinn der geschichtlichen Prozes-
51 52
Ebd, S. 215 und S. 219. Ebd., S. 222.
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se lag im Verständnis dieser spannungsreichen Gegenwart; Geschichte war kein Selbstzweck. Diese Prämisse schloß die fachwissenschaftliche Abschottung genauso aus wie den aus der historistischen Methode und Weltsicht hervorgegangenen Werterelativismus. Der Auflösung aller möglichen Wirklichkeitsbereiche von Staat, Recht, Moral, Religion und Kunst „in dem Fluß des historischen Werdens" und ihrer Reduzierung zu bloßen Restbeständen historischer Entwicklungen setzte Troeltsch das Ideal einer kreativen Kultursynthese als Paradigma schöpferischer Werte entgegen. 5 3 Das war auch eine sehr bewußte Antwort auf den zeitgenössischen Erfolg der Verfallsdeutung in Oswald Spenglers Werk über den Untergang des Abendlandes. Das Ziel dieser Geschichtspolitik bestand in der Versöhnung des deutschen protestantischen Bürgertums mit der demokratischen Republik, und zwar einmal aus dem Verständnis der europäischen Kulturgeschichte und zum anderen durch die Übersetzung eines daraus abgeleiteten europäischen Ethos in die Sphäre der politischen und gesellschaftlichen Systemstabilisierung. Damit könne, so die Hoffnung Troeltschs, ein integrativer Wertekonsens entstehen, welcher die mit dem Untergang des monarchischen Nationalstaates von 1871 aufgerissene Deutungslücke schließen, zumindest aber überbrücken könnte. Inhaltlich rekurrierte Troeltschs Geschichtspolitik auf ein europäisch gedachtes Ethos und nicht mehr auf die Ethnisierung und Nationalisierung des Kulturbegriffs. Wo es im Krieg noch u m die Distanzierung von der westeuropäischen Aufklärung und die Abqualifizierung des englischen Materialismus und der französischen Zivilisation gegangen war, die erst zur Einkreisung und zum Kulturkrieg gegen Deutschland geführt hätten, stand jetzt der Versuch der Synthese überstaatlicher und transnationaler Ideenmuster und die Suche nach den Verbindungen zwischen deutscher und europäischer Kulturgeschichte. Der kontrastierende Vergleich, der den „Ideen von 1 9 1 4 " zugrunde gelegen hatte, wurde ersetzt durch den Blick auf Transfer und Verflechtung. Dem galt vor allem Troeltschs programmatische Grundschrift über „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik" von 1922. 5 4 Aus diesen Berührungspunkten ergaben sich gleichsam als historische Sedimente einer europäischen Kulturgeschichte das christliche Naturrecht
53 54
Ders.: Die Krisis des Historismus (Juni 1922), in: ebd., S. 4 3 3 - 4 5 5 ; vgl. Gangolf Hübinger: Einleitung (wie Anm. 3), S. 3 0 . Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (April 1923), in: ebd., S. 4 7 7 - 5 1 2 ; vgl. Gangolf Hübinger: Einleitung (wie Anm. 3), S. 3 0 - 3 6 .
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sowie der Humanitäts- und Fortschrittsbegriff der Aufklärung, der sich vor allem in der „Idee der Menschenrechte" äußerte, „die nicht vom Staat verliehen werden, sondern i h m und aller Gesellschaft selbst als ideale Voraussetzungen dienen". 5 5 Gegenüber der „Einzelforschung" der historischen Fachdisziplin und der damit verbundenen Entgeistung der Geschichte, die der Aufklärung, Romantik und Klassik gefolgt sei, müsse es jetzt um die „Rückkehr zu universalgeschichtlichem Denken und Lebensgefühl" gehen, und dies fand im Begriff der „Kultursynthese" seinen Horizont: „Schließlich und vor allem fordert die Aufgabe der Gewinnung einer gegenwärtigen Kultursynthese eine viel stärkere Rücksicht auf die großen politischethischen Weltmächte des letzten Jahrhunderts, gerade auf die aus Naturrecht und Humanitätsidee hervorgegangenen Entwicklungen". Sie würden und müßten, so zeigte sich Troeltsch überzeugt, „ihre Rolle spielen in dem Ideal einer zukünftigen Kultursynthese, weil sie mit einer bestimmten intellektuellen Reife und einem bestimmten Maße der Bevölkerungssteigerung, auch mit bestimmten religiösen und ideologischen Elementen unseres Kulturkreises, unlöslich verbunden sind". Das alles aber sei möglich „ohne jede prinzipielle Verleugnung der deutschen Ideen". Es bedeute „vielfach eine Rückkehr zu ihrer früheren, weiteren und offeneren Behandlung der Historie". Troeltschs geschichtspolitische Überwindung der Ideen von 1 9 1 4 entsprach der Öffnung gegenüber dem westeuropäischen Denken, die eine Rückkehr zu den positiven Wurzeln des deutschen Idealismus sei: „Es würde aber zugleich eine Berührung mit dem westeuropäischen Denken in den Punkten darstellen, worin dieses mit unserer klassisch-romantischen Epoche vielfach n o c h einig war, und in dem letzten Punkte der sog. Menschenrechte würden wir eine Einseitigkeit korrigieren, die schon in jener Epoche verhängnisvoll war und es heute gegenüber der inzwischen erfolgten Weltausbreitung der westlichen Ideen n o c h mehr ist". 5 6 Die Wirkung von Troeltschs Programm war nicht gering, so bei T h o m a s Mann, der Troeltschs posthum publizierte Schrift 1 9 2 3 emphatisch als pädagogisches Programm würdigte. Sie begnüge sich nicht damit, „den Unterschied des deutschen politisch-geschichtlich-moralischen
Denkens
gegenüber dem westeuropäisch-amerikanischen - kurz gesagt also den Gegensatz zwischen der Ideenwelt der deutsch-romantischen Gegenrevo55
Ernst Troeltsch zitiert n a c h : Gangolf Hübinger: Einleitung (wie Anm. 3), S. 2 6 .
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Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, in: KGA 15, S. 5 0 8 f.
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lution und der älteren bürgerlich-konservativ-revolutionären des Naturrechts, der Humanität und des Fortschritts mit bewunderungswürdiger Präzision aufzuzeigen. Sie hält sich nicht im analytisch Kontemplativen, sie wird von einem gewissen Punkt an zur pädagogischen Forderung. Mit überzeugender Wärme propagiert sie das historische Erfordernis einer Wiederannäherung des deutschen Gedankens an den mit bestimmten religiösen und ideologischen Elementen unseres Kulturkreises unlöslich verbundenen westeuropäischen". Mit einem Anflug selbstkritischer Ironie fügte der Verfasser der „Betrachtungen eines Unpolitischen" hinzu: „Was [... ] hier von einem gelehrten Denker mit stärkender Bestimmtheit ausgesprochen wurde, das war, gefühlsweise, als dunkle Gewissensregung, seit Jahr und Tag in manchem Deutschen lebendig gewesen - in solchen vielleicht sogar, die im Zauberberge des romantischen Ästhetizismus recht lange und gründlich geweilt - und hatte zu Bekenntnissen geführt, die von einer Zukunftslosigkeit, die sich treu dünkt, als Zeugnis des Überläufertums und der Gesinnungslumperei übel begrüßt worden waren". Immerhin konnte sich Mann 1923 auf diesen Gedanken einer universellen Humanität einlassen, auch wenn es bei ihm noch immer die Reminiszenz an die deutsch-bürgerliche Abwehrhaltung gegenüber dieser westeuropäischen Geschichtsdeutung gab: „Zur Ideen- und Idealwelt der naturrechtlich bestimmten europäischen Humanität gehört der Gedanke der Menschheitsorganisation, ein Gedanke, geboren ganz aus jener schon stoisch-mittelalterlichen Verbindung von Recht, Moral und Wohlfahrt, die wir als utilitaristische Aufklärung so tief - und mit ursprünglich zweifellos großem revolutionären Recht so tief - zu verachten gelernt haben, ein Gedanke, kompromittiert und mißbraucht in aller Erfahrung, verhöhnt und vorgeschützt von den Machthabern der Wirklichkeit und ein Gedanke dennoch, der einen unverlierbaren Kern regulativer Wahrheit, praktischer Vernunftordnung birgt und dessen grundsätzlicher Verleugnung kein Volk - und sei es aus den anfänglich geistigsten Gründen - sich schuldig machen kann, ohne an seinem Menschentum nicht nur gesellschaftlich, sondern tief innerlichen Schaden zu nehmen". 5 7
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Thomas Mann:,Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik', in: Frankfurter Zeitung, 25. Dezember 1923, wieder in: ders.: Werke (wie Anm. 1), Band 12, S. 627-629.
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Der konkrete Kommunikationsraum der Ceschichtspolitik und die Hypotheken des liberalen Politikverständnisses Die entscheidende Frage war jenseits der inhaltlichen Prämissen und Leitkategorien von Troeltschs Geschichtspolitik eine andere. Sie berührte die konkrete Vermittlung und Kommunikation dieser Deutungsmuster. Hinsichtlich der institutionalisierten Vermittlung spielten für Troeltsch drei Aspekte eine wichtige Rolle. Entscheidend war zunächst der neue Faktor der Öffentlichkeit und öffentlichen Meinungsbildung, auf den Deutschland 1918 denkbar schlecht vorbereitet war. Das eben war, wie Troeltsch in einem Vortrag vor englischen Besuchern 1922 eingestand, eine der schwersten Hypotheken des untergegangenen monarchischen Nationalstaates, der in seinem Nebeneinander von bürgerlicher Selbstorganisation, politisch-parlamentarischer Diskurskultur und militärischfeudalen Machtresiduen eben doch keine Zivilgesellschaft geworden war. Zumal in den Kriegsregierungen und der Machtposition der militärischen Führung im Weltkrieg hatte sich das gezeigt: „But we had a Government of officials and military, which had many advantages, but prepared in no way beforehand for a transition into a democratic system differing from itself, and which, for this reason, made no attempt to form a public opinion". 5 8 Troeltsch setzte zudem auf Schule, Universitäten und die Kulturpolitik als Foren und Katalysatoren für die Umsetzung seiner Geschichtspolitik. Dabei kamen für ihn selbst die Rollen des kritischen Intellektuellen mit publizistischer Deutungsmacht, die des gewählten Abgeordneten und des Ministerialbeamten zusammen. Diese Kumulation hatte sehr viel mit dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden liberalen Politikverständnis zu tun, aber sie bedeutete angesichts der konkreten „Sachlage" nach 1918 immer mehr eine ungeheure persönliche Belastung. Diesem Politikideal entsprachen auch die von Troeltsch bevorzugten politischen Foren, nämlich persönliche Netzwerke, kooptative Zirkel und bürgerliche Sammlungsbewegungen, die parteiübergreifend die gemäßigten Reformkräfte der Gesellschaft binden sollten. Hier werden die Grenzen des geschichtspolitischen Programms deutlich, die auf Diskrepanzen und
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Ernst Troeltsch: Public Opinion in Germany: Before, During, and After t h e War (Mai 1923), in: KGA 15, S. 5 1 3 - 5 3 5 , hier S. 5 2 5 ; vgl. Gangolf Hübinger: Einleitung (wie Anm. 3), S. 21.
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Ungleichzeitigkeiten
zwischen Troeltschs Positionsbestimmungen
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Strategien sowie den strukturellen Politikdeterminanten verweisen: (1) Die deutsche Nachkriegsgesellschaft war eine zutiefst fragmentierte Öffentlichkeit, deren Kriegsdeutungen nicht auf eine Überwindung der „Ideen von 1 9 1 4 " im Geist einer europäischen Kultursynthese hinausliefen, sondern auf die Übernahme der externen Feindbildprinzipien in die innergesellschaftliche Diskussion der jungen Republik. Das Ergebnis war eine zerstörerische Dynamik von ideologischen Polarisierungen, die im Sinne sich gegenseitig ausschließender Weltanschauungen jede Hoffnung auf eine integrative sozialmoralische Konsensbildung zunichte machten. Die ideologische Aufladung der 1 9 1 8 so bitter enttäuschten Kriegserwartungen, zu denen gerade auch die „Ideen von 1 9 1 4 " beigetragen hatten, setzte sich n a c h 1918 fort, jetzt aber nicht mehr gegen den externen Gegner gerichtet, sondern gegen den innergesellschaftlichen Feind, sei es im Zeichen des von rechts wahrgenommenen „Dolchstoßes" oder des von links erkannten Verrats an den Prinzipien und Chancen einer deutschen Oktoberrevolution. Der verhaßte Versailler Frieden bedeutete insofern die Fortsetzung des Krieges mit den Mitteln der politischen Kultur. Der zum „Volkskrieg" ideologisierte Konflikt von 1914 setzte sich im permanenten Bürgerkriegsparadigma nach 1 9 1 8 und der Vergiftung des innergesellschaftlichen Kommunikationsklimas fort. Das aber reduzierte den diskursiven Raum und band die argumentativen Energien, die Troeltschs Geschichtspolitik gebraucht hätte, um zu einem echten Stabilisierungsfaktor zu werden. (2) Troeltschs geschichtspolitischer Entwurf knüpfte, durchaus selbstkritisch im Ton wie Meineckes „Deutsche Katastrophe" von 1945, an einen universellen Deutungsanspruch des Liberalismus an, der 1 9 1 8 längst verlorengegangen war. 59 Nicht zufällig erinnern die Prämissen seiner europäischen Kultursynthese an den Enthusiasmus, mit dem deutsche Liberale im frühen 19. Jahrhundert im Rekurs auf Aufklärung und Rationalität den Fortschritt und die Zukunft der Geschichte für sich reklamiert hatten, und zwar auch noch dann in universalistischer und integrativer Absicht, als die konkurrierenden Deutungsentwürfe von links und rechts längst erfolgreich ihre eigenen politisch-soziokulturellen Milieus gebildet hatten. 1 9 1 8 setzte sich bei Troeltsch eine charakteristische Gleichzeitigkeit historisch un-
59
Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946.
Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden"
gleichzeitiger Erfahrungssedimente des deutschen Liberalismus fort, nämlich der langfristige Verlust der Deutungshoheit bei gleichzeitig weiterhin vorhandenem Anspruch auf umfassende Deutungskompetenz. Dieser spezifische Anspruch ging stets über das rein Politische hinaus, er war als ethische Gesinnungslehre und Individualisierungsstrategie konnotiert, und er rekurrierte auf nationalmoralische und soziokulturelle Wertressourcen, für deren Definition in erster Linie die Gelehrtenpolitiker als Avantgarde des akademischen Bildungsbürgertums prädestiniert schienen. 60 (3) Damit hing ein fortdauerndes, aus dem 19. Jahrhundert stammendes Dilemma des liberalen Politikbegriffs zusammen, das auch bei Troeltsch sichtbar wurde: Dem universellen Fortschrittsattentismus aus dem Geist der Aufklärung korrespondierte der Aufruf zu organisatorischer Geschlossenheit, ideologischer Stringenz und Kohärenz, wo es gleichzeitig zur parteipolitischen Zerfaserung der bürgerlichen Mittelparteien kam. 61 Diese schleichende Fragmentierung des parteipolitischen Liberalismus setzte sich 1918 und weit darüber hinaus fort und erschwerte die identifikatorische Anbindung der bürgerlichen Mitte an die junge Republik. Inhaltlich enthielt Troeltschs Geschichtspolitik, so konsequent sie sich von den „Ideen von 1914" distanzierte, Elemente einer individualistischen Gesinnungsethik, also eines Kernstücks des liberalen Politikverständnisses aus dem 19. Jahrhundert. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Aufgeschlossenheit Troeltschs gegenüber einer plebiszitären Führerdemokratie Weberscher Prägung, denn in ihr schien dieser Gesinnungsraum des Individuums am ehesten gegen eine nivellierende, bloß interessengeleitete Parteienherrschaft gesichert. Gemäß dieser Gesinnungsethik als Erbe des liberalen Selbstverständnisses ergaben sich politische Inhalte und Werte nicht zuletzt aus der Anschauung und Aneignung von geistesgeschichtlichen Bildungsgütern. Bildung und Gesinnung ließen sich aber nicht parteipolitisch oder interessenspezifisch organisieren, sie blieben Erfahrungskategorien des Individuums in seinen persönlichen und unmittelbaren sozialen Bezügen. Das brachte einen weltanschaulich mit enormen Erwartungen aufgeladenen Politikbegriff hervor, der sich aber weitaus schwieriger kommunizieren ließ als die konkurrierenden Deutungsentwürfe der Linken und Rechten. Genau das aber zeigte der
60 61
Vgl. Jörn Leonhard: Liberalismus - Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, S. 548-552. Vgl. ebd., S. 501, S. 549 u n d S. 552.
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Jörn Leonhard
Mobilisierungserfolg des linkssozialistischen und kommunistischen Paradigmas des Revolutionsverrats genauso wie die Dolchstoßlegende und, gleichsam auf der Ebene einer negativen europäischen Kultursynthese, der Deutungserfolg der Verfallsideologie in Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes". 6 2 (4) Auch die Diskrepanz zwischen der Realität der ideologischen Interessenorganisation auf dem politischen Massenmarkt polarisierter Werthaltungen und Weltanschauungen nach 1 9 1 8 und dem überkommenen liberalen Politikstil gehörte zum Erbe des 19. Jahrhunderts. Sedimente dieses Politikstils fanden sich auch bei Troeltsch, der immer wieder auf ein persönliches Honoratioren- und Gesinnungsideal setzte, das sich eher in kooptativen Zirkeln und bildungsbürgerlichen Vereinen als in parteipolitischen Organisationen widerspiegelte. Damit aber blieb die Kategorie der kommunikativ erreichbaren bürgerlichen Öffentlichkeit eine durch den tradierten Politikbegriff und Politikstil höchst begrenzte Ressource für die Umsetzung seines geschichtspolitischen Programms. Es war vor diesem Hintergrund kein Zufall, daß Troeltsch der dichotomischen Semantik der „Ideen von 1 9 1 4 " , die so ganz Carl Schmitts Definition vom Freund-Feind-Schema als Essenz des Politischen zu entsprechen schien, 6 3 nach 1 9 1 8 mit den Begriffen der geistesgeschichtlichen „Synthese" und der politischen „Sammlung" begegnete. 6 4 Dieses Arsenal des bürgerlichen Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert spiegelte auch noch etwas von der Hoffnung auf eine konsensstiftende Einheit jenseits ideologischer Interessenkonflikte wider, gleichsam ein letztes Aufscheinen der alteuropäischen societas civilis sive res publica im Gewand eines kulturgeschichtlichen Ethos. 6 5 Das war nicht nur ein ideengeschichtlicher Entwurf, nicht nur eine Geschichtspolitik, ein politisches Dilemma und eine historische Ungleichzeitigkeit - es beschrieb auch eine tragische Seite des Versuchs, der ersten deutschen Demokratie eine stabilere Basis zu geben.
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Vgl. Gangolf Hübinger: Einleitung (wie Anm. 3), S. 3 2 f.
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Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (1927), Hamburg 1 9 3 3 ; sowie Wilfried Nippel: „Krieg als Erscheinungsform der Feindschaft", in: Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, hrsg. v o n Reinhard Mehring, Berlin 2 0 0 3 , S. 6 1 - 7 0 .
64
Vgl. Gangolf Hübinger: Einleitung (wie Anm. 3), S. 31 f.
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Vgl. J ö r n Leonhard: Liberalismus (wie Anm. 60), S. 5 0 1 und S. 5 4 6 .
FRIEDRICH WILHELM GRAF Philosophisch reflektierte Kriegserfahrung. Einige Überlegungen zu Ernst Troeltschs „Kaisergeburtstagsrede" Für Dieter Langewiesche
Akademische Geburtstagsfeiern sind historisierungsfähige kulturelle Ereignisse. Sie haben eine lange Tradition. Denn die Bürger und später auch Bürgerinnen der universitas litterarum feierten seit der Gründung von höheren gelehrten Anstalten nicht nur die Festtage bedeutender, herausragender Gelehrter. Zur korporativen Kultur der meisten europäischen Hochschulen gehörte es gleichermaßen, die Geburtstage des Landesherrn festlich zu begehen, sah man in ihm doch den wichtigsten Garanten einer relativen institutionellen Selbständigkeit der Universität. In diese alterwürdige Kontinuitätskette ordnet sich auch die Kaisergeburtstagsfeier der Berliner Universität am 27. Januar 1916 ein. Im Gegensatz zu ihren vielen Vorgängerinnen, die mit dem letzten „Hoch!" auf das gekrönte Geburtstagskind bereits in wohltätige Vergessenheit zu versinken begannen, war der kollektiven Huldigung an den Hohenzollernherrscher im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs ein klassikergleiches ideengeschichtliches Nachleben beschieden. Daß sie bis heute als intellektuelles Ereignis jenseits akademischer Festroutine wahrgenommen wird, verdankt sich einer spezifischen Konstellation, die es im folgenden geistesarchäologisch zu vergegenwärtigen gilt. Nach einigen Bemerkungen zur Festliturgie dieser universitären Feierstunden werde ich kurz den gelehrten Hauptdarsteller der Geburtstagszeremonie Unter den Linden, den protestantischen Theologen und Kulturphilosophen Ernst Troeltsch, vorstellen, bevor dann drittens seine Festrede „Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge" ins Reflexionszentrum rückt. Diese in zwei unterschiedlichen Fassungen überlieferte Rede 1 fand
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Vgl. Ernst Troeltsch: Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge. Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin a m 2 7 . Januar 1 9 1 6 , Berlin 1 9 1 6 , unter dem Titel „Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge. Rede zur Kaisersgeburtstagsfeier der Berliner Universität" auch in: Historische Zeitschrift 1 1 6 (1916), S. 1 - 4 7 ; im folgenden wird im Text fortlaufend n a c h der letzteren Ausgabe zitiert.
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erheblich überarbeitet Eingang in Troeltschs spätes geschichtstheoretisches Hauptwerk „Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie", das im Oktober und Dezember 1 9 2 2 in Tübingen bei J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) erschien. 2 Dieser „Historismus"Band blieb Fragment, weil Troeltsch das angekündigte „Zweite Buch" zur „materialen Geschichtsphilosophie" nicht mehr schreiben konnte. Nach kurzer Krankheit starb er in den Morgenstunden des 1. Februar 1923. U m Troeltschs „Historismus"-Projekt soll es im abschließenden vierten Teil dieser Überlegungen gehen.
1. Dem Kaiser im Kriege akademisch huldigen, oder: die situationsspezifische Arbeit am geschichtsphilosophischen Begriff Historiker brauchen Quellen. Zur Kaisergeburtstagsfeier der Berliner Universität liegen Berichte in der Berliner Tagespresse vor 3 und ein Photo der festlichen Versammlung mit Ernst Troeltsch am Rednerpult 4 . Versuchen wir - im Sinne des „pictorial turn" - kurz dieses Bild zu lesen. Die Kaisergeburtstagsfeier fand in der Neuen Aula der Berliner Universität statt. Diesen Saal beherrschte ein monumentales Gemälde des 1864 geborenen Malers und Graphikers Arthur Kampf, der 1899 an die Berliner Akademie der Künste berufen worden war und ihr mehrfach als Präsident vorstand, bis er 1915 als Nachfolger Anton von Werners das Amt des Direktors der Berliner „Hochschule für die bildenden Künste" übernahm. Sein 1 9 1 3 / 1 9 1 4 entstandenes Historiengemälde für die Neue Aula trug den Titel „Fichte als Redner an die deutsche Nation". Es zeigt einen großen, hocherhabenen Fichte vor dem Hintergrund des Brandenburger Tores, der auf einem Podest wie ein antiker Rhetor die u m ihn Versammelten anspricht. Es sind Männer und Frauen, Jung und Alt, Studierende und Gelehrte, Deut-
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Erscheint kritisch ediert 2 0 0 6 im Verlag Walter de Gruyter als Band 16 der „Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe", hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger.
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Zur Beurteilung historischer Dinge. Aus der Kaiser-Geburtstagsrede von E m s t Troeltsch, in: Vossische Zeitung, 2 7 . 1 . 1 9 1 6 , Nr. 49, Abendausgabe; Die Feier der Universität, in: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung, 2 7 . 1 9 1 6 , Nr. 48, Abendausgabe; Professor D. Dr. Ernst Troeltsch über die Beurteilung historischer Dinge, in: ebd.
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Publiziert in: Bilder v o m Tage. Beilage der Berliner Abend-Zeitung, 3 0 . 1 . 1 9 1 6 , Nr. 2 5 .
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sehe aller Stämme und sozialen Gruppen, die hier zur „deutschen Nation" idealisiert werden. Zur Feier des 57. Geburtstages des Kaisers war die Neue Aula festlich geschmückt. „Unterhalb des Kampfschen Kolossalgemäldes prangte das Universitätsbanner, flankiert von den Standarten der vier Fakultäten." Die „von einem prachtvollen Blumenschmuck" umrahmte Büste des Kaisers stand im Zentrum der Inszenierung des Raumes. Anwesend waren neben vielen Studierenden der preußische „Kultusminister Trott zu Solz [...] mit seinen Direktoren und Räten", sein Vorgänger Konrad von Studt sowie zahlreiche höhere Beamte aus anderen Ministerien. „Punkt 12 Uhr erschienen in ihren schwarzen und roten Talaren der Rector magnificus und die Dekane aller Fakultäten sowie der gesamte Lehrkörper der Universität." D a n n gab es zunächst Musik: Max Bruchs „Präludium für Blasinstrumente" sorgte für heroisch getönte Feststimmung und zeitgemäß gebrochenen Fanfarenglanz, Geheimrat Professor Dr. Max Friedländer, seit 1903 außerordentlicher Professor und akademischer Musikdirektor der Berliner Universität, dirigierte die Kapelle des Königlichen Opernhauses. Anschließend setzte der Akademische Gesangverein mit „Herr, der König freuet sich in deiner Kraft" „meistervoll ein". Danach trat Ernst Troeltsch an das Rednerpult und dürfte mindestens 75 Minuten gesprochen haben, bevor „die erhebende Feier" mit dem „Wach auf!"-Chor aus Richard Wagners „Meistersingern" schloß. „Der Verlauf der Feier war der bekannte schlichte, aber eindrucksvolle", berichtete die „Kreuzzeitung", wenngleich Troeltschs „sehr eingehende und sehr fesselnde Rede [...] an die Hörer keine geringen Anforderungen stellte" 5 - und m a n c h einer im Auditorium die gelehrten Betrachtungen „famos verschlafen" hatte. 6 Halten wir, bevor wir zum Redner und seiner anspruchsvollen Rede kommen, kurz inne: Das Rednerpult stand zwischen Kolossalgemälde und Kaiserbüste, der Redner sprach als Repräsentant seiner Universität nicht nur vor einem akademischen Publikum, sondern auch vor h o h e n Vertretern des Staates und der politischen Öffentlichkeit, und seine Rede war umrahmt von zwei Festgesängen. Zu hören war zunächst Psalm 21, in dem König David das Lob Gottes mit der martialischen Drohung der Vernich-
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Die Feier der Universität (wie Anm. 2). So erinnert sich jedenfalls Theodor Wenzel, damals Theologiestudent in Berlin, zitiert n a c h Hans von Arnim: Theodor Wenzel. Ein Leben christlicher Liebe in der Wende unserer Zeit, Berlin 1 9 6 0 , S. 16.
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tung von Feinden verknüpft. „Denn der König hofft auf den HERRN und wird durch die Güte des HERRN fest bleiben", heißt es in der Übersetzung Martin Luthers im 7. Vers. „Deine Hand wird finden alle deine Feinde; deine Rechte wird finden, die dich hassen. Du wirst sie machen wie ein Feuerofen, wenn du dreinsehen wirst; der HERR wird sie verschlingen in seinem Zorn; Feuer wird sie fressen. Ihre Frucht wirst du umbringen vom Erdboden und ihren Samen von den Menschenkindern. Denn sie gedachten dir Übles zu tun und machten Anschläge, die sie nicht konnten ausführen. Denn du wirst machen, daß sie den Rücken kehren; mit deiner Sehne wirst du gegen ihr Antlitz zielen. HERR, erhebe dich in deiner Kraft, so wollen wir singen und loben deine Macht" (Verse 8 bis 13). Nach Troeltschs Festrede sangen die Meister aus Nürnberg „Wacht auf, es nahet gen den Tag, [...] die Nacht neigt sich zum Occident, der Tag geht auf von Orient, die rotbrünstige Morgenrot' her durch die trüben Wolken geht". Dies ist die Bearbeitung eines „Tageliedes" von Hans Sachs, mit dem der begeisterte Anhänger der Reformation nach der langen dunkel bewölkten Nacht des mittelalterlichen Katholizismus den Aufgang der Sonne des lichten Evangeliums feierte. Troeltschs Rede wurde also umrahmt von einem alttestamentlichen Kriegspsalm und Richard Wagners musikalischem Lobpreis protestantischer Kulturhegemonie über die deutsche Nation. Im zweiten Kriegsjahr konnte der Redner gar nicht anders, als den Krieg zu thematisieren, die rhetorische Situation zwang ihn zur Stellungnahme. Doch eben dieser Zwang konnte die Reflexionskraft durchaus auch stimulieren und wirkungsvoll schärfen. Beachtung verdient die Wahl des Themas. Bei der Kaisergeburtstagsfeier 1915 hatte der Ordinarius für bürgerliches und römisches Recht Emil Seckel über „Krieg und Recht in R o m " gesprochen, und 1917 hielt der kurz zuvor mit einem Nobelpreis geehrte Anatom Wilhelm von Waldeyer-Hartz eine Festrede über „Die Sorge für die Verwundeten und Kranken im Felde einst und jetzt". Troeltsch dagegen, der sein Talent als patriotischer Meisterredner bereits am 2. August 1914 in der Heidelberger Stadthalle eindrucksvoll bewiesen hatte, 7 entzog sich solch vordergründigen Kriegsbezügen: Sein
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Ernst Troeltsch: Nach Erklärung der Mobilmachung. Rede gehalten bei der von Stadt und Universität einberufenen vaterländischen Versammlung am 2. August 1914, Heidelberg 1914; zur starken Wirkung von „Troeltsch' erschütternder Ansprache" vgl. die Tagebuchnotizen Karl Hampes in: Karl Hampe: Kriegstagebuch 1914-1919, hrsg. von Folker Reichert, Eike Wolgast, München
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rhetorischer Einsatz galt nicht der beifallsgewissen „Selbstsakralisierung der Nation" (Dieter Langewiesche) oder gar der verführerisch hybriden EgoInszenierung als Fichte redivivus, sondern der erkenntnistheoretischen Reflexion auf die Frage, wie geschichtliches Erkennen und Urteilen möglich sei.
2. Die „Anarchie der Werte" meistern, oder: im modernen Pluralismus normative Verbindlichkeiten sichern Der von 1894 bis 1915 an der Heidelberger Universität Systematische Theologie lehrende Troeltsch konzipierte sein Fach als eine „historisch-ethische" Kulturwissenschaft des Christentums. Theologie soll die normative Geltung des Christlichen unter den Bedingungen der Moderne erweisen. Die wissenschaftliche Moderne sieht Troeltsch entscheidend durch zwei Denkrevolutionen bestimmt, die er mit der Aufklärung beginnen läßt: den modernen Naturalismus und den Historismus. Wie kann weiterhin der Geltungsanspruch des christlichen Glaubens begründet werden, wenn die radikale „Historisierung unseres ganzen Wissens u n d Empfindens der geistigen Welt" 8 auch alle überlieferten religiösen Gehalte verflüssigt? In religionshistorischen Perspektiven erweist sich das Christentum als eine je nach kulturellen Kontexten extrem wandlungsfähige, in sich plurale Religion neben anderen. Das Programm, eine überindividuelle Geltung des christlichen Glaubens im Horizont des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins, d. h. des naturwissenschaftlichen Naturalismus und des für alle Geisteswissenschaften grundlegenden Historismus, zu erweisen, zwang Troeltsch seit 1895 zur intensiven Auseinandersetzung mit dem großen „Methodenstreit" der Fachhistoriker und den neuen geschichtsphilosophischen Debatten, für die Namen wie Rudolf Eucken, Wilhelm
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2004, S. 97 f. (2.8.1914). Weitere Auftritte als Versammlungsredner folgten am 3.8. (Mannheim), 6.12. (Karlsruhe) und 13.3. (Heidelberg). Seinen für den 10.3.1915 geplanten Beitrag zur Kriegsvortragsreihe Heidelberger Hochschullehrer zog Troeltsch nach einem Konflikt mit dem Prorektor Eberhard Gothein zurück, vgl. auch dazu den Kommentar in Hampes Kriegstagebuch, ebd., S. 210(11.3.1915). Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus, in: Ernst Troeltsch: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Emst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 15), Berlin, New York 2002, S. 437.
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Windelband, Heinrich Rickert, Georg Simmel und Max Weber stehen. Kein anderer Nicht-Historiker schrieb zwischen 1900 und 1923 so häufig in der „Historischen Zeitschrift", damals noch unbestritten das publizistische Flaggschiff der deutschen Historiker, wie Ernst Troeltsch. 1908 und 1909 setzten ihn sowohl die Philosophische Fakultät als auch die Theologische Fakultät der Berliner Universität jeweils auf Platz 1 von Berufungslisten. Der Wechsel scheiterte am massiven Widerstand der kirchlich „Positiven", die dem „Liberalen" Troeltsch kein derart exponiertes Forum zugestehen wollten, und an der stabilen Abwehrfront konservativer Ordinarien. In Heidelberg erhielt Troeltsch daraufhin einen Lehrauftrag in der Philosophischen Fakultät, so daß er seit dem Wintersemester 1909/1910 das Profil beider Fakultäten aktiv ausgestalten konnte. Um 1910 war er der einflußreichste Geisteswissenschaftler der Heidelberger Universität: Er saß im Stadtrat, gehörte dem Landesvorstand der Nationalliberalen Partei an, war Mitglied der Landessynode und vertrat seine Universität von 1909 bis 1915 in der Ersten Badischen Kammer. Im Alter zwischen 40 und 50 Jahren spielte er souverän die Rolle eines wilhelminischen Gelehrtenpolitikers, der als Vortragsredner triumphale Erfolge feierte, mit drei Ehrenpromotionen viel symbolisches Kapital akademischer Anerkennung akkumulierte, durch ausländische Studierende und Schüler auch jenseits der deutschen Grenzen, vor allem in den USA, vielfältige Resonanz fand und in Paul Siebeck einen Verleger besaß, der ihn seit 1912 in „Gesammelten Schriften" ideenpolitisch geschickt vermarktete. Sein großer Einfluß im liberalen Intellektuellenmilieu konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Heidelberg - so Camilla Jellinek - eben nur ein „Weltdorf" war. Adolf Harnack betrieb deshalb weiter die Berufung Troeltschs nach Berlin, konnte aber 1914 in seiner Fakultät erneut keine Mehrheit für den Heidelberger Kollegen finden. Nach dem gespaltenen Votum der Berliner Theologischen Fakultät und wohl aufgrund von Interventionen Harnacks transferierte der preußische Kultusminister daher schließlich ohne Zustimmung der betroffenen Fakultäten den Lehrstuhl aus der Theologischen in die Philosophische Fakultät, die Troeltsch auch erwartungsgemäß primo loco nominierte. Der Umworbene nahm den Ruf auf einen eigens für ihn so definierten Lehrstuhl für „Religions-, Sozialund Geschichts-Philosophie und christliche Religionsgeschichte" zwar noch einen Monat vor Kriegsbeginn an, der Wechsel nach Berlin stand dann jedoch schon ganz im Zeichen des „Kulturkriegs", des „Kriegs der Geister", den die europäischen Gelehrten und Intellektuellen zur Rechtfer-
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tigung der Kriegsziele ihrer jeweiligen Nation gegeneinander führten. Mit einer programmatischen Vorlesung über „Ethik und Kulturphilosophie" eröffnete Troeltsch am 1. Mai 1915, im überfüllten Auditorium m a x i m u m und begleitet von erheblichem Medienecho, seine Berliner Lehrtätigkeit und sah rasch seine Hoffnung erfüllt, „das bewegtere Leben eines großen Staates" miterleben, mitgestalten zu können. 9 So war der Übergang nach Berlin mit einem Rollenwechsel verbunden: Neben dem vertrauten Charakterfach des „Mandarins" übernahm Troeltsch in der Reichshauptstadt nahezu o h n e Probenplan den Part eines „modernen Großstadtintellektuellen" (Gangolf Hübinger), der „Kritik als Beruf" lebte. Diese biographischen Kontexte wollen u m dreier Elemente willen bedacht sein: (a) Der Fakultätswechsel war keine Flucht eines „gescheiterten Theologen", sondern wurde Troeltsch durch die theologiepolitischen Parteienkämpfe in Preußen aufgezwungen; ihn lockte beim Übergang „aus dem Heidelberger kleinstaatlichen Idyll auf das Berliner Schlachtfeld" die „Vertretung meiner Ideen in dem Zentrum des deutschen Lebens vermöge einer mir eigens auf den Leib geschnittenen Professur". 1 0 (b) Schon der Heidelberger Theologe schrieb sich nicht nur in die vordersten Reihen der deutschen Historiker, sondern verknüpfte seine Studien zur Kulturgeschichte des Christentums von vornherein mit geschichtstheoretischen Reflexionen über den modernen Historismus und seine kritischen Folgeprobleme. (c) Die damit verbundene Suche nach Normativität war bereits für den Theologen Teil eines umfassenderen zeitdiagnostischen Deutungsversuchs im Medium der Theoriebildung: Die „Krise des Historismus" wurde für Troeltsch zum Inbegriff einer Krise der Moderne, die wegen der schnellen Durchsetzung kapitalistischer Zweckrationalität, bürokratischer Herrschaft und nationalistischer Gemeinschaftskulte zunehmend ihr i m Rationalismus der Aufklärung begründetes Ethos freier Persönlichkeit unterminierte. Alle drei Aspekte aber überwölbte das große geschichtstheoretische und wissenschaftspraktische Credo des die eigene Zeitgenossenschaft emphatisch akzeptierenden Gelehrten: Die Historie m u ß der Gegenwart dienen.
9
So Emst Troeltsch an Ludwig Elster, 4 . 7 . 1 9 1 4 , GStA PK Berlin, I. HA Rep. 76 V a, Sekt. 2 Tit. IV Nr. 61, Bd. 23, Bl. 2 4 9 .
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Ernst Troeltsch an den Prorektor der Universität Heidelberg [Eberhard Gothein], 4 . 7 . 1 9 1 4 , Universitätsarchiv Heidelberg, Personalakte Troeltsch, A-219.
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3. Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge, oder: in der gegenwärtigen Krisis des Krieges durch Geschichtsreflexion die Zukunft bedenken
Schon im ersten Satz der Rede kommt Troeltsch auf den Krieg zu sprechen: „Zum zweiten Male feiern wir den Geburtstag unseres kaiserlichen und königlichen Herrn im Kriege, inmitten der ungeheuren Sorgen und Hoffnungen, die das lange gefürchtete und heute jede Befürchtung übertreffende Schicksalsringen der Weltvölker über uns und alle europäische Kultur heraufgeführt hat." (S. 1) Der Redner erwähnt dann die „weitgespannten Fronten, wo unsere Söhne, Brüder, Väter und Freunde mit ihren Leibern den Feind zurückdrängen und soeben den einschließenden Ring glorreich im Osten gesprengt haben", sowie die Städte und Dörfer der Heimat, „wo ein angespannter Arbeitsfleiß und Opfersinn sich unserer Soldaten würdig zu machen strebt"; Front wie Heimat vereinigten sich heute zu „ehrfurchtsvollen Grüße[n] und Wünschefn] zu dem Manne, [...] der eine fast übermenschliche Verantwortung fast täglich auf sich liegen hat und dessen Entschluß- und Willenskraft in letzter Linie überall die Einheitlichkeit und Energie unseres Handelns verbürgt" (S. 1, so auch im folgenden). Troeltsch sieht im Monarchen den Repräsentanten und Garanten der Einheit der kämpfenden Nation. Danach benennt der Redner eine entscheidende Differenz zwischen Friedens- und Kriegszeiten: Jede Gegenwart sei von „Zukunftsluft" umweht. Aber derzeit, im Kriege, umwehe „ihn und uns", den Kaiser und sein Volk, „Zukunftsluft [...] mit der Sturmesgewalt welthistorischer Krisen, in denen Altes sichtbar zerbricht und Neues erschütternd sich ankündigt". Troeltsch deutet den Krieg als Krise par excellence, als extrem verdichtete, intensivierte Zeit, in der die überkommenen Ordnungen des Lebens sich zugunsten einer noch ungewissen, aber hereinbrechenden neuen Lebensgestalt auflösen. Der Kaiser trage seine Verantwortung „vor Gottes Angesicht mit der ganzen Seele und mit dem tiefsten Gewissensernst, und darum wissen wir, daß heute seine wie unsere Gedanken der Zukunft zugewendet sind und der Verantwortung, die das gegenwärtige Geschlecht für sie trägt" (S. 2, so auch im folgenden). An die religiöse Selbstlegitimation der Hohenzollern, ihr „Gottesgnadentum" knüpft Troeltsch gerade nicht im Sinne einer religiösen Überhöhung des Monarchen, sondern, funktional präzise, zur Betonung eines besonderen ethischen Mandates an: Sub specie Dei müsse der Kaiser der „Verantwortung" des „gegenwärtigen Geschlechts" für die „Zukunft" gerecht werden.
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Damit hat der Redner sein entscheidendes Thema benannt: die „Zukunft", d. h. die Zeit nach dem Krieg. Zugespitzt formuliert: Schon im vierten Satz seiner Rede klagt Troeltsch „Verantwortung" für die Gestaltung einer Nachkriegsordnung ein. Der zweite Absatz der Rede besteht aus einem einzigen, in der HZFassung 16 Druckzeilen umfassenden Satz. Erneut kann nur das Zitat die rhetorische Strategie sichtbar werden lassen: „Wenn wir heute in diesem engern Kreise der wissenschaftlichen Arbeit, soweit Jugend oder Alter die Arbeiter bei der gewohnten und gerade in ihrer ungebrochenen Sachlichkeit dem Vaterlande dienenden Tätigkeit zurückgehalten haben, auch unsererseits in tiefem Ernst und froher Dankbarkeit dem Kaiser und König unsere Huldigung darbringen, so führt dabei billig die Wissenschaft das Wort, die mit den Mitteln des Begriffes und des Zielgedankens die geschichtliche Welt zu durchdringen sucht, die an dem Grenzrain zwischen analysierender und darstellender Geschichtsforschung und konstruierender und idealbildender Philosophie ihren Ort hat, die man Geschichtsphilosophie, Kulturphilosophie oder Ethik nennen mag und die, seit Piaton in seiner Politeia die Grundzüge seiner Staats-, Gesellschafts- und Kulturlehre entworfen hat, ein wesenhafter Bestandteil aller Philosophie geworden ist." Lediglich fünf Sätze hat Troeltsch gebraucht, um von Krieg und Kaisers Geburtstag zu seinem Thema, der historischen Maßstabbildung, zu kommen. Erst in den letzten beiden Absätzen der Rede knüpft er wieder an den „gegenwärtigen Moment furchtbarster Krisis der europäischen Kultur" (S. 46) an. Dazwischen liegen sehr schwierige, bisweilen auch dunkle und aporetische geschichtstheoretische Reflexionen. In ihnen schmiegt er sich semantisch nur insoweit den besonderen Erfordernissen des Krieges an, als er von der „großen deutschen Nationalphilosophie Kants" (S. 7) spricht und Kant als „Meister des deutschen Denkens" (S. 13) bezeichnet - Formeln, die Troeltsch vor dem Kriege niemals gebrauchte. Ansonsten aber geht es ihm gerade darum, den Krieg philosophisch dadurch ernst zu nehmen, daß über ihn nicht vor der Lärmkulisse wohlfeiler Propagandaphrasen und nicht auf der brüchigen Basis kurzschlüssiger Aktualisierungskonstrukte nachgedacht wird. Troeltsch beginnt mit einem Rückblick auf antike Geschichtskonzepte und die christlich-katholische Geschichtsmetaphysik, um die Aufgaben und Verfahren einer spezifisch modernen Geschichtsphilosophie zu bestimmen. Sie könne „lediglich mit den Mitteln der Wissenschaft" arbeiten
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und müsse „darum, wo sie sich nicht in rationalistischen Täuschungen über die Leistungskraft der Wissenschaft verblendet, gerade den Sprung von der wissenschaftlichen Arbeit zur Erfassung und Gestaltung des augenblicklichen Lebens als ihr schwierigstes und vornehmstes Problem betrachten" (S. 3, so auch im folgenden). Reine Wissenschaft dämpfe und breche zwar den naiven Trieb des Lebens, vermittle aber „Orientierung in einer weiten Umwelt" und kräftige das Leben „aus dem Schwung der Idee". Zwei Ausgangspunkte habe solche Wissenschaft der Geschichte: die „moderne empirisch-historische Forschung" der Fachhistoriker und die „moderne Philosophie", die „die begrifflichen Mittel erwägt, mit Hilfe deren aus der geschichtlichen Erfahrung heraus der Entwicklungstrieb des großen historischen Lebensganzen erfaßt und zu einem Inbegriff verpflichtender Ziele und Normen ausgedeutet werden kann". Die spezialistische Forschung der Historiker sei mit professionsspezifischer Reflexion der Philosophen zu verbinden, um die „Frage nach Zwecken und Zielen der Zukunft" beantworten zu können. Troeltsch rekurriert dazu auf die klassische „deutsche Geschichtsphilosophie und Ethik" um 1800. Durch Verbindung von empirischer Geschichtsanschauung und philosophischer Reflexion habe sie „in der welthistorischen Krisis des Napoleonischen Zeitalters [...] das Wesen der Vergangenheit und die Aufgaben der Zukunft konstruiert und damit die Idee der nationalen europäischen Staaten auf der Grundlage einer humanitär-liberalen Weltkultur signalisiert". Dem folgt sogleich die Aktualisierung der philosophiehistorischen Erinnerung: „Heute befinden wir uns in einer ähnlichen Krisis, die ein Jahrhundert von Ideen und Kräften beendet und eine neue uns noch unbekannte Welt für das Abendland und vielleicht auch für den erst heute zusammengeschlossenen Planeten bedeutet. Noch mitten im Sturm der Ereignisse suchen wir uns wie damals ihre Bedeutung zu enträtseln und buchstabieren wir an dem Schicksal, das heraufsteigt." (S. 4, so auch im folgenden) Die „Katastrophe der Gegenwart" habe „der liberalhumanitär-rationalistischen Geschichtsphilosophie des Jahrhunderts in vieler Hinsicht ein Ende" bereitet, so daß neue Geschichtsphilosophie unumgänglich sei. Die Neubestimmung der „beiden Ausgangspunkte" geschichtlicher Selbstverständigung werde darüber hinaus durch „die Entwicklung des abendländischen Denkens selbst" geboten, habe man doch „wie in einer Art geheimnisvoller sympathetischer Ahnung großer historischer Ereignisse den abstrakten und seiner ewigen und allgemeinen Wahrheiten gewissen Rationalismus zurückgedämmt". Die prononcierte
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Verwendung des Abendland-Begriffs markiert eine Zäsur: Vor 1914 läßt er sich in Troeltschs Werk noch nicht nachweisen. Im Kriege dient er ihm nun dazu, deutlich zu machen, daß sich die Probleme von geschichtsphilosophischer Gegenwartsdeutung und Zukunftsgestaltung in einem gemeineuropäischen Rahmen stellen. Der Redner beginnt dann den „ersten Ausgangspunkt" festzulegen. Er beschreibt zunächst die Spannung zwischen dem mechanistischen Kausalitätsbegriff der modernen Naturwissenschaften und den „eigentümlichen Kausalitätsbegriffen der Einfühlung in Willensvorgänge und geistige Wechselwirkungen" (S. 5), die für historische Forschung grundlegend seien. Dabei diskutiert er auch „bedeutende Theorien französischer Denker", vor allem Henri Bergsons. In einer für die HZ-Publikation der Rede ergänzten Anmerkung betont Troeltsch, daß Bergsons „politische Reden bei der Würdigung seiner Theorien nicht in Betracht kommen" (S. 6) - dies verdient Beachtung, weil Bergson der erste französische Philosoph war, der im August 1914 mit hoher Aggressivität und feindseliger Feder den „deutschen Geist" attackierte. Gegen das Vorurteil, „daß nur die mechanistische Logik wissenschaftliche Vernunft sei" (S. 7), skizziert Troeltsch dann eine „Theorie der Geschichtslogik" als ,,individualwissenschaftliche[r] Logik", „welche das Einzelne in seiner konkreten Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Eigenheit erfaßt und es nach dem Prinzip der Individualkausalität, d. h. der spezifischen, nur nachfühlbaren Verursachung des Lebendigen durch seine Bedingungen und Voraussetzungen, genetisch verständlich macht" (S. 8). „Individuell" bedeutet dabei keinen „Gegensatz gegen Gesellschaft oder Typus" - Troeltsch fordert eine soziologisch informierte Historiographie! sondern meint die „Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Besonderheit der historischen Gegenstände" (S. 9, so auch im folgenden). Auch diese „individuellen Gegenstände" der historischen Reflexion entbehrten nicht eines „begrifflichen Charakters"; nur sei „der Allgemeinbegriff hierbei nicht der des Gesetzes im Verhältnis zum Einzelfall, sondern der der Lebenseinheit zu ihren Elementen, keine abstrakte Fassung immer gleicher Vorgänge, sondern die immer noch anschauliche Repräsentation unzähliger Einzelvorgänge in einem sie zusammenfassenden Ganzen". Als Beispiele für diese besondere Begriffsbildung der Historiker verweist Troeltsch auf Konzepte wie Antike, Renaissance, Katholizismus und Deutschtum oder auf „Wirkungszusammenhänge" wie das friderizianische Preußen oder die Reichsgründungskriege. In der Bildung solcher Begriffe oder besser: begrifflicher Repräsentationen und damit verbundener Gegenstandserfassung re-
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flektiere sich das je besondere Erkenntnisinteresse der Historiker: „Welcher Gegenstand von dem Forscher ergriffen wird, das hängt von seiner Wahl des ihn interessierenden Themas ab, womit er aus der unendlich flutenden Möglichkeit historischer Gegenstände einen herausnimmt, hier den Fluß sozusagen zum Stehen bringt und die diesen Gegenstand bedingenden Vorgänge genetisch untersucht. Wie ein Scheinwerfer leuchtet er den Strom der Überlieferung ab und erleuchtet dabei mit weiter oder enger gespanntem Lichtkegel die von ihm erfaßte Stelle." Je weiter, desto abstrakter die begrifflichen Repräsentationen, aber sie bleiben für Troeltsch immer „Individualbegriffe", auch die allgemeinen Begriffe vom „Gesamtwesen der Epoche", etwa der Moderne, die die neuere „Kulturgeschichte" (S. 10, so auch im folgenden) entworfen habe. Auch durch die „Einordnung typischer Entwicklungsverläufe, soziologischer Gesetze, allgemeiner Tendenzen in die individualwissenschaftliche Begriffsbildung" verliere der historische Begriff niemals seinen Charakter, individuelle Totalitäten' zu erfassen. Historisches „Denken" stellt damit den orientierungsbedürftigen, absolutheitshungrigen Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts „vor eine endlose Flut eigentümlicher, überall genetisch zu erklärender, überall nur von der Abstraktion aus dem Fluß herausgegriffener Relativitäten" (S. 11). Troeltsch spricht vom ,,wesensnotwendige[n] Relativismus des genetisch-historischen Denkens" (S. 12, so auch im folgenden). So scheint der perspektivische Charakter historischen Forschens in Fragen historischer Maßstabbildung nur „grenzenlose Skepsis" wie bei Ernest Renan, ,,ästhetisch-kontemplativ[e]" (S. 12) Innerlichkeit wie bei Jacob Burckhardt oder rein subjektive Maßstäbe wie etwa die Größe und Macht des nationalen Staates zu erlauben. Größe des Nationalstaates - für Troeltsch ist das, mitten im Kriege, nur ein willkürlicher Maßstab historischen Urteils; die meisten seiner im Publikum sitzenden Historikerkollegen dürften dies nicht gern gehört haben. Muß mit Blick auf den „Fluß herausgegriffener Relativitäten" (S. 11) der Gedanke „eines allgemeingültigen, absoluten Zieles der Geschichte" preisgegeben und darauf verzichtet werden, „eine historische Krisis in der Richtung auf solche Ziele hin zu lösen" (S. 12)? Die Frage führt zu einer „neuen Region des Gedankens, die dem empirischen Erforschen und Erklären als eine ganz andersartige gegenübersteht", zur „Region der normativen Ideen, der Idealbildung, die aus dem selbständigen Gefühl einer Verpflichtung unseres Daseins zur Verwirklichung an sich selber gültiger Werte hervorgeht
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und deren Anerkennung daher lediglich aus einer Anerkennung dieser Verpflichtung selbst begründet werden kann" (S. 13, so auch im folgenden). Eine solche Verpflichtung lasse sich entweder nur anerkennen oder verwerfen, wobei Troeltsch mit Kant auf die Pflicht setzt. Dann „entsteht die Frage, wie solche Idealbegriffe gewonnen werden können, wie sie zum empirisch geschichtlichen Leben sich verhalten und wie insbesondere ihre Allgemeingültigkeit zu der von der bisher geschilderten Geschichtslogik vertretenen Individualität jedes historischen Momentes in Übereinstimmung gesetzt werden könne". Habe ein Schleiermacher „noch die Individualität des Historischen und die Totalität der Vernunft" vermitteln können, so sei dies „nach einem Jahrhundert vertiefter historischer Forschung so nicht mehr möglich" (S. 14, so auch im folgenden). Auch Fichtes „Vermittlung [...], daß er das deutsche als das metaphysische Volk der Vernunft bezeichnete", bleibe „unvermittelt" mit seiner „Rede von der Fülle individueller Nationalgeister als dem Spiegel der Gottheit", sei also hinfällig. Dilthey habe schließlich „vor der Individualität des Historischen kapituliert und in einer bemerkenswerten Ansprache bei seinem siebzigsten Geburtstag die ,Anarchie der Werte' als das unmittelbare Ergebnis der großen deutschen Historie und schließlich auch als das seiner eigenen Denkerarbeit bezeichnet". Troeltsch skizziert dann noch zahlreiche Versuche zur „Verbindung der konkreten Geschichte mit objektiven Ziel- und Beurteilungsidealen" (S. 15), beginnend mit Kant und den Marburger Neukantianern sowie Hegel und den vielen Hegelianern bis hin zu Rudolf Eucken und anderen zeitgenössischen Neoidealisten, allen voran Heinrich Rickert. Durchgängig beschreibt er die jeweiligen Aporien in der „Vereinigung individualwissenschaftlicher empirischer Forschung und rational-notwendiger, schlechthin allgemeingültiger Beurteilungsmaßstäbe" (S. 23). Zumeist werde die Geschichte zum bloßen „Illustrationsmaterial für ein rationales System der Werte" depotenziert, das sich der Philosoph aus der abendländischen Überlieferung zusammengestellt habe. Dennoch will Troeltsch am ,,Gedanke[n] geschichtsphilosophischer und ethischer Maßstäbe" festhalten, aufgrund der „ethischen Überzeugung, daß es eine mit dem moralischen Bewußtsein selbst gesetzte Pflicht sei, an Sinn und Ziel zu glauben" (S. 26). „Maßstäbe des Sollens" dürften nicht zu ,,Reflexe[n] des Tatsächlichen" (S. 27, so auch im folgenden) herabgesetzt werden - auch dies eine Formel, die den Anspruch markiert, sich historische Maßstäbe nicht von irgendeiner normativen Kraft des Faktischen, also des Krieges vorschreiben zu lassen. Geboten ist dann ein innovativer Begriff des „Maßstabes", der „dem in-
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dividuellen Charakter aller wirklichen Geschichtsbildungen" gerecht wird, also eine Historisierung oder Temporalisierung des Konzepts normativer Geltung, das nicht mehr als mit der,Vernunft überhaupt' identisch gedacht werden kann. „Spontaneität, Apriorität, Selbstgewißheit ohne Zeitlosigkeit, Allgemeingültigkeit und Absolutheit: das ist die allein mögliche Formel. Sie bedeutet [...], daß solche Maßstäbe aus jeder großen Gesamtsituation heraus neu gebildet [...] werden müssen". Maßstäbe seien nicht immer schon gegeben, sondern entstünden „durch eine kritische Auslese aus dem Kulturbesitze eines großen ganzen Wirkungszusammenhangs", in unserem Falle: aus neuer Aneignung der okzidentalen Kultur. „Eine allgemeine Erschütterung des Kultursystems durch innere Krisen oder [...] durch eine von innen her notwendig gewordene Selbstbesinnung" (S. 28, so auch im folgenden) provoziere den Zwang zu vertiefter Erinnerungsarbeit und Traditionsaneignung. Dabei werde „nicht nur eine neue Synthese des Vorhandenen" geschaffen, sondern „in der neuen Synthese selber" stecke „zugleich etwas bisher überhaupt nicht Vorhandengewesenes, das aus dem Alten hervorgeht und doch eine neue Lebenstiefe bedeutet". Troeltsch rekurriert für diese gegenwartsbezogene Synthese kultureller Normen auf eine „darin offenbare und zwingende momentane Vernunft" (S. 28 f.). Zwar ist Maßstabbildung historisch relativ, bezogen auf einen bestimmten geschichtlichen Krisenmoment, aber sie ist dennoch von „einem bloßen Subjektivismus" insoweit zu unterscheiden, als sie auf ,,tiefe[r] und lebendige[r] Einfühlung in das historische Ganze" (S. 29, so auch im folgenden) beruhe. Damit ist der „kulturphilosophische Ort der wissenschaftlichen Historie" bezeichnet: die Geschichtswissenschaft soll „die innere objektive Notwendigkeit" der gesollten neuen „Gestaltung des Lebens" sichern (S. 29). Troeltsch erkennt der Geschichtswissenschaft also eine kulturelle Orientierungsfunktion zu, gerade in Zeiten der Krise: Sie soll, geschichtsphilosophisch konzentriert, durch Reflexion der Vergangenheit der Gegenwart zu einer präziseren Anschauung ihrer selbst verhelfen und so die entscheidenden Kräfte und Ziele der Zukunftsgestaltung identifizieren helfen. Vorausgesetzt ist dabei, daß menschliches Handeln, politische Zukunftsgestaltung zwar geschichtlich gebunden ist, aber bestimmte gegebene geschichtliche Bindungen immer auch konstruktiv zu transzendieren vermag. In einem weiteren Argumentationsgang differenziert Troeltsch dann den Begriff der Maßstabbildung. Die in der Gegenwart als gleichsam selbstverständlich plausiblen Maßstäbe dürften nicht unmittelbar auf andere historische Epochen oder Zusammenhänge übertragen werden. Mit Blick auf die
Philosophisch reflektierte Kriegserfahrung
Individualität alles Historischen sei jede Epoche „an ihrem eigenen, wenn auch noch so komplizierten Wesen und Ideal" (S. 31, so auch im folgenden) zu messen. Erst durch kritischen Vergleich mit gegenwärtigen Maßstäben soll dann „die fremde Welt" auch einer „Beurteilung zweiten Grades" unterworfen werden. „Möglichst objektive Versenkung in das Fremde" führe zur „Relativierung des eigenen Standpunktes", zwinge aber auch dazu, wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen bzw. den Gedanken der Entwicklung zu konzipieren. Dann aber sei alle geschichtsphilosophische Maßstabbildung auf „einen an der Grenze aller Wissenschaft liegenden Gedanken", den theologischen Gedanken einer ,,innere[n] Bewegung des göttlichen Geistes im Endlichen" bezogen, weil nur im Rekurs auf einen „letzten göttlichen Grund" (S. 32) eine Einheit aller historischen Entwicklungsreihen gedacht werden könne. Denn „Einheit und Sinn des Ganzen" ließen sich nicht begrifflich rational konstruieren, sondern „nur ahnen und fühlen", so daß es ohne den Gottesgedanken „oder irgendein Analogon zu ihm keine Maßstabbildung" (S. 38, so auch im folgenden) gebe. Gerade wer der „Vielheit der Wirklichkeit und ihrer Bewegung" gerecht werden wolle, wer einen allemal abstrakten Monismus zugunsten eines realistischen Pluralismus verabschiedet habe, müsse den „Drang" bekämpfen, „irgendeine menschliche Wahrheit oder Idealbildung als absolut zu bezeichnen" und bedürfe zu genau dieser kritischen Wahrnehmung der konstitutiven Relativität aller menschlichen Maßstäbe des Bezugs „auf eine letzte Wahrheit und Einheit, die aber nur Gott selber weiß" (S. 39). Die Bildung „von Maßstäben zur Beurteilung" historischer Dinge ist für Troeltsch also bleibend prekär, weil der Historiker und auch der Geschichtsphilosoph weder ihren historisch partikularen Standort bzw. ihre spezifische Perspektive transzendieren noch für die gewählten Maßstäbe unbedingte rationale Evidenz beanspruchen können. Daraus folgt, daß die von okzidentalen Historikern und Geschichtsphilosophen formulierten Maßstäbe immer nur für ihre eigenen „Kulturkreisfe]" (S. 40) taugen, aber dem prinzipiell Anderen, etwa den Kulturen des Ostens, äußerlich bleiben. Auch befreit die Einsicht in die historische Perspektivität und Situativität der Maßstabbildung von den „Täuschungen des üblichen Fortschritts- und Entwicklungsbegriffes" (S. 41), der eine abstrakte Idee der Einheit aller geschichtlichen Prozesse impliziert. Troeltsch diskutiert sein Konzept der relativen Wahrheit gegenwartsbezogener historischer Maßstäbe dann mit Blick auf die Forschungspraxis der Historiker, etwa die Fragen des Vergleichs unterschiedlicher historischer Individualitäten, und „die drängenden Lebens-
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fragen unseres abendländischen Kulturkreises selbst", die, soTroeltsch, entscheidend „aus der Auflösung der christlich-kirchlichen Kultur seit dem 18. Jahrhundert" (S. 45) resultieren und insoweit spezifisch moderne „Lebensfragen" sind. „Ein Kulturkreis, der Antike, Christentum, Mittelalter und modernes Europa in sich schließt, braucht nicht so rasch zu kapitulieren, sondern bedarf nur des Glaubens an sich selbst [...]" (S. 45 f.), lautet der letzte Satz der explizit geschichtstheoretischen Passagen der Rede. Dann folgen zwei Absätze, in denen der Geschichtsphilosoph nun direkt den Weltkrieg thematisiert. Er vertritt hier eine steile These: In der soeben skizzierten geschichtstheoretischen „Denkweise" liege „die Möglichkeit einer Antwort" auf die „Fragen", die vom aktuellen „Moment furchtbarster Krisis der europäischen Kultur" (S. 46, so auch im folgenden) provoziert seien. Sein Konzept der historischen Individualität erlaube es, die geschichtliche Gegenwart zu begreifen. „Die gegenwärtige Krisis hat eine tiefere, innere Wesensverschiedenheit der europäischen Völker offenbart, als wir bisher bei unseren allzu stark vereinheitlichenden Begriffen von der abendländischen Welt angenommen hatten. Das entspricht nur der ganzen grundsätzlich individualwissenschaftlichen Denkweise der Historie und darf gerade von ihr aus nichts Überraschendes für uns haben." Die durch neue Synthese zu gewinnenden „Neugestaltungen der Zukunft" müßten deshalb „sehr stark unter diesem Sondercharakter stehen [...], so dringlich uns weltpolitisches Interesse wie religiöse und kulturelle Gemeinschaft auch immer an die Wiederverbindung der Völkergemeinschaft mahnen muß." Zur Gestaltung der ,,deutsche[n] Zukunft" empfiehlt Troeltsch deshalb intensivierte, vertiefte Versenkung in die deutsche Geschichte, um dann, im Zusammenspiel von Historie und Philosophie, den ,,neue[n] deutschefn] Staat auch als eine lebendige und zukunftskräftige geistige Einheit" gestalten zu können. Die empirische Historie könne gerade mit Blick auf die deutsche Geschichte „nur eine sehr bunte und widerspruchsvolle Wirklichkeit sehen", so daß es vor allem der Arbeit an der „Maßstabidee" bedürfe, „die aus der Versenkung in unsere geschichtliche Lebensfülle und unseren gegenwärtigen Stand heraus sich der idealbildenden Intuition ergibt und nur vom Willen bejaht werden kann" (S. 46). Dann folgt der wieder auf den Kaiser bezogene Schlußabsatz. Der Redner wechselt dabei den rhetorischen Gestus und benutzt nun dezidiert ein „Wir" - um für die versammelte Universität zu sprechen. Es sei „das Vorrecht der Herrscher, mehr als andere den Sprung vom Gedanken zur Tat
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zu tun" (S. 47, so auch im folgenden). Der Kaiser werde letztlich „über wesentliche Grundlagen unserer innenpolitischen und außenpolitischen Existenz entscheidende Entschlüsse zu fassen haben." Der Schlußsatz lautet: „In dem Gefühl, daß wir solchen Stunden entgegengehen, scharen wir uns heute noch fester um ihn als sonst, und mitfühlend mit der großen Verantwortung, mitzürnend auf den heute noch [...] fortdauernden Unterdrückungswillen unserer Gegner, mithoffend auf eine Zukunft neuen und edlen Friedens, mitvertrauend auf die göttliche Leitung unserer Geschicke, rufen wir ihm den Geburtstagsgruß zu: Gott segne und schütze Seine Majestät den Deutschen Kaiser und König von Preußen, Wilhelm II.!" 4. „Die europäische Kultursynthese", oder: geschichtsphilosophisch eine Friedensordnung fundieren
Die Kaisergeburtstagsrede fand erheblich überarbeitet Eingang in den „Historismus"-Band und bildet hier den Kern des II. Kapitels. Ein Blick auf die Bearbeitungsstufen des Textes zeigt - mit einem Begriff der neueren Cassirer-Forschung - eine „stetige Neuordnung", in der die Idee der Bestimmung deutscher Zukunft durch Selbstversenkung in die eigene Geschichte zunehmend hinter die Bestimmung einer „europäischen Humanität" zurücktritt, die zwar in den verschiedenen europäischen Nationalstaaten je besonders artikuliert und akzentuiert werden kann - die einen lesen primär Locke und Hume, die anderen Kant und Hegel -, aber diese nationalkulturellen Verschiedenheiten umgreift. „Der Historismus und seine Probleme" entstand im engen Zusammenhang mit Troeltschs Berliner Lehrtätigkeit. In den Berliner Seminaren wurden vor allem sukzessive die geschichtstheoretischen Diskurse der großen europäischen Nationen seit dem 18. Jahrhundert erschlossen. Mehrere Teilnehmer berichteten noch im Kontext später Lebensbilanzen, daß diese Seminare das wichtigste intellektuelle Erlebnis ihres Studiums gewesen seien, außerordentlich arbeitsintensiv, faszinierend dicht und geprägt von Troeltschs immer neuen Suchbewegungen, fern jeder Suggestion professoraler Orientierungssicherheit. Troeltsch reagierte auf den Krieg mit der Intensivierung seines Versuchs, Strukturen historischer Sinnbildung freizulegen. An diesen geistesarchäologischen Exerzitien nahmen auch viele später prominente Historiker und Historikerinnen teil, mehrere Semester lang zum Beispiel Hedwig Hintze, Dietrich Gerhard, Gerhard Masur und der junge Hans Baron, aber auch, weniger regelmäßig, Walter Benjamin,
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Ludwig Marcuse, Hans Zehrer, Gottfried Salomon-Delatour und Erich Auerbach, der dem faszinierenden Lehrer „die belebende Anregung" zur „Beschäftigung mit Vico" verdankte. 1 1 Blickt man auf diese Seminare und Troeltschs Berliner Vorlesungen, so ergibt sich ein Bild geschichtsphilosophischer Forschungspraxis, das von dem national bestimmten Rahmen der Kaisergeburtstagsrede gnifikant
abweicht. Die geschichtstheoretische
Erinnerungsarbeit,
sidie
Troeltsch mit seinen Studierenden leistete, war schon mitten im Krieg europäisch orientiert. Karl M a n n h e i m hat deshalb davon gesprochen, daß Troeltschs Versuch, „das Faktum der Geschichtlichkeit" normativen Denkens auch durch eine Historisierung der Historismus-Diskurse, durch Theoriegeschichte der Geschichtsphilosophie sichtbar zu machen, das „Globetrottertum des gegenwärtigen M e n s c h e n " spiegele, der sich „in der Durch Wanderung der Vergangenheit" eine kaum vorstellbare „Universalität im Wissen" erworben habe. 1 2 In der Tat: Neben den Meisterdenkern des deutschen Geschichtsdiskurses werden mehrere Semester lang auch französische Positivisten und Frühsozialisten sowie britische Aufklärer und Utilitaristen gelesen. Hinzu kommt eine intensive Auseinandersetzung mit der marxistischen
Geschichtsphilosophie,
über die Troeltsch
als
erster Berliner Hochschullehrer im Wintersemester 1 9 1 7 / 1 8 eine eigene Vorlesung anbot. Kein anderer dem Bildungsbürgertum entstammender Intellektueller versuchte marxistische Theorie damals ähnlich umfassend und differenziert, ihre Wahrheitselemente konstruktiv aufnehmend, zu rezipieren. Auch diese Offenheit spiegelt Troeltschs Interesse an „Maßstabbildung" für die Nachkriegszeit. Zukunft könne nur konstruktiv gestalten, wer den harten sozialen Realfaktoren gerecht werde. Zugleich reflektiert diese Marxismus-Rezeption die Einsicht, daß die Zukunftsfähigkeit der depressiv desorientierten deutschen Nachkriegsgesellschaft entscheidend von der inneren Versöhnung zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum abhängen werde. Man m u ß nur Georg von Belows gereizte Reaktion auf Troeltschs Vorarbeiten zum Historismus-Band lesen, um diesen politischen
11
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Erich Auerbach: Vorrede des Übersetzers, S. 39, in: Giambattista Vico: Die Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach, München 1924, S. 9 39. Karl Mannheim: Historismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 52 (1924), S. 1-60, hier S. 19.
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Zusammenhang zu sehen: Below kritisiert immer wieder, daß Troeltsch die deutsche Romantik unterschätze, den Marxismus dagegen überschätze und gar nicht sehe, daß die v o m positivistischen Gesetzesdenken verführten Historiker Englands und Frankreichs, eben „des Westens", zu wahrhaft historischem Denken überhaupt nicht imstande seien; weil er auf „die marxistische Ideologie" hereingefallen sei, könne Troeltsch das genuin deutsche,
allem
westlich-mechanischen
Positivismus
und
abstrakten
Rationalismus überlegene Geschichtsdenken immer nur falsch deuten und bewirke so - Below greift die Weltkriegsformel 1921 wieder auf - b l o ß die erneute, fatale „Demobilisierung der Geister". 1 3 Noch ein weiterer wichtiger Rezeptionszusammenhang sei kurz b e n a n n t : Ungleich intensiver als andere Intellektuelle seiner Generation las Troeltsch die Texte der Jüngeren, die dann, so seine berühmte Formel, während des Weltkrieges ihre antihistoristische „Revolution in der Wissenschaft" 1 4 zu inszenieren begannen. Die Bereitschaft, die expressionistischen Traktate und neoromantischen Sozialutopien der Jüngeren ernst zu n e h m e n , war Ausdruck der Sorge, daß die v o m Krieg traumatisierte Generation aus allen geschichtlichen Vermittlungszusammenhängen auszusteigen drohe und in ihrem Glauben, „zwischen den Zeiten" oder im „kairos" einer absoluten Tat zu leben, den Bezug auf Traditionen eines unfanatischen Christentums und der Aufklärung preisgebe. Antihistorismus war für Troeltsch ein S y n o n y m für neue Romantik, Gegenaufklärung, Rationalismuskritik und Selbstverabsolutierung des Menschen als eines starken Handlungssubjekts, das gleichsam jenseits aller bisherigen Geschichte auf einer tabula rasa neue Ordnungsmuster entwerfen könne: die Konturen der Barbarei. „Der Historismus und seine Probleme" läßt sich als
intellektuelle
Materialschlacht charakterisieren: Neben den Quellenschriften verarbeitet Troeltsch über tausend Monographien und Aufsätze. Troeltsch sei „insofern ein schwieriger Gegner", schreibt Martin Heidegger 1 9 2 1 an
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14
Vgl. Georg von Below: Zur Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft, II: Soziologie und Marxismus in ihrem Verhältnis zur deutschen Geschichtswissenschaft, in: Historische Blätter 1 (1921), S. 173-217, hier bes. S. 184. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft. Eine Besprechung von Erich von Kahlers Schrift gegen Max Weber: „Der Beruf der Wissenschaft" und der Gegenschrift von Artur Salz: „Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern", in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 45 (1921), S. 6 5 - 1 1 4 .
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Heinrich Rickert, „als man i h m auch in der konkreten Materialbeherrschung nicht nachstehen darf. Auf welche Schwierigkeiten man hierbei stößt, habe ich in dem letzten Jahr erfahren, trotzdem ich doch von m e i n e m Theologiestudium her viel und [...] eingehend kenne". 1 5 Dieser Habitus allumfassender Rezeption ist Ausdruck des Interesses, über die Wahrnehmung nationalkultureller Eigenheiten des
Geschichtsdenkens
hinaus eine europäische Kultursynthese gewinnen zu können. Wie immer m a n die argumentative Stringenz von Troeltschs „Kultursynthese des Europäismus" beurteilen mag, entscheidend ist die schon während des Krieges in akademischer Lehre und Forschung umgesetzte Intention, „historische Dinge" nicht mehr in einer rein nationalen oder nationalphilosophischen Perspektive, sondern europäisch zu „beurteilen". Durch kritische Revision überlieferter Geschichtsbilder und Neudeutung der Vergangenheit soll in schöpferischer Synthese ein gemeineuropäischer Bestand kultureller Normativität erschlossen werden, der sowohl einen Ausgleich zwischen den verfeindeten Nationen als auch innergesellschaftliche Konsensbildung ermöglicht. Es ist, sehe ich recht, die einzige Europakonzeption,
die
ein deutscher Intellektueller angesichts der Erfahrungen von Krieg und Revolution entwickelte, und es ist bei allen Schwächen ein Entwurf, in dem die aktuellen Theoriedebatten in den anderen europäischen Nationen bis in den Prozeß der Fahnenkorrektur hinein wahrgenommen wurden. Troeltsch konnte das Konzept der Kultursynthese nur noch in vagen Umrissen andeuten. Immerhin benennt er im Schlußteil des HistorismusBandes die geschichtlichen Grundkräfte für einen neuen „Aufbau der europäischen Kulturgeschichte": hebräischer Prophetismus (einschließlich des Auftretens Jesu von Nazareth), klassisches Griechentum,
antiker
Imperialismus und abendländisches Mittelalter. Zwar lasse sich weder die aktuelle moderne Gestalt n o c h die erhoffte Neugestaltung der europäischen Kultur von diesen vier „Grundgewalten" her zureichend bestimmen. Doch prägten sie trotz des epochalen Umbruchs der Aufklärung die europäische Moderne und seien für humane Zukunftsgestaltung unverzichtbar. Dieser Rekurs auf vormoderne Elemente ist nicht, etwa im Sinne von Otto Gerhard Oexles ideologiekritischer Analyse der Mittelalter-Beschwörung
15
Martin Heidegger an Heinrich Rickert, 1 5 . 3 . 1 9 2 1 , in: Martin Heidegger / Heinrich Rickert. Briefe 1 9 1 2 bis 1 9 3 3 und andere Dokumente, hrsg. von Alfred Denker, Frankfurt a. M. 2 0 0 2 , S. 52.
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vieler deutscher Intellektueller der zwanziger Jahre, 1 6 als Regression in irgendeine religiös integrierte Einheitskultur oder als antipluralistische Sehnsucht nach neuer bergender Gemeinschaft zu deuten. Marxistisch informiert und soziologisch gebildet insistierte Troeltsch darauf,
daß
„alle geistigen,
den
zivilisatorischen
und
kulturellen
Elemente"
auf
„sozialökonomisch-politisch-rechtlichen Unterbauten" aufruhten (GS III, S. 756). Schon deshalb hielt er Rückkehr oder Restauration für ideologische Illusion oder Realitätsverlust. Aber der aktiven Erinnerung an vormoderne Gewalten bedarf es, weil sich ein Europa jenseits des Nationalismus nur denken und gestalten läßt, wenn es auf Kulturpotenzen rekurrieren kann, die aller
nationalistischen
Selbstverabsolutierung
und
Konfrontation
vorausliegen. Zugespitzt formuliert: Wer im Medium einer teils geschichtswissenschaftlichen, teils geschichtsphilosophischen Reflexion normative Fundamente Europas erschließen will, ist neben der griechischen und römischen Antike als europäischem Gemeinbesitz unumgänglich auf den jüdischen Prophetismus und das christliche Mittelalter - das Christentum vor seiner konfessionellen Pluralisierung - verwiesen. Der Berliner Geschichtsphilosoph hielt konsequent an der Einsicht des Heidelberger Systematischen Theologen fest, daß unfanatische Religion ein notwendiges Element einer Kulturgestaltung bleibt, die der Freiheit des Individuums und der Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe gerecht zu werden vermag. In Troeltschs Nachkriegstopographie sind neben Athen und Rom auch Jerusalem und Golgatha zentrale Erinnerungsorte. „Das Verständnis der Gegenwart ist immer das letzte Ziel aller Historie", hat der Systematische Theologe Troeltsch 1 9 0 6 in Stuttgart den standesstolzen Historikern auf ihrer Verbandstagung mitgeteilt. 1 7 Das m u ß dann
16
17
Vgl. Otto Gerhard Oexle: Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach, in: Susanna Burghartz u. a. (Hg.): Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für Frantisek Graus, Sigmaringen 1992, S. 125-153; ders.: Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Peter Segl (Hg.): Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt, Sigmaringen 1997, S. 307-364, hier bes. S. 338-348. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: ders.: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913), hsrg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 8), Berlin, New York 2001, S. 199-316, hier S. 205.
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reflexiv gelten und im Sinne der Selbstanwendung gedacht werden. Karl Mannheim hat an Troeltschs Historismus-Konzept gelobt, worin Siegfried Kracauer gerade sein zentrales Defizit sah: den Rekurs auf eine postkritizistische Metaphysik, die ein Erkennenkönnen des historisch Vergangenen, Fremdseelischen durch eine immer schon gegebene, aber rational nicht rekonstruierbare Verbundenheit von Subjekt und Objekt denkbar werden lassen soll. 18 „Das Denken muß also in irgendeinem geheimen Bunde mit dem Realen stehen, mit ihm irgendwie durch einen gemeinsamen Grund beider verbunden sein, bei dem doch Irrtümer des Denkens und Sünden des Willens möglich bleiben", 1 9 heißt es an einer ziemlich dunklen Stelle im „Historismus"-Band. Man kann dies als schlechte Metaphysik verwerfen, aber auch als Hinweis auf ein Problem lesen, für das sich bis heute keine überzeugende Lösung hat finden lassen. Trotz aller Rationalität bleibt den Historikern und Geschichtsphilosophen nicht weniger als den Theologen Entscheidendes verschlossen: Letztlich wissen wir nicht genau zu sagen, wie sich uns Themen als relevant und interessant aufdrängen.
18
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Vgl. Karl Mannheim: Historismus (wie Anm. 12); Siegfried Kracauer: Die Wissenschaftskrisis. Zu den grundsätzlichen Schriften Max Webers und Ernst Troeltschs, in: ders.: Das Ornament der Masse, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1977, S. 1 9 7 - 2 0 8 (zuerst in: Frankfurter Zeitung, 22.3.1923). Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 3. Band), Tübingen 1922, S. 183.
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Erinnerungsarbeit durch Klassikeredition. Die Bedeutung akademischer Selbsthistorisierung für die Zukunft des Protestantismus CHRISTIAN ALBRECHT Am 23. Januar 1973 wurde auf einer Tagung des Wissenschaftlichen Rats im Institut für Marxismus und Leninismus beim ZK der KPdSU über den Probeband der neu konzipierten Marx-Engels-Gesamtausgabe beraten, den die Herausgeber im Juli 1972 an verschiedene wissenschaftliche Institutionen mit der Bitte um Stellungnahme versandt hatten. Während der Aussprache über die Editionsprobleme der Wiedergabe von Texten in der Originalsprache wurde einem der teilnehmenden KPdSU-Veteranen der Akademismus und Formalismus der Editoren zu bunt, und er machte seinem Ärger mit der Erklärung Luft, in der Großen Französischen Revolution hätte der Konvent jemanden, der so etwas ausgetüftelt hätte, ins Gefängnis gesperrt. 1 Die Episode illustriert ein editionsphilosophisches Grundproblem, nämlich die Spannung zwischen Forschung und Kult, zwischen Wissenschaft und Denkmalspflege, die naturgemäß jede wissenschaftliche Klassiker-Edition begleitet. Es ist die Spannung zwischen der Versuchung, unmittelbare Wertschöpfung durch Hagiographie betreiben zu wollen, und der Einsicht, daß eine philologische Edition nicht mehr und nicht weniger als die kritische Selbstreflexion auf die eigene Wertsetzungspraxis veranlassen soll. Meine These ist, daß es bei der wissenschaftlichen Edition von Klassikern des Protestantismus hier einen gewissen Vorsprung bewußter Selbstdistanz gibt gegenüber anderen Editionen weltanschaulicher Klassiker. Für den Protestantismus ist die Pflege seiner Klassiker ebenso unaufgebbar wie das distanzierte Verhältnis zu diesen Klassikern. Das hat ursächlich mit nichts Geringerem zu tun als mit einem „protestantischen Geist" oder einer „protestantischen Denkungsart", die dabei angesprochen werden müssen. Mehr als ein Hinweis kann hier gar nicht gegeben werden, insbesondere müssen alle Fragen der normativen Aufgela-
1
Berichtet bei Rolf Dlubek: Die Entstehung der zweiten Marx-EngelsGesamtausgabe im Spannungsfeld v o n legitimatorischem Auftrag u n d editorischer Sorgfalt, in: MEGA-Studien 1 9 9 4 / 1 , S. 6 0 - 1 0 6 , hier S. 8 9 f.
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denheit eines solchen Protestantismus-Begriffes im folgenden völlig außer acht bleiben. So umstritten es sein mag und sein muß, so etwas wie ein „protestantisches Denken" identifizieren zu wollen, so unumgänglich ist dies meines Erachtens aber doch, wenn man die Frage nach dem editionsphilosophischen Spezifikum protestantischer Klassiker-Editionen stellt. Ich setze also in meinem kurzen Gedankengang, ungeachtet aller Probleme, einmal voraus, daß der Protestantismus in seinem tiefsten Grunde nicht nur eine Konfession oder ein bestimmter Frömmigkeitstyp ist, sondern darin und darüber hinaus vor allem eine besondere Art des Denkens, eine besondere Weise der reflexiven Verarbeitung von lebensweltlicher Erfahrung. Es ist, neben vielem anderen, ein wesentliches Kennzeichen dieser Denkungsart, daß in ihr das Besondere sich nur im Zusammenhang des Allgemeinen erschließt. So wie die individuelle Frömmigkeit sich nur als eine bestimmte Ausprägung geschichtlich überlieferter und gegenwärtig verbreiteter Frömmigkeit verstehen und verantworten kann, so erschließt sich dem protestantischen Denken beispielsweise die individuelle Wertsetzungspraxis als das, was sie ist, nur auf dem Hintergrund überlieferter Wertsetzungspraxis und der differenzierten Weise der Anknüpfung an sie oder der Abwendung von ihr; oder: so gewinnen beispielsweise je gegenwärtige Problemstellungen ihre spezifische Kontur nur im Horizont der geschichtlichen Bedingungen und Voraussetzungen, die sie zu dem gemacht haben, was sie sind. Kurz gesagt, protestantisches Denken bedient sich zur profilierten Wahrnehmung und Gestaltung des Individuellen, des Gegenwärtigen, des Konkreten immer der Einzeichnung des Einzelnen in den größeren Zusammenhang, in den dieses Einzelne gehört oder zumindest gehören könnte. Diese Einzeichnungsvorgänge haben einen kontrastierenden, kritischen Sinn. Ihr Ziel ist nicht die umstandslose Aktualisierung des Überlieferten oder des Verbreiteten. So wenig wie meine Frömmigkeit einfach nur werden soll wie die überlieferte oder die allgemein verbreitete, so wenig sollen auch meine Wertsetzungspraxis oder meine Einschätzung gegenwärtiger Problemstellungen wie diejenige des 16. oder 19. Jahrhunderts werden. Um bei den Beispielen zu bleiben: Meine Wertsetzungspraxis oder meine Problemwahrnehmung gewinnen ihr spezifisches Profil, vor allem aber ihr spezifisches Selbstbewußtsein nur in der kritischen Inbezugsetzung zum Überlieferten und zum Verbreiteten. Die Konstruktion von Zusammenhängen, die dem protestantischen Denken zu eigen ist, zielt auf eine selbstkritische Relativierung des Individuellen ebenso wie sie eine kritische Distanzie-
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rung vom Überlieferten und allgemein Verbreiteten notwendig einschließt. Insofern läßt sich sagen: Die Erinnerungsarbeit des protestantischen Denkens will nicht einfach zurück zu den Positionen des 16. oder 19. Jahrhunderts. Aber wir müssen diese Positionen kennen, um zu wissen, was uns mit ihnen verbindet und worin wir uns von ihnen unterscheiden. Denn ohne sie zu kennen, werden wir uns selbst nie kennenlernen. Diese Hintergründe einer protestantischen Denkungsart haben eine Reihe von Konsequenzen, die sich auf den Umgang des Protestantismus mit seinen Klassikern auswirken. Hier kann nur auf weniges hingewiesen werden. 1. Der Protestantismus hat zunächst einmal ein ganz basales Bildungsinteresse daran, seine Klassiker präsent zu halten. Denn eine elementare Voraussetzung für die Fähigkeit, sich im protestantischen Denken zu bewegen, ist die Fähigkeit, ein fremdes Wertegefüge als sinnvoll nachzuvollziehen. Alle editionsphilologischen Anstrengungen stehen nicht zuletzt im Dienste dieses protestantischen Bildungsprogramms, und an diesen fundamentalen Grund kann gar nicht eindringlich genug erinnert werden. 2. Die Zusammenhänge, die das protestantische Denken herstellt, etwa durch die Bezugnahme auf klassische Denker, diese Zusammenhänge verstehen sich nicht von selbst. Es handelt sich um die Konstruktion von Zusammenhängen, die ihrerseits natürlich keine Objektivität beanspruchen kann, sondern deren Plausibilität sich danach bemißt, in welchem Maße sie überzeugend zur Verdeutlichung individueller und gegenwärtiger Situationen beizutragen vermag. Jeder Produzent wie auch jeder Rezipient solcher Konstruktionen ist dabei von verschiedenen und höchst individuellen Motiven, Interessen und Perspektiven geleitet. Das führt sinnvollerweise nämlich: zur Kontrolle und zur Austarierung - dazu, daß es im Protestantismus viele Zusammenhangskonstruktionen und eben auch viele Klassiker gibt. Man kann sogar sagen: Per se uninteressante Autoren gibt es nicht, weil es keine per se uninteressanten Orientierungsbedürfnisse in der Gegenwart und keine per se uninteressanten Versuche ihrer Selbsterklärung durch die Bezugnahme auf fremde Autoren gibt. 3. Daß sich dabei allerdings einige Autoren in besonderer Weise anbieten und einen Rang als Klassiker des Protestantismus einnehmen, das hat seinen Grund in ihrer vielfältigen Anschlußfähigkeit. Im Falle Troeltschs, um ihn hier zu nennen, liegt es meines Erachtens so, daß er sich als ein editionswürdiger Klassiker des Protestantismus angeboten hat und weiter bewähren wird, weil er selbst nicht nur ein Vertreter, sondern ein Theo-
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retiker des Protestantismus als Denkungsart ist. Wir sind keine Troeltschisten und können es niemals sein. Wir edieren auch keinen monolithischen Heiligen des Protestantismus, sondern einen exemplarischen Klassiker des protestantischen Denkens. Exemplarisch muß er deswegen genannt werden, weil er selbst gewußt und begründet hat, daß der Denkvorgang der historischen Orientierung weder I'art pour l'art noch unmittelbare Wegweisung für die Gegenwart bedeuten kann, sondern ein Akt der Selbstreflexion auf die Voraussetzungen und Interessen der eigenen Wertsetzungspraxis ist, mithin ein Akt der Distanznahme von Unmittelbarkeit in jeder Richtung. Es ist damit nicht gesagt, daß solche Distanzierungsvorgänge im Zusammenhang der Edition von anderen weltanschaulichen Klassikern nicht auch präsent und leitend sein können. Es ist damit nur die Vermutung begründet, daß solche Distanzierungsvorgänge im protestantischen Denken gut vorbereitet und lang eingespielt sind. Vom 23. bis zum 28. März 1992 fand in Aix-en-Provence eine Konferenz von Herausgebern, Redaktoren und Beratern der Marx-Engels-Gesamtausgabe statt, die die editionsphilosophischen und editionstechnischen Anpassungen der „konzeptionellen Grundlagen(n)" 2 der MEGA an die veränderten politisch-gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen seit 1989 (und übrigens auch an die vom Wissenschaftsrat 1991 aufgrund eines Gutachterausschusses unter der Leitung von Dieter Henrich empfohlene Übernahme der MEGA in das Programm der deutschen Akademien der Wissenschaften) beraten sollte. Die vorrangige Aufgabe bestand nach Auskunft des federführenden Organisators darin, nach Wegen zu suchen, die eingespielten Vermischungen von „historisch-kritische(r) Zielsetzung" und „politisch-ideologische(r) Regelung" zu vermeiden. 3 Als obsolet gelten jetzt alle Versuche einer „ursächlich vorhandene[n], inhaltlich bedingte[n] und auch gewollte[n] Verstrickung der Texte von Marx und Engels in aktuelle soziale und politische Kämpfe", 4 alle Versuche der „Legitimierung der aktuellen Politik einer
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Rolf Dlubek: Neue Grundlagen für die Weiterführung der MEGA, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 4 (1993), S. 9 9 - 1 1 0 , hier S. 99. Jacques Grandjonc: Die neuen Editionsrichtlinien der Marx-EngelsGesamtausgabe (MEGA). Vorbemerkung, in: MEGA-Studien 1994/1, S. 3 2 [59], hier S. 33. Martin Hundt: Gedanken zur bisherigen Geschichte der MEGA, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung NF 2 (1992), S. 56-66, hier S. 57.
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herrschenden Partei" 5 ; erhofft wird jetzt die „bescheidene, aber vielleicht unersetzliche" Langzeitwirkung der Edition auf die „Herausbildung eines modernen Menschheitsbewußtseins" durch die „stille, aber dauerhafte Entdogmatisierung ( . . . ) der Theorien von Marx und Engels". 6 Solche späten Einsichten geben keinen Anlaß zur Überheblichkeit. Gefordert wird hier ja die Überwindung v o n Versuchungen, die die Bezugnahme auf Klassiker und die Pflege ihres Werkes immer begleiten und immer begleiten werden. Aber wir können vielleicht die Hoffnung wagen: In der Praxis der Edition von protestantischen Klassikern müssen weder das editionsphilosophische Grundproblem des Gegensatzes von Wissenschaft und Denkmalspflege, mithin die distanzierte Inanspruchnahme der Klassiker, n o c h die unverzichtbare Selbstdistanz der Editoren erst m ü h s a m entdeckt werden. Beides ist im protestantischen Denken von Haus aus präsent.
MARK D. CHAPMAN 1. In my limited experience of ecumenical dialogue between Anglicans and the EKD under the auspices of the Meissen Commission the m a j o r stumbling block has been the quite different status attached to the letter of classic texts. 7 Most striking was the fact that although the Church of England adopted most of the Augsburg Confession, coupled with some more Genevan statements, as part of its theological self-definition in the thirty-nine articles of religion, the authority accorded to the text - even one ratified by an Elizabethan Parliament - was quite unlike that given to the Augsburg Confession by Lutherans. While the Church of England might affirm that 'the visible Church of Christ is a congregation of faithful men, in which the pure Word of God is preached, and the Sacraments be duly administered' the practice is quite different and has become the major issue that still divides the churches. Rather t h a n being historicised in text, the church is instead historicised in the spatio-temporal institutions of the visible church. The classic texts are those of liturgical practice rather t h a n
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Ebd., S. 5 9 . Ebd., S. 6 5 . See Ingolf U. Dalferth, Paul Oppenheim: Einheit bezeugen: zehn Jahre n a c h der Meissener Erklärung, Frankfurt a. M. 2 0 0 3 , esp. pp. 1 5 0 - 9 7 .
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writings of theologians and reformers. Similarly the viva voce of the historical episcopate as guardian of scripture and tradition has been accorded far more significance than any confessional writing. 2. For this reason, for most of their history the Church of England and the churches it spawned throughout the world have had no classic theological texts. There is no Luther, no Zwingli, and no Calvin. And furthermore, partly because of the somewhat bizarre educational effects of the Reformation, the advanced study of theology was not pursued in the universities. Theology as a work of the gifted amateur does not produce the systematic writing which is the stuff of modern classics and critical editions. Ironically, however, early Anglicanism produced detailed textual scholarship unparalleled in most of Europe: it was simply that the texts themselves were the ancient classic foundational texts of the tradition rather than scholarly writings of the present. Bishop John Fell (1625-86) and Archbishop James Ussher (1581-1656) could produce their great editions of Cyprian (1682) and Ignatius (1644) in the seventeenth century, but they would never have presumed to go further by allowing their own literary creations to be accorded a classic status. Similarly in the late nineteenth century the English lower critics including F. J. A. Hort (1828-92), J. B. Lightfoot (1828-89) and B. F. Westcott (1825-1901) produced crucial work on the New Testament texts without writing their own classics of higher criticism. It is perhaps true to say that if there could have been an English Schleiermacher, he would never have got beyond the critical edition of Plato. 3. However, the mid-nineteenth century saw the invention of the Anglican classic, which was itself part of the broader process of the invention of Anglicanism. Since the Church of England lacked any magisterial reformer and was united in little more than the accident of establishment and the adherence to the liturgical forms of the Book of Common Prayer, many clamoured for doctrinal clarity. While none of the great leaders of the Oxford Movement of the 1830s produced a literary classic himself (except perhaps for Newman and then only after he had converted to Roman Catholicism) all were involved in the production of classic texts - indeed the major literary achievement of the Tractarians was the 'Library of the Fathers' (from 1838) and the 'Library of Anglo-Catholic Theology' (from 1841). 8
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See Richard W. Pfaff: The Library of the Fathers: The Tractarians as Patristic Translators, in: Studies in Philology 7 0 (1973), pp. 3 2 9 - 4 4 .
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The publication of translations of the Fathers was a political statement about the essence of Anglicanism: for Keble, Pusey and Newman doctrinal development simply stopped in the fifth century. Similarly, the republication of new editions of the seventeeth-century divines in the 'Library of Anglo-Catholic Theology' was an assertion that the essence of Anglicanism was to be found in the revived sacramentalism of the Caroline high churchmen, most of w h o m were vigorously opposed to the d o m i n a n t Calvinism of the period. In response, more protestant-minded c h u r c h m e n of t h e midnineteenth century under the leadership of Anthony Ashley Cooper, seventh Earl of Shaftesbury ( 1 8 0 1 - 8 5 ) and Edward Bickersteth ( 1 7 8 6 - 1 8 4 0 ) established the Parker Society in 1 8 4 0 to re-publish the writings of t h e English Reformers as a counterblast to the invention of t h e catholic-minded tradition of the Oxford Movement. To subscribe to the Parker Society was to identify with a particular idea of Anglicanism based on 'the works of the Fathers and the early writers of the Reformed Church'. This struggle for the identity of the Church was coupled with the more lapidary 'classics' of Church building with different attitudes towards Gothic revival, ritualism and the rebuilding of chancels. Thus, since the Church of England lacked a classic reformer to mediate between these competing models of what constituted Anglicanism, and since Anglican confessions had never been accorded classic status, t h e result was the anarchy of church parties, each claiming to represent the essence of true Anglicanism. This practice has continued through the twentieth century. The clamour for the classic text (and the classic mediating figure) lies behind the only critical edition of an Anglican writer of the twentieth century, namely W. S. Hill's American edition of the works of Richard Hooker ( 1 9 7 7 - 9 3 ) . In the current controversies within the Anglican C o m m u n i o n , however, few have paid m u c h attention to the 'judicious Mr Hooker' in either modern critical or any other edition. 4. This is all a salutary reminder that the production of t h e literary classic is intimately bound up with the creation of a tradition with its own set of 'scriptures' or authoritative and semi-sacred texts. The production of the critical edition is part of the same process. W h a t marks out a critical edition is its price and its footnotes: a book that costs so m u c h must surely be a classic; similarly, a book upon which so much scholarly attention has been lavished must surely be a central document of the c a n o n of the tradition. Lavish critical editions help define the content of tradition and fill up the classic texts sections of scholarly libraries. And in turn they provide the primary texts for the subject of dissertations. (Classics, however, do not
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necessarily last. It is worth noting that second-hand bookshops bear ample witness to the often limited duration of the classic - one can quite easily pick up the Parker Society editions at modest prices). W h a t all this reveals is that the production of texts is a political act: while it involves scholarship and dedication, it also requires the belief that a text is important in defining a tradition and that in turn requires the techniques of persuading others to subsidise or buy a critical edition. Those who cared about the soul of Anglicanism in the mid-nineteenth century were prepared to subscribe to publishing ventures (and to be sent unreadable critical editions by halfforgotten authors) - the church parties depended on rich benefactors to ensure the success of their efforts to invent tradition. 5. The same may be true today: the production of classic texts is an expensive business and requires financial subsidy. Those responsible for editing the Troeltsch KGA are presumably keen on ensuring that the Enlightened liberal strand of Protestant thought survives as a serious player in Protestant debate into the future. Yet they must rely on quite different forms of financial support. For the most part there simply are no longer the rich benefactors, except perhaps the charitable foundations of the large industrial combines or the research funding agencies of the state. If the selfunderstanding of Protestantism depends upon its relationship to classic texts and to the production of new critical editions of those texts, then it is a fascinating - and disturbing - thought that its very future might depend on the conscience money of the capitalist enterprise or competitive tendering through the state. What interest does the state or industry have in furthering a particular strand of Protestantism? It is not difficult to understand what the Earl of Shaftesbury wanted to achieve through republishing the writings of the English Reformers. O n e wonders, however, whether contemporary subscribers to critical editions share such honourable motives. Perhaps that is because few people care as passionately about the survival of Protestantism into the future than used to be the case.
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THOMAS KAUFMANN Die Konstitution eines Kanons klassischer Autoren kann sich unter der Voraussetzung einer nicht-traditionsgebundenen Diskurskultur, wie sie dem Protestantismus an sich eigen ist, nur als Konsequenz des Diskurses selbst ergeben. Insofern ,bedarf' die wissenschaftliche Theologie nicht einfach ,klassischer Autoren'; sie wird aber im Diskurs selbst immer wieder bestimmte Probleme bzw. ein bestimmtes Problemniveau zu reflektieren haben, das frühere Autoren, sei es ursprünglich, sei es mustergültig, sei es besonders wirkungsmächtig erörtert oder erreicht haben. Versuche, einen Klassikerkanon zu konstituieren, mögen als Didaktisierungsstrategie ihr elementares Recht besitzen. Sie sind aber auch mit theologiepolitischen Positionalisierungsinteressen verbunden und entziehen sich gemeinhin einer verallgemeinerungsfähigen Kriteriologie. Als Ausdruck von Selbstvergewisserungsbedürfnis und Komplexitätsmanagement sind Kanonisierungsprozesse ernst zu nehmen; als Anlaß perspektivischer Horizontverengung gefährden sie einen historischen Verstehensprozeß, der jenseits von Klassikerkanonisationen und Reanimationen ,vergessener Theologen' auf die Rekonstruktion unverrechenbarer Vielfalt abhebt und in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' die ihm gemäße Temporalität findet. Insofern ist die Dialektik von Kanonisation und Kanonskritik unaufgebbar. Editionen sind seit alters eine durch einzelne Subjekte oder Interessengruppen initiierte und gesteuerte Form der Kanonisation eines Klassikers; in gediegener buchlicher Präsenz wird die Bedeutung einer Person und ihres Werkes repräsentativ repräsentiert. Editionen sind insofern in der Regel subventionsabhängige, zumeist den Regularitäten des Buchmarktes partiell enthobene Autorisierungsstrategien, die den Interessen mehr oder minder einflußreicher Gruppen entsprechen und die darauf abzielen, mit den edierten Personen und Werken verbundene Geltungsansprüche ihrer jeweiligen Gegenwart erinnerungspolitisch zu implementieren. Editorische Großunternehmungen wie die derzeit laufenden Editionen zur neuzeitlichen Theologiegeschichte oder die reformationsgeschichtlichen Werkeditionen Luthers, Melanchthons, Bucers, Oslanders, Spenglers, Calvins, Bullingers oder Bezas stehen durchweg nicht am Anfang, sondern eher am Ende produktiver Aktualisierungsversuche des jeweiligen Autors und verdanken sich in der Mehrzahl der Fälle dem persönlichen Engagement einzelner Forscher oder kleiner Forschergruppen, denen die
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institutionelle Etablierung ihres Projekts gelingt. In bezug auf Troeltsch ist etwa an Trutz Rendtorffs Ausgabe der Absolutheitsschrift und zweier weiterer Troeltsch-Texte aus dem Jahre 1969 zu erinnern. Bezeichnenderweise in einem erschwinglichen Taschenbuch publiziert, war diese ganz durch die Prädominanz der Offenbarungstheologie veranlaßte Textausgabe darauf ausgerichtet, die kritische Aktualität Troeltschs zu erweisen. Dabei spielte die Historisierungsstrategie eine entscheidende, dezidiert gegenwartsbezogene Rolle: Im Modus der Rekonstruktion der Troeltschschen Kritik an der Offenbarungstheologie der Ritschl-Schule wurde zugleich implizit gegen die zeitgenössisch dominierende Barthsche Theologie polemisiert. Insofern war es das gleichsam prophetische Potential Troeltschs, das am Anfang der ihm widerfahrenden Historisierung stand und das auch die ihm nachfolgende Theologiegeschichte in einen Sog der Historisierung hineinzog. Möglicherweise war es dem aktualisierenden Neueinsatz in der Beschäftigung mit Troeltsch zuzuschreiben, daß eine historisch kritische Einordnung der Absolutheitsschrift damals unterblieben ist, hingegen in Rendtorffs hochachtbarer Neuedition des Textes in KGA 5 das aktualisierende Siebenstern-Bändchen beinahe völlig übergangen wird. Daß dieser in die 1960er Jahre zurückweisende Neuanfang in der Beschäftigung mit Troeltsch ihn in den Rang des editionswürdigen Klassikers gebracht hat, entspricht durchaus typischen Prozessen postumer Kanonisation. Die ,neuen Bilder', die Editionen von ihren ,Helden' zu erzeugen vermögen, sind wesentlich davon abhängig, in welchem Maße es gelingt, bisher unbekanntes oder unzugängliches Material beizubringen.
Eine
wesentliche Funktion von Editionen besteht überdies darin, disparate Forschungssituationen zu bilanzieren und zu fokussieren und insofern als relativ stabilisierende Bezugsgrößen in einer unübersichtlichen Diskussion zu fungieren. Sie dürften ihre Funktion besonders dann erfüllen, wenn sie aufgrund der Qualität der Textpräsentation und -kommentierung überzeugen, und das heißt weitestgehend darauf verzichten, ein ,eigenes Bild' ihres Protagonisten zu entwerfen. Nur durch konsequente Historisierung vermögen Editionen zum Anlaß ,neuer Bilder' zu werden, weil erst dann, wenn ein Autor in seiner Zeit verstanden wird, ermessen werden kann, inwieweit er seine Zeit zu erreichen und ihr Perspektiven aufzuweisen verstand. In bezug auf Troeltsch steht zu erwarten, daß die konsequente Historisierung seines Lebenswerkes im Rahmen der kritischen Gesamtausgabe den fragmentarischen Charakter eben dieses Werkes immer deutlicher hervortreten lassen wird.
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Eine philologisch präzise Textwiedergabe ist das Gebot jeder textlichen Tradierungsleistung, die um des Textes willen erfolgt und von der vorgegebenen ,auctoritas der Alten' geprägt ist. Das Ringen um die bessere Lesart ist der abendländischen Wissenschaftskultur von ihren humanistischen Wurzeln her ins Stammbuch geschrieben. Die konfessionellen Konfrontationen der frühneuzeitlichen Christentumsgeschichte haben den Zwang zur philologischen Präzision zur apologetischen Notwendigkeit erhoben, da die Argumentation mit einem korrupten Text zur schlagkräftigen Waffe in der Hand des Gegners werden mußte. Auch wenn die Akribie in der philologischen Textpräsentation und der textgenetischen Rekonstruktion im Zuge des Historismus zweifellos eine neuartige Steigerung erfahren hat, so ist doch die Bemühung um den ,sauberen Text' ein alteuropäisches Erbe, das nicht zuletzt unter den Bedingungen konkurrierender Nationalismen und des geschichtspolitischen Kampfes um die eigene Identität seine eigene Ausprägung erfahren hat. Dem konfessionellen oder nationalen Antagonismus dürfte eine produktive Bedeutung hinsichtlich der Qualitätssteigerung editorischer Unternehmungen zuzusprechen sein. Als „Sonderweg" kann diese Editionskultur nur gegenüber einer Wissenschaftskultur erscheinen, die sich jenseits konfessioneller oder nationaler Selbstbehauptungsstrategien zu formieren vermochte und für die der erinnerungspolitische Kampf um die eigene Vorzeit kein identitätsbildendes Moment darstellte. Dies scheint insbesondere für die nordamerikanische Wissenschaftskultur gelten zu können. Bei der Edition zeithistorischer Quellen war es schon im 16. Jahrhundert unter Protestanten nicht unüblich, zu ,historisieren', das heißt die historische Differenz zwischen der Zeitebene des edierten Textes und der eigenen Gegenwart zu markieren. Dies hat bereits Luther selbst in der Vorrede zur Wittenberger Gesamtausgabe getan, um zu erklären, warum er in seinen frühesten Texten theologisch und kirchenpolitisch ,anders' redete, als er es später tat. Ähnliche ,Selbsthistorisierungsformeln' lassen sich etwa auch bei der Ausgabe des Zwingli-Oekolampad-Briefwechsels, der von Chytraeus besorgten Aktenedition des Augsburger Reichstages von 1530, der Leyserschen Ausgabe der Loci Chemnitzens, der Pezelschen Melanchthon-Ausgabe usw. finden. Darin eine Art ,urprotestantischen' Trieb wahrzunehmen, die eigene Identität in einer gegenwartsgemäßen Form zu artikulieren, dürfte nicht unberechtigt sein. Eine zukunftseröffnende Kraft dürfte der ,Selbsthistorisierung' insofern innewohnen, als sie der Normativierung historischer Deutungsgestalten des Protestantismus
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produktiv widerspricht und konstruktives ,Vergessen' ermöglicht. In theologisch sinnvoller Weise kann dies vielleicht nur geschehen, wenn die Selbsthistorisierung von der Gewißheit getragen ist, daß jede, und also auch die eigene Zeit, in aller Gebrochenheit unmittelbar zu Gott ist.
CHRISTOPH MARKSCHIES Am Beginn stehen - wie stets - die topischen Apologien: Als Kirchenhistoriker, der sich hauptberuflich mit dem antiken Christentum beschäftigt und entsprechend auch nahezu ausschließlich antike Klassiker ediert, bin ich für die Beantwortung der den Teilnehmern der Podiumsdiskussion vorgelegten Fragen zu Teilen nur mäßig kompetent. Allgemeines Interesse kann meine persönliche Antwort auf die Frage, inwiefern die Troeltsch-Ausgabe das Bild der neueren Theologiegeschichte verändert hat, nicht beanspruchen. Daher konzentriere ich mich im folgenden auf drei der fünf Anfragen. (1) Bedarf eine Wissenschaft „klassischer" Autoren und wenn ja, warum? Klassiker, Autoren die „klassisch" geworden sind durch Selbst- oder Fremdkanonisierung, gibt es zu allen Zeiten und an allen Orten. Und ein herausragendes Merkmal jeder Kanonisierung ist die kritische Edition des kanonisierten Autors. Wissenschaft vollzieht sich im Wechselspiel von solcher editionsgestützten Kanonisierung von Klassikern, ihrer kultischen Verehrung durch Edition wie Interpretation und dem ebenso unausweichlichen Klassikersturz. Das ist nun wirklich kein Spezifikum der Neuzeit. Für den vorwiegend im Bereich der Antike tätigen Historiker liegt es nahe, auf die im Hellenismus entstandene alexandrinische philologische Wissenschaft zu verweisen, in der die einen - wie beispielsweise Philitas von Kos im dritten vorchristlichen Jahrhundert als ποιητής αμα και κριτικός, als „Dichter und Gelehrter"9 - sich selbst als Klassiker stilisieren und edieren und die anderen - wie beispielsweise Zenodot von Ephesus etwa zur selben Zeit sich scheinbar auf das reine „Zurechtmachen" (διορθούν) der als kanonisch 9
Strabo XIV 657 = test. 13 Κ.
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identifizierten Texte für die Ausgaben beschränken. Die kritische Philologie der Alexandriner verbannt das Chaos der Versionen, ordnet die Fülle der Varianten in Haupttext und textkritischen Apparat und hinterlegt das normierte Exemplar in der großen Bibliothek. Neben Kanonisierung steht aber schon früh Dekanonisierung: Die einen loben den Homer - „Homer war kein Mensch, sondern ein Gott" 10 die anderen betreiben seine Deklassifizierung, meint: seine Dekanonisierung: „viel Trug, auch wenn es wie Wirklichkeit klänge" (Hesiod, Theogonie 27). Und beide genannten frühen Philologen demonstrieren, daß das Geschäft auch stets in bestimmten politischen Kontexten betrieben wird: Philitas erzog auf Wunsch Ptolemaeus I. Soter dessen Sohn; Zenodot wurde durch eben diesen Sohn Ptolemaeus II. Philadelphus zu seiner Arbeit angeregt.11 Mit ihrer Protektion der editorischen Kanonisierung von Klassikern verschaffte sich die neue und nun wirklich nicht standesgemäße Dynastie aus dem makedonischen Hinterland den klassischen kulturellen Hintergrund, der ihr für gebildete griechische Zeitgenossen fehlte. So ist das die Jahrhunderte über geblieben: Nachdem 1864 die Kaiserliche und Königliche Akademie der Wissenschaften in Wien begonnen hatte, in rascher Folge sämtliche lateinischen Kirchenväter der Antike zu edieren, fühlte sich sogleich nach seiner Berufung in die königliche preußische Akademie der Berliner Kirchenhistoriker Harnack bemüßigt, den Consodalen einen Plan zur Edition der griechischen Kirchenväter vorzulegen, und beeilte sich, den Wiener Vorsprung mit Hilfe einer gewitzten Drittmittelfinanzierung aufzuholen: „Politische Nebentöne waren in diesem Wettbewerb nicht zu überhören", konstatierte Kurt Nowak.12 Nach über hundert Jahren, zwei Weltkriegen und diversen Systemwechseln in Wien wie Berlin steht es zwischen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unentschieden: Beide haben seither an die hundert Bände beider Reihen ediert. Etwas provokativ formuliert: Natürlich
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Wachstäfelchen aus der Bodleiana gr. Inscr. 4: Θεός ούδ' άνθρωπος Όμηρος: Erich Ziebarth: Aus der antiken Schule. Sammlung griechischer Texte auf Papyrus, Holztafeln, Ostraka (KIT 65), 2. Aufl., Bonn 1913 , nr. 26, S. 12. Rudolf Pfeiffer: Geschichte der Klassischen Philologie von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, 2. Aufl., München 1978, S. 114-121, hier S. 137 f. Kurt Nowak: Leibniz und Harnack. Kontinuität und Wandel des Akademiegedankens, in: ders., Hans Poser (Hg.): Wissenschaft und Weltgestaltung. Internationales Symposium zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz vom 9. bis 11. April in Leipzig, Hildesheim u. a. 1999, S. 299-322, hier S. 300.
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spiegeln die Kanonisierungen von Klassikern und ihre Editionen wider, was gerade herrschende Ideologie ist - das von Christian Albrecht bemühte Beispiel der „Marx-Engels-Ausgabe" ist dafür ebenso ein Zeugnis wie die stattliche Zahl der teils seit hundertfünfzig Jahren betriebenen großen altertumswissenschaftlichen Unternehmungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Offenbar gilt im Akademienprogramm der Bund-Länder-Kommission noch, was im Historismus galt: Man ediert „auf rein wissenschaftlicher Grundlage und politisch unabhängig" 13 oder glaubt das jedenfalls. Aber umgekehrt gilt auch: Klassiker sind subversiv. Gelegentlich helfen sie, die Ideologien zu stürzen. Und überleben so auf besonders raffinierte Weise den Sturz der Ideologie, die sie einst kanonisierte. In summa: Wissenschaft bedarf also der Klassiker und ihrer Kanonisierung durch Edition, weil das Wechselspiel von Kanonisierung und Dekanonisierung14 lebendiger Puls der Wissenschaft ist, wenn nicht Motor wissenschaftlichen Fortschritts, so doch wenigstens sein Zeichen. (2) Weshalb soll deren Werk philologisch präzise ediert werden? Was ist „philologisch präzise"? Natürlich ist auch die Vorstellung einer philologia perennis, einer seit der Antike stets gleichbleibenden und sich höchstens fortschreitend entwickelnden philologischen Methode in gewisser Weise Ideologie. Das wird aus den gegenwärtigen Debatten in den verschiedenen Philologien schön deutlich: „Klassische" Philologie privilegierte, was sie für den Urtext vor den Varianten hielt, verbannte Bearbeitung und Redaktion in den Apparat, „postmoderne" Philologie ediert die Versionen
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Satzung der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES), dem Verf. freundlicherweise zugänglich gemacht durch Herrn Kollegen Herfried Münkler (Berlin); vgl. Gerald Hubmann, Herfried Münkler, Manfred Neuhaus: „... es kömmt darauf an sie zu verändern". Zur Fortsetzung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), S. 2 9 9 - 3 1 1 . Joachim von Soosten spricht von „der Zweideutigkeit von Entzug und Aufbau von Normativität" (s. unten, S. 279). Aber ist das wirklich „protestantismustypisch"? Oder liegt hier nicht vielmehr ein allgemeines Problem von Kanonisierung und Dekanonisierung vor? Dies jedenfalls ist ein Konsens der neueren Diskussion um Kanonisierungsprozesse, der in verschiedenen Sammelbänden niedergelegt ist, vgl. z. B. die Beiträge in: Margalit Finkelberg, Guy G. Stroumsa (Hg.): Homer, the Bible, and Beyond. Literary and Religious Canons (Jerusalem Studies in Religion and Culture 2), Leiden, Boston 2003, S. 175-194.
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gleichberechtigt in einer Synopse oder der diplomatischen Wiedergabe der Handschrift, weil es keinen Urtext im klassischen Sinne gibt - das berühmte Beispiel von Dietrich Eberhardt Sattlers Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (übrigens wie die Große Stuttgarter Ausgabe mit einer Editio minor) hat Schule gemacht. Zeichen einer Umwälzung der philologischen Methoden finden sich selbst in eher traditionellen „kleinen Fächern" wie der Judaistik; man denke an Peter Schäfer und dessen synoptische Editionen rabbinischer und nichtrabbinischer Texte. 15 Wenn der Eindruck nicht täuscht, machen Theologie- und Kirchengeschichte dagegen von diesen neuen Möglichkeiten und Techniken nur zaghaften Gebrauch. Natürlich ist auch diese neueste Entwicklung philologischer Methoden nicht ohne Probleme: Vor allem die Möglichkeiten des Internets erlauben, durch das Verlinken traditionelle Alternativen zu überwinden und den Leser hoffnungslos mit Material - von der Handschrift bis zum vorgelesenen Text - zu überfluten. 16 Im Hyperlink ist der Text so instabil geworden, 17 wie ihn eine bestimmte Hermeneutik schon vor Jahren konzipiert hat. Gibt es also allgemeinverbindliche philologische Standards so wenig wie den Literalsinn eines „Urtextes"? Wieder ist für die Antwort das Wechselspiel aus Kanonisierung und Dekanonisierung einschlägig, das bestimmte Standards festlegt und solche Festlegungen dann und wann zertrümmert: Was eine „philologisch präzise edierte Ausgabe" ist, muß jeweils am Autor und für die jeweilige Gegenwart neu bestimmt werden. Autoren, die wir als Klassiker kanonisieren, verdienen diese anstrengende Arbeit an der Methodik, mit der wir sie präsentieren. Sonst wäre die öffentliche Auszeichnung des Inhalts ja auch durch formalen Pfusch dementiert.
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Synopse zur Hekhalot-Literatur, in Zusammenarbeit mit Margarete Schlüter und Hans Georg von Mutius hrsg. von Peter Schäfer (TSAJ 2), Tübingen 1981; Synopse zum Talmud Yerushalmi Band 1,1/2 Seder Zeraim. Beraköt we-Pe'a (TSAJ 31), Tübingen 1991 (und die folgenden Bände). Eine entsprechende Präsentation wird von der Berliner bzw. Potsdamer Jean-Paul-Edition vorbereitet und soll auf der Homepage der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (www.bbaw.de) präsentiert werden. James J. O'Donnell: Avatars of the World. From Papyrus to Cyberspace, Cambridge/Mass. 1998, S. 4 4 - 4 9 .
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(3) Spiegelt diese Form der Editionskultur einen deutschen geisteswissenschaftlichen Sonderweg, die tiefe Prägung der historischen Disziplinen durch „Historismus" oder „Historizismus"? Wer sich hauptberuflich mit der Antike beschäftigt, zögert mit der scheinbar naheliegenden positiven Antwort. Gewiß, historisch kann gar kein Zweifel daran sein, daß sehr viele der großen Editionsunternehmen - auch im Bereich der Theologie - Kinder des Historismus sind, von ihm tief geprägt waren und es immer noch sind. Man m u ß nur einmal ein wenig die Biographien von Georg Heinrich Pertz ( 1 7 9 5 - 1 8 7 6 ) und Georg Waitz ( 1 8 1 3 - 1 8 8 6 ) , zwei frühen Leitern des Unternehmens der „Monumenta Germaniae Historica", studieren 1 8 oder die Theodor Mommsens, der nahezu in alle wichtigen Editionsprojekte des 19. Jahrhunderts verwickelt war: Damals wollte man (wie Mommsen) an der „Grundlegung der historischen Wissenschaft" dergestalt arbeiten, daß „die Archive der Vergangenheit geordnet werden", „Wahrheitsforschung" betreiben, u m „die Geschichtswissenschaften an der Logik der Tatsachen zu prüfen". 1 9 Aber ist das wirklich ein Spezifikum deutscher Geisteswissenschaft und besonders der historischen Disziplinen hierzulande? Gehört die - je nach Standard der Zeit - „philologisch präzise" Edition von Klassikern nicht seit der Antike zum Phänotyp der Wissenschaft? Ist die Editionskultur angesichts ihrer überaus ehrwürdigen Geschichte seit hellenistischen Zeiten vielleicht gar kein Sonderweg, schon gar kein deutscher, allenfalls gegenwärtig ein geisteswissenschaftlicher (aber: was heißt da schon „Sonderweg")? Außerdem darf man ja nicht meinen, daß deutsche historische Wissenschaft im Zeitalter des Historismus nicht problematisiert habe, was auf dem Feld der großen Editionen unternommen wurde. Protagonisten des Geschäfts konnten sich in wunderbarer Weise über den ganzen editorischen Großbetrieb lustig machen. Der mit M o m m s e n in komplizierter Beziehung verbundene Klassische Philologe Ulrich von
Wilamowitz-Moellendorff
- gewiß kein Protestant! - h ö h n t e mündlich wie schriftlich über die
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Horst Fuhrmann: „Sind eben alles Menschen gewesen". Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter, München 1996, S. 29-52. Theodor Mommsen: Antrittsrede als Mitglied der Königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, in: ders.: Reden und Aufsätze, hrsg. von Otto Hirschfeld, Berlin 1905, S. 35-38, bzw. S. 199.
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„Dis-manibus-Wissenschaft" seines Schwiegervaters, also das mechanische Edieren von Tonnen von Inschriften, die eben durch diese Formel dis manibus eröffnet werden. Ein Rezensent hat jüngst sogar vorgeschlagen, die von Wilamowitz dabei gebrauchte Abkürzung „DM-Wissenschaft" als „Dampfmaschinen-Wissenschaft" aufzulösen. 20 Wilamowitz war einerseits ein fleißiger Beiträger des industriellen „Großbetriebes
Wissenschaft",
schwamm selbst „in dem großen Fluß des Historismus" (Uvo Hölscher 2 1 ) und spottete doch hingebungsvoll darüber. (Theologie-)Historiker sollten also die Bedeutung akademischer Selbsthistorisierung durch Klassikereditionen für die Zukunft des Protestantismus nicht überschätzen: Wir sind immer schon, vor jeder Selbsthistorisierung, „eine Multiplikation vieler Vergangenheiten" (Nietzsche); 2 2 darin kann kein protestantisches Spezifikum liegen. (Editions-)Philologen aller Zeiten sind einerseits die, die mit ihrer Alltagsarbeit dabei helfen Klassiker zu kanonisieren, sie sind aber andererseits stets auch die „Vernichter jedes Glaubens, der auf Büchern ruht" 2 3 , wie derselbe Nietzsche sagt. Daß selbst die Religion in die Hände so mächtiger Wissenschaftler gefallen ist, hat Wilamowitz-Moellendorffs Portenser Conalumnus auf Luther zurückgeführt. Ich frage mich schon länger: Stimmt das wirklich? Müßten wir dann
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Robert L. Fowler: [Rez.] Philology and Philosophy. The Letters of Hermann Diels to Theodor and Heinrich Gomperz (1871-1922), ed. by Maximilian Braun, William M. Calder III, Dietrich Ehlers, Hildesheim 1995; und Idem, „Lieber Prinz". Der Briefwechsel zwischen Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1869-1921), Hildesheim 1995, in: Bryn Mawr Classical Review 1997/3 13 (im Internet zugänglich unter der Adresse http://ccat.sas.upenn.edu/bmcr/1997/97.03.13.html). Fowler bezieht sich auf S. 232 des Diels-Wilamowitz-Briefwechsels: Mommsen sei „zuletzt auch fuers Mechanisiren" der Wissenschaft gewesen. Auf der anderen Seite stand die Abkürzung „DM" auch für „Dampfmühle", und bei Karl Marx: Das Elend der Philosophie, heißt es (Karl Marx, Friedrich Engels: Werke - Schriften und Artikel Band IV 1846-1848 [MEW IV], 4. Aufl., Berlin 1969, S. 130): „Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. [ . . . ] Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten". Uvo Hölscher: Die Chance des Unbehagens. Drei Essays zur Situation der klassischen Studien, Göttingen 1965, S. 43. Friedrich Nietzsche: Wir Philologen, in: ders.: Werke, Band 3, 8. Aufl., München 1977, S. 329. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Fünftes Buch: Wir Furchtlosen, in: ders.: Werke, Band 2, 8. Aufl., München 1977, S. 230.
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nicht beispielsweise einen Origenes und manchen anderen zum Protestanten erklären? Und sollten wir eine solche Form von kanonisierender Geschichtsschreibung wirklich wieder repristinieren?
ARIE L. MOLENDIJK 24 In seinem auf den 10. April 1922 datierten „Berliner Brief" berichtete Ernst Troeltsch über seine Reise in Holland Folgendes: „Im allgemeinen wird man die Holländer doch als den Engländern ziemlich ähnlich ansehen dürfen, sehr positiv und praktisch, sehr rationell und zweckverständig". 25 Der Unterschied zu Deutschland, „wo alles auch in gänzlich unphilosophischen Zeiten [ . . . ] mit einem Hauch von Philosophie [ . . . ] geschwängert ist", ist unübersehbar. 26 In diesem Panel nun sollen ein Engländer und ein Holländer, also zwei praktische, rationelle, zweckverständige und damit - und das ist der Subtext dieser Aussage - im Grunde genommen unphilosophische Leute, sich äußern zum Themenkreis „Erinnerungsarbeit durch Klassikeredition. Die Bedeutung akademischer Selbsthistorisierung für die Zukunft des Protestantismus". Was ist hier zu erwarten? Auf jeden Fall - würde ich sagen - eine Umformulierung der Thematik im praktischen Sinne. Als meinen Ausgangspunkt nehme ich die Frage: Warum machen wir TroeltschForschung? Zunächst aber: Wer ist hier mit ,wir' gemeint? Die Antwort liegt vielleicht auf der Hand: die internationale,community' der Troeltsch-Forscher. Im Programm dieses 8. Internationalen Kongresses der Ernst-TroeltschGesellschaft lesen wir zum Beispiel, daß Theologen, Philosophen, Histo-
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Bei der leichten Überarbeitung für die Buchfassung habe ich den Charakter einer Rede beibehalten wollen. Ernst Troeltsch: Eine Reise in Holland. Berliner Brief, in: Kunstwart und Kulturwart. Monatschau für Ausdruckskultur auf allen Lebensgebieten 35 (1922), zweite Hälfte, S. 90-97, hier S. 91. Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus (1922), in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 15) (im folgenden: KGA 15), Berlin, New York 2002, S. 437-455, hier S. 451.
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riker und Soziologen aus Japan, den USA, Großbritannien, Italien und Deutschland über ihre Projekte berichten werden. Die Reihenfolge ist zwar höflich gewählt worden, aber rein sachlich betrachtet ist es doch klar, daß die Troeltsch-Forschung zunächst eine deutsche Sache ist. Sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht steht die deutsche Troeltsch-Forschung zweifelsohne an erster Stelle. Es gibt zwar einige nicht-deutsche Spezialisten, die hier einigermaßen mitmachen können, aber das sind recht wenige. Bereits die deutsche Sprache ist eine ungeheuere Barriere, und dann schweigen wir noch von den Eigentümlichkeiten der Troeltsch'schen Sprache. Daß er in der Neuauflage der Absolutheitsschrift „einige Satzungeheuer [ . . . ] erschlagen" hat, 2 7 macht es noch nicht zu einem leicht lesbaren Buch. Aber einmal ganz abgesehen von diesem Sonderfall, sind fehlende oder mangelhafte Deutsch-Kenntnisse generell ein großes Problem für die ausländische Rezeption deutschsprachiger Literatur. Im Hinblick auf die amerikanische Barth-Forschung hat Bruce McCormack ausgeführt, daß sie sich zum allergrößten Teil auf Übersetzungen bezieht; die nicht-übersetzten Texten werden einfach nicht gelesen. 28 Ich weiß nicht, wie gut die kritische Troeltsch-Ausgabe außerhalb Deutschlands verkauft wird, aber auch in dem Fall, daß es sich hier um relativ viele Exemplare handeln sollte, heißt das noch nicht, daß sie intensiv gelesen wird. Damit erzähle ich Ihnen vermutlich nicht etwas wirklich Neues, aber man sollte die Größe dieses Problems nicht unterschätzen. 2 9
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Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (KGA 5), Berlin, New York 1998, S. 88. Bruce McCormacks Beitrag zur Podiumsdiskussion „Die Lage der BarthForschung und der Rezeption der Theologie Karl Barths", auf dem Internationalen Symposion „Karl Barth in Deutschland (1921-1935): Aufbruch - Klärung - Widerstand" (Emden, vom 1. bis 4. Mai 2003). Der Tagungsband wird 2005 erscheinen. Ich gebe noch ein Beispiel: In einer Sitzung eines Ausschusses der Niederländischen Organisation für Wissenschaftliche Forschung (dem holländischen Äquivalent zur DFG) schlug ein Philosoph vor, daß der Antragsteller sein Buch über Immanuel Kant nicht wie geplant auf deutsch, sondern auf englisch schreiben solle, damit die englischsprachige Kant-Forschung auch etwas davon habe. Bis vor kurzem wäre es in Holland noch undenkbar gewesen, daß eine solche Bemerkung gemacht würde, weil vorausgesetzt werden durfte, daß Akademiker Kant in der Originalsprache lesen.
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Die Feststellung der Dominanz der deutschen
Troeltsch-Forschung
bringt mich als ausländischen Teilnehmer an diesem Panel einigermaßen in Verlegenheit. Was wäre hier zu sagen, was die deutschen Spezialisten und Teilnehmer an dieser Tagung nicht sehr viel besser könnten? Werden hier keine Eulen nach Athen getragen? Brauche ich Ihnen zu versichern, daß die neue Ausgabe mir vieles bringt, daß die Erläuterungen, Biogramme und Einleitungen ausgezeichnet sind? Aber was soll ich dazu weiter beitragen? Ich könnte versuchen, die ausländische, oder spezifischer: niederländische Perspektive einzubringen. Dann würde ich mich auf den praktischen Gewinn richten. Generell: Wir b e k o m m e n eine zuverlässige Edition, mit allen Troeltsch-Texten, die in ihrem historischen Kontext präsentiert werden. Dies ermöglicht es, die Genese und die Entwicklung von Troeltschs Auffassungen genauer zu studieren. In den beiden von Trutz Rendtorff herausgegebenen Bänden kann m a n sehr gut die Unterschiede zwischen den Auflagen der Absolutheits- und Protestantismusschrift studieren. Spannend finde ich zudem die Herausgabe v o n unveröffentlichten Materialien, wie der ausführlichen Marginalien zu den „Soziallehren" und der erhalten gebliebenen Korrespondenz und anderen
nachgelassenen
Texten. Das Bild von Troeltschs Leben und Werk kann so vervollständigt und nuanciert werden. Zum anderen sind mit einer kritischen Edition auch Gefahren verbunden. Soll jeder Zettel oder jedes Telegramm von Ernst Troeltsch oder Max Weber (wie „= adresse abwartet = weber + " ) 3 0 kritisch ediert werden? Eine kritische Edition hat manchmal etwas von einem Mausoleum, worin der intellektuelle Gigant beigesetzt wird. Der ungewollte Effekt kann sein, daß die Forschung n o c h stärker eine Sache von Fachexperten wird, die bis auf den Millimeter genau arbeiten und sich streiten über - im Grunde genomm e n - unwichtige Details. Wer kann als Nicht-Experte noch etwas über Weber schreiben, das von Weberspezialisten ernstgenommen wird? 31 Liegt
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Dies ist eine ganze Seite in der Weber-Gesamtausgabe: Max Weber: Briefe 1911-12, hrsg. von M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön (MWGA, II, Band 7/1), Tübingen 1998, S. 191. Hartmut Lehmann, Jean Martin Ouedraogo (Hg.): Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Band 194), Göttingen 2003. In diesem Band wird versucht, eine Brücke zur französischen Weber-Forschung zu schlagen, aber wenn
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nicht die Größe von Weber und Troeltsch doch letztendlich in der Weise, in der sie Sachen innovativ angefaßt haben und neue Perspektiven eröffnet haben, und weniger in ihren konkreten Ergebnissen oder in Sammelrezensionen unzähliger Bücher? Obwohl man geneigt ist, diese Frage zu bejahen, ist diese Gegenüberstellung jedenfalls im Hinblick auf Troeltschs CEuvre nicht gut durchzuführen. Das hat mit seiner Arbeitsweise zu tun: Ludwig Marcuse hat über Troeltsch geschrieben, daß er im Seminar keine Resultate vortrug, sondern die Arbeit coram publico erledigte, die andere einsam am Schreibtisch leisten.32 Auch für viele der veröffentlichten Texte gilt, daß sie den Denkprozeß zeigen. Ein Merkmal von Troeltsch ist, daß er seine Position in Auseinandersetzung mit anderen Meinungen entwickelt. Besonders faszinierend ist die Weise, in der er konkrete politische, gesellschaftliche, kulturelle und intellektuelle Entwicklungen in ihrem historischen Kontext einordnet, dabei den Überblick behält und aufgrund dieser Einordnung mögliche Lösungen und zukünftige Optionen ausmacht und letztendlich vorsichtig wertend zur einer Stellungnahme kommt. Ich würde Troeltschs CEuvre eher als kontextuell denn als fragmentarisch (Thomas Kaufmann) kennzeichnen. Es sind zwar zu einem großen Teil Gelegenheitsschriften, aber sie sind durchzogen von einer konsequent durchgehaltenen Annäherungsweise. Der fünfzehnte Band der Gesamtausgabe mit den späten Schriften zur Politik und Kulturphilosophie zum Beispiel zeigt sehr klar, daß auch die politischen Reden nach dem gleichen historischen Muster geschrieben worden sind wie die kulturphilosophischen Betrachtungen. Lassen Sie mich aber hier einen berühmten Satz von Johan Cruijff zitieren: „Jeder Vorteil hat seinen Nachteil". Auf Troeltsch bezogen heißt dies, daß seine Texte manchmal wenig poliert und in der Letztfassung nicht immer konsistent überarbeitet sind. So hätte er besser daran getan, die Einleitung zu den „Soziallehren" mal richtig neu zu schreiben und sich nicht zu beschränken auf einige Hinzufügungen. In dieser Kontextualität und
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man dann sieht, daß Weber aufgrund französischer und englischer Übersetzungen (wovon in einem Fall dann noch anerkanntermaßen die Zuverlässigkeit zweifelhaft ist) zitiert wird, dann kann m a n sich fragen, was dabei herauskommt. Ludwig Marcuse: Ernst Troeltsch, in: Ernst Troeltsch in Nachrufen, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf unter Mitarbeit von Christian Nees (Troeltsch-Studien, Band 12), Gütersloh 2 0 0 2 , S. 1 9 4 - 1 9 5 .
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der eigentümlichen Arbeitsweise liegt natürlich ein wichtiger - zusätzlicher - Grund, Troeltsch kritisch zu edieren. Obwohl diese Editionskultur stark vom deutschen Historismus geprägt ist, spiegelt sie meines Erachtens keinen deutschen Sonderweg. Dafür ist das Phänomen der kritischen Ausgabe zu weit verbreitet. Auch würde ich zögern, den „metareflexiven Vorsprung" (Christian Albrecht) des Protestantismus gegenüber anderen Editionen weltanschaulicher Klassiker zu sehr zu betonen. Eine solche These ist nur aufrecht zu erhalten, wenn man mit einem normativ aufgeladenen Protestantismusbegriff hantiert. Angesichts der zurückgehenden Deutsch-Kenntnisse und der Dominanz der englischen Sprache, kann man sich allerdings die Frage stellen, was die kritische Troeltsch-Ausgabe für die internationale Forschungsgemeinschaft bedeutet. Es ist gut, daß die Troeltsch-Ausgabe auf englisch angekündigt worden ist. In der Broschüre heißt es: „[The Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe] is intended to help make the work of a Protestant intellectual of the classical modern period better available [... ] One hope connected to the critical edition of his work is that the inner unity of the historical sciences of culture may be advanced. Texts of the early 20th century are made newly available which can provide strength for orientation in the debates of the late 20th century in regard to selfunderstanding". Das klingt anregend, aber in bezug auf die gewünschte internationale Rezeption seines Werkes kann man sich fragen, ob eine zweisprachige Ausgabe nicht mehr gebracht hätte. Vermutlich ist dies kein sehr praktischer, rationeller und zweckverständiger - und damit auch kein typisch holländischer Vorschlag. Das Kalkulieren von Kosten ist allerdings wieder eine Sache, die man den calvinistisch geprägten Holländern vielleicht anvertrauen mag, und die Kosten einer zweisprachigen Ausgabe würden - das wage ich zum Schluß vorauszusagen - sehr hoch gewesen sein.
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JOACHIM VON SOOSTEN P a r a d o x i e n d e r Indexikalität
„Das Gedächtnis ist ein Verbündeter der Vergeßlichkeit. Es ist ein Fischernetz mit sehr kleiner Beute und von Wasser keine Spur". Bevor ich der Melancholie nachgebe, auf die diese Auskunft gestimmt ist, m ö c h t e ich einen Anlauf versuchen, der sich zunächst dem entgegenstemmt, was hier dem Thema Vergessen zutreibt: „Auch in der Philologie ist es so: die Vollständigkeit des Materials ist in vielen Fällen etwas Unnützes." 3 3 Wozu und zu welchem Ende also Klassikereditionen? Wie begann die Geschichte, die zu dieser Frage führte? Wer hat sie überliefert, und wo ist sie zu finden? Wenn Diaspora droht, wenn eine Tradition an ihr Ende g e k o m m e n ist, oder wenn eine Tradition sich in der Krise findet, werden Bücher auf die Liste gesetzt. Editionen sind Sicherungsprojekte, Indizierung heißt ihr Gesetz, das Gefühl, sich in einer Folgezeit zu befinden, die gegen die Monumente der vorausgehenden Kulturepochen nicht a n k o m m e n kann, bestimmt das innere Bewußtsein der Anstrengung, für die wir den Namen Philologie besitzen. Prozesse der Kanonisierung kennen zwei miteinander verschworene Formen der Indizierung. Das Gemeinverständnis erinnert vor allem die negative Form: die Auflistung der verbotenen Bücher (librorum prohibitorum). Diesem Akt der Ausgrenzung steht in Kanonbildungsprozessen allerdings immer eine Liste maßgeblicher Bücher zur Seite. Klassikereditionen scheinen ein Fall positiver Indizierung zu sein. Die Liste (Indizierung) hat Hinweisfunktion (Index); Indexikalität meint erstens die Absichten und Interessen, von denen Editionspraktiken geleitet werden, zweitens die Art und
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Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente von 1874 (KSA 7), S. 450. - Das voranstehende Motto-Zitat entnehme ich Joseph Brodsky: Erinnerungen an Petersburg, München, Wien 1986, S. 107. Allerdings habe ich das Zitat manipuliert. Korrekt muß es heißen: „Das Gedächtnis verrät jeden, besonders diejenigen, die wir am besten kannten. Es ist ein Verbündeter der Vergeßlichkeit, es ist ein Verbündeter des Todes. Es ist ein Fischernetz mit sehr kleiner Beute und von Wasser keine Spur".
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Weise (Performanz), wie Klassiker zur Aufführung gereicht werden, und drittens eine Phantasmatik, die in den Formen der historischen und editionspragmatischen Registratur notorisch mitläuft. N e h m e n wir Ernst Troeltsch als Beispiel heraus. Troeltsch hatte seine raumgreifende Studie über den „Historismus und seine Probleme" mit der Beobachtung, die zwischen Irenik und Polemik schwankt, eröffnet, daß die Werkstatt und die Kunstgriffe der „kritischen Ausgaben und Bearbeitung e n " einen veritablen Stand erreicht hätten, demnach man zu dem Urteil gelangen könne, die Geschichtswissenschaft wäre nicht weit davon entfernt, als eine „exakte Wissenschaft" gehandelt zu werden. Daß dies schon auf der Anerkennungsfolie und in der Konkurrenz zu den Naturwissenschaften formuliert war, will ich hier, obwohl der Hinweis ausgewertet werden will, nicht weiter ausbreiten. Was Troeltsch für die Geschichtswissenschaft und die „Fabrik" des historischen und textgestützten Spezialistentums konstatiert, was ihre „Krisis" sei, dies sei eben dies, daß sie sich v o n Fragen geschichtsphilosophischer Art gelöst hätte. Genau dies gälte es zu bearbeiten. Troeltsch n a n n t e dies das „quantitative Mißverhältnis" zwischen Aufwand an Sicherung der Tradition und Ertrag für die Frage von Geschichte. 3 4 Worin sich andeutet: Geschichte meint überaus mehr als Tradition. Zieht man diese Linie aus, dann fällt die Trennung von Bearbeitungspragmatik der Geschichtswissenschaften (das Objektivitätsideal der Quelle, des Textes, der Edition) dort und Geschichtsphilosophie hier, die Arbeitsteilung zwischen Quellenkritik und Historiographie, in sich zusammen. Seitdem wir durch Hayden White über die Rhetorik der Historik unterrichtet worden sind, darf es erlaubt sein, auch die Pragmatik der Editionspraxis, die Herausstellung der „Monumenta", Fragen zu unterziehen, die mehr mit
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Vgl. den Auftakt von Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 3), Tübingen 1922, S. 1-11. Freilich ist die Verschwörung von Geschichtsforschung (Philologie) und Geschichtsphilosophie (Historik) eine Aktion, die erst Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt, für die nationaltypische Entwicklung in Deutschland ist Droysens Historik (erstmalige Publikation eines Vorlesungsmanuskriptes 1858; seitdem ständig überwuchert; auch hier ist die Geschichte der Editionspraxis, die das Werk zum Werk erhebt [1936]) von erheblichem Interesse: Rubrik: Kriminalpolitik von Editionspraktiken.
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Geschichtsphilosophie zu tun haben, als uns die reinen Editionspraktiker in schöner Bescheidenheit glaubhaft m a c h e n wollen. 3 5 II.
Nach der Lutherischen Medienordnung rangiert das mündliche „Wort" („Ideo verbum et fides necessario simul sunt"), das Ex-Auditu-Prinzip vor und über dem Text, der Schrift und dem Buch. Gleichwohl wird m a n den Protestantismus dem Typus der textuellen Gemeinschaft zurechnen können, denn die „Schrift" bildet gleichsam die Unterlage für den Glauben aus den Mitteln der Rhetorik. Das Sola-Scriptura-Prinzip, die Forschungsoperation der Quellenkritik und die Durchsetzung der „historisch-kritischen Methode" der Bibelkritik sowie die Schrifthermeneutik (die Schrift als „ipsa per se [ . . . ] sui ipsius interpres") sprechen allesamt für die These v o m Protestantismus als einer textuellen Gemeinschaft, 3 6 bis hin zur flächendeckenden Präsenz von Bibliotheken bis in die hinterletzte Provinz in Gestalt v o n Arbeitszimmern der protestantischen Pfarrer. 37 Klassikereditionen im Raum des Protestantismus sind einer zweifachen Schwingung ausgesetzt, die immer auch zur Sprengung des Basismaterials führen kann. Zum einen entsteht eine Spannung zwischen archivarischer Textedition (und dem „Foltersystem historischer Kritik") und einer lebendigen Erweiterung und Erneuerung unzeitgemäßen Wissens, einer Spannung, die sich im Protestantismus bis Nietzsche und dann von i h m aus dokumentiert. Zum zweiten stehen Texteditionen im Raum des Protestantis-
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Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in NineteenthCentury Europe, Baltimore, London 1973. - White kann für sich gewissermaßen die von Droysen empfohlene „Topik" der Historik (Untersuchende, erzählende, didaktische, diskussive Darstellung) ausbeuten (vgl. Johann Gustav Droysen: Historik, hrsg. von Rudolf Hübner, 2. Aufl., München, Berlin 1943, S. 273-316). Zum Typus der „textuellen Gemeinschaft" vgl. Brian Stock: Listening for the Text. On the Uses of the Past. Re-Visions of Culture and Society, Baltimore 1990. Zur „Lutherischen Medienordnung" vgl. Hartmann Tyrell: Religiöse Kommunikation. Auge, Ohr und Medienvielfalt, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hrsg. von Klaus Schreiner in Zusammenarbeit mit Marc Müntz, München 2000, S. 41-93, hier S. 81 ff. Vgl. nur Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, Reinbek bei Hamburg, S. 104 f.
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mus immer im Resonanzfeld protestantischer Hermeneutiken. Ein Extrembeispiel hierfür ist das Ebeling-Prinzip, das das Verfahren der historischkritischen Methode als Reinigungsverfahren empfiehlt, durch das der Text auch etwas „sagt": Glauben hervorbringt. 3 8 Ein anderes Extrem mag in der Behauptung liegen, Editionskompetenz wäre erzprotestantisch. Die Erinnerung daran, u m nur ein Beispiel anzuführen, daß die Methodisierung der Bibelkritik Richard Simon aus dem Orden der Oratorianer (1678: „Histoire Critique du Vieux Testament") und dem Marranen Baruch de Spinoza (1670: „Tractatus Theologico-Politicus") zu verdanken ist, zeigt, daß Quellenkritik und Editionskompetenz kein Privileg von Protestanten ist. Es ist sicher völlig inkorrekt zu sagen, die „Institution" der Klassikeredition substituiert im Rahmen einer textuellen Gemeinschaft wie dem Protestantismus die Institution des kirchlichen Lehramts. Aber der unzulässige Vergleich kann auf etwas aufmerksam m a c h e n . Während das kirchliche Lehramt sich die absolute Entscheidung in Auslegungsfragen vorbehält, die sowohl die „Heilige Schrift" als auch die „kirchliche Überlieferung" betreffen, verlagern Klassikereditionen Auslegungsstreitigkeiten in die Geschichte der als jeweils authentisch und wirkungsbedeutsam ausgezeichneten und dadurch ausgemusterten Ausdrucksgestalten der Auslegungsgeschichte. Sie bauen so an einer Auslegung durch die Ausdrucksgeschichte der Auslegung selbst. Insofern ist Selbsthistorisierung durch Klassikereditionen immer auch Teil protestantischer Stilbildung. Der Vorgang der Substitution verweist aber auch darauf, daß dieser Ausmusterung eine eigene Autorität inhärent ist. Die zu Klassikern erhobenen Texte sollen es sein, die die entscheidenden Hinweise spenden. Sie versuchen sich in der großen Wortspende. Insofern kann die Ausmusterung der Entscheidungsfrage in die Geschichte der Auslegungsgeschichte als Vorgang gefaßt werden, der auf eigene Weise dem Verfahren der normativen Indexikalität verpflichtet ist. Durch Historisierung entsteht eine eigene Form
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Vgl. Gerhard Ebeling: Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche (1950), in: ders.: Wort und Glaube, 3. Aufl., Tübingen 1967, S. 1-49. - Zum Problemzusammenhang von Historik und Religion vgl. Jörn Rüsen: Historische Methode und religiöser Sinn - Vorüberlegungen zu einer Dialektik der Rationalisierung des historischen Denkens in der Moderne, in: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 2: Anfänge modernen historischen Denkens, Frankfurt a. M. 1994, S. 344-377.
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der Normativität, wie sie allen Gemeinschaften zu eigen ist, die sich auf einen Kanon und eine Bibliothek von Klassikern gründen. Was man als Historisierung deuten kann, kann man genauso als raffiniertes Verfahren der Verbindlichkeitssteigerung werten. Die Frivolität, die in der Zweideutigkeit von Entzug und Aufbau von Normativität liegt, ist nicht protestantismustypisch, sondern typisch für alle Prozesse der Kanonisation. „Es liegt im Wesen aller Kanonisation ihre Objecte unheimlich zu machen". 3 9 Typisch scheint auch das Verfahren, mit dem die Paradoxie normativer Indexikalität unsichtbar gehalten wird. Um den möglichen Druck der Normativität zu regulieren, entsteht die Kultur der Auslegung: für die Klassikeredition in der Gattung des Kommentars „in" der Klassikeredition selbst. Entscheidend wird das „framing", das auf eine weitere Form der Indexikalität verweist. Normativität ist auch hier im Spiel. Editorische Rahmungen sind ein textuell gesteuertes Maut-Projekt, was soviel heißen soll, daß an Philologie kommunitärer Zoll zu entrichten ist, an dem niemand vorbeikommt, der sich auf den Wegen dieser Gemeinschaft bewegen will.
III.
Für die editoriale Rahmung beziehungsweise für die editoriale Performanz von Klassikereditionen sind die paratextuellen Operationen von maßgeblicher Bedeutung. Sie reichen von Einleitung, Anmerkungsapparaten, Kommentaren, Kommentaren zu Anmerkungen bis hin zum Verlagsprogramm, dem Klappentext und der Werbung und anderen Überwucherungen und Hypercodierungen. Der hysterische Editor unter der Schirmherrschaft der Gesamtherausgeber wird in den paratextuellen Operationen zum „ersten Leser" und als erster Leser gewissermaßen zum „zweiten Autor". In der synchronen wie diachronen Sicht: Der Tod des Autors ist die Geburt des
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Franz Overbeck: Die Tradition der alten Kirche über den Hebräerbrief, in: ders.: Werke und Nachlaß, Band 2, hrsg. von Ekkehard Stegemann, Rudolf Brändle, Stuttgart, Weimar 1994, S. 393; vgl. dazu vor allem Petra Bahr: Art. Kanon/Kanonisierung, in: Metzler Lexikon Religion, Band 2, Stuttgart, Weimar 1999, S. 1 5 9 - 1 6 1 . Vgl. auch Vf.: Einleitung zu: Irene Pieper, Michael Schimmelpfennig, Joachim von Soosten (Hg.): Häresien. Religionshermeneutische Studien zur Konstruktion von Norm und Abweichung, München 2003, S. 7 20.
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Editors - der Autor überlebt den Editor, allerdings nun im Rahmen einer einheitlichen Wiedergabe, die Darstellungsstile unterdrückt 40 - der Leser überlebt Autor und Editor - die Signatur überlebt den Leser. Für den Fall von Säumnisgebühren ist in der Bibliotheksordnung allein die Signatur entscheidend, nicht der Titel oder die Autorenangabe des entliehenen Werks. Das was bleibt, ist die Signatur. Editionen folgen in den paratextuellen Operationen nicht nur einer Strategie der Historisierung, sondern können sub contrario auch als Fortschreibungen des Textes verstanden werden. Der Editor stiftet die Kohärenz des Werks und nimmt darin die Rolle des Autors nach und vor dem Autor ein. Man könnte hierfür von parergonaler Indexikalität sprechen. Während sich im 18. Jahrhundert Autoren als Editoren von verschollen geglaubten Fragmenten oder Briefen stilisierten und den Stil der Selbstanonymisierung wählten, bevorzugten die Editoren seit dem 19. Jahrhundert den Stil der Selbstautorisierung. Dadurch entsteht das Editionsparadox durch die Operationen der parergonalen Indexikalität: Der erste Autor und die Textgestalt rücken in der Edition in das Zentrum der Aufmerksamkeit, gleicherweise steht im Verankerungszentrum der Ausgabe der Editor. Relative Sicherheit besitzt der Editor nur, wo sich der Autor in seinem Genius als Autor präsentiert. Nehmen wir wiederum Troeltsch als Beispiel. Dort, wo er die Ausgabe seiner Werke selbst autorisiert hatte, scheint ein relativ unproblematischer Fall vorzuliegen. Aber schon die Vereinigung „weit verstreut publizierter" Rezensionen in einem Band zwingt zu einer Reflexion auf die möglichen Projektionen, die in der Oszillation zwischen Autorenrolle, Editorenrolle und Leserrolle liegen. 41 Noch schwieriger wird das maßvolle Geschäft, wenn Diktate oder Notizen zu Vorlesungen zu Werken in einer Werkausgabe stilisiert werden. Das Verhängnisvolle wird erreicht, wenn etwa der nie erschienene zweite Band der Historismus-Monographie „rekonstruiert" würde. Es würde sich verlohnen, eine Liste angekündigter,
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Darauf macht nachhaltig aufmerksam Petra Bahr: Protestantische Theologie im Horizont der Kulturwissenschaften, in: Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band II, Stuttgart, Weimar 2004, S. 656-670. Vgl. dazu Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie, Frankfurt a. M. 2003, S. 44 ff. - Für die Verunklarung von Autor, Leser und Editor vgl. Jorge Luis Borges: Pieere Menard, Autor der Quijote (Fiktionen. Erzählungen [Werke in 20 Bänden], Band 5, Frankfurt a. M. 1992, S. 35 ff.).
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insbesondere zweiter Bände anzulegen. Diese Liste, von der ich mich selbst keinesfalls ausnehme, verweist auf die imaginative Indexikalität, auf die ich noch zu sprechen komme. Beispiele für die bewußte Verunklarung der Rollen zwischen Autor, Editor und Leser besitzen wir genug. Diese sind es, die protestantismustypisch zu sein scheinen. Jahrelang wurde mir durch drei theologische Examina hindurch beigebetet, ich hätte es bei den Übersetzungsübungen im Fach Neues Testament mit einem, dem entscheidenden „Buch" zu tun. Tatsächlich beugte ich mich über den Nestle-Aland. Um mich an die eigene Nase zu fassen: Als Einzelbandherausgeber im Rahmen der Dietrich-BonhoefferWerke wurde ich mehrfach Zeuge einer Szene, die darauf beharrte, daß weiterhin eine „Ethik" in die Reihe der „Bücher" aufgenommen wird. Tatsächlich handelt es sich um Fragmente, Entwürfe und Anläufe, Manuskripte und Zettel, keinesfalls um ein - examensrelevantes - Buch. Ein Buch „Widerstand und Ergebung" hat Bonhoeffer nie geschrieben. Wir verdanken es Eberhard Bethge: Freund und Erbe, Autor, Leser und Editor. IV. Der Aufwand der Editionspraxis - der gigantische Apparat der paratextuellen Operationen, die die Unverdaulichkeit wie Unerschwinglichkeit der Edition nach sich ziehen - spricht davon, daß Editionen Klassiker in das kulturelle Gedächtnis, die Bibliothek der Klassiker, gleichzeitig einfügen wie auch eben dadurch aus diesem aussondern und der Rezeption geradezu entziehen. Editionen bauen an dem Phantasma der unendlichen Bibliothek maßgeblicher Bücher. Die Phantasmatik der Bibliothek wird begleitet und zuweilen unterlaufen durch das, was man die imaginative Indexikalität nennen müßte. Die ultimative Textgestalt, die in den Editionen zur Aufführung gelangt, in Vertrieb gelangt und in der Bibliothek verschwindet, verweist auf das Ungeschriebene, Ausgestrichene, Überarbeitete. War das gemeint, als Karl Barth von dem „Rätsel der Urkunde" sprach? Schleiermacher war vorsichtiger, aber nicht weniger riskant. Er sprach vom „Supplementieren". Gäbe es die Dimension der imaginativen Indexikalität nicht, wäre kaum zu erklären, warum neue Werke auftauchen, oftmals im konsequenten Verstoß gegen den jeweils vorherrschenden Stil der genuinen Indexikalität, die sich unter anderem in Klassikereditionen dokumentiert. Medienumbrüche und Stilwechsel sind Indikator der imaginativen Indexikalität. Sie entste-
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Erinnerungsarbeit d u r c h Klassikeredition
h e n aus der Subversion gegen das B e m ü h e n u m g e n u i n e Indexikalität, ind e m sie diese als degenerierte Indexikalität b e h a u p t e n . Das P r o g r a m m k o n s e q u e n t e r Selbsthistorisierung läuft selbst auf ein P h a n t a s m a zu, das bereits i m Mittelpunkt einer f r ü h e n Allegorie steht. D e n T u r m b a u v o n Babel darf m a n
sich i m R a h m e n der Frage
nach
Klassikereditionen vorstellen als Bücherstapel, als u n e n d l i c h e Fülle, die zur Zerstreuung, m o d i s c h gesagt, z u m „geistigen R a u m der
Pluralität"
führt. Das P h a n t a s m a k a n n t e a u c h i m m e r (Schleiermacher, Borges, Canetti, Barth, E c o ) d e n in d e n Vorgang der Historisierung Löschbefehl.
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eingebauten
W e r k e n n t n o c h d e n in die G e s c h i c h t e der Schreibsysteme
g e h ö r e n d e n Befehl F-Zehn, Markieren Alles, Delete? Ein spätes Beispiel für d e n Löschbefehl besitzen wir in d e m V o t u m , hierin d e m Furor des Philologen Nietzsche g a n z ä h n l i c h , d a ß es darauf a n k ä m e , d e n Punkt zu erreichen, „ w o ich es [ . . . ] n a h e z u vergesse, d a ß ich [ . . . ] der A u t o r b i n " . 4 3 W o h e r wissen wir d a v o n ? P a r a d o x a u c h hier: d u r c h eine Ges a m t a u s g a b e i m u n e n d l i c h e n U n i v e r s u m der Bücher. U n d aus der Biblio-
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Zum Motiv der Löschung vgl. Schleiermacher: Für den „Schreck der Selbstvernichtung" (129) wird man dadurch belohnt, daß man eine heilige Schrift „wohl selbst machen könnte" (110; zitiert nach der Meckenstock-Ausgabe, Berlin, New York 1999); zur Bibliotheksapokalypse vgl. vor allem Elias Canetti: Die Blendung (1935) und Umberto Eco: II Nome della rosa (1980); mit diesem Motiv arbeitet bereits Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel (1941/1944). Auf Löschung der Urkunden geht auch Karl Barth aus (Römerbrief XII), freilich um „ihn" reden zu lassen und in „seinem Namen zu reden". Nietzsche war radikaler, freilich auch im Zeichen eines „fünften Evangeliums": „Mit dem Wort ,das Unhistorische'" bezeichne ich die Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einem begrenzten Horizont einzuschliessen." (KSA I, S. 330). - Das entgegengesetzte Phantasma lautet, daß die technologischen Möglichkeiten der Speicherkapazitäten es möglich machen könnten, den Raum der Kommentare tatsächlich auszufüllen. So Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie, Frankfurt a. M. 2003, S. 8 4 - 8 7 . Dies erinnert sehr an Leibniz' Idee einer idealen Bibliothek eines Universalhistorikers. Vgl. dazu Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981, S. 130 ff.
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Karl Barth: Der Römerbrief, sechster Abdruck der neuen Bearbeitung, München 1933, S. XII (Vorwort zur zweiten Auflage 1921). - Vgl. zu diesem Gestus Friedrich Wilhelm Graf: Geschichte durch Übergeschichte überwinden. Antihistoristisches Geschichtsdenken in der protestantischen Theologie der 1920er Jahre, in: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1 8 8 0 - 1 9 4 5 , Frankfurt a. M. 1997, S. 2 1 7 - 2 4 4 .
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thek der Klassiker ist unter der Signatur NSB 7 8 2 2 zu entleihen und darin zu finden: „Von der Philologie lebe ich in einer übermüthigen Entfremdung [ . . . ] . So lebe ich mich allmählich in mein Philosophentum hinein." 4 4 Kann man sich aber Philosophentum ohne Klassiker und Kanon wirklich vorstellen? Epigonen sind wir allemal. 45 Soll m a n sich dabei bescheiden?
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Friedrich Nietzsche während der Arbeit an der „Geburt der Tragödie" an seinen Freund Erwin Rohde. - Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff hat mit seinen Protetstnoten (vgl. ders.: Zukunftsphilologie! Berlin 1872 und Berlin 1973) den Philologen Nietzsche der Philologie endgültig entfremdet. Vgl. hierfür Harold Bloom: The Anxiety of Influence, Oxford 1973.
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TRUTZ RENDTORFF Geschichte durch Geschichte überwinden. Beobachtungen zur methodischen Struktur des Historismus „Geschichte durch Geschichte überwinden" - diese vielzitierte, griffige, verheißungsvoll klingende, aber doch auch änigmatische Formel hat, für sich genommen, den Status eines Slogans angenommen, der sich für mancherlei Verwendungen eignet. Wird mit dieser Formel die „Überwindung des Historismus" überhaupt angekündigt? In dieser Deutung hat die Formel vermutlich bei der Namensgebung für die postume Edition der „Fünf Vorträge für England" Pate gestanden. 1 Als Überschrift eignet sie sich, um das Verhältnis von „Historismuskonzept und Gegenwartsdeutung" 2 kritisch ins Auge zu fassen. Sie kann als „Vorschlag zur Lösung der Probleme" des Historismus3 oder für „Inspirationen zur Deutung und zur handelnden Bewältigung der eigenen Situation" 4 ebenso zitiert werden wie als Zusammenfassung der „Problembeschreibung", mit der Troeltsch sein Buch abschließt. 5 Die Edition dieses letzten großen Werkes von Ernst Troeltsch, auf dessen letzter Seite sich die Formel findet, ist der gegebene Anlaß, ihm er-
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Siehe dazu den Editorischen Bericht in: Ernst Troeltsch: Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland. Christian Thought. Its History and Application (1923) / Der Historismus und seine Überwindung (1924) (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 17) (im folgenden: KGA 17), erscheint 2006. So bei Hartmut Ruddies: „Geschichte durch Geschichte überwinden". Historismuskonzept und Gegenwartsdeutung, in: Wolfgang Bialas, Gerard Raulet (Hg.): Die Historismusdebatte in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1996, S. 1 9 8 - 2 1 7 , hier S. 217. Vgl. Christoph Schwöbel: „Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden". Theologischer Wahrheitsanspruch und das Problem des sogenannten Historismus, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus" (Troeltsch-Studien, Band 11), 2. Aufl., Gütersloh 2003, S. 2 6 1 - 2 8 4 , hier S. 261. Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus" (Troeltsch-Studien, Band 11), 2. Aufl., Gütersloh 2003, S. 2 3 - 6 4 , hier S. 44. Christoph Schwöbel: „Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden" (wie Anm. 2), S. 282. Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2004, S. 215.
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neut Aufmerksamkeit zuzuwenden. 6 Bereits im Vorfeld der Edition war der „Historismus" 7 Thema einer kritischen wie konstruktiven Auseinandersetzung. 8 Ihr kontroverser Charakter reichte von der dezidierten Feststellung eines Scheiterns des im „Historismus" verfolgten Projekts 9 bis zu einer Rekonstruktion dieses Werkes als eines in sich konsistenten systematischen philosophisch-theologischen Konzepts. 10 Es soll hier offen bleiben, wieweit Urteile dieser Provenienz diesem so umfassend dem geschichtlichen Denken verpflichteten Opus gerecht werden. Nicht nur die dem Troeltschschen CEuvre eigene, im Laufe seiner Entwicklung zunehmende Komplexität, ebenso die bei jeder Rezeption und Interpretation mitwirkenden Interessen geben Anlaß zu der Frage, ob es einen methodischen Faden gibt, an dem sich sowohl die Kritik an Troeltschs „Historismus" als auch seine gegenwärtige Rezeption orientieren und messen ließen. 11 In der neueren Troeltschforschung wird dieser Komplexität Rechnung getragen, indem Ernst Troeltsch als prominenter Mitspieler im Kreise der intellektuellen Diskutanten auf der wissenschaftlichen und politischen Bühne seiner Zeit entdeckt wird. 12 Kontextualisierungen im kulturwis-
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Vgl. Emst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (1922), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger (KGA 16/1-2), erscheint 2006. Im folgenden wird nach der Ausgabe zitiert: Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 3. Band) (im folgenden: GS III), Tübingen 1922, im Text fortlaufend als „Historismus" zitiert. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus" (TroeltschStudien, Band 11), 2. Aufl., Gütersloh 2003. So Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma (wie Anm. 3), S. 49. Vgl. Christoph Schwöbel: „Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden" (wie Anm. 2), S. 261 ff. Die folgende Untersuchung nimmt insofern eine Intention auf, die Hartmut Ruddies als Desiderat formuliert hat. Er forderte, die Parole „Geschichte durch Geschichte überwinden" müsse „auf das Historismuskonzept Troeltschs selber angewendet werden", da sie „auf ein neues Konzept historischen Verstehens" ziele. Hartmut Ruddies: „Geschichte durch Geschichte überwinden" (wie Anm. 2), S. 217. Dieses Konzept wird am Ende des „Historismus" bereits klar erkennbar. Siehe dazu jetzt die Interpretation von Gangolf Hübinger: Ernst Troeltsch Die Bedeutung der Kulturgeschichte für die Politik der modernen Gesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 189-218. Hübinger bezeichnet sein Unternehmen, „Ernst Troeltsch im wissenschaftlichen und politischen
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senschaftlichen Diskurs können die überindividuelle Biographie eines politischen Professors in neues Licht setzen und ihr im politischen und wissenschaftlichen Positionskampf und Meinungsstreit ein interessantes Profil geben, das für lange Zeit primär von seiner umstrittenen Rolle in der akademischen protestantischen Theologie geprägt war. Die Edition der Troeltsch KGA hat mit und neben ihrer Funktion, einer neuen und aktualisierenden Aufmerksamkeit für diesen Theologen zu dienen, zugleich auch den Effekt, eine Historisierung seiner Wahrnehmung anzuregen und zu befördern. Dazu gehört in erster Linie, den Texten selbst und für sich genommen erneute Aufmerksamkeit zuzuwenden, relativ unabhängig von ihrer Nutzung als Quelle in der Vernetzung mit den Interessen ihrer kulturwissenschaftlichen Aktualisierung. Die folgenden Beobachtungen nehmen deswegen von diesem weitläufigen Diskurs zunächst bewußt Abstand. 13 Dieses Vorgehen empfiehlt sich besonders für das Verständnis der Formel „Geschichte durch Geschichte überwinden"; sie wird in aller Regel ohne Bezug auf den Kontext verwendet, in dem sie bei Troeltsch selbst steht. Deswegen setzen meine Beobachtungen am Ende des „Historismus" an, genauer an dem Text des „Historismus", der mit der Formel „Geschichte durch Geschichte überwinden" endet (GS III, S. 772). Exegese von Texten ist bekanntlich der elementare erste Schritt historischer Forschung, sie ist gleichsam der erste Schritt auf dem Weg des Historismus. Eine Relektüre der Schlußabschnitte des „Historismus" (GS III, S. 7 6 7 772) belehrt über den Kontext, in dem die Formel von Troeltsch geprägt wurde. Am Ende des „Ersten Buches" angekommen, kündigt der Autor an, nun könne man „an die Kulturarbeit der Gegenwart gehen"(GS III, S. 767), mit dem erleichtert-entschuldigenden Zusatz, das „Nähere" müsse „dem nächsten Bande überlassen bleiben". Da der Tod dem Autor die Feder aus der Hand genommen hat, bleibt die Formel (GS III, S. 772) änigmatisch zurück,
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Feld des beginnenden 20. Jahrhunderts zu positionieren" (S. 189), als Resultat der editorischen Arbeit an der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Ernst Troeltschs (S. 190), vgl. Ernst Troeltsch: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (KGA 15), Berlin, New York 2002. Auch die Sekundärliteratur zu Troeltsch und zur Troeltschforschung wird nur gelegentlich ausdrücklich zitiert.
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wenn ihre Erklärung, wie denn „Geschichte" durch „Geschichte" überwunden werden kann und soll, von dem materialen Entwurf einer Kultursynthese erwartet wird. Aber ist es so? Bevor jedoch die „Kulturarbeit der Gegenwart" in Angriff genommen wird, fügt Troeltsch deren Ankündigung eine retardierende Zwischenbemerkung an. Sie enthält „drei wichtige Erkenntnisse", die „zum Schluß" des bis dahin Erarbeiteten gehören und der „besonderen Hervorhebung und Unterstreichung" bedürfen. Sie stellen in methodischer Hinsicht die „Plattform" (GS III, S. 772) dar, auf der die künftige Ausarbeitung, der „Aufbau" errichtet werden soll. Diese „wichtigen Erkenntnisse" bilden den näheren textlichen Zusammenhang, in dem die änigmatische Formel „Geschichte durch Geschichte überwinden" zu lesen ist. Hier ist explizit von der „Lösung des Rätsels des gegenwärtigen Historismus" zu lesen. Diese „drei wichtigen Erkenntnisse" sind darum wichtig, weil sie die Methode herauskristallisieren, wie Troeltsch sie für das Verhältnis von historisch-exakter Forschung und materialer Geschichtsphilosophie zugrunde legt. Der Exegese dieser „drei wichtigen Erkenntnisse" soll darum jetzt die Aufmerksamkeit gelten. Ein erster Rezensent, Manfred Schroeter,14 bezeichnete diese drei Erkenntnisse als „unvergleichlich wertvolle methodologische Bemerkungen". 15 Zugleich gibt er seiner tiefen Enttäuschung darüber Ausdruck, daß der Leser am Schluß nicht mehr über die Zukunft erfahre, die „Ferndeutung" in „keinem fassbaren Ertrag realisiert werde". Statt dessen werde der erwartungsvolle Leser mit dem das IV. Kapitel beschließenden Satz mit einer „ins Unbestimmte zerfließenden Allgemeindeutung vager Zukunftsaufgaben" entlassen. Dieses Urteil gilt dem vom Rezensenten zitierten Satz: „Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen" (GS III, S. 772). Diese Enttäuschung gehört in der einen oder anderen Form zum Stan14
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Den Hinweis auf diese Rezension verdanke ich dem Editorischen Bericht zu KG A 16. Dem Text des IV. Kapitels liegt ein Vortrag von Ernst Troeltsch zugrunde, den er 1918 gehalten hat und der 1920 in „Schmollers Jahrbuch" erschienen ist. Die hier exegesierten Passagen sind von Troeltsch unverändert in den „Historismus" übernommen worden. Manfred Schroeter: Der Aufbau der europäischen Kulturgeschichte I und II. Vortrag, gehalten von Ernst Troeltsch 1918. Jetzt neu herausgegeben im 3. Heft von Schmollers Jahrbuch (XLIV) 1921(sic!), in: Münchner Neueste Nachrichten, 74. Jg., 26.4.1921, Nr. 175, S.l, und Nr. 176, S.l, das Zitat in Nr. 176.
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dardrepertoire von Troeltschdeutungen. Für eine sich neu bestimmende Troeltschforschung kann das aber kein Maßstab mehr sein. Bei der inzwischen gerade in methodologischer Hinsicht tiefgreifend veränderten Diskussionslage kann es dagegen von besonderem Interesse und Reiz sein, diesen methodologischen Erkenntnissen eigene Aufmerksamkeit zu widmen. I. Die drei wichtigen Erkenntnisse Die „drei wichtigen Erkenntnisse" folgen an der Stelle, an der die vorbereitenden Überlegungen für die „gegenwärtige Kultursynthese" abgeschlossen sind. „Das Nähere" auszuführen, muß „dem nächsten Bande überlassen werden" (GS III, S. 768). In Reduktion auf die essentials des Ertrags der bis dahin durchpflügten Gedankenmassen werden diese drei Erkenntnisse als „Folge der Einsicht in das Verhältnis soziologischer und ideologischer Elemente der Geschichte" (GS III, S. 768) eingeführt. In reflexiver Form heißt es, daß sie „gerade aus dem modernen Geschichtsdenken entspringen" (GS III, S. 768). In dieser Perspektive werden sie in substantiierender Kompression des wissenschaftsgeschichtlichen und geschichtstheoretischen Diskurses als „Elemente der Geschichte" (GS III, S. 768) bestimmt, womit sie nun selbst als Gegenstand der Geschichtstheorie behandelt werden können. In dieser doppelten Reflexion werden die im „Historismus" identifizierten „Probleme", verdichtet in dem problematischen Verhältnis von formaler und materialer Geschichtsphilosophie, selbst zu Strukturelementen einer materialen Geschichtstheorie. Statthalter der „Probleme" sind dabei die, in sich wieder höchst komplexen, Begriffe „soziologische" und „ideologische" Elemente der Geschichte. Die Bestimmung ihres Verhältnisses zueinander bildet insofern den theoretischen Rahmen der Idee einer materialen Kultursynthese. Die Probleme des Historismus werden also nicht einfach aufgelöst, zum Verschwinden gebracht oder zurückgelassen. Die analytischen Kategorien stellen in ihrem geschichtlich gedachten Verhältnis zueinander das methodische Gerüst der Synthese vor deren materialer Ausführung dar. Genau damit haben es die „drei wichtige[n] Erkenntnisse" (GS III, S. 768) zu tun. 1. Die „drei wichtigen Erkenntnisse" werden in drei „Sätzen" ausgeführt. Der erste „Satz" (GS III, S. 768-769) faßt das Verhältnis der soziologischen und ideologischen Elemente in eine Struktur des Wechselverhältnisses von
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soziohistorischer Bedingtheit „geistiger Kulturgehalte" und deren „Loslösung" vom ursprünglichen historischen Kontext. Dieses Wechselverhältnis wird als eine in sich differenzierte Struktur ausgewiesen: Die „geistigen Kulturgehalte" lösen sich von dem soziohistorischen Kontext, in dem sie entstehen, von ihrem „soziologischen Leib", ab; sie wandeln sich um zu „selbständigen geistigen oder Kulturprinzipien"; sie erzeugen ihre eigene Sozialwelt in Form von „Filiationen", die, aus den Teilnehmern an einer immer komplizierter sich differenzierenden „ selbständige [n] geistige[n] Geschichte" gebildet, „oberhalb der eigentlich realen Regionen" ihre eigene Geschichte haben. Dieser „Loslösungs-, Verselbständigungs- und Vergeistigungsprozeß" der zunächst „soziologisch bedingten Kulturgehalte", so die Beobachtung von Troeltsch, sei „eine der Grundtatsachen aller Geschichte", insbesondere jedoch der „mittelmeerisch-europäischen Geschichte". Diesem Prozeß der Loslösung und Verselbständigung der Kulturprinzipien korrespondiert die Funktion der ,,historische[n] Forschung", die darin besteht, die Ideen „wieder auf ihren Mutterboden zurück" zu führen. Die historische Forschung übt eine kritische Funktion aus gegenüber dem „Abstrakt-Werden", der „Dogmatisierung", „Rationalisierung" und „Scholastisierung" der ursprünglich lebendigen Kulturgehalte. In diesem Wechselverhältnis werden die Ideen wieder mit dem „konkreten, ursprünglichen und lebendigen Sinn" erfüllt. Die historisch-kritische Rekonstruktion führt jedoch dazu, daß die Inhalte „der Gegenwart entrückt und historisiert werden". 1 6 Entsprechend dem Wechselverhältnis setzt der „Prozeß der Loslösung" an dieser Historisierung an; der im Modus der Historisierung „verlebendigte Kulturgehalt" wird im Gegenwartsinteresse wieder in die Form allgemeiner Prinzipien überführt. „Loslösungen und Verallgemeinerungen" werden ebenso wie „beständige historisch-exakte Wiederbelebung" als Grundstruktur der Kulturgeschichte vorgestellt. In dieser Hinsicht sind sie „etwas völlig Normales und Notwendiges". Die Allgemeinheit dieser Beobachtung wird jedoch sogleich
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Dieser Historisierungseffekt ist ein zentraler Topos in der dogmatischen und kirchlichen Kritik an der historisch-kritischen Methode und bildet den prägenden Hintergrund für die Problemstellung von Ernst Troeltsch. Siehe dazu unten, S. 301 f.
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historisiert und spezifiziert, wenn hinzugefügt wird, dies sei vollends „in der reifen europäischen Kultur immer neu geschehen". Das Strukturmodell dieses Prozesses läßt erkennen, welchem Leitfaden Troeltsch im Aufbau der Kultursynthese zu folgen beabsichtigt. Die Struktur des Prozesses ist das systematisch strukturierte Ergebnis der „Probleme des Historismus", wie sie v o n Troeltsch in diesem „Ersten Buch" n a c h allen Seiten hin zielstrebig diskutiert worden sind. Die Theorieprobleme, die in der Frage nach dem Verhältnis zwischen allgemeinen philosophischen Prinzipien auf der einen Seite und der realwissenschaftlichen historischen Forschung auf der anderen Seite für den Historismus als Geschichtsphilosophie bestehen, können und sollen weder nach der Seite allgemeiner geschichtsloser Wahrheiten hin aufgehoben werden n o c h nach der Seite realitätsgesättigter historischer Einzelforschung hin zum Verschwinden gebracht werden. Wie ihr Verhältnis zu bestimmen ist, das erschließt sich erst einer Theorie, welche das hier obwaltende Wechselverhältnis selbst geschichtlich begreift, als strukturelle M o m e n t e einer Geschichte, die beide „Elemente" als Elemente der Kulturgeschichte begreifen läßt. Auf eine Formel gebracht: „Kultur" ist der Inbegriff der Synthese. Als formativer Grundbegriff des Historismus gibt er erst in der materialen Explikation als Kulturgeschichte seine Bedeutung als Leitbegriff der Geschichtsphilosophie zu erkennen. In diesen Passagen des „ersten Satzes" bezieht sich Troeltsch andeutungsweise auf die materialen Gehalte der Kulturgeschichte, die er zuvor als die „elementaren Grundgewalten"(GS III, S. 765) oder die „vier Urgewalten" (GS III, S. 767) skizziert hat. 1 7 Nicht diese „Grundgewalten" als objektivierbare historische Realien bilden für sich g e n o m m e n schon die theorierelevante Struktur der Kultursynthese. Sie wird erst dem Blick auf den funktionalen Zusammenhang in dem Wechselverhältnis der Elemente erkennbar. Ihr Zusammenhang wird bestimmt in der doppelten „Notwendigkeit" von „Verallgemeinerung" der geistigen Gehalte in Loslösung v o m soziohistorischen Kontext einerseits und der „ebenso n o t w e n d i g e n ] [...] historisch-exakte[n]" Historisierung der losgelösten Gehalte (GS III, S. 769) andererseits. Dieser notwendige Zusammenhang repräsentiert das Problem des Historismus. „Verallgemeinerung" als abstrakt gewordene Dogmatisie-
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Hier angedeutet als die „hebräische Ethik", der „griechische Klassizismus", oder als „Antike, Christentum, Mittelalter" (GS III, S. 7 6 8 f.).
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rung von Kulturprinzipien provoziert historische Kritik. Historisierung als reale „Wiederbelebung" der Ideen und Prinzipien provoziert deren neue Verallgemeinerung im Modus der Vergegenwärtigung; sonst versandet Historismus in den Quisquilien des „bloß Historischen" (GS III, S. 769). Der in diesem Wechselverhältnis obwaltende Zusammenhang macht „die Unruhe in unserer geistigen Uhr" 1 8 (GS III, S. 769) aus. An dieser Stelle führt Troeltsch deswegen aus.* Das ist „die Lösung des Rätsels des gegenwärtigen Historismus" (GS III, S. 769). Es lohnt sich, bei dieser Formulierung etwas zu verweilen. Welches „Rätsel" wird hier gelöst? Von einer „Lösung" der Probleme des Historismus ist bei Troeltsch immer wieder die Rede. Im Grunde könnte man darin gleichsam das Motto für seine theologische und philosophische Theoriearbeit identifizieren. Schon mit dem dafür signifikanten Text über die „Historische und dogmatische Methode" hatte er mit der Erklärung der historischen Methode zu seiner „theologischen Methode" die Gesamtheit der Probleme der modernen Theologie als Probleme des Historismus neu zu bestimmen gesucht. Die Absolutheitsschrift von 1902 ist der erste Entwurf zu einer religionstheoretischen „Lösung der Probleme" im Blick auf den Absolutheitsanspruch der christlichen Theologie. Im „Historismus" wird die „Lösung der Probleme" vielfach angesprochen. Solche Hinweise könnten zu einer Rekapitulation von Troeltschs Gesamtwerk einladen. Das ist hier nicht beabsichtigt. Die Problemstellung läßt sich ziemlich genau eingrenzen. Der Fokus der gesuchten oder intendierten „Lösung der Probleme" ist nicht, mit der Lösung der Probleme des Historismus den Historismus als Inbegriff des historischen Bewußtseins überhaupt ,los' zu werden und als erledigt hinter sich zu lassen. Die Rückkehr zur „Dogmatisierung" und zu anderen Formen ungeschichtlicher Verallgemeinerung ist ausdrücklich nicht gemeint. Auch die gesellschaftlich wirksamen Formen eines in kulturalen Mentalitäten auftretenden zeitgenössischen Relativismus sind nicht die primären
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Der Terminus „Unruhe" wird von Troeltsch hier als Metapher verwendet. Die „Unruhe" hält die geistige „Uhr" so in Bewegung wie die Feder die mechanische „Uhr". Karl Mannheim verwendet die „Unruhe" in seiner Lesart von Troeltsch, um damit die Reflexionsstruktur des Historismus zu beschreiben, Karl Mannheim: Historismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 52 (1924), S. 1-60, hier: S. 19. Vgl. dazu Reinhard Laube: Karl Mannheim
Geschichte durch Geschichte überwinden
„Probleme", u m deren Lösung es zu tun ist, so sehr sie im Gefolge des popularisierten Nietzscheanismus in deren Kontext präsent gewußt u n d mitdiskutiert werden. Die Formel „Geschichte durch Geschichte überwinden" ist als Bestimmung eines dem geschichtlichen Denken internen Aktes vorzustellen. Die Darstellung dieses Aktes in Kategorien im Nacheinander eines geschichtlichen Prozesses, wie in diesem „Ersten Satz", mündet bei präziser Lektüre in eine Gleichzeitigkeit von historischer Kritik und philosophischer Konstruktion, als Grundstruktur der „reifen europäischen Kultur" (GS III, S. 769). „Geschichte durch Geschichte überwinden" kann darum beides bedeuten: zum b l o ß Historischen gewordene „Historisierung" durch „Prinzipien" überwinden wie abstrakt gewordene „Prinzipien" durch „Historisierung" überwinden. Das macht die „Unruhe" in der „geistigen U h r " aus. 1 9 Damit verschwinden die Probleme des Historismus nicht. Historismus als Kurzbegriff des komplexen geschichtlichen Denkens ist beides. Aber ihre Wahrnehmung, die Problembeschreibung verändert sich. Das „Rätsel", wie die differenten Elemente der Probleme zusammenhängen, erklärt sich für den Blick aus einer veränderten Perspektive. Das läßt sich in einem Vergleich damit aufweisen, wie Troeltsch früher die Metapher vom „Rätsel" verwendet hat. In der Abhandlung über „Moderne Geschichtsphilosophie" 2 0 ( 1 9 0 4 ) diskutiert Troeltsch (im Anschluß an Rickert) das Problem der Maßstabbildung. Im Kontext der neukantianischen Theoriebildung kommt er zu dem Punkt, an dem das Postulat einer „neuen Synthese", in der „wir den geschichtlichen Erwerb und die lebendige Gegenwart [...] zusammenfassen", mit der etwas erschöpft klingenden
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und die Krise des Historismus (wie Anm. 5), S. 241, ohne Bezug auf Troeltschs Verwendung des Terminus. In diesem Sinne von „Unruhe" versteht Karl Mannheim die „Kraft des Historismus", als eine Philosophie, die das „uns bewegende Element (das Dynamische)" geradezu zum „archimedischen Punkt macht", Karl Mannheim: Historismus (wie Anm. 18), S. 60. Mit seiner These der „Dynamisierung" eines statischen Vernunftbegriffs verbindet Mannheim das Urteil, dies sei wohl „der letzte Sinn der Formel Troeltsch's, die Geschichte durch Geschichte zu überwinden" (S. 58). Ernst Troeltsch: Moderne Geschichtsphilosophie, in: Theologische Rundschau 6 (1903), S. 3-28, S. 57-72, S. 103-117. Troeltsch nahm diesen Text auf in: Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, S. 673-728. Im folgenden wird nach dieser Ausgabe (GS II) zitiert.
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Feststellung bilanziert wird: „Damit sind wir aber wieder bei dem [...] Zirkel", nämlich dem „Zirkel zwischen dem erkenntnistheoretischen und dem psychologischen Subjekt". Hier fällt der Begriff, dieser Zirkel sei das „Urrätsel aller Wirklichkeit und alles Menschlichen, in dem alle anderen Rätsel [...] begründet sind". 2 1 Auch hier identifiziert Troeltsch die „Elemente einer Lösung des Problems" in der „Notwendigkeit" des Zirkels, also in einer Lösung, die das Problem nicht erledigt und zum Verschwinden bringt, sondern erklärt, also enträtselt. Es bleibt die „Paradoxie" der Subjekt-ObjektSpannung „oder", wie diese in der Lösung umdefiniert wird, die „Synthese von Tatsache und Idee". Das „Rätsel" wird am Ende des „Historismus" anders erklärt, die Problemelemente werden anders wahrgenommen. Das „Subjekt" tritt gleichsam aus dem erkenntnistheoretischen Zirkel heraus und n i m m t statt dessen die Position des Beobachters des Wechselverhältnisses ein. Jetzt verbindet Troeltsch die Problembeschreibung mit wissenssoziologischen Kategorien. 2 2 Historisierung als Methode kritischer historischer Forschung und geschichtsphilosophische Konstruktion von Prinzipien können so als Elemente der Geschichte wissenssoziologisch verortet werden. Als theoretische Artefakte werden sie aus ihrer jeweiligen geschichtlichen Funktion bestimmbar. Die wissenssoziologische Wahrnehmung der Probleme des Historismus erlaubt so eine signifikant andere Erklärung des „Rätsels" als die Suche auf den Spuren Rickerts. Die wissenssoziologische Perspektive wird als solche bei Troeltsch nicht explizit thematisiert. Sie stellt im Procedere die Mittel bereit, die spezifische Funktion des Historismuswissens genauer zu bestimmen und einzugrenzen. Das ist Inhalt des zweiten Satzes, mit der Einführung der Metapher v o m „soziologischen Leib".
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GS II, S. 709. Vgl. dazu Friedemann Voigt: Inseln auf d e m europäischen Kontinent. Georg Simmel in Troeltschs Historismus-Band, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus" (Troeltsch-Studien, Band 11), 2. Aufl., Gütersloh 2003, S. 65-93. Voigt hat in seiner wichtigen Untersuchung die Bedeutung Simmeis für den „Historismus" herausgearbeitet und bis zu dessen wissenssoziologischer Rezeption durch Troeltsch hin durchgeführt, wie sie in d e m hier exegesierten Schlußteil erkennbar wird (vgl. S. 89 ff.). Dessen Bedeutung für die Grundstruktur des Konzepts des „Historismus" wie der geschichtlichen Methode überhaupt geht über die Beobachtungen Voigts hinaus.
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Geschichte durch Geschichte überwinden
2. Der „zweite Satz" (GS III, S. 7 6 9 - 7 7 0 ) erörtert vor dem Hintergrund der Matrix eines Wechselverhältnisses zwischen soziohistorischer Rekonstruktion der Genese geistiger Gehalte und ihrer Verselbständigung zu allgemeinen Prinzipien die Frage, wessen Rätsel überhaupt erklärt wird und wem das Wissen u m diese Struktur dient. Die Klärung der Aufgabe, die „geistigen Kulturgehalte [...] historisch zu vergegenwärtigen" und durch „Verarbeitung der Geschichte neu zu ordn e n " , ist Sache der Wissenschaft, der Geschichtsphilosophie. In Hinsicht auf die Soziologie der Gegenwart, 2 3 den „soziologischen,
ökonomisch-
rechtlichen Bestand der Gegenwart" (GS III, 769), hat die historische Forschung keine unmittelbare
Relevanz. Diese Gegenwart ist
„selbst
lebendiger Leib" (GS III, S. 770), sie verlangt n a c h keiner historischen Rekonstruktion; für die „praktische Lebensbildung" bedarf es „keines Historismus" (GS III, S. 770), keiner durch geschichtliches Denken erst vermittelten Verlebendigung; die Gegenwart ist etwas „unmittelbar Gegebenes", für den „Lebenskenntnis und Lebensorientierung Suchenden" bedarf sie „keiner endlosen historischen Unterbauung und Vergleichung" (GS III, S. 770). Das liest sich wie ein expliziter Verzicht auf den Anspruch
von
Geschichtsphilosophie, inklusive Geschichtstheorie und historischer Forschung, als Sinngeber praktisch relevantes Orientierungswissen vermitteln zu wollen. 2 4 Die „praktische Lebensbildung" braucht anderes, sie bedarf „heller und klarer Beobachtung, praktischen Sinnes und eines durch Theorie nicht verbildeten Verstandes" (GS III, S. 770). Letzterer ist besonders wichtig, weil es in der Lebenspraxis um „tausend praktische Einzelheiten und deren Zusammenwirken zu einer nicht logischen, sondern praktischen Systematik" zu tun ist.
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Helmut Schelsky hat in einer ingeniösen Formulierung die empirische Soziologie als „Sozialgeschichte der Gegenwart" bestimmt, Helmut Schelsky: Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf 1959, S. 74. Es wäre interessant, daraufhin die Rolle des Politikers Troeltsch mit der Frage zu konfrontieren, welchen Status seine politischen Schriften und sein politisches Selbstverständnis in der Selbsteinschätzung Troeltschs haben. Vgl. dazu die Einleitung von Gangolf Hübinger zu KGA 15 (wie Anm. 12). Bei genauerem Zusehen bietet Troeltsch hier alia breve ein Fazit seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche.
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Trutz Rendtorff
Diese
wissenssoziologisch
inspirierte
Unterscheidung
exemplifiziert
Troeltsch an dem „Gebildeten". 2 5 Als „an der Historie philosophisch Interessierte [r]" n i m m t der Gebildete für den Beobachter gleichsam die Rolle des Geschichtsphilosophen im „lebendigen Leib" ein. Er m u ß „bei den Kulturgehalten", also den ideologischen Elementen, ein „anderes Verhältnis zur Historie zugrunde legen als bei der praktischen soziologischen Lebensordnung" (GS III, S. 770). In einem kleinen Ausflug in die Bildungspolitik gibt Troeltsch hier den Ratschlag, die „allgemeine historische Bildung" dürfe sich, jedenfalls für die „vormodernen Zeiten", auf „Geistesgeschichte" beschränken (GS III, S. 770). Für das Verhältnis der Gebildeten zur Gegenwart habe dagegen die Konzentration auf die „Bildungsgeschichte seit der Übergangszeit des 16. Jahrhunderts" praktische Bedeutung, für die es keiner weiter zurückreichenden Historie bedarf. Befreit von dem „Ballast", der nur „das Schiff der Gelehrten zu belasten bestimmt ist", 2 6 kann er so an der praktischen Kulturaufgabe der Gegenwart teilnehmen, aus der Bildungsgeschichte der Moderne heraus die „der Zukunft sich entgegenbildenden Kräfte herauszuspüren" (GS III, S. 770). Die Rolle der Gebildeten in dem Wechselverhältnis von Historisierung und Konstruktion ruht also auf der Seite der neuen „Verlebendigung", partizipiert an der Bildung einer neuen Kultursynthese. Darum kann
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Anführungszeichen im Original. Der ursprüngliche Ort des Vortrages war die Generalversammlung des „Bundes deutscher Gelehrter und Künstler" im Jahr 1918. Vgl. dazu die ausführlichen Informationen im Editorischen Bericht zu KGA 16. Der Titel des Vortrages lautete „Die Bedeutung des geschichtlichen Wissens für unsere heutige Bildung". Die Erstveröffentlichung in „Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich" 44 (1920) trug dann den Titel „Der Aufbau der europäischen Kulturgeschichte". Ein analoges Motiv der Entlastung vom Gelehrtenwissen der Historiker ist zu beobachten in der Absolutheitsschrift, in den Ausführungen zur „naiven Absolutheit" (Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, in: ders.: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler [Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 5] [im folgenden: KGA 5], Berlin, New York 1998, S. 81-244, hier S. I l l , S. 218-220, S. 223-225, S. 2 2 8 232, S. 243, S. 236, S. 238-241), aber auch bei Adolf von Harnack im „Wesen des Christentums", hier zitiert nach der von Trutz Rendtorff herausgegebenen und kommentierten Ausgabe, Gütersloh 1999, bes. S. 261 f.
Geschichte durch Geschichte überwinden
und m u ß sie historisch „vereinfacht und konzentriert" werden. In dieser Rolle figuriert er als Repräsentant der ,Kulturschaffenden' am Ort der praktisch gelebten Geschichte. Der ist aber nicht identisch mit d e m Ort der Wissenschaft. 2 7 Troeltsch hat diesen „zweiten Satz" als „Umkehrung" (GS III, S. 769) des ersten eingeführt. Der Wechsel zur Perspektive auf die lebendige Gegenwart korrespondiert der Funktion der Rekonstruktion des historischen Ortes der Prinzipien, die deren neue Verlebendigung im Modus der Gegenwart provoziert. 3. Der „dritte Satz" (GS III, S. 771), 2 8 der die beiden ersten vereinigt, betrifft die zuvor angekündigte „praktisch-kulturelle Aufgabe der Gegenwart" (GS III, S. 780). In der ursprünglichen Fassung des Textes folgte hier die einschränkende Bemerkung „soweit sie auf dem Gebiet der Erkenntnis und des Denkens liegt". 2 9 Entsprechend der methodischen Struktur geht es jetzt u m die Aufgabe der Geschichtsphilosophie, u m den Weg der „Wiederablösung vom bloß Historischen" (GS III, 769), auf dem „Ideologisches und Soziologisches nicht mehr getrennt, sondern in seinem engen Zusammenhang gesehen und verstanden werden" muss. Das Programm wird entsprechend dem Wechselverhältnis der methodischen Grundstruktur doppelt bestimmt: nach der soziohistorischen Seite hin als Aufgabe einer Soziologie der Gegenwart, als „Herausarbeitung eines klaren Bildes der gegenwärtigen soziologischen Lebensordnung", in der Struktur ihrer „praktisch-materiellen" und „psychologischen Verhältnisse". Diese Aufgabe korrespondiert dem Historisierungseffekt, der die Ideen und Prinzipien der Gegenwart zunächst entrückt hat und damit die Frage nach ihrem Bezug zur gegenwärtigen historischen Realität provoziert. Nach der praktischkulturellen Seite hin als Aufgabe der Geschichtsphilosophie, als „Vereinfachung und Vertiefung der kulturellen Gehalte", die „aus dem Schmelztiegel des Historismus in neuer Geschlossenheit und Vereinheitlichung" hervorgehen sollen.
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Das Ineinander wissenschaftlicher, d. h. methodisch kontrollierter Erkenntnisse und Gegenwartsdeutung in Form von Kämpfen um politischpraktische Deutungshoheiten bestimmt dagegen den Diskurs der inter- (oder außer-)disziplinären Kulturwissenschaften. Dieser „Satz" umfaßt nur eine halbe Seite. Ernst Troeltsch: Der Aufbau der europäischen Kulturgeschichte, in: Schmollers
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Die Wahrnehmung dieser Aufgabe wird keiner ahistorischen oder überhistorischen Autoritätsinstanz zugewiesen, sondern, wiederum aus dem Beobachterstatus, einem gleichsam kollektiven, wissenssoziologisch vorgestellten Subjekt: in der Vereinigung von „Wissenschaft, Bildung, Philosophie, Schule und Literatur". Deren Funktion ist gleichfalls nicht in einem Jenseits der Geschichte verortet, soll sie doch in Perspektive des Zusammenhanges des „Soziologischen" und „Ideologischen" wahrgenommen werden. Dafür steht die von Troeltsch verwendete metaphorische Beschreibung der Aufgabe, „dem (wiederbelebten) ideologischen Gehalt einen neuen (gegenwärtigen) soziologischen Leib zu schaffen und den soziologischen Leib mit einer neuen und frischen Geistigkeit [...] zu beseelen"; die Ausdrücke „neu" und „frisch" beziehen sich dabei auf die Arbeit an einer „neuen Zusammenfassung, Anpassung und Umbildung der großen historischen Gehalte" (GS III, S. 771). Damit ist die Rekapitulation der methodischen Struktur des Historismus und seiner Probleme durchgeführt und abgeschlossen. Sie bildet den Nukleus der Formel „Geschichte durch Geschichte überwinden". Daß es sich so verhält, dafür spricht die ihr unmittelbar vorangehende Feststellung, es handele sich u m eine Aufgabe, die „immer für jede Epoche bewußt oder unbewußt bestand", deren geschichtlichen Charakter zu verstehen aber, so wäre hinzuzufügen, ist die besondere Leistung des reflektierten Historismus. Weswegen sie bewußt wahrzunehmen, „für unseren Lebensmoment ganz besonders dringend" ist. O h n e diesen Bezug bleibt die Formel änigmatisch, d. h. lädt sie zum Raten ein. Auf diese Reflexionsstruktur bezieht sich die Formel „Geschichte durch Geschichte überwinden" . Diese methodische Struktur fungiert als das organisierende Prinzip in den inhaltlich und sprachlich höchst komplexen Ausführungen, in denen Troeltsch die inhaltlichen, soziohistorischen und philosophischweltanschaulichen Probleme des real existierenden Historismus transparent zu machen sucht. Darauf hat sich die hier u n t e r n o m m e n e exegetische Rekonstruktion bezogen. Deren Ergebnis widerspricht dem weit verbreiteten und oft wiederholten Urteil, dem „Historismus" mangele es an begrifflicher Konsistenz, er sei voller Widersprüchlichkeiten, stelle eine Komposition unter sich heterogener Studien dar und strebe vor allem
Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 44 (1920), S. 1-48, hier S. 47.
Geschichte durch Geschichte überwinden
mit der Idee der Kultursynthese ein universal-unhistorisches Einheitsideal an. 3 0 II. Glaube und Entscheidung - geschichtliche Bewegungsbegriffe 1. Anstoß zur Kritik gab und gibt immer wieder die kurze Passage, die dem Abschluß der „drei wichtigen Erkenntnisse" folgt (GS III, S. 771). Die Beschreibung der praktischen „Aufgabe" beendet Troeltsch mit dem Satz „Wie man das m a c h e n soll und kann, dafür gibt es dann freilich keine Anweisung" (GS III, S. 771). Darauf folgen Sätze, in denen Bedenken erregende Formulierungen stehen wie „schöpferische Tat und Wagnis der an eine Zukunft Glaubenden", „gläubige und mutige M e n s c h e n " , die keine „Skeptiker und Mystiker" sind, aber auch keine „rationalistischen Fanatiker" oder „historisch Allwissende". Das sind Formulierungen, die auf die eine oder andere Weise nicht nur schon zuvor im „Historismus" begegnen; gleiche und äquivalente Begriffe begegnen dem Leser in sehr vielen Texten Troeltschs. Darauf wird gleich noch einzugehen sein. Man könnte sie als Bewegungsbegriffe bezeichnen, die den individuellen und personalen Vollzug dessen zum Ausdruck bringen, was im theoretischen Begriff der geschichtlichen Bewegung intendiert wird. Hier, am Ende des „Historismus", werden diese Begriffe oder Ausdrücke wieder in eine soziologische Struktur eingezeichnet. Es k ö n n e dies, so heißt es, nicht „das Werk eines Einzelnen" sein, 3 1 vielmehr „das Werk vieler", im „weiteren Kreis", in dem die inhaltlichen Ausformungen der Kulturgehalte „von verschiedenen Punkten her sich zusammenleben". Diese Formulierungen verlieren den Anschein des vage Unbestimmbaren, wenn m a n sie, was ja auf der Hand liegt, als Paraphrase der zuvor bestimmten Kooperati-
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Vgl. dazu die Kritik bei Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch: Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Josef Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen (Philosophie der Neuzeit, Band 4), Göttingen 1986, S. 128-164, bes. S. 159 f., sowie bei Hartmut Ruddies: „Geschichte durch Geschichte überwinden" (wie Anm. 2), S. 126 f. Otto Gerhard Oexle bezieht sich in seinem Urteil vom „Scheitern" Troeltschs direkt auf ein Urteil von Siegfried Kracauer, der gegenüber Troeltschs Verknüpfung von exakter Geschichtsforschung und Geschichtsphilosophie von sich sagt, er ziehe angesichts von „Troeltschs Dilemma" (Oexle) für sich den Kierkegaardschen „Sprung" vor, vgl. Otto Gerhard Oexle: Troeltschs Dilemma (wie Anm. 3), S. 49.
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on in der Wahrnehmung der „doppelten Aufgabe" im Modus ihres Vollzugs liest. 32 Troeltsch tritt auch hier als Beobachter auf, wohl als reflektiert teilnehmender Beobachter, aber doch nicht als unmittelbarer Akteur, schon gar nicht als „Prophet". In solchem Verständnis wären diese Bewegungsbegriffe als Beschreibung der Theoriebildung und aktuellen Orientierungssuche zu verstehen, wie sie sich in dem offenen und konfliktuösen Diskurs derer abspielt, die wissenssoziologisch gesehen den Schauplatz von „Wissenschaft, Bildung, Philosophie, Schule und Literatur" bevölkern. 33 Das ergibt jedenfalls mehr Sinn, als sie als einen etwas befremdlichen Ausflug ins Ungewisse zu qualifizieren. Die Bewegungsbegriffe beziehen sich auf die „lebendige Gegenwart", auf deren Bühne sich die historisch provozierte „Verlebendigung" abspielt. Troeltsch, selbst ein Mitspieler, spricht hier, dem Konzept des „Historismus" gemäß, als deren Beobachter. An diesem Punkt müssen die bisherigen primär exegetischen Beobachtungen in solche mehr systematischer Natur übergehen. 2. Den auf Theoriesprache trainierten Ohren klingen solche Spitzenformulierungen, mit denen die praktisch-kulturelle Aufgabe verbunden wird, zu denen weitere wie „Entscheidung", „ethischer Entschluß", „Glaube" hinzutreten, eher befremdlich. Troeltsch scheint damit nicht nur aus der wissenschaftlichen Kommunikation, sondern auch aus dem Kontext der historischen Problemstellung herauszutreten. Solche Begriffe und Ausdrücke werden von Troeltsch jedoch sehr bewußt nicht als Substitute für philosophische Begriffe verwendet. Sie haben keine Begründungsfunktion. Sie werden dort eingesetzt, wo die historische Forschung und die Erarbeitung der Voraussetzungen im Konzept einer Kultursynthese an das Ende des ihnen Möglichen kommen, ohne daß damit die Geschichte überhaupt am Ende wäre; sie treten in der Theorie am Orte der aktualen Gegenwart auf, die als „lebendige" Geschichte noch nicht
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In der Kooperation der eben (S. 298) zitierten Reihe „Wissenschaft, Bildung, Philosophie, Schule und Literatur". Ein Szenario dieser „lebendigen Gegenwart", aus der die Impulse einer neuen Kultursynthese sich bilden können, hat Troeltsch den Hörern seines Vortrages „Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten" vor Augen gestellt, den er am 26. September 1922 vor der „Gesellschaft für Freie Philosophie" hielt und in dem er nach Abschluß des „Historismus" dessen ,,Grundgedanke[n] [...] verkürzt und popularisiert" wiedergab, vgl. Ernst Troeltsch: Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten, in: KGA 15 (wie Anm. 12), S. 5 5 1 - 5 6 9 , hier S. 557, Anm. 1. Vgl. dazu den Editorischen Bericht in KGA 15, S. 5 3 7 - 5 5 0 .
Geschichte durch Geschichte überwinden
ins Netz der Historiker eingesponnen werden kann. Sofern der Historismus aber als die für die europäische Moderne maßgebliche Form des geschichtlichen Denkens gilt, und das ist ja die theoretische Voraussetzung der gesamten Konzeption, geht ihr Theorieanspruch auch nicht in dem Geschäft der Historisierung auf. Am Ort der aktualen Gegenwart haben diese Bewegungsbegriffe deswegen eine bestimmte theoretische Funktion. Das sollte gerade angesichts ihres appellativen Charakters nicht übersehen werden. Um das zu erklären, l o h n t es sich, die methodische Grundstruktur mit der Figur der historisch-kritischen Bibelwissenschaft in Beziehung zu setzen. Sie kann als Modell dienen, u m die Funktion dieser Bewegungsbegriffe in nuce zu illustrieren. Die historische Bibelforschung setzt bekanntlich ein mit der Kritik an einer Dogmatisierung der biblischen Texte, die eine eigene Geschichte der Theologie „oberhalb der realen Region" der lebendigen Frömmigkeit etabliert. Gegenüber der damit einhergehenden „Loslösung" der biblischen Schriften aus ihrem ursprünglichen historischen Kontext, ihrer „Verallgemeinerung" und dem damit verbundenen „Abstraktwerden" in den Formen autoritativer kirchlicher Lehre zielt die historische Bibelforschung darauf ab, sie an ihren „ursprünglichen" Ort zurückzuführen, um sie im Blick auf ihren ,Sitz im Leben' zu verlebendigen. Mit dieser Historisierung werden sie zugleich der Gegenwart entrückt. Die Historisierung provoziert insofern eine neue, nun gegenwärtige „Verlebendigung" in und für gegenwärtige Frömmigkeit, die zu Theologie und Lehre umbildenden neuen „Verallgemeinerungen" führt. Dabei kommt es zu der „doppelten Aufgabe" einer „Anpassung" der Theologie an die gegenwärtige historische Verfaßtheit des Christentums, 3 4 wie zu der Aufgabe, eine jeweils neue und freie Auslegung und Fortbildung der Inhalte des Christentums durch Predigt und persönlichen, individuellen Glauben zu bilden. Wenn man diese Grundfigur des historischen Bewußtseins in der protestantischen Theologie als Modell mit der Grundstruktur in der Fassung der „drei wichtigen Einsichten" kollationiert, 3 5 wird sofort deutlich: Histo-
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Dafür steht die Nomenklatur der „Akkommodationstheorie" in der Neologie des 18. Jahrhunderts. Troeltsch orientierte sich für seine historische als theologische Methode am Vorbild der historisch-kritischen Bibelwissenschaft des 18. Jahrhunderts, mit der die „seit 200 Jahren in der Luft" liegenden Gründe für die historische Methode in der Theologie wirksam sind, vgl. Ernst Troeltsch: Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: GS II, S. 729-753, hier S. 730.
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risierung kommt o h n e einen sie überschreitenden systematischen Gedanken an ihren Sinn und Zweck nicht aus; als professionell definierte (d. h. begrenzte) historische Forschung wäre ihre geschichtliche Funktion nicht mehr zu erkennen. Diese vergleichende Beziehung ist nicht logisch zwingend in einem abstrakten Sinne. Dazu ist hier vielleicht eine Zwischenbemerkung angebracht. Der systematische Gedanke über die Historisierung hinaus kann sich in einer anderen Richtung bewegen, aus Christentum und Theologie hinausführen, in Richtung allgemeiner Religionskritik, zu alternativen Vorstellungen von Religion oder deren Substituten tendieren. Aber er bleibt in jedem Falle als „Unruhe" in der Reflexionsstruktur des geschichtlichen Denkens präsent. Das zeigt sich überdeutlich in den Möglichkeiten und Aporien des kulturwissenschaftlichen Diskurses. Das ist jetzt nicht das Thema. An dem an der theologischen Problemstellung exemplifizierten Modell des geschichtlichen Bewußtseins läßt sich ablesen, warum die methodische Grundstruktur des Historismus jenes Element der kreativen und zugleich riskanten Intelligenz einschließt, wie es in den Deutebegriffen umschrieben wird, in denen Troeltsch vom Bilden einer neuen Synthese redet. Damit wird das Historismusprojekt nicht verlassen. Die Vernunft der „praktischen" Kulturaufgabe ist noch keine Theologisierung; sie ist mit der Problemstellung der protestantischen Theologie aufs engste verbunden, aber nicht einfach identisch. Sie bewegt sich in einem weiteren, christentumsgeschichtlichen Zusammenhang. Im Vorwort zum „Historismus" hatte Troeltsch angekündigt, er wolle eine „vom Subjekt her zu schaffende Kultursynthese" entwerfen (GS III, S. VII). Zum Schluß von „Historie und Erkenntnistheorie", 3 6 der dem IV. Kapitel direkt vorausgeht, heißt es von der Geschichtsphilosophie, sie sei „illusionslose kritische Tatsachenforschung und entwicklungsgeschichtlich sorgsamste Konstruktion [...] nicht Dichtung und nicht apriorisches System" (GS III, S. 693). Und weiter, sie müsse „zugleich auch von einem Antrieb ethischen Entschlusses und religiösen Glaubens" bewegt sein. Mit diesem „zugleich" resümiert Troeltsch hier „das Ziel der beiden mittleren Kapitel"
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Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den Troeltsch 1922 vor dem philosophischen Auditorium der Kantgesellschaft vorgetragen hat. Vgl. den Editorischen Bericht in KGA 16.
Geschichte durch Geschichte überwinden
und das methodisch relevante Wechselverhältnis. Das führt zu weiteren Fragen. III. „Historische Selbstanschauung" - der Europäismus In der weitgespannten Konzeption des geschichtlichen Denkens, das Troeltsch als Grundmuster der intellektuellen Verfassung der Moderne bestimmt, kommt den methodischen Reflexionen eine spezifische Funktion für den wissenschaftlichen Umgang 37 mit dem Ziel einer materialen Theorie der gegenwärtigen Kultur zu. Die Methodologie fungiert als eine Art Kontrollinstanz für die „praktische Kulturaufgabe", damit die mit dem Historismus erzeugten Probleme „praktisch" nicht zur Destruktion derjenigen Voraussetzungen führen, in denen die Ratio des geschichtlichen Denkens sich gründet. ,Reflektierter' Historismus 38 besagt insofern: Das geschichtliche Bewußtsein muß sich seiner eigenen internen Verfaßtheit in einer Form bewußt sein, in der es nicht in einer endlosen Produktion von immer weiteren Historisierungen perpetuiert, sondern zu einer bewußten und d. h. methodischen Reflexion auf seine Rolle innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit fähig ist, deren Teil sie kraft ihrer eigenen Voraussetzungen ist. Die Beobachtungen zur Funktion der historischen Methode, wie sie in der diskursiven Verhandlungsführung im „Historismus" hervortritt, konzentrieren sich deshalb auf die zentrale Frage, wie die materiale Geschichtsphilosophie mit der methodologischen Grundstruktur verbunden ist. Das geschichtliche Denken ist als „modernes" selbst historisch gebildet. Das explizite Wissen dieser internen Verfaßtheit muß, wie Troeltsch in den vorausgehenden Passagen herausarbeitet, in der Bildung einer „historischen Selbstanschauung" (GS III, S. 725) bewußt vorgestellt werden, um so dem kritischen Vergleich und der Konstruktion der Geschichtsphilosophie als maßgebliches Kriterium zu dienen. Historische Selbstanschauung ist es, welche gewissermaßen die „Unruhe" der „geistigen Uhr" in Bewe-
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Vgl. dazu die Abgrenzung von dem im übrigen von Troeltsch sehr geschätzten Walther Rathenau und von Spengler (GS III, S. 759, Anm. 413). In Anlehnung an die Formel „reflexiver Historismus", die Hartmut Ruddies geprägt hat, vgl. Hartmut Ruddies: „Geschichte durch Geschichte überwinden" (wie Anm. 2), S. 204.
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gung hält. Als solche repräsentiert sie das intellektuelle Spezifikum des „Europäismus". In den Argumentationen, in denen Troeltsch die Kriterien für eine neue Kultursynthese materialiter skizziert, 39 spielt der so bestimmte Historismus eine dirigierende Rolle. Die Begrenzung der Idee einer Universalgeschichte wird durch das „geschichtliche Selbstverständnis" sowie die „historische Bildung" bestimmt, als im historischen Kulturvergleich hervortretende „Sonderstellung" oder „Einzigartigkeit" (GS III, S. 719) des Europäismus. In Termini einer geographischen Begrenzung kann das heißen, in den „außereuropäischen Gebieten" sei die „Fähigkeit historischer Selbstanschauung" abwesend, ihnen fehle „das historische Selbstbewußtsein" (GS III, S. 710). 4 0 Die teilweise sehr dezidierten Urteile, die sich im Vollzug der Abgrenzung des „Europäertums" vom Rest der Welt finden, können leicht die Aufmerksamkeit davon ablenken, worin und wodurch sich diese „Sonderart" nicht nur historisch anschaulich m a c h e n läßt, sondern stringent mit der Struktur der geschichtlichen Wahrnehmung selbst gesetzt ist. Die Aufstellungen und Urteile im Europäismuskapitel regen zu einer Relektüre an, die als Folie der heutigen kulturphilosophisch-politischen Debatten über Globalisierung oder Weltkulturkampf dienlich sein könnte. Man könnte sie gut und gerne als einen Kommentar dazu lesen, der eine kritische Historisierung der darin wirkenden konstruktiven Verallgemeinerungen wie der realitätsfernen Abstraktionen stimulieren könnte. Ein Exempel dafür mit, wenn man will, höchst aktuellen Bezügen sei dafür noch zitiert. Im Blick auf den „Islam" konstatiert Troeltsch, die „Ziele der islamischen Welt" seien „niemals wie in Europa die eines autonomen [...] Menschentums" geworden, er habe eine „Universalgeschichte für sich" (GS III, S. 727). Darauf folgt das Urteil: „Es gibt keine gemeinsame Kultursynthese für beide Welten", zu dem gleichwohl möglichen „Gedanken der gegenseitigen Toleranz und Verständigung" so verschiedener geistiger Welten wäre „ein sehr modernisierter und europäisierter Islam" nötig (GS III, S. 727). Statt der abstrakten Konstruktion einer Menschheitsfamilie wäre dagegen gerade „die Auseinanderentwicklung
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[Hervorhebung T.R.] beider Wel-
Im Abschnitt „Der Europäismus" des IV. Kapitels des „Historismus", GS III, S. 703-730. Es sei ein „europäisches Selbstverständnis", weil nur der Europäer „eines universalhistorischen Bewußtseins auf kritischer Forschungsgrundlage für seine Seele bedarf" (GS III, S. 710).
Geschichte durch Geschichte überwinden
ten" - bei relativer Gemeinsamkeit der vorneuzeitlichen historischen Voraussetzungen - „äußerst lehrreich", lehrreich nämlich für das Verständnis des Spezifikums des „Europäertums", für die historische Selbstanschauung (GS III, S. 727). Man kann Ernst Troeltsch als Europapolitiker höherer Ordnung lesen. Seine Urteile gehören eher in seine Kategorie „Wagnis", im Sinne einer intellektuell möglichen, historisch reflektierten Betrachtung. Die „Kultursynthese" enthält keine direkten politischen Anweisungen. Troeltsch läßt ausdrücklich offen, daß „vom Standpunkt moderner Weltpolitik und Weltwirtschaft" und ihrer Interessen durchaus eine „andere universale Ausweitung" denkbar sei. Das sei dann aber keine „Universalgeschichte" in Begriffen der Geschichtsphilosophie, sondern „praktisch bedingte Weltorientierung" im „gegenwärtigen Interesse des Europäertums selbst" (GS III, S. 713). Also: Ökonomische und politische Globalisierung ist nicht gleichzuschalten mit Kultursynthese. In der Unterscheidung von Politik und Geschichtstheorie wäre dann dasjenige Reflexionspotential präsent, von dem die Grundstruktur des geschichtlichen Bewußtseins geprägt ist. Doch muss man diese Fragen hier auf sich beruhen lassen. Das hier verfolgte Interpretationsinteresse gilt nicht primär den materialen Urteilen, sondern dem Status solcher Urteile gemäß ihrer reflektierten geschichtlichen Natur. Der Grenzziehung innerhalb des Konzepts einer materialen Universalgeschichte entspricht ja, daß die Kultursynthese eine inhaltliche neue Bestimmung der Probleme des Historismus ermöglichen soll, und aus deren Bearbeitung folgt nicht ein Bild einer harmonischen Kultureinheit. Nicht nur ironisiert Troeltsch den viel zitierten „Europäerhochmut" (GS III, S. 707). Er beschreibt die „reife europäische Kultur" ausdrücklich und entsprechend seinen historisch-soziologischen Studien zur Neuzeit als das Zusammenbestehen „vielfach widersprechender Prinzipien" (GS III, S. 769). 4 1 Von eigenem Interesse ist es deswegen, zu beobachten, wie Troeltsch die „Aufgabe" einer neuen Kultursynthese materialiter innereuropäisch abgrenzt und profiliert. In einem dem „Historismus" zeitgleichen Text zieht Troeltsch eine scharfe Grenze zu Ideen der völkischen Bewegung, in denen Volk und Rasse als Identität stiftende Größen proklamiert werden. 4 2 Das zeitgenössische Exempel ist das Programm des französischen Schriftstellers 41 42
Vgl. dazu die Beschreibung der Neuzeit in: GS III, S. 7 6 2 - 7 6 5 . Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau 3 2 (1922), S. 5 7 2 - 5 9 0 , jetzt in: KGA 15, S. 4 3 7 - 4 5 6 , hier S. 4 5 2 .
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Maurice Barres, 43 der den „Historismus durch Historismus überwinden" wolle, nämlich durch ein militantes Konzept der französischen Nation. 4 4 Die en passant verwendete Formel „Historismus durch Historismus überwinden", die wohl die früheste Variation seiner eigenen Formulierung „Geschichte durch Geschichte überwinden" ist, macht in ihrer kritischen Pointierung deutlich, wie diese Formel jedenfalls nicht zu verstehen ist. Ebenso bemerkenswert ist deswegen in der anderen Richtung seine strikte Ablehnung einer radikalen „Verneinung der ganzen kulturellen und politischen Entwicklung" mit dem Verzicht auf „freie Betrachtung der Geschichte", die statt der Wahrnehmung der methodischen Struktur des Wechselverhältnisses auf ahistorische Prinzipien abhebt und Krisenbewältigung etwa durch „Rückkehr zur kirchlichen Autorität" 45 propagiert. Die Idee der Kultursynthese richtet sich auf ein neues historisches Niveau der Wahrnehmung und konzeptionellen Deutung der Kulturprobleme des Europäismus. Sie hat als „praktische Kulturarbeit" eher den Charakter des Konzepts eines intellektuell-kulturphilosophischen Krisenmanagements. Auf das methodische Gerüst der Deutungsmöglichkeiten bezogen heißt das: die „Vereinigung von Kritik, konstruierender Darstellung und geschichtsphilosophischer Synthese" (GS III, S. 723). IV. Die methodische Crundstruktur - werkgeschichtlich Die bisherigen, vom Ende her angestellten Beobachtungen sollen nun noch mit einigen Beobachtungen vom Anfang her verglichen werden und auf die Konsistenz der Struktur der Problemstellung hin befragt werden, die in den materialen Veränderungen und Erweiterungen und den wissenschaftlichen Mitteln ihrer Bearbeitung in Troeltschs CEuvre auszumachen sind und ihn, biographisch gesehen, von Bonn über Heidelberg nach Berlin geführt haben. In einer ersten Fassung tritt die Problemstellung auf in der Frage an die Theologie, ob deren „ethisch-religiöse Gesamtanschauung von Gott, Welt und Mensch" mit der modernen Wissenschaft und deren Ergebnissen „zusammenbestehen könne" oder ob diese Wissenschaft „Tatsachen" ans Licht gehoben habe, die „in unvereinbarem Widerspruch mit der christlichen 43 44 45
Zu Barres vgl. das Biogramm in: KGA 15, S. 571. KGA 15, S. 452. Ebd., S. 453.
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Weltanschauung" stehen. Troeltsch verwendet für diese Frage den etwas holprigen Ausdruck der „Zusammenbestehbarkeit", der hier wie eine Art Vorbegriff des Begriffs der Kultursynthese fungiert. 46 Die Theologiekritik richtet sich auf den historisierend hinterfragten „geschichtlich überlieferte[n], kirchlich fixierte[n) Vorstellungsinhalt" 4 7 . Damit ist die methodische Figur des Rückgangs von verallgemeinerten Prinzipien auf deren „Sitz im Leben" vorformuliert. Das Potential der historischen Kritik in der protestantischen Theologie wird eingesetzt in der doppelten Bewegung des Rückgangs von allgemeinen Prinzipien auf deren ursprüngliche Lebendigkeit wie in der Frage nach deren neuer Verlebendigung. Die Verlebendigung ist orientiert an dem Gegenüber der modernen Wissenschaft als Exponent der modernen Kultur. Troeltsch bewegt sich dabei mit der Frage nach der Begründung der „Selbständigkeit der Religion" ganz im Kontext der zeitgenössischen Theologie. Methodisch ausgearbeitet wird die Problemstellung präsentiert mit den Grundelementen der historischen Methode, die in den Begriffen Kritik, Analogie, Korrelation, 48 die als historische Kritik, 49 als Relationen entdeckender Vergleich 50 sowie als die Erkenntnis des „großen Zusammenhangs korrelativer Wirkungen" 5 1 expliziert werden. Der Terminus „Zusammenhang" begegnet durchgehend in allen Äußerungen zur Sache; er fungiert gleichsam als Suchbegriff vom Beobachterstandpunkt aus, während die drei Begriffe Kritik, Analogie, Korrelation das methodische Gerüst für die gedankliche und materiale Konstruktion des Zusammenhanges bilden. Die Problemstellung hat bei Troeltsch ihren originären Ort in der Theologie und als eine der Theologie. In diesem Sinne kann er die historische
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Ernst Troeltsch: Die christliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Gegenströmungen, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 3 (1893), S. 4 9 3 528, 4 (1894), S. 167-231, 3 (1894), hier S. 505, S. 495 (GS II, S. 2 2 7 - 3 2 7 , hier S. 239, S. 229). Ebd., S. 481 (GS II, S. 228). Ernst Troeltsch: Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie (Bemerkungen zu dem Aufsatze „Ueber die Absolutheit des Christenthums" von Niebergall), in: Theologische Arbeiten aus dem rheinischen wissenschaftlichen Prediger-Verein N. F. 4 (1900), S. 8 7 - 1 0 8 (GS II, S. 7 2 9 - 7 5 3 , hier S. 731). Ebd., S. 731. Ebd., S. 732. Ebd., S. 733.
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Methode selbstbewußt als „meine theologische M e t h o d e " 5 2 bezeichnen. Das ist sie in ihrer Grundstruktur und Intention auch geblieben, wie gerade auch in der Ausweitung und Veränderung der materialen T h e m e n ausdrücklich festzuhalten ist. Die Absolutheitsschrift von 1 9 0 2 führt in der historisch-kritischen Rekonstruktion des abstrakt gewordenen Begriffs der Absolutheit und im religionsgeschichtlichen Vergleich zu einer neuen begrifflichen Fassung: Die berühmte „Höchstgeltung" des Christentums formuliert einen historisierenden Komparativ, das Ergebnis eines Vergleichs. Dieses Ergebnis kann dem praktischen Bedürfnis des Glaubens genügen. Es bildet aber dem geschichtlichen Denken nach nicht eine neue Stufe der Absolutheit, sondern ein historisch gewonnenes Substitut für die abstrakt gewordene „Absolutheit", eine Verlebendigung ihres dem gegenwärtigen geschichtlichen Denken adäquaten Gehalts. Die geschichtliche Natur des Komparativs wird von Troeltsch in großer Generalität in Relation zu der uns unbekannten Zukunft der Weltgeschichte 5 3 begründet. Das ist ein Motiv, das Troeltsch bis in den „Historismus" wiederholt ins Spiel bringt, u m die Selbstreflexion auf die Historizität des geschichtlichen Bewußtseins selbst gegenüber seinen materialen Urteilen anzumahnen. In der historischen als seiner theologischen Methode soll, im Unterschied zu einer naturalistischen Kausallogik, die Regel gelten, aus „der Geschichte selbst" sei das „Verständnis der Geschichte" zu entnehm e n . 5 4 Dem entspricht seine zentrale These, wonach das Christentum „in allen seinen Momenten seiner Geschichte eine rein historische Erschein u n g " sei. 55 Das Urteil über die Vorrangstellung des Christentums in der Welt der Religionen ist denn auch mit der Absolutheitsschrift von 1 9 0 2 für Troeltsch nicht erledigt. Die Historizität dieses Urteils hält die „Unruhe" wach. In der zweiten Auflage 1912 fügt er an der dafür geeigneten Stelle 5 6 einen Pas-
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Ebd., S. 729. KGA 5, S. 172 u. ö. Ebd., S. 168. An dieser Stelle verweist Troeltsch in einer kurzen Anmerkung auf Max Wundts „Lehre von der schöpferischen Synthese'", in einem Passus, der erst in der zweiten Auflage von 1912 hinzugefügt worden ist. Ob Wundt der Ideengeber für die „Kultursynthese" ist, sei dahingestellt. KGA 5, S. 164. Ebd., S. 192.
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sus ein, der dieses Urteil n u n explizit auf die „historische Gesamterscheinung" des Christentums bezieht. Sie wird als eine Vereinigung der Elemente der Kulturgeschichte beschrieben, die in der „europäischen Kultureinheit" präsent sind und auf den „inneren Wesenszusammenhang unserer ganzen Kultur" hindeuten. Hier sind bereits die am Ende des „Historismus" versammelten vier „Grundgewalten" präludiert (GS III, S. 7 6 5 - 7 6 7 ) . 5 7 Die 1 9 1 2 skizzierte Vereinigung hat den Status einer „Synthese", die eine neue, sie überbietende Synthese unwahrscheinlich sein läßt. 5 8 Die in der theologiekritischen Methode als historischer Methode angelegte Bewegung führt, wie diese textphilologischen Beobachtungen anzeigen, zur Veränderung und Ausweitung der inhaltlichen Konkretionen der Problemstellung. Sie sind Konsequenzen der Arbeiten, in denen Troeltsch die europäische Kultur explizit in seine Überlegungen einbezogen hat und in denen er die weitere Ausarbeitung der Grundfigur seiner Problemstellung über die christentumsgeschichtlichen und religionshistorischen Themen hinaus historisch und kulturgeschichtlich ausweitet. Das schlägt sich literarisch nieder in den Studien zum Protestantismus. 5 9 In der historischen Darstellung des Protestantismus im Zusammenhang mit der europäischen Kultur oder, wie m a n genausogut sagen kann, der europäischen Kultur in ihrem (antagonistischen) Zusammenhang mit dem Protestantismus erweitert sich das Potential der historischen Methode in
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Eine analoge Erweiterung der Perspektive ist bemerkbar, wenn Troeltsch in der Überarbeitung seines Methodenaufsatzes von 1900 im Jahr 1913 in einem entsprechenden Kontext die Versicherung hinzufügt, das Christentum habe seine zentrale Bedeutung im „Zusammenhang des auf unsere europäische Kultur hinführenden Gesamtlebens" (GS II, S. 748). KGA 5, S. 192. Vgl. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hrsg. von Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht (KGA 7), Berlin, New York 2004, sowie Ernst Troeltsch: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (KGA 8), Berlin, New York 2001. Die Methodik in Troeltschs Deutung des Protestantismus ist herausgearbeitet worden von Christian Albrecht: Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis (Beiträge zur historischen Theologie, Band 114), Tübingen 2000, S. 246-254. Vgl. Gangolf Hübinger: Ernst Troeltsch - Die Bedeutung der Kulturgeschichte für die Politik der modernen Gesellschaft (wie Anm. 12), S. 198 ff.
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der Aufnahme der soziologischen Forschungsperspektive, 60 in Konsequenz des geschichtlichen Verständnisses des Christentums. Einen vorläufigen Abschluß hatte die innertheologische Auseinandersetzung um die Bedeutung der historischen Methode als seine theologische Methode zuvor in einer großen Abhandlung gefunden, die Troeltsch im Anschluß an Harnacks Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums" verfaßte. 61 Darin diskutiert er ausführlich die methodische Problematik, wie sich historisch-exakte Forschung und prinzipielle „Abstraktion" eines „Wesens" des Christentums zueinander verhalten. Dieser Text verdient deswegen besondere Beachtung, weil hier die methodische Grundstruktur, wie sie in den „drei wichtigen Erkenntnissen" skizziert wird, bereits ausgearbeitet ist. Ich beschränke mich bei der Relektüre auf zwei Beobachtungen, die besonders intrikate Fragen betreffen. Die erste Beobachtung betrifft die „Verknüpfung" von historischer Forschung und philosophisch-theologischer Verallgemeinerung. Sie sei der „eigentliche Knoten des Problems". 62 Die Metapher „Verknüpfung" gilt dem Wechselverhältnis von historischer Rekonstruktion abstrakt gewordener Prinzipien und davon sich wieder ablösender neuer theologisch-philosophischer Konstruktion. Troeltsch greift hier, in der innertheologischen Diskussion von Harnacks „Wesen des Christentums", zu der Unterscheidung zwischen einer „Wesensbestimmimg" und „Wesensgestaltung". Von der Wesensbestimmung hat zu gelten, sie sei eine „rein historische Aufgabe". 63 Nicht übersehen werden dürfe dabei allerdings, wie voraussetzungsreich die Bedeutung von „historisch" sei. Wesensge-
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Zusammen mit den Inspirationen aus der Heidelberger Zeit mit Max Weber (vgl. dazu maßgeblich Friedrich Wilhelm Graf: Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu „Max Weber und Ernst Troeltsch", in: Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schwentker [Hg.]: Max Weber und seine Zeitgenossen [Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Band 21], Göttingen, Zürich 1988, S. 3 1 3 - 3 3 6 ) ist dafür die Rezeption Georg Simmeis wichtig geworden. Vgl. die Untersuchung von Friedemann Voigt: „Die Tragödie des Reiches Gottes"? Ernst Troeltsch als Leser Georg Simmeis (Troeltsch-Studien, Band 10), Gütersloh 1998. Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums"?, in: Die Christliche Welt 17 (1903), Sp. 4 4 3 - 4 4 6 , Sp. 4 8 3 - 4 8 8 , Sp. 5 3 2 - 5 3 6 , aufgenommen in: GS II, S. 3 8 6 - 4 5 1 . Die folgenden Zitate nach GS II. GS II, S. 428. Ebd., S. 397.
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staltung wird demgegenüber als „jeweilige historische Neugestaltung des Christentums" bestimmt. 64 Ihr Verhältnis zueinander wird in die Formel gefaßt „Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung". Man kann dies als eine „änigmatische" Formel bezeichnen. Sie betrifft tatsächlich genau das Problem, das Troeltsch am Ende des „Historismus" als dessen „Rätsel" erklärt. Die Pointe ist hier wie dort, daß die „Verknüpfung" von historisch exakter Forschung und neuer Verallgemeinerung bereits in dem Interesse der Historisierung angelegt ist. Die Selbstreflexion des historischen Denkens, die zu dieser Erkenntnis nötig ist, soll hier nicht wiederholt werden. Von diesem Reflexionsniveau her gesehen hat die „Verknüpfung" den Status einer ,,schöpferische[n] Tat".6S Als solche Verknüpfung tritt die schöpferische Tat nicht aus der Geschichte heraus. Aber sie ist „nicht mehr bloß ein Urteil über die Geschichte", sondern „selbst ein Stück Geschichte". 66 Deren historische Verortung bleibt keineswegs im Ungefähren und Unbestimmten einer ahistorischen Allgemeinheit. Troeltsch gibt dazu eine präzise wissenssoziologische Auskunft: Wesensbestimmung als Wesensgestaltung sei „der Beitrag", den die „wissenschaftliche Arbeit" der Theologie neben und gegenüber „den Tagesmeinungen und Leidenschaften kirchlicher Kämpfe" zu leisten habe, genauso wie „Politik und Gesellschaftslehre durch derartige historische Vertiefungen in den Kreisen der Denkenden": 67 Auf diesen Beitrag der Wissenschaft bezieht sich die Charakterisierung des Bildens einer neuen Wesensbestimmung als „Tat", als „Zukunftsglaube auf der Grundlage einer historisch-wissenschaftlich erforschten Geschichte". 68 In Anspielung auf Schleiermacher sagt Troeltsch, diese Tat der Wesensbestimmung sei „die Krone [...] der historischen Theologie", 69 sogleich verbunden mit der reflexiven Kategorie der „Selbstaufhebung", nämlich in die „Vereinigung des historischen Elementes mit dem normativen oder doch 64 65 66 67 68 69
Ebd., S. 431. Ebd., S. 428. Ebd., S. 431. Ebd., S. 430. Ebd., S. 430. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1811), § 31: „Die praktische Theologie ist die Krone des theologischen Studiums.". Jetzt in: ders.: Kritische Gesamtausgabe, 1. Abteilung, Band 6: Universitätsschriften, Heakleitos, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hrsg. von Dirk Schmidt, Berlin, New York 1998, S. 243-315, hier S. 253.
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dem Zukunft gestaltenden der Theologie". 7 0 W e n n zu begreifen ist, daß diese „Vereinigung" selbst wieder der Geschichte angehört, in keiner supranaturalen Region zu denken ist, dann ist sie als intellektuelle „Tat", als „Synthese von Geschichte und Zukunft" zu denken, 7 1 die gemäß dem in sich methodisch differenzierten Verständnis von Geschichte „nichts rein Historisches" ist, nicht in Historisierung aufgeht. In diesem Sinne wäre dann auch die „Selbstaufhebung" der historischen Theologie als eine gesteigerte Form der „historischen Selbstanschauung" zu lesen. Diese Beobachtungen an der theologisch wie historisch auf Christentum und Kirche fokussierten Analyse der historischen Methode lenken den Blick wieder auf die Bedeutung, welche die wissenssoziologische Verortung der Theologie (und dann entsprechend der Geschichtsphilosophie) für die Konzeption der Kultursynthese hat. Dazu müssen einige Hinweise genügen. Die „Soziallehren" setzen mit einer Unterscheidung der „soziologischen" von den „ideologischen" Elementen ein. In der Exposition der Problemstellung 7 2 wird diese Unterscheidung in Kritik an einer Vereinnahmung der soziologischen Elemente in die „Abstraktionen" der Dogmatik wie in Kritik an einer bloßen Soziologisierung der christlichen Ideen und der ihnen eigenen soziologischen Formation 7 3 in Szene gesetzt. Dieser Unterscheidung folgend, untersucht die historische Rekonstruktion der Soziallehren des Christentums deren jeweilig neuen geschichtlichen Verknüpfungen. In der historischen Erarbeitung, in der die analysierte methodische Grundstruktur erkennbar wird, hat die mittelalterliche Einheitskultur für Troeltsch eine besondere Faszination. Der zur Deutung der Einheit als Verknüpfung heterogener Elemente verwendete Begriff „Kompromiß" fungiert hier als eine Denkfigur, die im Umriß der Idee der Kultursynthese entspricht. In
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GS II, S. 433. Ebd., S. 447, vgl. dazu die Formulierung „verjüngende Synthese", S. 450. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 1), Tübingen 1912 , S. 1-15: „Einleitung und methodische Vorfragen". Einer der wenigen Versuche von Troeltsch, seine Methode auf zentrale Gehalte der christlichen Dogmatik anzuwenden, ist die Studie zur Entstehung der Christologie, Ernst Troeltsch: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Bern 1911. Darin äußert sich Troeltsch ausführlich zum Wechselverhältnis von historisch-kritischer und konstruktiver Methode.
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den „Grundgewalten" des „Historismus" (GS III, S. 7 6 5 - 7 6 7 ) tritt das Mittelalter als ein tragendes Element einer künftigen neuen Synthese auf. 7 4 Die „Soziallehren" enden als historisches Forschungsprojekt mit dem 18. Jahrhundert. Sie münden in die Diskussion einer Reihe offener Fragen der Gegenwart, von denen eine hier besonders hervorgehoben sei. Die naheliegende Frage des potentiellen Lesers, was lernen wir aus diesem „dicken Bande"?, 7 5 wird von Troeltsch im Blick auf die Selbstorganisation der Kirchen beantwortet mit dem Verweis auf „Aufgaben soziologisch-organisatorischer Natur, die dringender sind als alle Aufgaben der Dogmatik". 7 6 Das ist nicht die einzige Antwort. Sie wird hier hervorgehoben, weil diese Anweisung am Ende des „Historismus" in anderer Form wieder auftritt, in der Metapher von dem „soziologischen Leib" (GS III, S. 771), der dem „ideologischen Gehalt" seine gegenwärtige Lebensform schaffen und selbst mit einer „neuen Geistigkeit" verlebendigt werden soll.
V. Und die Religionsphilosophie? Die letzten Beobachtungen wenden sich der Frage zu, welchen Status die religionsphilosophisch-theologischen Elemente im „Historismus" haben und wie sie mit der methodischen Grundstruktur verbunden sind. Nicht nur das „Zweite Buch" des „Historismus"-Teilbandes über die gegenwärtige Kultursynthese blieb ungeschrieben. Das Gleiche gilt von der Religionsphilosophie, die Troeltsch als Schlußstein seiner wissenschaftlichtheologischen Ambitionen anvisierte. Deutebegriffe wie „Theologisierung der Geschichte" 7 7 oder „religiöser Historismus", 78 die für den „Historismus" insgesamt vorgeschlagen werden, sind so lange unspezifisch, als
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Die ethische Bedeutung des Kompromisses als gleichsam praktische Synthese in der Gegenwart wäre in diesem Zusammenhang erörterungswürdig. Vgl. dazu Ernst Troeltschs Vortrag „Politische Ethik und Christentum", Göttingen 1904. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (wie Anm. 72), S. 979. Ebd., S. 982. Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus (wie Anm. 5), S. 224. Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Ruddies: Religiöser Historismus: Ernst Troeltsch, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Band 2, Gütersloh 1993, S. 2 9 5 - 3 3 5 .
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sie nicht überprüft werden an der Funktion der religionstheoretischen Passagen im Zusammenhang der Argumentation. Im „Historismus" kommt die Religionsphilosophie explizit nur begleitend, teils eher beiläufig zur Sprache, nicht als eigenes Thema, wohl aber an wichtigen Knotenpunkten des Diskurses. Theologie erscheint nur am Rande. Ein wenig beachteter, an einem nichtwissenschaftlichen Ort publizierter Text kann hier als Lückenbüßer dienen. 7 9 In ihm hat Troeltsch die Religionsphilosophie in einem sachlichen Zusammenhang mit den Problemen des Historismus und dem Aufbau einer Kultursynthese skizziert. Troeltsch hat auf diesen Aufsatz selbst im „Historismus" verwiesen. 8 0 Diesem Hinweis lohnt es sich nachzugehen. Warum? Zunächst die Exposition der Problemstellung: Der Titel dieses Parergons „Konservativ und Liberal" knüpft an eine Formel von Friedrich Julius Stahl an. Stahl habe damit die „geistigen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts" über das politische Gebiet hinaus als „innerste Lebensgegensätze" erkannt. Troeltsch n i m m t diese Formel auf und benutzt sie als Leitfaden zu einer Kurzfassung einer Geschichte des 19. Jahrhunderts. 8 1 Sie endet in der Krise der Wissenschaft, in der der Gegensatz „geradezu zu dem von Rationalismus und Irrationalismus" geworden sei. Das ist das Stichwort für den zweiten Schritt, mit dem die prinzipielle Verallgemeinerung die Bühne betritt. Die Formel „Liberal-Konservativ" 8 2 sei von ihrer politisch-soziologischen Verankerung „vom Strome der Zeit fortgerissen worden". Losgelöst von ihrem soziologischen Ort trete sie heute in der Formel „Rational-Irrational" auf. Das ist genau der Fall einer Loslösung, Verallgemeinerung, Abstraktion, wie sie als Grundstruktur in den „drei wichtigen Erkenntnissen" zu beobachten war. Der Gegensatzstreit von Rationalismus und Irrationalismus, der soziologisch in der Wissen-
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Ernst Troeltsch: Konservativ und Liberal, in: Die Christliche Welt 30 (1916), Sp. 647-651, Sp. 659-666, Sp. 678-683. GS III, S. 759, Anm. 413; Troeltsch verweist auf seinen Text im Zusammenhang der Diskussion um Kriterien für eine neue Kultursynthese. Hans Baron hat diesen Abschnitt in den von ihm 1925 herausgegebenen Band IV von Troeltschs „Gesammelten Schriften" aufgenommen (S. 817-818) als Zusatz zu Troeltschs Selbstdarstellung „Meine Bücher" (GS IV, S. 3-18, hier S.
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schaftsfeindlichkeit der Jugend auftritt, 83 wird von Troeltsch kritisch als Folge eines abstrakt gewordenen, weil alles begrifflich erklären wollenden prinzipiellen „Rationalismus" bestimmt. Daran schließen sich im dritten Schritt Überlegungen an, die auf eine synthetisierende Verlebendigung ausgehen. Das mit dem „vieldeutigen" Begriff des Irrationalismus Gemeinte sei „nichts anderes als ein wiedererstarkter, breiter und tiefer Realismus" . 84 Dessen Vieldimensionalität und Widersprüchlichkeit wird an Exempeln für den neuerwachten Realismus in der gegenwärtigen europäischen Kultur veranschaulicht; 85 gleichsam das Material für das „Leben" der europäischen Kultur, auf das die Abstraktionen der allgemeinen Begriffe und Prinzipien zurückgeführt und aus dem sie wieder verlebendigt werden müssen. Der Gegensatz IrrationalismusRealismus ist nicht der eines „reinen Entweder-Oder". Die lebendige geschichtliche (wie auch natürliche) Realität ist „niemals völlig durch Wissenschaft und Philosophie auszumessen und auszuleuchten". 8 6 Diesem Gedanken folgt die Konstruktion, die Zusammenführung des auf „Realismus" hin transparent gemachten „Irrationalismus" mit einem seiner Grenzen bewußten Rationalismus der Wissenschaften. Die „Synthese" ist Aufgabe einer Rationalität, im Sinne eines reflektierten Rationalismus, der in der autonomen „Tätigkeit der Vernunft" 87 seine Voraussetzung hat. Mit ihr kommt die „Persönlichkeit" ins Spiel, deren Kreativität in den Begriffen von Glaube und Tat bestimmt wird, wie sie am Ende des „Historismus" auftreten, zugleich aber mit der Reflexionsstruktur des Wissens um den Unterschied zu einem „Standpunkt Gottes" zugleich aber mit dem Wissen um den Unterschied zu einem „Standpunkt Gottes".
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Ebd., Sp. 660. Ebd., Sp. 661, auch als „Tatsachensinn" charakterisiert. Ebd., Sp. 6 6 2 f. Den Hintergrund bilden dabei die Debatten um die Deutung des Krieges als Kulturkrieg, wie um das deutsche Denken und den „Geist von 1914" (Sp. 662). Troeltsch postuliert hier für den Umgang mit den materialen Widersprüchlichkeiten des neuen, politisch-soziologischen Realismus eine „positive Toleranz Eines gegen den Anderen, eines Volkes gegen das andere" (Sp. 666). Auf diesen Kontext kann hier nicht weiter eingegangen werden. Ebd., Sp. 665. Ebd., Sp. 665.
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Im Anschluß daran entwickelt Troeltsch „meine Religionsphilosophie". 88 Für sie gilt, als wissenschaftliches Unternehmen, was „für alle Feststellung und Gestaltung von Kulturwerten" gilt. Die daran anschließenden Ausführungen sind eine Zusammenfassung der Überzeugungen, wie Troeltsch sie seit der Absolutheitsschrift vertreten hat, einschließlich der methodischen Regeln seiner „historischen Methode", Kritik, Vergleich, Korrelation, hier in der Fassung „Vergleichung, Zusammenhaltung, begriffliche Konstruktion". 8 9 Troeltsch verteidigt seine Methode sodann gegen den Vorwurf seiner Kritiker aus gegensätzlichen, d. h. kirchlich-konservativen wie philosophisch-liberalen Lagern, er befinde sich mit seiner Argumentation in einer „Zwickmühle", mit dem (hermeneutisch wohlbegründeten) Argument, daß es für eine an Realität orientierte Wissenschaft zu diesem hermeneutischen Zirkel keine Alternative gebe. 9 0 In seinem Fazit zur Religionsphilosophie selbst heißt es: „Wir sind im Ausgang vom HistorischLebendigen und in der Fällung des Vergleichsurteils außerhalb der reinen Vernunft, kommen aber zu beiden Fragestellungen durch sie. Was wir dabei gewinnen, ist durch Denken ermöglicht, aber selbst kein Erzeugnis des Denkens." 9 1 So also die Religionsphilosophie: „Das ist im Wesentlichen der Gang und Sinn meiner Lehre." 9 2 Sie trägt, wie die gesamte, methodisch reflektierte Wissenschaft, insbesondere die Historie, so Troeltsch, ein „doppeltes Gesicht". 9 3 Nur so bleibt sie ein reflektiertes und sich selbst methodisch kontrollierendes Unterfangen der Wissenschaft. Troeltsch erhebt zum Schluß den Anspruch, sein Standpunkt gelte „nicht nur für die Religionsphilosophie, sondern für alle Lebensstellungen und Gestaltungen überhaupt". 9 4 Die Metapher vom „Doppelgesicht" führt die Beobachtung zu der Frage, welche Bedeutung von daher gesehen dem Gottesgedanken im „Historis-
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Ebd., Sp. 6 7 8 - 6 8 3 . Ebd., Sp. 680. Ebd., Sp. 6 8 0 - 6 8 2 . Ebd., Sp. 680. Ebd. Die hier obwaltende philosophische Problematik ist jetzt produktiv aufgenommen und entwickelt worden mit dem Ausdruck einer „doppelten Buchführung im Religionsbegriff" bei Jörg Dierken: Zwischen Innen und Außen, Relativem und Absolutem. Dimensionen des Religionsbegriffs, in: Kerygma und Dogma 49 (2003), S. 180-209, hier S. 191. Ernst Troeltsch: Konservativ und Liberal (wie Anm. 79), Sp. 682.
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mus" zukommt. Auch hier richten sich die Beobachtungen auf den Zusammenhang mit der methodologischen Grundstruktur, d. h. genauer auf die Funktion des Gottesgedankens. In der Religionsphilosophie, für die hier pars pro toto der eben zitierte Text als Bezug genommen wird, gibt es dazu eine klare Auskunft. In der Perspektive der Religionsphilosophie wird „Gott" gemäß dem geschichtlichen Verständnis des Christentums als der „sich durch uns offenbarende Gott" 9 5 erkannt. Dieses im „durch uns" bezeichnete Subjekt ist selbst als geschichtliches zu denken, d. h. im Zusammenhang des geschichtlichen Christentums, „unsrer abendländischen Religion". In dieser Blickrichtung stellt sich der Religionsphilosophie die theoretische Aufgabe, dem historischen Realismus Rechnung zu tragen in der „Rücksicht auf Kult, Gemeinde, Organisation, Sozialleben und -lehre, Pädagogik und Predigt". Ohne diese Rückbindung an die Realität, also den „soziologischen Leib", blieben von der Religion nur „Broschüren, Bücher und Vorträge" (oder eben Kolloquien und Konferenzen!) übrig, keine „lebendige, dauernde Religion". Zugleich aber bedarf es der historischen Methode mit allen ihren Implikationen, um einer Überprüfung und Umbildung der in „Dogma" und „Lehrgesetzen" fixierten Verallgemeinerungen und Abstraktionen und um einer „Umbildung" und neuen Verlebendigung des religiösen Bestandes auf der Ebene des begrifflichen Umgangs mit Religion in der Realität des Christentums gerecht zu werden. Diese in denkbar knappster Fassung von Troeltsch als Resümee seiner lebenslangen theologischen Arbeit formulierten Gedanken enthalten im wesentlichen das, womit Troeltsch in der Theologie zu - umstrittener - Wirkung kam und neu gekommen ist. Aus diesem „Doppelgesicht" resultiert die Aufgabe einer „Synthese von historischem Realismus und begrifflicher
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Ebd., Sp. 6 8 0 (Hervorhebungen vom Verf.). Dieser Geltung „durch uns" entspricht die Geltung „für uns", wie Troeltsch sie in einem der für England konzipierten Vorträge formuliert hat: Das Christentum „ist das uns zugewandte Antlitz Gottes". Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen, in: Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung. Fünf Vorträge von Ernst Troeltsch. Eingeleitet von Friedrich von Hügel, Berlin 1924, S. 6 7 - 8 3 , hier S. 78, erscheint 2006 als KGA 17. Auf diese geschichtliche Geltung bezieht sich der anschließende Kulturvergleich.
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Idee". 96 Die Fassung dieser Synthese liegt der Sache nach und in religionstheoretischer Perspektive der Idee einer „Kultursynthese" zugrunde. Führt diese kurzgefaßte Religionsphilosophie dazu, den „Historismus" als eine „Geschichtstheologie" zu lesen? Auch diese Frage bedarf einer genaueren exegetischen Analyse. Im „Historismus" wird weder der Begriff einer Geschichtstheologie verwendet noch der Begriff Theologie systematisch in Anspruch genommen. Im zweiten Kapitel „Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge", in dem Troeltsch die Fragen von „Apriorität und Objektivität" einer Kultursynthese diskutiert, grenzt Troeltsch seine Problemstellung explizit von einer Vorstellung ab, derzufolge „Maßstäbe" in Kategorien der „Zeitlosigkeit, Ewigkeit, Allgemeingültigkeit und Absolutheit" gedacht werden müssen (GS III, S. 182). Was für die „formale Logik und Mathematik" gelten möge, sei nicht gleichermaßen für die Erfahrungswissenschaften sowie für die „Bildung kulturphilosophischer Maßstäbe" anzunehmen (GS III, S. 183). Im Zusammenhang dieser wissenschaftstheoretischen Unterscheidung betritt der „Gottesgedanke" die Bühne: „Damit stehen wir [...] beim Letzten, bei dem Gottesgedanken", von dem Troeltsch sagt, er liege „als vorausgesetzte Grundvorstellung der Dinge hinter allem Denken" (GS III, S. 183). Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß Troeltsch an dieser Stelle der methodischen Struktur folgt, die hier vom Ende her erschlossen wurde. Die Funktion des Gottesgedankens - nicht eines systematisch-theologisch ausgearbeiteten Gottesbegriffs - wird eingezeichnet in eine Kritik der Vorstellung von „ewigen Vernunftgesetzen"; diese würden in Kategorien der zeitlosen „Unveränderlichkeit" gedacht, „ewig und unwandelbar wie die Gottheit selbst" auftreten und müßten erst wieder „individualisiert" (und entsprechend historisiert) werden. Die aus dem Vergleich mit dem Gottesgedanken begründete Kritik an sich absolut setzender Verallgemeinerung zielt darauf ab, daß die allgemeinen Prinzipien „wieder aufgehoben werden" müssen, „wenn man etwas mit ihnen anfangen will" (ebd.). Das ist eine ziemlich direkte Funktionsbestimmung. Kritik dient der Verlebendigung allgemeiner Prinzipien. Wenn sie der Einsicht Raum geben, daß „jedes Begreifen ein Hervorbringen" ist (GS III, S. 181), dann impliziert das Begreifen von Geschichte immer auch ein Ausgreifen auf einen Zusammenhang, in dem nicht nur die jeweils zu
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Ernst Troeltsch: Konservativ und Liberal (wie Anm. 79), Sp. 6 8 1 .
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begreifende konkret materiale Historie steht, sondern eben auch der sie erforschende Kopf. Diese Provokation ist nicht immer und überall explizit gefordert. Sie hat, im Blick auf die historische Arbeit und deren von Troeltsch teils anerkennend, teils ironisch kommentierte Detailvielfalt, einen Metastatus, der gleichsam das „Warum" der Historie überhaupt betrifft, also die Grundstruktur des Historismus. Die Funktion des Gottesgedankens liegt, folgt man Troeltsch, darin, die Konsistenz der Vernunft verständlich zu machen, die als selbst geschichtliche, also nicht auf Zeitlosigkeit und Absolutheit hin sich auslegende, sich gefordert weiß, aus dem wie immer methodisch kontrollierbaren Geschäft historisch-kritischer Forschung herauszutreten, nämlich im Modus der Konstruktion. Die dafür bei Troeltsch stehende Semantik von „Wagnis", „Tat", „Entscheidung", „Intuition" und verwandten Wendungen hat genau damit zu tun. Diese Wendungen fungieren als Kategorien, die das durch keine empirischen Gesetzmäßigkeiten und formalen Rationalisierungen festlegbare Denken umspielen. In der methodischen Struktur, wie sie in den „drei wichtigen Einsichten" erhoben wurde, kommt das zum Ausdruck in der Bemerkung: „Dafür gibt es keine Anweisungen" (GS III, S. 771). Hier, in der Reflexion auf den Status dieser „Vernunftgedanken" (GS III, S. 185), konstruiert Troeltsch einen Zusammenhang der Vernunftgedanken mit dem Gottesgedanken. Die Formulierungen, die er dafür verwendet, werden aber von ihm nicht auf die Waagschale der Letztbegründung gelegt. Es werde „mit der Beweglichkeit und Wandlung Gottes selbst auch die Wandlung und Beweglichkeit der Wahrheit und des Ideals verständlich" und damit zusammen dann eine „trotzdem verbleibende Einstellung auf eine letzte Wahrheit und Einheit" (GS III, S. 184). Selbstverständlich kann und muß auch eine solche Verallgemeinerung ins Prinzipelle wieder der Rückfrage nach ihrer historischen, philosophiegeschichtlichen Verankerung ausgesetzt werden. 97 Diese und vergleichbare theologische Anspielungen 98 fungieren innerhalb des methodischen Ge-
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Vgl. dazu Jörg Dierkens Einordnung von Troeltsch „zwischen Panentheismus und Personalismus", Jörg Dierken: Individuelle Totalität. Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus" (Troeltsch-Studien, Band 11), 2. Aufl., Gütersloh 2000, S. 2 4 3 - 2 6 1 , hier S. 257 ff. Im Zusammenhang mit dem „Wagnis alles nicht bloß formalen Denkens"
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rüsts als Bezugspunkt für die Selbstbeobachtung der geschichtlichen Vernunft im Stande der noch durch keine Empirizität gesicherten Spontaneität und Freiheit. Es ist dies der Bezugspunkt für die dem Gottesgedanken korrespondierenden Gedanken der Individualität und der Persönlichkeit. Es wäre deshalb auch nicht zutreffend, hier einen Widerspruch zur Grundstruktur der historischen Methode zu konstatieren. Das zeigt sich im Ergebnis in der bewußten Beschränkung der materialen Geschichtsphilosophie auf das, der eigenen, geschichtlichen Erfahrung gemäß, Zugängliche. Denn die Erwägungen zum Gottesgedanken, die Troeltsch hier anstellt, leiten über von der Kritik an der unmöglichen Absicht einer „Konstruktion des Gesamtgeschehens der Welt" zur Möglichkeit einer Maßstabbildung für die eigene Kultur (GS III, S. 1 8 6 - 1 9 9 ) . " Der Bezug auf den „Gottesgedanken" n i m m t also die Funktion wahr, in die reflektierte Selbstwahrnehmung der geschichtlichen Vernunft jene Begrenzung einzuholen, in der sie der historischen Relativität verbunden ist, o h n e einem grenzenlosen Relativismus oder einem ebenso unbegrenzten „Hochmut" (GS III, S. 199) zu verfallen. Das hat die große Philosophie immer gewußt. Innerhalb dieser Selbstbegrenzung aber m u ß sich die materiale Konstruktion, also auch die anvisierte Kultursynthese, bewußt und kontrolliert in dem methodischen Zirkel bewegen, in dem die Bewegung des geschichtlic h e n Denkens sich, begrifflich und deutend, realitätsgerecht vollzieht und in Prozessen von Historisierung wie Konstruktion gewußt werden kann.
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spricht Troeltsch von der immer gegebenen Möglichkeit des „Fehlgriffs" und fügt hinzu: „Auch hier gibt es eine Rechtfertigung aus dem Glauben', ja das ist wohl der allgemeinste Sinn dieses herrlichen protestantischen Grunddogmas", GS III, S. 185. Dieses Motiv der Rechtfertigung des Sünders sola fide wird von Karl Mannheim aufgenommen, wo er in seiner Rezeption des „Historismus" vom „Mitsündigen der Propheten" spricht, Karl Mannheim: Historismus (wie Anm. 18), S. 18. Vgl. dagegen Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus (wie Anm. 5), S. 233, der ohne Bezugnahme auf Troeltsch bei Mannheim eine Anspielung auf Lukäcs' „Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit" vermutet (S. 235). „Wir kennen in Wahrheit nur uns selbst" lautet die oft zitierte Wendung im Europäismuskapitel (GS III, S. 707).
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VI. Selbstaufklärung des Historismus - Kritik und Konstruktion Die Idee einer neuen Kultursynthese läßt sich nicht als reife Frucht vom Baume des unvollendeten „Historismus" pflücken. Sie ließe sich wohl auch nicht im Wege der Imagination der unausgeführten Skizze zum Bild für eine gegenwärtige Applikation aufbereiten. Ohne den Weg, den Troeltsch in historisch-systematischer Forschung und Ideenbildung über verschiedene Etappen der „Synthese" gegangen ist, bliebe ein solches Resultat, für sich genommen, eine Abstraktion. Der Weg, die Methode, bildet gleichsam das Rückgrat der Ideenbildung. Dem Verhältnis von Kritik und Konstruktion sollen daher die abschließenden Bemerkungen und Beobachtungen gelten. 1. Die methodische Grundstruktur, wie sie vom Ende des „Historismus" her rekonstruiert werden kann, ist von den Anfängen der Problemstellung in Troeltschs Werk her gesehen zwar schon implizit und dann auch explizit präsent. Mit der Ausweitung seiner Problemstellung über die Theologie- und Religionsgeschichte hinaus erhält sie jedoch erst ihr volles Gewicht. Das Verhältnis von historischer Forschung und philosophisch-theologischer, normativer Deutung wird dabei explizit zum Thema einer Reflexion auf den Standort und das Gegenwartsinteresse im Geschichtsverständnis. Der Konstruktionscharakter der Historie erhält so eine zentrale Funktion für das Verständnis der Historismusproblematik. Das Interesse an einer „Lösung" der Probleme des Historismus hat allerdings in der Troeltschrezeption, geleitet von den nicht mehr erfüllten Erwartungen, die das Projekt der neuen Kultursynthese geweckt hatte, die Aufmerksamkeit für die ihm zugrundeliegende methodische Struktur überlagert. Die Intuition, in der Troeltsch die Reziprozität von historischer Forschung und von ihr provozierter systematischer Konstruktion als Kern des neuzeitspezifischen Historismus identifizierte, war als Selbstaufklärung des Historismus nicht dessen Überwindung. Er sollte mit der Idee der Kultursynthese eine materiale Fassung erhalten. Den Hintergrund der Grundstruktur bildet eine „historische Selbstanschauung" der Theologie, in der das prekäre Verhältnis von Historisierung und umbildender Konstruktion als Lebensfrage des neuzeitlichen Christentums hervorgetreten ist. Von daher erhält Troeltschs Konzept, die Elemente der methodischen Grundstruktur zugleich als Elemente der Geschichte zu begreifen, ihr Profil. In der notwendigen Verbindung von Kritik und Konstruktion wird deren interne Differenz nicht aufgelöst, bildet sie doch die Pointe seiner Theorie des Historismus.
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Das gilt besonders für die nicht erst von seinen Kritikern, sondern sehr bewußt von ihm selbst verwendete Theoriefigur der „Zirkularität". Sie folgt einer Einsicht, in der sich das Denken „über" Geschichte seine eigene Historizität als Denken „in" der Geschichte bewußt hält. Das Verhältnis des historischen und konstruktiven Denkens zueinander ist nicht als eine nachträgliche Operation zu fassen, die auch unterbleiben könnte. Unterbleiben kann sie allenfalls für die von Troeltsch immer mit Respekt wahrgenommene Detailforschung der Historiker. In diesem Verhältnis tritt vielmehr der Nukleus des geschichtlichen Denkens, genauer: des Historismus, ins Bewußtsein. Darin liegt die Dynamik der „Unruhe" in der „geistigen Uhr", wie sie im Verhältnis von Historisierung und Konstruktion, und d. h. im Bewußtsein ihrer internen Differenz, lebendig ist. Mit ihr erklärt Troeltsch den Sinn der formalen Geschichtslogik, mit deren Diskussion der „Historismus" einsetzt. 2. Das Ziel einer materialen Geschichtsphilosophie, die neue Kultursynthese, verfolgt Troeltsch im Modus eines dezidiert zukunftsorientierten Gegenwartsinteresses. Die Vorstellungen von deren inhaltlichem, praktischem Aufbau, wie Troeltsch sie vor Augen hatte, folgen der historischen Rekonstruktion der Entstehung und des „Wesens" der modernen Welt und setzen sie voraus. Die „Loslösung", neue „Verlebendigung" und „Vereinfachung" der historisch maßgeblichen Kulturgehalte zu begründen und vorzubereiten, dazu dienten methodisch wie inhaltlich die voluminösen Auseinandersetzungen des „Historismus". Die von Troeltsch vorgestellten materialen Ideen der praktischen Aufgabe einer neuen Kultursynthese sind aus heutiger Sicht historisch rekonstruierbar, also im Modus ihrer Historisierung. Das gilt natürlich, mutatis mutandis, für die gesamte Konstellation des kulturwissenschaftlichen und politischen Diskurses seiner Zeit, in dem er eine prominente Rolle spielte. Damit stellt sich für das heutige Gegenwartsinteresse an Troeltsch und seiner Epoche die interessante Frage, ob das methodische Gerüst, wie es in der Formel „Geschichte durch Geschichte überwinden" verschlüsselt ist, über die von Troeltsch teils ausgeführten, teils geplanten, materialen Konkretionen hinaus, von eigenem Interesse sein könnte. Denn die Idee einer je neuen Kultursynthese ist ja in ihrer methodischen Konzeption mit der Historisierung zeitbestimmter Konkretionen nicht erledigt. Das mag ein kleines Gedankenspiel verdeutlichen. Die von Troeltsch im „Historismus" stark gemachte „neue vom praktischen Leben her geforderte Arbeit der Geschichtsphilosophie"(GS III, S. 26), die Idee einer neuen Kultursynthese ist
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auch in Kritik und versuchter Ablösung vom „Historismus" lebendig. Sie konnte in der Troeltsch folgenden Generation als „Überwindung" der Geschichte auftreten, als Akt oder Tat der entschiedenen „Loslösung" von der historischen europäischen Kultur, in Formen eines „Antihistorismus", der besser als radikale, gleichsam negative Historisierung zu charakterisieren wäre, mit dem Ziel der „Verlebendigung" ursprünglicherer Gehalte. Deren eigenwillige, gleichsam objektive Realität soll in existentiellen Deutungen und in ihr entsprechenden Redogmatisierungen offenbar werden. Oder sie sollte erfahrbar werden in der Hingabe an die elementare Bewegung von Volk und Gemeinschaft, begleitet von der Hoffnung, die irritierende „Unruhe" des reflektierten Historismus loszuwerden. Die Versuche, zu einem Geschichtsverständnis jenseits des Historismus zu gelangen, sind nicht nur in der Theologie und Religionsphilosophie zu beobachten. Sie treten auch in den Versuchen auf, die Geschichtswissenschaft insgesamt im Gefolge eines politischen Gegenwartsinteresses neu zu formieren, wobei die interne Differenz im Geschichtsverständnis zwischen historisch-exakter Forschung und normativer Ideenbildung, wie Troeltsch es konzipiert hat, vom gegenwärtig tätigen geschichtlichen „Wollen" überwunden werden soll. 100
100 Exemplarisch dafür Hans Freyers Formel „Wahres Wollen fundiert wahre Erkenntnis" in: Hans Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie. 1930. Hans Freyer nimmt den „Historismus" zur Grundlage seines Entwurfs mit der These, die Soziologie sei „Erbin der Geschichtsphilosophie"; so wie jedes geschichtsphilosophische Denken „das geschichtliche Geschehen auf die Gegenwart hin" forme, tue dies die Soziologie in ihrer „auf die Gesellschaftsgestaltung gerichteten Absicht" (S. 116). Der „Willensgehalt der Gegenwart" zielt, als „Strukturbegriff der Soziologie" (S. 303 und S. 305), auf das „Volk". Freyer hat diesen Ansatz weiter ausgeführt in: Gesellschaft und Geschichte (Stoffe und Gestalten der deutschen Geschichte, Band 2, Heft 6), Berlin 1937; sowie in: Das geschichtliche Selbstbewusstsein des 20. Jahrhunderts. (Kaiser-Wilhelm-Institut für Kunst- und Kulturwissenschaft Bibliotheca Herzogiana in Rom. Veröffentlichungen der Abteilung für Kulturwissenschaft, 1. Reihe, Vorträge H. 3) Leipzig 1937. Troeltsch verweist im „Historismus" (GS III, S. 26) auf Freyers frühe Schrift „Antäus, Grundlegung einer Ethik des bewußten Lebens", Jena, 1918, sowie indirekt mit der Verwendung der mythischen „Antäusberührung" als Bild für die kritische Funktion des historischen Bewußtseins (GS III, S. 724). Darin ließe sich ein kleiner Hinweis auf den Gegensatz zu Troeltsch identifizieren gegenüber dem „Wollen", mit dem die Herausgeber von „Stoffe und Gestalten der deutschen Geschieh-
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3. Was hieße das für die „Troeltsch-Renaissance" seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts (und für analoge „Renaissancen")? In der Form des Editionsprojekts einer „Kritischen Gesamtausgabe" vollzieht sie sich im Modus der Historisierung. Initiativ leitend ist für die Troeltschforschung jedoch das inhaltliche Interesse an seiner Vergegenwärtigung. Man könnte sagen, es handele sich um eine Art gegenläufiger „Überwindung der Geschichte durch Geschichte", d. h. in expliziter oder impliziter Kritik der in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts herrschend gewordenen Intentionen und Ideen. Dazu gehört die historisierende Vergegenwärtigung der exemplarischen Bedeutung und des Profils von Troeltsch in der theologischen und politischen Konstellation seiner Zeit. Aber auch hier gilt: Sinn und Rechtfertigung findet die Historisierung darin, eine neue „Verlebendigung" zu provozieren. Es war diese konstruktive Aufgabe, auf die es Troeltsch im „Historismus" in der Zielstellung einer „materialen" Geschichtsphilosophie ankam. Für diese Aufgabe hat die Methodologie zwar eine regulative Funktion; sie gibt dazu aber selbst keine inhaltlichen Anweisungen. 4. Troeltsch hat die gegenwärtige Kultursynthese als die subjektive Voraussetzung für den Aufbau einer europäischen Kulturgeschichte bezeichnet (GS III, S. 694). Der Europäismus ist das Kernstück der inhaltlichen Bestimmung der von Troeltsch angestrebten Kultursynthese. Die Gegenwartsanalyse ist der systematische Ort der Verknüpfung von historisch-soziologischer Rekonstruktion und philosophisch-theologischer Konstruktion. Ein Leitthema war für Troeltsch das, was man das „Religionsproblem der Moderne" nennen kann. Ihm kommt heute, unter vielfach und tiefgreifend veränderten historisch-soziologischen Bedingungen, erneut große Bedeutung zu. Für den analytischen wie konstruktiven Umgang mit diesem Problemkreis besteht hier Anlaß zu einer kritischen Frage an Troeltschs Umgang mit den Begriffen von Religion und Christentum. Das Problem, das hier als offene Frage zum Schluss nur angedeutet werden soll, tritt in der gleichzeitigen und äquivalenten Verwendung der Begriffe „Religion" und „Christentum" auf. „Religion" ist ein Allgemeinbegriff mit den Konnotationen der Zeitlosigkeit und humanen wie kulturellen Universalität. Der Religionsbegriff ist den meisten der so genannten Religionen auf dem Wege der Au-
te" ihr Programm anzeigen, die Geschichtswissenschaft „von dem politischen Erleben unserer Tage her neu zu durchdenken" (ebd., Vorsatzblatt).
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ßenbetrachtung zugeschrieben worden. „Christentum" ist ein historisch bestimmter Begriff, der hinsichtlich seines Geltungsanspruchs auf die Allgemeinheit von „Religion" hin, teils kritisch, teils verallgemeinernd ausgelegt wird. Die Konstellation, in der der Religionsbegriff in Europa diese allgemeine Bedeutung von „Religion" erhalten hat, verdankt sich einer verwickelten Geschichte, die hier nicht zu erörtern ist. Die v o n Troeltsch selbst entwickelte historische Methode, die nicht zuletzt in Kritik an der ungeschichtlichen Abstraktion theologischer wie philosophischer Allgemeinbegriffe sich profiliert hat, ist von ihm auf dieses Problem nicht angewendet worden. Dabei gehört die darin zu begrifflicher Unterscheidung führende Problemstellung zu den wesentlichen Motiven, von denen der neuzeitliche Historismus herkommt. Der in der Unterscheidung v o n „Religion" und „Christentum" auftretenden Differenz kommt gegenwärtig eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Davon legen die heute aktuellen politischen und geschichtsphilosophischen Debatten über interkulturelle Beziehungen und Integrationschancen in der Europapolitik beredtes Zeugnis ab. Der Allgemeinbegriff „Religion" erweist sich dabei als merkwürdig unergiebig, u m die „praktische Kulturaufgabe" der Gegenwart gerade in ihren Konflikten überhaupt zu verstehen. Hier besteht eine offene, aber höchst virulente Frage. Sie hat nicht nur dem Verständnis der an der Christentumsgeschichte orientierten Konzeption der Kulturgeschichte Troeltschs Schwierigkeiten in den Weg gelegt, die zu klären n o c h aussteht. Das neue „Religionsproblem Europas" kann mit good-will-Erklärungen vielleicht vordergründig pazifiziert werden, aber in seinem latenten Differenzpotential nicht begriffen werden. Es könnte auch Anlaß sein, dem Verhältnis von historisch-soziologischer Rekonstruktion und systematischer Konstruktion im Gegenwartsinteresse erneut Aufmerksamkeit zu widmen.
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HANS BARON Ernst Troeltsch: Philosophie der Geschichte. Nachschrift der Berliner Vorlesung im Zwischensemester 1919 herausgegeben und eingeleitet von Hans Cymorek, Friedrich Wilhelm Graf und Christian Nees Einleitung Am 31. Januar 1920 nahm Ernst Troeltsch nach siebenjähriger Unterbrechung den Briefwechsel mit einem seiner intellektuell stimulierendsten Korrespondenzpartner wieder auf. Für den in London lebenden katholischen Privatgelehrten Friedrich Baron von Hügel umriß er mit leidenschaftlicher Nüchternheit die eigene Lebens- und Leidenslage: „Die Zeit hat mich in Kampf und Arbeit hineingezogen. Ich bin Abgeordneter des Parlaments, Unterstaatssekretär im Kultusministerium, muß unendlich viel reden, schreiben und lesen. Kurz, ich kämpfe für Vernunft, Besonnenheit, Ordnung, Arbeit und unvermeidliche Zugeständnisse an die Massen, so tapfer und eifrig als ich kann. Stunden völliger Verzweiflung sind mir nicht erspart, aber innerlich bin ich ruhig und bis zu einem gewissen Grade heiter geblieben. Meine wissenschaftliche Arbeit schreitet fort, augenblicklich auf Geschichtsphilosophie bezogen. Sie gibt mir den Halt und den Stoff für alle Arbeit." 1 Den „Stoff", seine Gegenwartstauglichkeit und sein Krisendeutungspotential, hatte zumal der akademische Lehrer Troeltsch in den gerade zurückliegenden Monaten vor großem Publikum intensiv erprobt: Das Thema seiner zweistündigen Freitags-Vorlesung (17-19 Uhr) im zweiten nachkriegsbedingt eingerichteten Zwischensemester der ihres Namens noch nicht wieder ganz gewissen „Universität Berlin" hieß so anspruchsvoll wie lapidar „Philosophie der Geschichte". Vom 22. September bis zum 20. Dezember 1919 füllten allerdings nicht nur Kriegsteilnehmer und „Grenzschutz Ost"-Kämpfer die Hörsäle Unter den Linden. Auch wer sein Studium nicht des Waffendienstes wegen hatte unterbrechen müssen, war
1
Emst Troeltsch an Friedrich v o n Hügel, 3 1 . 1 . 1 9 2 0 , in: Karl-Ernst Apfelbacher, Peter Neuner (Hg.): Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel 1 9 0 1 - 1 9 2 3 , Paderborn 1 9 7 4 , Brief Nr. 12, S. 1 0 1 - 1 0 7 , hier S. 1 0 3 .
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dank Ministerial-Erlaß vom 28. Juli 1919 ausdrücklich „zum Belegen von Vorlesungen und Übungen im Zwischensemester" zugelassen worden: „Nur muß der Platz reichen; die Kriegsteilnehmer gehen bei den Plätzen voran." 2 So konnte auch der 19jährige Berliner Arztsohn Hans Baron, der sich nach dem Abitur nicht mehr an der Front oder in Freikorpsscharmützeln, sondern lediglich im „Vaterländischen Hilfsdienst" ausgezeichnet hatte, Troeltschs geschichtsphilosophische „tour d'horizon" von der ersten Stunde an mitverfolgen. 3 Seine Aufzeichnungen werden im folgenden erstmals ungekürzt ediert. Baron hatte sich im Revolutionswinter 1918/19 an der Berliner Universität für Geschichte, Philosophie und Germanistik immatrikuliert, besuchte zudem Lehrveranstaltungen in Geographie, Kunstgeschichte und Nationalökonomie und verriet so - je nach Interpretationsperspektive - eindrucksvolle Vielseitigkeit der Interessen oder das typische Orientierungsdefizit des Studienanfängers. Manches spricht dafür, daß zunächst weniger der gelehrte Geschichtsdenker Troeltsch den jungen Baron faszinierte als vielmehr der politische Bürgertugenden praktizierende Intellektuelle, der im Zentrum des Berliner Wahlkampftumults von Lastwagen der DDP herab das Ethos demokratischer Konsensbildung verkündete. Am 16. Dezember 1918 hörte Baron Troeltschs Vortrag vor dem Demokratischen Studentenbund, und als Aktivist der „Freien wissenschaftlichen Vereinigung", einer liberalen Berliner Studentenverbindung, gewann der Geschichtsstudent den prominenten Redner im Oktober 1919 für einen Vortrag über „Subjektivismus und Religion". Der politisch engagierte Schüler von Troeltschs Freund und Kollegen Friedrich Meinecke wechselte 1920 für zwei Semester an die Universität Leipzig, wo er in dem liberalen Historiker und Renaissance-Spezialisten Walter
2
Philosophische Fakultät der Universität Berlin: Verzeichnis der Vorlesungen und Kurse des Zwischensemesters v o m 2 2 . September bis 2 0 . Dezember 1 9 1 9 , Berlin 1 9 1 9 , o. P.
3
Zu Biographie und Werk v o n Hans Baron ( 1 9 0 0 - 1 9 8 8 ) vgl. Kay Schiller: Gelehrte Gegenwelten. Über humanistische Leitbilder im 2 0 . Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2 0 0 0 ; Klaus Große Kracht: „Bürgerhumanismus" oder „Staatsräson". Hans Baron und die republikanische Intelligenz des Quattrocento, in: Leviathan 2 9 (2001), S. 3 5 5 - 3 7 0 ; Perdita Ladwig: Das Renaissancebild deutscher Historiker 1 8 9 8 - 1 9 3 3 . Frankfurt a. M., New York 2 0 0 4 ; Friedrich Wilhelm Graf: Das Erbe Ernst Troeltschs, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 0 2 (2004), Heft 12, S. 2 7 - 3 2 .
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Goetz den lebenswegweisenden Mentor fand, kehrte nach Berlin zurück und besuchte neben Troeltschs Seminaren auch
dessen
Vorlesungen
über „Ethik und Kulturphilosophie" im Sommersemester 1921 und über „Geschichtsphilosophie" im Wintersemester 1 9 2 1 / 2 2 . 4 Barons Dissertation über „Calvins Staatsanschauung und ihre religiös-ethischen Grundlagen" stand dann bereits, wie der Autor im Rückblick bekannte, „ganz unter Troeltschs, nicht Meineckes Einfluss" 5 . Erst über das Rigorosum aber, in dem Troeltsch den Kandidaten Baron im Fach Philosophie prüfte, ergab sich ein persönlicher Kontakt zu dem bewunderten Lehrer. Schon ein halbes Jahr später sollte dann aus dem Doktoranden der erste Troeltsch-Editor werden, und n o c h der Siebzigjährige, als führender Renaissanceforscher seiner Generation ehrenvoll etabliert, betonte über alle Brüche der eigenen Emigrantenbiographie hinweg, wie „tief verpflichtet und dankbar" er sich dem intellektuellen Berliner Lehrmeister „als Denker und moralische Persönlichkeit zeitlebens gefühlt habe" 6 . Wie suggestiv, wie erhellend oder verstörend im Spätherbst 1 9 1 9 freilich das öffentliche Ringen mit den Problemen des Historismus auf einen jugendlich-sinnhungrigen Bildungsbürger wirkte, verraten die Notizen Barons nicht. Ein Briefzeugnis aus dem J a h r 1 9 2 5 spiegelt eher Enttäuschung über das Berliner Weltdeutungslabor: „Es war mir in Berlin nicht gelungen, für meine unbestimmten Wünsche nach geschichtlicher Belehrung einen festen und fruchtbaren Ansatzpunkt zu g e w i n n e n " 7 . Statt dessen hatte er jedoch einen unter dramatischem Problemdruck forcierten Syntheseprozeß miterlebt - und einen ,,Fürst[en] der Wissenschaft" 8 , der „im Lernen u[nd] Suchen" als „Mitschüler" auftrat, als Mitarbeiter „an der großen Aufgabe einer Erfrischung u[nd] Erneuerung des grundsätzlichen u[nd] dabei insbesondere des kulturphilosophischen Denkens" 9 .
4 5 6 7 8
9
Von beiden Vorlesungen haben sich Mitschriften im Nachlaß Barons erhalten. Hans Baron an Martin Ostermann, 8.11.1969, Privatbesitz. Ebd. Hans Baron an Walter Goetz, 18.1.1925, BA Koblenz, Ν 1215, Nachlaß Walter Goetz, Nr. 32. So Barons eigene Nachrufrhetorik, vgl. Hans Baron: Notizen zum Nachruf auf Ernst Troeltsch, gehalten in der F. W. V. Berlin am 5. Februar 1923, in: Ernst Troeltsch in Nachrufen, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf unter Mitarbeit von Christian Nees, Gütersloh 2002, S. 262-265, hier S. 263. Ernst Troeltsch an Paul Tillich, 14.5.1919, Andover-Harvard Theological Library Boston, Nachlaß Paul Tillich.
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Die Vorlesungsmitschrift umfaßt 17 Seiten in Barons gut lesbarer Handschrift und befindet sich im Nachlaß des Gelehrten in der William R. Perkins Library, Special Collections, Duke University, Durham, North Carolina, Hans Baron Papers, Acc. 95-628, Box 5. Verschreibungen bzw. durchgestrichene Textteile wurden, soweit zu entziffern, in die Transkription aufgenommen.
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Ernst Troeltsch: Philosophie der Geschichte (Zwischen-S. Oktober - Dezember 1919) §1: Das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie Die heutige Historie ist das Werk des 19. Jahrhunderts, als Gegenschlag gegen den Rationalismus der französischen Revolution. Heute ist unser ganzes Leben in historisches Denken getaucht, vom pflanzlichen u. tierischen Leben bis zum menschlichen Leben der Gegenwart. Dabei ist vorherrschend das Streben nach kausaler Erklärung; besonders sucht der zünftige Forscher so viel wie möglich die Notwendigkeit dieses ungeheuren Gewordenseins zu erkennen. Und glaubte man schließlich dabei eine gewisse Stufenfolge gefunden zu haben, so hielt man damit die Aufgabe der Geschichte für erschöpft. So war es allein die Freude an Der Gegenschlag gegen diese rein theoretische Betrachtung weit entlegener Zeiten kam dann aber im Angesicht dieser ungeheuren Masse der Geschichte, die heute niemand mehr zu übersehen vermag, angesichts des Strebens, sich in weit abgelegene Gebiete zu vertiefen, während sich s e in der eigenen Gegenwart doch so viele andere geschichtliche Rätsel auf Lösung drängen. Dieser erste Angriff wurde durch Nietzsches Schrift „Vom Nutzen u. Nachteil der Historie" unternommen. So entstand die Abneigung gegen den ertötenden, lähmenden „Historismus an sich", den überall sich vordrängenden „Evolutionismus", der damit zusammenhängenden [Seite 2] Verfälschung des Wirklichen. Und in der Tat wird der heutige Mensch von der Fülle des geschichtlichen Wissens erdrückt; ist doch [sie!] es doch gerade durch unseren Historismus gekommen, daß unser Jahrhundert auf allen Gebieten als ein besonders produktionsunfähiges genannt werden muß. Jetzt aber kommt dazu, daß nun eine ganze große geschichtliche Periode zu Ende ist, eine neue Zeit heraufzieht. Da ist das Historische in seinem Innersten erregt; die Historie ist uns wieder zum Problem geworden. Anderseits bricht jetzt aber auch auf dem Gebiete der Philosophie von neuem wieder das Interesse auf an geschichtlichen Problemen hervor. Die neuere Philosophie von ihren Anfängen bis auf Kant baute sich in erster Linie auf den Ergebnissen der neuen Naturwissenschaft u. Mathematik auf; aber schon in Voltaire u. Rousseau, dann in Deutschland in Herder u. Hegel
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begann die historische Durchdringung dieses Weltbildes. Um die Mitte des 19. Jahrhundert verlief sich dann diese ganze Gedankenrichtung zugleich mit einer Ebbe der Philosophie. Nun hatte wandte man sich, dem skeptischen Zuge der Zeit gemäß, wieder der philosophischen Durcharbeitung der Ergebnisse der Naturwissenschaften zu. Erst in der neuesten Philosophie der letzten 10-20 Jahren ist dann wieder ein Rückschlag zu Gunsten einer Lebens-, Geistes- u. Geschichtsphilosophie erfolgt. So können wir also von der Problemstellung von dieser Seite her wieder von einem Wiederaufleben der Geschichtsphilosophie sprechen. Was bedeutet also Geschichtsphilosophie in diesem Sinne als eine von einer historischen Betrachtungsweise genährte philosophische Weltanschauung überhaupt? Die antike u. mittelalterliche Philosophie konnten ihrem Wesen nach eine solche Geschichtsphilosophie gar nicht erzeugen; aber doch ist Geschichtsphilosophie wohl ein Spätling, eine besondere Disziplin der Philosophie überhaupt. Geschichtsphilosophie gibt es erst von dem Augenblicke an, wo es ein Problem der Geschichte gibt; u. dies ist erst seit dem 18. Jahrhundert der Fall. [Seite 3] Geschichtsforschung oder -Schreibung hat es freilich zu allen Zeiten gegeben. Aber das ist etwas rein Empirisches. Die philosophische Verarbeitung des so Genannten beginnt aber erst in dem Moment, wo man sich nach dem Wert dieser Erkenntnisse u. die Möglichkeit der Einordnung der selben in das Weltganze fragt. So besaßen die alten Griechen zwar eine ausgedehnte, empirische Geschichtsforschung, jedoch keine Geschichtsphilosophie; ist doch die griechische Philosophie gerade darauf gerichtet, dem Zufällig-Geschichtlichen gegenüber das Zeitlose, Ewige, Wandellose zu suchen. Was aber der Welt des Werdens angehört, ist damit auch der Veränderlichkeit, dem Scheine anheimgegeben; darüber aber herrscht das ewig wandellose Gesetz der Natur. Dann aber fehlt dem Griechentum auch der Begriff der „Menschheit"; nur die Griechen sind berufen, an jener ewigen Ideen-Welt der Ideen teilzuhaben. Dann aber kann man von einem Verständnis der realgeschichtlichen Entwicklung keine inneren Vorteile erhoffen. Beschäftigt man sich dennoch mit dem historischen Werden, so gelangen schließlich die meisten der griechischen Denker zur Annahme eines Kreislaufes der Welten. Eine wesentlich andere Stellung zur Geschichte zeigt das Christentum, obwohl es ebenfalls keine Geschichtsphilosophie zu entwickeln vermochte. Das Christentum sah in der Tat in der Geschichte einen einmaligen, sinnvollen Vorgang mit einem sichtbaren Ziel u. einem Höhepunkt, der
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Erscheinung des Erlösers. Aber das Ziel wird nicht durch Spekulation, sondern durch Glauben erkannt. Allgemeine Gesetze u. inneres Durchdenken des empirisch Gewonnenen wurden hier nicht [ve]rsucht; nur insofern hat hier die Geschichte ihren Erkenntniswert, als in seinen [sie!] eine „höhere" Welt hineinragt. Aber Geschichtsphilosophie ist auch dies nicht. Und auch Augustins „civitas dei" ist nur sehr ungenau u. einseitig so zu bezeichnen; das philosophische Element dabei ist das denkbar Geringste u. stammt dazu noch aus der Spätantike, das übrige ist nur als „Heilsgeschichte" zu bezeichnen. [Seite 4] Eine Auflösung derselben trat in der Renaissance ein. Aber die neue Wissenschaft der Renaissance u. des Barock, die ja ganz auf das Griechentum zurückging, suchte wieder die allgemeinen Gesetze des Universums zu erforschen, freilich nicht durch die Spekulation des Griechentums, sondern durch empirisch-mathematisch-mechanische Forschung. Dazu trat Neben diese Betrachtung u. Erklärung der Natur trat nun zwar noch eine praktisch-ethische Vernunftlehre; von geschichtlicher Betrachtung aber ist keine Rede. Ist dies aber doch einmal der Fall, wie bei Hobbes, so wird eine rein materialistische Geschichtsphilosophie in den Rahmen der Natur eingegliedert; der Staat wird eine künstlich geformte, dem Tier- u. Menschen-Körper nachgebildete Maschine. Auch bei Spinoza findet sich dann eine gewisse Berücksichtigung der Geschichte, aber auch hier wird die Geschichte unter rein mechanistischem Charakter gesehen; u. nur durch eine Erhebung über dieses mechanistische Geschehen u. durch die Hingabe an das ewige Gesetz des Alls ist es dem Menschen möglich, innerlich frei zu werden. - Leibniz hat dann den Übergang gemacht von dieser mechanistischen zu einer idealistischen Auffassung im Sinne des späteren deutschen Idealismus. Aber er selbst hat in seiner Philosophie davon noch kaum einen Gebrauch gemacht. Die Anfänge der modernen Geschichtsphilosophie sind vielmehr an ganz anderer Stelle zu suchen, nämlich im Frankreich des 18. Jahrhunderts, wo man sich zwar der Grundlagen der hier neuerblühten Kultur in den mathematisch-mechanischen Wissenschaften bewußt war, aber doch das lebhafte Bedürfnis empfand, sich u. die „Errungenschaften" der neuen Epoche mit den früheren geschichtlichen Vorläufern, der Epoche des „geistesverwandten" Griechentums u. der Zeit finsteren, eben vergangenen kirchlichen Zeit auseinanderzusetzen. Diese Denkweise, mit der sich dann eben die Humanitätsidee verband, ist vom modernen, weit objektiver gewordenen Standpunkt aus wiederholt als „unhistorisch" bezeichnet
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worden. Wenn man aber diese modernen Maßstäbe zurückhält, so muß man trotz allem anerkennen, daß ein Werk wie Voltaires „Essai" oder die Arbeiten des englischen Historikers Hume von wirklich geschichtsphilosophischem Geiste erfüllt [sind]. [Seite 5] Troeltsch: Philosophie der Geschichte. Diese gleichmäßige Berücksichtigung von Staat, Nation, Kultur greift dann auch nach Deutschland über. Im „Voltairianischen" Stadium aber ist ein wirklich unbefangenes, geschichtsphilosophisches noch nicht erreicht, indem die Unübertrefflichkeit der eigenen Zeit doch eine These ist, die kaum noch eingehend bewiesen zu werden braucht. Eine Änderung brachte hier erst Jean Jacques Rousseau mit seiner gegenteiligen Verdammung aller modernen Kultur; für [ihn] ist alle Geschichte überhaupt nur ein Herabsinken des Menschen von einer vorhistorischen Humanität. In der Auseinandersetzung mit diesem Gedanken folgte man nun doch meistens nicht diesem Pessimismus, sondern baute gerade daran den Gedanken des Fortschritts der Humanität, der nunmehr so bedeutend wird, weiter u. weiter wissenschaftlich-kritisch aus. Jetzt hatte man in der Entwicklung der Humanität einen geschichtlichen Wert, der durch keine naturwissenschaftliche Begriffsbildung zu bewältigen war. So entstanden im Anschluß an diese Gedanken große Schulen, in Frankreich durch Sismondi, Comte u. Taine und in Deutschland durch Herder, Goethe, Kant u. Hegel. In den 40er u. 50er Jahren beginnt aber allmählich ein Zusammenbruch dieser Geschichtsphilosophie unter der allzu großen Spezialisierung der exakten Historie, unter einer starken Vorliebe für naturwissenschaftliche Begriffsbildung, für Materialismus u. technische Praxis, die die ganze Philosophie in gleicher Weise tödlich trafen. Geschichtsphilosophie aber wurde jetzt allgemein für eine Chimäre erklärt. Der Stimmung dieser Generation, die sich 10 von der Gewalt des „Historismus" bedrückt wurde [sie!], wurde durch Nietzsches „Vom Nutzen u. Nachteil der Historie" Ausdruck verliehen. Ähnliche Gedanken vertraten dann Männer wie der Engländer John Ruskin, wie Paul de Lagarde, Chamberlain. Diese Dilettanten haben trotz der scharfen Ablehnung durch die zünftige [Seite 6] Historie doch auf die Historiker der nächsten Generation die allergrößte
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Nachträglich eingefügt.
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Wirkung ausgeübt. Und gleichsam kam die Philosophie überhaupt wieder zu neuem Leben. So fanden sich allmählich die beiden Hälften wieder, u. es begann von neuem eine kulturhistorisch orientierte Philosophie zu erblühen. Und zwar wandte man sich jetzt, da für eine Metaphysik irgendwelcher Art von den Einzeldisziplinen kein Platz gelassen war, vor allem einmal den Grundlagen aller Wissenschaft überhaupt, der Erkenntnistheorie zu. Für die G eschichtsphilosophie Historie selbst aber war der Gewinn dieser Erkenntnistheorie ein geringer; die Geschichtsbetrachtungen dieser der exakten Historiker dieser Epoche zeigen ein greisenhaftes Aussehen, indem sie die Menschheit unter dem Banne großer, unveränderlicher Naturgesetze sehen. Da war es nun die Aufgabe der neuen Erkenntnistheorie, eine neue „geisteswissenschaftliche" Begriffsbildung u. Betrachtung zu schaffen. Aber die ersten, die hier tätig waren, wie Wilh. Wundt, die eine neue psychologische Geschichts Gesetzmäßigkeit annahmen, wußten sich von jener Beherrschung naturwissenschaftlicher Begriffsbildung doch noch nicht völlig frei zu machen. Dazu bedurfte es erst der langen logischen Arbeit eines Dilthey, Windelband, Rickert u. a. Der führende Denker unter ihnen war Wilh. Dilthey. Auch er ist noch aus der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise herausgewachsen; so bemüht sich denn seine „Einleitung in die Geisteswissenschaften" in der Psychologie die Grundlage der Geisteswissenschaften zu finden. Dann entwickelten Windelband in seiner Straßburger Rektoratsrede „Natur- u. Geisteswissenschaft" und Heinrich Rickert in den „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" den Unterschied zwischen nomothetischen u. idiographischen Wissenschaften, während die Psychologie durchaus eine „Naturwissenschaft" sei. So müsse das ganze Problem von der Logik, nicht von der Psychologie her angepackt werden. Rickerts Schüler Lask, zu früh durch den Weltkrieg entrissen, schließt sich in kleineren Schriften der Windelband-Rickertschen Schule an. [Seite 7] Demgegenüber ist Simmel vom psychologisch-naturwissenschaftlichen allmählich mehr u. mehr zu einem logisch gerichteten Standpunkt hinübergeglitten, während er dabei darauf hinwies, daß auch durch die geschichtliche Begriffsbildung keine Abbildung der realen Wirklichkeit, sondern eine Umbildung u. Vereinfachung unter dem alleinigen Gesichtspunkt der historischen Individualität stattfände (Probleme der Geschichtsph.). An diese großen Bahnbrechern [sie!] schlossen sich dann noch an Männer wie: Max Weber (viele kleine Abhandlungen); Ed.
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Spranger (Dilthey-Schüler); Heinrich Meyer11; Ed. Meyer (s. Bd. der Gesch. des Altertums); gleichzeitig u. abhängig von dieser neukantischen Schule in Frankreich: Bergson. - Jüngst hat nun der junge Botaniker Neeff (in „Gesetz u. Geschichte" 1917 u. „Kausalität u. Originalität", 1918) alle diese Fragen in interessanter Weise von seinem Standpunkte aus betrachtet. Durch diese formal-methodische Arbeit waren nun wieder die Tore zur Geschichtsphilosophie geöffnet. Kann man aber nur bei diesem nüchternen u negativen Bestreben stehen bleiben? Es bleibt doch noch die Frage nach dem Inhalt, dem Sinn, den Entwicklungsgesetzen, der Zukunft des geschichtlichen Werdens? Der erste derartige Versuch war Lotzes „Mikrokosmos", ein Buch, das bewußt mit Herders „Ideen" zu wetteifern suchte; u. so gibt er auf die These die Antwort: die Humanität als Vollentwicklung der aller Teile menschlicher Kultur zur „Vernunft". Ähnliche Gedanken finden sich dann in dem Bande der „Abhandlungen" Diltheys; aber hier beginnt schon der Zweifel an der allgemeingültigen Humanität, die „Anarchie der Werte". Mindestens scheinen sie jetzt auf einzelne Gruppen, Kulturkreise, die kommen und vergehen, verteilt. Dann aber kann es auch für die Gesamtentwicklung einen letzten Abstieg geben, u. die Forderung einer letzten, allumfassenden „Humanität" ist dann vielleicht nur eine letzte Analogiebildung zum christlichen Gottesreich! Aber noch war hier [Seite 8] diese Wertskepsis nicht bis zu den äußersten Konsequenzen gelangt. Viel schärfer war diese Skepsis an einem allgemeinen Fortschritt ausgeprägt in Burckhardts „Weltgeschichtlichen Betrachtungen", das dennoch sich mit ganzer Liebe der konkreten Wirklichkeit hingibt u. von tiefen Betrachtungen geradezu wimmelt. Vor einer allzu starken Anarchie hält Burckhardt jedoch sein ästhetisches Empfinden zurück. (Ähnlich in seinen „Briefen" u. den „Vorträgen"). Gleichzeitig aber wird doch der stärkste Zweifel, ja die Überzeugung von dem kulturellen Niedergang unser[er] Zeit laut. - Diesen Gedanken einer völligen Anarchie der Werte ging aber Nietzsche bis zu den äußersten Konsequenzen nach. Oft besteht aber eine Konstruktion der menschlichen Fortschrittsentwicklung auf einem ganz aristokratischen Boden aus Nietzsches Jugendzeit (die „Geburt der Tragödie"), wo er noch keineswegs eine „Anarchie der Werte" kannte. Jedenfalls haben wir hier eine dem Liberalismus u. Humanismus diametral entgegengesetzte Richtung vor uns. Nicht geringere Anstöße gab, wenn
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Gemeint ist Heinrich Maier.
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auch in ganz anderer Richtung, gaben neben Nietzsche noch zwei andere Denker: Karl Lamprecht u. Karl Marx. Lamprecht war im Gegensatz zu den übrigen genannten Denkern Berufshistoriker; seine Lehre ist im Grunde sehr einfach: es müsse mit Hilfe der weit vorgeschrittenen Methode der Psychologie möglich sein, im Leben eines jeden Volkes eine bestimmte Reihefolge [sie!] verschiedener Kultur-Zeitalter festzustellen, die durchaus nach in Analogie der Entwicklung des Einzelindividuums entnommen sind. So groß u. eigenartig aber auch diese Gedanken sind; in ihrer rein naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise bleibt jede Frage nach Sinn oder Ziel der Geschichte unbeantwortet. - Noch viel bedeutsamer aber war das geschichtsphilosophische Denken von Karl Marx. Der Ausgangspunkt ist, daß die Geistigkeit der einzelnen Menschen nicht so souverän ist, wie sie selbst glauben, sondern zum größten Teil abhängig ist von der sozialen Lage, ja in der Hauptsache von den ökonomischen Verhältnissen: der Ernährungsgeist u. die gesellschaftlichen u. technischen Formen, in denen sich jener bewegt, sind das Entscheidende. Das gilt für ganze Kulturen, Völker, aber auch die einzelnen Volksschichten. Die einzelne innere Geschichte aller staatlichen Gebilde wird aber gebildet von [Seite 9] den bewußten u. unbewußten „Klassenkämpfen" dieser Schichten. Diese Klassenkämpfe liegen im Grunde auch allen Verwicklungen der äußeren Politik zu Grunde. Allen diesen Bewegungen aber liegt ein endgültiges Naturgesetz zu Grunde, das freilich nicht psychologisch-historisch, sondern nur im Schema Hegelscher Dialektik begriffen werden könne. Mit Hegel stimmt Marx überein, daß die Geschichte beherrscht werde von der Sukzession der großen, führenden Völker: die asiatischen Kulturvölker, die griechisch-römische Antike, der mittelalterliche Feudalismus, der moderne technisch-kapitalistische Staat, in dem der Gegensatz der die Produktionsmittel besitzenden u. der handarbeitenden Klassen wachsen muß, bis die Selbstauflösung der herrschenden Klassen die Emanzipation des Arbeiters herbeiführt. Zuletzt wäre zu nennen Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes"; Spengler, Mathematiker u. Physiker, ist jedenfalls ein äußerst geistreicher u. umfassender Kopf, augenscheinlich bedeutsam von Goethe beeinflußt. So kommt er zu der Erkenntnis, daß das historische Denken ein von dem naturwissenschaftlichen völlig verschiedenes sei. Nicht durch Summierung zahlloser Eigcntü Einzelheiten setze sich das Bild einer Zeit zusammen, sondern nur durch Intuition werde es möglich, die großen Zusammenhänge zu schauen. Auch für ihn bedeuten die einzelnen großen
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Kulturen völlig auf sich gestellte Individualitäten, die kaum einander zu verstehen vermöchten. Und in ihnen beruhe der eigentliche Wert der Geschichte. Diese intuitive Methode aber bemächtigt sich vor allem der Seite der Kunst, vernachlässigt dagegen alle anderen Seiten, wie z. B. die der Wirtschaft. Ist somit aber eine Formel des Seins erlangt, so muß auch noch das Werden der einzelnen Kulturen erkannt werden. Diesem legt er das allgemeine Schema der Jahreszeiten zu Grunde; das ist der bedenklichste Punkt der ganzen Konstruktion. So wird es möglich, Parallelen zwischen den einzelnen Kulturen zu ziehen. Wie Lamprecht u. Marx will aber [Seite 10] auch Spengler nunmehr die Stellung unserer eigenen Zeit zu [sie!] bestimmen. Da erscheint ihm die Parallele mit dem ausgehenden Altertum nahe zu liegen, u. so kommt er zu der Lehre von dem „Untergang des Abendlandes", wo sich ihm Stoa u. Sozialismus auf die gleiche Stufe des Ausgangs aller Kultur stellen. Die Grundzüge der formalen Geschichtslogik Zu scheiden ist da zuerst zwischen den Gesetzen des Denkens u. des Erkennens. Das logische Denken ist nur ein Mittel, die Erlebniswirklichkeit zu ordnen, ihrer Herr zu werden; aber damit bleibt die Wirklichkeit doch sie selbst u. wird durch das Denken nicht umgestaltet: es heißt nur, das Zusammengeratene als ein Zusammengeordnetes zu begreifen (Lotze). Ist es aber wenigstens möglich, dieses Ganze der Wirklichkeit in ein lückenloses Gespinst von Grund u. Folge, in eine große Einheitlichkeit zu verwandeln? Die Frage nach der Berechtigung dieses Postulats ist der Hauptpunkt aller Logik. Nach Troeltsch ist es ein Irrtum! Es bleibt zwischen Welt u. Göttlichem ein Unterschied, ja ein Gegensatz, der eine restlose Durchführung des Satzes von Grund u. Folge oder des Satzes des Widerspruches auch für einen göttlichen Geist Verstand nicht erlaubte; denn wir stoßen in jedem Erlebnis, jeder Tatsächlichkeit auf schlechthin unlösbare Widersprüche. Ein Pluralismus ist die einzige Möglichkeit. Gehen wir nunmehr aber vom Denken zum Erkennen über, so tun wir es mit dem Bewußtsein, daß es dann auch nicht ein einheitliches Erkennen, sondern ein oft sogar widersprüchliches Erkennen auf den verschiedenen Gebieten gibt. Es gilt in der großen Erlebniswirklichkeit die großen Einstellungen zu finden, überall eine Einheit festzustellen. Dann aber werden [Seite 11] wir es auch verstehen, daß es einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen naturwissenschaftlichem u. historischem Denken gibt. Handelt es sich doch bei jedem Er-
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kennen u m ein verschiedenartiges praktisches Interesse des betrachtenden Menschen. So sind unsere Interessen auf den Gebieten der Naturwissenschaft u. der Geschichte verschiedene. Die erstere abstrahiert v o n allem Individuellen, Bewerteten, Qualitativen u. sucht nur einheitliche Abstraktionen, allgemeine Gesetze, während die letztere gerade nach dem Individuellen, Einmaligen strebt. Freilich ist diese Scheidung zwischen Natur- und Geschichtswissenschaft keine strenge. Biologie u. beschreibende Naturwissenschaften sind relativ historische, Soziologie und Anthropologie relativ naturwissenschaftliche Disziplinen. Suchen wir aber den wesentlichen logischen Unterschied festzustellen, so müssen wir von den beiden Polen, der eigentlichen Geschichte und der mathematisch betriebenen Naturwissenschaft, ausgehen. Welches ist n u n die eigentümliche historische Methode? Zuerst ist da vorzunehmen eine Auslese einer individuellen Totalität; denn es ist eine Unmöglichkeit für die Historie, das Ganze der Geschichte zu umspannen. So ist der Gegenstand nicht unmittelbar gegeben, sondern m u ß für jede Aufgabe von neuem konstituiert werden. Und O h n e eine spezielle Fragestellung gibt es keinen historischen Gegenstand. Immer vermag sich jedoch diese Fragestellung nur auf solche Partien der Geschichte zu richten, von denen ausreichende Quellen erhalten sind. Deshalb ist eine [Seite 12] wirklich einheitliche Weltgeschichte stets unmöglich; und ebenso ist eine Frage wie die nach dem „Charakter des G e r m a n e n " historisch unbeantwortbar, weil uns die Quellen für die Urzeit dazu notwendigen Quellen der germanischen Urzeit fehlen. Für die Art dieser Fragestellung gibt es n u n natürlich keine festen Regeln; es ist dies ein durchaus subjektives Glied der Historie. Zuerst hat sich das Interesse ausschließlich der Einzelpersönlichkeit zugewandt, wie alle alten Helden- u. Stammsagen zeigen; daraus ist dann die heutige, oft eine ganze Zeitgeschichte umfassende, Biographie erwachsen. Jeder noch so weit gefaßte Kreis, also sogar der der Menschheit selbst, bleibt in gleicher Weise eine individuelle Totalität. So sind die heutigen europäischen Völker allgemein zur Darstellung ihrer eigenen Volksgeschichte, endlich auch des europäischen Kulturkreises selbst gelangt. Die letzten entscheidenden Beweggründe zu der jedesmaligen Konstituierung des Gegenstandes sind freilich nicht mehr wissenschaftlich zu begründen, sondern beruhen auf individuellen Axiomen, die nur gebilligt oder abgelegt [sie!] werden können. Jeder dieser Individualitäten - sei es ein einzelnes Individuum oder eine Gesamtheit - liegt nun ein letztes unerklärbares Urphän o m e n zu Grunde, auf das man stets wieder zurückgehen muß, das m a n aber niemals überschreiten kann. So kann es also immer nur ein Hinein-
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versetzen in dieselben geben wie auch bei jeder Biographie möglich; aber ein rohes zoologisches Bild wird dann bereits als gegeben hingenommen u. wird nicht weiter erklärt. Darauf beruht eben alle Einfühlung, alle philologische Rekonstruktion. Und hier hat auch der Begriff der „historischen Freiheit" seine Stätte. Die Rekonstruktion einer geschichtlichen Epoche ist nun nicht möglich durch eine Zusammenstellung unzähliger Einzelheiten; sondern es gilt immer, das „Wesentliche" herauszuheben. Deshalb ist aber auch geschichtliche Darstellung keine Photographie der Wirklichkeit, sondern eine Umbildung zu einem Bilde des Wesentlichen nach unserer Anschauung. Dadurch [Seite 13] wird aber die Zuverlässigkeit historischer Darstellungen nicht erschüttert, wenn auch erschwert. Es ist eben die Aufgabe des Forschers, die wahrhaft u. objektiv wesentlichen Züge herauszufinden. So sind in dieser Hinsicht auch die strengsten unserer historischen Forschungen u. Werte im wesentlichen Kunstprodukte u. Abstraktionen. - Wenn nun aber eine genaue Abbildung der Erlebniswirklichkeit nicht gegeben werden kann, so läßt lassen sich durch Andeutung, leise Hinweisung auf Erlebniserfahrungen u.s.w. doch der Phantasie des Lesers nicht wenige viele Dinge nahe bringen, die im Einzelnen unmöglich ausgeführt werden können. So ist der Begriff der „Vertretung" von höchster Bedeutung bei der Schaffung historischer Gemälde, wenn darin auch eine gefährliche Quelle von Unklarheiten liegt. Auch hier also findet liegt ein Prinzip der Auslese aus der Erlebniswirklichkeit vor. Diese Auslese aber findet stets statt unter dem Gesichtspunkt einer ..Sinneseinheit", unter den eine bestimmte Epoche subsumiert wird; eine solche „Sinneinheit" ist aber selbst für eine jede Biographie schlechterdings notwendig. Diese „Sinneinheit" ist durchaus nichts Teleologisches; ohne sie aber wäre historische Darstellung überhaupt unmöglich, indem sie ja gerade erst das historische Interesse ausmacht. - Angegriffen haben diese Theorie der Umbildung der Erlebniswirklichkeit in die historische Wirklichkeit Eduard Meyer, der als Gegenstand der Historie alles „Wirksame" betrachtet, alles Unwirksame aber ausschließt; ähnlich der Kirchenhistoriker Overbeck, der das „Dauerhafte" dafür ansieht. Nach Troeltschs Meinung erledigen sich aber diese Einwände dadurch, daß im Grunde diese „Wirkungen" sich doch immer auf jenes „Sinnvolle" beziehen müssen; denn man muß doch stets fragen ,wofür wirksam?' Das Verhältnis zwischen Gemeinschaft u. Individuum oder zwischen Gemeingeist u. Einzelgeist ist seit jeher der Mittelpunkt des heftigsten Streites gewesen. Das Vorhandensein des [Seite 14] des [sie!] „Gemeingei-
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stes" behaupten die Organiker aller Schattierungen, mögen sie auch auf dem verschiedensten philosophischen Grund stehen; so gehören hierhin entgegengesetzte Naturen wie Gierke, August [sie!] Comte, Schäffle, John Ruskin. Aber dieser ganze Gedanke wird als wesenlose Mystik bekämpft von den Anhängern des „Einzelgeistes", die jenen ganzen „Organismus" als ein „Bündel von psychophysischen Vorgängen" kausal auf das Zusammenwirken der einzelnen Individuen zurückführen suchen. Für die Rickertsche Theorie kommt die Entscheidung in diesem Streite übrigens nicht in betracht, wie auch der Begriff der „individuellen Totalität" davon zwar nicht unberührt bleibt, jedoch nicht erschüttert werden kann. Troeltsch selbst aber ist der Meinung, daß es doch irgendwie etwas wie einen solchen „Gemeingeist" geben müsse! Danach muß in jedem einzelnen Falle die Frage von neuem gestellt werden; es ist jedesmal Sache des historischen Takts, den Einfluß des „Gemeingeistes" u. der Individuen gegeneinander abzuwägen. Von nicht geringerer Bedeutung ist übrigens die Kernfrage nach dem „Unbewußten" in der Geschichte. Auf eine Entscheidung der exakten Psychologie über dieses Problem kann der Historiker freilich nicht abwarten; er wird wieder mit natürlichem Takt das Unbewußte, Irrationale sowohl in den Massen wie im Einzelnen anerkennen müssen! Von der allergrößten Bedeutung für alle Historie ist der Begriff des „Neuen", „Schöpferischen"; freilich läßt sich dieser Vorgang nur beim Einzelindividuum beobachten u. von diesem auf Gesamtheiten u. Völker übertragen. Sofern hier nun immer wieder etwas Neues entsteht, ist es freilich, wie zugestanden werden muß, ein Unbegreifbares. Gerade hierin aber liegt der Wert u. die Schönheit historischer Betrachtung. Auch als das „Reich der Freiheit" hat man die Geschichte bezeichnet, u. mit Recht; wohl ist die Anlage des Menschens [sie!] von Natur gegeben, aber es bleibt dann die Freiheit des Menschen, dieses innerste Motiv aufschwellen zu lassen oder sich ihm zu versagen; wie dies freilich möglich ist, bleibt ein ewig un- [Seite 15] ergründliches Geheimnis. Schwer, fast unmöglich ist es, eine Form zu finden, in die die unendliche Mannigfaltigkeit des historisch Gegebenen einzugehen pflegt. Der einzige Begriff, der hier weiter hilft, ist der der „Entwicklung". Nur allzu schwer aber ist die „Werdeeinheit" zu verstehen; die Folge ist ein heute weit verbreiteter Skeptizismus in Bezug auf historisches Erkennen überhaupt. Das ist ein gefährlicher u. ungerechter Standpunkt, wie er jetzt von Bertram in seiner Nietzsche-Biographie vertreten wird. Denn hier wird vergessen, daß dem großen Historiker außer dieser Divinationsgabe auch penetran-
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te Kenntnis der Einzelheiten eignet. Gewiß liegt hier eine große Gefahr vor, sich in Phantasie zu verlieren, aber gerade deshalb ist immer wieder ein Eingehen u. Versenken in die empirisch festgestellten Einzelheiten, ein Verschmelzen u. Anpassen an diese, als Gegenwirkung von nöten. Aber in der Tat ist die Historie niemals fertig; sie muß immer vom jeweiligen Standpunkt des Betrachters aus von neuem zu bauen werden [sie!], weil die großen „Sinneseinheiten" der Historie ebenfalls immer wieder anders gesehen werden. Wichtig ist schließlich noch die Scheidung der „historischen" von einer rein „chronometrischen" Zeit. In der „historischen" Zeit ist alles in beständigem Flusse, eine Messung im Räume, wie in der „chronometrischen" Zeit, ist hier ganz unmöglich. Es läßt sich nur messen an einzelnen großen Höhepunkten der Geschichte, u. dabei kann wohl eine chronometrisch kurze Zeit historisch lang und eine chronometrisch lange Zeit historisch kurz erscheinen. Auch das ist eine wichtige Eigentümlichkeit historischer Betrachtung! [Seite 16] Die materiale Geschichtsphilosophie. Burckhardt lehnte eine überempirische Universalgeschichte durchaus ab; er wollte allein beschauender, aufnehmender Historiker sein, ganz ohne Rücksicht auf seine persönliche Anschauung, die die Gegenwart als eine Epoche des Abstiegs der Kultur, ja das Ende der abendländischen Geschichte erkennen wollte. In seinen Werken jedoch wollte er sich nur einfühlend dem Leben der Geschichte hingeben. Ähnlich dieser künstlerisch-vollen Hingabe an die Wirklichkeit des Lebens war auch die Lebensarbeit Wilh. Diltheys, der es freilich an seinem 70. Geburtstag selbst aussprach, daß eine derartige, zum Relativismus führende Weltanschauung gar leicht in eine „Anarchie der Werte" ausarten könne. Im Fortgange dieses Relativismus gelangte Simmel dazu, so wie jede historische Erscheinung so auch ein jedes philosophisches System als eine in sich berechtigte - u. deshalb auch nicht als „wahr" oder „falsch" zu bezeichnende - „Attitüde zum Weltganzen" zu betrachten; der Wert seiner Erkenntnis bestehe nur darin, daß man durch die Betrachtung aller oder vieler solcher Systeme die Weiten und Tiefen alles philosophischen Intellekts zu begreifen vermöge. - Solch radikaler Relativismus muß nach Troeltsch als eine der Wurzeln unseres heutigen „Historismus" betrachtet werden. Diesen aber will Troeltsch nicht als die allein mögliche Konsequenz der von ihm entwickelten u. füf unbedingt für rieh-
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tig gehaltenen Individualitäts-Logik gelten lassen; sonst müßte Nietzsches Jugendschrift ganz im Rechte sein. Wollen wir also dies Unternehmen einer solchen „materialen Geschichtsphilosophie" wagen, so werden wir da gleichermaßen [Seite 17] das historische Objekt wie das historische Werden berücksichtigen müssen. Gehen wir von dem Ersteren aus, so gelangen wir zu dem Verständnis der Möglichkeit historischer Erkenntnis aus der geheimnisvollen Fähigkeit, eine fremde Individualität zu verstehen; ein Vorgang, der doch nur dann von statten gehen kann, wenn zwischen der beobachteten und der beobachtenden Individualität irgendein gemeinsamer Nenner vorhanden ist. - Gehen wir von dem Letzteren aus, so sehen wir ein unendliches, kontinuierliches Ganzes und Werden vor uns, dessen Verständnis uns nur möglich ist durch ein das Ganze umfassendes Band, als welches uns die Idee der „Menschheit" erscheinen muß. Fraglich bleibt dabei aber, wie diese Idee - u. damit auch die der „Menschheitszukunft" - überhaupt begrifflich gefaßt zu werden vermag. Deshalb haben sich unsere Historiker auch meist mit einer engeren u. darum leichter zu übersehenden Totalität begnügt, mit dem Kreise der europäischen Kultur u. ihrer Voraussetzungen im alten Orient. Können wir doch auch nur begreifen, was unser Kulturkreis ist, wenn wir verstehen lernen, wie er geworden u. gewachsen ist; denn eine solche Aufgabe ist unumgänglich für alt gewordene Völker, wie wir es nun einmal sind. Aber auch mit der Gegenwart können wir uns nicht begnügen; wir müssen auch, das Leben zwingt uns dazu, ein Bild der Zukunft zu konstruieren versuchen. Nun wird man in der Tat zugeben müssen, daß dieses aus einer inneren Fähigkeit, einem Lebensgefühl, einer idealen Tendenz des Sollens entspringt, für die kein letzter exakter wissenschaftlicher Beweis mehr möglich ist; vielmehr folgt der Versuch einer logischen Rechtfertigung erst nach. Wer nun ein solches Verfahren nicht mehr als Wissenschaft bezeichnen will, dem ist wenig zu erwidern. Mag man es aber nennen, wie es will - dieses Wagnis ist das zwingendste Erfordernis unseres Lebens, das nicht der Unkundigkeit überlassen werden kann u. darf! Ende.
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Personenregister Acham, Karl 14,149 Adorno, Theodor W. 122 Albrecht, Christian 18,266,274, 309 Alter, Peter 90 Anselm, Reiner 19 Apel, Karl-Otto 175 Apfelbacher, Karl-Ernst 327 Aristoteles 135 Arnim, Hans von 233 Aronson, Harvey Β. 136 Auerbach, Erich 248 Augustinus, Aurelius 333 Bahr, Hermann 208f., 219 Bahr, Petra 2 79 f. Banzhaf, Günter 176 Barber, Benjamin R. 45 Barker, Ernest 89 f. Baron, Hans 19, 21, 28, 247, 314, 328-330 Barres, Maurice 306 Barth, Karl 11, 15, 50, 55, 60-65, 70, 72 f., 194f., 197f., 262, 271, 282 Barth, Ulrich 65 Bayertz, Kurt 176, 178 Becker, Cerhold 145 f. Below, Georg von 75, 248 f. Benjamin, Walter 247 Bentham, Jeremy 90 Bergson, Henri 241,336 Bertram, Ernst 341 Beßlich, Barbara 84, 207, 213, 216f., 219 Beza, Theodor 261 Bickersteth, Edward 259 Birkner, Hans-Joachim 167 Birnbacher, Dieter 175 Bismarck, Otto Fürst von 222
Bloom, Harold 283 Bluhm, Harald 117 Blumenberg, Hans 282 Bodenstein, Walter 50 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 14, 11 7, 132 Boer, Tjitze J. de 135 Bonhoeffer, Dietrich 15,194,197201, 203, 281 Borges, Jorge Luis 280, 282 Boterman, Frits 26 Bousset, Wilhelm 157 Braudel, Fernand 38 Breysig, Kurt 28 Brodsky, Joseph 275 Bruch, Max 233 Bruendel, Steffen 207 Bubner, Rüdiger 49 Bucer, Martin 261 Buddha, Siddharta Gautama 135 f. Bullinger, Heinrich 261 Bultmann, Rudolf 11, 50, 55-57, 59, 64 f., 70, 72 Burckhardt, Jacob 24, 78, 83, 242, 336, 342 Burghartz, Susanne 251 Burkhardt, Johannes 40 Calvin, Johannes 13( 28, 258, 261 Canetti, Elias 282 Capozza, Nicoletta 200 Cassirer, Ernst 24, 36, 38f., 43, 247 Chamberlain, Houston Stewart 334 Chapman, Mark D. 18,86,118 Chladenius, Johann Martin 10 Chytraeus, David 263 Claussen, Johann Hinrich 49, 52 Coakley, Sarah 52 Coetzee, Marilyn Shevin 212
Personenregister
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Comte, Auguste 334, 341 Conze, Werner 214, 221 Cornelißen, Christoph 216 Cruijff, Johan 273 Cymorek, Hans 19, 327 Cyprian, Thascius Caecilius 258 Dahms, Hans-Joachim 124 Dalferth, Ingolf U. 257 Danz, Christian 63, 66, 68 Dawari, Reza 135 Delius, Friedrich Christian 277 Denker, Alfred 250 Descartes, Rene 38, 152 Dibelius, Otto 195 Diels, Hermann 269 Dierken, Jörg 19, 70, 188, 316, 319 Dilthey, Wilhelm 9 , 2 1 , 2 4 , 3 0 , 7 6 , 138-141, 151, 243, 335f., 342 Dlubek, Rolf 253, 256 Drescher, Hans-Georg 146-148, 206 Droysen, Johann Gustav 75-77, 79, 81 f., 90, 276f. Duhm, Bernhard 159 f., 168 Ebeling, Gerhard 278 Eco, Umberto 282 Elster, Ludwig 9, 237 Engels, Friedrich 253, 256 f., 266, 269 Erdmann, Karl Dietrich 90 Eucken, Rudolf 21 3, 218 f., 223, 235, 243 Evang, Martin 57 Fell, John 258 Ferguson, Adam 41 Fichte, Johann Gottlieb 182, 216, 232, 235, 243 Fischer, Karsten 13f., 121, 130f. Flasch, Kurt 84
Foucault, Michel 185 f. Fowler, Robert L. 269 Franklin, Benjamin 126 Freyer, Hans 26, 170, 323 Friedländer, Max 233 Frobenius, Leo 26 Fuhrmann, Horst 268 Gadamer, Hans-Georg 139,146, 148, 150-153 Galilei, Galileo 29, 40 Gerhard, Dietrich 247 Gerhardt, Volker 13, 96, 102, 105 Gierer, Alfred 130 Gierke, Otto von 213, 341 Goethe, Johann Wolfgang von 334, 337 Goetz, Walter 329 Gogarten, Friedrich 15,194-199, 201 Gombrich, Richard 135 Gothein, Eberhard 235, 237 Graf, Friedrich Wilhelm 11 f., 16 f., 19, 52, 54, 70 f., 81, 118, 122 f., 134, 157, 159, 164, 188, 232, 282, 299, 310, 313, 327-329 Grandjonc, Jacques 256 Grondin, Jean 151-153 Große Kracht, Klaus 328 Grotius, Hugo 29 Grünberger, Hans 117, 125 Gumbrecht, Hans Ulrich 280, 282 Gundlach, Thies 71 Gunkel, Hermann 157 Habermas, Jürgen 134 Hajatpour, Reza 135 Hampe, Karl 234 f. Hardtwig, Wolfgang 78 Harnack, Adolf von 62, 74, 76, 236, 265, 296, 310 Haverkate, Görg 218 Hazard, Paul 39, 41
Personenregister
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23 f., 27f., 37, 41 f., 44, 123, 130f., 137f., 144, 146, 217, 243, 247, 331, 334, 337 Heidegger, Martin 32, 43, 138, 140, 146, 149 f., 249 f. Hennis, Wilhelm 178 Henrich, Dieter 256 Herbert von Cherbury, Edward 46 f. Herder, Johann Gottfried 331, 334, 336 Herrmann, Wilhelm 52, 61, 74 Hesiod 265 Hill, W. Speed 259 Hindenburg, Paul von 220 Hinneberg, Paul 78 Hintze, Hedwig 247 Hirsch, Emanuel 49 Hitler, Adolf 43 Hobbes, Thomas 32-34, 36, 333 Hobsbawm, Eric J. 12,37 Hölderlin, Friedrich 267 Hölscher, Uvo 269 Hoeres, Peter 84, 207 Holl, |ann 176 Homer 28, 215, 265 Hooker, Richard 259 Horkheimer, Max 122 Hort, Fenton John Anthony 258 Horten, Max 135 Hubmann, Gerald 266 Hübinger, Gangolf 1 0 , 1 2 , 1 5 , 7 6 , 80, 122-124, 139, 171, 206, 220f., 224 f., 227, 230, 237, 286, 295, 309 Hügel, Baron Friedrich von 22, 86 f., 90, 327 Hume, David 247, 334 Hundt, Martin 256 Huntington, Samuel P. 11, 46 Husserl, Edmund 140f., 213 Hynes, Samuel 208
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Ignatius von Antiochien
258
Jahr, Christoph 211 Jaspert, Bernd 56 Jean Paul 267 Jellinek, Camilla 236 Jesus, Christus 33, 52, 56 f., 59-62, 65 f., 68, 72, 250 Jonas, Hans 177, 202 Kaftan, Julius 74, 158 Kampf, Arthur 232 f. Kant, Immanuel 27, 34, 41 f., 44, 103, 105, 109-111, 137, 139, 151, 153, 182-184, 190f., 200, 217, 239, 243, 247, 271, 331, 334 Kattenbusch, Ferdinand 158 Kauffmann, Clemens 31 f. Kaufmann, Franz-Xaver 176 Kaufmann, Thomas 18,273 Keble, John 259 Kehr, Eckart 83 f. Kellermann, Hermann 207 Kennan, George F. 87 Kepler, Johannes 29, 33 Keynes, John Maynard 88 Keyserling, Hermann Graf von 82, 170 Kierkegaard, Soren Aabye 82, 149, 184, 195, 299 Kippenberg, Hans G. 157 Kittsteiner, Heinz Dieter 10 f., 24 f., 27, 31, 34f., 38, 41—43, 91 Kjellen, Rudolf 2 1 0 , 2 1 2 , 2 1 9 Klapwijk, Jacob 52 Körtner, Ulrich H. J. 176 Köster, Peter 200 Konfuzius 1 34 Kopernikus, Nikolaus 29, 33 Koselleck, Reinhart 10, 41, 84 f. Koyre, Alexandre 33 Kracauer, Siegfried 1 39, 252, 299
348
Personenregister
Kreß, Hartmut 1 76, 186, 2 0 2 Krumeich, Gerd 2 0 8 Kuhn, Thomas S. 33 Kuyper, Abraham 126 Ladwig, Perdita 328 Lagarde, Paul de 334 Lamprecht, Karl 337f. Langewiesche, Dieter 16, 220, 231, 2 3 5 Lask, Emil 1 4 0 , 3 3 5 Laube, Reinhard 2 8 5 , 2 9 2 , 3 1 3 , 320 Leibniz, Gottfried Wilhelm 38, 151 f., 282, 333 Lenger, Friedrich 2 0 8 Lenk, Hans 176 Leonhard, Jörn 16, 208, 211, 2 2 9 f. Lepsius, M . Rainer 129 Leyser, Polykarp d. Ä. 2 6 3 Lightfoot, Joseph Barber 258 Lipsius, Justus 2 9 Locke, John 38, 2 4 7 Loll, Anna Catherin 136 Lotze, Rudolf Hermann 21, 336, 338 Ludendorff, Erich 2 2 0 Lübbe, Hermann 2 1 9 Luhmann, Niklas 1 2 4 , 1 7 7 Lukäcs, Georg 1 4 0 , 3 2 0 Luther, Martin 1 3, 28, 37, 234, 258, 261, 263, 269, 2 7 7 Machiavelli, Niccolo 3 2 , 8 7 , 1 8 2 Mackintosh, H u g h Ross 86f. Maier, Heinrich 336 Malebranche, Nicolas 153 M a n n , Thomas 205, 210, 225 f. Mannheim, Karl 248, 252, 2 9 2 f., 320 Marcuse, Ludwig 1 38, 248, 2 7 3 Maring, Matthias 176 Markschies, Christoph 18
Marquard, O d o 146 Marsilius von Padua 135 Marx, Karl 34 f., 42, 44, 129, 138, 253, 256f., 266, 269, 337f. Masur, Gerhard 2 4 7 McCormack, Bruce 271 Meier, Christian 135 Meier, Heinrich 32 Meinecke, Friedrich 76, 80, 2 1 2 f., 218, 228, 328 f. Meineke, Stefan 2 0 8 Melanchthon, Philipp 261, 2 6 3 Meyer, Eduard 336, 340 Molendijk, Arie L. 18, 165 f. M o m m s e n , Theodor 268 f. Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de 8 3 Müller, Wolfgang Erich 176 Münkler, Herfried 2 6 6 Murrmann-Kahl, Michael 50 Musil, Robert 177 f. Nagl-Docekal, Herta 10 Naumann, Friedrich 221 f. Neeff, Fritz 336 Nees, Christian 19, 327, 329 Neuhaus, Manfred 2 6 6 Neuner, Peter 327 Newman, John Henry 258 f. Newton, Isaac 29, 33, 38, 4 0 Nietzsche, Friedrich 24, 26, 32, 34-36, 4 2 f., 95 f., 117, 120 f., 137 f., 143, 146, 151-153, 1 8 4 186, 200, 269, 275, 277, 2 8 2 f., 295, 331, 334, 336f., 341, 343 Nippel, Wilfried 2 3 0 Nora, Pierre 77 Nowak, Kurt 1 1 , 7 2 , 7 9 , 2 6 5 Obeyesekere, Gananath 136 O'Donnell, James J. 267 Oekolampad, Johannes 263
Personenregister
Oexle, Otto Gerhard 76 f., 120, 139, 141, 146, 149, 153, 250f., 285 f., 299 Oncken, Hermann 215 Oppenheim, Paul 257 Origenes 270 Osiander, Andreas 261 Osterhammel, jürgen 37, 41 f., 45 Ostermann, Martin 329 Ottow, Raimund 130 Overbeck, Franz 74, 195, 279, 340 Paine, Tom 90 Pannenberg, Wolfhart 51, 73 f. Paul III., Papst 33 Paulus, Apostel 133 Pautler, Stefan 19, 79,134 Pertz, Georg Heinrich 268 Peter, Nikolaus 74 Petersson, Niels P. 37, 42, 45 Pezel, Christoph 263 Pfaff, Richard W. 258 Pfeiffer, Rudolf 265 Pfleiderer, Georg 14f., 19, 53, 61, 1 78, 185, 196, 200 Philitas von Kos 264f. Piaton 103,153,239,258 Platte, Ulrich 85 Plenge, Johann 212 f., 217, 219 Preuß, Hugo 218 Przylebski, Andrzej 14, 139f. Ptolemaeus I. Soter, König von Ägypten 265 Ptolemaeus II. Philadelphus, König von Ägypten 265 Pusey, Edward Bouverie 259 Rabb, Theodore K. 39f. Ranke, Leopold von 152 Rathenau, Walther 195, 211, 221, 303 Reichert, Folker 234 Renan, Ernest 242
349
Rendtorff, Trutz 17, 79, 81,115, 134, 155, 157, 170, 172, 175, 1 79, 262, 272 Renz, Horst 11,159 Rickert, Heinrich 21, 44, 140 f., 144, 151, 213, 236, 243, 250, 294, 335, 341 Riedel, Manfred 34 Riehl, Alois 210 Ritsehl, Albrecht 51, 73 f., 158 f., 262 Rohbeck, Johannes 10 Röhls, Jan 11 Rolland, Romain 208 Rollmann, Hans 86 Rousseau, Jean-Jacques 32-34, 90, 105, 331, 334 Ruddies, Hartmut 54 f., 60, 65, 81 f., 122, 188, 285 f., 299, 303, 313 Rürup, Reinhard 208 Rüsen, Jörn 79, 278 Ruskin, John 334, 341 Russell, Bertrand 88 Ruthven, Malise 45 Sachs, Hans 234 Safranski, Rüdiger 109 Saint-Pierre, Charles Irenee Castel, Abbe de 40 Salomon-Delatour, Gottfried 248 Sattler, Dietrich Eberhardt 267 Schäfer, Peter 267 Schäffle, Albert 341 Scheler, Max 84, 141 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 27 Schelsky, Helmut 163 f.,295 Schiller, Friedrich von 109 Schiller, Kay 328 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 9, 145, 243, 258, 282, 311
350
Personenregister
Schloßberger, Matthias 2 3 2 Schluchter, Wolfgang 12 Schmidt, Gustav 124 Schmitt, Carl 2 4 , 2 9 - 3 1 , 3 3 , 3 6 , 40, 46, 124, 2 3 0 Schnädelbach, Herbert 4 4 , 1 3 7 Schopenhauer, Arthur 24, 137f., 149 Schorn-Schütte, Luise 127 Schröder, Winfried 11 7 Schroeter, Manfred 25 f., 87, 2 8 8 Schüssler, Ingeborg 120 Schwabe, Klaus 2 0 7 Schwartländer, Johannes 176 Schweitzer, Albert 14, 155, 185 Schwöbel, Christoph 285 f. Seckel, Emil 234 Sedlitz, Woldemar von 2 0 7 Segl, Peter 251 Seilliere, Ernest-Antoine 29 Sellin, Volker 2 1 8 Sen, Amartya 136 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 2 5 9 Siebeck, Paul 232, 236 Sieg, Ulrich 2 2 0 Simmel, Georg 11, 28, 68, 138, 213, 236, 294, 310, 335, 342 Simon, Richard 2 7 8 Sismondi, Jean-Charles-Leonard Simonde de 334 Sleigh, Robert Skillen 87 Smith, A. L. 2 0 9 Smith, A d a m 34, 41 Sockness, Brent W. 74 Sösemann, Bernd 2 0 6 Sombart, Werner 28, 211 Soosten, Joachim von 18, 266, 2 7 9 Spengler, Lazarus 261 Spengler, Oswald 2 5 - 2 8 , 3 1 , 3 6 , 38, 43, 88f., 224, 230, 303, 337f.
Spinoza, Baruch de 36, 38, 47, 278, 333 Spranger, Eduard 336 Stahl, Friedrich Julius 314 Stock, Brian 2 7 7 Strauss, Leo 24, 3 1 - 3 6 Studt, Konrad von 2 3 3 Tabatabai, Gawad 135 Taine, Hippolyte-Adolphe 334 Tambiah, Stanley J. 135 Tillich, Paul 11, 4 9 f., 55, 6 4 - 7 0 , 72 f., 329 Treitschke, Heinrich von 76 Troeltsch, Marta 21 Trott zu Solz, August von 233 Tyrell, Hartmann 1 2 0 , 2 7 7 Ungern-Sternberg, Jürgen von Ussher, James 2 5 8
215
Vattimo, Gianni 142 Velazquez, Diego Rodriguez de Silva 4 0 Verhey, Jeffrey 207, 2 1 0 Vico, Giambattista 2 4 8 Voigt, Friedemann 14 f., 165, 294, 310 Volkmann, Uwe 4 6 Voltaire, d. i. Frangois Marie Arouet 3 3 1 , 3 3 4 Wagner, Fritz 4 0 Wagner, Richard 233f. Waitz, Georg 2 6 8 Waldeyer-Hartz, Wilhelm 234 Wallace, Stuart 90, 2 0 9 Wallerstein, Immanuel 37f., 45 Weber, M a x 11, 1 3, 18, 21 - 2 3 , 28, 44, 79f., 83, 1 1 7 - 1 2 3 , 125 f., 129, 133, 135, 140 f., 144, 1 7 8 183, 1 8 5 - 1 8 7 , 189 f., 197-201,
Personenregister
203, 213, 222, 229, 236, 272f., 310, 335 Weeber, Martin 167 Wehler, Hans-Ulrich 10 Wehowski, Stephan 176 Weißjohannes 118,126 Wells, H. G. 88f., 2 1 0 Wenz, Gunther 11 Wenzel, Theodor 2 3 3 Werner, Anton von 2 3 2 Werner, Michael 79 Westcott, Brooke Foss 2 5 8 White, Hayden 2 7 6 f . Wieland, Wolfgang 176 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 2 6 8 f., 2 8 3 Wilhelm II., dt. Kaiser 2 4 7 Windelband, Wilhelm 1 4 0 , 1 4 4 , 21 3, 236, 335 Wittekind, Folkart 11 f., 14, 53, 60, 67, 72, 188 Wölfflin, Heinrich 2 1 3 Wolgast, Eike 2 3 4 Wollgast, Siegfried 33 Wundt, M a x 308 Wundt, Wilhelm 335 Wyman, Walter E. Jr. 167 Zehrer, Hans 2 4 8 Zenodot von Ephesus 2 6 4 f. Ziebarth, Erich 2 6 5 Zimmermann, Benedicte 79 Zotz, Volker 136 Zwingli, Ulrich 258, 2 6 3