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German Pages 373 [376] Year 1970
Schöler • Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts
Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts im 17. bis 19. Jahrhundert Erziehungstheoretische Grundlegung und schulgeschichtliche Entwicklung
von Walter Schöler
Walter de Gruyter & Co. Berlin 1970
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
© Copyright 1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Gös&en'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. TrÜbner — Veit ßc Comp., Berlin 30. — Alle Rechte, einschl. der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vom Verlag vorbehalten — Archiv-Nr.: 1 396 690 Satz und Druck: Courier DruAhaus Ingolstadt, Ingolstadt — Printed in Germany.
Inhaltsverzeichnis
KAPITEL I Einleitung. Der naturwissenschaftliche Unterricht im Brennpunkt schulpolitischer und bildungstheoretischer Auseinandersetzungen bei der Herausbildung eines neuzeitlichen Schulwesens
Seite
9
K A P I T E L II
Erste Ansätze zur Betreibung eines selbständigen naturwissenschaftlichen Unterrichts in der utilitaristischen Pädagogik des Barock 1. Der Einfluß realistischer Bildungsideen auf den Unterricht von natürlichen Dingen im „saeculum mathematicum"
22
2. Die naturkundlichen Fächer als Rekreationsübungen in der pietistischen Pädagogik bei AUGUST H E R M A N N FRANCKE
33
KAPITEL III Die Naturwissenschaften im Rahmen der Menschen- und Bürgerbildung während der Aufklärungszeit 1. Berufsbezogenheit und ökonomische Tendenz einer naturwissenschaftlichen Kenntnisvermittlung in den Realschulprojekten von S E M L E R , G R O S S , H E C K E R , HARLES u n d DARJES
2. Naturkunde als Bestandteil allgemeiner Bildung und Ausarbeitung methodischer Grundsätze für den naturwissenschaftlichen Unterricht in der Erziehungsplanung des Philanthropismus
41
53
KAPITEL IV Der Streit des Humanismus und Realismus um die Zugehörigkeit des Naturstudiums zum Bildungskanon höherer Lehranstalten in seinen schulgeschichtlichen Auswirkungen zwischen 1790—1840 1. Das Verhältnis der neuhumanistischen Pädagogik zur naturwissenschaftlichen Bildung
72
2. Das Gymnasium im Spannimgsfeld des Gegensatzes von „Klassicität und Naturwissenschaft"
102
KAPITEL V Vorschläge zur Aufnahme und Förderung eines zeitgemäßen naturwissenschaftlichen Unterrichts in der Volksschulpädagogik zu Beginn des 19. Jahrhunderts 1. Die Vernachlässigung der naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer im System der Elementarbildung bei PESTALOZZI
133
2. Naturkenntnisse und ihre Zugehörigkeit zur allgemeinen Grundbildung des Menschen in den Elementarschulplänen STEPHANIS
138
3. Begründung der Notwendigkeit einer elementaren Naturkunde in den Unt e r r i c h t s a n l e i t u n g e n f ü r V o l k s s c h u l l e h r e r v o n DINTER ( 1 8 0 6 ) , ( 1 8 1 2 ) , ZERRENNER ( 1 8 1 3 ) u n d DENZEL ( 1 8 1 7 )
HARNISCH 145
KAPITEL VI Schulgesetzgeberische Maßnahmen zur Einführung naturkundlicher Lehrgegenstände und Probleme der praktischen Gestaltung des Volksschulunterrichts im Verlaufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1. Der Lehrplan für die königlichen Elementarschulen in Bayern 1806 als erstes schulpädagogisches Modell eines fachbezogenen Naturkundeunterrichts
157
2. Der SüvERNSche Schulgesetzentwurf 1819 und typische Einzelbeispiele für den allmählichen Aufschwung des naturwissenschaftlichen Unterrichts im preußischen Volksschulwesen
174
KAPITEL VH Grundzug und Wesen einer naturwissenschaftlichen Unterrichtsmethodik im Prozeß ihrer fortgesetzten Regeneration während der schulgeschichtlichen Entwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 1. Entwicklungsstand und Tendenz vorhandener Sachbücher und Lehrmaterialien
196
2. DIESTERWEGS Einfluß auf grundlegende didaktisch-methodische Neuerungen im naturwissenschaftlichen Unterricht
209
KAPITEL VIII Schulpolitische Kämpfe um die lehrplanmäßige Verankerung der naturwissenschaftlichen Fächergruppe im Bereich der allgemeinbildenden Schule nach 1850 1. Rückschläge im Naturkundeunterricht durch die SnEHLschen Regulative von 1854
221
2. Neubeginn für den naturwissenschaftlichen Unterricht im Zusammenhang mit dem Erlaß der „Allgemeinen Bestimmungen" von 1872
229
KAPITEL IX Ausblick und Schlußbetrachtungen. Der weitere Ausbau des naturwissenschaftlichen Unterrichts nach seiner Einführung durch die Schulgesetzgebung 1. Reformbestrebungen zur Verbesserung des Unterrichts in den naturwissenschaftlichen Fächern um die Jahrhundertwende
240
2. Resümee: Probleme und Aufgaben der naturwissenschaftlichen Bildung in unserer Zeit
252
Anmerkungen
259
Literaturverzeichnis
338
Personen- und Sachregister
367
RAPITELI
Einleitung Der naturwissenschaftliche Unterricht im Brennpunkt schulpolitischer und bildungstheoretischer Auseinandersetzungen bei der Herausbildung eines neuzeitlichen Schulwesens In den letzten zweihundert Jahren vollzog sich ein historischer Prozeß, der Wirtschaft und Technik in immer stärkerem Maße und in immer größerem Umfange zur bestimmenden Lebensmacht ausreifen ließ. Unsere Schule hat in zähem Ringen mit der überkommenen Bildungstradition sich der veränderten Situation erst allmählich anzupassen gewußt. Das zeigt sich besonders an der Einführung naturwissenschaftlicher Unterrichtsfächer, die im Verlaufe des 19. Jahrhunderts nach bewegten Meinungs- und Richtungskämpfen schließlich erfolgte. Es nahm jedoch auch dann noch Jahrzehnte in Anspruch, bis es den neuen, aus der Sachwelt stammenden Unterrichtsgegenständen gelungen war, ihre Berechtigung als gleichwertiges Bildungsgut nachzuweisen, obwohl gerade sie am ehesten dazu berufen waren, die Vorbereitung auf die künftige Tätigkeit in der Berufs- und Arbeitswelt maßgeblich zu bestimmen. Es ist der Schule, deren historischer Ansatz im Bereich der Religion und alten Sprachen gelegen hatte, nicht leicht gefallen, „die neuen Probleme des Menschseins, zum Beispiel im Zusammenhang mit der einsetzenden und fortschreitenden Industrialisierung, mit offenen Augen zu sehen und die Menschen für die Auseinandersetzung mit diesen Problemen sehend zu machen". 1 Dazu bedurfte es langwieriger und hartnäckiger Schulkämpfe. Die Herausbildung der Grundlagen unseres modernen Schulwesens ist ohne die Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts nicht zu verstehen. Realismus und Humanismus sind gerade im 19. Jahrhundert derart heftig aufeinandergeprallt, daß es schwere Erschütterungen und auch häufig immer wieder Rückschläge gab, wenn über die Einführung naturwissenschaftlicher Lehrgegenstände verhandelt wurde. Die bestehenden Gegensätze spiegeln sich am deutlichsten an jenen Wissensgebieten wider, die dem technisch-ökonomischen Fortschritt entsprangen und sich ihren Platz im Bildungskanon erst erobern mußten. Für die Schul- und Bildungsgeschichte ergibt sich hier eine Zäsur, an der sich Positionen abgrenzen, Diskussionen entzünden und schulpolitisches Handeln
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Auseinandersetzungen um den naturwissenschaftlichen Unterricht
maßgeblich entscheidet. Wie LITT feststellt, läßt sich „keine unter den in der Geschichte aufgetretenen Bildungsmächten" nennen, „deren Einordnung die gleichen Schwierigkeiten bereitet hätte". 2 Es hat fast das ganze 18. und 19. Jahrhundert gedauert, bis sich die Erkenntnis durchzusetzen vermochte, daß die durch den naturwissenschaftlichen Unterricht vermittelten geistigen und sittlichen Werte notwendiger Bestandteil jeder Bildung und Erziehung sind. Diese Entwicklung verlief keineswegs einheitlich und harmonisch. Aus den vorliegenden Quellen hebt sich deutlich eine „wellenförmige Spur" 8 heraus, die den wechselnden Einfluß realistischer Tendenzen auf die Unterrichtsgestaltung in Abhängigkeit von den historisch bedingten gesellschaftlichen Wandlungen erkennen läßt. Die sich fortwährend ändernden Ansichten über die Naturkenntnisse und ihre Aufnahme in das Unterrichtsgefüge zeigen die vielschichtige Problematik, der wir uns aus historischer, erziehungstheoretischer und schulgeschichtlicher Sicht bei der Klärung der umstrittenen Sachverhalte gegenübergestellt sehen. Bildungsideen, Schulprogramme und Lehrpläne treten stets in einer konkreten historischen Form als gesellschaftliche Erscheinung auf. Das Unterrichtswesen in seiner Theorie und Praxis berührt sich auf das engste mit den jeweiligen politischen Anschauungen und Kräftegruppierungen. Modifikationen im pädagogischen Raum stehen in einem bestimmten Verhältnis zu den objektiven Mächten innerhalb der gegebenen Ordnungen. Am Beispiel der naturwissenschaftlichen Fächergruppe kann nachgewiesen werden, daß historische Ereignisse und soziologische Spannungen das Geschehen in den Schulen ebenso beeinflussen und prägen wie die wachsenden ökonomischen Bedürfnisse, die in Anbetracht des Aufschwungs von Wirtschaft und Industrie schließlich die ursprünglichen Gegensätze sogar überspielen und die Einbeziehung der inzwischen lebensnotwendig gewordenen Naturwissenschaften in ihrer Gestalt als Schuldisziplinen unnachgiebig erzwingen. Nach der Reichsgründung von 1871 verschieben sich zusehends die Fronten. Der Staat fördert in den Gründerjahren auf dem Wege der Schulgesetzgebung den naturwissenschaftlichen Unterricht, gegen den er kurz zuvor noch im Verein mit den Anhängern der sogenannten „klassischen Studien" aus politischen Gründen auf das entschiedenste gefochten hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch bleibt es zumeist ein gewagtes Unterfangen, einen „Gedanken aufkommen zu lassen, der dem angenommenen Religions- und Staatssystem zuwider ist". 4 Die Verhärtung bzw. Aufweichung der Standpunkte in der offiziellen Schulpolitik und in den literarisch geführten Auseinandersetzungen ist zu verstehen als Folge bedeutsamer historischer Geschehnisse und Änderung der jeweiligen politischen Zielsetzungen. Das Streben des aufkommenden Bürgertums nach Freiheit und Gleichheit während der Aufklärungsepoche, der Niedergang und
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die Erneuerung Preußens in der napoleonischen Zeit, die nach den Befreiungskriegen beginnende Restaurationsperiode mit ihrer gegen jede freiheitliche Gesinnung gerichteten Demagogenverfolgung, die Ereignisse der Revolution von 1848 sowie die in deren Gefolge erneut hereinbrechende Reaktion spannen für unser Thema den Bogen. Diese Vorgänge wirkten sich besonders nachhaltig auf das Erziehungs- und Bildungswesen aus, wo jedesmal das Streitgespräch um die Einführung der naturwissenschaftlichen Unterrichtsgegenstände neu entbrannte. Fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch bildet diese Tatsache eine typische Erscheinung. Sie ist als Kampf zwischen Realismus und Humanismus in die Schulgeschichte eingegangen. An den Naturwissenschaften scheiden sich die Geister im Pro und Contra um den Ausbau der Volksschule und der höheren Lehranstalten. Die Entwicklung verläuft hier unterschiedlich und wird vom historischen Geschehen auch schwerpunktmäßig jeweils anders berührt. Angebotene Lösungsversuche und schulgesetzgeberische Maßnahmen sind nach Schulgattungen differenziert. Es erweist sich daher als zweckmäßig, die Niedergänge und Höhepunkte des naturwissenschaftlichen Unterrichts für die einzelnen Schultypen gesondert darzustellen. Sowohl für die Volksschule als auch für das Gymnasium und die Realschule reichen die Anfänge einer naturwissenschaftlichen Bildung bis ins 17. Jahrhundert zurück. In besonderer Weise erwächst das Verständnis für Anerkennung oder Ablehnung der ministeriellen Erlasse und schulpraktischen Maßnahmen zur Einführung der naturwissenschaftlichen Fächergruppe im 19. Jahrhundert aber aus der Haltung, die gegenüber der unmittelbar voraufgegangenen Aufklärungspädagogik eingenommen wird. Deshalb erscheint es angebracht, der Arbeit eine Untersuchung über die Entwicklungsphasen des naturwissenschaftlichen Unterrichts bis zum Ende der Aufklärungszeit voranzustellen. Schon im Philanthropismus, der die Grundlagen von Erziehung und Bildung völlig umgestalten wollte, spielte die Naturkunde eine maßgebliche Rolle. Wie anhand von Schulakten und des handschriftlichen Nachlasses ermittelt werden konnte, wurde in Dessau, Heidesheim, Marschlins, Schnepfenthal und anderen Philanthropinen erstmals ein auf Anschauung und Versuchen beruhender Naturkundeunterricht erteilt, der im Lehrplan fest verankert war. Ausgehend von praktischen Erfahrungen entwarfen Philanthropisten für den neuen Unterrichtszweig eine wohldurchdachte methodische Konzeption, und sie erbrachten auch bereits den Beweis, daß die Naturwissenschaften für die Bildung in hohem Maße relevant sein können. Alle entscheidenden Gedanken zum Bildungswert naturwissenschaftlicher Unterrichtsgegenstände sind der pädagogischen Fachwelt bis etwa gegen 1800 zugänglich gemacht worden. Das Motiv für die Aufnahme der Naturkenntnisse in die Bildungspläne war zu dieser Zeit keineswegs mehr nur die reine „Nützlichkeit".
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Voreingenommenheit und Vorurteil haben dann im Neuhumanismus zu einer Abkehr von diesen angeblich einseitig utilitaristischen Bestrebungen geführt. Dieses schon während der philanthropistischen Reformbewegung entstandene abwertende Urteil wurde übernommen, „ohne sich weiter um die wahre Beschaffenheit der Sache zu kümmern" 6 oder sich der Mühe zu unterziehen, Personen und Erziehungsart kennenzulernen, die man verabscheute. CAMPE hat den „unpatriotischen Devalvationsversuch" bitter beklagt, aus einer Gegeneinstellung heraus einfach alles zu verdammen und „falsche Münzstücke" in Umlauf zu bringen.4 Das ist im allgemeinen dann bis heute so geblieben.7 Die Aufklärungszeit wird negativ eingeschätzt, obwohl niemand die Quellen umfassend genug kennt. Selbst BLÄTTNER glaubt, den Schluß ziehen zu müssen, daß dieser Ansatz uns „das Übel des Enzyklopädismus vererbt" 8 habe. Für den naturwissenschaftlichen Unterricht war aber gerade die philanthropistische Pädagogik grundlegend und richtungweisend. So nimmt es nicht wunder, daß die vorgetragenen Gedanken „unter Vermeidung des verdächtig gewordenen Namens"' weiterhin in die Schulpraxis eindringen. Diese Vorgänge quellenkritisch zu durchleuchten und ihre Ursachen und Wirkungen aufzudecken ist ein wesentliches Ziel der vorliegenden Arbeit. Offiziell gerät der naturwissenschaftliche Unterricht als Kind des aufklärerischen Zeitgeistes in Mißkredit. Jede realistische Bildung überhaupt stößt auf Ablehnung. Nach der Französischen Revolution wird der Verdacht laut, die Vermittlung von Natur- und Weltkenntnissen bringe „die gemeine Ordnung der Dinge in Gefahr". 10 Hinter den Klagen über die Aufklärung steht die Befürchtung, daß der „Zustand der Unruhe" in der aufklärerischen Gesinnung seinen Ursprung habe. So fehlt es denn auch nicht an Pamphleten, deren Schreiber glaubten, sich „gegen diese Pest, die in unseren Tagen furchtbarer als je um sich zu greifen und Alles zu bedrohen scheint" 11 zur Wehr setzen zu müssen. Die Anklage von philologischer Seite lautet noch nach Jahrzehnten: Ein Unterricht in der Naturkunde und in den sogenannten „gemeinnützigen Kenntnissen" erziehe „Umwälzungsmenschen", die ihre Absicht darauf richten, „alles bessern" zu wollen. 12 Mit diesem Argument ist es zwischen 1830 und 1840 dann mehrmals gelungen, die Aufnahme naturwissenschaftlicher Fächer in den höheren Schulen beispielsweise der Länder Sachsen und Bayern zu verhindern. Unter Hinweis auf die „Basedowsche Bildungsweise, die in dem Realismus unserer Zeit fortlebt", war es stets einfach, die „in politischer Hinsicht unbefleckt und unverdächtig" dastehenden alten Sprachen als „eine wesentliche Stütze der Ordnung"1® zu loben und gegen die Naturwissenschaften auszuspielen. Der Gymnasialunterricht erhebt für sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Anspruch, „eine schirmende Macht gegen den Einbruch der verflachenden und auflösenden Weisheit des Tages zu bilden". 14 Die Verquickung
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des naturwissenschaftlichen Unterrichts mit dem „verderblichen Zeitgeist" respektive der „Gallischen Gesinnung"16 aus dem Blickwinkel der Schulreaktion offenbart, welche Schwierigkeiten es damals im Hinblick auf die Hereinnahme naturkundlicher Lehrgegenstände in den Schulbetrieb gab. Die Verdammnis der freieren Bildungsauffassungen des Bürgertums hatte für das Schulwesen lange Zeit hindurch nachteilige Folgen. Obgleich die Vertreter der Aufklärungspädagogik keinerlei Interesse an einem gewaltsamen Umsturz gezeigt hatten, wurden sie als „deutsche Jakobiner"16 verunglimpft. Ihre Ideen weckten die Furcht der herrschenden Kreise vor revolutionären Umtrieben. Wie WENCK berichtet17, versetzten gegen Ende des 18. Jahrhunderts die an verschiedenen Orten aufflackernden Empörungen Adel und Fürsten in Angst und Schrecken. Daraus erklärt sich die erbitterte Bekämpfung aller Aufklärungstendenzen in Deutschland. Selbst spätere Reformvorschläge zur Umgestaltung der Gymnasien erhalten dadurch von vornherein eine politische Gewichtung zugunsten der traditionellen Unterweisung in Religion und alten Sprachen. Das ist der historische Hintergrund der beginnenden Auseinandersetzung zwischen Realismus und Humanismus. Dem aufmerksamen Historiker kann nicht entgehen, daß gerade jene aufrechten Schulmänner, denen wir im Prozeß der Ausformung unseres modernen Schulwesens auch die Aufnahme der naturwissenschaftlichen Fachgebiete zu verdanken haben, in der Regel Anfechtungen wegen ihres aufklärerischen Denkens erdulden mußten. Bedeutende Köpfe wie DEINHARDT, DIESTERWEG, HARNISCH, STEPHANI und ZERRENNER befinden sich darunter. Die einschlägigen pädagogischen Biographien18 enthalten Hinweise auf Verdächtigungen und Repressalien verschiedenster Art. In Darstellungen zur Pädagogikgeschichte werden solche Tatsachen nur selten erwähnt. Für den Gang unserer Untersuchung zur Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts liegt ihre Bedeutung jedoch darin, daß sich aus ihnen der bestehende Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte klarer erkennen läßt. Ohne diese historische Bezugnahme gelingt es nicht, das Geflecht von Meinungen und Standpunkten zu entwirren, welches schulgesetzgeberische Maßnahmen und Verordnungen umgibt und deren praktische Durchführung überschattet. Auf pädagogischer Ebene charakterisiert die Einstellung zum naturwissenschaftlichen Unterricht im 19. Jahrhundert gewöhnlich schon die konservative oder liberale Parteinahme der Lehrkräfte und Schulträger. Im Verlaufe der historischen Entwicklung ist immer wieder versucht worden, die Durchsetzung der jeweiligen Ziele in Verbindung mit politischen Kräftegruppen zu erreichen. Die Verfechter der klassischen Studien, die ihre einmal errungene Position gegenüber den andrängenden naturwissenschaftlichen Disziplinen bewahren wollten, verbanden sich zu diesem Zweck mit den herrschenden Mächten und erscheinen
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dadurch in ihrer schulgeschichtlichen Rolle „konservativ", während die Vertreter der naturwissenschaftlichen Fächer im Bemühen um deren Anerkennung ihrerseits Unterstützung bei reformwilligen Kreisen suchten und dementsprechend als „liberal" gelten. So gesehen ist die Geschichte der naturkundlichen Fächergruppe ein wichtiger Kulminationspunkt für die Schulgeschichte der neueren Zeit überhaupt. Mit der Freilegung bisher verdeckter Verbindungslinien ermöglichen unsere Forschungsbefunde deshalb eine Reihe neuer Einsichten. Rein geistesgeschichtlich orientierte Abhandlungen haben zumeist nur die literarischen Quellen herangezogen. Bei der Einschätzung der pädagogischen Hauptströmungen wie auch bei der Beurteilung der historischen Abläufe und Prozesse herrscht demzufolge gegenüber den tatsächlichen Begebenheiten eine „wohlwollende Neutralität" 19 , die eine sachgerechte Urteilsfindung erschwert. PAULSEN stellt seiner „Geschichte des gelehrten Unterrichts" zum Beispiel die Bemerkung voran, daß sich das Bildungswesen „ohne Erstarrung und ohne gewaltsamen Bruch" 20 kontinuierlich entwickelt habe. Das krampfhafte Bemühen, am Alten festzuhalten und die wiederholten Versuche, Naturbeschreibung und Naturlehre aus der Schule zu vertreiben oder ihnen jeden Zugang zu versperren, lassen die Haltlosigkeit einer solchen Geschichtsbetrachtung offenkundig werden. Für die Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts reicht es nicht aus, „gleichsam nur die historische Garderobenkammer" (LICHTENSTEIN) visitieren zu wollen. Unter schulgeschichtlichem Aspekt ist eine tiefgründige und differenzierte Darlegung der einzelnen historischen Ereignisse und Erscheinungen zu fordern. Schulgeschichtliche Arbeiten sind als historische Untersuchungen zur Bildungstheorie und Schulpraxis langwierig und schwierig. Die in anderen historischen Disziplinen längst überwundenen Probleme der Bibliographierung, Quellennachdrucke, Aktenerfassung und dergleichen müssen vom pädagogischen Geschichtsforscher zum großen Teil selbst erst gelöst werden. Das Material zur Schulgeschichte des 19. Jahrhunderts ist so gut wie unausgeschöpft. Darüber täuschen auch die zahlreichen Nachschlagewerke und erziehungsgeschichtlich auffrisierten Kompendien keinesfalls hinweg. Nach außen erwecken diese Abhandlungen zwar den Eindruck, daß sie sich „auf einen wissenschaftlich allseitig durchgearbeiteten Forschungszusammenhang" 21 abstützen; den Fachmann vermögen sie aber wenig zu überzeugen. Man stößt immer wieder auf die gleiche Literatur, die ideengeschichtlich nach der biographischen Methode ausgewählt und ausgewertet wird. Tendenziöse zeitgenössische Wertungen werden oftmals unbesehen übernommen und gelten als authentisch. SPRANGER hat den Verlust an historischem Interesse und das Fehlen fundierter historisch-pädagogischer Schriften als schwerwiegende Vernachlässigung gerügt. 22 ZIELINSKI kommt bei der Besprechung der neuesten Publikationen zur Erziehungsgeschichte zu dem
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Schluß, daß es bis heute noch keine geschlossene Darstellung gibt, „die umfassend genug alle historischen Tatsachen umgreift und vorträgt". 23 Die Vereinseitigung der historisch-pädagogischen Forschung zeigt sich besonders daran, daß die Brücke zwischen ideengeschichtlichen Sinndeutungen und der eigentlichen Schulgeschichte „noch nicht geschlagen"24 werden konnte. Sobald aber versäumt wird, die „Weise" 26 von Unterricht und Erziehung in ihrer schulpraktischen Verwirklichung mit zu überprüfen, sind vollgültige Aussagen erschwert. Manches, was literarisch höchst bedeutsam erscheint, hat in der pädagogischen Wirklichkeit „keinen entsprechenden Nachhall bei den Trägern und Gestaltern des Schulwesens gefunden". 26 Bei der Sichtung der schulgeschichtlichen Quellen ergibt sich also hier und dort schon im Grundsätzlichen ein völlig anderes Bild. Im Gegensatz zur neuhumanistischen Erziehungstheorie bestand infolge der Nachwirkungen der philanthropistischen Denkweise und gleichzeitig unter dem Einfluß der HEGELschen Philosophie beispielsweise an den preußischen Gymnasien von Anfang an ein gesicherter naturwissenschaftlicher Unterricht, der sogar jahrzehntelang im Abiturzeugnis ausgewiesen wurde. Selbst die von vielen Erziehungsschriftstellern als ausgesprochenes Berufswissen klassifizierten „gemeinnützigen Kenntnisse" sind in den unteren Klassen auf den Stundentafeln zu finden. Von den Direktoren der höheren Lehranstalten stammt in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts eine gänzlich andere Konzeption zur Gestaltung der Lehrpläne und Stoffverteilung, die gerade die Naturkenntnisse ins Zentrum rücken wollte. Aktenmäßig ist nachweisbar, daß jeder Versuch, die zugebilligte Stundenzahl für die in Frage kommenden Fächer zu verringern, auf Konferenzen der Schulpraktiker mit großer Mehrheit auf Ablehnung stieß. Erst mit den WIESEschen Lehrplänen von 1856 ändern sich in Preußen die Verhältnisse. Der Neuhumanismus in seiner typischen Form besitzt anfangs vornehmlich in Bayern und Sachsen eine weitaus stärkere Bastion. Dagegen laufen aber verschiedentlich namhafte Naturwissenschaftler sofort Sturm. Aus der Sicht der Schulgeschichte muß demnach in erster Linie der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis aufgedeckt werden, der an den Gymnasien vielfach offenkundig ist und in den einschlägigen Schriften zur Pädagogikgeschichte nur wenig Berücksichtigung gefunden hat. Auch an den Volksschulen betreibt man dort, wo es die Umstände erlauben, Naturkundeunterricht nach den Vorschlägen der Seminardirektoren jener Zeit und vor allem nach STEPHANIS „bildender Methode". Zuvor erfolgte eine Revision der von PESTALOZZI empfohlenen Elementarmethode. Seine Auffassungen wurden in einigen entscheidenden Punkten widerlegt und abgeändert. Diese Vorgänge stehen bislang noch nirgendwo im historisch-pädagogischen Schrifttum verzeichnet. Gerade dadurch konnte jedoch in den ersten Jahrzehnten des
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19. Jahrhunderts der extreme Nützlichkeitsstandpunkt in Anlehnung an die positiven Tendenzen der Aufklärungspädagogik zugunsten der Einheit von formaler und materialer Bildung überwunden werden. Als 1854 die STiEHLschen Regulative die gesamte Entwicklung wieder zunichte machten, waren die entscheidenden Grundlagen für die Methodik des naturwissenschaftlichen Unterrichts von DIESTERWEG, CRÜGER* und anderen weniger bekannten Schulmännern im wesentlichen bereits ausgearbeitet. Über HEUSSI* gelangten die wichtigsten der vorgeschlagenen methodischen Gesichtspunkte ebenfalls schon um 1840 in die Lehrbücher und Unterrichtsgestaltung der Gymnasien, die in dieser Hinsicht ihre Ausrichtung durch die Volksschule erhielten. In der ganzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemüht man sich dann eigentlich nur noch um die Durchsetzung dessen, was zuvor seitens der pädagogischen Theorie durchaus schon erkannt und in der Schulwirklichkeit an vielen Orten recht wirksam praktiziert worden war. KERSCHENSTEINER kennt das schulgeschichtliche Quellenmaterial nicht, wenn er behauptet, daß vom Erziehungswert der Naturwissenschaften „erst seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Rede" ist und deren Einführung nahezu ausschließlich der „Nützlichkeit" 27 zugeschrieben werden muß. BLÄTTNER28, LEHMENSICK29 und andere haben diese Ansicht kritiklos übernommen und führen ganz ähnlich aus, daß die Entfaltung der naturwissenschaftlichen Fächergruppe beileibe nicht wegen der „Bildung", sondern infolge „reiner Utilität" erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt. Bei der näheren Erläuterung des geschichtlichen Werdegangs heißt es immer wieder, die neuen Disziplinen hätten offensichtlich ein „mangelndes Selbstvertrauen" besessen und aus sich heraus nicht vermocht, „ihre Unentbehrlichkeit in der Schule durch die von ihnen vertretene Sachwelt selbst zu begründen". 80 Das zeige sich besonders daran, daß die Naturwissenschaften in ihrem Bemühen um Anerkennung dazu übergegangen wären, dem intellektualistischen Charakter des Gymnasiums entsprechend auch einen formalen Bildungswert nachzuweisen, nur um gymnasialfähig zu sein. Ganz eindeutig wird in der pädagogischen Literatur der Gegenwart jener Standpunkt bezogen, der mit aller Konsequenz und Schärfe von Philologen gegenüber jeder realistischen Bildung eingenommen wurde. Den vorgetragenen Auffassungen liegen nämlich ausschließlich die Zweifel zugrunde, die in einer ganz bestimmten historischen Situation zum Vorschein kommen, und zwar in vermehrtem Maße zwischen 1870 und 1900, als die Realschule sich anschickte, volle Anerkennung und Gleichberechtigung hinsichtlich der Zulassung zum Universitätsstudium zu erlangen. Nunmehr wird im Zu* Johannes CRÜGER und Jacob HEUSSI waren Mitte des 19. Jahrhunderts bekannte Methodiker des Physikunterrichts. Vgl. Kapitel VII.
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sammenhang mit den Diskussionen um die Unterrichtsgesetzgebung die „Hegelsche Sintflut" (LAGARDE) verdammt, die unter dem Ministerium VON ALTENSTEIN während der Jahre von 1817 bis 1840 durch die Hereinnahme auch der Realien angeblich über das Gymnasium hereingebrochen war. Den Naturwissenschaften spricht man fortan jeden Bildungswert rundweg ab, um damit zu bekunden, daß Realschulen im Sinne der allgemeinen Menschenbildung kein in sich geschlossenes Bildungszentrum aufbauen könnten. Einzig und allein die sogenannten Humaniora seien in der Lage, eine allseitige und harmonische Bildung zu vermitteln. Der im 19. Jahrhundert heiß umstrittene Begriff einer „allgemeinen Bildung" erhält in der Gymnasialpädagogik, gestützt auf die neuhumanistische Erziehungstheorie, eine spezifische "Wendung und wird dem Studium der alten Sprachen und Klassiker gleichgesetzt, da diese den edelsten Nahrungsstoff für die Geistesschulung der Jugend zu liefern imstande seien. Ohne Rücksicht auf praktische Brauchbarkeit müsse die freieste Bildung in unverfälschter Form vorausgehen. Es häufen sich die Argumente vom Mißgeschick der Reformen nach 1818, die den Sachfächern widerrechtlich Zugang im höheren Schulwesen verschafft hätten. Die Angriffe richten sich vor allem gegen JOHANNES SCHULZE, der als Mitarbeiter im Unterrichtsministerium für die Angelegenheiten der höheren Schule zuständig gewesen war. Ihm wirft man die Schuld an der Überbürdung der Schüler mit überflüssigem und für die Denkerziehung ohnehin kaum ergiebigem nützlichen Wissen vor. Gemeint sind bei näherem Hinsehen eigentlich immer nur die naturwissenschaftlichen Lehrgegenstände. So kommt es, daß plötzlich jene Fächer, die sich empirischer Methoden bedienten und auf Nutzanwendung zweifellos bedacht sein mußten, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts gezwungen werden, erneut ihre Zugehörigkeit zum Kreis der humanistischen Bildungsgüter nachzuweisen. Das bisher Vorgetragene besaß keine Gültigkeit mehr. Der engstirnige Anspruch der klassischen Studien überdeckte das im naturwissenschaftlichen Unterricht bereits einmal Erreichte. Offenbar herrscht infolge quellenmäßiger Unkenntnis gerade im Hinblick auf das Problem einer allgemeinen Menschenbildung überaus große Verwirrung. Die betonte Gleichsetzung dieses Begriffes mit der einseitigen formalen Kräfteentfaltung am klassischen Stoff hat in Vergessenheit geraten lassen, daß vorher schon gänzlich andere Bezugspunkte zur allgemein menschlichen Bildungsidee herausgearbeitet und zur Grundlage der Lehrplanung gemacht worden waren. Seit ROUSSEAU in seinem Werk „Emil" die Frage nach der Erziehung des Menschen als absolutes Ganzes in der „Für — sich Existenz" 31 aufwarf, die im Prinzip unvereinbar sei mit der Erziehung zum Bürger in einem spezifischen Staatsganzen, bestimmt der Entwurf einer zweckmäßigen „Grundbildung" der heranwachsenden Generation das pädagogische Den-
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ken. Von allgemeiner Bildung sprechen die Philanthropisten am Ende des 18. Jahrhunderts ebenso wie später die Neuhumanisten. Gerade diese Problematik wird zur tragenden Erziehungsidee überhaupt. Die wesentlichen Unterschiede liegen im Bereich des Materialen. Die formalen Bildungskriterien werden in beiden pädagogischen Systemen als Mittel zur geistigen Kräfteschulung gebührend beachtet. Über den Umfang der Kenntnisse bestehen jedoch schwerwiegende Divergenzen, die eine schier unüberbrückbare Kluft zwischen Realismus und Humanismus aufgerissen haben, obwohl jede Seite die Überzeugung vertrat, im humanen Sinne bilden und erziehen zu wollen. Nun ist, wie wir im einzelnen noch ausführen werden, die neuhumanistische Lesart harmonischer und allseitiger Menschenbildung keineswegs zu allen Zeiten die verbindliche Richtschnur für die Gestaltung des Unterrichts gewesen, auch nicht im höheren Schulwesen, wenn man von den literarischen Meinungsbekundungen einmal absieht und sich dem Geschehen in der Praxis zuwendet. Mindestens ebenso stark wirken die Ideen der Aufklärung in das 19. Jahrhundert hinein, durch die der realistische Bildungsbegriff weiter geformt und ausgeprägt wird. Inhalt dieses Begriffs ist die Trinität von Gott — Mensch — Natur, in der man die entscheidenden Komponenten für jede Bildungsplanung vorgegeben sieht. Überlegungen dieser Art gehen von der These aus, daß es nicht unbedingt des Rückgriffs auf die Antike bedarf, um die Freiwerdung und Freisetzung des Menschen und seiner Menschlichkeit als Werk der Erziehung zu gewährleisten. Eine Vervollkommnung des Menschen wird vielmehr auch als Teilhabe an Sachen gedacht. Die Wissenschaften sind Werkzeuge der Humanität, genausogut wie die Sprachen. Das Vertrautwerden mit der Natur gehöre demnach wesentlich — in formaler und materialer Beziehung — zur allgemeinen Bildung, weil diese die Vorbereitung auf das künftige Leben sinnvoll einschließen müsse. Aus diesen Anschauungen entwickelt sich das Streben nach einer Synthese, das heißt nach dem Ausgleich zwischen Realem und Idealem in der Lehrplangestaltung. Im Gegensatz zu der weltabgekehrten Klassizität der Humanitätsbewegung setzt sich zwischen 1820 und 1840 in der Schulpraxis gerade eine solche Denkweise durch. Daraus erklärt sich, daß die Naturwissenschaften zunächst in weiten Kreisen Anerkennung als „allseitiges Bildungsmittel" 3 2 finden. MAGER faßt 1844 das Ergebnis dieser Entwicklung dahin gehend zusammen, daß niemand mehr ernstlich zu beweisen brauche, daß jeder „in der Zeit seiner Bildung auch ein gewisses Quäle und Quantum von Naturkenntnissen erwerben muß". Ausdrücklich wird betont, daß man dem Schüler hierbei „Perspektiven aus dem Physischen ins Ethische" 3 3 zu eröffnen habe. Unter den naturwissenschaftlichen Lehrkräften gibt es dazu prinzipiell schon ganz konkrete Vorstellungen. Um so erstaunlicher ist es, daß die pädagogische Geschichtsschreibung diesen
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Prozeß fast ein halbes Jahrhundert später in die Phase ernster und tiefgreifender Rückschläge hineinverlegt und überhaupt erst beginnen läßt. In keiner Abhandlung wird außerdem erwähnt, daß zwischen der Einführung des naturwissenschaftlichen Unterrichts und bestimmten bildungstheoretischen Lösungsversuchen von Anfang an ein enger Zusammenhang besteht, so daß die Erkenntnis der funktionalen Wirkungen und des Bildungswertes für diesen Unterrichtszweig relativ früh gewonnen werden kann. Auf der Grundlage des schulgeschichtlichen Tatsachenmaterials bietet sich eine gesicherte Differenzierung an, wann, wo, unter welchen Umständen und Voraussetzungen beziehungsweise auch mit welchem Erfolg die Uberwindung des Nützlichkeitsprinzips tatsächlich vollzogen wurde. Das berechtigt uns, verschiedene herrschende Lehrmeinungen schon eingangs in Frage zu stellen, um einzelne Mißverständnisse aus dein Weg zu räumen: 1. Wir bestreiten, daß „die Erziehungsmaximen der Aufklärung" schlechthin und ausschließlich „utilitaristisch" waren, nur weil die „Neuhumanisten und ihre Epigonen" es lauthals verkündet haben und man es „in jeder Geschichte der Pädagogik" 84 lesen kann. Die Schule verdankt dem Philanthropismus eine Reihe fruchtbarer Ansätze zur Klärung des Bildungsproblems und zur Ausformung des Schulwesens in einem existentiellen Sinnverständnis. Der Utilitarismus des 18. Jahrhunderts hat das reale Sein — abgesehen von anfänglichen extremen Auswüchsen — als Mittel der Geistesbildung aufzuschließen gewußt, um den Menschen seiner Vervollkommnung näherzubringen. Die Philanthropine nannten sich Anstalten „zur Menschenbildung" und wollten den Gegensatz zwischen Schule und Welt überwinden. Unter Berufsvorbereitung wird in der späten Aufklärungszeit pädagogisch etwas ganz anderes verstanden, nämlich: Vermittlung des jedem notwendigen realistischen Grundwissens, das seine Verankerung im geistigen Sein und in der sittlichen Haltung gefunden hat. 2. Wir bezweifeln, daß der „Ruf nach Wissensmassen" in der Vergangenheit als „historischer Irrtum" abgetan oder darin schlechthin schon eine „falsche Konzeption der Allgemeinbildung" 35 gesehen werden kann. Diese in Philologenkreisen beheimateten Einwände gelten in Wahrheit den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern, gegen die sich der Vorwurf stets gerichtet hat, „die Masse des Lehrstoffes" in „sehr bedenklicher Weise" zu erweitern. 36 Es hat nicht an wohlüberlegten pädagogischen und didaktischen Bemühungen gefehlt, aus dem Kreis der Realien unter Beschneidung der alten Sprachen eine elementare und exemplarisch geordnete Bildungsgrundlage zu schaffen. Schließlich heben sich gerade an diesen Beispielen die Berührungspunkte und fließenden Übergänge deutlicher heraus, die zwischen der oftmals verpönten philanthropistischen Pädagogik und der schulgeschichtlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert fortbestanden haben.
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3. Allseitige und harmonische Menschenbildung bedeutet in der Theorie und Praxis des Unterrichtswesens umgekehrt auch keineswegs vollständigen Bruch mit „den utilitaristischen und rationalistischen Bildungsgedanken der Aufklärung". 37 Sie nimmt realistische Momente sehr bald wieder in sich auf, auch wenn NIETHAMMER glaubte, die „allgemeine Bildung des Menschen" in „klassischer Form" von einer der menschlichen Natur zutiefst abträglichen „Vorbereitung zum Leben" 88 abgrenzen zu müssen. Die Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts verdeutlicht sich in ihren entscheidenden Zügen im Grunde nur dann, wenn man den jeweils gemeinten „Sinn dieser ,Allgemeinbildung' richtig versteht" 89 , und zwar sowohl als methodisches Prinzip zur Weckung geistiger Kräfte (formal) als auch in stofflicher Hinsicht zur Orientierung in der Welt (material). Aber erst die historische Situation erhellt das notwendige Verständnis für die Gewichtung des Bildungsbegriffs je nach der einen oder anderen Seite und für den Bedeutungsaspekt der dazu vorgebrachten Begründungen. Das Gesetz der historischen Einmaligkeit von Ereignissen und Erscheinungen wirkt auch im pädagogischen Raum. 40 Eine (oberflächlich) aktualisierende Interpretation, die allzu leicht die konkreten Konturen verwischt, besitzt hier eine feste Grenze. Gegenwärtig fehlt es noch „an einer zusammenhängenden Geschichte des gesamten naturwissenschaftlichen Unterrichts" 41 , obwohl immerhin etwa 10 bis 20 Aufsätze und kleinere Schriften zu diesem Thema bibliographisch zu ermitteln sind. Die vorhandenen Berichte und Beschreibungen bieten nur knappgehaltene Übersichten, wobei mitunter einzelne Personen oder Zeitabschnitte ausführlicher abgehandelt werden. Schulgeschichtliche Aspekte kommen durchweg zu kurz. Auf Vollständigkeit wird bewußt verzichtet. Obwohl in diesen Untersuchungen der historische Entwicklungsverlauf im allgemeinen richtig wiedergegeben ist, so daß der Erziehungsgeschichte eine Orientierung in diesem Punkt durchaus möglich gewesen wäre, mangelt es nunmehr an der Verkettung mit dem eigentlich Pädagogischen. Die Beiträge stammen für gewöhnlich aus der Feder von Naturwissenschaftlern, die das Anliegen ihres Faches zu stark in den Vordergrund rücken. Das beeinträchtigt von vornherein die Auswahl und Sichtung des historischen Tatsachenmaterials, das auf die Disziplin und ihre würdigsten Vertreter bezogen zu eng ausgehoben wird und folglich auch nicht in einen übergeordneten Zusammenhang gebracht werden konnte. Dieser Sachverhalt bewog uns, unter Einbezug sowohl der pädagogischen als auch der naturwissenschaftlichen Literatur eine möglichst umfassende Quellenauswertung vorzunehmen. Im einzelnen wurden dabei herangezogen: Schulakten, Unterrichtspläne, Schulgesetze, Zustands- und Reiseberichte, Programme, Schulbücher, Schülerarbeitshefte, gedruckte Unterrichtslektionen, methodische Richtlinien, Konferenzprotokolle, Eingaben an die Schulbehörden, Aktenver-
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merke, Schulnachrichten, Lebenserinnerungen, Briefe, Mitteilungen an die Eltern, öffentliche Stellungnahmen, Petitionen, Landtagsverhandlungen und die schier unübersehbare Fülle der zeitgenössischen Zeitschriftenliteratur. Bei einer schulgeschichtlichen Themenstellung muß der historische Boden besonders in seinen tieferen Schichten freigelegt und ergründet werden, um die Konturen der allgemeinen Entwicklungsprozesse und Zeittendenzen schärfer hervortreten zu lassen. Die Tatsächlichkeit des Geschehens im Unterrichts- und Bildungswesen wird mit den Mitteln der historischen Methode erwiesen. Einschätzung und Wertung richten sich hingegen nach erziehungswissenschaftlichen Einsichten und Kriterien. Dieser methodologische Ansatz gestattet es, vertieften Einblick in die Erziehungswirklichkeit und Unterrichtspraxis zu nehmen und die auftretenden Bildungsideale mit den historischen Fakten zu konfrontieren. Die vorliegende Abhandlung trägt mithin unerschlossenes Quellenmaterial zusammen, ordnet und gliedert es nach typischen Konzeptionen und Strömungen im Schulwesen mit besonderer Berücksichtigung des 19. Jahrhunderts. Der spezifischen Eigenart der Erziehungsgeschichte, nicht nur Pädagogik, sondern zugleich auch exakte Geschichtswissenschaft zu sein, wird dadurch am besten Rechnung getragen, daß man die „mühsame und abschreckende Arbeit" 42 des Studiums der schulgeschichtlichen Akten auf sich nimmt. In dieser Hinsicht befinden wir uns wie zu Beginn der pädagogischen Geschichtsschreibung „in einem sehr ungebauten Felde". 43 Bedauerlicherweise trifft nach wie vor die Kritik HEUBAUMS zu, daß sich hier „der Dilettantismus nach Belieben tummeln kann". 4 4 Insbesondere für das 19. Jahrhundert und vorher für die Aufklärungszeit fehlt der Erziehungswissenschaft ein lebendiges Verhältnis zur Geschichte und somit das immer wache „wissenschaftliche Gedächtnis". 45 In diesem Sinne will diese Studie zur Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts dem pädagogischen Sinnverständnis mit Befunden, Anregungen und Erfahrungen der Vergangenheit aufhelfen, um dem Durchdenken des auch heute noch ungelösten Problems „Naturwissenschaft und allgemeine Menschenbildung" (LITT) ZU dienen. Zugleich aber soll für die Einsicht geworben werden, daß der vernachlässigten und kaum ernsthaft betriebenen Erziehungsgeschichte weit mehr Aufmerksamkeit als bisher geschenkt werden muß.
KAPITEL II
Erste Ansätze zur Betreibung eines selbständigen naturwissenschaftlichen Unterrichts in der utilitaristischen Pädagogik des Barock 1. Der Einfluß realistischer Bildungsideen auf den Unterricht von natürlichen Dingen im „saeculum mathematicum" Der naturwissenschaftliche Unterricht ist im wesentlichen eine Erscheinung der Neuzeit.1 Realistische Bildungsforderungen treten erst im 17. Jahrhundert auf, und zwar im Zusammenhang mit dem Aufschwung, den die Naturwissenschaften durch empirische Naturbeobachtung und Anwendung mathematischer Methoden zu dieser Zeit nehmen. Kennzeichnend für die Wandlung in der geistigen Welt ist der rationale Charakter des Zeitgeistes, der das Vordringen der Naturwissenschaften und Mathematik begleitet. Die naturphilosophische Betrachtungsweise wird abgelöst zugunsten einer auf Erfahrung und Vernunft sich gründenden Philosophie. Auf pädagogischem Gebiet charakterisiert der Ruf nach Sachen die neue Epoche. Das religiöse Moment wird zurückgedrängt. In den Erziehungsschriften und Schulplänen des Barockzeitalters finden sich in zunehmendem Maße konkrete Vorschläge zur Betreibung eines selbständigen Naturkundeunterrichts, vornehmlich im Aspekt einer lebenspraktischen, auf die Erfordernisse der Brauchbarkeit im gewerblichen Leben ausgerichteten nützlichen Unterweisung. Für die Bildungsforderungen im 17. Jahrhundert sind zwei entscheidende Gesichtspunkte maßgebend geworden: Die deutliche Zuwendung zur Natur entgegen dem Verbalismus der Lateinschule und der ökonomische Nutzen. Nur durch die Erziehung sei zu erhoffen, „sich auch redlicher und geschickter Leute beym Regiment in allen Ständen zu versehen". 2 Neben der christlichen Lehre muß man „darbey gleichwol auff den fernem Zweck / nemblich / die Unterrichtung in andern nützlichen Dingen und Wissenschaften auch" 3 sehen. Die realistische Bildung wurde zum Motiv in der Pädagogik und, weit darüber hinausgreifend, auch in der durch merkantilistische Auffassungen bestimmten staatspolitischen und kameralwissenschaftlichen Literatur. Auf diesem Boden erwachsen zahlreiche Vorschläge zur Einrichtung von Realschulen für die gewerbetreibenden Stände, deren Mangel bald immer spürbarer wurde. Charakteristisch für diese Entwicklung ist die allmähliche Verschiebung von den zu Beginn des Barockzeitalters noch dominierenden religiösen Anschau-
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ungen zu einem überwiegend weltlich eingestellten platten Utilitarismus. W a r es zunächst noch die Berufung auf Gottes Gebot, sich die von ihm geschaffene Natur dienstbar zu machen und sich in Bewunderung seiner Werke mit nützlichen Kenntnissen Not und Mühe des irdischen Daseins zu erleichtern, um zugleich durch „das große Buch der Natur" 4 zum Verständnis der Schöpfung zu gelangen, so tritt mit dem Erstarken der absolutistischen Staaten zusehends die Überlegung in den Vordergrund, Mittel zu finden, „wodurch man an Kunst und Wissenschaft in Manufactur alle Ausländer mit der Zeit übertreffen könne". 5 Der Pietismus ist am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits auf pädagogischem Gebiet die große Gegenbewegung gegen die zunehmende Verweltlichung. Besonders nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Unterrichts hat das W i r k e n des E n g l ä n d e r s FRANCIS BACON (FRANZ BACO VON VERULAM, 1 5 6 1 — 1 6 2 6 ) g e n o m m e n . BACON b e g r ü n d e t e den empirischen
Realismus. Sein Grundsatz „spes una in inductione vera" und die von ihm immer wieder verkündete induktive Forschungsweise als Methode, um Naturgesetze aufzufinden und zu allgemeinen Wahrheiten zu gelangen 6 , veranlaßten JOHANN AMOS COMENIUS, die A n s c h a u u n g für den Unterricht f r u c h t b a r zu m a -
chen. In der Didaktik des COMENIUS gewinnt die Forderung BACONS nach einem auf Anschauung gegründeten Lehrverfahren praktische Gestalt. Dieser große Pädagoge des 17. Jahrhunderts trat ähnlich wie vor ihm WOLFGANG RATKE dafür ein, den Unterricht nicht mit den Sprachen zu beginnen, sondern mit realistischen Unterweisungen auf anschaulicher Grundlage: „Nicht der Schatten der Dinge, sondern die Dinge selbst, welche auf die Sinne und die Einbildungskraft Eindruck machen, sind der Jugend nahezubringen. Mit realer Anschauung, nicht mit verbaler Beschreibung der Dinge muß der Unterricht beginnen. Aus solcher Anschauung entwickelt sich ein sicheres Wissen." 7 Für die Schule ist damit zum erstenmal der Hinweis gegeben, sich intensiver mit den Erscheinungen der Natur zu beschäftigen. Auf der Grundlage naturgemäßer Pädagogik kommt es zu einer deutlichen Wendung gegen den Verbalismus. Dazu trägt COMENIUS vor: „Die Jugend recht unterrichten, heißt nicht, ihr ein Gemisch von Worten, Redensarten, Sentenzen und Meinungen, die man aus Autoren zusammengelesen, beibringen, sondern ihr das Verständniß für die Dinge eröffnen, damit daraus, wie aus einer lebendigen Quelle, sich viele kleine Bäche entspinnen. — Bis jetzt haben die Schulen wirklich nicht darauf hingearbeitet, daß die Kinder, gleich jungen Bäumen, aus eigener Wurzel Triebe entwickelten, sondern nur darauf waren sie aus, daß sie sich mit anderswo abgebrochenen Zweigen behängten. So lehrte man die Jugend, nach Art der äsopischen Krähe sich mit fremden Federn schmücken. M a n zeigte ihr nicht die Dinge selbst,
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Realistische Bildung im „saeculum mathematicum" sondern theilte mit, was der Eine oder der Andere und der Dritte davon denke und schreibe. — Fast Niemand lehrt Physik durch Anschauung und Experimente. Alle unterrichten durch mündlichen Vortrag des aristotelischen Werks oder irgend eines anderen. In Summa: die Menschen müssen, so viel als möglich, angeleitet werden, ihre Weisheit nicht aus Büchern zu schöpfen, sondern aus der Betrachtung von Himmel und Erde, Eichen und Buchen, das heißt: sie müssen die Dinge selbst kennen und erforschen, nicht bloß fremde Beobachtungen dieser Dinge und Zeugnisse über dieselben." 8 Mit dieser Ansicht wird zum erstenmal in der Bildungstheorie das Ideal eines
experimentell begründeten naturwissenschaftlichen Unterrichts aufgestellt. Die enge Berührung mit dem Aufschwung der Naturwissenschaft in der damaligen Zeit ist unverkennbar. Es sollte Jahrhunderte dauern, bis die unterrichtliche Praxis stofflich und methodisch dem geforderten Niveau entsprach. Eine unmittelbare Auswirkung auf das Schulwesen war noch nicht sofort gegeben. Die erhobenen Forderungen öffnen jedoch den Realien — und damit auch den Naturwissenschaften — das T o r zur Schule. COMENIUS
geht im Hinblick auf die Unterrichtsgestaltung von der These aus:
„Es ist nötig, daß der Anfang allen Erkennens jeder Zeit von den Sinnen ausgehe." 9 Er steht damit auf dem Boden des LocKESchen Sensualismus10 und lehnt jede einseitige Büchergelehrsamkeit ab. Aufgabe der Schule muß es sein, auf das praktische Leben vorzubereiten und nur das zu lehren, was „Nutzen bringen kann". 1 1 Der Jugend alles Erforderliche „zur rechten Zeit" vorzuführen, wird von
COMENIUS
als „Heilmittel" 12 bezeichnet. Das kann aber nur in Schulen ge-
schehen, in denen neben der Muttersprache in erster Linie die Realien betrieben werden. An die Stelle toten Wortwissens soll lebendiges, durch Beobachtung und eigenes Denken erworbenes Sachwissen treten.
COMENIUS
wird nicht müde,
dazu die Objekte der Natur und die Naturerscheinungen zu empfehlen. „Worte ohne Sachkunde sind leere Worte." 1 3 In diesem Zusammenhang finden sich in seinen pädagogischen Schriften bereits einige differenzierte Vorschläge für einen umfassenden naturwissenschaftlichen Unterricht. In allen Lehrplänen, die
COMENIUS
für die verschiedenen Schulen entwirft, er-
wähnt er ausdrücklich die Physik neben der allgemeinen Naturbetrachtung als Lehrgegenstand. Sie soll der abstrakten Mathematik vorausgehen und gilt für höhere und niedere Schulgattungen gleichermaßen. Am weitgehendsten und auch wohl am ausführlichsten hat er sich zweifelsohne im „Informatorium der Mutterschule" 1633 zum Umfang der bereits im Kindesalter zu erwerbenden Naturkenntnisse geäußert. Das hat ihm den Vorwurf eingetragen, einer „der extremsten Realisten" zu sein. 14 Dennoch muß es als ein bleibendes Verdienst gewertet werden, daß im Plan der Mutterschule auf die erzieherische Wirkung gerade sorgfältiger Naturbeobachtungen hingewiesen worden ist. Bereits in den ersten sechs Lebensjahren fällt der Mutter die Aufgabe zu, einen Grundstock an
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naturkundlichem Wissen durch sinnliche Betrachtung der Dinge, Nachdenken und praktische Betätigung zu legen. Mit Vorlesen und Erzählen läßt sich die Aneignung der notwendigen anschaulichen Vorstellungen und Begriffe nicht vollziehen. Im einzelnen sieht das Informatorium vor: „Wir lernen alles was nützlich und gut ist, Kennen, Thun, und davon Reden. Anlangende die Erkäntnüß, 1. Erstlich der natürlichen dinge (in Physicis) kan ein Kindt in den ersten sechs Jahren so weit gebracht werden, daß es die Elementen, Erde, Waßer, Lufft, Fewer, zu nennen wiße: Item Regen, Schnee, Eyß, Bley, Eysen ec. Auch etlicher gewächse underscheidt, nemlich, was ein Kraut, Bawm, fisch, ein Vogel, ein thier sey ec. Letzlich kan ein Kindt lernen, seiner eußerlichen gliedmaße nahmen und arbeyt. Diß alles sehr leicht: und ist doch ein anfang der gantzen Physicae oder natur Kunst. 2. In Optica hat das Kindt genug, wenn es verstehett was licht, was finster ist, und etlicher färben unterscheyd, und nahmen, alß weiß, schwartz ec. 3. Einen anfang von der Astronomia kan ein Kindt haben, wenn es die Sonne undt den Mond Kennet; undt ins gemein, was ein Stern sey weiß." 15 In dieser Weise war COMENIUS darum bemüht, bereits auf der untersten Stufe des von ihm vorgeschlagenen Schulsystems eine sichere Grundlage für die „Anfänge der Naturwissenschaft" 18 zu gewinnen. Etliches soll dabei „mit gemütt undt zungen verrichtet" werden, andere Dinge nimmt das Kind durch „allerley eusserliche handarbeit" wie Schneiden, Schaben, Binden, Legen usw. „mit dem gemütte undt händen" auf. 17 Der kindliche Betätigungsdrang wird also in Verbindung mit der Verstandes- und Gefühlswelt dieser Altersstufe angesprochen, um gerade aus der unmittelbaren Umwelt die ersten Eindrücke und ein sicheres Wissen über die Natur zu empfangen. Für die älteren Schüler gibt C O M E N I U S außer der Nennung besonders der Physik unter den Realien nur allgemeine methodische Hinweise. Im wesentlichen soll in der Schule mit dem üblichen Vorlesen von Textstellen gebrochen werden. Nähere Einzelheiten sind nicht weiter aufgeführt. Lediglich solche Anregungen wie zum Beispiel die Verbindung von Wort- und Sachunterricht, das Hinführen vom Leichten zum Schweren und das Erwecken des Interesses beim Lernenden finden sich ausführlich in der „Didactica magna". Es lag wohl am Mangel geeigneter Lehrbücher 18 , daß für den naturwissenschaftlichen Unterricht zu dieser Zeit kein zusammenhängendes und ausgewogenes System ausgearbeitet werden konnte. Außerdem waren die Naturwissenschaften selbst noch keineswegs so weit fortgeschritten, um in systematischer Reihenfolge für den Unterricht verwertet werden zu können. Hier ist auch die Ursache dafür zu suchen, daß die Auswirkungen der comenianischen Pädagogik auf die Unterrichtspraxis in der Barockzeit kaum spürbar werden und es nur wenige Beispiele für eine schulmäßig betriebene Naturlehre überhaupt schon gibt.
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Realistische Bildung im „saeculum mathematicum" N e b e n COMENIUS s i n d es v o r a l l e m JOHANN RAUE, JOHANN JOACHIM BECHER
und VEIT LUDWIG VON SECKENDORFF, die Pläne für eine realistische Bildung der Schuljugend vorgelegt haben. Aber auch diese Vorschläge verbleiben trotz des deutlichen Bezugs zum praktischen Leben vorerst noch gänzlich im Räume der Theorie. BRANDAU hat auf „das Eigenartige am pädagogischen Realismus des 17. Jahrhunderts" hingewiesen, daß ihm „eine ausgedehntere pädagogische Praxis versagt war". 19 Lediglich in einzelnen Ritterakademien und in der 1642 beginnenden Gothaer Schulreform ist es im Zusammenhang mit der Einführung der Realien zu einem naturkundlichen Unterricht gekommen, ohne diesen jedoch im einzelnen stofflich und methodisch näher zu begründen. Eine Differenzierung innerhalb der naturwissenschaftlichen Disziplinen beginnt erst allmählich. Zunächst stehen ökonomische Kenntnisse und insbesondere die für die Ausübung von Handwerk und Manufaktur so überaus wichtige Mechanik im Vordergrund. Letztere bildet in der Regel an den Ritterakademien und später in vielen Realschulen ein selbständiges Fach. Das Interesse ist vorrangig auf „technische Künste" und brauchbare „Weltsachen" gerichtet, die in der Schule gelehrt werden sollen. Die bevorzugte Stellung der „Haus-, Stadt-, Feld- und Landsachen" 20 zeigt eine verstärkte Orientierung auf die Berufserziehung im Sinne einer Vorbereitung auf die künftige Tätigkeit, die nunmehr gleichwertig neben die christliche Lehre und die alten Sprachen tritt. Die dem merkantilistischen Denken entsprungenen Realschulprojekte sind ganz auf die Erfordernisse des gewerbetreibenden Bürgertums unter den Bedingungen der absolutistischen Herrschaftsordnung abgestellt. Sie sehen in erster Linie eine lebenspraktische Ausbildung vor. Zu den ersten Realschulgründungen ist es dann zu Beginn des 18. Jahrhunderts gekommen. Am ehesten freigesetzt von einer durch die Kirche getragenen und für geistliche Zwecke genutzten Bildung hat sich der Adel, der im Dienste der Militärund Staatsaufgaben im Absolutismus zu neuer Blüte gekommen war. Die bestehenden Schuleinrichtungen vermochten dem Herrenstand das für die Regierungsgeschäfte unerläßliche Wissen und die für höfisches Benehmen und Lebenskunst erforderliche „conduite" nicht zu geben. Aus diesem Bedürfnis heraus entwickeln sich eigene Ritterakademien, getragen vom Ideal des „galant-homme". In den Ritterakademien können gewissermaßen die „Vorläufer der späteren Realschulen" 21 gesehen werden. Der Einfluß ist unverkennbar. So war beispielsweise RAUE lange Jahre, von 1635 bis 1647, als Professor an der Ritterakademie in Soroe tätig (wie übrigens später auch BASEDOW). SECKENDORFF übernahm 1680 die Direktion der in Halle bestehenden Anstalt. Wie aus der „Ordnung der Ritterschule zu Wolfenbüttel" (1688) hervorgeht 22 , wurden an den Adelsschulen naturwissenschaftliche Unterrichtsfächer neben den ritterlichen Künsten und Tugenden zum erstenmal, losgelöst von der aristote-
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lischen Naturphilosophie und christlichen Bibelbezogenheit, als „Physicum experimentale" eingeführt. Die militärische Berufserziehung hat durch die Umstellung der Waffentechnik seit der Erfindung des Schießpulvers eine gründliche Anleitung in „Mechanicis" und insonderheit zu „Lust- und Ernst-Feuerwercken" notwendig gemacht. Außerdem sollten die Söhne der Adligen ihrem Stande gemäß „in Civil-, Militair- auch Hoff- und Landes-Bedienungen nützlich employiret" 23 werden. Moderne Fremdsprachen und Naturwissenschaften erhielten deshalb an den Ritterakademien ihre erste methodische Grundlegung und sind von dort dann „gewissermaßen von oben her in den pädagogischen Bereich" 24 eingedrungen. Die im 17. Jahrhundert vorgelegten Schulentwürfe für den Bürgerstand stehen ganz unter dem Einfluß dieser Entwicklung. In ihnen wird der Brauchbarkeitsstandpunkt zunehmend reflektiert, der der absolutistischen und merkantilistischen Staatsauffassung der Barockzeit entspringt. R A U E fordert 1653 als „General-Inspektor aller Schuelen" in Brandenburg eine lOklassige Trivialschule, die „ein genügsames Fundament" legt, damit der Schüler später im täglichen Leben „nicht gar ein Ideot und ungeschickt" sei, „sondern zu allerhand Bürgerliche Officia . . . möge gebraucht werden". 25 Unter den aufgeführten Unterrichtsgegenständen befindet sich neben der Lehre von der Mechanik auch die Botanik. Zuerst sollen „diejenigen Sachen, so leichter, gemeiner und in quotidiano usu mehr fürkommen" 2 8 behandelt werden. Vorgeschlagen wird weiter eine Sammlung mit Instrumenten und Modellen, die der Veranschaulichung dient. Dieser Gedanke entsprang dem dringenden Bedürfnis nach Lehrmitteln für die sachkundlichen und naturwissenschaftlichen Fächer. Er taucht auch 1668 bei B E C H E R auf, der seiner „mechanischen Realschule" ein „Theatrum naturae et artis" beigeben wollte, das „etlich tausend Corpora naturalia und artefacta" 27 in sich vereinigt. Das in allen pädagogischen Reformschriften des 18. Jahrhunderts nachdrücklich gewünschte „Naturalienkabinett" war geboren. B E C H E R , der selber zahlreiche Abhandlungen über den Bergbau, die Metallurgie sowie physikalischen und chemischen Inhalts schrieb, zählte neben ausgestopften Tieren und Mineralien vor allen Dingen die Werkzeuge und Instrumente der Mechanik auf. Seine „mechanische Schul" behandelt die Naturkenntnisse stark unter berufsbezogenem Aspekt, so wie es in der extremen Richtung des Utilitarismus der Aufklärung auch späterhin erneut aufgegriffen und vorgetragen wird. Sie „lehret zeichnen, posieren, auff allerhand Weise und durch allerhand Instrumenten die Körper zertheilen und zusammensetzen, gibt das Fundament zu allem, lehret auch den Zirkel, die Meiß-Mahler-Perspektiv-Kunst; Fortifikation und Baumeisterei". 28 Ziel aller Vorschläge ist in jedem Fall „der in der Welt brauchbare, wirtschaftlich tätige Mensch". 29 Die Schulen in den Städten und Dörfern, so betont
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SECKENDORFF, haben keinesfalls nur in christlicher Religion zu unterweisen, sondern Kenntnisse zu vermitteln, „die ein künfftiger Hauß-Vater / Bürger und Inwohner des Landes / von allerhand natürlichen und vernünfftigen Sachen / Beschaffenheit des Landes-Regiments und Hauß-Wesens / in allen Ständen mit Nutz wissen und gebrauchen könte". 3 0 Ausdrücklich wird selbst für die Gymnasien „auch wol Physica und Mathematica" erwähnt. Interessant ist, daß zum Beispiel RAUE und SECKENDORFF eine gemeinsame Ausbildung für alle Jugendlichen vorsehen, unabhängig davon, ob sie studieren wollen oder nicht. RAUE plant einen zweijährigen Gymnasialkurs im Anschluß an die Trivialschule. Die „Lateinischen Schulen" SECKENDORFFS dienen künftigen Gelehrten und Bürgern gleichermaßen. Besondere Gymnasien schließen sich daran an. Die Spannung zwischen humanistischer und realistischer Bildung bricht zu dieser Zeit aber noch nicht auf. Es geht unter Beibehalt des Lateinischen, das damals „auch für die nichtStudierten Berufe noch einen größeren Brauchbarkeitsfaktor enthielt" 3 1 , zunächst um das Zurückdrängen der einseitigen religiösen Ausrichtung im Schulwesen. Die Schule sollte ebenso den wirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung tragen. In ihrer Grundtendenz neigen die vorgetragenen Gedanken zumeist schon zum Pietismus, der religiöse und reale Weltbewältigung miteinander in Einklang zu bringen suchte. Das entspricht ganz den naturrechtlichen Auffassungen. Die Bedeutung der Natur und realen Wirklichkeit wurde erkannt, aber die Naturgesetzlichkeit galt als göttliche Satzung, als eine lex divina. Aus dieser Haltung heraus muß die Hinwendung zu Stand und Beruf und im Zusammenhang damit auch die Betonung der Naturkenntnisse gesehen werden. Versuche, aus dieser Grundanschauung heraus zu praktischen Reformen vorzustoßen, gibt es nur vereinzelt. Ein bedeutender Ansatz findet sich im niederen Schulwesen. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges verstärkte sich infolge der mißlichen politischen Zustände, der wirtschaftlichen Rückständigkeit, des Aberglaubens und der Roheit des Volkes das Bedürfnis nach Wiederbelebung des wirtschaftlichen Wohlstandes. Vom Bildungswesen erhoffte man sich einschneidende Veränderungen im „Leben, Thun und Wandel". 3 2 Dazu war es notwendig, „die Knaben und Mägdlein auff den Dorfschaften / und in den Städten / die unter dem untersten Hauffen der Schul-Jugend begriffenen Kinder" nach genau festgelegten Richtlinien „kurz und nützlich" 33 zu unterrichten. In einer Reihe von Territorialstaaten erlassen die Landesfürsten die ersten Schulordnungen und legten damit den Grund für eine zentral vom Staate geleitete Volksschule. Diese Entwicklung beginnt zunächst vornehmlich in den mitteldeutschen Ländern. 34 Zum Vorbild genommen wurde der berühmte Gothaer Schulmethodus 35 , den Rektor REYHER im Auftrage Herzog ERNST DES FROMMEN 1642 in einer ersten
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Fassung entwarf. In Gotha finden die Forderungen von RATKE und COMENIUS, besonders aber die Utilitätsmomente ihrer Pädagogik Eingang in eine Landesschulverordnung. Dazu haben die Umstände beigetragen, die gerade in diesem Fürstentum bestanden. 38 Das Interesse des durch RATKE erzogenen und beeinflußten Fürsten richtete sich vornehmlich auf das niedere Schulwesen. REYHER selbst kannte die Schriften von COMENIUS. SECKENDORFF war zu dieser Zeit Ratgeber des Fürsten. Auch RAUE hatte mit seinen Plänen Verbindung zu Gotha gesucht. In dieser für pädagogische Reformen aufgeschlossenen Atmosphäre entstand als Entwurf eine für das 17. Jahrhundert mustergültige Schulordnung, die die Bildungstendenzen der merkantilistischen Zeit in sich aufnahm und vereinigte. Im Hinblick auf die Umsetzung der gesteckten Ziele in die Schulpraxis blieben die erhobenen Forderungen jedoch unerreicht, sogar im eigenen Lande. Der Schulmethodus läßt darüber keinen Zweifel. Das geht besonders aus Anweisungen hervor, die sich auf die Einführung der Realien bezogen. Der ursprüngliche „Special- und sonderbahrer Bericht" (1642) enthielt das in Frage kommende Kapitel VIII „Von den natürlichen und andern nützlichen Wissenschaften, und wie dieselbigen zu treiben" zunächst noch nicht. Über die Aufnahme der Realien in das Schulgesetzgebungswerk tauchen unterschiedliche Angaben auf. Sie ist jedoch nachweislich37 erst im Jahr 1662 erfolgt. Die Ausgabe von 1672 brachte dann im genannten Abschnitt eine ausführliche Instruktion. Vorher erschienen lediglich einzelne Reskripte und der die Realien behandelnde „Kurtze Unterricht" von REYHER. Zeitlich stimmt diese Entwicklung mit der Ernennung SECKENDORFFS zum „Geh. Hof- und Kammerrath" überein. Die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in den Lehrplan auch und gerade der niederen Schulen geht also nicht zuletzt auf den Weitblick eines Staatsmannes zurück, der 1656 das für die merkantilistisch-absolutistische Staatsauffassung authentisierte Regierungshandbuch schrieb.38 Der Gothaer Schulmethodus gestaltet sich ganz ähnlich zu einer Richtschnur für die staatliche Organisation des Schulwesens, die in ihren Grundzielen ein nachahmenswertes Muster darstellt. Es ist sicherlich kein Zufall, daß mit Amtsantritt SECKENDORFFS im Jahr 1656 ein Fürstliches Reskript die Anschaffung von Linealen, Zirkeln, Bleiwaagen und Gewichten für die Schulen verordnete. Eine zweite Anweisung gebot „die unnachbleibliche Treibung des Unterrichts von natürlichen Dingen". 3 ' Daraufhin gibt REYHER ein Jahr später, 1657, eine Unterrichtsanleitung heraus unter dem Titel: „Kurtzer Unterricht /1. Von natürlichen Dingen. II. Von etlichen nützlichen Wissenschaften. III. Von Geist- und Weltlichen Land Sachen. IV. Von etlichen Hauß-Regeln."
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Dieser Leitfaden diente fortan als Schulbuch, das in den Gothaischen Schulen bis 1782 eingeführt blieb. 40 Weite Verbreitung in anderen Ländern fand er hingegen nicht. 41 Sowohl aus dem Schulmethodus als auch aus der Schrift REYHERS lassen sich Anhaltspunkte gewinnen, wie speziell der „Unterricht von natürlichen Dingen" gedacht war und gestaltet werden sollte. Die Schulordnung bezieht sich jeweils auf die einzelnen Paragraphen des Lehrbuches. Sie empfiehlt, dieses „so offt, als es nöthig ist, von den Kindern deutlich lesen" zu lassen und „zur Demonstration und Treibung der natürlichen und anderen Wissenschaften" ein „Inventario" 42 einzurichten. Dem Lehrer wird weiter geraten, „nicht zu general" bei der Behandlung der Themen zu sein, vielmehr die Fragen verständlich zu stellen, Anschauungsgegenstände vorzuzeigen oder in der Natur selbst aufsuchen zu lassen. „Was auf dem Augenschein bestehet, soll sobald bey vorhandener materia, wo man es gegenwärtig haben kan, den Kindern gezeigt werden." 43 Der von COMENIUS aufgestellte Grundsatz der Anschauung kommt in methodischen Hinweisen immer wieder zur Geltung. „Pflanzen, Kräuter und Stauden" werden in Gärten aufgesucht. An geschlachteten Tieren zeigt man die inneren Organe der Lebewesen. Himmelsrichtungen lassen sich am Stand des Altars in der Kirche bestimmen. Besonderes Gewicht mißt der Schulmethodus anschaulichen Erklärungen bei, die Bezug zur Erfahrungswelt der Schüler nehmen. Die Ursache von Donner und Blitz wird mit Feuer und Knall des Büchsenschusses verglichen. Erschütterungen, die große Lastwagen auslösen, dienen zur Verdeutlichung von Erdbeben usw. Besonderer Zweck solcher Belehrungen ist es, „die Jugend von abergläubischen und irrigen Meinungen des gemeinen Mannes abzuführen". 44 REYHERS „Kurtzer Unterricht" enthält bereits eine beachtliche Reihe von Unterrichtsgegenständen, die Bezug zu den exakten Naturwissenschaften aufweisen. Die Schulordnung wiederholt später zum Teil diese Punkte oder gibt Erläuterungen dazu. Aufgeführt werden unter anderem: Himmelserscheinungen wie fliegendes Feuer, Sternschnuppen, Blitz, Regenbogen, Morgen- und Abendröte; Witterung, darunter Regen, Tau, Reif und die Winde; Bodenarten und Mineralien; Metalle und Edelsteine. An Experimentiergeräten sind Strickrollen, Kompaß, Gewichte, Zirkel und Bleiwaage erwähnt. Die Schüler sollen damit selbst „probiren". Winke und Vorschriften erhalten stets eine deutliche Ausrichtung auf das tägliche Leben und die praktische Bedeutung des Gegenstandes. Daneben dominiert die Vertiefung echter Gotteserkenntnis. Gelehrt werden soll „dasjenige / welches der gemeinen Jugend dermaleins zu gebrauchen / für nützlich und nöthig befunden worden", und zwar deswegen, „weil allen vernünfftigen Menschen und fürnemblich einem Christen / zu Lob und Preiß seines
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Schöpffers / zu besserm Erkänntnis seiner selbst / und auch zu vielerley andern Nutzen in gemeinem Leben obligen wil / die Geschöpfte Gottes etwas eigentlicher zu betrachten". 45 In dieser Zielsetzung kommt die Grundhaltung jener Zeit deutlich zum Ausdruck. An vielen Orten bestanden die Voraussetzungen zur Durchführung des Gothaer Schulmethodus noch nicht. Wo keine Gelegenheit bestand, einen planmäßigen naturwissenschaftlichen Unterricht abzuhalten, sollte der „Kurtze Unterricht" aber dennoch wenigstens „zur Lesens-Vbung gebrauchet" werden.4* Damit sind — der Praxis des späteren Volksschulunterrichts durchaus entsprechend— „die Realien in eine Schulordnung für das Volksschulwesen eines deutschen Staates zum ersten Male und zugleich bleibend eingeführt worden". 47 Allerdings bleibt die Wirkung der geplanten Reformen im Grunde genommen — abgesehen von gewissen Anregungen für Bestrebungen der pädagogischen Folgezeit (besonders A. H. FRANCKE und J . HECKER) — gering, wenn man sie in ihrer Bedeutung für die gesamte geschichtliche Entwicklung des naturwissenschaftlichen Unterrichts betrachtet. Besondere Unterrichtsstunden für die Realien wurden im Gothaer Schulmethodus nicht angesetzt. Gelegentliche Belehrungen knüpften sich sporadisch an den nach wie vor religiös gefärbten Leseunterricht. Diese Unterrichtsweise konnte keine wertvollen Resultate zeitigen, zumal beispielsweise Lehrer mit gründlichen naturwissenschaftlichen Kenntnissen überhaupt nicht vorhanden waren. Somit blieb die methodische Durchformung der aufgenommenen Sachfächer noch in primitiven Anfängen stecken. Einen nachhaltigen und sichtbaren Einfluß auf den naturwissenschaftlichen Unterricht hat dieser Ansatz kaum genommen. Es handelte sich lediglich um ein erstes Bemühen, im niederen Schulwesen die einseitig kirchlich-dogmatische Ausrichtung des Unterrichts durch stärkere Betonung des Nützlichen zu durchbrechen. Im höheren Schulwesen sind es nach COMENIUS besonders JUNGIUS und WEIGEL, die unter dem Einfluß der bisherigen pädagogischen Entwicklung Reformen anstrebten, wobei sie jede einseitige Altertumsschwärmerei entschieden ablehnten. Namentlich JOACHIM JUNGIUS (1587—1657), der von PÄHL als „der bedeutendste" unter den Schülern COMENIUS' undRATKES bezeichnet wird 48 , fand nach einer kurzen Professorentätigkeit in Gießen und Rostock am Johanneum in Hamburg fast ein ganzes Menschenalter hindurch Gelegenheit, für den naturwissenschaftlichen Unterricht einzutreten. Diese Gelehrtenschule hat sich jahrhundertelang eine besondere mathematisch-naturwissenschaftliche Tradition bewahren können. In der von JUNGIUS ausgearbeiteten Schulordnung spielten die von LEIBNIZ besonders empfohlenen Gebiete Statik und Optik eine wichtige Rolle. Die Unterrichtsergebnisse sind später in einem besonderen Kompendium herausgebracht worden.49 JUNGIUS verlangte auch die Anschaffung von In-
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strumenten, um die Schüler „durch Autopsie" (d. h. durch eigenes Sehen) zu belehren. Im allgemeinen jedoch war die für gelehrte Berufe gedachte höhere Schule damals von einem naturwissenschaftlichen Unterricht noch weit entfernt. Taucht an einzelnen Gymnasien wie zum Beispiel in Moers 1635 oder in Halle 1661 gelegentlich die „Physik" schon einmal im Lehrplan auf, so handelt es sich um die Durchnahme der Schriften ARISTOTELES', die nicht wegen ihres naturbezogenen Inhalts, sondern „ut habebant exempla argumentationum" traktiert wurden. Im Vordergrund stand die dogmatische Übermittlung naturwissenschaftlicher Tatsachen. Die Rückwirkungen der naturwissenschaftlichen Entdeckungen der Barockzeit beschränken sich vorerst auf die gelehrte Welt. So ist auch die Absicht JUNGIUS' zu verstehen, eine naturforschende Gesellschaft zu gründen, um auf der Grundlage von Erfahrung und Vernunft die Künste und Wissenschaften von der Sophistik zu befreien. Das Hamburger Johanneum muß trotz der Würdigung der Verdienste JUNGIUS' als eine Einzelerscheinung gewertet werden. LEIBNIZ' Klage im Hinblick auf die überaus starke Vernachlässigung der Realien im höheren Schulwesen ist noch lange Zeit hindurch berechtigt: „Wir nötigen unsere Jugend zuerst dazu, die Herkulesarbeit der Bezwingung verschiedener Sprachen zu leisten, wodurch die Schärfe des Geistes abgestumpft wird." 50 Ebenso wie JUNGIUS trat ERHARD WEIGEL (1623—1699) in Thüringen für die Pflege der Realien an den höheren Schulen ein. Als Professor der Mathematik und Polyhistorie an der Universität in Jena hat er naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Gesetzmäßigkeiten in seinen Vorlesungen durch manche originellen Experimente einsichtig zu machen gesucht. Bei seinen Zeitgenossen genoß er durch manche Erfindung hohes Ansehen. LEIBNIZ, THOMASIUS und CHRISTOPH SEMLER waren seine Schüler. Neben den alten Sprachen schlug er die „Realweisheit" für die Schule vor. Lebensklugheit steht im Mittelpunkt seiner Kunst- und Tugendlehre. Im praktischen Umgang mit natürlichen Dingen und bürgerlichen Angelegenheiten sollte die Jugend diese erwerben. LEIBNIZ hat in einem Gutachten die „Kunst- und Tugendschule" WEIGELS gepriesen51, an der nicht nur Verbalwissenschaften, sondern vor allem auch Sachkenntnisse vorgesehen waren. Anschauung und handwerkliche Betätigung sowie auch ein Lehrmittelkabinett bilden die Grundlagen des naturkundlichen Unterrichts, so wie WEIGEL sich ihn vorstellte. Seine Bemühungen finden ihren besonderen Niederschlag in der von SEMLER in Halle begründeten ersten Realschule, in der die naturwissenschaftlichen Fächer, darunter auch Physik, von vornherein unter der Rubrik nützlicher Kenntnisse Aufnahme fanden. Von hier aus erhielt die Realschulbewegung des nachfolgenden Jahrhunderts zahlreiche Impulse. Sie gewann im Pietismus erstmals
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eine nachhaltige Breitenwirkung. Zugleich damit verstärkt sich das Bemühen, dem Bildungsbedürfnis des Bürgertums durch umfassende Schulverbesserungen entgegenzukommen. Die politischen und religiösen Machtkämpfe des 17. Jahrhunderts haben eine größere Ausbreitung realistischer Bildungsideen unmöglich gemacht. Trotz der großen physikalischen Entdeckungen, trotz des Wirkens eines BACON, NEWTON, GALILEI und LEIBNIZ sind im Schulwesen kaum umfassende Veränderungen eingetreten, so daß der Name „saeculum mathematicum" wohl für die Entwicklung der Wissenschaften, nicht aber für Neuerungen im pädagogischen Bereich in Anspruch genommen werden kann.
2 . Die naturkundlichen Fächer als Rekreationsübungen in der pietistischen Pädagogik bei August Hermann Francke Allen Geistesrichtungen des 18. Jahrhunderts ist ein Streben gemeinsam, der leidenschaftliche Eifer für die Erziehung. Wohl kaum ein Jahrhundert weist ein derartiges Interesse besonders für pädagogische Fragen auf. Es finden sich in dieser Hinsicht die mannigfaltigsten Berührungspunkte und Verflechtungen, so daß selbst Strömungen, die sich in ihren philosophischen Grundanschauungen auf das heftigste bekämpften, in ihren pädagogischen Forderungen zu gleichen Tendenzen neigen und gemeinsam auf Schulgründungen und auf die Verbesserung des Unterrichts bedacht sind. Die Ursache für diese Erscheinung ist in der gesellschaftlichen Entwicklung zu sehen. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts vollzog sich auch in Deutschland allmählich der Übergang von der Stufe der Naturalwirtschaft zu der höheren kapitalistischen Wirtschaftsform, der mit dem Manufakturwesen und dem Aufblühen von Handel und Gewerbe bereits seit geraumer Zeit seinen Anfang genommen hatte. Der Merkantilismus ist ein deutlicher Ausdruck dafür. Die Staaten konnten sich diesem Prozeß nicht verschließen, wollten sie nicht ihre wirtschaftliche und damit auch ihre politische Selbständigkeit verlieren. An der Beförderung der Industrie — und das ist das Typische für diese Epoche — nehmen Fürsten und auch das Bürgertum gleichermaßen größten Anteil. Das merkantilistische Wirtschaftssystem bleibt im wesentlichen aber noch erhalten, obwohl sich in zunehmendem Maße die Kräfte verstärken, die auf eine Loslösung aus der staatlichen Bevormundung drängen. Mit dem Physiokratismus52 wird von Seiten des aufkommenden Bürgertums die private Wirtschaftsweise gegen die merkantile Staatswirtschaft gesetzt. Die kosmopolitische Einstellung der Aufklärung zeigt nachher deutlich das Streben nach Kapitalfreiheit. Im Zusammenhang damit lockern sich die Auffassungen über das Verhältnis von
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Bürger und Staat. Der Staat gilt nicht mehr als gottgegebene Ordnung, die vom Menschen unbedingte Unterwerfung selbst unter eine despotische Regierungsform verlangt, sondern wird als Zusammenschluß selbständiger und freier Bürg e r g e d a c h t (GROTIUS, PUFENDORF, HOBBES, LOCKE), die in e i n e m S t a a t s v e r t r a g
gegenseitige Verpflichtungen eingegangen sind. Dabei ist die Würde des Menschen unantastbar. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit muß auch unter den Bedingungen fürstlicher Landesgewalt gesichert sein. Es beginnt das Ringen des Bürgertums nach politischer und sozialer Gleichsetzung. Dieser Prozeß führt im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einem einschneidenden Wandel, läutert zunächst im Rahmen des Bestehenden das überkommene Herrschaftssystem zum „aufgeklärten" Absolutismus, bis schließlich die Gegensätze stärker hervorbrechen und eine revolutionäre Haltung sich durchsetzt, um die Befreiung des Menschen aus der zentrierten Bindung des absolutistischen Staates vollends zu erwirken. Auf politischer Ebene fallen die Auseinandersetzungen erst in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die geistigen Grundlagen für diese Entwicklung entstehen jedoch lange vorher in der Aufklärungsphilosophie. Pietismus und Aufklärung sind die bedeutendsten Geistesrichtungen am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Sie entstehen nebeneinander. Beide wachsen aus dem Rationalismus heraus, stehen aber in Gegnerschaft zueinander. Gemeinsam ist ihnen die Wendung gegen den Dogmatismus in Philosophie und Theologie. Auf pädagogischem Gebiet sind beide Strömungen von der Verachtung humanistischer Buchgelehrsamkeit getragen und besitzen einen nützlichpraktischen Zug. So bleibt das rationale Moment für die Erziehungspläne und Reformversuche auch weiterhin entscheidend. Für die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Unterrichts bedeutet gerade diese Ubereinstimmung, daß sich trotz aller Unterschiede in den geistigen Auffassungen und der sich verändernden geschichtlichen Gesamtlage „eine gerade Linie" 53 ziehen läßt. Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse verdanken ihre Aufnahme in die einzelnen Bildungsprogramme vorerst ausschließlich der Brauchbarkeit, so daß es im einzelnen unerheblich ist, welchen Motiven die vorgetragenen Ansichten über Nützlichkeit und Lebenstüchtigkeit entspringen und was unter der Vorbereitung auf das „wirkliche" Leben tatsächlich verstanden wird. Da entsprechend der Denkweise jener Zeit in der Erziehung das Mittel gesehen wird, Glück und Wohlstand eines Landes zu fördern, läßt sich im Hinblick auf die Einführung der Realien eine gewisse Kontinuität im schulgeschichtlichen Raum beobachten. Überall forderte man, das bestehende Schulwesen im Sinne einer dem praktischen Leben dienenden Bürgerbildung umzugestalten. Deshalb finden sich in diesem Zeitraum, dem „pädagogischen Jahrhundert", wie es von den Vertretern des aufkommenden Bürgertums selbst immer wieder genannt wurde, weit mehr
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Ansätze und vor allem tatkräftige Maßnahmen zur Betreibung des naturwissenschaftlichen Unterrichts als in früheren pädagogischen Bestrebungen. Ein sichtbares Zeichen dafür ist die Bereitwilligkeit, die neuen Schulgründungen finanziell zu unterstützen. Fürsten und Bürgertum spendeten Geld. Nur so gelang es überhaupt, außerhalb der bestehenden Einrichtungen die ersten Erziehungsanstalten ins Leben zu rufen. Diese Entwicklung deutet sich im Pietismus zunächst erst schwach und weitgehend religiös verklärt an, bis sie schließlich in der vom Geist der Aufklärung getragenen philanthropistischen Pädagogik größeres Ausmaß gewinnt und ihren Höhepunkt findet. Die Aufklärung nimmt erst verhältnismäßig spät direkten Einfluß auf Reformbemühungen im pädagogischen Raum. Erst im Philanthropismus entsteht eine geschlossene Reformbewegung, die'den von CHRISTIAN WOLFF (1679—1754) verkündeten strengen empirischen Rationalismus ins Pädagogische umsetzt. Über WOLFF dringen die philosophischen Ideen von DESCARTES, LOCKE, LEIBNIZ
und THOMASIUS in die Erziehungstheorie und Schulpraxis ein, nunmehr zu einem eklektizistischen System zusammengetragen und geordnet, das seinen Ausgangspunkt in der Mathematik und Naturwissenschaft genommen hatte. In zahlreichen populären Schriften bricht sich die Philosophie des „gesunden Menschenverstandes" Bahn. Beherrschend für das aufklärerische Denken wird der absolute Glaube an die Vernunft und an die diesseitsgerichteten Zwecke des Menschen, begleitet vom Skeptizismus gegen Religion und jede transzendente Denkhaltung. In den Forderungen nach Brauchbarkeit und Glückseligkeit, verstanden als Freude an der Welt sowie als Teilhabe aller Menschen an einem besseren irdischen Los durch vernünftige Belehrung über die Gesetzmäßigkeiten in Natur und Leben, verkörpern sich die neuen Gedanken, die über religiöses Empfinden und kirchlich-dogmatische Autorität gestellt werden. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts erneuert sich die Spannung zwischen transzendenter und weltlicher Lebensauffassung. Der Konflikt bricht auf an der Halleschen Universität. Mit der Vertreibung WOLFFS, der, 1723 des Atheismus angeklagt, „bei Strafe des Stranges" die Stadt binnen 48 Stunden verlassen muß, wird er zunächst zugunsten der auf Frömmigkeit bedachten pietistischen Richtung entschieden. Erst nach 1740, als WOLFF gleich nach Regierungsantritt FRIEDRICHS DES GROSSEN wieder nach Halle zurückkehren darf, gewinnt die Aufklärung an Bedeutung. Sie deutet zugleich das Ende der auslaufenden Epoche des Barocks an. Der Pietismus ist die letzte typische Geistesströmung, die mit ihrer Verhaftetheit im Metaphysischen der zunehmenden Verweltlichung des menschlichen Denkens und Handelns im Sinne einer alles beherrschenden „ratio" Einhalt zu gebieten sucht. Mit dem Geheiß einer „praxis pietas", die den Menschen in Demut zu Gott zu einer duldsamen und frommen Lebensausübung leiten soll, stützt die pietistische Bewegung noch einmal die
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überkommene ständische Gesellschaftsordnung. Es ist kein Zufall, daß König FRIEDRICH WILHELM I. von Preußen dem Pietismus nahestand und sich von AUGUST HERMANN FRANCKE ( 1 6 6 3 — 1 7 2 7 ) in S c h u l f r a g e n b e r a t e n l i e ß , d e r als
Begründer der pietistischen Pädagogik im Gegensatz zu THOMASIUS und WOLFF an der Universität in Halle gestanden hatte. Über die hier aufgetretenen Differenzen, die oft in gegenseitige Beschimpfungen ausgeartet sind, ist ausführlich von PAULSEN54 berichtet worden. Sie kennzeichnen den überaus scharfen Meinungsstreit, der zwischen der religiösen Erneuerungsbewegung und der rationalistischen Philosophie in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ausgetragen wurde. Der Pietismus ist in seiner Grundanschauung auf eine Verinnerlichung des religiösen Lebens gerichtet. Sein Einfluß erstreckt sich hauptsächlich auf protestantische Gebiete. Innerhalb der reformierten Kirche hatte es heftige Lehrstreitigkeiten gegeben. Das praktische Bibelstudium war durch unumstößliche Glaubenssätze schon wieder stark in den Hintergrund gedrängt worden. Die Bindung der Kirche an den Landesherrn und somit an eine absolutistische Staatsautorität trug viel zur dogmatischen Verhärtung und Pedanterie des protestantischen Bekenntnisses bei. Gegen diese starre Rechtgläubigkeit und den rechth a b e r i s c h e n F a n a t i s m u s w a n d t e sich PHILIPP JAKOB SPENER ( 1 6 3 5 — 1 7 0 5 ) , i n d e m
er betonte, daß wahres Christentum zuallererst Herzensfrömmigkeit sein müsse. Damit trat der Pietismus — beeinflußt durch die rationalistische Philosophie — der orthodoxen Geistlichkeit entschieden entgegen. Auf der anderen Seite wird aber auch eine Wendung gegen den Rationalismus vollzogen und die Lebenszugewandtheit durch Hervorkehrung des christlichen Elements stark überschattet. Ohne Gottseligkeit und Demut sei alles Wissen schädlich. Aus dieser Haltung ergibt sich eine gewisse Zwiespältigkeit, genährt vom Mißtrauen gegenüber dem Menschen und damit auch der menschlichen Vernunft. AUGUST HERMANN FRANCKE ( 1 6 6 3 — 1 7 2 7 ) h a t die aus d e r S ü n d e n l e h r e a b g e l e i t e t e
pietistische Gewissenshaltung zur obersten Norm seines pädagogischen Systems gemacht. Da die ererbte Schlechtigkeit des Menschen „aus dem innerlichen bösen Samen des menschlichen Hertzens" entspringt, vermag dieser nur durch „gute Erziehung zur heiligen Uebung der Gottseligkeit und zum Streit wider die innerliche Boßheit angewiesen werden". 55 Die Berücksichtigung nützlicher Kenntnisse für den künftigen Stand und Beruf ist dieser Absicht untergeordnet. Sittlich-religiöse Besserung soll durch lebenspraktische Unterweisung geschehen. Zwar steht die christliche Gemütspflege (cultura animi) an erster Stelle, aber dennoch verbindet sich damit die Pflicht zu einem tätigen Christentum. Ganz im Sinne einer asketischen Lebensführung sind Bescheidenheit und Fleiß sowie Abhaltung von Müßiggang und Laster notwendig zur Bewährung des Menschen im Glauben. Unter diesem Aspekt knüpft der Pietismus an die naturgemäße Päd-
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agogik an und befindet sich in Übereinstimmung mit dem Rationalismus. FRANCKE versucht, Frömmigkeit und Nützlichkeit miteinander zu verbinden, wobei er jedoch praktische Betätigung, Welt- und Naturkenntnis stets unter das Gebot christlichen Handelns stellt und sie der Erziehung zu einem rechtschaffenen Christentum unterordnet. So gelang es dem Pietismus trotz aller Distanz von jeder übermäßigen Verweltlichung und im Gegensatz zur Vernunftidee der zur gleichen Zeit einsetzenden Aufklärungsbewegung, „dem Realismus in Deutschland zuerst dauernden Eingang" 56 zu verschaffen. Die Ideen des Pietismus gewannen in den 1695—98 entstandenen „Franckeschen Stiftungen" praktische Gestalt. Nacheinander entstehen hier Armenschule, Lateinschule, Pädagogium und Waisenanstalt. Wie aus den pädagogischen Schriften FRANCKES immer wieder zu erkennen ist, wird als Hauptaufgabe der Erziehung angesehen, „die Kinder zur wahren Gottseligkeit und zur christlichen Klugheit anzuführen". 57 Die Organisation des Unterrichts entspricht dieser Zielsetzung. Die Unterweisung der Kinder in der Religion steht an erster Stelle: „Der vornehmste Endzweck in allen diesen Schulen ist, daß die Kinder vor allen Dingen zu einer lebendigen Erkäntniß Gottes und Christi, und zu einem rechtschaffenen Christenthum mögen wohl angeführet werden. Derowegen wird mit ihnen nicht nur fleißig gebetet, sondern auch Gottes Wort, und der Catechismus Lutheri so wol in der Kirchen als Schulen täglich getrieben." 58 Im Waisenhaus sind im Lehrplan von den täglichen 6—7 Stunden allein 3—4 für religiöse Übungen vorgesehen. In den anderen Schulgründungen FRANCKES, der lateinischen Schule und dem Pädagogium, welche hauptsächlich für höhere Stände gedacht sind, verschiebt sich dieses Verhältnis etwas, ohne jedoch an der Vorherrschaft der Religion wesentlich etwas zu ändern. Es muß daher betont werden, daß die Forderung nach Unterricht in den Realien nicht eigentlich im Pietismus selbst liegt.69 FRANCKE nahm sie als Bestrebungen seiner Zeit in seine Pädagogik auf, um dadurch seine Bemühungen um die Schulverbesserung zu größerer Wirksamkeit und allgemeiner Anerkennung gelangen zu lassen. Er selbst war Schüler des Gothaer Gymnasiums und ist daher durch REYHER maßgeblich beeinflußt worden. Außerdem ist er als Lehrer an der hallischen Ritterakademie und späteren Universität in enge Berührung mit SECKENDORFF, THOMASIUS und SEMLER gekommen, so daß er trotz aller Reibungen infolge unterschiedlicher Lehrmeinungen zumindest die realistischen Ideen dieser Männer und auch die Praxis der Adelserziehung jener Zeit kannte. Dennoch stehen nützliche Unterweisungen im Unterrichtsbetrieb bei FRANCKE seiner pietistischen Grundhaltung zufolge stets an zweitrangiger Stelle und sind vornehmlich der Freizeitbeschäftigung überlassen. Besonders förderte FRANCKE die Realien in den mittleren Schulen, indem er in seinen Plänen und Instruktionen für das Pädagogium und die lateinische
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Schule auch Naturwissenschaften vorsah. Diese Schulen sollten auf die Universität, zugleich aber auf bürgerliche Berufe vorbereiten. Aus diesem Grunde tritt neben die übliche Gelehrtenbildung auch die Bürgerbildung. Neben alten und neuen Sprachen werden die Kinder nach dem Lehrplan des Pädagogiums in Geographie, Geschichte, Mathematik „und allerhand mechanischen und physikalischen Wissenschaften unterwiesen". 80 Auch die äußeren Einrichtungen der Schule bezeugen deutlich seine Absicht. So gehörten z. B. ein botanischer Garten, ein Naturalienkabinett und ein chemisches und physikalisches Laboratorium zur Schulausstattung. 61 Allerdings wurden für die Historia Naturalis und die Physik keine besonderen Lektionen vorgesehen. „Es ist aber dazu keine gewisse Stunde ausgesetzt; sondern es wird wöchentlich einmal unter die lectiones ordinarias mit eingeschoben, meistens wenn sie dessen nicht vermuthen sind; damit dieses ein condinentum der anderen Lectionen bleiben möge." 62 Die naturwissenschaftlichen Unterrichtsstunden waren anfangs also keineswegs lehrplanmäßig genau festgelegt. In diesem Punkte entspricht LANGES Abhandlung über die „Geschichte der Methodik des physikalisch-chemischen Unterrichtes" 63 nicht ganz dem tatsächlichen Sachverhalt, wenn er annimmt, daß besondere „Stunden für die Naturwissenschaft" gegeben wurden und nur die Beschäftigung im Drechseln, Pappen, Glasschleifen und der Besuch von Manufakturen und Werkstätten der Freizeit vorbehalten blieben. Aus den in FRANCKES Schrift „Kurzer Bericht von der gegenwärtigen Verfassung des Paedagogii Regii zu Glauchau" angeführten Tagesplänen ergibt sich deutlich, daß jegliche naturwissenschaftliche Unterweisungen als sogenannte „Recreationsübungen" in die Freistunden fallen. 84 Das sah schon die bei der Eröffnung 1695 eingeführte „Ordnung und Lehr-Art" 8S dieser Schule vor. Die „Naturalien-Kammer" wird eigens wegen der „Recreation" eingerichtet, um den Schülern in der unterrichtsfreien Zeit „nicht Gelegenheit zu allerley Muthwillen und Zerstreuung des Gemüths" zu geben: „Sie mögen zu der Zeit allerley Leibes-Bewegungen, als Drechseln, vornehmen; zu zeiten hat man etliche in der Mechanica oder im Zeichnen informiren lassen, andere haben Glaß geschliffen; andere in Kupffer gestochen oder sonsten etwas vorgenommen, nachdem es die Beschaffenheit der JahresZeit oder die Gelegenheit zugelassen. Haben einige Lust Holtz zu sägen, stehet es ihnen frey. Wollen andere lieber ein wenig ausgehen, so führet sie der Informator entweder in einen Garten oder auf das Feld oder in Buchladen, und machet ihnen eine und die andere gute Bücher bekannt; oder er besuchet mit ihnen die Handwerker und Künstler in ihren Werckstätten, damit sie von allen zu dem gemeinen Wesen gehörigen Dingen einen rechten Begriff erlangen." Die Beschäftigung kann nach Neigung und Interesse auf eigenen Wunsch gewählt werden. Der „Informator" aber ist stets zugegen, um dafür Sorge zu
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tragen, „daß die Gottseligkeit dadurch nicht gehindert, sondern vielmehr befördert werde". Er soll „auff dergleichen Dinge bedacht seyn, darinnen die Kinder zwar ausruhen, aber die Zeit damit nicht unnützlich vertreiben, noch ihre ohnedem flatterhafte Sinne in alle Welt zerstreuen". 66 Die pietistische Ansicht von der Bekämpfung des Bösen im Menschen hat der Hinwendung zur Natur und zu realistischen "Weltsachen also zweifellos Pate gestanden. Selbst die gelegentliche Unterrichtung in naturkundlichen Stoffen geschieht nicht planvoll. Sie dient der Religion und den gelehrten Fächern als „Würze". Der naturwissenschaftliche Unterricht wird als Maßnahme der Entspannung vom eigentlichen Lehrpensum vorgesehen und purer Ergötzlichkeit untergeordnet. Noch im 19. Jahrhundert sieht man darin vornehmlich seine Aufgabe. Von einem systematischen Lehrkurs in Naturwissenschaften 67 kann bei FRANCKE also noch nicht gesprochen werden, da hauptsächlich an eine wenn auch nützliche, so doch zugleich erholende Tätigkeit gedacht ist, wie es überhaupt FRANCKES Ansichten entspricht, die Kinder unter Aufsicht ständig in irgendeiner Form betriebsam zu halten. In ähnlicher Weise sollten in dem ebenfalls 1695 gegründeten Waisenhaus die Realien als „Recreation" gepflegt werden. Gemessen an den Verhältnissen der damaligen Zeit, lag hierin zweifellos ein Fortschritt, zeigt uns diese Maßnahme doch, daß FRANCKE Naturkenntnisse zumindest für die gewerbetreibenden Stände als notwendig erachtet. So heißt es in der „Ordnung und Lehrart wie selbige in denen zum WaysenHausse gehörigen Schulen eingeführt ist": „Weil auch einer, der nicht studiret, dennoch die Principia, Astronomiae, Geographiae, Physicae, Historiae, und was seines Orts oder Landes PolizeiOrdnung sey, zu wissen wohl vonnöthen hat, wo er ein verständiger, und dem gemeinen Wesen nützlicher Mann werden will, wird ihnen auch ausser denen ordentlichen Schul-Stunden neben dem, daß sie zum Stricken angehalten werden, gleichsam spielender Weise von allen diesen Wissenschaften das Nöthigste beygebracht, daß sie zum Exempel lernen, wie sie Gott aus der Natur erkennen und sich durch seine Werke zu seinem Lobe reitzen lassen s o l l e n . . ." 6 8 Unter den zahlreichen Schulen des Waisenhauses (1702 werden insgesamt zwölf genannt) gilt diese Anweisung nur für diejenigen, deren Schüler zu den „Handwerckern, Künstlern und Kauffleuten gethan werden sollen". 6 9 Diese Einschränkung wird in historischen Darstellungen in der Regel völlig übersehen. Es findet sich im Gegenteil immer wieder die Behauptung, daß ein naturwissenschaftlicher Unterricht „in allen Schulen der FRANCKEschen Stiftungen" vorgekommen ist. 70 Audi in der Schulordnung von 1721 wurde lediglich davon gesprochen, daß „die ersten 3 Klassen der Waisenknaben in Physicis et Botanicis dann und wann in gewissen Stunden informieret" 71 werden sollten.
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FRANCKE beruft sich in diesem Zusammenhang stets auf den Schulmethodus REYHERS und empfiehlt den „Unterricht von natürlichen Dingen". Durch die „Instruktion oder Regeln für die Praeceptores der Waysen-Kinder" wird der Lehrer jedoch allgemein angehalten, die Spaziergänge dazu zu benutzen, „daß er den Kindern etwa eine nützliche und erbauliche Historie erzählet oder sonst etwas aus der Physic von den Geschöpfen und Werken Gottes vorsaget". 72 So anerkennenswert das Bestreben FRANCKES ist, auch den unteren Volksschichten nützliche Kenntnisse wenigstens in einem bescheidenen Umfange zu vermitteln, so ergibt sich dennoch bei ihm deutlich der religiöse Bezug des naturwissenschaftlichen Unterrichts, der tief im Pietismus verwurzelt ist und schon bei allen seinen Vorläufern zu finden war. Ein entscheidender Erfolg für die naturwissenschaftlichen Fächer blieb letzten Endes aus, da die religiösen Übungen nach wie vor überwogen und die Hauptsache bildeten. Dadurch, daß FRANCKE praktische Kenntnisse in erster Linie zur Vermehrung christlicher Frömmigkeit heranzog, trug er ungewollt zu der Tendenz bei, jede beliebige Naturerscheinung ausschließlich zur sogenannten religiösen Naturbetrachtung heranzuziehen, eine Richtung, die sich jahrhundertelang schädlich in der Schule auswirken sollte. ERDMANN73 macht nicht zu Unrecht das Christentum dafür verantwortlich, daß sich der Unterricht in den Naturwissenschaften im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Forschung auch später noch oftmals in der trivialsten und seichtesten Weise vollzog. Positiv muß bei FRANCKE jedoch gewertet werden, daß er die „Physicae" neben anderen Sachfächern auch dann für erforderlich hält, wenn Kinder nicht studieren, sondern gewerbliche Berufe einschlagen. In seinen Anstalten ließen sich außerhalb der Unterrichtsveranstaltungen, aber hereingenommen in das pietistische Erziehungssystem, fruchtbringende methodische Erfahrungen für eine nützliche und lebenspraktische Bildung gewinnen. So sind es denn häufig Lehrer aus den FRANCKEschen Stiftungen gewesen, die in der Folgezeit an der Errichtung bürgerlicher Realschulen maßgeblich beteiligt waren. Die Realschulgründungen des 18. Jahrhunderts gehen jedoch keineswegs allein mehr auf die pietistische Pädagogik FRANCKES zurück. Sie beruhen in eben demselben Maße bereits auf typischen Ideen der Aufklärung. An den Realschulen konnte zum erstenmal der Grund für einen naturwissenschaftlichen Unterricht gelegt werden, der frei von religiösen Bindungen war. Allerdings sind dauerhafte Versuche zunächst nur vereinzelt gelungen. Zu einer entscheidenden Umwälzung des gesamten Schullebens ist es dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Wirken der Philanthropisten gekommen. Diese fanden aber in der voraufgegangenen Entwicklung der Barockzeit trotz aller Gegensätze in theologischen und philosophischen Fragen hinsichtlich der realistischen Bildungsidee einen wohlvorbereiteten Boden.
KAPITEL m
Die Naturwissenschaften im Rahmen der Menschenund Bürgerbildung während der Aufklärungszeit 1. Berufsbezogenheit und ökonomische Tendenz einer naturwissenschaftlichen Kenntnisvermittlung in den Realschulprojekten von Semler, Groß, Hecker, Harles und Darjes Das Wirken FRANCKES dringt im Verlauf des 18. Jahrhunderts besonders durch die Ausbildung vieler Lehrer, die aus den Waisenhausschulen hervorgehen, weiter in die Schulpraxis ein. Aber auch GROSS und HECKER sind vorübergehend am Pädagogium der FRANCKEschen Stiftungen tätig gewesen, so daß sich der pietistische Einfluß in gewisser Weise in der beginnenden Realschulentwicklung geltend machen konnte. In der Regel wurde das Fachklassenprinzip von dorther mit übernommen. Allerdings dürfen wir die bestehende Verbindungslinie nicht überschätzen, auch wenn einzelne Anregungen zweifellos aus dem Erfahrungsbereich der pietistischen Pädagogik stammen und bedeutende Schulmänner zum Kreis um FRANCKE gehörten. Sowohl von der Sache her als auch von den beteiligten Personen gibt es in diesem Punkt erhebliche Einschränkungen. Anders ist es bei den Schulen für den „großen Haufen". Dem Pietismus entspringt vor allem das vom Glauben getragene Mitleid gegen Armut und sittlichen Verfall. Aus dieser sozialen Einstellung resultiert das Bemühen, zahlreiche Anstalten für die Waisenerziehung einzurichten. Ebenso nehmen sich einzelne Schulordnungen die von FRANCKE ausgearbeiteten Instruktionen zum Muster. Für das niedere Schulwesen hat die pietistische Richtung eine weitaus größere Bedeutung gehabt. 1 Die frühen Realschulgründungen für den erwerbstätigen Bürgerstand sind hingegen bereits mehr vom rationalistischen Geist geprägt. Das Verdienst, auf die Notwendigkeit besonderer Bürgerschulen hingewiesen zu haben, gebührt im großen und ganzen der Aufklärung. 2 Über die Realschulen gelingt es dem Realismus im 18. Jahrhundert, praktischen Boden zu gewinnen und sich im Schulwesen mit ersten Modellen Eingang zu verschaffen. Die einsetzenden Bestrebungen, einen geeigneten Schultyp für die mittlere Schicht des Bürgertums aufzubauen, reflektieren losgelöst von jeder transzendenten Denkhaltung eindeutig die Absicht, „daß man Menschen zum Nutzen der bürgerlichen Gesellschaft bilden will". 3 Damit wird der Pietismus zugleich überwunden, der aus gänzlich anderen Motiven heraus eine arbeitsame
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Realschulprojekte in der Aufklärungszeit
und fromme Lebenshaltung zu erwecken suchte, um die Drangsale des täglichen Lebens in Demut und Bescheidenheit zu ertragen. Sämtliche Realschulentwürfe verfolgen im Grundsätzlichen bereits ein anderes Ziel. Religiöse Belange treten in den Hintergrund. Die Ausrichtung des gesamten Unterrichtssystems auf den Religionsunterricht und Fragen der religiösen Erziehung wird entscheidend durchbrochen. GROSS vermerkt in seinen Vorschlägen zur Einrichtung eines „SEMINARIUM POLITICUM" beispielsweise ausdrücklich, daß die geplante Realschule mit der geoffenbarten „Religion und Anweisung zum Christentum" nichts zu tun haben soll, weil der Zweck darin besteht, die Jugend „zu brauchbaren Menschen zu machen". 4 Der Lehrplan schränkt den Religionsunterricht auf täglich eine halbe Stunde ein. Daraus wird ersichtlich, daß in den Realschulankündigungen „praktische Vernunft" und „Lebensklugheit" an die Stelle der vom Pietismus verkündeten „christlichen Klugheit" rükken, und zwar so unmittelbar und weitreichend, daß pietistische Einflüsse kaum mehr spürbar sind. Im wesentlichen gelangen die rationalistischen Grundgedanken der Aufklärung in die Realschulentwicklungen hinein. In erster Linie soll die Jugend „zu nützlichen und im täglichen Leben ganz unentbehrlichen Wissenschaften angewiesen und dadurch zu dem Stande präparieret werden, darinnen sie künftig einmal Gott und ihren Nächsten durch solche erlangte Erkenntnisse mit Nutzen dienen" 5 wird. Immer wieder ist — so wie hier bei SEMLER — vom augenscheinlichen Nutzen für das Gemeinwohl die Rede, der daraus entsteht, wenn man „Verstand und Sinne" öffnet und die Schüler „an eine wahre Realität" gewöhnt.6 Die Gelegenheit dazu aber fehlt. GROSS erwähnt „diesen recht beklagenswürdigen Mangel" und erhebt die Forderung, die bürgerliche Mittelschicht „in allerley nützlichen Welt-Sachen und practischen Wissenschaften" auszubilden, damit jeder „in seinem künftigen Stand vollkommen, der Welt aber recht brauchbar" 7 gemacht werden könne. Auch HECKER will in der von ihm 1747 begründeten „ökonomischen und mathematischen Realschule" zu Berlin „geschickte und geübte Mitglieder des gemeinen Wesens" 8 vorbereiten. HARLES und DARJES werfen die Frage auf, was in Anbetracht fehlender Schuleinrichtungen aus den NichtStudierenden denn eigentlich werden soll. Die verschiedenen Berufsarten benötigen dringend gründliche Kenntnisse, weil oft zu beobachten ist, daß Handwerker und Künstler „ihre Professionen maschinenmäßig lernen und treiben", „ohne gehörigen Gebrauch ihres Verstandes". 9 Demzufolge müsse eigentlich sogar für jede Landschule „ein gewisses Stück von einer Realschule" 10 gefordert werden. Die Ursprungsgeschichte der Realschule weist ausgesprochen utilitaristische Züge auf. Die Realschule entspringt dem Nützlichkeitsdenken der Aufklärungsphilosophie, die in Anlehnung an DESCARTES und SPINOZA für die „größtmögliche Zahl" der Menschen das „größtmögliche Glück" zu erreichen suchte. In
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Deutschland haben LEIBNIZ, THOMASIUS und WOLFF das Bildungsideal auf praktische Brauchbarkeit hin orientiert. Glückseligkeit, Nützlichkeit, Vollkommenheit werden zum Ziel aller Bildungsreformen. Der Mensch soll sich bereits zu Lebzeiten „beständige Freude" verschaffen und innerlich und äußerlich den Zustand höchster Vollkommenheit erstreben. Ohne rationale Erkenntnis ist Glückseligkeit nicht möglich. Vernunft muß das Handeln bestimmen. Im sozialen Eudämonismus offenbart sich die weltlich-praktische Tendenz des Rationalismus, der nützliches und tugendhaftes Verhalten dahin gehend definiert, „sich und andere Menschen, ingleichen seinen und anderer Menschen äußerlichen Zustand so vollkommen zu machen, als möglich ist". 11 Nützlichkeit bedeutet Beherrschung des Lebens durch die Tat. Pädagogisch gesehen zeigt sich die Zuwendung zu aufklärerischem Denken vor allem an der Erziehung zum gemeinnützigen Tätigsein und der Ausrüstung mit Kenntnissen für das bürgerliche Leben. Um sich nützlicher Betätigung hingeben zu können, muß das Individuum eine Bildung erhalten, die das eigene Wohl und die allgemeine Wohlfahrt zu fördern und zu verbessern imstande ist. Als Grundlage für die künftige Lebensbewährung verlangt das Bürgertum eine Enzyklopädie des Sach- und Erfahrungswissens. Der Schule wird die Aufgabe zugewiesen, das natürliche Vermögen des einzelnen auf „wirkliche Geschicklichkeit" zu lenken, damit jeder in der Lage sei, „sich zu ernähren und durch seine Beschäftigung auch anderen Gelegenheit geben kann, etwas zu erwerben". Den „Hauptfehler" erblickt man im „Mangel an Realschulen". 12 Die Realschulen entsprechen anfangs ganz der merkantilistischen Wirtschaftsgesinnung, die noch bis weit über die Mitte des 18. Jahrhunderts den Zeitgeist maßgeblich bestimmte. Das Projektieren und Machenwollen, ohne große erziehungstheoretische Erwägungen anzustellen, kennzeichnen die Situation. Auswahl und Anordnung des Stoffes folgen nahezu ausschließlich ökonomischen Gesichtspunkten. Wenn auch die entscheidenden Motivationen für die realistische Bildung zweifellos einem übertriebenen Nützlichkeitsprinzip erwachsen, so kann doch nicht bestritten werden, daß das Schulwesen gerade infolge der extremen Gewichtung nach dieser Seite eine radikale Wendung zur Lebensnähe vollzieht. Der Utilitarismus der beginnenden Aufklärungszeit hat die Befreiung des Schulwissens von der Last des Verbalismus und Dogmatismus immerhin recht wirksam eingeleitet. Vorbild für alle weiteren Realschulvorhaben wurde die „mathematische und mechanische Realschule" SEMLERS, die dieser dem Publikum im Jahre 1705 mit seiner Schrift „Nützliche Vorschläge" 13 ankündigte. Sie hat nicht lange bestanden. Einen zweiten Versuch unternahm SEMLER 1739; aber auch diese Gründung scheiterte kurz darauf mit seinem Tod. Dennoch kommen gerade über SEMLER die Ideen der Aufklärung in die Realschulbewegung des 18. Jahrhunderts hinein.
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Die Annahme, daß der neue Schultyp aus der Pädagogik FRANCKES stamme, weil SEMLER angeblich Lehrer unter ihm gewesen sei, beruht auf einer fatalen Verwechslung mit einem Namensvetter. Eine direkte Beziehung zwischen den beiden ist nicht nachweisbar.14 Zumindest aber gehört SEMLER, der ein Schüler von WEIGEL w a r u n d in H a l l e e n g e B e r ü h r u n g m i t LEIBNIZ u n d THOMASIUS h a t t e ,
nicht in das pietistische Lager. Weiter läßt sich nachweisen, daß erst nach dem Ausscheiden FRANCKES aus der Leitung des Waisenhauses (1720) freundschaftliche Verbindungen zu GROSS und HECKER begannen, deren Aufmerksamkeit SEMLER auf seine Realschulpläne zu lenken wußte. 18 Die einzelnen Programme stimmen später weitgehend überein. Uberhaupt bekunden die jüngeren Lehrkräfte an den FRANCKEschen Stiftungen ein ungemein großes Interesse an nützlichen und natürlichen Unterrichtsgegenständen. Die engen persönlichen Kontakte belegen demnach ebenfalls den Einfluß gerade der Aufklärungsbestrebungen. Im herkömmlichen Schulwesen nahmen Realien bisher nur wenig Platz ein. Das erklärt die Bevorzugung anschaulicher und vor allen Dingen brauchbarer Kenntnisse seitens der Realschulpädagogen. Die Kritik richtet sich gegen die „unaussprechliche Tortur" in den lateinischen Schulen, wo man den Schülern „lauter bloß übertragene, allgemeine und intellektuelle Begriffe (abstracta, universalia und intellectualia sola), welche von dem Verstände des Menschen, wie er ihm durch die Natur gegeben ist (per naturam intellectus humani inditam) nimmermehr können verstanden werden" 16 , gedächtnismäßig einbleut. Zunächst müsse der Unterrichtsstoff ganz konkret das Alltägliche (quotidiana), Nützliche (necessaria) und Brauchbare (praesentissimum utilitatem) an Sachen umfassen und „ihre Bedeutung und materielle Wirkung" vorstellungsmäßig erfaßbar sein, damit die „Marter der armen Kinder" aufhöre und die Schulen sich „zu lauter Freudenstuben" verwandeln könnten. „Die Anschauung ist immer der höchste Grad der Erkenntnis. Und dieser höchste Grad der Erkenntnis der im menschlichen Leben sehr nützlichen Sachen ist es, der bei aller Information zuerst intendiert werden sollte, also daß alles entweder in natura oder im Modell gezeiget würde." 17 Pädagogische Begründungen dieser Art finden sich jedoch noch nicht allzu häufig. Das Augenmerk ist ganz der faszinierenden Fülle realer Vorkommnisse und Begebenheiten zugewendet, so daß aufgezählt und aneinandergereiht wird, welches Wissen für jeden Handwerker und Gewerbetreibenden eine unerläßliche Voraussetzung bildet. Die Realschulen werden als Stätten bürgerlicher Berufserziehung gedacht. Sämtliche für die wirtschaftliche Betätigung notwendigen „Stücke" erscheinen in ihnen als „Realitäten", die nach Wunsch zu erlernen sind. Da es eigene Schuleinrichtungen für das Bürgertum noch niemals gegeben hatte, bricht das profes-
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sionelle Moment überaus stark durch. Alles Nützliche und "Wissenswerte für die spätere Berufsausübung, zugeschnitten auf den jeweiligen Stand, wird in willkürlicher Anordnung in entsprechende Fachklassen gepreßt. Eine bevorzugte Stellung erhalten dabei die sogenannten „technischen Künste", in deren Rahmen die Naturwissenschaften mit ihren speziellen Anwendungsgebieten in die Schule einziehen. SEMLER möchte zum Beispiel folgendes zeigen und erklären: „Das Uhrwerck / das Modell eines Hauses / das Kriegsschiff / die Vestung / Saltz — Koth / Mühle / Bergwerck / Chymisch Laboratorium / Glaß-Hütte / Tuchmacher-Stuhl / Drechsel-Banck / Pferd und Pferde-Schmuck / Brau-Hauß/ Baum-Garten / Blumen-Garten / Honig-Bau / Wagen / Pflug / Ege und Ackerbau; Ferner: Alle Arten derer Gewichte / inländische Münzen / Maasse / gemeine Steine / Edelgesteine / alle Arten der Wolle und Seyde / dieGewürtze / Saamen / Wurtzeln / Kräuter / Mineralien / Thiere / Vögel / Fische / Sceleton; Ingleichen: Die geometrischen und optischen Instrumenta / die Rüst-Zeuge der Bewegungs-Kunst / die Arten der Wetter-Gläser und Wasser-Künste / der Magnet / Compaß / das Wapen / Grund-Riss eines Gebäudes / Topgraphie der Stadt Halle / Fürstellung derer Spaeren des Himmels / u. a. m." 18 Ähnlich bietet auch GROSS eine lange Aufzählung dessen an, was „einem künftigen Welt-Mann Zeit lebens zu wissen entweder nöthig, oder nützlich, oder doch wohlanständig seyn werde". Dazu gehört nach seiner Meinung: „Wir durchgehen z. E. die vornehmsten Königreiche und Staaten, wir lernen die in Europa üblichen Sprachen; wir besehen alle Stände undProfeßionen; wir betrachten die bewundernswürdigen Begebenheiten am Himmel, auf der Erden, in Feuer, Luft und Wasser, ja in dem Menschen selbsten; wir beobachten ferner der Menschen Thun und Lassen. Wir begeben uns in allerley Manufacturen, Officinen und Gewölber, wir besuchen die Ställe, die Böden, die Scheuren, die Küche und Keller, e. c. ja wir steigen sogar in die unterirdische Klüfte der Erden, e. c." l e Ohne Aufbereitung des Stoffes nach pädagogischen Grundsätzen respektive seine didaktisch-methodische Durchdringung entstehen ganze Wissenskataloge für Handwerk, Handlung, Ökonomie und Kunst. Die Klassen gliedern sich nach Wirtschaftszweigen und Berufsrichtungen. SEMLER sieht über 6 3 Sachgebiete vor. G R O S S und H E C K E R kennen mechanische oder Maschinenklassen, Bau- oder Architekturklassen, Physik- oder Naturklassen, Manufaktur- und Handlungsklassen, Wirtschafts- und ökonomische Klassen sowie auch Rechts-, Polizei-, Rede- und Korrespondenzklassen. Die verfügbaren Realien werden schlechthin auf die bürgerlichen Berufe verteilt. Dabei beobachten wir ein Gefälle, „das sich vom akademischen Lehrbereich bis in die Nachwuchslehre für Handwerk und Gewerbe hinzieht". 20 Im einzelnen sind für den Schulbesuch vorgesehen: „der unstudierte Adel, Kriegsbedienstete und Offiziere, Hofbedienstete,
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Realschulprojekte in der Aufklärungszeit Offizianten in Seestädten oder bei der Marine, Camerales, Cassierbeamte, Verwalter, Polizei-, Steuer- und Akzis-Bediente, Aktuare, Notare u. s. w., mit einem Worte alles, was vom Schreiben Profession macht, ferner Ratsherren, Bankiers, Kaufleute, Handelsleute, Beamte der Post, Forst und Jagd, vornehme Künstler und Berufsverwandte, Apotheker und Wundärzte, Baumeister, Ingenieure, Mechaniker, Kupferstecher, Buchhändler, Buchdrucker, Bildhauer, Maler, Gastwirte u. s. w., Pächter und Ökonomen u. v. a. Alle diese Stände sind so beschaffen, daß sie zwar keinen studierten, aber doch einen geschickten Mann erfordern, der einen offenen Kopf und helle Augen hat, Gott, sich selbst und die Welt kennt, und mit einem jeden nach Stand und Würden umzugehen gelernt. Allein, wo ist diejenige Schule, welche die Jugend auf solche Weise unterrichtet?" 21 Die Realschulen übernehmen in dieser Periode zugleich „Aufgaben beruf-
licher Spezialbildung". 22 Insofern haben später erhobene Vorwürfe utilitaristischer Zwecksetzung hier noch volle Berechtigung. Anfangs stehen Realschulen zwischen dem allgemeinbildenden Unterricht und der nachfolgenden Berufsausbildung. Erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ändert sich das Bild. Nunmehr entwickelt sich langsam ein eigenes Fachschulwesen 23 , so daß die Schule selbst eine Entlastung erfährt und der Akzent auf allgemeinbildende Werte und Belange der Realkenntnisse gelegt werden konnte. In den Vorschlägen von DARJES (1761) und HARLES (1766) deutet sich — wie wir noch sehen werden — dieser Prozeß in Ansätzen bereits schon an. Durch Betreibung der Wissenschaften, darunter der naturwissenschaftlichen Disziplinen, verspricht man sich insbesondere eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse. GROSS meint, daß „noch manche gute Erfindung zum Vorschein" gebracht zu werden vermag und „Fabriken und Manufacturen mit der Zeit in den allerflorissantesten Zustand gesetzt" 24 werden können, wenn die Realschulen den erwarteten Zustrom erhalten. Die Naturwissenschaften nehmen in den Lehrplänen einen hervorragenden Platz ein, weil das Verständnis der Naturkräfte für jeden Berufsstand gleichermaßen unentbehrlich erscheint. Wie aus der Ankündigungsschrift HECKERS vom 1. Mai 1747 hervorgeht, „wurde vorzüglich auch auf gründlichen und zweckmäßigen Unterricht in der Natur-Geschichte und Natur-Lehre Bedacht genommen, und dafür gesorgt, daß die nicht studirende Jugend von den verschiedenen Künsten und Handwerken, und von deren Materialien und Werkzeugen eine genauere Kenntniß und Einsicht erlangte, um dieselbe dereinst mit Nutzen in ihrem erwählten Beruf anzuwenden". 25 An der „HECKERschen Schule" gab es wöchentlich 4 Stunden Physik und 2 Stunden Anatomie. Diese Realschule war nebenbei die einzige von Bestand. Sie umfaßte wenige Jahre nach ihrer Gründung schon mehr als 1000 Schüler. Die Verteilung der naturwissenschaftlichen Unterrichtsstoffe erfolgt in der Regel gesondert nach den jeweiligen Berufszielen. So widmen sich die Bauklassen
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vornehmlich dem Haus-, Schleusen-, Brücken- und Festungsbau, der Artillerie, Schiffahrt und Gartenanlage. In den Handlungsklassen dominieren Münzen, Maße und Gewichte, die Mineralarten und die Zusammensetzung der Materialien wie Metalle, Glas, Porzellan, Seide, Wolle, Leder, Horn und deren Verarbeitung. Ökonomische Klassen betreiben Naturkenntnisse aus dem Blickwinkel der Haus-, Forst- und Landwirtschaft. Diese Akzentuierung charakterisiert die berufsausbildende Tendenz der ersten Realschulgründungen, die ihrem Wesen nach gänzlich von den Realschulen des 19. Jahrhunderts unterschieden werden müssen. Die vorgesehenen Unterrichtsgegenstände spiegeln zudem deutlich den allgemeinen Entwicklungsstand der Naturwissenschaften wider. Der Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert war eine ausgesprochene Epoche neuer Erfindungen. Betroffen davon sind in erster Linie das Festungs- und Artilleriewesen, der Schiffbau, Bergbau und die Hüttenindustrie. Es setzt die große Suche nach stärkeren Antriebskräften ein. LEIBNIZ konstruierte 1681 im Harz eine Windkraftmaschine, um das Grubenwasser aus den Bergwerksstollen zu pumpen. Seit 1711 ist die atmosphärische Dampfmaschine von TH. NEWCOMEN an vielen Stellen in Betrieb. Eine Schule, die es sich zur Aufgabe machte, handwerklich-technische Vorrichtungen in Wort und Bild vorzuführen und die praktische Betätigung der Schüler daran zu erproben, mußte zwangsläufig mit der damals modernsten Wissenschaft und Technik in Berührung kommen. Die weitaus größten Erfolge verzeichnet die Mechanik. Sie findet demzufolge im Unterricht der Realschule auch die meiste Beachtung: „Unter den nützlichen Sachen, welche wir der Jugend wollen beybringen lassen, nennen wir billig zuerst die Mechante. In dieser Classe empfängt die Jugend einen Unterricht von Wercksstaetten, Instrumenten und Handwercksgeraethen; von Kupfer-, Meßing- und Eisen-Hammern; von allerhand Arten der Uhren; von Getreide-, Papier-, Wasser-, Roß-, Wind-, Walcks- und HandMühlen; vom Pfluge und von anderen zum Ackerbau erforderlichen Instrumenten ec. ec. Wir werden zu diesem Zweck auch manchmal die kuenstliche Hand-Wercker und Profeßionen hieselbst besuchen, um zu sehen, was bey ieder Kunst oder bey iedem Hand-Werck ausnehmendes und denckwürdiges zu beobachten ist." 26 Baumeister, Mechaniker, Maschinenbauer, Kunstmeister und Mühlenärzte verkörpern vor der Ausbreitung der Dampfmaschine den Ingenieurgeist und die Berufe des technischen Fortschritts im 18. Jahrhundert. Dem Kunstmeister oblagen der Bau und die Betreuung der Bergwerksmaschinen. Der Mühlenarzt war der berühmte umherziehende Mechanikus. In allerlei Handwerken und theoretischen Kenntnissen zu Hause, genoß er hohes Ansehen. Dieser Berufsstand handhabte die Vermessungstechnik, baute Kanäle und Brücken, versetzte Rohrleitungen, berechnete die Kraft der Maschinen und reparierte die zahllosen mit
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Wind- und Wasserkraft getriebenen Mühlen. Das physikalische und mechanische Wissen jener Zeit fand im Mühlenbauer seinen Mittelpunkt. Auf die Unterrichtsgestaltung in den Realschulen ist dieser Einfluß unverkennbar. HARLES empfiehlt zur zweckmäßigen Unterweisung der Schüler „aus der Mechanik z. B. eine Mühle, wo man ihnen ihre Teile, die Zusammensetzung und die Ursachen kürzlich erklärt". 27 Noch SALZMANNS Zöglinge in Schnepfenthal fertigen die verschiedensten Mühlenkonstruktionen an. 28 HECKER richtet neben dem botanischen Garten und einer Naturaliensammlung 1750 eigens einen „Modellensaal" 29 ein, der „eine beträchtliche Anzahl Modelle von Maschinen, Säulen-Ordnungen, Gebäuden, Mühlen, Wasserkünsten u. s. w." als Anschauungsmaterial in sich aufnimmt. Diese Schulausstattung repräsentiert den für die damalige Zeit neuesten Stand. Für die Natur- oder Physikklasse, die sich dem naturwissenschaftlichen Unterricht speziell zuwenden konnte, sind zwei methodische Gesichtspunkte entscheidend geworden: Behandlung der Lehrgegenstände mit Rücksicht auf ihre wirtschaftliche Anwendung und Verwendbarkeit und Einbeziehung des Experiments. Bei der Naturlehre wird stets erwähnt, daß sie „mit Experimenten" 30 stattfinden soll. Einige Realschulentwürfe geben dazu eine genaue Anleitung: „Sonderlich aber sind die sogenannten experimenta hierher zu rechnen. Und der Nutzen bestehet darinn, daß solches nicht nur einen weit lebhaftem und sinnlichem Eindruck giebet, sondern auch viel vergeblicher Worte ersparet, und die Jugend anbey in beständiger Lust und Aufmerksamkeit erhält. Nota: Eine mündliche Erklärung eines jeden Stückes nebst Frag und Antwort muß allerdings auch dazu kommen, ingleichen eine schriftliche Verzeichnis der vornehmsten daran zu bemerckenden Umstände, indeme sonst mancher die Sache nur wie die Kuh ein neu Thor ansehen und weder zu einem klaren noch deutlichen Begriff kommen würde: Allein wer siehet nicht, daß durch die sichtbare Darstellung des Objecti selbst solche Arbeit mehr als die Helfte erleichtert wird." 31 In den Realschulen wird also zum erstenmal nach genauen methodischen Vorschriften ein experimenteller naturwissenschaftlicher Unterricht betrieben, weil man dem Grundsatz folgt, „daß man so viel möglich eine Sache an der Sache selbsten zeige und lehre". 32 GROSS weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf eine sinnvolle Verknüpfung mit der Darbietung des Lehrers und der Systematisierung der behandelten Tatsachen und Erscheinungen hin. Die aristotelische Physik stößt auf Ablehnung. Die Naturlehre soll „mehr aus gemeinen Versuchen und Erfahrungen . . . gelehrt werden". HARLES zielt auf den Kern der Lehre des ARISTOTELES, wenn er schreibt: „Angestellte Versuche mit dem Wasser und der Luftpumpe werden ihnen besser gefallen, und auf das ganze Leben lehrreicher seyn, als strenge Beweise von der Bewegung, der Farbe und dem Feuer." 33
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Unter Beseitigung des Zweckbegriffes, um den sich in der aristotelischen Philosophie alles drehte, bemühte man sich, die Natur konsequent aus mechanischen Prinzipien zu erklären. In der Aufklärung gehörte es zum guten Ton, von den „Hirngespinsten" des ARISTOTELES ZU sprechen.34 Diese Entwicklung schlägt sich bereits in der Realschulpädagogik nieder. Neben dem Experiment, das als „Kunstgriff" zur Veranschaulichung der Naturgesetze in keiner Realschule fehlt, steht die praktische Ausübung des Gelernten im Vordergrund. DARJES verspricht sich erst dann wirklichen Nutzen von der Mathematik, Mechanik, Naturlehre, Scheidekunst und Ökonomie, wenn die Schüler im Umgang mit Werkzeugen und Geräten zur „Anwendung der in diesen Stücken erlangten Erkenntnis angeführet werden". 35 Handwerklich-technische Verrichtungen sowie auch Arbeiten in Feld und Garten genießen Vorrang. Sie sind noch wichtiger als ein zusammenhängender naturwissenschaftlicher Unterricht, der allenfalls wissensmäßige Voraussetzungen zur Beförderung von Fleiß und Erwerbssinn schafft, von sich aus aber nur unzureichend die notwendigen Fertigkeiten vermittelt. Das ökonomische Treiben nimmt überhand und geht auf Kosten gründlicher Geistesschulung und grundlegender Bildung. Auch die Stoffauswahl ist davon betroffen. Zwar greift beispielsweise H E C K E R „das noetige von den sogenannten Simplicibus aus den drey Natur-Reichen" heraus, als da sind Mineralien, Pflanzen und Tiere, strebt also eine gewisse Fachsystematik in vereinfachter Form an, aber sofort wird alles praktisch gewendet und darauf bezogen, ob man es „in den Officinen gebrauchet" oder die „Erhaltung der Gesundheit" damit befördert werden kann. Die naturwissenschaftlichen Systeme und die auszuführenden Versuche betten sich in eine ausgesprochene Ökonomie zweckmäßiger Lebensführung und der Verbesserung wirtschaftlichen Wohlergehens ein: „Wie mancher Mensch muß in der besten Bluehte seiner Jahre sterben, der noch wohl haette leben koennen, wenn seine Gesundheit nicht durch ihn selbst waere verwahrloset worden, oder wenn man ihm gesagt, wie er sich in Absicht auf Luft und Wasser, Essen und Trincken, Arbeiten und anderen Sachen in acht nehmen muesse. Hierbey werden wir auch von den so genannten vier Elementen: Feuer, Wasser, Luft und Erde das Dienlichste beybringen. Weiter koennen wir in dieser Classe denn und wenn allerhand Experimente von Untersuchung des Wassers, Biers, Weins und anderen Dingen anstellen; von Scheidung der Metalle, von Destilir- Schmelz- und Kalckofen, ingleichen von den Bergwercken und was dabey zu beobachten ist, handeln, vornehmlich wie es die Nothwendigkeit und der Nutzen erfordern, Untersuchungen anzustellen, ob an einem Orte, inbesonderheit wo es Gebirge gibt, nicht etwa Bergwercke anzulegen sind." 36 Als Verdienst muß es allerdings gewertet werden, daß zumindest Ansätze zu einer lehrplanmäßigen Aufbereitung der Naturwissenschaften bestehen, wenn auch mit einseitiger Akzentuierung ihrer Anwendungsgebiete. Gerade dadurch
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aber gelingt es, philosophische Spekulationen und religiöse Betrachtungsweisen zugunsten belegbarer Tatsachen zu überwinden und dem naturwissenschaftlichen Unterricht zugleich den Charakter des Kuriosen und Ergötzlichen zu nehmen. H E C K E R erläutert dies sehr anschaulich im selben Zusammenhang: „In der Naturalien- oder Physicalischen Classe wollen wir unser Augenmerck nicht etwa auf die Schuhe der Chineser, auf die Trachten der Japaner, auf die Afrikanische Schlangen, auf die Tarantulen aus Italien oder auf andere Dinge von gleichem Werth richten. Unser Vorsatz zielet vielmehr auf das wesentliche der natürlichen Dinge." In den Realschulen des 18. Jahrhunderts vollzieht sich der Umschwung zum nüchtern Praktischen. Aus dieser Sicht wird die Erziehungsaufgabe der naturkundlichen Fächer erstmals näher bestimmt. Die Naturerscheinungen lassen sich mit Vernunftgründen erklären. Eine frühzeitige Belehrung kann also bei den Menschen den Hang zu „einfältigsten Erzählungen, nach denen sie begierig fragen", ebenso ausräumen wie abergläubische Vorstellungen, die infolge mangelnden Verständnisses für die herrschenden Naturgesetzlichkeiten damals bei der Bevölkerung weit verbreitet waren. Diese Gesichtspunkte trägt H A R L E S vor: „Ein Künstler oder Handwerker ist in den natürlichen Begebenheiten und dem, was zum gesellschaftlichen und gemeinen Leben gehört, meist unwissend. Jede ungewöhnliche Bewegung am Himmel ist ihm eine Wahrsagung von Krieg oder Pestilenz. Eine fremde Veränderung im Hause oder Heulen von Katzen sind ihm Vorboten eines Unglücks oder gar des Todes. Widrige Träume pressen ihm Angstschweiß aus, Irrwische sind ihm Gespenster. Hätte er aber in seiner Jugend gelernt, was die Phänomena der Natur wären, so würde er vernünftig denken, mehr Ruhe des Gemüts haben und besser arbeiten können." 37 H A R L E S preist die Realschulen als „die bequemsten örter", um „dieses Übel" zu bekämpfen und mit der Wurzel auszurotten, indem man Naturkenntnisse erwirbt und sich mit den Gegenständen und Mitteln der menschlichen Handlungen beizeiten vertraut macht. In der Folgezeit wird gerade diese Seite des naturwissenschaftlichen Unterrichts immer wieder hervorgehoben. Er soll Vorurteile beseitigen und „zur Besserung des Herzens" dienen. Wissenserwerb gilt als entscheidende Voraussetzung, „den moralischen Zustand seines Nächsten" und damit das Allgemeinwohl zu heben. An dieser Zielsetzung zeigt sich bei den Realschulpädagogen erneut die typisch aufklärerische Gesinnung. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt allmählich der Prozeß, das allgemein Brauchbare und Elementare aus den Sachen herauszulösen. Die Realschulen sind gewöhnlich für Kinder bis zum 16. Lebensjahr vorgesehen. Zwangsläufig drängt sich nach anfänglichen Erfahrungen die Frage auf, inwieweit in dieser Zeit eine spezielle Berufsausbildung überhaupt schon vorgenommen und schulmäßig betrieben werden kann. Das Nützlichkeitsprinzip muß fortan auch in einem pädagogischen Sinnverständnis aufgefaßt und interpretiert
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werden. Der Realismus formt eine ihm adäquate Bildungstheorie. Im Philanthropismus wird das Problem nachher unter dem Einfluß ROUSSEAUS im Aspekt einer jedem zukommenden Menschen- und Bürgerbildung aufgegriffen. Vereinzelt finden sich aber schon in den Realschulplänen Ansätze, das Verhältnis von Allgemeinbildung und Berufsbildung zu bestimmen. Zunächst dominiert das berufsbezogene Element. Lediglich im Hinblick auf solche Fächer, die für alle Berufsarten gleichermaßen von Wichtigkeit sind, werden beiläufig Erwägungen angestellt, welche übergeordneten Gesichtspunkte maßgebend sein können. So hatte GROSS unter Nennung der Naturlehre angemerkt, daß es billig darauf ankäme, dasjenige von den Wissenschaften auszuwählen, „was von jedermann kan genutzet werden". 38 Dieser Gedanke blieb auf das Detail bezogen jedoch noch offen. Schulorganisatorische Konsequenzen wurden daraus nicht abgeleitet. Die Klasseneinteilung erfolgte ausschließlich nach den Berufswünschen. H A R L E S , der — wie er selbst erwähnt — durch GROSS viele Anregungen empfangen hat, gliedert bereits „die allgemeinen Classen der Ungelehrten" aus. In ihnen sollten zunächst „allen und jeden die ersten Grundsätze der Künste und Wissenschaften gelehrt" 39 werden. Bevor die Wahl der künftigen Lebensart getroffen ist, müsse sich beim Menschen „die natürliche Anlage seines Geistes in ihrer Größe zeigen". Solche Schüler, „welche sich einer oder anderer Kunst besonders widmen", gehören in die „besonderen Classen". Hier lassen sich „bürgerliche Sachen" dann weitläufiger zeigen und zergliedern. Damit ist klar ausgesprochen, daß den Realien auch eine allgemeinbildende Bedeutung zugemessen werden muß. Zwar kündigt H A R L E S ebenfalls die Ausbildung der „Capitalisten, Manufacturiers, Oeconomen, Künstler und Handwerker" 40 an, will aber dennoch anfangs für alle die gemeinsamen „Gründe" legen.
Später erst richtet sich der Bildungsgang nach dem Stand. „Daher entstehen nun verschiedene Classen." Trotzdem behält der naturwissenschaftliche Unterricht nach wie vor, obwohl jetzt auf die Anwendungsgebiete in einzelnen Berufen beschränkt, seine grundsätzliche Bestimmung: „Die Physik lehrt erst recht den Menschen, was er sei. Sie lehrt ihn die Wundergeschenke der Natur genau zu zergliedern und zu betrachten und führt ihn dadurch zur Erkenntnis seiner selbst. Mit Hilfe der physikalischen Betrachtungen lernen wir erst die Veränderungen und Wirkungen der Luft, des Wassers, des Feuers und der Erde kennen." 41 Das Studium der Natur fördert das Selbstverständnis des Menschen in seiner Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Welt. Gerade die Naturwissenschaften sind imstande, dazu einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Bereits im 18. Jahrhundert bricht sich diese Anschauung Bahn, ohne jedoch substantiell im pädagogischen Konzept verankert zu sein.
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Ebenso wie HARLES teilt DARJES die realistische Unterweisung in eine „allgemeine und besondere". Der Jenaer Kameralist DARJES blieb in der Erziehungsgeschichte ungenannt.42 Zu seiner Zeit war er sehr bedeutend. Unterstützt von der Freimaurerloge „Zu den drei Rosen", zu der viele Universitätsangehörige gehörten, entwarf er 1761 für die „Rosenschule bei Jena" einen mustergültigen Schulplan. SALZMANN nahm als Student an den Schulversuchen teil. Nach ähnlichen Grundsätzen bemühte sich MÜNTER nach 1765 um eine Reform des Kopenhagener Schulwesens. Auch BLASCHE und HEUSINGER sind durch DARJES beeinflußt worden. 43 So hat DARJES namentlich die jüngeren Philanthropisten angeregt. Gerade HEUSINGER leistete später einen entscheidenden Beitrag zur Klärung des Bildungsbegriffes. DARJES nimmt in seiner Realschule Kinder auf, die sich der Landwirtschaft, Stadtwirtschaft oder moralischen Wirtschaft44 widmen wollen. Die Einteilung gesondert nach Berufen entfällt. Je nach Wahl der künftigen Berufsrichtung gliedert sich der Schulaufbau in eine mathematische, ökonomische und physikalische Klasse. Mechanik, Naturlehre und Scheidekunst sind als Bestandteil der „besonderen Unterweisung" genannt. Sie sollen insoweit betrieben werden, „in wie weit diese bei den Gewerben, Manufakturen und überhaupt bei den wirtschaftlichen Beschäftigungen unentbehrlich sind". 45 Die Ausrichtung des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf eine berufliche Spezialisierung ist also keinesfalls durchbrochen. Sie wird lediglich nicht von Anbeginn an bezweckt und außerdem bestimmten Berufsgruppen schwerpunktmäßig zugeordnet. Alle Schüler erhalten vorweg aber eine gemeinsame Unterrichtung. Als Grundstock wird dabei zunächst das herausgegriffen, was die „Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft" zu fördern imstande ist. Das betrifft die Kenntnisse ebenso wie die Erziehung, die auf „das Wollen in den Herzen der Kinder zu wirken" hat, „die Kräfte des ganzen Menschen dahin anzuwenden", zur „Vollkommenheit" aller beizutragen. „Die allgemeine Unterweisung sollen alle genießen, sowohl die Buben als auch die Mädchen, und sie wird in die moralische und wirtschaftliche Unterweisung verteilet. Die moralische Unterweisung wird sich regelmäßig bemühen, die Herzen der aufgenommenen Kinder menschlich zu bilden . . . Die allgemeine ökonomische Unterweisung wird sich mit Dingen beschäftigen, die in allen wirtschaftlichen Unternehmungen einen sehr merklichen Einfluß haben. Ich meine das Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen und die Erkenntnis derjenigen Regeln, deren Beobachtung alsdann erforderlich ist, wenn man bei seinen Unternehmungen eine gehörige Ordnung beobachten, in der Wirtschaft die heimliche Verschwendung vermeiden, zur Erreichung seiner Absichten geschickte Mittel erfinden, und durch Anwendung dieser Mittel seine Absicht glücklich erreichen will." 46 Von hier aus verläuft eine gerade Linie zu den sogenannten „gemeinnützigen
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Kenntnissen", die in der philanthropistischen Pädagogik als wichtigster Bestandteil der dem Menschen in allen Ständen notwendigen „allgemeinen Bildung" genannt werden. Dieser Begriff, den später die Neuhumanisten im Sinne einer allgemein menschlichen formalen Kräftebildung für sich in Anspruch nehmen, ist also ursprünglich mit einem ganz anderen Sinngehalt im Erziehungsdenken der Aufklärung beheimatet. Er erfährt später einen Bedeutungswandel, obwohl es neben der neuhumanistischen Bildungstheorie auch weiterhin Auffassungen gibt, die das realistische Ideengut unverfälscht übernehmen und zum Tragen bringen. Die bei HARLES und DARJES einsetzende Differenzierung zeigt bereits einen neuen Zug im pädagogischen Denken. Es beginnt eine gewisse Abklärung der utilitaristischen Zweckbezogenheit und die Durchstrukturierung der Bildungskonzeption nach einer auf „wahre Menschenliebe" begründeten und den „Bedürfnissen des Bürgers" angepaßten „allgemeinen Unterweisung". Die Nützlichkeitserwägungen modifizieren sich innerhalb der Aufklärungszeit zu einer realistischen Lebensvorbereitung in einem pädagogisch relevanten Sinne. Darin liegt der Kern der Bildungsbestrebungen der philanthropistischen Erziehungsbewegung, die die ganze zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrscht.
2. Naturkunde als Bestandteil allgemeiner Bildung und Ausarbeitung methodischer Grundsätze für den naturwissenschaftlichen Unterricht in der Erziehungsplanung des Philanthropismus Im Philanthropismus tritt das Bürgertum auf pädagogischem Gebiet in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einer geschlossenen Bewegung an, um das Bildungswesen gänzlich umzuschaffen und dem Einfluß der Kirche zu entziehen. Nur auf diesem Wege konnte die für die merkantilistische Wirtschaftsweise immer dringender werdende nützliche Lebensvorbereitung des Bürgers durchgesetzt werden. Das sich im Machtbereich der Kirche befindende traditionelle Schulgefüge war zum Hemmschuh für die weitere pädagogische Entwicklung geworden. Es ist deshalb verständlich, daß sich mit dem Erziehungsziel der Glückseligkeit nun auch zugleich die Forderung erhebt, die religiösen Belange in den Hintergrund zu schieben und die Schule auf ihre weltlichen Aufgaben zu orientieren. An dem 1774 gegründeten Dessauer Philanthropin wurde von BASEDOW und seinen Schülern der Versuch unternommen, eine „Pflanzschule" für die geplante Schulverbesserung in Europa zu errichten. Mit dem Wirken der Philanthropisten beginnt hier eine „allgemeine Gährung in Erziehungssachen".47 Binnen zehn bis zwölf Jahren erhofften sich die Zeitgenossen eine Verbesserung der Unterrichts-
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und Erziehungsmethoden. Als „Verrat an der Menschheit" galt es, „an dem neuen Werk zu zweifeln". 48 Zöglinge kamen aus allen Ländern. Die jubelnde Zustimmung von allen Seiten machte Dessau damals zum deutschen Mekka. 49 N a m h a f t e P ä d a g o g e n w i e CAMPE, SALZMANN, T R A P P , WOLKE, BAHRDT u n d s p ä -
ter ANDRE, HEUSINGER, NEUENDORF u n d GUTSMUTHS schickten sich n e b e n BASE-
DOW an, den „mönchischen Ursprung" im Schulwesen durch eine zeitgemäße Bildung zu überwinden, um so dem „Widerspruch zwischen Schule und Welt entgegen zu arbeiten". 50 Die Kritik richtet sich sogleich gegen die Lebensfremdheit der Gelehrtenschule, deren professioneller Charakter offenkundig war. Das Studium der alten Sprachen diente theologischen Zwecken. Dreiviertel der gesamten „Schulnot" bestand aus Latein. Nützliche Kenntnisse für das Leben fehlten völlig. BASEDOW spricht mit scharfen Worten von der wohl „finstersten Periode der christlichen Zeiten" 51 , die den öffentlichen Unterricht geprägt und geformt hätte, und prangert die „barbarische Methode in der lateinischen Sprache" an, die „Gesundheit, Verstand und Herz" 52 bei der Jugend verderben müßte. Bei allen seinen Schülern wird fortan mit Entschiedenheit gegen die Grundverfassung der Schule gefochten: Die aus dem Sprachenstudium gewonnene Zeit sollte „auf wirkliche Vorübung des menschlichen und bürgerlichen Lebens verwandt werden". 53 Die „Erlernung fremder und todter Sprachen hemme den Gang der Vernunft". 54 Nach den Vorstellungen der Philanthropisten wurde die Bildungskonzeption nunmehr darauf angelegt, aus der Schule ein „Bild des Lebens in dem Weltzustande" 55 zu schaffen. Unter dieser Zielstellung bemühte sich der Kreis um BASEDOW jahrzehntelang, die fehlenden Lehrpläne und Schulbücher zu entwerfen und praktisch zu erproben. Nach den Ansichten der Philanthropisten ist das „Leben die eigentliche große Schule des Menschen". Demgegenüber nimmt sich die Schule als Bildungseinrichtung aus wie „eine eigne fremde Welt, in der das Kind ganz andre Dinge hört, als es im Leben siehet". 58 Erst wenn zwischen Natur, Schule und Leben Freundschaft gestiftet wird, vermag der Mensch zu werden, „was er werden soll". 57 Will die Erziehung dazu beitragen, die Kräfte der Jugend „zu ihrem künftigen Gebrauch für sich und die wirkliche Welt zu entwickeln" 58 , so muß sie an das Leben anknüpfen und als oberstes Planungsprinzip die harmonische Entfaltung des Menschen im Hinblick auf die künftige Lebensbewährung setzen: „Der letzte Zweck kein andrer, als den festen Gesichtspunkt cheren Punkt an dem
den die Erziehung stets vor Augen haben soll, ist daher Menschen geschickt zum Leben zu machen; ihm einen für die Welt und ihre Verhältnisse zu geben; einen sier sich einst halten, und orientieren kann." 59
Aus dieser Anschauung erwächst im Philanthropismus die Idee einer lebensbezogenen und nützlichen „allgemeinen Bildung" 80 , deren Aufgabe in erster
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Linie darin gesehen wird, „gemeinnützige Kenntnisse" zu vermitteln, die „nach den unabweislichen Bedürfnissen des jugendlichen Geistes berechnet" sind und gleichzeitig „eine wirkliche Vorbereitung zu jeder Berufsart" 61 ermöglichen. Wie aus den handschriftlichen Lektionsberichten und Lehrplankonferenzen hervorgeht, wurde am Dessauer Philanthropin stets an die Erziehung zum Menschen und zum Bürger gleichermaßen gedacht, wenn davon die Rede war, daß der Lehrer „nicht allein das Materielle, sondern auch das Formelle"*2 zu bedenken habe. Für die philanthropistische Erziehungstheorie ist der Ansatz typisch, einen gangbaren Mittelweg zu finden zwischen dem „Nothwendigen", „was der Mensch als bloßer Mensch braucht", und dem „Conventionellen", das zur Vorbereitung auf das künftige Leben unabdingbar gehört.63 Von dieser Warte aus wird die von NIETHAMMER später vorgebrachte Unterstellung in hohem Grade fragwürdig, daß die Philanthropisten „das Daseyn einer rein geistigen Natur des Menschen" nicht anerkannt und alles das aus dem Kreis der Lehrgegenstände ausgeschlossen hätten, bei dem „nicht eine bestimmte Beziehung auf die künftige Berufsbestimmung zu erkennen"64 gewesen wäre. Eine berufliche Spezialbildung fassen die Philanthropisten im allgemeinen überhaupt nicht ins Auge. Sie gehen vielmehr von der Tatsache aus, daß eine harmonische Vervollkommnung des Menschen gemäß seiner „natürlichen Bestimmung" als „Eigenbrauchbarkeit" nicht unabhängig von der „Gemeinbrauchbarkeit" für die Gesellschaft konzipiert werden kann, wenn der Mensch seine Bestimmung als Mensch erfüllen soll. Als gesellschaftliches Wesen vermag der Mensch „nur in der Gesellschaft und durch sie Mensch" zu werden.65 Gerade in diesem Punkt wird ROUSSEAU abgelehnt, da er seinen ,EmiP „nach dem System der Ungeselligkeit"66 erzieht. Zu irgendeinem Zeitpunkt müsse man einmal aufhören, den Jugendlichen „bloß der Natur gemäß zu erziehen" und beginnen, „mehr an seiner künftigen Brauchbarkeit, als an seiner individuellen Vollkommenheit zu arbeiten, mehr den Bürger und den Gesellschafter als den Menschen in ihm zu bilden". 67 Aufgrund dieser Stellungnahmen in der von CAMPE herausgegebenen „Allgemeinen Revision" begegnet uns in der pädagogischen Literatur zumeist die Annahme, daß der ganzen Richtung der Aufklärungspädagogik als „unverkennbares Siegel" die „utilitaristische Bildungstheorie" aufgedrückt sei68 und die Philanthropisten es nicht vermochten, „in der Lehrplanfrage das Steuer nachhaltig auf die Seite der allgemeinen Menschenbildung zu reißen". 89 Nun ist jedoch von der Mehrzahl der Philanthropisten niemals bestritten worden, daß „die Anfangsgründe der menschlichen Erkenntniß" 70 überall gleich gelegt werden müßten. In der zeitgenössischen Kritik traf BASEDOW und seine Anhänger im Gegenteil sogar der Tadel, die Zöglinge im Philanthropin „blos zu Menschen, nicht zu Bürgern unserer Welt" bilden zu wollen.71 Aus den Akten
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ergibt sich ebenfalls der Hinweis, daß es in der Unterrichtsarbeit vorrangig „auf die allgemeine Vervollkommnung des Menschen ankommt". 72 Auch im philanthropistischen Schrifttum fehlt es nicht an zahlreichen Stellen, die Belege dafür sind, daß „alle Geisteskräfte" unabhängig vom späteren Berufszweig geübt werden sollten. 73 SALZMANN Z. B. lehnt es strikt ab, den Bildungsplan „für ein einzelnes Fachwerk" vorzusehen; er will vielmehr bei seinen Zöglingen „den inneren Geist der allumfassenden Humanität erziehen". 74 Eine sinnvolle Ausgewogenheit zwischen Menschen- und Bürgerbildung herzustellen, bedeutet bei den Philanthropisten demnach keineswegs zweckgebundene Utilität. Jede Vereinseitigung stößt auf entschiedene Ablehnung, besonders die vorzeitige Festlegung auf einen bestimmten Beruf. Für den „gesitteten Bürger" seien „gemeinschaftliche Schulstudien" vor dem 15./16. Lebensjahr einzurichten.75 Brauchbar erzogen zu werden, bedeutet im Rahmen dieser Ausbildungsphase, die deutlich von den sogenannten „Standesstudien" abgegrenzt wird, zunächst Befähigung, sich im Leben zurechtzufinden und nützlicher Lebensbeschäftigung hingeben zu können. In diesem Sinne sollte „aus dem Umfange der Wissenschaften" das ausgesondert werden, „was auf das Leben und die Geschäfte des erwerbenden Bürgerstandes Beziehung hat". 76 Der Hauptfehler der bestehenden Schuleinrichtung wird darin gesehen, aus künftigen Handwerkern, Künstlern und Kaufleuten „Griechen und Lateiner" zu machen, sie jedoch nicht mit solchen Kenntnissen auszurüsten, „die ihnen als Menschen und Bürger wichtig sind, und die auf die glückliche Betreibung ihrer künftigen Geschäfte unmittelbaren Einfluß haben". 77 Solange „der Endzweck des Studierens noch nicht bestimmt ist", dürfe der Unterricht daher nur das enthalten, was dazu beiträgt, „Kinder und Jugendliche zu guten und vernünftigen Menschen zu erziehen, und durch Mitteilung nützlicher Kenntnisse und Fertigkeiten zu brauchbaren Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu machen". 78 Diese „doppelte Bildung" müsse „in Eins zusammenfließen", damit der Mensch aus „der Harmonie des Ganzen", das sich nicht widersprechen darf, „ein wahrer Mensch" 78 werden kann. An die Stelle der alten Sprachen tritt eine gemeinsame Bürgerbildung. „Nicht viel, aber lauter nützliche Erkenntnis, welche ohne Schaden niemals vergessen werden darf" 80 , verkündete BASEDOW. In der philanthropistischen Pädagogik gilt Lebenstüchtigkeit als oberster Grundsatz der Lehrplanung. Die Realien erhalten einen deutlichen Vorrang. Später ist dieser Einstellung gegenüber der Vorwurf erhoben worden, die Philanthropisten hätten die „Freistätten allgemeiner Bildung durch Umwandlung in bloße Berufsschulen zerstören" 81 wollen. Das ursprüngliche Bildungsanliegen wurde dadurch verschoben und mißverstanden. Niemand unter den philanthropistischen Pädagogen hat je daran gedacht, bereits in der Jugendbildung vom Individuum das „Opfer seiner ganzen
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Menschheit" 82 zu verlangen. Im Gegenteil, es entsprach durchaus ihrer sozialen Haltung, mit besonderem Nachdruck darauf hinzuweisen, daß „die Ausbildung des allgemeinen Menschensinns" gegenüber jeder Bürgerbildung „eine größere Sorgfalt von Seiten des Erziehers" 83 erfordere. Wohl habe die Schule einen nützlichen und brauchbaren Menschen zu bilden, der sich im Leben auskennt, aber während der „allgemeinen Erziehung" darf sie dabei noch nicht an Spezialkenntnisse denken, also auch nicht „nur auf Gelehrte" 84 sehen. Gegenstand des Unterrichts werden nunmehr anstelle der klassischen Studien die „gemeinnützigen Kenntnisse", die auf „alle Arten" der menschlichen Beschäftigungen aufmerksam machen, auf den Menschen und seine Umwelt zugeschnitten sind und „die Anfänge, Quellen und Mittel" aller übrigen Wissensbereiche darstellen. 85 Das Nützlichkeitsprinzip bedeutet für die Philanthropisten demnach keine frühzeitige Hinwendung auf den künftigen Beruf und ist auch keineswegs gleichbedeutend mit größtmöglicher „Rentabilität" des einzelnen.86 Im Philanthropismus wird der „Plan einer Einheitsschule" für die gesitteten Stände vorgelegt 87 , der als Vorstufe aller höheren Berufsbildung und wissenschaftlichen Studien die Anfangsgründe solchen Wissens enthielt, das jedem „Menschen nützlich und dienlich ist". 88 Der öffentliche Unterricht sollte „vor dem sechszehnten Jahr billig so beschaffen sein, daß keiner, der allenfalls den Studien gewidmet ist, zu einem andern bürgerlichen Geschäfte ungeschickt geworden wäre". 89 Eine solche Bildungskonzeption konnte selbstverständlich auch für den naturwissenschaftlichen Unterricht nicht ohne weitreichende Folgen bleiben. In der philanthropistischen Pädagogik nehmen die Realien und unter diesen wiederum die Naturwissenschaften daher von vornherein eine besondere Stellung ein. Um „das Geschlecht der Menschen überhaupt vollkommener und beglückter zu machen" 90 , sollte ein Vorrat an nützlichen Kenntnissen aus den Künsten und Wissenschaften für den Lehrplan aufbereitet werden. Das Bemühen der Philanthropisten ist gänzlich darauf gerichtet, den Unterricht „nach den Bedürfnissen des Zeitalters abgemessen" 91 zu erteilen. Alte Sprachen galten als „todtes Capital". 92 Die Erneuerung des Schulwesens wurde infolge des wirtschaftlich-technischen Umschwunges als immer dringender empfunden. Gerade im „Mangel an Kenntnis der Natur" erblickte man „eine der stärksten Quellen menschlicher Leiden in allen Ständen". 93 Diese Einsicht führt zum Bemühen, die naturwissenschaftlichen Fächer zur „Basis"94 der gesamten Bildungs- und Erziehungsarbeit zu machen. Im Zusammenhang damit wird die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Unterrichts klar erkannt: „Ohne Naturkunde ist kein vollkommener Ökonom, kein Kaufmann, kein Kriegsmann und kein ächter Gelehrter möglich. Denn wo ist Sachkenntnis ohne Kenntnis der Natur?" 95
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Mit der Forderung, keine Zeit mehr mit unnützen Dingen zu verschwenden und die Unterrichtsgestaltung lebensnah auszurichten, durchbrachen die Philanthropisten erstmals in geschlossener Front die Weltfremdheit und Ummauerung des höheren Schulwesens. Das notwendige Grundwissen für den erwerbstätigen Bürger, das er vor jeder Zubereitung zu irgendeinem Stand sich anzueignen habe, um kein „lateinischer und griechischer Wortkrämer" 96 zu werden, wird aus den verschiedenen Lebensbereichen gewonnen. Bei TRAPP sind zum Beispiel folgende Lehrgegenstände als „gemeinnützige Kenntnisse" vorgesehen: „1. solche, die im alltäglichen sowohl, als im verfeinerten Leben unentbehrlich geworden sind, als Lesen, Rechnen, Schreiben. 2. solche, die den über das niedrigste Volk erhabenen Ständen fast unentbehrlich sind. Dahin gehört theils ein höherer Grad und größere Fertigkeit in jenen alltäglichen Dingen, theils Natur- und Menschengeschichte, Geographie, Geometrie. 3. solche, die die Moralität eines Volkes stützen und bessern, Religion und Moral, Recht der Natur und Landesgesetze. 4. solche, die zur Erhaltung der Gesundheit und der gesammelten äußeren Wohlfahrt dienen. 5. solche, die zwar an sich speculativ sind, aber doch gemeinnützige Wirkungen und Erfindungen hervorbringen, als Astronomie, Physik." 97 Der Unterschied gegenüber der dem Philanthropismus vorausgegangenen Realschulentwicklung wird nunmehr vollends deutlich. Das Schulwesen sollte in seiner Struktur von Grund auf reformiert werden. Den Anfang machte BASEDOW mit seinem Elementarwerk 98 , das die Hauptgebiete des Lebens enzyklopädisch in sich aufnahm, um sie für den Unterricht in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen. Da es keine Vorbilder gab, waren völlig neue Schulbücher zu schaffen. Es ist den Philanthropisten nicht ganz leicht gefallen, in Aussprachen und Lehrplankonferenzen Ordnung in die Wissensfülle hineinzutragen und genau festzulegen, wie „man die Kenntnisse aufeinander folgen läßt". 99 Daß dabei oftmals ein Chaos zu entstehen drohte 100 , mindert jedoch nicht das Verdienst, einen völlig neuen Weg beschritten zu haben. In der Aufklärungszeit wurde der Grundstein für unser modernes Schulwesen gelegt. An den neugegründeten Philanthropinen — so in Dessau, Marschlins, Heidesheim, Neuwied, Straßburg, Kolmar, Schnepfenthal und anderen Orten—schenkte man dem naturwissenschaftlichen Unterricht große Aufmerksamkeit. BAHRDT hebt als Vorteil dieser Erziehungsanstalten hervor, daß gegenüber den bestehenden Schulen „eine bessere Auswahl in den Wissenschaften" getroffen würde. Anstelle der bisher betriebenen Sprachstudien erhalten die Zöglinge „einen desto vollständigeren Unterricht in einer auf das gemeine Leben überall angewandten Mathematik, in der für alle Stände so wichtigen und die ganze Seele aufklärenden und veredelnden Naturgeschichte". 101
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Diese Verlagerung des Schwergewichts ist in den philanthropistischen Erziehungsplänen durchweg erkennbar. Neben der praktischen Betätigung mit nützlichen Gerätschaften und Gegenständen, den sogenannten „Übungen eines künftigen Mannes", wird eine Unterweisung in den verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen sowie in Ökonomie, Technologie und Mechanik vorgesehen. Ganz im bürgerlichen Sinne preist man den Nutzen dieser Unterrichtszweige, der vor allem darin liege, Fleiß und Tätigkeitsdrang zu entwickeln, um sich im späteren Leben „anständige Quellen des Reichtums zu eröffnen". 102 Zur Beförderung der individuellen und allgemeinen Wohlfahrt seien gründliche Naturkenntnisse unerläßlich. So kommt es, daß gerade in der Aufklärungspädagogik der naturwissenschaftliche Unterricht eine dominierende Rolle im Rahmen der Bürgerbildung erhält: „Die Natur kennen lernen ist das bewehrteste Mittel, das Gemüth vor Unglauben und Aberglauben zu bewahren, den Geschmack an das Edle und Einfache zu gewöhnen, die Neugierde zu reizen, dem Müßiggang vorzubeugen, die Aufmerksamkeit und das Nachdenken zu üben, den Verstand zu schärfen und mit Sachkenntniß zu beschäftigen, und den jungen Leuten gerade diejenigen Dinge vor Augen zu legen, mit welchen die meisten unter ihnen dereinst in dem bürgerlichen und häuslichen Leben zu thun haben sollen." 103 Zu den gemeinnützigen Unterrichtsgegenständen gehörte vorrangig also auch „ein zureichender Grad der Kenntnisse der ganzen Körperwelt". 104 BASEDOW schwebte dabei im Hinblick auf eine zweckmäßige Stoffauswahl die Zusammenfassungdereinzelnen naturwissenschaftlichen Sachgebiete zu einem in sich geordneten Ganzen vor. Alle Tatsachen und Erscheinungen, deren unterrichtliche Behandlung in der Schule notwendig erschien, sollten „als eine einzige Naturwissenschaft unter dem Namen Naturkunde"105 zum Schulfach gemacht werden. Angeregt durch BASEDOWS Idee einer Gesamtnaturkunde wurden für das höhere und niedere Schulwesen jetzt zusammenhängende Lehrbücher geschaffen. Die bekanntesten Vertreter dieser Richtung sind JUNKER106 und HOFFMANN107. Sie versuchten, die naturwissenschaftlichen Stoffe so auszuwählen, daß diese „zusammengenommen eine Art von gemeinnütziger Encyklopädie ausmachen, die man bei jedem Unterricht zum Grunde legen könnte". 108 KERSCHENSTEINER verurteilte später diese Entwicklung, weil es sich für die Herausarbeitung pädagogisch relevanter Grundsätze und Methoden angeblich nachteilig ausgewirkt habe, daß im naturwissenschaftlichen Unterricht „encyklopädisches Fieber" um sich griff109 und infolge der Betonung eines möglichst umfassenden Kenntniskatalogs die Erziehungswerte nicht erkannt zu werden vermochten. Dieses Urteil stützt sich jedoch kaum auf historische Quellen ab. Der Grundgedanke der Enzyklopädisten ist vom damaligen Standpunkt aus gesehen „nicht bloß frei von allem Tadel, sondern sogar des Lobens werth". 110 In
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diesen Bemühungen steckt nämlich zugleich der Ansatz, die Nomenklatur der zahllosen Einzelheiten aus den Bereichen der Natur zugunsten einer der Entwicklungsstufe des Schülers angepaßten „elementaren" und „psychologischen Ordnung" 111 zu durchbrechen, d. h. einen übergeordneten didaktischen Gesichtspunkt für die schulgemäße Aufbereitung der naturkundlichen Fächer zu finden. Die Philanthropisten haben unter einer enzyklopädischen Behandlungsweise niemals Vollständigkeit im Sinne der Vermittlung aller vorkommenden Bezeichnungen und sämtlicher Naturbegebenheiten verstanden. Keineswegs sollte „alles und allerlei" geboten werden. Lehrplanung und Unterrichtsgestaltung nehmen ihren Bezugspunkt in der Entwicklung der Verstandestätigkeit: „Der Knabe erlerne die Wissenschaft nicht systematisch oder kompendienhaft; denn das gehöret für den Mann und allenfalls für den Jüngling. Der junge Mensch brauche in jedem Alter mehr seine Kräfte und entwickele seine Seelenfähigkeiten, erfahre, versuche, mache, denke, handle mehr, als daß man ihm vorschwatze."112 Wir dürfen bei der Beurteilung der philanthropistischen Pädagogik nicht übersehen, daß es klar umrissene und methodisch wohlüberlegte Kriterien für die Anordnung des Lehrpensums gegeben hat, um der Fülle des nützlichen Wissens Herr zu werden und die Realien für die Geistesschulung sinnvoll aufzuschließen. Der später häufig erhobene Vorwurf der „Vielwisserei"113 und oberflächlichen Behandlungsart bezieht sich somit überwiegend auf Äußerlichkeiten in den angekündigten Plänen, ohne hierbei das Unterrichtsgeschehen und die jahrzehntelange Praxis der Versuchsarbeit selbst als Wertmaßstab genügend zu beachten. Die Aufnahme naturkundlicher Lehrgegenstände in eine einheitliche Schulenzyklopädie kann leicht zu Mißverständnissen führen. Mit ihr verbunden war jedoch eine Überwindung der rein wissenschaftlichen Systematik im Unterricht. BASEDOW erwähnt diesen Umstand in einem handschriftlichen Bericht als wesentliche Neuerung im Philanthropin, weil dort „alle unsere Wissenschaften, welches nirgends geschieht, in Verhältniß einer jeden mit einer jeden; nach einem einzigen Plane; und nach Lehrbüchern, davon ein jedes sich auf jedes andere bezieht; und folglich weit verkürzter, übereinstimmender und nützlicher gelehrt werden".114 Für „den ersten allgemeinen Unterricht" in Naturkunde empfiehlt BASEDOW dementsprechend eine genau aufeinander abgestimmte Reihenfolge: „Vielleicht müßte man bei den sehr allgemeinen Kräften anfangen, bei der Schwere, Elasticität, magnetischen und elektrischen Kraft, bei der Luft, dem Feuer, Lichte und dem Aether, — hernach von den Thieren, Pflanzen, Mineralien, dem Wasser u.s.w. handeln, — hierauf, nach Voraussetzung der optischen Wissenschaften, die Astronomie und physikalische Geographie so verbinden, daß die vorhergehende Erkenntniß immer zur folgenden leitete, — das ganze
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Werk aber mit solchen Hauptstücken beschließen, in welchen durch den Gebrauch der vorigen Erkenntniß für die Erleichterung der gemeinnützigen menschlichen Zwecke gesorgt würde, z. E. im Landbau und in der Gärtnerei, in Aufführung der Gebäude, im Kriege, in Ansehung des Wassers in der Schiffahrt, in Ansehung der Künste und Handwerke u.s.w. so, daß man die kurz vorher erwähnte Kunstbeschreibung als den letzten Theil der Naturkunde betrachten könnte." 116 Aus diesen Vorschlägen geht deutlich die Absicht hervor, den naturwissenschaftlichen Unterricht mehr und mehr in eine ausgesprochene Ökonomie und Technologie zu überführen und nach dieser Seite hin auszuweiten. Ähnlich wie in den Realschulen nimmt die Anwendung der Naturkenntnisse noch den weitaus größten Raum ein. Geradezu widersinnig ist bei BASEDOW aber der Gedanke, die Physik der Naturgeschichte vorzuziehen. Im Widerspruch dazu steht die an anderer Stelle von ihm erhobene Forderung, von der sinnlichen Anschauung der umgebenden Natur auszugehen. Bisher war man gewohnt, die Naturwissenschaften als Schuldisziplinen getrennt nach Mineralienkunde, Tier- und Pflanzenlehre, Experimentalphysik, Mechanik, mathematische Naturlehre oder Naturphilosophie als Teile der Naturgeschichte und Physik zu betrachten. Die Chemie wurde als Scheidekunst den übrigen Stunden gelegentlich eingefügt. Innerhalb der Naturwissenschaften selbst hatte der Prozeß einer zunehmenden Differenzierung gerade erst begonnen. In den Realschulplänen zu Beginn des 18. Jahrhunderts tauchen in Reflexion dazu nahezu sämtliche Gebiete als gesonderte Lehrfächer auf. Im höheren Schulwesen wurde naturkundliches Wissen, wenn überhaupt schon, allenfalls als mathematische Auslegung oder spekulative Naturbetrachtung in Anknüpfung an ARISTOTELES vermittelt. BASEDOW stellte in seinem „Elementarwerk" nunmehr einen ganzheitlichen Lehrgang aus Natur und Leben zusammen 116 , um für die gewünschte zusammenhängende Naturkunde sowie für die Realien insgesamt das notwendige Anschauungsmaterial zu liefern. Alle ihm nützlich erscheinenden Gegenstände sind in diesem populären Anschauungskurs zusammengetragen. In Anlehnung an ROUSSEAUS „Emil" beginnt er mit den einfachsten Erfahrungen, wobei er besonders die Vervollkommnung der Sinne ins Auge faßt. Das Bildwerk verzichtet bewußt auf eine systematische Darlegung der Erscheinungswelt und der Produkte der menschlichen Kunst. Dennoch läßt sich im Hinblick auf die naturkundlichen Abbildungen ein gewisser Ordnungsgesichtspunkt erkennen. Im Gegensatz zu den bereits vorhin erwähnten theoretischen Ausführungen im „Methodenbuch" bringt BASEDOW anfänglich einzelne Tiere auf verschiedenen Tafeln zur Betrachtung. Später teilt er einiges „von der Geschicklichkeit der Thiere" mit, um nunmehr erst bestimmte Tiergattungen zu klassifizieren. Die Darstellung physikalischer Apparate folgt im Anschluß. Vorgeführt werden unter anderem: die schiefe Ebene,
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der Keil und die Schraube, die Waage, der Hebel, die Rolle, das Barometer, die Pumpe, Feuerspritze, Magnetnadel und verschiedene optische Geräte. Im dazugehörigen Text wird unter dem Titel „Von einigen merkwürdigen Werkzeugen" (S. 401) alles der Reihe nach beschrieben und in seinem Gebrauch erklärt. Die vorgetragenen Einzelheiten stehen jedoch zusammenhanglos nebeneinander, ohne daß verwandte Erscheinungen genannt sind respektive auf Ursache und Wirkung eingegangen wird. Nirgends findet sich eine Andeutung, die zur Kenntnis allgemeiner Gesetze überleitet. BASEDOW gibt im Elementarwerk reinen Anschauungsunterricht, der wenig zum Denken erzieht und in lauter Fakten zergeht. Hinzu kommen manche fachliche Unebenheiten. So vermutet er, um ein Beispiel zu nennen, „bei der Erzeugung jeder Wärme ein geschehenes Reiben", weil Reiben Wärme erzeuge. SCHWALBE erblickt in seiner Untersuchung über den naturwissenschaftlichen Unterricht gerade in diesen Unzulänglichkeiten einen Beweis dafür, daß die ganze Lehrweise „oberflächlich" blieb und bezeichnet sie deshalb als „Auswuchs der realistischen Bestrebungen". 117 Nun lassen sich einzelne Aussagen BASEDOWS, auch wenn er den Anstoß zur Schulreform des Philanthropismus gab, noch keineswegs als typisch für die ganze pädagogische Bewegung werten. Man begnügte sich in den Philanthropinen durchaus nicht mit dem Vorzeigen biologischer und physikalischer Abbildungen. Allgemein ist bekannt, daß das „Elementarwerk" die Erwartungen etwas enttäuschte. 118 Die Notwendigkeit des Experiments wurde zudem von BASEDOW in anderen Schriften auch nicht bestritten. Er weist sogar sehr nachdrücklich darauf hin: „Ich möchte in allen Schulstuben die Lehre an die Tafel schreiben: Wenig Worte und viel Handlungen! Aber ohne ein Schulcabinett von einigen Naturalien, Maaßen, Gefäßen, Modellen, Werkzeugen und Maschinen ist der Unterricht durch häufige Handlungen nicht wohl möglich." 119 In dem „ausführlichen Vorschlag zur Anlegung eines Schulcabinetts" 120 finden sich sämtliche Geräte, Instrumente, Modelle und einfache Maschinen, die nach dem damaligen Entwicklungsstand der Naturwissenschaften zur Verfügung standen und jeder Schule zur Zierde gereicht hätten. Es wird im Gegenteil sogar manches Überflüssige erwähnt, so zum Beispiel ein Bratenwender und eine Maschine, optische Gläser zu schleifen. Zu den Kuriositäten zählt zweifellos „eine luftleere Glocke, in der man mit einem Brennglase Schießpulver kochend und glühend machen kann, ohne es zu entzünden". Im Verlaufe der Jahre kamen in Dessau und Schnepfenthal beachtliche Sammlungen zusammen, die zum Teil heute noch erhalten sind. Wie BASEDOW sich das Verhältnis von Experiment und Bildbetrachtung anhand der Kupfertafeln gedacht hat, darüber fehlen jegliche Angaben. Spezielle
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methodische Hinweise zur konkreten Unterrichtsführung in der Naturkunde wurden von ihm nicht ausgearbeitet. Später, als WOLKE und TRAPP nach dem Ausscheiden BASEDOWS aus der Leitung des Dessauer Instituts im Frühjahr 1778 die Lehrordnung einer eingehenden Revision unterzogen, beschäftigten sich die Philanthropisten näher damit, „wie alles gesagt und gethan werden soll". Die Konferenzvorlage lieferte TRAPP. In den Verhandlungen, die sich über ein Jahr hinzogen, schlägt er vor, dem Grundsatz, „nicht systematisch" zu lehren, treu zu bleiben und „nach den Kupfertafeln" des Elementarwerkes die verschiedenen Unterrichtsfächer vorzutragen. Dazu müßten jedoch die „auf den Gemälden vorkommenden Gegenstände und Materien nach gewisser Ordnung und Regel" ausgesucht werden: „Und diese Gemälde werden so hinter einander geordnet, daß das Leichtere dem Schwereren vorgeht, und daß unvermerkt nach Verlauf etwa eines halben Jahres ein ganzes z. E. in der Mathematik herauskomme." 121 Die Auswertung dieser Schulakten berechtigt uns zu der Feststellung, daß die Philanthropisten keineswegs bei einer enzyklopädischen Unterrichtsweise stehengeblieben sind, sondern den Vorstoß unternahmen, aus den Kenntnisbereichen des Lebens einen exemplarisch gestalteten Fachunterricht aufzubauen. Dieser sollte sich um zweckmäßig aneinandergefügte Anschauungsbilder gruppieren, damit bei ständig wachsendem Schwierigkeitsgrad lückenlose Fachkenntnisse entstehen. NEUENDORF hat bei der Neuordnung des Instituts im Jahre 1785 an diesem Grundsatz festgehalten, indem er für den Unterricht in den Realien verfügte: „Die Methode selbst ist elementarisch." 122 Mehr als nur flüchtig hingeworfene Äußerungen über die Einbeziehung des Experiments in den Naturkundeunterricht finden wir bei BAHRDT. In seinem „Philanthropischen Erziehungsplan" ist ausführlich dargestellt, wie auf experimentellem Wege bestimmte Grundprinzipien im Sinne des Exemplarischen zur Erkenntnis gebracht werden sollten: „Wir zeigen unseren Lehrlingen alle mechanischen Kräfte, ihre Bewegung, Gesetze, Wirksamkeit — in sechs einfachen Maschinen, auf welche sich alle übrigen, sie mögen noch so kompliziert sein, als sie wollen, reducieren lassen —: Der Hebel, der Wellbaum, der Klobe, die Winkelfläche, der Keil und die Schraube." 123 Ähnlich lehrt auch SALZMANN die „Anfangsgründe" in den Naturwissenschaften. 124 Die Anschauungsmittel werden der Denkschulung untergeordnet. „Modelle, Naturalien und Experimente" sollen „Begriffe klarer und bleibender machen" 125 , gleichzeitig aber dazu beitragen, die Zusammenhänge in der Natur erkennen zu lassen. Im Hinblick auf den naturwissenschaftlichen Unterricht ist das materielle Interesse seitens der Philanthropisten keineswegs überbetont worden. Die Behauptung, daß infolge des übertriebenen Nützlichkeitsstandpunktes „tiefgrün-
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dige Erziehungswerte" 126 nicht erkannt werden konnten, ist irrig. Daß es in Anbetracht der Kürze der Zeit noch nicht immer gelang, die realistische Fächergruppe lehrplanmäßig in den Griff zu bekommen, um die bildenden Gehalte der nützlichen Kenntnisbereiche freizusetzen, besagt grundsätzlich gesehen an sich wenig. Jedenfalls wollte man mehr bieten „als ein bloßes Verzeichnis" und eine übertriebene „Weitläufigkeit". 127 Die Bedeutung der formalen Bildung wird bereits klar erkannt: „Überhaupt soll der Schulunterricht nicht nur durch das Erlernte selbst, sondern ebensosehr dadurch dienen, daß er die Geisteskräfte entwickelt, übt, richtet, bildet." 128 Lange vor dem Neuhumanismus beginnt sich also die Anschauung durchzusetzen, daß es „der Bestimmung des Menschen" als Geisteswesen widersprechen würde, „wenn man nicht auf alle Weise die Deutlichkeit seiner Vorstellungen zu befördern trachtet, und das höhere Denkensvermögen übt". 129 Der einzige Unterschied besteht eigentlich darin, daß die Anregung der Denktätigkeit in der philanthropistischen Pädagogik auf Gegenstände gelenkt wird, „deren Erfindung oder Verbesserung für die menschliche Gesellschaft von großem Nutzen wäre". Am Sachwissen sollte die „Gymnastik der Seelenfähigkeiten" erfolgen. 130 Die nähere Begründung findet sich in der „Allgemeinen Revision". Dort führt STOVE aus, daß es „eben so nachtheilig" ist, wenn man „ausschließlich die Deutlichkeit der Ideen und die Übung im Denken" befördert, ohne „von der Theorie zur Anwendung und umgekehrt" zu gelangen. 131 Das Pragmatische im philanthropistischen Erziehungssystem ist demnach nicht im entferntesten seicht. TRAPP hat es in seiner Unterrichtslehre auf die kurze Formel gebracht: „Erhöhung und Erweiterung des jugendlichen Geistes", um „dadurch auch der schnelleren Vermehrung des Menschenwohls" aufzuhelfen. Als Mittel der Denkschulung wurde die „Sokratische Methode" angewandt, von der man sich die „Kultur des gesunden Menschensinnes" versprach. „Sie lehrt denken, nicht wissen." In diesem Sinne empfahl TRAPP „Finden und Erfinden" als „das feinste also auch das wichtigste Stück des ganzen Unterrichts". 132 Bei der Klärung des Verhältnisses zwischen formaler und materialer Bildung gewichten die Philanthropisten im Zusammenhang mit der Herausarbeitung bestimmter Unterrichtsgrundsätze eindeutig nach der Seite der geistigen Erziehung. Es wird offen ausgesprochen, „daß es bey der Geistesbildung lange nicht so sehr auf das Materielle, oder die Verschaffung eines gewissen Vorraths von Begriffen ankömmt, als auf das Formelle oder die Übung und Anstrengung der Vorstellungskraft". 133 Die Beschäftigung mit den Realien schlechthin brachte dem Philanthropismus nach den herrschenden Ansichten der damaligen Zeit jedoch schon den Vorwurf ein, „gelehrte Friseurs" 134 bilden zu wollen, die auf Kosten wissenschaftlicher Gründlichkeit „von allem Etwas und Mancherlei" geboten bekämen. Diese
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äußerst gehässige Abstempelung eines im Prinzip durchaus diskutablen Ansatzes hat die sachliche Bewertung der philanthropistischen Schulreform sehr beeinträchtigt. Allenthalben
ist nachzulesen, daß die
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„mehr auf Breite, als auf Tiefe der Bildung" 1 3 5 gesehen hätten. Dabei handelt es sich sowohl inhaltlich als auch methodisch um einen völlig neuen Unterrichtsstil, der in den ersten Anfängen aus den Philanthropinen herauswächst. Unter diesem Aspekt muß der naturwissenschaftliche Unterricht gesehen werden, der an den neuen Schuleinrichtungen in der Regel mit je 2 Wochenstunden Physik in den oberen und Naturgeschichte in den unteren Klassen eingeführt wurde. „Die Natur ist eine Schule des Geistes und des Herzens." 1 3 6 Gerade jene Sachkenntnisse, die im späteren bürgerlichen und häuslichen Leben von ungemeiner Wichtigkeit sind, schärfen den Verstand. BAHRDT faßt die bildenden Gehalte der Naturwissenschaften ins Auge, wenn er sagt: „Sie reinigen von Aberglauben und Vorurtheilen. Sie üben philosophische Aufmerksamkeit, und machen Scharfsinn in der Erforschung der Ursachen, in Erwägung der Wirkungen, der Folgen, der Absicht, des Nutzens usw." 1 3 7 Aber nicht nur die intellektuelle Bedeutung der naturwissenschaftlichen Fächergruppe wird von ihm bestimmt, sondern auch ihr Wert in sittlicher und ästhetischer Hinsicht: „Hier muß das Herz seine natürlichen Gefühle für Schönheit, Ordnung, Geselligkeit, Beschäftigung usw. erwecken und erwärmen." 1 8 8 Naturkenntnisse haben nicht nur praktischen Nutzen, sondern sie fördern ebenso „Gesinnungen, Neigungen und Handlungsweisen". 1 3 9 Aus ihnen entspringt in besonderer Weise der „Sinn fürs Schöne und Gute". 1 4 0 Daher findet gerade dieser Unterrichtszweig für die Lösung der Erziehungsaufgaben größte Beachtung: „Überall leiten wir sie auf Begriffe von Schönheit und Ordnung, und lassen sie an den Gegenständen der Natur bald die Vortheile der Geselligkeit, bald den Nutzen des Fleißes, bald die Reize der Kunst beobachten." 1 4 1 Die Naturbetrachtung soll den Geist aufklären und den Menschen innerlich veredeln, denn ohne naturwissenschaftlichen Unterricht „ist selbst die rechte vollkommene Bildung der Seele zur Tugend unmöglich". 1 4 2 Erstmals in der Geschichte der Pädagogik wird hier erziehungswissenschaftlich begründet, daß auch die Naturwissenschaften für die Erziehung und Bildung notwendiger Bestandteil sind und die gleichen Ergebnisse zu zeitigen vermögen wie alle anderen Fächer. Der einseitige utilitaristische Standpunkt, der die Realschulentwicklung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch weitgehend beherrschte, tritt nunmehr sichtbar zurück. Die Weiterentwicklung des naturwissenschaftlichen Unterrichts durch den Philanthropismus kommt gerade in der Erkenntnis zum Ausdruck, daß jede naturkundliche Wissensvermittlung zugleich auch ein Hebel für die Geistesschulung und sittliche Vervollkommnung sei. Der
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Gedanke, daß die Realien ebenfalls dazu berufen waren, „als wertvolles Erziehungsmittel den Unterricht in der Literatur, der Geschichte und den Sprachen zu ergänzen" 1 4 3 , den DANNEMANN in seinem Handbuch des Physikunterrichts fälschlicherweise erst den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts zuschreibt, ist im pädagogischen Schrifttum des Philanthropismus bereits fest verankert. Ähnlich wie in der Zeit der ersten Realschulgründungen stehen bei den Philanthropisten wiederum technologische Kenntnisse im Rahmen der naturwissenschaftlichen Unterweisung stark im Vordergrund. Jedoch kommt es in Anlehnung an ROUSSEAU ZU einer stärkeren pädagogischen Durchdringung des Prinzips der Lebensnähe. Die Zöglinge sollten die „Sachen" selbst anschauen und beobachten, um sich die Wissenschaften auf diesem Wege zu eigen zu machen, indem sie alles aus sich heraus durch ihre Beobachtungsgabe „erfinden". 1 4 4 Bei geistigen Arbeiten müsse die Natur Lehrmeisterin sein. Die Naturerscheinungen regen die Wißbegierde an. Wenn darüber hinaus noch eine Beschäftigung in den Werkstätten folgt, so arbeiten die Hände zum Vorteil des Geistes. Der Jugendliche „wird Philosoph und glaubt, nur ein Arbeiter zu sein". 1 4 5 Im philanthropistischen Erziehungssystem beginnt man, diese Gedanken ROUSSEAUS praktisch zu realisieren. Der naturwissenschaftliche Unterricht wird mit der unmittelbaren Anwendung im Berufsleben verknüpft und findet seine Fortsetzung und Ergänzung innerhalb der planmäßig betriebenen Arbeitserziehung. Während des Philanthropismus taucht somit bereits ein erster Lösungsversuch für das höchst aktuelle Problem einer polytechnischen Bildung auf, der bis zum heutigen Tage eigentlich zum Teil unübertroffen geblieben ist. Soviel wie möglich wollte man den Kindern im Unterricht Gelegenheit geben, „von Künsten und Fabriken anschauliche Begriffe zu erlangen". 1 4 6 Wie aus den Akten des Dessauer Philanthropins hervorgeht, werden die Klassen recht häufig während der Schulstunden in „Werkstätten der Künstler und Handwerker oder zu Kunstwerken" 1 4 7 geführt. Die Einbeziehung der verschiedenen Lebensbereiche in die Unterrichtsarbeit ist ein hervorstechender Zug der Pädagogik des Philanthropismus: „Nicht Bücher, nicht Systeme, nicht einmal Systeme des Weltbaues, — nein, eine Mühle, ein Schiff, ein Telescop, das sind die Inventarien von den Fortschritten der menschlichen Vernunft." 1 4 8 Ebenso gehören die Übung der Hände und die Gewöhnung an Werkzeuge zur Erziehung. Gerade für den Unterricht in der Naturkunde nütze bloßes Zusehen bei Arbeitsvorgängen oder das Lesen von Büchern über die Dinge wenig, um die Zusammenhänge zu begreifen: „Technologie und Naturlehre haben gar nichts verständliches für den, der in gewissen Handarbeiten unerfahren ist." 1 4 9 Manche Erkenntnisse können überhaupt „bloß durch eigenes Arbeiten,
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durch eigene Kraftanwendung" erworben werden. Diese „dynamischen Grunderkenntnisse" sind ein wichtiger Teil der menschlichen Bildung. Im praktischen Tun erwirbt man notwendige und wertvolle Bildungsgüter. Aus diesen Erwägungen heraus betont besonders HEUSINGER unter den Philanthropisten „das Prinzip der Tätigkeit", um im Unterricht „dem schläfrigen Wesen vorzubauen". 1 5 0 Der bloße Hinweis auf die Vorkommnisse des täglichen Lebens bleibt ein unwirksames Mittel, „die kindliche Aufmerksamkeit und Thatkraft zu reitzen". Erst wenn der Schüler selber Handarbeit leistet, vermag er deutliche Vorstellungen von den Grundbegriffen der Holz- und Metallverarbeitung sowie auch über chemische Prozesse zu erwerben. In jedem Falle ist jedoch darauf zu achten, daß alle Tätigkeiten in irgendeiner „Beziehung zu den intellektuellen Bedürfnissen" stehen, um für den Unterrichtsprozeß und das Erkenntnisvermögen voll wirksam werden zu können. „Je mehr man Arbeiten selbst gemacht hat, die mit den Arbeiten vieler Technologen, und mit den Processen der Natur Ähnlichkeiten haben, desto mehr analogische Kenntnisse können wir auch von technologischen Dingen und von natürlichen Begebenheiten erhalten, und desto bestimmter, deutlicher und ideenreicher werden diese analogischen Erkenntnisse seyn." 1 5 1 Die Besichtigung von Werkstätten und intensive handwerkliche Betätigung in den verschiedensten Formen ging mit der naturwissenschaftlichen Unterweisung also Hand in Hand. Den Zöglingen wurde im Hinblick auf den nachfolgenden Unterricht die Bekanntschaft mit einfachen Maschinen und Instrumenten vermittelt. Bei einem Tischler oder Mechanikus lernten sie zum Beispiel Hebel, Waage, Bleischnur, schiefe Ebene, Keil, Schraube, Rad an der Achse, Rolle, Ramme, Zirkel, Winde, Quadranten, Kompaß und dergleichen kennen. 1 5 2 Bereits im Alter von 10 bis 12 Jahren machen die Erzieher die ihnen anvertraute Jugend darauf aufmerksam, „wie die Menschen die verschiedenen Materialien zu allerhand Werkzeugen und Geräthschaften verarbeiten". 1 5 3 Zu diesem Zweck wird gelegentlich auf solchen Unterrichtsexkursionen das betreffende Herstellungsverfahren selbst einmal ausgeführt. Ein recht anschaulicher Bericht liegt darüber von einem Lehrer aus Schnepfenthal vor: „Hier zeigte ich ihnen erst die Materialien, welche verarbeitet, und die Instrumente und Maschinen, welche dazu gebraucht wurden, dann die Art, wie gearbeitet wurde, und ersuchte die Arbeiter selbst in unsrer Gegenwart damit zu arbeiten, wo wir oft selbst mit Hand anlegten; endlich ließ ich ihnen die Sachen zeigen, welche verfertigt worden waren, damit die Kinder zugleich mit den mancherlei Geräthschaften, die man im gemeinen Leben braucht, bekannt werden, und ihre Namen kennen lernen mögten. Das, was wir in der Werkstatt gehört, gesehn und gelernt hatten — nur eine wird jedesmal besucht, um die Begriffe der Kinder nicht zu verwirren—wurde sodann zu Hause des Nachmittags in der Lehrstunde wiederholt, was die Kinder vielleicht ver-
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gessen hatten, wurde ihnen wieder ins Gedächtniß zurückgerufen, und manches von der Gewinnung der Materialien und dem Gebrauch der daraus verfertigten Sachen, noch hinzugesetzt. Auf diese Weise sind unsre Zöglinge mit den Arbeiten der meisten Künstler und Professionisten in der hiesigen nähern und entferntem Gegend bekannt worden, sie haben z. B. die Arbeiten der Kupferstecher, Buchdrucker, Gärtner, Peruquenmacher kennen gelernt, sie sind in der Werkstatt des Posamentirers, Zeuchmachers, Färbers, Weiß- und Lohgerbers, Leinwebers, Schneiders, Hutmachers, Beutlers, Schuhmachers, Schreiners, Hufschmidts, Schlossers, Nagelschmidts, Drahtziehers, Blechschmidts, Messerschmidts, Töpfers, Glasers, Buchbinders, Drechslers, Wagners, Böttchers, Zinngießers, Klempners, Seifensieders, Sattlers, Seilers, Kamm- und Korbmachers gewesen, sie haben die Beschäftigungen der Zimmerleute, Maurer, Steinhauer, Steinbrecher, Ziegelund Kalkbrenner, der Becker, Müller, Mezger und Bierbrauer gesehn. Sie haben Porzellainfabriken, Salz- und Salpetersiedereien besucht."184 Die Einführung in die Berufs- und Arbeitswelt hat mit eigentlicher Berufsbildung direkt nichts mehr zu tun. HEUSINGER, der seine Unterrichtserfahrungen bei SALZMANN in Schnepfenthal und später bei ANDRE in Gotha gesammelt hat, läßt in seinen Schriften diesbezüglich keinen Zweifel aufkommen. Lediglich die Berufsfindung und späteren Lehrjahre sollten „erleichtert" werden. Außerdem benötigt jeder „fleißige Hausvater" ein gewisses Maß an praktischen Fertigkeiten. In erster Linie aber wählt man solche Arbeiten aus, die auf „chemischen" und „mechanischen Grundsätzen beruhen", um die daran gewonnenen Einsichten dann im Unterricht „der Mechanik, Geometrie und Naturlehre" vertiefen zu können. Die Verbindung von Unterricht und Produktion unter diesem Aspekt gilt als „Hauptsache"165 der ganzen Erziehung. Auf diese Weise gelangten die Naturwissenschaften besonders mit ihren Anwendungsgebieten in die Schule, was um so wichtiger war, da die einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen noch in Entwicklung begriffen waren und geeignete Lehrbücher demzufolge im allgemeinen noch nicht zur Verfügung standen. Das von den Philanthropisten angegangene Problem, die Naturlehre mit praktischer Betätigung sinnvoll zu koordinieren, ist nach wie vor ungelöst. Zwar sehen die „Empfehlungen des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen" gegenwärtig ebenfalls eine perspektivische Eingliederung der Arbeitswelt mit ihren wesentlichen Grundlagen in den Bereich des Schulwissens sowie eine orientierende Einführung in typische Zweige des Berufslebens vor, wobei den Schülern die Möglichkeit geboten werden soll, „sich im praktischen Tun zu erproben" 158 , aber in der Theorie und Praxis des Schulalltags stehen wir hinsichtlich der Ausarbeitung zweckmäßiger Methoden noch gänzlich am Anfang. Ausreichende Erfahrungen gibt es kaum, und ältere Versuche dieser Art sind im Verlaufe der weiteren schulgeschichtlichen Entwicklung nicht ausgewertet worden.
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In der philanthropistischen Zeit hielt man die Anleitung zu eigenen Arbeiten und Versuchen beim Kenntniserwerb für wichtiger als jedes verbale Lernen. Viele Begriffe aus der „Maschinenlehre" machen sich die Schüler ohne langen Vortrag auf diese Weise allein klar. Dem Unterricht werden deshalb regelrechte Konstruktionsübungen eingefügt, um den Erfindungsgeist anzuregen: „Der Knabe fange mit Verfertigung leichter Modelle von Instrumenten, einfachen Maschinen und dgl. an, und gehe so nach und nach zu schwereren und zusammengesetzteren fort." 1 5 7 CAMPE schlägt in diesem Zusammenhang sogar die Einrichtung einer „Arbeitsklasse zu mechanischen Arbeiten" an jeder Gelehrtenschule vor. 158 Im Nachlaß des Dessauer Philanthropins existiert noch eine Reihe solcher Gegenstände, die von den Zöglingen im Rahmen der Physik- oder Mechanikstunden selbständig angefertigt worden sind, darunter ein Brückenjoch, Pflug und Egge, ein Kran, ein Pumpwerk und ein Soldat, dessen Gewehr bei elektrischen Versuchen Funken erzeugte. Auf dem Dachboden der Erziehungsanstalt in Schnepfenthal, der Wirkungsstätte SALZMANNS, lagern noch zahlreiche Konstruktionszeichnungen aus dieser Zeit, die als Entwürfe für das Anfertigen einfacher und komplizierterer technischer Geräte dienten. Die Anregung der Erfindungsgabe war in der Praxis der philanthropistischen Pädagogik Bestandteil eines zielgerichteten naturwissenschaftlichen Unterrichts und der technologischen Erziehung überhaupt. Hinzu traten für ältere Zöglinge wohlorganisierte 14tägige Praktika in einem Bergwerk, Seehafen, in der Landwirtschaft und im Comptoir. Infolge des Einflusses der neuhumanistischen Erziehungstheorie zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der überaus abfälligen Beurteilung des sogenannten Utilitätsprinzips in der pädagogischen Wissenschaft geriet das begonnene Werk bedauerlicherweise jedoch samt und sonders wieder in Vergessenheit. Im niederen Schulwesen fördert der Philanthropismus ebenfalls den naturwissenschaftlichen Unterricht. In der von NEUENDORF 1785 bis 1800 durchgeführten philanthropistischen Landesschulreform im Fürstentum Anhalt-Dessau nimmt diese pädagogische Bewegung entscheidenden Einfluß auf die Bildung der unteren Volksschichten.169 Fast alle geplanten Erziehungsmaßnahmen werden in diesem großangelegten Schulversuch auf die Stadt- und Landschulen übertragen. Auch die „gemeinnützigen Kenntnisse" finden in der Lehrplanung der niederen Schulen Aufnahme. Der Naturkundeunterricht wird in der 1787 erschienenen zweiten Fassung der „Dessauer Schulordnung" ausdrücklich erwähnt. 160 Allerdings muß NEUENDORF angesichts der bestehenden Schwierigkeiten im Hinblick auf geeignete Lehrkräfte und Lehrmittel bald eingestehen, daß „auf die etwanigen Kenntnisse in der Naturgeschichte hier und da wohl Verzicht" geleistet werden müsse.181 Demzufolge entstehen überall „Schulgesellschaften",
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die sich der Fortbildung der Lehrer in den einzelnen Landkreisen annehmen. Auch für entsprechende Bücher ist gesorgt. Am Dessauer Lehrerseminar werden neben Psychologie und Pädagogik die Realien, darunter „Naturgeschichte, Physik und Technologie", von vornherein aufgenommen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß der naturwissenschaftliche Unterricht auch in Landschulen tatsächlich erteilt werden kann. 162 Solange mußte man in den schlechteren Schulen „mit einem geringeren Maaß der Schulkenntnisse zufrieden sein". 163 Zumindest war aber durch den Philanthropismus im Volksschulwesen am Ende des 18. Jahrhunderts ein verheißungsvoller Anfang gemacht, der weit über den Gothaer Schulmethodus und den pietistischen Einfluß der Pädagogik FRANCKES hinausgeht. Selbst die für die damalige Zeit beachtlichen Reformbestrebungen R O C H O W S werden um vieles übertroffen, denn dieser trennt die naturkundlichen Fächer noch nicht vom Leseunterricht184 und denkt in erster Linie auch an eine Beschreibung von Tieren und Bäumen, weniger jedoch an eine physikalische und technologische Unterweisung im eigentlichen Sinne. In methodischer Hinsicht waren die Philanthropisten die ersten, die sich mit dem systematischen Aufbau eines naturwissenschaftlichen Unterrichts beschäftigten, weil sie die Naturkenntnisse als notwendig zur Menschenbildung gehörig betrachteten. Sie wirkten gerade dadurch „in vieler Beziehung erfrischend, anstoßend und umbildend auf die veralteten Erziehungssysteme". 165 Zahlreiche Schulen schickten sich an, ihre Lehreinrichtung nach dem Muster des Dessauer Instituts zu reformieren. Auch eine Reihe von Gelehrtenschulen bekümmerte sich um die Aufnahme der „gemeinnützigen Kenntnisse" in den Stundenplänen für die unteren Jahrgänge respektive sogar um die Schaffung selbständiger „Bürgerklassen". Diese Entwicklung läßt sich an verschiedenen preußischen Gymnasien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich weiterverfolgen, obwohl sie der sich durchsetzenden Konzeption des Neuhumanismus keineswegs mehr entsprach. In der Unterrichtspraxis knüpft man in einigen Punkten an den Philanthropismus an, und zwar weit mehr als bisher im allgemeinen angenommen wird. Das gilt insbesondere für das Volksschulwesen, dessen Ausformung zu einer Elementarschule in Preußen und Bayern noch jahrzehntelang unverkennbar dem aufklärerischen Denken entspringt. Der Einfluß des philanthropistischen Ideengutes blieb stillschweigend nach wie vor erhalten. In der offiziellen Schulpolitik wurde die ganze Richtung jedoch verpönt. Mit Ausbruch der Französischen Revolution mehren sich die Ansichten, daß es „schlimme Folgen habe, wenn man die Leute zu klug werden lasse, wie man unter andern an Frankreichs Beispiel sehen könne". 166 Aber auch schon vorher war ein „theologischer und politischer Druck" 167 von allen Seiten ausgeübt worden, besonders wegen der freimütigen religiösen Auffassungen. Der Unterricht in den weltlichen Wissenschaften sollte „von der Vermi-
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schung" mit der Religion gänzlich befreit und der Religionsunterricht erheblich eingeschränkt werden. 168 Angesichts der orthodoxen Einstellung weiter Kreise nimmt es nicht wunder, daß gegenüber „einer großen Sache" überall ein „böser Leumund" ausgestreut wurde. Die Philanthropisten galten als „die lebendigen Teufel selbst". 169 Hinzu kommt, daß auf Kosten der alten Sprachen für die Realien besser gesorgt werden sollte. Konservative Philologen begannen deshalb an vielen Orten, achtungswürdige Schulmänner „als Popanze zum Schrecken aller Kinder" zu machen und scheuten nicht davor zurück, sie „als die elendesten litterarischen Lotterbuben zu behandeln". 170 Die Philanthropine gingen mit Ausnahme Schnepfenthals infolge der eintretenden politischen Ereignisse bald wieder ein. Für die Ausführung der ursprünglichen Reformpläne war eine Kontinuität somit nicht gegeben. Eine dauernde Umgestaltung des Schulwesens konnte nicht herbeigeführt werden. Ein Rückschlag ist in der Folgezeit allenthalben spürbar. Dennoch hat gerade der naturwissenschaftliche Unterricht sein Aufkommen und Fortbestehen nicht zuletzt dem tatkräftigen Wirken der Philanthropisten zu verdanken.
KAPITEL IV
Der Streit des Humanismus und Realismus um die Zugehörigkeit des Naturstudiums zum Bildungskanon höherer Lehranstalten in seinen schulgeschichtlichen Auswirkungen zwischen 1790 und 1840 1. Das Verhältnis der neuhumanistischen Pädagogik zur naturwissenschaftlichen Bildung Zu Beginn und im Verlaufe des 19. Jahrhunderts war es für die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Unterrichts von nicht geringer Bedeutung, daß infolge des wirtschaftlichen Aufschwunges die Naturwissenschaften immer größeres Ansehen erlangten. Die Einführung der Dampfmaschine in die gewerblichen Betriebe, der Eisenbahn in das Verkehrswesen, das Aufkommen der Gasbeleuchtung usw. konnten an der Schule nicht spurlos vorübergehen. Dennoch trat zunächst — besonders im Bereich des Gymnasiums — nur bedingt eine Förderung des naturkundlichen Unterrichtszweiges ein, weil sich zusammen mit der neuhumanistischen Erziehungstheorie eine ablehnende Haltung zum Nützlichkeitsprinzip und praktischen Lebensbezug der Allgemeinbildung durchzusetzen begann. Betroffen sind in erster Linie die Naturwissenschaften, die von den Philanthropisten ins Zentrum des Bildungsgeschehens gerückt worden waren. Diese Fächergruppe vermochte ihren Charakter als „sinnliche Materiatur" (HEGEL)1 nicht zu leugnen. Sie wird nun bei der Zuspitzung der Gegensätze zwischen Neuhumanismus und Philanthropismus von NIETHAMMER mit dem Fluch belastet, den „Sinn für Geist und Geistiges" zu verschütten und der allseitigen Menschenbildung in hohem Maße abträglich zu sein, da Realkenntnisse überhaupt wegen ihrer „niedrigen Rücksicht" auf die objektive "Welt angeblich die „ganze bessere Natur" des Menschen als Geisteswesen in Mitleidenschaft ziehen. 2 Hinter dieser Auffassung verbirgt sich eine Bildungskonzeption, die von den philanthropistischen Vorstellungen gänzlich abweicht. Der langwierige Prozeß der Aufnahme naturwissenschaftlicher Kenntnisgebiete im höheren Schulwesen läßt sich im Grunde nur aus der Gegensätzlichkeit der erziehungstheoretischen Standpunkte verstehen. Kennzeichnend für die beginnende Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern philanthropistischer und neuhumanistischer Erziehungsgedanken ist
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neben den Divergenzen in der Einschätzung des Studiums der alten Sprachen vor allen Dingen die unterschiedliche Einstellung zum naturwissenschaftlichen Unterricht. Den Philanthropisten wird vorgeworfen, die Richtung der Geistestätigkeit einseitig auf die „materielle Produktion" gelenkt und „insbesondere physikalische und technische Kenntnisse" in den Vordergrund gestellt zu haben. 8 Dadurch hätten solche Wissenschaften wie beispielsweise „Mathematik, Physik und Chemie" auf Kosten des Altertums „ein entschiedenes Übergewicht" erhalten. 4 Eine Abkehr vom realistischen Bildungsideal der Aufklärung bricht sich Bahn. Die Vernachlässigung der „classischen Form" des Jugendunterrichts zugunsten der Realien gilt fortan schon als Auswuchs eines berufsbezogenen Utilitarismus. Unter diesem Aspekt analysiert NIETHAMMER im Jahre 1808 die pädagogische Situation und beschwört damit das folgenschwere Mißverständnis herauf, daß die Hinneigung zum Sachwissen und zu einer tätigen Lebensvorbereitung als „unfreie Bildung" der „freien Menschenbildung" im Sinne des Humanen widerspricht. 5 Seit dieser Zeit beginnt die Erörterung der strittigen Fragen dann eine äußerst krasse Gestalt anzunehmen und oftmals zu jenem „unnützen Gezänke" auszuarten 6 , das ein ganzes Jahrhundert hindurch die Entwicklung der Gymnasialpädagogik lähmt. Ursprünglich traten die Gegensätze keineswegs so schroff hervor. Philanthropismus und Neuhumanismus stehen anfangs recht versöhnlich nebeneinander, wenn auch hier und dort bei den pädagogischen Diskussionen die tiefe Abneigung schon einmal durchzubrechen droht. PAULSEN kommt deshalb in seiner „Geschichte des gelehrten Unterrichts" zu dem Schluß, „daß zwischen den Philanthropisten und der älteren Generation der Neuhumanisten in vielen und wesentlichen Punkten vollständige Einmütigkeit stattfindet". 7 Die gemeinsame Frontstellung zum überkommenen Schulbetrieb überdeckt vorerst noch die Meinungsverschiedenheiten, die hinsichtlich der bei der Schulverbesserung einzuschlagenden Reformwege bestehen. Übereinstimmung herrscht besonders in der Kritik an der antiquierten Unterrichtsorganisation des althumanistischen Gymnasiums, das im Zeitalter der Reformation sein Gepräge erhalten hatte. Die Einflüsse der Renaissance waren in den Lateinschulen des Mittelalters nicht mehr voll zum Tragen gekommen. Mit den theologischen Streitigkeiten verschwand die Neigung zu den klassischen Studien. Heidnische Autoren wurden nur noch selten gelesen. Das humanistische Ideal der Eloquenz mußte den Bedürfnissen der Theologie wieder weichen. Der Sprachunterricht diente nicht mehr dem Zweck, sich am Stoff der Antike bilden zu wollen und mit der Übung der Geisteskräfte zugleich auch Empfindungen für die Schönheiten der alten Klassiker wachzurufen. Erst dem Neuhumanismus am Ende des 18. Jahrhunderts gelingt es, das Altertum für eine menschliche Persönlichkeitsformung auf-
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zuschließen und die literarisch-ästhetische Betrachtungsweise im altsprachlichen Unterricht durchzusetzen. Zuvor blieb die Schule lateinische Bildungsanstalt, die der Kirche tüchtige Prediger heranzubilden hatte. Christentum und christliche Erziehung zur Festigung des Glaubens bestimmten den „humanistischen" Lehrkurs. Katechismus und lateinische Grammatik füllten den Lehrplan. 8 Griechisch betrieb man am Neuen Testament. In erster Linie aber lernten die Schüler Latein, um sich kirchliche Texte und religiöse Dogmen Wort für Wort einzuprägen und die Glaubensgrundsätze samt ihrer kasuistischen Auslegung sicher zu beherrschen. Das methodische Vorgehen bestand dabei hauptsächlich aus stundenlangem Diktieren und Auswendiglernen. 9 Kein Wunder, daß Philanthropisten und Neuhumanisten in der konsequenten Verurteilung der gesamten Schuleinrichtung durchaus eine gemeinschaftliche Basis finden. Ähnlich wie BASEDOW klagt auch H E R D E R , daß die jugendlichen Seelen mit einem Ubermaß an Religionsunterricht „in ihren blühendsten Jahren jahrein, jahraus gequält werden". 10 Die kirchliche Autorität in Schulsachen und die einseitige Ausrichtung des Schullebens auf religiöse Übungen stehen den Reformbestrebungen des rationalistischen Realismus ebenso entgegen wie den Absichten, die der humanistische Idealismus bei der inneren Umgestaltung der Gelehrtenschule verfolgt. Auch H U M B O L D T spricht später noch davon, daß auf den Gymnasien „die gelehrten Sprachen zu ausschließend getrieben und auf eine Weise behandelt wurden, daß, wenn der Unterricht nicht bis zu Ende verfolgt wurde, die darauf gewandte Zeit fast gänzlich verloren war". 11 Und doch hat sich inzwischen bereits der verhängnisvolle Bruch vollzogen, der jeder Verständigung den Boden entzog. Zu HUMBOLDTS Zeiten sehen die Neuhumanisten in der philanthropistischen Forderung nach „gemeinnützigen Kenntnissen" schon schlechthin „die Inkarnation des bösen Prinzips in der Gymnasialpädagogik". 12 Das Verhältnis zueinander wandelte sich aber erst allmählich. Die älteren Neuhumanisten standen den Anschauungen der Philanthropisten im allgemeinen sehr viel näher und empfahlen oftmals sogar die Aufnahme der Realwissenschaft, besonders ihrer naturkundlichen Disziplinen. Beide Geistesströmungen bringen sich ursprünglich gewisse Sympathien entgegen. Das Anliegen ist das gleiche, nur die Schwerpunkte sind anders gesetzt. Als verbindendes Element zeigt sich lange Zeit hindurch der Reformwille selbst, getragen von einer vernunftbetonten Diesseitsgerichtetheit. Der Vernunftgedanke der rationalistischen Aufklärungsphilosophie und das leidenschaftliche Bekenntnis ROUSSEAUS zur naturgemäßen Erziehung haben gleichermaßen ihre Spuren im Philanthropismus und Neuhumanismus hinterlassen. Unter diesem Aspekt erscheint der bisherige Sprachunterricht als unvereinbar mit den Grundsätzen der Menschenerziehung, als tote Last und nutzlose Zeitvergeudung. Vorschläge zu Neuerungen, vor allem zur Erleichterung des Sprachenstu-
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diums und dessen inhaltlicher und methodischer Gestaltung gibt es in jedem Lager. BASEDOW und seine Schüler sind keineswegs prinzipielle Verächter der Altertumswissenschaft. Für den künftigen Gelehrten halten sie die altsprachliche Ausbildung für unerläßlich. Die Philanthropisten anerkennen den Wert, „den die Alten zur Erlernung der Sprache und zur Bildung der Seele sowohl, als eines richtigen und schönen Verstandes leisten können". 13 Strittiger Punkt jedoch ist die Zeit des ersten Jugendunterrichts, der nach Meinung der philanthropistischen Pädagogen vorwiegend an Sachkenntnissen im Sinne einer nützlichen Lebensvorbereitung zu erfolgen hat. Der Begriff einer „allgemeinen Bildung" wird in diesem Sinne bestimmt. Hier bleibt ein Stachel zurück. In dieser Ausschließlichkeit wollen die philologisch gebildeten Neuhumanisten, denen die Antike mit ihrer Schönheit und Größe als vollendete Menschheitsepoche ans Herz gewachsen ist, die alten Sprachen nicht eingeschränkt wissen. Dennoch räumen die Vertreter des frühen Neuhumanismus den philanthropistischen Auffassungen gewisse Berechtigung ein. Das gilt insbesondere für die Schulpraktiker unter ihnen. Im allgemeinen besteht vorerst Übereinstimmung, daß der altsprachliche Unterricht durch einen sachwissenschaftlichen Lehrgang ergänzt werden müsse. Die Schulordnung von ERNESTI für die Fürstenschulen Meißen, Grimma und Pforta sieht beispielsweise unter den Realien für die erste Klasse auch naturwissenschaftliche Fächer vor. 14 Sicher hat ERNESTI „den neuhumanistischen Schulbetrieb gegen die Basedowsche Pädagogik verteidigt" 15 , indem er Griechisch und Latein ins Zentrum der Gelehrtenbildung gerückt wissen wollte. Das hinderte ihn aber nicht, die „Künste und Wissenschaften" ebenfalls zu bedenken. Die wenig bekannte Schulordnung ERNESTIS für die gewöhnlichen lateinischen Stadtschulen im Königreich Sachsen entspricht eigentlich ganz der philanthropistischen Anschauung, dem künftigen Gelehrten eine umfassende Bürgerbildung mit auf den Weg zu geben. Zur Begründung führt ERNESTI an: „Eben so nöthig ist es auch, daß die Knaben, schon in der frühen Jugend, eine Anleitung zur Kenntniß der Natur, der Erscheinungen des Himmels, der Beschaffenheit der Erde, der Art sie zu bauen, ihrer Gewächse, der Mannigfaltigkeit und des Gebrauchs der Geschöpfe erhalten, und dadurch zu höherer Erkenntniß des Schöpfers geführet werden. Daher sollen die Lehrer alle Gelegenheit ergreifen, ihnen, bei der Erklärung der Schriftsteller, oder der Erdbeschreibung, oder in besonderen Stunden, nur das Brauchbarste davon, zu lehren. Von gleicher Nutzbarkeit wird für die Schulen die Bekanntschaft mit den Künsten und den verschiedenen Arten des Gewerbes, unter den Menschen, sein. Die Lehrer sollen ihnen allgemeine Begriffe davon beibringen, oder selbst mit ihnen die Werkstätte der Künstler besuchen. Dadurch wird mancher Jüngling seine Fähigkeit, ein brauchbarer Künstler zu werden, zeitig entdecken, der sonst spät ein mittelmäßiger Gelehrter geworden wäre. Überhaupt aber sollen die Schüler zu der Kenntniß der bürgerlichen Gesellschaft angeführet, in den verschiedenen Verhältnissen und Pflichten jedes Standes
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Neuhumanismus und naturwissenschaftliche Bildung unterwiesen, zu feinen Sitten und einem wohlgeordnetem Leben ermuntert und zu nützlichen Gliedern des Staats, eben so sorgfältig, als zu brauchbaren Gelehrten, gebildet werden." 16
Eine solche Argumentation hätte eigentlich auch von jedem Philanthropisten stammen können. Der Reformansatz der Neuhumanisten tendiert also zunächst ebenfalls sehr stark dahin, das Gymnasium für eine lebensnahe bürgerliche Bildung zu öffnen, obwohl das Schwergewicht zweifellos weiterhin bei den alten Sprachen liegt. Zu abweichenden Tendenzen kommt es erst später. Noch einen Schritt weiter als ERNESTI geht sein Schüler CH. G. H E Y N E , der nach einem Urteil PAULSENS „während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts unbestritten der Führer auf dem Gebiete der klassischen Studien in Deutschland" war. 17 HEYNES Bestreben richtete sich vollends darauf, die Altertumswissenschaft in eine direkte Beziehung zu den Reformplänen des Philanthropismus zu setzen. In diesem Sinne versuchte er um 1780 das Pädagogium zu Ilfeld und 1798 das Göttinger Gymnasium zugleich in eine voll ausgebaute Bürgerschule zu verwandeln. 18 So segensreich die Tätigkeit HEYNES am philologischen Seminar der Universität Göttingen schließlich für den Neuhumanismus auch geworden ist, so sehr hält doch gerade dieser Gelehrte und Schulmann in der Praxis daran fest, „die Bildung des Menschen und Bürgers" mit der wissenschaftlichen Ausbildung der höheren Lehranstalten zu verknüpfen. Deshalb stellt H E Y N E den Unterricht in den alten Sprachen stets „neben den allgemeinen": „Dieser allgemeinnützige Unterricht, welcher zur Absicht hat, gute Menschen und Bürger zu bilden, ist zusammenhängend und von unten auf fortschreitend." 19 Ähnlich wie zuvor die Philanthropisten begreift also H E Y N E den altsprachlichen Gymnasialkurs vorwiegend in seiner berufsbezogenen Tendenz (in Beziehung „auf die künftige Stelle im gemeinen Wesen"), so daß eine allgemeine Menschenund Bürgerbildung zum üblichen Lehrbetrieb notwendig hinzutreten muß. Der Bedeutung nach wird die Vermittlung von „gemeinnützigen Kenntnissen aus der Naturgeschichte, Naturlehre, aus den Gewerben, Professionen, Künsten, Wirtschaft" als allgemeinbildende Aufgabe der Schule sogar höher eingeschätzt als jede Vorbereitung „zu künftigen academischen Studien", die schon als „besondere" Berufs- und Standesbildung gilt. Unter diesem Aspekt beschäftigt H E Y N E sich mit der Frage, „wiefern das Studium der alten Litteratur überhaupt noch unter uns zu dulden oder ganz bei Seite zu legen ist", und gelangt zu dem Resultat, daß „Naturkunde und Naturlehre" für die Aufgabe einer Menschenund Bürgerbildung prinzipiell gesehen „einen festern Grund brauchbarer Kenntnisse ausmachen, als gelehrte Sprachen und die darinn vor Jahrtausenden abgefaßten Schriften. Ist die Rede von Menschen, die zu der erwerbenden Classe gehören, so kann es gar keinem Zweifel unterworfen seyn, daß ihnen
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jene Kenntnisse nützlicher sind, als diese."20 Aus eben diesem Grunde schlägt HEYNE vor, die größte Anzahl von Lateinschulen in Bürgerschulen zu verwandeln. Die Schulverbesserung der Philanthropisten findet hierin seine volle Zustimmung, zumal die Erziehung seitdem zweifellos „im Praktischen gewonnen" habe. Zu wenig überdacht sei von den „neuern Pädagogen" hingegen der „mächtige Unterschied zwischen der gelehrten und der gemeinsamen bürgerlichen Ausbildung".21 Für die Lateinschule selbst — HEYNE nennt für jedes Land kaum zwei oder drei — müsse das Lesen und Erklären der Alten nach wie vor „ein Hauptgegenstand des Unterrichts" bleiben.22 Die Betonung der alten Sprachen bezieht sich also vorrangig nur auf die Bildung der künftigen Gelehrten. Da aber unter diesen zu Beginn recht „wenige wissen, wozu sie eigentlich bestimmt sind", läßt sich der Gymnasialunterricht nach HEYNES Auffassung nicht anders einrichten, „als daß er einen großen Umfang und Mannichfaltigkeit von Kenntnissen in sich faßt". Die Zuschneidung der Lehrordnung auch auf „die bürgerlichen Verhältnisse" veranlaßt also den Neuhumanisten HEYNE, neben Latein und Griechisch „gemeinnützige Kenntnisse" aus Natur und Kunst ebenfalls zum tragenden „Grundunterricht" der Gymnasien zu erklären. In allen Abteilungen der von HEYNE reorganisierten lateinischen Stadtschule in Göttingen soll ein „gemeinnütziger Unterricht beibehalten" werden, und zwar mit wöchentlich 3 Stunden, angefangen schon beim Lesenlernen und als „höherer gemeinnütziger Unterricht" hinaufgeführt bis in die Abschlußklasse.23 Damit befindet sich dieser Philologe trotz seiner Bemühungen um die humanistischen Lehrfächer und seiner Verdienste auf diesem Gebiet noch ganz in der Reihe jener Pädagogen am Ende des 18. Jahrhunderts, die es als „Bedürfniß der Zeit" empfinden, „durch die Menschen- und Weltgeschichte, durch die Naturgeschichte, die Kunstkenntniß und die Naturlehre" der gesamten Schuljugend geistig und sittlich eine Bildung zur „praktischen Vernunft" zu geben.24 Allerdings sollen die Studien für den „feinen Mann" in der Endkonsequenz eine größere Ausrichtung auf Stoffbereiche aus der Antike erfahren, weil bei der gehobenen Schicht eben weit mehr „auf Gefühl des Schönen, Guten und Wahren Rücksicht zu nehmen ist". 25 Insofern wird gegenüber den Reformabsichten des Philanthropismus aus der Sicht der höheren Schule schließlich eine völlig andere Akzentsetzung verlangt, ohne jedoch die Notwendigkeit einer lebenspraktischen Unterweisung dabei schon grundsätzlich in Frage zu stellen oder deren allgemeinbildenden "Wert je zu bezweifeln. Etwas abgeschwächt gegenüber HEYNE zeigt sich die Tendenz, unter Beachtung des Primats der alten Sprachen zu einer Synthese von Humanismus und Realismus zu gelangen, dann auch noch bei FRIEDRICH AUGUST WOLF. Allerdings wird von ihm der „Gegensatz der neuhumanistischen Gymnasialpädagogik ge-
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gen die pädagogischen Anschauungen des utilitarischen Rationalismus" bereits stärker zugespitzt. 26 Das betrifft in erster Linie aber nur die Bewertung des altsprachlichen Unterrichts. WOLF gilt als Altvater des altsprachlichen Unterrichts. Als Universitätslehrer in Halle (ab 1783) und im Verlaufe seiner späteren Tätigkeit in Berlin (1807—1824) verfaßte WOLF außerdem eine Reihe von Gutachten, Plänen und Entwürfen, die Anregungen zur Neuordnung des höheren Schulwesens geben sollten. Somit hat gerade dieser Neuhumanist mit seinem pädagogischen Wirken erheblichen Einfluß auf die Schulpraxis genommen. Darüber hinaus sind die Lehrer und Direktoren in Preußen zum Zeitpunkt der beginnenden Gymnasialreformen in der HuMBOLDTschen Ära für gewöhnlich „fast alle seine Schüler". 27 Durch WOLF bekommt die Altertumswissenschaft unter den Schuldisziplinen im Hinblick auf die pädagogische Zwecksetzung ein größeres Gewicht. Erstmals wird ihr der Auftrag zur allseitigen und harmonischen Ausbildung von Geist und Gemüt in einem weiter gefaßten Sinne zuerkannt. WOLF erhebt das Griechische zum Vorbild jeder allgemein menschlichen Erziehung. Diese Entwicklung hatte sich schon angebahnt, seit WINCKELMANN über die Kunstgeschichte den griechischen Menschen und seine vollendete Geisteshaltung an den Werken und Lebensformen der Antike wiederentdeckte. Das Erhabene und Schöne der antiken Kultur findet Eingang in die Kunst und Literat u r d e r A u f k l ä r u n g s e p o c h e . H E R D E R , G O E T H E , SCHILLER e r b l i c k e n i n d e r W e l t
der Griechen die Blütezeit wahren Menschentums und das Ideal des Menschheitlichen schlechthin. Von KANT wird die zweckfreie Wertschätzung aller Dinge betont. Auf diesem geistigen Hintergrund modifiziert sich das Vernunftgemäße der rationalistischen Philosophie zum Idealismus, und zwar zusehends unter Abwendung vom Praktisch-Nützlichen, das der inneren Menschennatur in ihrem Streben nach geistig-sittlicher Formvollendung zu widersprechen scheint. Die historisch-philologische Beschäftigung mit dem Altertum gewinnt an Bedeutung. Im pädagogischen Bereich ist WOLF der Mann, der den alten Sprachen den Anschein einer „broterwerbenden Disziplin" 2 8 nimmt und ihnen formelle Selbständigkeit verschafft. HEYNE hatte zuvor — im Einvernehmen mit dem Philanthropismus — den altsprachlichen Unterricht außerhalb der eigentlichen Menschen- und Bürgerbildung gestellt und die Altertumswissenschaft noch ganz im zünftigen Sinne betrieben. Über WOLF dringen jetzt die neuhumanistischen Anschauungen verstärkt in die Pädagogik ein. Das klassische Studium zählt fortan als das Höchste und Wichtigste für die Bildung des Menschen überhaupt. Die Antike wird zum Inbegriff einer durch nichts Gleichwertiges aufzuwiegenden Humanitätserziehung. WOLF selbst hat zu dieser Entwicklung aber zunächst nur den Anstoß gegeben. Wir begegnen bei ihm noch nicht jener abgrundtiefen Verachtung und
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dem Mißtrauen gegenüber den Realitäten des Lebens, einer Einstellung, die für die Neuhumanisten der zweiten Generation kennzeichnend geworden ist. WOLF bemüht sich vielmehr sogar um einen Ausgleich mit der zweckgebundenen Utilität. Diese Haltung charakterisiert besonders seine Tätigkeit im Rahmen der beginnenden Gymnasialreformen. Zwischen der theoretisch in seinen Schriften bekundeten Verherrlichung der Alten und dem nüchternen Blick für die Probleme der Schulwirklichkeit bestehen eklatante Widersprüche. So will WOLF das pädagogische Grundschema der Altertumsbildung keineswegs ausschließlich auf die höheren Lehranstalten übertragen wissen. Nützlichen Sachkenntnissen werden im Gegenteil erhebliche Konzessionen eingeräumt. Dementsprechend sind die Ausstellungen an der BASEDOWschen Lehrweise sehr zurückhaltend, eher ausgleichend und vermittelnd: „Der gelehrte Unterricht ging bei der neuen Methode verloren, obgleich sie manches Gute enthielt." 2 9 In der Endkonsequenz weist die von WOLF als Muster für ein neuhumanistisches Gymnasium ausgearbeitete Stundentafel umfassende Realkenntnisse und auch die naturkundlichen Unterrichtsgegenstände aus. Vor die Aufgabe gestellt, praktische Vorschläge zur Reorganisation der Unterrichtsverfassung des Joachimsthaler Gymnasiums zu machen, entwarf WOLF im Jahre 1809 einen ausführlichen Lektionsplan, den er zur Nachahmung empfahl. 30 Für die Schulgeschichte des Neuhumanismus ist die von WOLF getroffene Anordnung und Verteilung der Fächer höchst bedeutsam, zumal sie den damals verantwortlichen Schulpraktikern wertvolle Anhaltspunkte zu bieten vermochte. Hinsichtlich der Lehrplanung bestand für die einzelnen Gymnasien noch jahrzehntelang Freizügigkeit, so daß die innerschulische Regulierung weitgehend eine Ermessensfrage des zuständigen Lehrerkollegiums war. 3 1 Der Einfluß WOLFS konnte sich somit ungehindert ausbreiten. Von ihm selbst wurde die Möglichkeit durchaus ins Auge gefaßt, mit dieser Lehrordnung eine allgemeingültige Norm für das höhere Schulwesen insgesamt zu schaffen. 32 Um so mehr interessiert im Verlaufe der weiteren Darlegungen ein Vergleich mit solchen Stundenplänen, die aus der voraufgegangenen Philanthropistenzeit stammen. 33 Die Unterschiede sind im Prinzip nämlich gar nicht so erheblich. WOLF greift in schulpraktischen Fragen weitgehend auf Grundsätze des Philanthropismus zurück. Während er in seinen literarischen Abhandlungen mehrfach betont, daß der Gymnasialunterricht „besonders auf die Alten Rücksicht nehmen" müsse, weil eben dies die „angemessenste Uebung" sei, „die Gewandtheit des Geistes" zu fördern und „den reinen Geschmack und eine richtige Beurtheilungskraft" zu bilden 34 , verleiht er demgegenüber nun trotzdem den Realien bis zur Tertia hinauf das Übergewicht. Von ihm wird ein gemeinschaftlicher Lehrkurs für „Bürger und Gelehrte" vorgesehen. Der humanistische Zweig des Gymnasiums beginnt seinem Wunsche entsprechend (wie bei BASEDOW) erst
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nach dem 15. Lebensjahr. Diese obere Stufe soll dann jedoch als „geistige Ringerschule, geadelt durch Studium der Alten", rein erhalten bleiben.35 Mit Ausnahme von Latein verlagert sich der gesamte altsprachliche Unterricht schwerpunktmäßig in die letzte Ausbildungsphase. Genau das aber hatten die Philanthropisten schulorganisatorisch gewollt. Die für den geplanten Aufbau des Gelehrtenschulwesens vorgetragenen theoretischen Begründungen lassen bei W O L F gleichfalls eine enge Anlehnung an die philanthropistische Pädagogik erkennen. Aus begründeter Überzeugung heraus hat W O L F stets „zwischen dem ältern und dem heutigen modischen Wege eine Mittelstraße gesucht".36 Diese „Mitte" bezieht sich bei ihm sowohl auf die Schulstruktur als auch auf die Anordnung der Fächer. Schon die Fragestellung als solche besitzt verschiedene Aspekte. Nach außen wird der Trennungsstrich nach der vierten Klasse gezogen. Drei weitere Klassen (Dauer mit Doppelkursen insgesamt 5—6 Jahre) zur speziellen Vorbereitung auf das Universitätsstudium folgen. Zu diesem Zeitpunkt soll eine Trennung aber in jedem Falle eintreten. Wo die Umstände es nicht gestatten, den Gymnasialkursus von Realschülern zu befreien, schlägt W O L F deshalb vor, sich mit Dispensationen und Parallelstunden zu behelfen. Die Möglichkeit einer Weiterführung auch des realistischen Zweiges ist also grundsätzlich offen. Mit dieser Regelung trägt W O L F dem Mangel an Realschulen Rechnung. Vorauf geht für beide Richtungen der „gelehrte Elementar-Unterricht". Auch bei der Organisation des Unterrichts beschreitet W O L F den „Mittelweg". Das Problem wird dahin gehend angepackt, den aufgebauschten Fächerkanon nach innen gerichtet zu komprimieren. Kürzungen betreffen dabei die alten Sprachen genauso wie bestimmte naturwissenschaftliche Bereiche.37 Solche Konzentrationsbestrebungen bewegen die Gymnasialpädagogik während des ganzen 19. Jahrhunderts. Allerdings war man später weit eher geneigt, der zunehmenden Stoffülle auf Kosten der naturkundlichen Disziplinen Herr zu werden. W O L F indes ließ keinen Zweifel daran, daß Naturkenntnisse notwendig „zu der allgemeinen Bildung erforderlich sind".88 Allgemeine Bildung ist für ihn demnach noch nicht gleichbedeutend mit der Hinwendung zum Altertum, obwohl er zweifellos dazu beigetragen hat, die Akzente anders zu setzen. Spätere Neuhumanisten berufen sich gern auf ihn. W O L F selbst hat aber nur die besondere Qualität des mit dem Sprachenstudium gegebenen Mittels hervorheben wollen, „dem Menschen eine allseitige Bildung seiner edelsten Kräfte" zu verschaffen.39 Demzufolge mißt er den Naturwissenschaften — dieser durchaus neuhumanistischen Grundhaltung entsprechend — letztlich geringe erzieherische Bedeutung bei, denn „der läuft auch gründlich, der nicht gerade die Gesetze der Bewegung kennen lernt".40 Dieser Unterschied zu den Auffassungen der Philanthrop isten muß festgehalten werden.
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Dennoch entschließt sich W O L F wohlweislich zur Beibehaltung der naturwissenschaftlichen Fächer, und zwar selbst noch in der Oberstufe des Gymnasiums, deren humanistischen Charakter er ausdrücklich gewahrt haben will. Ziel und Anliegen ist „Beförderung gründlicher Gelehrsamkeit". Dazu gehört es unbedingt, aus der Naturkunde „einen solchen Vorgeschmack zu geben, der das Nachdenken auch auf diese Arten von Gegenständen leiten, und den Schüler mit den Hauptbegriffen über dieselben bekannt machen kann". Im einzelnen werden von W O L F hierbei aufgezählt: „Naturhistorie, theils der sogenannten drei Reiche, theils besonders des Menschen, nebst ersten allgemeinen Begriffen der Physik und vielleicht auch der Chemie." 41 Auf die Chemie leistet W O L F später Verzicht, niemals aber auf Naturgeschichte und Physik, für deren Aufnahme bei den Abiturprüfungen er später sorgt. Die Schüler sollen beim Verlassen des Gymnasiums immerhin ihre Befähigung erweisen, in den Naturwissenschaften „unzweideutige Beweise von höherem Streben nach Kenntnissen und Einsichten" zu liefern.42 Diese Entscheidung trifft W O L F aus mehreren gewichtigen Gründen. Die Einführung des naturkundlichen Unterrichtszweiges ergibt sich für ihn im Grundsätzlichen schon aus der Stellung des Gymnasiums zur Universität. Eine höhere Schule hat alle Wissensgebiete zu lehren, „die nach dem Urtheil jedes einsichtsvollen Gelehrten zum fruchtbaren Besuch der Universität notwendig sind". Zu diesem „Grund echt gelehrter Ausbildung" rechnet W O L F neben alten Sprachen „in Ansehung anderer Kenntnisse hauptsächlich die historischen, mathematischen und naturwissenschaftlichen". „Von alledem" dürfe „gar nichts fehlen". 43 Andere Überlegungen ergeben sich aus den unterschiedlichen Anforderungen, die an höhere Berufe — akademische und nichtakademische — zu stellen sind. Wer nicht studieren will, braucht die alten Sprachen nicht zu erlernen. Nicht einmal für Studierende bestehe Zwang, die Schule des Altertums gänzlich zu durchlaufen. Griechisch sei von der Sache her eigentlich nur für künftige Gymnasiallehrer und Theologen obligatorisch zu machen. Trotz aller Wertschätzung gerade des Griechentums und der antiken Welt richtet sich der Kenntnisbedarf in erster Linie doch nach der künftigen Tätigkeit. Der Schule gegenüber denkt W O L F streng sachbezogen und stellt durchaus Erwägungen im Hinblick auf den Nutzen an. Die für den Neuhumanismus an sich typische Verklärung des Idealen und Wünschenswerten ist bei ihm noch keineswegs zu finden. ist also besonnen genug, für „Gebildete" auch eine intensive Beschäftigung mit der realen Welt gelten zu lassen. Niemand soll „ohne gründliche Kenntnisse der Wissenschaften" zu „praktischen Geschäften" übergehen, um nicht eine „einseitige Bildung" zu empfangen und „bloßer Routine" zu verfalWOLF
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len. 44 Deshalb befürwortet WOLF „sogenannte Realschulen", die einen „ausführlichen Unterricht in solchen Kenntnissen" zu übernehmen hätten. 4 5 D a aber die Möglichkeit zu einer derartigen Verzweigung der Bildungswege — örtlich bedingt — äußerst selten bestand, zieht WOLF die sachkundlichen Fächer pyramidenförmig mit in den Gymnasialkurs hinein. M i t dieser Problematik hat die Gymnasialpädagogik fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch gerungen. Der Mangel an zweckmäßigen Realschulen konfrontierte die höheren Lehranstalten schulpädagogisch mit einer Situation, an der sich die Unzulänglichkeit des klassischen Bildungsideals für die rauhe Wirklichkeit erwies. WOLF bot als Ausweg aus dem Dilemma bereits zu Beginn der neuhumanistischen Reformbestrebungen den praktischen Lösungsversuch an. 4 9 HUMBOLDT nahm den entgegengesetzten Standpunkt ein. Inzwischen hatte sich aber im Denken der Neuhumanisten verstärkt die Anschauung festgesetzt, daß der „allgemeine Unterricht" jede Rücksichtnahme auf „das Bedürfnis des Lebens" als „unrein" weit von sich abzustreifen habe. 4 7 Realkenntnisse gelten für den Erziehungsauftrag der Gymnasien unter diesem Aspekt prinzipiell nicht mehr als opportun. Der naturwissenschaftlichen Bildung, die eine Orientierung des Menschen in der realen Welt postuliert, drohen jetzt ernste Gefahren. HUMBOLDT klammert die „Welt der Natur" aus dem Bildungsgeschehen aus und betont demgegenüber die „Bildung des Selbst". 4 8 Bedeutung besitzt nur, was darauf angelegt ist, dem Menschen die allseitige und harmonische Entfaltung seiner Individualität zu gestatten. Wie HUMBOLDT Weltbegegnung als fortgesetzten Prozeß der Spannung zwischen Natur und Idee beim Werden des Menschen aus sich versteht, hat zuletzt MENZE in einer umfassenden Untersuchung über „HUMBOLDTS Lehre und Bild vom Menschen" dargelegt. Nur die Bereiche des „Menschlichen" und „Kulturellen" gewähren als „Bildungswelten" die substantielle Ausprägung der Innerlichkeit, die sich als individualitätsgemäße Form von Geist und Gemüt im Sinne einer Steigerung des Seins zur Idealität vollzieht. 49 Am vollkommensten aber offenbart sich das Menschheitliche in seiner ursprünglichen und reinen Gestalt im Griechentum und in der antiken Welt. In der Griechenverehrung weiß HUMBOLDT sich mit WOLF einig. Darüber haben beide oft miteinander korrespondiert. Ihre Ansichten bezüglich der auf Gymnasien zu lehrenden Unterrichtsgegenstände sind jedoch keineswegs identisch. Diese Differenz beeinflußt aber in der Folgezeit die Konstellation der beginnenden Gymnasialreform. Das HuMBOLDTsche Bildungsideal prägt die neuhumanistische Gymnasialpädagogik und setzt sich dann im wesentlichen in der Erziehungstheorie durch. Trotzdem gewinnt in der Schulpraxis der von WOLF eingeschlagene Weg weiter an Boden. Namentlich die preußische Unterrichtsverwaltung und die Direktoren der preußischen Gymnasien sind der Version
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HUMBOLDTS eigentlich niemals so ganz gefolgt. Bis zum WiESEschen Lehrplan von 1856 gab es in Preußen in den einzelnen Klassen der Gymnasien eigentlich stets 2 Wochenstunden naturkundlichen Unterricht. Der Einfluß HEGELS tat ein übriges. HEGEL war 1818 einem Rufe nach Berlin gefolgt und begründete nun seine epochemachende Philosophie. Unter seinen Hörern und begeisterten Anhängern befand sich JOHANNES SCHULZE, der in dem neuerrichteten Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten als vortragender Rat die Angelegenheiten der höheren Schulen zu regeln hatte. SCHULZE übernahm die HEGELsche These, daß „naturhistorische, technologische und dergleichen Kenntnisse" vom Lehrplan nicht gänzlich gestrichen werden dürften, weil sie einmal „einen Werth an und für sich haben" und zum anderen die Schule als Institution in „ein Verhältnis zur wirklichen Welt" zu stellen sei.50 Mit einer solchen Konzeption durchbrechen die Hegelianer die neuhumanistische Erziehungslehre ebenfalls im entscheidenden Punkt, so daß man die Hinwendung zu einer lebensorientierten naturkundlichen Unterweisung als Auftrag der Schule — zumindest in Unterordnung zum humanistischen Bildungsanliegen — erneut zu sehen begann.51 Schulgeschichtlich trifft diese Linie, die ihre Verkörperung zwischen 1818 und 1840 in den Maßnahmen der preußischen Schulbehörde findet, genau mit der von WOLF projektierten „Mittelstraße" zusammen, die den zählebigen Aufklärungsideen in einer auf die besondere Situation des Gymnasiums zugeschnittenen Form den Eingang zur Schule wieder geöffnet hatte. Bei der Förderung der naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer besteht zwischen beiden Richtungen aber kein signifikanter Unterschied. Die abweichende Tendenz gegenüber dem voraufgegangenen philanthropistischen Ansatz läuft im Prinzip auf das gleiche hinaus: Vorrang hinsichtlich ihrer bildungsmäßigen Relevanz besitzen nicht die Naturwissenschaften als Schuldisziplinen, sondern mit weitem Abstand die im Kreis der Humaniora vereinigten Studien des klassischen Altertums. Auch WOLF sieht die Dinge nicht anders. Die Gewichtung nach dieser Seite hin liegt von vornherein fest. Realien erscheinen stets in der Funktionsgestalt zu duldender „Nebenfächer". Nach HUMBOLDT besitzt der Unterricht für „gelehrte Schulen" — bekanntlich gerade unter Ausschluß nützlicher Naturkenntnisse — nur ein philologisches, historisches und mathematisches Interesse.52 WOLF hingegen lehnt Sachwissen keineswegs prinzipiell ab, wohl aber die „überhand nehmende Oberflächlichkeit und Vielwisserei".58 Bei ihm herrscht also noch „maßvolle Vorsicht", wie SPRANGER es sagt54, ja man kann nach genauer Prüfung der WoLFschen Pläne und Gutachten zur Organisation des Unterrichts sogar eher geneigt sein, ihm verbindliche Konzilianz gegenüber den Realien und dem Problem einer realistischen Bildung zuzugestehen. Anders läßt sich die bei der Lehrplanung getroffene „Mitte" sonst nicht begreifen.
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Der humanistische Charakter des Gymnasiums wird von WOLF lediglich in der aufbauenden Oberstufe gewahrt. Demgegenüber erhält der „gelehrte Elementar-Unterricht" bis zum 15. Jahr ein ausgesprochen realistisches Gepräge. Griechisch setzt überhaupt erst in der letzten Klasse (IV) der gemeinsamen Bürger- und Gelehrtenbildung ein, und zwar propädeutisch mit 3 Wochenstunden. Jedoch ist die Trennung zwischen den Stufen keineswegs endgültig, vielmehr ausgewogen und mit gewissen Übergängen ausgestaltet. So werden die Realien und neueren Sprachen ebenfalls nach oben weitergeführt, letztere versehen mit einer geringfügigen Erhöhung der Stundenzahl und ausgeweitet im Fächerangebot. 65 Erhebliche Einschränkungen erfahren hingegen Naturgeschichte, die „sogenannten gemeinnützigen Kenntnisse" sowie „VerstandesUebungen", die mit Ausnahme der Naturgeschichte ganz in Wegfall kommen. Geographie und Geschichte behalten jedoch während der ganzen Schulzeit mit je 2 Wochenstunden ihre Kontinuität. Bei näherem Hinsehen fällt der trennende Gesichtspunkt ins Auge. Die Verlagerung des Schwergewichts innerhalb der beiden Stufen des Gymnasiums vollzieht sich deutlich als Wechsel von der betont naturwissenschaftlich-technischen zur betont humanistischen Bildung. Die eben genannten „gemeinnützigen Kenntnisse" (gegen die sich der Kampf der Neuhumanisten ja in allererster Linie richtet!) und die „Verstandesbildung" fallen nämlich ganz in den Bereich von Naturwissenschaft und Technik. WOLF bestimmt die Aufgabe dieser Lehrfächer dahin gehend, „allgemein nützliche Vorkenntnisse" mitzuteilen, und nennt beide in einem Atemzug unter dieser Rubrik. Vorgesehen sind im einzelnen Gegenstände der „Naturkenntniss, der Natur des Menschen, aus Handwerkskunde, gemeiner Mechanik, höherer Technik, anderer Technik". 58 Unterschieden wird lediglich der methodische Behandlungsaspekt, der im Falle der Verstandesübungen mehr auf der Schulung des Denkens liegt, zu der nützlicher Stoff als Material „fragmentarisch beizubringen ist". Zugleich aber soll in diesen Unterrichtsveranstaltungen das Wissen selbst weiter vermehrt werden. Überhaupt legt WOLF auf „gemeinnützige Kenntnisse" größten Wert, denn sonst bliebe mancher Schüler „bei allem Lateinischen und Griechischen immer in großer Unwissenheit". 57 Anders haben zuvor die Philanthropisten auch nicht argumentiert, um die alten Sprachen aus der Anfangsphase der Ausbildung an höheren Schulen zurückzudrängen. Die Lehrordnung für den Aufbau des Gymnasiums zeigt im einzelnen nun folgendes Bild. Unsere Auswertung erstreckt sich auf eine Gegenüberstellung der jeweils im Zentrum stehenden klassischen oder naturwissenschaftlich-technischen Fächergruppe. In den drei Oberklassen — berechnet auf die Gesamtschulzeit — entfallen pro Klasse und Jahr wöchentlich durchschnittlich 15 Unterrichtsstunden auf Latein und Griechisch. Demgegenüber wird 1 Lektion in Naturge-
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schichte oder Physik erteilt. Ausgedehnt auf sämtliche Realien (Durchschnitt: 5 Std.) und den neusprachlichen Kurs (Durchschnitt: 2,5 Std.) ist die Proportion von traditionell-humanistischer und moderner sprachlich-realistischer Bildung annähernd 2:1. Mit einer ganz leichten Verschiebung zugunsten des Naturstudiums, das später gewöhnlich 2 Wochenstunden ausmacht, also im Ergebnis der schulgeschichtlichen Entwicklung erhöht worden ist, entspricht das WoLFsche Gymnasium allein in seinem Oberbau etwa schon dem Stand, der in Preußen, Sachsen, Hessen und Baden am Ende des 19. Jahrhunderts (Stand: 1884) dann tatsächlich erreicht worden ist. Mit einem Gesamtverhältnis von nahezu 3:1 liegen die Dinge in Bayern und Württemberg aber selbst zu dieser Zeit noch bei weitem schlechter.58 In Bayern ist der Anteil der Naturwissenschaften mit nur insgesamt 3 Stunden Physik bei gänzlichem Fehlen der Naturgeschichte sogar erheblich geringer. Bei den bisherigen Berechnungen wurden die unteren Klassen VII—IV bei W O L F noch vernachlässigt, um einen Vergleichsmaßstab zur Einschätzung des rein humanistischen Zweiges zu gewinnen. Es muß in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, daß es nach Erlaß der Realschulordnung 1832 — wenn auch keineswegs in ausreichendem Maße — ersatzweise bald Oberrealschulen und Realgymnasien gab. Wertet man den Schulaufbau insgesamt, tritt eine sichtliche Verschiebung ein, denn gerade die ersten vier Schuljahre sollten ja nach der Vorstellung W O L F S die Betreuung von Realschülern mit übernehmen. Mit einer Gesamtsumme von wöchentlich 80 Unterrichtsstunden (die Prima nur zweijährig berechnet, weil das den späteren Verhältnissen entspricht) in modernen Fremdsprachen und Realien auf der einen und 95 Unterrichtsveranstaltungen in den altsprachlichen Fächern auf der anderen Seite übertrifft das 1809 von W O L F als Modell für die neuhumanistiscbe Schulreform entworfene Schema alle Erwartungen. Gemessen an der späteren Entwicklung steht das Gymnasium in dieser Form — abgesehen von der Ausdehnung des Anteils eines speziell betriebenen naturwissenschaftlichen Unterrichts — eigentlich unerreicht da. Zum Beweis für diese Behauptung seien die in Preußen gültigen Normalpläne für das Gymnasium angeführt 69 :
Zeitpunkt
Alte Sprachen
Realien und neuere Sprachen
WOLF 1 8 0 9
95
80
1816 1837 1856 1882
112 128 128 117
45 42 48 67
Naturkunde .n , 10 +
4 Gem. Kennt. 5 Verst. Obg. 18 16 6 18
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Betrachtet man die vereinigten Bürger- und Gelehrtenklassen isoliert für sich, so ergibt die Aufschlüsselung der WoLFSchen Lektionsanordnung ein umgekehrt proportionales Verhältnis zwischen den klassischen Studien und der neusprachlich-naturwissenschaftlichen Fächergruppe von annähernd 1:2. In Vorschlag gebracht sind 17 Stunden Latein und 3 Stunden Griechisch, im Schnitt also 5 altsprachliche Unterrichtslektionen pro Woche und Klasse. Mit 37 Planstunden in Französisch (8), Geographie und Geschichte (15), Naturgeschichte (5), gemeinnützigen Kenntnissen (4) und sachbezogenen Verstandesübungen (5) tritt eine sichtliche Verschiebung zur anderen Seite hin ein. Die Anzahl derjenigen Lehrveranstaltungen, in denen naturkundlich-technologisches Wissen vermittelt wird, beträgt 14 Wochenstunden. Auf die Einzelklasse entfallen dabei durchschnittlich 3,5 Lektionen, die „allgemein nützlichen Vorkenntnissen" und der reinen Naturbeschreibung dienen. Damit übertrifft WOLF in dieser Stufe das spätere reguläre Gymnasium. Die Stundenverteilung in den Klassen VII—IV gleicht bei WOLF in gewisser Beziehung eher dem Typ des späteren Realgymnasiums, das ja keinesfalls als lateinlose Schule gedacht worden war. Im gleichen Zeitraum des Schulbesuches bietet beispielsweise das „Cölnische Realgymnasium zu Berlin" nach einem Bericht aus dem Jahre 1833 neben 16 Stunden Latein auch nur 10 naturkundliche Fachstunden (Naturbeschreibung) und keinesfalls bedeutend mehr an Realien oder Fremdsprachen. Die Gesamtsumme für die realistisch-neusprachlichen Disziplinen beträgt insgesamt 42 Wochenstunden. Dabei hatte sich gerade diese Schule bei ihrer Gründung 1827 das Ziel gestellt, „gleichsam als Versuch" dafür zu fungieren, „ob die höhere Geistesbildung mit vorherrschenden mathematischen und Naturwissenschaften eben so zu erreichen steht, als bei vorherrschenden klassischen Altertumswissenschaften".90 Da eine Reihe von Realschulen ihren Lehrkurs ohne Latein aufbaute, galt das „Cölnische Realgymnasium" dann als „Mittelding zwischen Gymnasium und Realschule". 61 Einen solchen Schultyp als Unterstufe der höheren Lehranstalten einzurichten, entsprach genau den Intentionen, die WOLF zu Beginn der neuhumanistischen Gymnasialreformen mit seiner „Mittelstraße" aufgegriffen hatte und bezweckte. Die Organisation des „gelehrten Elementar-Unterrichts" läßt bei WOLF eine deutliche Nähe zum Philanthropismus erkennen. Selbst die seitens der Neuhumanisten gewöhnlich überaus abfällig beurteilten „gemeinnützigen Kenntnisse" finden ihre Verankerung in seinem System. WOLF hat den Wert einer lebenspraktischen Unterweisung für den Gelehrten durchaus zu schätzen gewußt. Die an sich für den Neuhumanismus typische Antithese zu den Bildungsbestrebungen des Philanthropismus hat sich bei ihm demnach noch nicht in aller Schärfe herausgebildet. Angelpunkt ist auch für WOLF der Schulabschnitt bis zum 15. Jahr, der einer gemeinsamen Ausbildung von Bürgern und Gelehrten
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dienen soll. Hier bedenkt er nützliches und brauchbares Wissen mit. Ein Vergleich mit den Lektionsordnungen der philanthropistischen Zeit wird nun allerdings durch gewisse Abweichungen in den Planungsgrundsätzen erschwert. Den Bedürfnissen einer Erziehungsanstalt folgend, in der Zöglinge verschiedenen Alters und mit unterschiedlicher Vorbildung aufgenommen wurden, mußten am Dessauer Philanthropin einheitliche Tages- und Wochenpläne gestaltet werden, die nach Bedarf dann horizontal oder vertikal eine Ausdehnung fanden. Die Klassenabteilung änderte sich von Fall zu Fall und richtete sich nach der Schülerzusammensetzung. WOLF hingegen projektiert aus der Sicht des vollausgebauten Gymnasiums. Insofern sind genaue Berechnungen unmöglich. Vergleichsmöglichkeiten bestehen nur hinsichtlich des Unterrichtsangebots selbst. Im Nachlaß der Philanthropisten waren zwei handschriftliche Lektionsverzeichnisse aufzufinden. 62 Diese Unterlagen gewähren uns Einblick in das tägliche Unterrichtsgeschehen. An Realien und neueren Sprachen sind vorgesehen: 2 Stunden Physik, 4 Stunden Naturgeschichte, jeweils 3—4 Stunden Englisch und Französisch
sowie
allmorgendlich
auf der Grundlage
des
BASEDOWSchen
Elementarwerks Gegenstände, die sich um die dort aus den verschiedenen Lebensbereichen abgedruckten Kupfertafeln gruppierten 63 , in etwa also den gemeinnützigen Kenntnissen entsprachen. Mit dieser umfassenden Orientierung auf eine lebensnahe Unterweisung hält WOLF natürlich als Neuhumanist nicht Schritt. Er hat zudem auch nicht den ganzen Tagesablauf zur Verfügung. Die Philanthropisten planen 10 Stunden, WOLF hingegen nur 5. Schon diese Tatsache läßt eine sichere Bewertung kaum zu. Ein Sachverhalt sticht jedoch augenfällig heraus: Es gibt am Dessauer Philanthropin täglich (6 Stunden in der Woche) Latein! WOLF schraubt dieses Fach trotz seines neuhumanistisch orientierten Ausgangspunktes — die Quellen beweisen es — mit 4 Lateinlektionen in der Woche also erheblich weiter herunter als die Philanthropisten. Das Angebot an Altertumspflege bis zur Tertia hinauf ist für den einzelnen Schüler 84 in Dessau mithin größer, als es zu Beginn des 19. Jahrhunderts dann der immerhin recht einflußreiche WoLFsche Entwurf für den gleichen Zeitraum des Schulbesuchs am neuhumanistischen Gymnasium vorsieht. Selbst wenn Griechisch hinzugezählt würde, liegt der stundenmäßige Anteil des altsprachlichen Unterrichts mit 5 Wochenstunden immer noch unter dem Durchschnitt des Dessauer Philanthropins. Aus diesem Befund haben wir Schlüsse zu ziehen. Es genügt nach unserer Auffassung nicht, angebliche philanthropistische Nützlichkeitsapostel von den Sachwaltern der Humanität nur nach den literarisch bekundeten Meinungsäußerungen unterscheiden zu wollen. Die schulgeschichtlichen Quellen sprechen eher dafür, daß die erziehungstheoretisch gesetzten Linien sich in der Schulpraxis überkreuzen. Nachwirkungen der rationalistischen Aufklärungspädagogik greifen tief in die neuhumanistische Reformbewe-
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gung hinein und formen diese zumindest schulpädagogisch mit aus. Wie wir noch darlegen werden, sticht im Schulalltag — verkörpert im Tun der Gymnasiallehrer und Direktoren — das Verbindende zur „Mitte" hin weit stärker hervor, als es auf den ersten Blick scheinen mag, weil in den Phasen der Schulkämpfe das Streitgespräch zwischen Humanismus und Realismus nach außen gekehrt unerbittlich und mit großer Heftigkeit stets von neuem entbrennt. Jede einseitige und nur ideengeschichtlich abgestützte Interpretation hält einer quellenkritischen Sichtung des schulgeschichtlichen Materials kaum stand, wenn nicht zugleich die Reflexion der pädagogischen Strömungen in der Schulwirklichkeit mitgesehen wird. Aufgrund der gegebenen Verhältnisse und Bedingungen sowie der an die Schule gestellten Anforderungen folgt die Schulpraxis im Entwicklungsverlauf außerdem ihren eigenen Gesetzlichkeiten. Daraus erklären sich die oftmals sehr weitreichenden Widersprüche, die zwischen Theorie und Praxis eigentlich immer anzutreffen sind. So mag denn das Urteil verstanden werden und auch wohl gerechtfertigt sein, welches KÖRTE 1835 mit der Herausgabe des WoLFschen Nachlasses verband, daß nämlich das von WOLF entworfene Gymnasium „den Bedürfnissen der Zeit" durchaus angemessen gewesen sei und selbst nach Jahrzehnten immer noch entspräche. 65 Noch etwas anderes verdeutlicht sich aus den schulgeschichtlichen Quellen. Bei WOLF liegt zugleich der Schlüssel für den verblüffenden Tatbestand, daß das schulpraktische Geschehen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts teilweise „realistischer" verlief, als es angesichts der formgebenden pädagogischen Grundanschauungen des Neuhumanismus im höheren Schulwesen hätte überhaupt eintreten können. Die neuhumanistische Gymnasialpädagogik bleibt vielerorts bloße literarische Kategorie, deren Wunschdenken auf Reinerhaltung der klassischen Studien sich mit den objektiven Notwendigkeiten nicht in Einklang setzen läßt. Das „Gute" der philanthropistischen Forderungen, von WOLF SO empfunden, ging eben doch nicht überall verloren. Aus dem Betrachtungswinkel der Schulgeschichte kehrt sich manches um. Die Auseinandersetzung zwischen Humanismus und Realismus wird nicht so sehr deshalb vom Zaun gebrochen und geführt, weil die Realisten der naturkundlichen Fächergruppe in der Schule nun endlich auch ihren Platz verschaffen wollen. Den Auftakt bildet vielmehr das zunächst von spätneuhumanistischer Seite vorgetragene Bestreben nach Wiederausscheidung des in dieser Hinsicht inzwischen bereits Erreichten. Gemessen an den einmal gefaßten Erziehungsgrundsätzen erschien die naturwissenschaftliche Fächergruppe gegenüber den Humaniora als ausgesprochener Fremdkörper. Wir dürfen in diesem Zusammenhang die (in den bisherigen Darlegungen bewiesene) Tatsache nicht außer acht lassen, daß die älteren Neuhumanisten ERNESTI, HEYNE und WOLF allesamt in ihrem praktischen Wirkungsbereich nach Kräften dazu beigetragen haben, Naturkunde und „ge-
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meinnützige Kenntnisse" dem Lehrplan der höheren Schulen ebenfalls einzuverleiben. Sie befinden sich in dieser Beziehung noch ganz auf der vom Philanthropismus ausgehenden Linie. Später erst, als der Ausscheidungsprozeß an einigen Orten gelingt, verschieben sich dann die Fronten. Nicht überall war dem Neuhumanismus dieser zweiten Periode aber voller Erfolg beschieden. Große Teile der Lehrerschaft wünschen nämlich trotz der „Verschiedenheit der Ansichten" die Einigung „in einem erfreulichen Mittelpunkte". In diesem Sinne — so berichtet FRIEDEMANN 1829 — sei in vielen Gymnasien manches aus den Reformvorschlägen der Philanthropisten stillschweigend übernommen beziehungsweise beibehalten worden: „Die Wahrheit ging aus den Extremen, wie immer geläutert hervor, und selbst die Gelehrtenschulen, um sich von manchem gerechten Vorwurfe zu befreien, hatten im Stillen das Bessere aufgenommen."'® Die Gründe für diese Haltung entspringen oftmals unterschiedlichen Motiven. Sie sind sowohl theoretischer als praktischer Natur. Immerhin bietet das Erscheinungsbild der Praxis den Verfechtern der neuhumanistischen Erziehungsideen häufig Anlaß zu Klagen, daß das „Sträuben gegen den Ernst der klassischen Schulbildung im Allgemeinen noch nicht überwältigt" zu werden vermochte.67 Umgekehrt wird von der auf Verbindlichkeit bedachten Gegenseite als Antwort darauf dann jedoch behauptet, daß sich die „wohl verwahrte Burg der philologischen Gymnasialstudien" ständig „durch neuere Befestigungssysteme" abzuschirmen sucht.88 Der „Kampf zwischen Humanismus und Realismus" ist also während dieser schulgeschichtlichen Entwicklungsphase „noch nicht ausgekämpft". 99 Wie bereits angedeutet, zwang die bestehende Situation im Gymnasium selbst unabdingbar zu Konzessionen. Besonders schwerwiegend aber wirkte sich der Umstand aus, daß die meisten Schüler das Schulziel nicht erreichten und gar nicht zum Universitätsstudium strebten. Das Gymnasium sah sich mit der Abwanderung seiner Schüler in bürgerliche Berufe konfrontiert, und zwar in einem Ausmaß, das heute unvorstellbar erscheint. In den Jahren 1834 und 1835 waren es allein in Preußen rund vier Fünftel aller statistisch erfaßten Schulabgänger, die nach Verlassen der Schule einer praktischen Tätigkeit nachgingen. Das zeigt folgende Ubersicht70: Jahr
Land oder Provinz
1834
Königreich Preußen Preußen Pommern Westfalen
1835 1835 1835
Anzahl der Schulen
Abgänge
Universität
andere Berufe
113
5990
1052
4938
13 6 11
396 154 127
50 33 18
346 121 109
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Angesichts dieser Lage vermochte niemand die Augen davor zu verschließen, daß für das Gros der Schüler, bezogen auf die im Leben dann tatsächlich ausgeübte berufliche Beschäftigung, mit den klassischen Studien kaum hinreichend gesorgt worden war. Das Ulmer Gymnasium verlor zwischen 1830 und 1841 allein 63 %> der gesamten Schülerschaft bereits nach der Tertia. Von 288 Schulbesuchern während dieses Zeitraums verblieben ganze 107 in den Oberklassen. Diese drastischen Verhältnisse mußten sich zwangsläufig „mehr oder weniger störend auf den Organismus des Gymnasiums" auswirken. 71 Selbst die Gründung von Realschulen brachte hierin aber noch nicht die gewünschte Entlastung. So bestanden beispielsweise 1837 im preußischen Staate vorerst nur 90 Höhere Bürgerschulen, davon 29 mit Berechtigung. Diese waren bei einer Gesamtzahl von 22 876 Elementarschulen und 561 Mittelschulen außerstande, den Zustrom der Schüler aus den gewerbstätigen Schichten in die weiterführenden Bildungsanstalten von sich aus aufzufangen. 72 Aus naheliegenden Gründen schickten die Eltern ihre Kinder deshalb häufig mit in die Gymnasien. Noch während der Diskussionen um die Unterrichtsgesetzgebung in den siebziger bis achtziger Jahren spielt dieses Problem eine gewichtige Rolle, und endlich wollen Verteidiger des reinen Typs der Humanistenschule wie L A G A R D E die Unterrichtsbehörde genötigt wissen, das Gymnasium von seiner „Bandwurmnatur" und den „ungymnasialen Besuchern" zu befreien. 73 Von neuhumanistisch-philologischer Seite wurden fortwährend die größten Anstrengungen unternommen, die Geschlossenheit des klassischen Bildungskerns möglichst zu erhalten. Dabei treffen die Ausscheidungsbemühungen zuletzt nicht nur die inzwischen gemachten Zugeständnisse an die naturwissenschaftliche Fächergruppe, sondern — als das allein nicht mehr half — in eben der Weise auch die Schüler. Für die Ausgangskonstellation innerhalb der Gymnasialpädagogik zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat gerade das in Widerspruch zum klassischen Bildungsanliegen und wissenschaftlichen Ausbildungszweck des gelehrten Unterrichts stehende praktische Dilemma entscheidende Bedeutung. Der ständige Druck von unten beeinträchtigte die Verwirklichung des HuMBOLDTschen Bildungsideals, förderte aber aus den unmittelbaren Gegebenheiten der Praxis heraus das anhaltende Bestreben, wenigstens in den unteren Jahrgängen der Gymnasien auf „gemeinnützige Kenntnisse" — eine Zeitlang im Gegensatz zum Philanthropismus verstanden als Notbehelf und zweitrangige Bildung — doch gewisse Rücksicht zu nehmen. Die Mehrzahl der Schüler konnte schließlich nicht gänzlich unvorbereitet in das künftige Berufsleben und die sich daraus ergebenden Anforderungen entlassen werden, wenn die Schule sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, den Bezug zur realen Welt und damit letztlich ihren humanen Charakter vollends zu verlieren. So haben weite Kreise der Gymnasiallehrerschaft dann diese Situation auch empfunden und unter diesem Aspekt bei den
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ausgetragenen Meinungskämpfen die Bildungsaufgabe der naturwissenschaftlichen Fächergruppe bestimmt (vgl. Kapitel IV/2). Kennzeichnend für die praktischen Maßnahmen, die sich aus der Diskrepanz zwischen Schule und Leben als Folge unmittelbar ergeben, ist das Beispiel des Stralsunder Gymnasiums. Wie viele andere höhere Lehranstalten stellte sich dieses Gymnasium mit seiner pädagogischen Planung bewußt darauf ein, bis zur Tertia aufbauend die „Vorbereitung für die Zweige des bürgerlichen Geschäftslebens" ebenfalls „mit in sich" zu fassen. Dementsprechend waren im Programm des Jahres 1827 Lehrart und Verfassung auf eine umfassende „Bürgerliche Bildung" hin angelegt, obwohl das „Lateinische" nach wie vor als „Basis der ganzen gelehrten Schulbildung" in sämtlichen Klassen dienen sollte. Die schulorganisatorische Lösung sieht hierbei folgendermaßen aus: „Sexta und Quinta, als die unterste Stufe, bilden demnach zugleich für den niedern Gewerbestand vor; Quarta und Tertia, als mittlere Stufe, bereiten zugleich die Knaben für die höhern Berufsarten des Kaufmanns, Landwirths, Künstlers u.s.w. Um dieses noch besser zu bewerkstelligen, besteht als Nebenclasse neben Quarta und Tertia eine sogenannte Realclasse für Nichtstudirende, welche zwar als Schüler jener beiden Classen an den meisten Lectionen derselben (auch an den Lateinischen, von welchen keiner befreit wird) fortwährend Theil nehmen, aber während des Griechischen Unterrichts in beiden Classen und während des Mathematischen in der Tertia, und noch in einigen besonderen Stunden im Französischen, Englischen, dem höheren bürgerlichen Rechnen, dem eigentlichen Schönschreiben und dem mathematischen und bürgerlichen Zeichnen unterrichtet werden."74 Eine derartige Zusammenlegung der nach der neuhumanistischen Erziehungskonzeption eigentlich unvereinbar erscheinenden Bildungswege ist noch weit über die dreißiger Jahre hinaus, als dann selbständige Realschulen aufkamen und eine stärkere Differenzierung einsetzte, für die meisten Gymnasien durchaus typisch. Sie entspricht im wesentlichen dem von WOLF vorgeschlagenen gemeinsamen Unterbau der höheren Schule und den im Anschluß daran nach Bedarf empfohlenen Parallelveranstaltungen im auslaufenden Teil der nunmehr betont humanistischen Studien. Solche „Realsektionen" gab es beispielsweise in Aachen, Potsdam, dem Friedrich-Wilhelm-Gymnasium zu Berlin und nicht zuletzt auch im Joachimsthaler Gymnasium, der von WOLF während seiner Berliner Zeit persönlich reformierten Anstalt. Es zeichnen sich also in Reflexion zur Erziehungswirklichkeit von Anfang an kräftige Strömungen ab, die darauf hinzielen, den „Zwiespalt zwischen dem Utile und Honestum" auszugleichen, indem man zunächst — ganz einfach aus den praktischen Bedürfnissen heraus — dazu übergeht, den Weg „der rechten Mitte" einzuschlagen.75 Im übrigen lag die gleichzeitige Berücksichtigung des realistischen Zweiges durchaus im Sinne des Gesetzgebers. Die preußischen Gymnasien jedenfalls hat-
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ten diese „doppelte Aufgabe" in einer Verordnung vom 10. Juni 1819 auf Veranlassung des Ministers Freiherr VON ALTENSTEIN während der Phase der Gymnasialschulreformen sogar speziell gestellt bekommen. Als später die Stände des Schlesischen Provinziallandtages 1831 „Allerhöchsten Orts" die Ansicht vortrugen, „den Unterricht in der Mathematik und in den Naturwissenschaften vom Anfange an mit dem gleichen Vorzuge und gleicher Gründlichkeit wie den Sprachunterricht zu behandeln", antwortete ALTENSTEIN den Schlesischen Provinzialständen unter Hinweis auf die früher bereits getroffenen Regelungen in einer Denkschrift. Er hob dabei hervor, daß die Staatsregierung den Gymnasien auch die Betreuung der NichtStudierenden zur Pflicht gemacht und in diesem Sinne den Zeitbedürfnissen Rechnung getragen habe. Das Ziel der höheren Schule wird von ALTENSTEIN nochmals unmißverständlich formuliert: „In ihrer Eigenschaft als allgemein vorbereitende Anstalten gedacht, sind die Gymnasien nicht ganz den untersten auf den mechanischen Erwerb allein beschränkten Ständen, sondern außer dem eigentlichen Gelehrten- und höhern Beamtenstande denjenigen Bürgern bestimmt, deren Geschäfte, wenn sie gedeihen sollen, einen höhern Grad von Geistesgewandtheit, Combinationsvermögen, Urteilsschärfe und Erfindungskraft erfordern, denen auch ein höheres Maaß von Einsicht, Bildung und logisch richtiger Denkweise, überhaupt ein Sinn für die geistigen Elemente des Lebens nicht abgehen darf." 76 Um für die Einstellung der sich nach dem HuMBOLDTschen Bildungsideal ausformenden neuhumanistischen Gymnasialpädagogik gegenüber den Naturwissenschaften und einer naturwissenschaftlichen Bildung das rechte Verständnis zu gewinnen, genügt es an dieser Stelle, das weithin sichtbare Auseinanderklaffen zwischen einer in der Erfahrung vorerst selbst noch kaum hinlänglich reflektierten oder gar bewiesenen pädagogischen Theorie und der sich trotz allem in ganz anderer Richtung behutsam weiterentwickelnden pädagogischen Praxis anzudeuten. Dabei sind die Verhältnisse überaus buntscheckig und oftmals in einzelnen Ländern und von Schule zu Schule schon verschieden. Mit Ausnahme der Königreiche Bayern und Sachsen, wo es während der Schulkämpfe dann zu Einschränkungen kommt (vgl. Kapitel IV/2), gleitet der schulpädagogische Ansatz aber den Neuhumanisten regelrecht unter den Händen weg. Sie stehen mit ihrer Verachtung für die naturkundlichen Lehrgegenstände und jede realistische Bildung am Ende als bespöttelte „Kretinisten" da, denen vorgeworfen wird, angesichts der „Flucht aus der Welt" nur eine „verkrüppelte Lebensanschauung" zeugen zu können.77 Umgekehrt werden jedoch auch die Verfechter des neuhumanistischen Erziehungsgedankens zusehends zum zornigen Aufbegehren getrieben, weil sie sich außerstande sahen, jene „sclavische Nachahmung fremder Beispiele" noch länger aufzuhalten, die „auf eine schamlose Weise" zur Ausweitung des Gymnasialunterrichts beigetragen hätte.78 Nun erst verhärten sich die Gegensätze, und es mehren sich die Behauptungen, daß alle Stoffgebiete,
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welche je „Gewinn für das Leben" abwerfen, die „Grundlage edlerer Bildung" unweigerlich zerstörten. Diese Anschauung wird zum unantastbaren „Kern einer neuen Lehre über Erziehung" erhoben und die „Totalität der Geistesbildung" unter „Verschmähung des Geringen, Unvollkommenen, Gemeinen" ausschließlich nur noch in der „Klassizität" gesehen.79 Gesteigerte Formen begann das (nunmehr oftmals sehr tendenziös anmutende) Streitgespräch zwischen Humanisten und Realisten eigentlich erst anzunehmen, als sich mit dem 1 8 2 9 von T H I E R S C H abgefaßten Bayerischen Schulplan (vgl. Kapitel IV/2) infolge der darin vorgenommenen vollständigen Streichung der Naturwissenschaften aus dem Gymnasialunterricht die Parteien in aller Öffentlichkeit und weit über die Ländergrenzen hinweg schärfer gruppierten. Das pädagogisch-wissenschaftliche Problem, ob sich die klassischen Studien als Humanitätswissenschaft vom Bildungsprinzip her gesehen überhaupt mit den realistischen Naturkundefächern vereinbaren lassen, steht noch lange Zeit unentschieden im Raum. Der Disput war jetzt für jeden unüberhörbar geworden. Resigniert wünscht deshalb der Direktor des Weilburger Gymnasiums F R I E D E MANN das Herannahen des Zeitpunktes herbei, der „alle Extreme in der richtigen Mitte faßt, nach dem Spruche: res humanas neque odisse, neque amare, sed intelligere" ,80 In der Schulpraxis kannte man während der sich versteifenden theoretischen Erörterungen nach wie vor und in einem ganz anderen Sinne ebenfalls „Humanisten" und „Realisten", weil „die Mehrzahl der Schüler der unteren Gymnasialklassen, oft auch der mittleren, nicht daran dachten, den Weg akademischer Studien zu betreten". Oberschulkollegium und Gymnasialdirektoren in Westfalen haben sich unter der Leitung von Generalschuldirektor KOHLRAUSCH deshalb zwischen 1840 und 1850 noch verschiedentlich mit dieser Frage beschäftigt. Die Entscheidung in diesem Gremium wird durch Konferenzbeschluß in Emden 1847 aber zugunsten der Schüler gefällt und der „Werth gründlicher Betreibung der Naturwissenschaften" dabei prinzipiell anerkannt. Es zweifelte auch niemand mehr am Vorteil des zweckmäßigen Ineinandergreifens der damals in hohem Grade zerstrittenen Fächer, sondern der gesamte Direktorenkreis ist im Gegenteil auf einen harmonischen Ausgleich bedacht und tat diese Überzeugung auch kund: „Durch eine solche Vereinigung wird die Gefahr der Einseitigkeit beider Richtungen möglichst vermieden."81 Selbst als die Wogen des Meinungskampfes besonders hoch schlugen, schickten sich einsichtsvolle Praktiker demnach weiterhin an, „den Weg hergebrachter gelehrter Vorbereitung" teilweise zu verlassen und das Gymnasium gleichzeitig mit einer „höheren Bürgerschule von fünf Klassen" zu verbinden.82 Wir dürfen also — und das wollten wir mit den schulgeschichtlichen Tatbeständen aufzeigen — die von der Gymnasiallehrerschaft vertretene Überzeugung mit den Zielen und Grundsätzen des Neuhumanismus
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in seiner ideengeschichtlichen Form keineswegs grundsätzlich schon identifizieren. Die vorgebrachten Argumente wurden keineswegs sämtlich unbesehen akzeptiert, und selbst wenn man persönlich auch mit der ganzen Erziehungsrichtung sympathisierte, so ließ sich das Ideale der Theorie auf den praktischen Raum kaum schematisch übertragen und überall in bare Münze verwandeln. Anfangs durchläuft das höhere Schulwesen vielmehr eine Entwicklung, die durch einen konkreten Bezug zu den tatsächlichen Gegebenheiten und den Erfordernissen der jeweiligen (örtlichen) Situation deutlich gekennzeichnet ist. Die schulorganisatorischen Maßnahmen sind demzufolge überwiegend auf Ausgleich und Synthese hin angelegt. Unter den gegebenen Verhältnissen mußte sich das Gymnasium zwangsläufig um eine Öffnung zum Leben bemühen und insbesondere den naturkundlichen Fächern Einlaß gewähren. Den Kulminationspunkt bildet das von W O L F geschaffene gymnasialpädagogische System, das in seinem praxisbezogenen Ansatz bereits alle Modifikationen enthielt, die Betreuung der vorzeitig abgehenden Schüler innerhalb des humanistischen Lehrbetriebs gleichfalls sicherzustellen. Mit der Gründung spezieller „Realsektionen" oder „Realklassen" übernimmt das Gymnasium dann bis zum verstärkten Aufkommen selbständiger Realschulen in institutionalisierter Form häufig auch den realistischen Ausbildungszweig. 83 Die Wandlung der inneren Struktur vollzieht sich an den Gymnasien aber im Grunde ohne jede tiefergreifende pädagogisch-wissenschaftliche Reflexion. Von einer in sich geschlossenen Bildungskonzeption wie beispielsweise noch im Philanthropismus werden die getroffenen Veränderungen nicht direkt mehr getragen. Sind aufgrund der Schülerzusammensetzung Umstellungen erforderlich, so erfolgen sie in der Regel rein pragmatisch und ergeben sich für gewöhnlich aus der erhöhten Nachfrage. In diese Nebenrolle gedrängt, führen die Realien vorerst relativ ungestört ihr Dasein, trotz einer kontradiktorisch zum Erscheinungsbild der Praxis operierenden und das Erziehungsdenken zu dieser Zeit vollauf beherrschenden pädagogischen Theorie. Zu einem eigenen Auftragsbewußtsein gelangen die naturkundlichen Fächer gegenüber den alten Sprachen eigentlich erst, als in den dreißiger Jahren rigoros das Hinauswerfen naturwissenschaftlicher Lehrgegenstände aus den Gymnasien begann. 84 Im Zusammenhang mit diesen stürmischen Ereignissen wird nunmehr unter gleichzeitiger Rückbesinnung auf die philanthropistischen Erziehungsgrundsätze mit aller Entschiedenheit die These verfochten, daß die Naturwissenschaften genausogut wie klassische Studien „Bildnerinnen der Menschheit, folglich auch Werkzeuge der Humanität" zu sein vermögen. 86 Zuvor jedoch bestreitet der Neuhumanismus auf der Ebene des höheren Schulwesens ziemlich allein das pädagogisch-theoretische Feld. Angesichts des schulpraktischen Entwicklungsverlaufs formt sich das strate-
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gische Konzept der neuhumanistischen Gymnasialpädagogik sehr bald zum Gegenstoß aus. W o h l war es dem Neuhumanismus als Geistesströmung gelungen, die rationalistische Anschauungsweise nahezu gänzlich zurückzudrängen bzw. vollständig zu überdecken, aber die heimlich grassierende Duldung des „Realienwesens" hatte man trotzdem nicht einzudämmen vermocht. Seit der Philanthropistenzeit unterwandern die „gemeinnützigen" Sachfächer den Kreis der humanistischen Lehrfächer in einem unaufhörlichen Prozeß. Schließlich gaben zahlreiche Lehranstalten sogar vom Griechischen „einen förmlichen oder ungehinderten E r l a ß " , obwohl ihnen diese M a ß n a h m e „in der allgemeinen M e i n u n g " den Vorwurf eintrug, „den veralteten Beschützern eines mißverstandenen Nützlichkeitsprinzips" anzugehören. 8 6 Humanistisches Bildungsanliegen und Schulwirklichkeit klaffen unüberbrückbar auseinander. Gerade das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis erklärt die „uns heute komisch" anmutenden „Fieberparoxysmen", von denen die „Geister zweiten R a n g e s " u n t e r d e n N e u h u m a n i s t e n ( n a m e n t l i c h NIETHAMMER, AST, EVERS, JACHMANN,
JACOBS und neben anderen Altphilologen später besonders THIERSCH) allesamt befallen sind. 8 7 Die Gegensätze spitzen sich — gleichsam im Zerrbild — weitaus schärfer zu, zumal die Existenz des Nützlich-Realen als solche mit dem Ziel und Gesetz jeder höheren Bildung unvereinbar erschien. 8 8 In dieser Phase gesteigerter Erregung bricht jetzt die Abneigung gegen das Naturstudium durch. D e r Neuhumanismus besaß von Anfang an keine Theorie, daß zur Universalität des Menschen auch die Seite der naturwissenschaftlichen Bildung gehört. Für HUMBOLDT bedeutete „allgemeine Menschenbildung" stets das rein „Formelle". Die Kräfte des Menschen sollen „selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden", ohne dabei irgendeine „Rücksicht auf bestimmte den Menschen zu erteilende bürgerliche Formen" zu nehmen. 8 9 Damit wird schon der Widerspruch zwischen „Lebensbewährung und Bildungsproblematik" (LITT) aufgerissen, der sich bei den HUMBOLDT nacheifernden Epigonen immer mehr zum schroffen Dualismus von „Schulzweck" und „Weltzweck" vertieft. In einem solchen Sinnverständnis isoliert JACHMANN im Programm des Conradinum 1 8 1 1 bereits vollständig das „idealische Vernunftleben" vom geistfremden „irdischen Weltleben" und lastet es einer Gelehrtenschule als „Charakterlosigkeit" an, sich „in ein subordiniertes Verhältnis zur Welt setzen zu wollen". 9 0 BAUMGARTEN-CRUSIUS trägt 1824 dann folgende Ansichten als unumstößliches
„Glaubensbe-
kenntnis" aller neuhumanistisch eingestellten Gymnasialpädagogen vor: Für das „edle R o ß " schmecken Sachkenntnisse im Vergleich zum Genuß des Altertums nach roher „Distelkost". „Es ist dies das wahre Feld für die Mittelmäßigkeit." Realien stellen nur niederdrückendes „Gepäck" dar, geeignet, „den freien Genius nie recht aufkommen zu lassen". In den alten Sprachen allein liege „das Geheimniß aller Entwicklung und Ausbildung der menschlichen K r ä f t e " , so
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daß sich „die geistige Natur des Menschen" nur inkonsequenterweise einer Beschäftigung mit dem hingeben könne, „was das tägliche, bürgerliche Leben von Fertigkeiten und Kunst verlangt". 81 Die Philologie entwickelte sich also zum Hauptelement der Humanitätserziehung. Bei der einmal verbreiteten Uberzeugung ist es den Naturwissenschaften bestimmt nicht ganz leicht gefallen, den Nachweis ihrer Berechtigung in bildungsmäßiger Hinsicht zu erbringen. „Allgemeine Bildung" wurde in der neuhumanistischen Denkweise am Ende sogar gleichbedeutend mit dem Erwerb einer Bildung am klassischen Stoff. Hatten die Philanthropisten zuvor — und auch noch HEYNE — die alten Sprachen von jeder „allgemeinnützig" zu betreibenden Allgemeinbildung ausgenommen, so kehrt sich mit dem Umdenken des Begriffs dieser in sein glattes Gegenteil. Aber selbst HUMBOLDTS Auffassung vom „vollendeten" Schulunterricht erfährt eine sichtliche Einschränkung. 92 Bei zunehmender Erhitzung der philologischen Gemüter verkörpert das Altertum als „reinste Quelle" des Idealen zuletzt schlechthin schon den Bildungsbegriff. GABLER drückt diese Gleichsetzung unmißverständlich aus, indem er erklärt, daß man „zu den Griechen und Römern greifen" muß, „um sich die allgemeine Bildung zu erwerben". 93 Die Kontroverse mit der zweckgebundenen philanthropistischen Weltbildung bleibt unvermindert bestehen. Sie wird aus der verengten Sicht des altsprachlichen Studienganges bei der Klärung des Bildungsproblems eher noch unversöhnlicher ausgetragen. Am deutlichsten formuliert wohl SCHELLING bei einer Festrede 1831 den Gegensatz, um damit gleichzeitig die Verschiebung der Akzente in der Grundsatzfrage zu motivieren: „Sollte dem eine allgemeine menschliche Bildung zukommen, der nie die erquickende Morgenluft der früheren Menschheit geathmet, der nie unter den einfachen großen Formen und Verhältnissen einer ernsten und gedankenvollen Vorwelt verweilt, sondern seine Bildung nur in dem lauten, aber leeren Getöse einer vorübergehenden Zeit, oder auf dem Markt eines eben jetzt so genannten öffentlichen Lebens erhalten hätte?" 94 Selbst ein so einflußreicher Philosoph wie SCHELLING verquickt menschliche Allgemeinbildung ihrem Wesen nach also vollends mit der Kenntnis des Altertums. Obwohl SCHELLING sich im gleichen Sinnzusammenhang über den „großen Einfluß" ausläßt, den „positive Wissenschaften" und darunter insbesondere Physik, Chemie, Naturgeschichte und Technologie „auf das Wohl des Staates ausüben", isoliert er diese Gebiete dennoch von jeder speziell „geistigen Bildung". „Ist doch das Geist- und Herzerhebendste in der Natur selbst gerade das Entfernteste von uns." Mit einem solchen Makel behaftet, der allgemeinen Bildung gegenüber direkt „entgegengesetzt", ja „feindselig" zu sein, traten die Naturwissenschaften noch im selben Jahrzehnt in die Bildungsdiskussion um die innere Gestaltgebung der höheren Schule ein.
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Offensichtlich aber hat die zu dieser Zeit im schulpraktischen Bereich spürbare Auflockerung schon ganz bestimmte Konsequenzen für die neuhumanistisch-philologische Richtung gehabt. Die Hereinnahme der „Realsektionen" in den Gymnasialkurs und die damit verbundene Entlastung der Schüler vom Griechischunterricht provozierten nämlich bei den Altphilologen einen ausgesprochenen Nützlichkeitskomplex. Im gymnasialpädagogischen Schrifttum häufen sich plötzlich Beteuerungen, daß die „classischen Studien" ebenfalls einen „praktischen" Bildungswert implizieren: „Sucht man in dem Unterricht Nutzen für das Leben, so ist kein höherer zu finden, als der ernste, strenge, praktische Sinn, der sich durch die klassische Literatur zieht. Jene Muster der Kraft und Gediegenheit sind die beste Stärkung gegen die Frivolität unserer Zeit." 95 Die Situation ist eindeutig. Es geht um den Nachweis, daß realistische Gehalte nicht nur den „dynamischen Zweck" des Gymnasiums beeinträchtigen, sondern auch von der Sache her kaum zu rechtfertigen oder vertretbar seien. Es mutet etwas eigenartig an, jetzt von den Verfechtern des klassischen Bildungsgedankens unaufhörlich den Einwand zu vernehmen, daß sich die beste Vorbereitung „zu den Geschäften des Lebens" eigentlich mit dem Studium der alten Sprachen verbinde. 98 Als „Hauptgrund" führt man nach wie vor die Übung und Stärkung der Geisteskräfte ins Feld. „Die klarsten Denker sind auch überall die am meisten praktischen Menschen." 97 Außerdem taucht nun aber allen Ernstes die Frage auf, welcher „Vorteil" sich aus den Altertumsfächern „in materieller Hinsicht" für eine künftige gewerbliche Tätigkeit ergibt. Betrachtungen dieser Art und vor allem unter diesem Vorzeichen sind der neuhumanistischen Pädagogik reichlich ungewohnt: Die „Kenntniß der Vorwelt" rüste die Jugend mit „einem unerschöpflichen Schatz von Thatsachen" aus. 98 Für „die wirklich zu suchende Nützlichkeit des Schulunterrichts für das Leben" sei deshalb kein Gegenstand „mehr geeignet, als der Inhalt der griechischen und römischen Werke mit ihren mannichfachen Berührungen des öffentlichen und des Privatlebens". 99 Mit dieser Tendenz ordnen sich die alten Sprachen unter dem Druck der Verhältnisse in den Dienst des Welthaften ein. Um dem Vorwurf zu begegnen, „den Zusammenhang mit dem Leben und die praktische Brauchbarkeit" aus den Augen verloren zu haben, preisen neuhumanistische Philologen die Nutzbarmachung des altsprachlichen Unterrichtsstoffes für „die Ausbildung zum Geschäfte". 100 Realien des Altertums sollten als Ersatz für realistische Bildungsmittel fungieren und die gewünschte Vorbereitung auf das Praktisch-Nützliche mit übernehmen. Die „classischen Studien" erhalten damit eine über das Funktionale hinausgehende Dignität. Es geschieht keineswegs zufällig und ohne hintergründige Absicht, daß der humanistische Unterrichtszweig sich anheischig macht, der „Brauchbarkeit" und
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dem „Nutzen" ebenfalls dienen zu wollen. Im Gegenzug bestehen nun die alten Sprachen ihrerseits darauf, „die dem Leben und dem Geschäfte näher liegenden "Wissenschaften in den gelehrten und anderen Schulen entweder ganz zu verdrängen oder doch zu beschränken". 101 Die Unternehmung zielt von Anfang an auf eine vollständige Isolierung der inzwischen eingesickerten realistischen Fächergruppe von jeder allseitigen und harmonischen „Bildung". Der härtesten Zerreißprobe sind dabei die naturkundlichen Disziplinen ausgesetzt. Während der pädagogischen Auseinandersetzungen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts verkörpern die Naturwissenschaften zumeist stellvertretend die frühere Position des Philanthropismus, zumal sie bei den „gemeinnützigen Kenntnissen" ehedem den Hauptinhalt ausmachten und folglich Kernstück der lebensbezogenen „allgemeinen Bildung" waren. Gegenüber den „ideellen Objecten des Schulunterrichts" erscheinen Naturgegenstände jetzt aber als „bedenkliche Masse des Lehrstoffs". 102 Dem „Studium der Naturwissenschaften" wird allein schon wegen der „Ausdehnung" mangelnde Bildungspotenz angelastet. Die erhobenen Anschuldigungen lauten fast immer gleich103: Die Aneignung von Naturkenntnissen vollziehe sich ohne Anstrengung, zerstreue die Aufmerksamkeit, überlade den Geist mit „tausend rauhen Namen", könne demzufolge nur oberflächlich erfolgen, sei deshalb ohne Gewinn und stelle somit grundsätzlich keine ernstzunehmende Beschäftigung dar. Jede „höhere Geistesbildung" müsse dabei elendig verkümmern, kurz: Das Naturstudium gestatte nicht, in die Tiefe zu dringen, und allzuleicht arte es in bloße Unterhaltung oder Spielerei aus. Diese Behauptungen gründen sich auf eine ausgesprochene Aversion gegen die oft im gleichen Sinnzusammenhang zitierte „verflachende Weisheit des Tages", die den Menschen von seiner höheren Bestimmung ablenkt, ihn zu „sinnlichem Genuß" verleitet und zu „mechanischen Beschäftigungen" herabzieht. Die Beweise stützen sich mit verzerrender Vereinfachung auf eine euphemistische Hervorhebung des inneren Selbstwertgefühls, verwurzelt in der Aristokratie des Geistes. Davon abgeschieden existiert die „niedere" Sphäre menschlichen Seins. Der Gebildete vertieft sich jedoch allein in die „Vortrefflichkeit der alten classischen Welt" und weist „anderweitige Kenntnisse und eine andere Art der Bildung" als störend von sich ab. Solche Verkennung des humanen Sinns und der Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik für menschliches Denken und Handeln ist für die neuhumanistische Pädagogik von Anfang an kennzeichnend: „Man hat eine große Menge Kenntnisse aus der Naturgeschichte und Technologie in neuren Zeiten häufig so sehr empfohlen. Die uns allenthalben umgebende Natur, und die Werke der menschlichen Kunst, die wir täglich brauchen, kennen zu lernen, ist ein sehr scheinbarer Vorwand. Mancher wird den jungen Menschen beachtenswerth finden, der die Pflanzen nicht voneinander zu unterscheiden weiß, auf welche er tritt; und der nicht weiß, wie
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das Hemd gewebt ist, das er trägt: allein bei näherer Beleuchtung dürfte man entdecken, daß es einen höheren Beruf giebt, als Alles zu kennen, was eben diesen Einzelnen nicht angeht, und zu wissen, was er gerade nicht brauchen kann und soll." 104 Im Erziehungsdenken der Neuhumanisten erfolgt eine radikale und kompromißlose Grenzziehung gegenüber dem Naturleben. Die Stoffe und Kräfte der Natur erhalten im Bereich der Bildung kein Daseinsrecht. Statt dessen soll der Mensch sich einheimisch machen „in den Mustern der vollendeten Bildung, die der Grieche und der griechisch gebildete Römer aufstellten". Gemessen an jenen „Naturkenntnissen, deren Studium jetzt fast zur Tagesordnung gehört", zeige sich in der „historischen Bekanntschaft mit den Sprachen" für den Menschen wahrhaftig die „Natur in ihrer ächten, großen Bedeutung".105 Naturfremdheit und Naturverachtung prägen die Bewußtseinshaltung einer ganzen Philologengeneration: „So wird das Sprachstudium zu einer Naturwissenschaft des menschlichen Geistes und ist die Bedingung jedes wissenschaftlichen Lebens. Sollte es je den Gegnern der altclassischen Schulbildung gelingen, das Erlernen der Griechischen und Lateinischen Sprache aus unseren Gymnasien zu verdrängen, so würde der Jugend der würdigste und erhabenste Stoff entzogen werden, an dem sie erstarken und durch den sie zu jeder höheren Geistes- und Berufstätigkeit am besten vorbereitet und befähigt werden kann." 108 Die alten Sprachen beanspruchen für sich das alleinige Recht, in Bildungsfragen kompetent zu sein. „Jede andere Sprache und Wissenschaft" wird abrupt aus der Schule verwiesen.107 Langanhaltend überträgt sich diese Spannung auf die Klärung des Bildungsproblems. Selbst als die Aufnahme der Naturgegenstände kaum mehr ernstlich zu verhindern war, liegen die „Theoretiker" über die Lehrobjekte „noch immer im Streit".108 Zugeständnisse bleiben notgedrungen auf die Praxis beschränkt. Ein nennenswerter Einfluß auf die „allseitige Entwicklung der Intelligenz, und somit zur Erreichung der allein wahren practischen Brauchbarkeit" wurde den naturkundlichen Fächern vorerst nicht zuerkannt.109 Manche „revidierte Gesetze" legen daher für das Gymnasium ausdrücklich getrennte Ziele fest: Zunächst habe der Unterricht eine die „allgemeine Bildung befördernde" wissenschaftlich-humanistische Grundlage zu geben; zum anderen dann — darüber hinaus — könne man „in das practische Leben eingreifende Kenntnisse im Allgemeinen" vermitteln.110 Die neuhumanistische Auffassung über Wesen und Inhalt der „allgemeinen Bildung" ist der des Philanthropismus selbst jetzt noch diametral entgegengesetzt. Gänzlich anders hatte W O L F zuvor das Verhältnis der Lehrfächer zueinander gesehen. Trotz seiner humanistischen Gesinnung war W O L F weit davon entfernt, etwa die Naturkunde von einer „allgemeinen Bildung" ausnehmen zu wollen, geschweige denn die Bekanntschaft mit der alten Welt allein schon für
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eine ausreichende Bildungsgrundlage des Gymnasiums zu halten. In seinem Schulplan ordnen sich daher humanistische und realistische Inhalte zwanglos in den Lehrkanon ein. Alle Wissensgebiete sind im Bildungsgefüge der Schule „elementarisch" verankert.111 Allgemeinbildung läßt sich nach Ansicht W O L F S überhaupt erst dann konstituieren, wenn das Gymnasium als Vorstufe der Universität die auf dieser vertretenen Wissenschaftsdisziplinen vollständig lehrt. Außerdem bilden aber gerade die Naturkenntnisse einen notwendigen Bestandteil jeder „gewöhnlichen Geistesbildung eines gut erzogenen Menschen", weil sie „zur allgemeinen Cultur gehören".112 Damit erhält der naturwissenschaftliche Unterricht von W O L F bereits ein gewisses Eigengewicht und den klar umrissenen pädagogischen Auftrag, geistig-kulturelles Allgemeinwissen zu vermitteln. Neben W O L F setzte sich bei den beginnenden Gymnasialreformen in Preußen besonders auch SCHLEIERMACHER dafür ein, den Mangel an Naturkunde zu beheben. Naturgegenstände dienen der Ausbildung des „praktischen Verstandes". Allgemein-menschliche Bildung „allein und für alle gleichmäßig" auf alte Sprachen gründen zu wollen, wäre „ein dem Leben nicht angemessener Bildungstypus".118 Wissenschaftliche Betätigung ohne hinreichende Kenntnis der „allgemeinen Prozesse und wesentlichsten Formen" der Natur sei schlechterdings undenkbar. Ebenso wie W O L F sieht SCHLEIERMACHER das unterschiedliche Begabungsgefälle, dem die Schule sich im Rahmen des Möglichen anpassen muß. Beide begreifen demnach das Sein zugleich als ein „Ineinander von Vernunft und Natur". 114 Nicht jedem sind alte Sprachen auf den Leib geschnitten. Vielleicht eignen sich solche Schüler aber speziell für ihre „Hauptwissenschaft". W O L F geht in dieser Frage sogar so weit, die Zulassung zum Universitätsstudium nicht unbedingt von den Leistungen abhängig zu machen, die der Primaner beim Abitur in den altsprachlichen Fächern vorzuweisen hat. Vielleicht könnte dieser „einst als Chemicus, Architect, Naturkundiger ect. sehr große Entdeckungen machen, bessere vielleicht, als wenn er sich im Griechischen und Lateinischen übernommen hätte. Zum Glück aber wird ihm auch das: non satis absolvit nicht schaden; es darf und soll ihm nicht schaden."115 Es sind gewichtige pädagogische Gründe, die beim Neubau der Gymnasien in Preußen die Einführung des naturwissenschaftlichen Unterrichts begünstigten. Im wesentlichen werden die Vorschläge und Anregungen von W O L F zur Ausführung gebracht. SÜVERN und SCHLEIERMACHER vertreten ähnliche Auffassungen. Nach der Schaffung eines selbständigen Kultusministeriums im Jahre 1818 beschritt JOHANNES SCHULZE den gleichen Weg und baute das höhere Schulwesen auf dieser Grundlage weiter aus. Von PAULSEN wurde diese Richtung, den Schüler gleichsam sub utraque gebildet zur Universität zu entlassen, später als Utraquismus bezeichnet. Elemente der alten und moderneren Bildung fließen in die Reformbemühungen also gleichermaßen ein. HUMBOLDTS Einfluß war
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während der entscheidenden Reformperiode von 1810 bis 1816 nur noch anregend, nicht unmittelbar praktisch gestaltend, zumal er sein Amt als Chef der „Sektion für den Kultus und öffentlichen Unterricht" (1808—1810) zu diesem Zeitpunkt gerade verließ. Zweifellos ist es HUMBOLDTS Verdienst, die Aufmerksamkeit auf das Allgemein-Menschliche und auf die Bildungsmittel zur Schaffung vollendeter Formen des Vernunftausdrucks gelenkt zu haben. Trotzdem dringen aber namentlich von ROUSSEAU her Anschauungen in der Gymnasialpädagogik vor, die für den Neuhumanismus an sich nicht mehr typisch sind. Daraus erklärt sich, daß eine einseitige Festlegung auf den sprachlich-humanistischen Studiengang bei der Umgestaltung der preußischen Gymnasien unterbleibt. Der reine Klassizismus kommt erst nach 1840, als ein Wandel in der Schulpolitik eintrat, in Preußen wieder stärker zur Geltung. 116 Zur Klärung der Unterschiede zwischen der neuhumanistischen Erziehungstheorie und der RoussEAUschen „Lehre vom Menschen" gibt RANG einen wichtigen Hinweis. Die Neuhumanisten stimmen zunächst grundsätzlich gesehen mit ROUSSEAU darin überein, daß es Aufgabe der Erziehung ist, die natürlichen Kräfte im Menschen zur Entfaltung zu bringen. Dennoch gelangen die Neuhumanisten zu einer völlig anderen Wertschätzung der von ROUSSEAU so betonten Ding-Welt. Der Umgang mit Sachen sollte nach Auffassung ROUSSEAUS dem Zögling in seiner Eigenart bestimmte Modifikationen gestatten und eine individualitätsgemäße Vervollkommnung fördern. Der Natur läßt sich kein Zwang antun, bei der Erziehung folglich nichts erzwingen. Die Philanthropisten sind ROUSSEAU hier gefolgt. Ähnlich denken aber auch noch SCHLEIERMACHER und WOLF. Von RANG wird nun darauf aufmerksam gemacht, daß die im Neuhumanismus auftauchende „Hochschätzung der Individualität als Repräsentation reinen Menschentums" nicht mehr identisch ist mit ROUSSEAUS These vom natürlichen Menschen. Die naturgemäße Erziehung bei ROUSSEAU geschieht „im Einklang mit der Natur" als geordnetes Zusammenwirken der drei Erziehungsfaktoren Natur-Dinge-Menschen. Aus einem Vergleich zieht RANG den Schluß: „Wir dürfen nicht vergessen, daß die neuhumanistische Hochschätzung der Individualität zusammenhängt mit der des Genies." 1 1 7 Ganz im Gegensatz zu HUMBOLDT und den vom HuMBOLDTschen Bildungsideal her denkenden Neuhumanisten stehen WOLF und SCHLEIERMACHER mit ihren pädagogischen Überlegungen und Maßnahmen ROUSSEAU noch um vieles näher. Das spiegelt sich deutlich in den preußischen Gymnasialreformen. Für den Neuhumanismus in seiner reinen Ausprägung bedeutet nämlich das Individuelle schon mehr, als Ausgangspunkt des Erziehungsvorganges zu sein. Die naturgemäße Entwicklung ist in der Denkweise der Neuhumanisten zum verinnerlichten Zweck einer ausschließlich am klassischen Altertum orientierten Ent-
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faltung menschlicher Individualität geworden. Damit verblaßt der Ruf nach „Sachen". Maß und Richtung der Erziehung sind im Modell von Kunst und Literatur einer historischen Epoche vorgegeben. Bildung vollzieht sich als ein vergeistigtes und gefühlsbetontes Emporstreben zu reiner Vernunft. Der Gebildete erwirbt den Adel der Menschennatur, wobei er sein inneres Menschentum vor jeder Berührung mit der verflachenden Welt sich zu bewahren trachtet. Das neue Gymnasium in Preußen wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts als „eine vollständige Anstalt" aufgebaut, um „den wissenschaftlichen Sinn nach den verschiedenen Richtungen" auszubilden und zu wecken. Sachfächer bleiben allgemein anerkannt. Ein solcher Schultyp entspricht aber keineswegs mehr dem Wunschbild des Idealen. Die neuhumanistischen Erziehungsideen vermochten jedoch die Konzessionierung des realistischen Bildungsweges nicht zu verhindern. Der „Allgemeine Schulplan" bringt dies auch klar zum Ausdruck und führt zur Begründung an, daß eine „allgemeine wissenschaftliche Bildung" bei „gänzlicher Vernachlässigung entweder der naturwissenschaftlichen oder geschichtlichen Seite" niemals zu bewirken ist. 118 Mit diesem schulgeschichtlichen Ansatz hat das preußische Gymnasium bereits den ersten Schritt auf der W O L F schen „Mittelstraße" getan.
2. Das Gymnasium im Spannungsfeld des Gegensatzes von „Klassicität und Naturwissenschaft" Der preußische Normallehrplan von 1816 und in Verbindung damit die Instruktion zu den Entlassungsprüfungen von 1812 trugen entscheidend dazu bei, extremen philologischen Tendenzen bereits in den Anfängen zu wehren. Unter den Neuhumanisten selbst waren also von Anfang an Ausgleichskräfte vorhanden, von denen das Bestreben ausging, die „classische und wissenschaftliche Bildung" im höheren Schulwesen zu einem „Organismus aller Wissenschaften" zu verschmelzen. Jeder Schüler sollte Gelegenheit erhalten, „seine wissenschaftlichen und Kunstanlagen" individuell auszubilden, und sich dementsprechend auf den Besuch der Universität vorbereiten. Außerdem wurde die Möglichkeit eingeräumt, in den unteren Klassen der Gymnasien „für andere Berufsarten" mit zu sorgen. 119 Unter den Realien erhielt die Naturkunde mit 8 Stunden Physik und 10 Stunden Naturgeschichte einen festen Platz. Die Regulierung dieser Maßnahmen blieb in das Ermessen jeder Schule gestellt und konnte nach Gutdünken geschehen. So bot die Praxis keineswegs ein einheitliches Bild. Die einzelnen Gymnasien gestalteten ihre Lehrordnungen verschieden. Für die neu eingeführten Fächer standen geeignete Lehrkräfte vorerst nur bedingt zur Verfügung. Naturwissenschaftler von Fach gab es am An-
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fang höchst selten. Häufig übernahm der jeweilige Klassenlehrer den naturkundlichen Unterricht nebenbei mit. Sein Wissen bezog er zu diesem Zweck aus Naturkundebüchern, soweit diese vorhanden oder erreichbar waren. Erst 1825 gründete die Universität Bonn ein naturwissenschaftliches Seminar. Königsberg folgte mit dieser Maßnahme 1834. In Halle konnten Naturkundelehrer ab 1837 studieren. Der Lehrermangel zwang oftmals zur Einstellung nebenamtlicher Kräfte. So unterrichtete in Stettin 1828 ein Arzt in den Naturwissenschaften. In Koblenz hielten zwei Offiziere und ein Apotheker den naturkundlichen Lehrbetrieb in Gang. Dennoch sorgten die meisten Gymnasien auf irgendeine Weise für die Durchführung des naturwissenschaftlichen Unterrichts, schon allein deshalb, weil Naturkenntnisse im Reifezeugnis ausgewiesen werden mußten. Voll erfüllt wurde der Normallehrplan aber beispielsweise in Aachen, Arnsberg, Bielefeld, Koblenz, Königsberg, Stralsund, Berlin, Bonn, Danzig, Posen, Stargard, Münster, Eisleben und Wittenberg. In anderen Städten fielen in der einen oder anderen Klasse die Naturkundestunden aus. Physikunterricht erteilte man jedoch in der Regel schon ziemlich gleichmäßig in Sekunda und Prima, manchmal auch bereits in der Tertia beginnend. Eine Ausnahme bildete Trier. Dort verzeichnen die Lektionspläne nur Naturgeschichte, beschränkt auf die beiden Unterklassen. Geringe Streichungen tauchen im naturgeschichtlichen Unterricht mitunter in den Klassen III oder IV auf, so beispielsweise in Stettin, Zeitz, Celle, Helmstedt oder Köln. 120 An zweckmäßigen Hilfsmitteln zur Durchführung naturkundlicher Lehrveranstaltungen mangelte es teilweise ganz. Aufschluß über Ausstattung der Schule mit Experimentiergeräten gibt eine Befragung, die 1823 auf der westfälischen Direktorenkonferenz vorgenommen wurde. Als Resultat zeigte sich, daß von 9 dort vertretenen Gymnasien 3 überhaupt noch keine „mathematisch-physikalischen Apparate" besaßen. 121 Vereinzelt treffen wir schon glücklichere Umstände an. Das Posener Gymnasium konnte für physikalische Geräte (1823) einen jährlichen Etat von 145 Reichstalern verwenden.122 Eine gewisse Tradition im naturwissenschaftlichen Unterricht hatte das Königsberger Collegium Friedericianum entwickelt. Hier wirkte eine Reihe tüchtiger Lehrer. Die erst 1821 entdeckte Thermoelektrizität (SEEBECK) ist in Königsberg bereits im Lektionsbericht des Jahres 1827 ausgewiesen.128 Die Lehrgegenstände der Gymnasien finden sich für gewöhnlich in den Jahresberichten oder Schulprogrammen. Anhand dieser Unterlagen läßt sich ermitteln, welche Gebiete bevorzugt behandelt wurden. Das Joachimsthaler Gymnasium teilte 1832—1833 den naturkundlichen Unterrichtskurs mit je 2 Wochenstunden in folgender Weise auf: „Unter-Tertia: Ober-Tertia:
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Streit um die Fächer im Gymnasium Unter-Secunda: Ober-Secunda: Im ersten Halbjahr: Im zweiten Halbjahr: Prima:
Mineralogie Hydrostatik, Hydraulik, Aerostatik, Pneumatik allgemeine Eigenschaften der Körper, Statik und Mechanik der festen Körper Fortsetzung und Wärme und Akustik."124
Die Berichte aus anderen Gymnasien sind ähnlich, verzeichnen jedoch unter den Lehrgegenständen zumeist noch Elektrizitätslehre und Magnetismus. Über Zielsetzung und Stoffverteilung des Naturkundeunterrichts bietet das Programm des Stralsunder Gymnasiums von 1827 den weitaus größten Uberblick. In den einzelnen Klassen wurden in Stralsund durchgenommen: „Naturwissenschaften. Der Unterricht in diesem Fache theilt sich in den der Naturbeschreibung und der Naturlehre, wovon jene in den drei untern Classen, diese in den 3 obern, in jeder 2 Stunden wöchentlich, aber in der Prima nur Eine, gelehrt wird. — A. Naturbeschreibung. Befreundung mit der Natur, Weckung des Forschungsgeistes, Übung des Verstandes im Vergleichen, Ordnen, Definieren, Beschreiben, endlich Kenntniß der Schöpfung ist das Ziel; das Nahe überall dem Fernen vorgezogen. 3 Cursen, nach dem Fortschritt vom Leichteren zum Schwereren, und dem psychologischen Interesse gemäß, einjährig; jeder Cursus zweitheilig, im Sommer stets ein Fach zum Sammeln und Forschen. In Sexta a) Allgemeine Einleitung ins Thierreich. Säugethiere. b) Pflanzenkunde. — In Quinta a) Amphibien, Fische und Würmer, b) Insektenkunde. — In Quarta a) Mineralogie, b) Ornithologie. — B. Naturlehre. Ein zwiefacher Lehrgang, a) in Tertia (einjährig). Populäre Naturlehre und math. Geographie. b) In Secunda und Prima: Wiss. Cursus und zwar in Secunda (einjährig). Besondere Naturlehre; von der Wärme, Electricität und vom Magnetismus. In Prima (dreijährig) 1. Allgemeine Naturlehre: Körper überhaupt: feste, flüssige Körper; Schall. 2. Aus der besonderen Naturlehre: die Lehre vom Licht. 3. Von den chemischen Wirkungen der Körper. Einfache Körper, Salze u. Erden, Wasser, Luftarten."125 Mehr noch als der in Umlauf gebrachte Normallehrplan von 1816 begünstigten die Reskripte über die abzuhaltenden Abiturientenprüfungen die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Die Gymnasien richteten die gesamte Unterrichtstätigkeit verständlicherweise nach den neuen Prüfungsvorschriften aus. Die Naturwissenschaften waren seit dem Jahre 1812 Bestandteil der mündlichen Maturitätsexamina. Diese Bestimmung galt in Preußen in der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne Einschränkung. Sie wurde erst 1856 mit dem WiESEschen Lehrplan wieder aufgehoben. Die Prüfungsanforderungen haben sich während dieser Zeit eigentlich wenig geändert. Sie gehen auf Vorschläge von W O L F zurück. Das letzte Prüfungsreglement von 1834 über-
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nimmt im wesentlichen für die Naturkundefächer die schon gültigen Regelungen. Als „Maßstab für die Ertheilung des Zeugnisses der Reife" legt diese Verordnung noch einmal mit allem Nachdruck fest, daß das Prädikat „unbedingte Tüchtigkeit" einem Abiturienten nur dann auszustellen ist, „wenn er endlich in Betreff der Physik eine klare Einsicht in die Hauptlehren über die allgemeinen Eigenschaften der Körper, die Gesetze des Gleichgewichts und der Bewegung, über Wärme, Licht, Magnetismus und Electricität gewonnen, und sich in der Naturgeschichte eine hinreichend begründete Kenntniß der allgemeinen Classification der Naturproducte erworben hat." 128 Im Reifezeugnis erscheint das Prüfungsergebnis zusammengefaßt als Note für Physik. Den Gymnasien rückte mit dieser „Richtschnur" das Ziel „klarer vor Augen". Die nötigen Anordnungen „für die Abgrenzung des Lehrstoffes in jeder Klasse, als für die Behandlung desselben" ließen in den einzelnen Provinzen deshalb auch nicht mehr lange auf sich warten. 127 Das Konsistorium in Köln verfügte im Hinblick auf die Maturitätsprüfungen im Jahre 1818 sogar besondere Versetzungsbestimmungen. Danach konnte niemand mehr ohne „eine systematische Übersicht der drei Naturreiche und eine Fertigkeit in der Erklärung der gewöhnlichsten Naturerscheinungen" in die Sekunda gelangen. Beim Übergang zur Prima hatte jeder Schüler dann eine „Bekanntschaft mit allen Theilen der besonderen Physik" nachzuweisen. Nach erfolgter gesetzlicher Regelung der Abschlußexamina ist im Königreich Preußen eigentlich keine höhere Lehranstalt mehr anzutreffen, die gänzlich ohne Naturkundeunterricht gewesen wäre. Die Unterrichtsverwaltung setzte sich konsequent für die Befolgung der diesbezüglichen Vorschriften ein. Trotz aller Wertschätzung der alten Sprachen, die gemeinsam mit den mathematischen und historischen Fächern als „gleich wesentliche Unterrichtsgegenstände" zweifellos ein größeres Ansehen genossen, wurden Naturkenntnisse keineswegs vernachlässigt. Im Gegenteil, es mußten sich sogar sämtliche Kandidaten für das höhere Lehramt bei ihrer Staatsprüfung in den Naturwissenschaften einer gesonderten Prüfung unterziehen. Der Mangel an Fachlehrern für die naturkundlichen Fächer mag zu dieser Verfügung, die in den Edikten zu den Prüfungen der Schulamtskandidaten von 1810,1831 und 1834 immer wieder zu finden ist, sicherlich beigetragen haben. Die Maßnahme selbst jedoch gründet sich in den pädagogischen Grundanschauungen, von denen die Gymnasialreform in Preußen insgesamt getragen wird: Allseitige Bildung erfordert, daß Schüler wie Lehrer sämtliche Wissensgebiete überschauen. Kenntnis der Naturerscheinungen gehört zum geistig-kulturellen Besitz. Diesen Gedanken haben namhafte Gymnasialpädagogen in ihren Schulschriften immer von neuem aufgegriffen. In diesem Sinne legt zum Beispiel auch
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1821 den Doppelcharakter des Gymnasiums fest. Allgemeine Bildung enthält „Formales" und „Materiales" und besteht aus „Wissen" und „Können". Das „erkennende Vermögen" bedarf zur Entfaltung des Mittels. Das „allgemein Menschliche" verweist immer auf „ein Bestimmtes" und spiegelt sich im „Welt- und Lebensprinzip". Dem Griechen, so meint SPILLEKE, wäre es „abenteuerlich" vorgekommen, hätte man ihm zugemutet, „das rein Menschliche formal in seinen Kindern entwickeln zu sollen". Zwischen Realem und Idealem besteht Harmonie. Die „geistige Organisation des Menschen" kann von der Anlage her sowohl mehr nach der „wissenschaftlichen" als auch nach der „praktischen" Seite neigen. Den Naturwissenschaften fällt unter den Lehrgegenständen des Gymnasiums die Aufgabe zu, sich der praktischen Richtung anzunehmen. Die Naturwissenschaften haben aber auch den Zweck, allen „die Einheit des Lebens zu zeigen".128 Wir sehen also, wie sich von W O L F her in der Gymnasialpädagogik mehr und mehr die Anschauung durchzusetzen beginnt, daß Allgemeinbildung „das ganze Wesen des Menschen" umfaßt. Aus diesem Sinnverständnis des Bildungsbegriffs ergibt sich die Aufgabe des Unterrichts, einmal „auf die menschlichen Naturanlagen" Rücksicht zu nehmen und zum anderen „auf alle Wissenschaften und Künste" gleichermaßen bedacht zu sein.129 So ist auch die preußische Verordnung vom 2. Dezember 1834 zu verstehen, wenn sie nochmals darauf aufmerksam macht, daß vom künftigen Gymnasiallehrer Naturkenntnis unbedingt verlangt werden muß, und zwar so viel „als nötig ist, um den Zusammenhang des naturhistorischen Studiums mit der Gesamtbildung des Menschen überhaupt und mit besonderer Rücksicht auf die Forderung der Zeit und des Lebens, ingleichen das Verhältnis dieser Wissenschaften zu anderen Lehrgegenständen einzusehen und richtig zu würdigen".130 Das preußische Unterrichtsministerium sorgte demnach also nicht nur an den Gymnasien selbst für einen voll ausgebauten Naturkundeunterricht, sondern gleichzeitig auch für eine gewisse naturwissenschaftliche Grundbildung der dort unterrichtenden Lehrer. Dem preußischen Beispiele eiferten bald viele Länder nach. Beim Ausbruch der Schulkämpfe am Ende des dritten Jahrzehnts waren die Naturgegenstände in den meisten Studienplänen verzeichnet. Die Gymnasien in Schleswig-Holstein lehrten die naturkundlichen Fächer ebenfalls regulär in allen Klassen. Ähnlich lagen die Dinge im Fürstentum Nassau. Das Großherzogtum Hessen führte eine entsprechende Lehrordnung erst während der Auseinandersetzungen (1833) ein. Baden ordnete 1828 an, die Lehramtskandidaten in Mathematik, Physik und Naturgeschichte zu prüfen. Die badischen Gymnasien hatten die Naturwissenschaften in den vier Oberklassen verankert. Um das Groteske der Situation zu verdeutlichen, in der von humanistischer Seite plötzlich der Vorstoß unternommen wird, „den fraglichen Lehrgegenstand" wieder ganz zu entfernen, sei SPILLEKE
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noch Bayern genannt, wo die tiefgreifenden Erschütterungen dann ihren Anfang nehmen. Die „Studienanstalten" des Königreichs Bayern besaßen vorher allesamt ordentliche „Professoren der Physik". Zur Besetzung dieser Planstellen beraumte die Unterrichtsbehörde in München sogar 1822 eine außerordentliche „öffentliche Prüfung" an. Den Schulakten ist zu entnehmen, daß allein 12 Bewerber für Physik und 9 für Mathematik vor der Prüfungskommission erschienen. Abgesehen davon bestand auch in Bayern für jeden Philologen die Pflicht, als Lehramtskandidat den Nachweis über Naturkenntnisse zu erbringen. 131 Ein 1826 aus der Praxis heraus eingereichter Schulplan läßt erkennen, daß es auch an verschiedenen bayerischen Gelehrtenschulen zunächst durchaus üblich war, Naturkundeunterricht in allen Klassen zu erteilen. Das geschah zum Beispiel in Kempten schon einige Zeit nach folgendem Plan: „1. Klasse: 2. Klasse: 3. Klasse: 4. Klasse: 5. Klasse:
Übersicht über drei Naturreiche Thierreich Pflanzenreich Mineralreich Einleitung in die Naturlehre Untersuchung der Körper überhaupt Bewegung derselben 6 .Klasse: Statik und Mechanik Lehre von der anziehenden Kraft flüssige Körper 7. Klasse: Hydrostatik die Lehre von der Luft und die Lehre vom Licht 8. Klasse: die Lehre von der Wärme und Kälte von der Elektrizität und von der magnetischen Kraft Daß öftere practische Versuche hierüber angestellt werden müssen, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung." 132
Wie sich aus den schulgeschichtlichen Tatbeständen ergibt, nahm die Einführung des naturwissenschaftlichen Unterrichts im höheren Schulwesen seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein immer größeres Ausmaß an. Diese Entwicklung vollzog sich entgegen der vorherrschenden pädagogischen Theorie. Das Leben mit seinen Ansprüchen forderte Eingang in die Gymnasien, und es mußten solche Lehrgegenstände berücksichtigt werden, die den praktischen Bedürfnissen Rechnung trugen. Aus diesem Grunde konnten „die formellen Pädagogen sich der Wirklichkeit nicht erwehren". 138 Die einmal gefaßte Abneigung gegenüber der naturkundlichen Fächergruppe schwingt jedoch während der ganzen Zeit unterschwellig mit. So wird die „Vereinbarkeit der Natur- und Humanitätswissenschaften" von den Verfechtern des klassischen Studiums dann auch sogleich bestritten, als sich das Streitgespräch zwischen Humanismus und Realismus zu
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einem öffentlich geführten Schulkampf auszuweiten beginnt. Jetzt spricht man es offen und unverblümt aus: D e r „große Amazonenstrom der Naturwissenschaften" hätte mit seinen Wassermassen zu einer „Überschwemmung" geführt. Im Hinblick auf die stoffliche Uberladung wären die Gymnasien dadurch „unausbleiblich zu Allerleihäusern" geworden. 1 8 4 Nach außen treten die gegen Ende der zwanziger J a h r e aufbrechenden Gegensätze als Überbürdungsdiskussion zutage. 1 3 6 Sie sind jedoch mit ihrer Spitze nach innen gegen den naturkundlichen Lehrbetrieb gerichtet, der abgeschafft oder zumindest doch erheblich eingeschränkt werden soll. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf in Bayern, w o es erstmals auf der Ebene der Schulgesetzgebung gelingt, den naturwissenschaftlichen Unterricht in den Gymnasien wieder vollständig zu beseitigen. D e r Regierungsantritt LUDWIG I. in Bayern (1826) brachte die Wende. Als ehemaliger Schüler von JACOBS bewahrte sich der König zu den alten Sprachen eine tiefe Zuneigung. Seine Thronbesteigung wurde von allen humanistisch Gesinnten begeistert und voller Hoffnung begrüßt. Eine Schulkommission, der unter anderem auch THIERSCH und SCHELLING angehörten, nahm sofort die Arbeit auf, um die bayerischen Studienanstalten im Sinne des klassischen Prinzips zu reorganisieren. Noch im selben Jahre entwickelte THIERSCH die allgemeinen Grundsätze für die geplanten Reformmaßnahmen. 1 3 8 D e r Wegfall der Naturkundefächer wurde damit motiviert, daß eine Beschäftigung mit Naturwissenschaften überhaupt erst dann sinnvoll erscheint, wenn der Schüler „sich durch eine beide Sprachen umfassende classische Bildung darauf vorbereitet hat". 1 3 7 Dieser Einwand galt den preußischen Hegelianern, die das in der Wissenschaft Vorhandene „nach seinem elementarischen Inhalte" (HEGEL) im Gymnasialkurs vereinigt sehen wollten. Als der verantwortliche Leiter des höheren Schulwesens in Preußen erhob JOHANNES SCHULZE daraufhin in einer Rezension sofort Bedenken gegen die Einseitigkeit des TfflERSCHschen Schulplanes, wobei er auf die Erfolge der preußischen Gymnasien verwies. 1 3 8 Verletzt durch diese an sich im T o n sehr zurückhaltende Erwiderung, zog THIERSCH fortan bei jeder Gelegenheit gegen die „neue preußische Lehrweisheit" zu Felde. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen SCHULZE und THIERSCH liegen bei den schulgeschichtlichen Auseinandersetzungen jedoch fast noch ganz am Rande. Bei den Streitigkeiten um die bayerische Schulordnung, deren Ratifizierung 1829 erfolgt, sind OKEN und STEPHANI die eigentlichen Gegner von THIERSCH. 139 Allerdings ist das historische Quellenmaterial über diese Vorgänge wenig bekannt. Nach dem Vorgeplänkel mit JOHANNES SCHULZE erteilt STEPHANI eine direkte Antwort an THIERSCH. Um die Schulkommission noch vor der endgültigen Beschlußfassung über den neuen Lehrplan umzustimmen, arbeitet STEPHANI einen Gegenvorschlag aus. 1 4 0 Dabei legt er die „eigentliche Bestimmung und zweck-
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mäßigste Einrichtung" der Gymnasien nach Gesichtspunkten fest, die sich aus der Stellung dieses Schultyps im Rahmen des Bildungsganzen und besonders gegenüber der voraufgegangenen Elementarbildung ergeben. THIERSCH hatte keinen Zweifel daran gelassen, den realistischen Krebsschaden im höheren Schulwesen endlich ausmerzen zu wollen. Bei ihm kommen die neuhumanistischen Bestrebungen in der Gymnasialpädagogik somit eigentlich „am reinsten" zum Ausdruck. 141 STEPHANI versucht nun, der drohenden Restauration der altklassischen Studien Einhalt zu gebieten, indem er die Bildungsidee des Gymnasiums mit der „kunstgerechten
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des Menschen in Beziehung setzt. Damit wen-
det er sich gegen die These von THIERSCH, daß Allgemeinbildung nur durch die klassischen Studien erreicht werden kann. Es sei eine Übertreibung, wenn man behaupten wolle, nur der mittelmäßige Philologe gelange in den Besitz einer höheren Geistesbildung. Weiter aber brächten die Gymnasialschüler es für gewöhnlich doch nicht! In Anlehnung an die philanthropistischen Auffassungen trifft STEPHANI demgegenüber wieder die Unterscheidung „zwischen allgemeiner und besonderer Bildung". Alte Sprachen gehören für ihn schon zur speziellen Berufsbildung. Sie verschlingen „viele Zeit unnützer Weise". Aus dieser Sicht stimmt STEPHANI „für Abschaffung der römischen und für alleinige Beibehaltung der griechischen Sprache".1*2
Abgesehen von der Wertschätzung des Griechischen, das seinen Zweck zur Vervollkommnung der Geisteskräfte erfüllt, definiert STEPHANI den Begriff Allgemeinbildung für die Gymnasien als „allgemeine höhere Ausbildung", bei der die in den unteren Schulen gelegten Elemente ihre Steigerung erfahren. Allgemeinbildung umfaßt also stets das Ganze; sie wird lediglich im Hinblick auf Ziel und Lehrstoff ausgedehnter und intensiver gestaltet, ohne aber dem Wesen nach grundsätzlich davon verschieden zu sein. Nach STEPHANIS Uberzeugung gliedert sich Allgemeinbildung in eine klar aufeinander bezogene „Stufenfolge". Nach 1806 hatte STEPHANI das Elementarschulwesen in Bayern ausgebaut (vgl. Kapitel VI). Jetzt überträgt er die hier gewonnenen Grundsätze auf die Gymnasien. Als Bestandteile der Schulbildung werden von ihm zunächst jene
Unterrichtsgegenstände bestimmt, die „der Mensch als Mensch wissen" muß. Dazu eignen sich in erster Linie solche Gebiete, die den Menschen selbst und die Kenntnis der äußeren Welt betreffen. Hauptteil des Unterrichts bildet infolgedessen „alles Seyende im Weltalle". Der Bedeutung nach rücken „Mathematik", „Naturgesetzkunde" und „Menschenwelt" unter den Lehrstoffen dabei an die erste Stelle. STEPHANI führt für die Rangfolge der Fächer im einzelnen als Begründung an: „Die Frucht der vom menschlichen Geiste errungenen Herrschaft über
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Raum und Zeit, bildet das erste Unterrichtsfach, dessen Aufgabe ist, diese Herrschaft in dem Geiste des Zöglings zu reproduzieren. Die vom Raum und Zeit umschlossene Körperwelt ist das zweite Stoffgebieth für dieselbe, und bildet mithin die zweite Lehrprovinz. Hier soll der höher zu bildende Mensch mit dem Haushalte Gottes in seiner sichtbaren Schöpfungswelt vertraut gemacht werden."148 Die Allgemeinbildung erhält bei STEPHANI also wieder einen konkreten realistischen Inhalt. Die Kenntnisse als das „Materiale" sollen jedoch in gleicher Weise „die möglichgrößte harmonische Befähigung" der gesamten Geisteskraft bewirken. „Humanität oder höhere Menschenbildung" wird in nichts anderem als in der Entwicklung des menschlichen Erkenntnisvermögens gesehen.144 Jeder Lehrgegenstand ist Mittel zum Zweck, diesen „obersten Grundsatz" zu realisieren und somit die „Selbstkraft" im Schüler zu entfalten. Mit STEPHANI dringt jetzt in die Debatte um die Gestaltgebung der höheren Schule der Gedanke ein, die Trinität von Natur—Mensch—Gott zum Ausgangspunkt aller Bildungsplanung zu machen.145 Werden die Bildungsstoffe aus diesen Bereichen gewählt, verschafft sich der Mensch damit einen sicheren Grund, um als „handelndes Wesen" auf die Sinnes- und Geisteswelt gestaltend einwirken zu können. Deshalb und gegen die viel zu schmale philologische Bildungsbahn gewandt, äußert STEPHANI den Wunsch: „Möchte nur bald die Zeit kommen, wo man unter klassischer Bildung nichts anderes als jene höhere allgemeine versteht, welche endlich das ausschließende Eigenthum unserer Gymnasialklassen werden soll." 146 Am THiERSCHschen Schulplan aber übt STEPHANI von dieser Warte aus in einem anthropologischen Sinnverständnis berechtigte und begründete pädagogische Kritik: „Bei der allgemeinen Bildung muß der Mensch sich davor hüten, daß sie nicht einseitig werde, welches als dann der Fall ist, wenn er mit Uebergehung mehrerer Fächer sich des einen oder anderen hauptsächlich nur zu ermächtigen sucht, folglich die Richtung seines Geistes eine professionelle wird."147 STEPHANI vermochte mit seinem Gymnasialplan das drohende Unheil nicht mehr abzuwenden. Ohne jede Veränderung wurde die THiERSCHSche Lehrordnung 1829 offiziell verkündet. Der Humanismus hatte in Bayern endgültig gesiegt. Betroffen waren besonders jene Fächer, die STEPHANI als Grundlage eines allgemeinbildenden Gymnasialunterrichts ansah. Selbst die Mathematik erlebte erhebliche Einbußen. Die Absage an die gesamte realistische Bildungsrichtung ist also unverkennbar. Das Original des bayerischen Schulplans, wie es in die Öffentlichkeit drang, besaß folgende Gestalt: „A. Im ganzen untern Cursus und in der untern Abtheilung des mittlem 16 Stunden Latein 4 Stunden Religion 3 Stunden Arithmetik 3 Stunden Calligraphie.
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B. In der oberen Abtheilung des mittleren Cursus 12 Stunden Latein 6 Stunden Griechisch 3 Stunden Religion 3 Stunden Arithmetik 2 Stunden Geographie. C. In beyden Abtheilungen des obern Cursus 12 Stunden Latein 6 Stunden Griechisch 2 Stunden Religion 3 Stunden Arithmetik 3 Stunden
Geographische und vaterländische Geschichte." 1 4 8
Der bayerische Lehrplan löste heftige Kritiken aus. Deshalb sah sich das Unterrichtsministerium in München genötigt, das verkündete Schulgesetz schon unmittelbar nach Erscheinen zurückzuziehen. "Wie PAULSEN erwähnt, wurde die Lehrordnung nochmals einer Kommission unter THIERSCH zur Überarbeitung zugeleitet. 149 Allerdings spielt die Kontroverse, die zwischen THIERSCH und JOHANNES SCHULZE bestand, in diese Vorgänge nicht mehr hinein. Sie lag zudem schon länger zurück. Den Anlaß für das spontane Zurückweichen der Schulverwaltung bot vielmehr die Empörung von 300 Naturforschern und Ärzten, die noch im gleichen Jahre in Heidelberg versammelt waren. Diese verfaßten gegen die Neuordnung der bayerischen Studienanstalten eine Resolution. Der damals sehr bekannte Naturphilosoph OKEN, der zu dieser Zeit gerade an der Münchener Universität lehrte, wandte sich mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit an das Heidelberger Gremium und rief öffentlich dazu auf, sich zu vereinigen, „um die Philologen in die gebührenden Schranken zurückzuweisen, wenn sie sich in ihrer gänzlichen Ignoranz aller in ihrem Laden nicht vorräthiger Wissenschaften einbilden, es gebe für die Welt nichts zu lernen, als was sie wissen". 1 5 0 OKEN forderte „Naturforscher, Ärzte, Juristen wie Theologen, Geschichtsforscher wie Geographen, Künstler und Dichter, Kaufleute, Oeconomen, Technologen wie Handwerker" zum Zusammenschluß auf, um „solche Vernachläßigung ihrer Interessen" nicht zu dulden. Für den Philologenstand findet OKEN harte Worte. Dieser habe „sich des Erziehungswesens bemächtigt" und schrecke vor der Anmaßung nicht zurück, „die Hälfte der menschlichen Kenntnisse und zwar die geistreichsten, wichtigsten und nützlichsten, worauf das eigentlich Wohl der Völker beruht, mit einem Federstrich in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit auszulöschen": „Nicht einmal erwähnt sind die Naturwissenschaften, als wenn sie nicht ins Leben und Weben des gegenwärtigen Zeitalters wesentlich gehörten; nicht selbst Leben und Weben hätten und daher Anspruch auf rechtliche Anerkennung, so gut als Lateinisch und Griechisch, ja noch mehr denn sie leben wirklich, während man jene nur mit dem Blasebalg mühsam bey Odem erhält." 1 5 1
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Solch „schmähliche Verachtung" wie der Naturwissenschaft sei zuvor noch niemals einer Wissenschaft widerfahren. Selbst als das Schulwesen noch in den Händen der Theologen gelegen habe, wären doch wenigstens einige allgemeine Begriffe der Physik behandelt worden. Aufgrund der Unwissenheit der Philologen in den Dingen des täglichen Lebens bezweifelt OKEN deren Kompetenz in Bildungsfragen: „Unter allen Ständen aber ist der philologische am wenigsten befähigt, einen Unterrichtsplan zu entwerfen." Wer selber keine naturwissenschaftliche Bildung besitzt, vermag nicht zu bestimmen, „was allen gebührt und was alle bedürfen"! „Was ist denn ein Philolog, der nichts als Sprachen weiß, der nicht einmal weiß, warum es donnert und blitzt, noch weniger, wie es einschlägt; der nicht weiß, warum das Quecksilber fällt, wann es regnen will; nicht weiß, daß und wie man die Höhe der Berge mit dem Barometer messen kann, der keinen Begriff von einer Dampfmaschine hat, ja der bekennen muß, daß er nicht wisse, was ihn wärmt und was ihm leuchtet." 152 Hier wird von OKEN ein Problem aufgeworfen, das bis in unsere Tage hinein an Aktualität nicht verloren hat: Mangelnde eigene Ausbildung oder Befähigung kann zu Fehlentscheidungen führen, die nicht selten eine Benachteiligung der künftigen Generation zur Folge haben. Dieser Umstand beschwor 1829 die Krise im höheren Schulwesen Bayerns herauf, deren Auswirkungen noch das ganze 19. Jahrhundert hindurch spürbar sind. Auch LIEBIG nennt ein Jahrzehnt später für das bestehende „Mißverhältnis" zwischen den altsprachlichen und naturwissenschaftlichen Fächern die gleiche Ursache. So hätten die verantwortlichen „Staatsmänner" beispielsweise die Vorteile der Chemie und Physik „als Mittel der Geistesbildung" an sich selber niemals kennengelernt. Deswegen orientiere sich die Schule nach „Prinzipien, auf welche man in einem halben Jahrhundert mit Scham und dem Lächeln des Mitleids herabsehen wird". 153 Trotz der nochmaligen Beratungen nimmt die bayerische Schulkommission am THiERSCHschen Lehrplan keine grundsätzlichen Änderungen mehr vor. In der neuen Schulordnung vom 13. März 1830 bleiben die Naturwissenschaften weiterhin ausgeschlossen. Um eine Rechtfertigung dieser Maßnahme bemüht sich THIERSCH 1831 im dritten Band seines Werkes über Gelehrtenschulen. Zuvor erschien von HÖFL „wider den Herrn Hofrath OKEN" eine Gegenschrift.154 Immer mehr Anfechtungen ausgesetzt, verließ OKEN 1832 schließlich München und übernahm in Zürich eine Professur. Das Gymnasium in Bayern verharrte lange auf dem Weg, den THIERSCH ihm gewiesen hatte. Selbst 1884 noch war Bayern das einzige Land ohne jeden naturgeschichtlichen Unterricht. Mit 3 Stunden Physik lag das bayerische Gymnasium zu diesem Zeitpunkt ebenfalls weit unter dem Durchschnitt der übrigen Lehranstalten, an denen zumeist schon bis zu 8 Physikstunden in den vier Oberklassen unterrichtet wurden.155 Daran zeigt sich eigentlich in sehr tragischer Weise, wie lähmend sich die Ereignisse und
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Maßnahmen des Jahres 1829/30 auf den weiteren Entwicklungsverlauf im höheren Schulwesen Bayerns legten. Der bayerische Schulkampf wirkte in der damaligen Situation als Fanal. Die Gymnasialpädagogik kam in Bewegung. In pädagogischen Diskussionen wird um die Bildungsidee des Gymnasiums gerungen. STEPHANI und OKEN üben dabei in den nächsten Jahren einen nachhaltigen Einfluß aus. Der Pädagoge und der Universitätsprofessor stehen in einer Reihe. In seinen Erziehungsgedanken stützt sich OKEN weitgehend auf STEPHANI. Auch OKEN schlägt „allgemeine Bildungsschulen" vor, in denen alle Wissensgebiete als „geistige Abbildung der Welt" aufgenommen und gelehrt werden sollten. Das Gymnasium hätte dann diese Kenntnisse „in ihrer ganzen Ausdehnung" weiterzuführen. Bildung lasse sich zwar „in Stufen" einteilen, nicht aber „in Stücke" zerreißen. Die klassischen Studien vermögen von sich aus keine hinreichende Grundlage für den allgemeinbildenden Unterricht an den Gymnasien zu geben: „Dieses sind alles Specialia, welche unmittelbar auf eine Profession hinsteuern und mithin die allgemeine Bildung zerstören." 156 Die Bezugnahme auf STEPHANIS Anschauungen zeigt sich bei OKEN bis in alle Einzelheiten. Allerdings formte der Naturphilosoph OKEN aus dem STEPHANIschen Gedankengut zur Allgemeinbildung eine gestochene Grundsatzthese für das Bildungsproblem überhaupt. Damit zündet OKEN den Funken: „Als Prinzip alles Unterrichts muß daher der Satz aufgestellt werden:
Er muß die gesammte Cultur der Welt in sich fassen!"1"
Mit OKEN und STEPHANI war der Philanthropismus in moderner Gestalt wieder auf den Plan getreten. Sie besitzen während der Auseinandersetzung zweifellos die größte Anhängerschaft. Nicht umsonst klagt THIERSCH, daß die „materielle" Richtung erneut aufgekommen sei und die „Barbarei" deshalb schon unmittelbar „an der Türe" stehe. 158 Würden die klassischen Studien „in dem mit überwiegender Gewalt herandringenden Strome des Neuen vollends aufgelöst", so drohe nicht nur der Untergang und die Zerstörung der Bildung, sondern damit auch der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Um dieser „Anarchie" zu begegnen, ruft THIERSCH zur „Solidarität der konservativen Interessen", um die humanistischen Fächer vor der Vernichtung zu bewahren. 159 Auf seine Veranlassung hin erfolgte 1837 die Gründung der Versammlung deutscher Philologen, deren Tätigkeit ganz in diesem Sinne vor sich ging. Damit gelingt es dann, das Ruder wieder herumzuwerfen. Die inneren Spannungen in den Gymnasien verlagern sich etwa ab 1840 auf den Streit um die Anerkennung der inzwischen gegründeten Realschulen. Mit der Realschulinstruktion von 1832 beginnt allmählich die Verzweigung des realistischen und humanistischen Bildungsweges, so daß sich gleichsam ein Ausweichventil öffnet, durch das die zuvor im Gymnasium selbst ausgetragene Aus-
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einandersetzung abfließen kann. Die organisatorische Scheidung begünstigte den Sieg des Humanismus, der Angriffe gegen das Übergewicht der alten Sprachen jetzt leichter abzuwehren imstande war, weil eine Zweiteilung der Aufgaben in institutionalisierter Form bestand. Daraus erklärt sich, daß die humanistischphilologische Tendenz während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Gymnasien an Kraft gewinnt und sich stärker auszuprägen vermochte. Vielleicht sind STEPHANI und OKEN gerade deshalb in der Gymnasialpädagogik in Vergessenheit geraten, weil unmittelbar nach ihrem Auftreten die Absonderung des realistischen Schulzweiges vom Gymnasium einsetzte. Dadurch wurde ihren Bildungsideen die Stoßkraft genommen. Die Realschule trat dann das Erbe des Realismus an. Sie mußte sich fortan mit den gleichen Vorbehalten und Anschuldigungen auseinandersetzen, die solange der naturwissenschaftlichen Fächergruppe innerhalb der Gymnasien galten. Insbesondere bleibt der Vorwurf haften, daß ein gebildeter Mensch aus den realistischen Unterrichtsanstalten niemals hervorgehen könne, denn diese hätten lediglich eine materielle Tendenz. Auf der 2. Philologenversammlung 1839 in Mannheim zieht THIERSCH in diesem Sinne die Grenze zwischen den höheren Bildungseinrichtungen. Er unterscheidet zwischen der humanistisch-klassischen Bildung als Aufgabe der Gymnasien und der industriell-realistischen Richtung, die sich in den Realschulen ihren Platz suchen sollte. Damit wird die Reinerhaltung der Gymnasien und zugleich ihr alleiniger Bildungsanspruch motiviert. Allgemeine Bildung sei mit den Realschulen nicht verbunden, sondern einzig der gewerbliche Zweck. Es sind dieselben Argumente, die THIERSCH zuvor der Naturkunde gegenüber ins Feld führte, nur die Fragestellung hat sich verschoben. Als Erwiderung auf den Einspruch von STEPHANI und OKEN formulierte THIERSCH diese Ansichten bereits in ähnlicher Weise. Beim „Aufspüren der materiellen Kräfte", die als Ursachen und Gesetze den Naturerscheinungen zugrunde liegen, beuge sich der Geist nieder „von der höheren Richtung nach dem Idealen": „Wer seine frühe Jugend in diese Anschauung versenkt, wird auch als Mann Mühe haben, sich über die Natur in jene Sphäre zu erheben. Alles Geistige ist ihm in diesem großen Prozesse der Naturkraft auf- und zugrunde gegangen."180 Der spätere Gegensatz zwischen Realschulen und Gymnasien, der dann am Ende des 19. Jahrhunderts beim Ringen um die Gleichberechtigung zum Universitätsstudium seine Zuspitzung erfährt, bereitete sich hier schon vor. Die Realschulen könnten nur für die Praxis bilden, weil sich mit Mathematik und Naturwissenschaften kein Zentrum zur harmonischen Entwicklung der Geisteskräfte aufbauen lasse. Eine besondere Belastung aber nimmt die Naturgeschichte aus dieser Zeit mit in die künftigen Auseinandersetzungen hinüber.
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Diesem Fach sprach T H I E R S C H nicht nur jeden Bildungswert ab, sondern auch „für die Sittlichkeit" eine geradezu „gefährliche Seite" zu. Da die Naturgeschichte „auf der Lehre vom Zeugen und Fortpflanzen" beruhe, müßten im naturgeschichtlichen Unterricht jedem „die Mysterien der Erzeugung bis in das Einzelste geöffnet werden". Am Beispiel dieser naturwissenschaftlichen Disziplin beschwört T H I E R S C H besonders eindringlich die drohende Gefahr, die eine Beschäftigung mit der realen Welt mit sich bringen würde: „Endlich ist dieser Unterricht auch dadurch verderblich, daß er im Menschen nicht nur das Tier ganz allein im Auge hat, sondern daß er das Auge zugleich von dem Geist, den Geist von der Erhebung des Gemüts, die Schule von der ganzen idealen Richtung vollkommen ablenkt, um den Knaben auf der Leiter der erzeugten Dinge hinauf und herab, überall aber auf den Schlamm zu führen, aus dem sie alle hervorgegangen und in welchen sie sich auflösten." 181 Die völlige Entfernung der Naturgeschichte aus dem Gymnasium bildet den Angelpunkt der Forderungen, die von humanistischer Seite als Minimum erhoben werden. Das Fehlen dieser Lehrgegenstände im Kreis der Gymnasialstudien ist daher künftig schon gleichbedeutend mit dem erfolgreichen Vordringen der neuhumanistisch-philologischen Richtung. Während der dreißiger Jahre steht der schulgeschichtliche Entwicklungsverlauf ganz im Zeichen der Vorgänge in Bayern, die eine Kettenreaktion nach sich ziehen und auf andere Länder übergreifen. T H I E R S C H S Einwände gegen das Naturstudium an Gymnasien verhallen keineswegs ungehört. Anklagen, Zweifel und Bedenken kehren in monotoner Folge wieder. Moralische und politische Einwände kommen gleichermaßen zum Vorschein. „Naturbildung", so lautet unverändert die Devise, müßte unweigerlich „das geistige Princip des Menschenlebens ersticken, seine ideellen Strebungen hemmen, die höheren sittlichen Güter verschlingen, zur Vernichtung von Bildung und Humanität führen und dadurch das Menschengeschlecht in das Chaos einer modernen Barbarei versenken". 162 In einer Rede vor dem Darmstädter Gymnasium deckt K. D I L T H E Y 1840 die Hintergründe solcher „Uebertreibungen" auf. Es seien „so manche häufig beklagte Uebel der Zeit aus dieser Quelle" geflossen. Daher befürchte man, der „Epidemie des Materialismus" Vorschub zu leisten, wenn „die natürlichen Dinge so allgemein zu einer Grundlage und zu einem wesentlichen Bestandteil der höheren Geistesbildung gemacht" würden. 163 Die Pariser Julirevolution von 1830, in deren Gefolge auch in Deutschland die freiheitliche Bewegung des Bürgertums anwächst, trägt unmittelbar zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen um den naturwissenschaftlichen Unterricht bei. Das zeigt sich besonders an den Ereignissen in Sachsen, wo es dem Humanismus ein zweites Mal gelingt, den Sieg über die Naturwissenschaften davonzutragen. Im Königreich Sachsen war es im September 1830 in Leipzig, Dresden
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und anderen Orten zu ernsteren Unruhen gekommen. Der sächsische König ANTON DER GÜTIGE versprach, die Übelstände in der Regierungsweise zu beseitigen. Sachsen erhielt 1831 den Status einer konstitutionellen Monarchie. Die Geschäfte des Ministers für den Kultus und öffentlichen Unterricht übernahm erstmals ein bürgerlicher Minister (MÜLLER). Jener denkwürdige Landtag vom 25. Juli 1831, der die Grundrechte verkündete, sprach sich in einem „Gesetzentwurf wegen Vorbereitung junger Leute auf den Staatsdienst" auch über die Notwendigkeit des Sachkundeunterrichts an Gymnasien aus: „Der Mangel an gehöriger Anleitung zu dem Studium der RealWissenschaften, und demnach an Vorbereitung und Hinweisung der jüngeren Leute auf die Ansprüche, welche künftig von dem Leben an sie gemacht werden, stellt sich noch immer als ein nicht vollkommen beseitigtes Gebrechen der meisten unserer Gelehrtenschulen dar. Selbst das Studium des klassischen Alterthums, worauf Sachsen mit Recht von jeher stolz sein durfte, bringt ohne jene Anleitung nicht die trefflichen Früchte, zu welchen es an sich den Keim in sich trägt."164 Bereits während der nächsten Landtagsperiode legte die Staatsregierung daraufhin am 22. März 1834 einen „Gesetzentwurf über die Organisation der Gelehrtenschulen" vor, der die Einführung der Naturwissenschaften auf die Tagesordnung setzte.185 Der § 8 enthielt die wichtige Bestimmung, alle Gymnasien mit den notwendigen physikalischen Apparaten und einer naturhistorischen Sammlung auszustatten. Zu deren Unterhaltung sollte außerdem jährlich eine bestimmte Summe bewilligt werden. Der Antrag fand lebhafte Zustimmung bei den sächsischen Gymnasialdirektoren, die sich im Mai 1834 auf einer Konferenz für dessen Annahme aussprachen.166 Die Konstellation schien günstig. Trotzdem gelang es der Gegenpartei, gegen den Willen der Staatsregierung und die Meinung der Lehrerschaft die Gesetzesvorlage in allen entscheidenden Punkten zu revidieren. Der naturwissenschaftliche Unterricht wurde wieder gestrichen. Den Ausschlag hatte ein Separatvotum gegeben, das der Leipziger Superintendent Dr. GROSSMANN am 13. Juli 1834 in den „Nachrichten vom Sächsischen Landtage" veröffentlichte.167 Mit seinem Separatvotum macht GROSSMANN sich zum Anwalt der den Naturwissenschaften „principiell feindlichen Geistesrichtung".168 Der Zusammenhang mit den Schulkämpfen in Bayern sticht besonders hervor. So fehlt nicht die lobende Erwähnung des bayerischen Beispiels, wo das Gymnasium bereits „Gestalt und Farbe gewonnen" habe. Der Hauptstoß gilt dem „neuesten Modeprincipe der beliebten Allseitigkeit, das sich in der pomphaften Forderung ausspricht: Aller Unterricht muß die gesammte Cultur der Welt in sich fassen." In enger Anlehnung an THIERSCH wird es als „Ueberschreitung der Grenze" im Gelehrtenschulwesen bezeichnet, „Klassicität und Naturwissenschaft" miteinander zu verbinden.
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In seiner Eingabe fordert GROSSMANN die Abgeordneten auf, die „Vorschläge der Deputation" abzulehnen. Vorläufig sei der Streit zwischen den „getreuen Freunden der classischen Studien" und den „der Humanitätswissenschaft abholden Realisten" noch nicht beigelegt. Es gezieme „der Weisheit E. hohen Kammer" daher nicht, „in einem wissenschaftlichen Parteikampfe dieser Art, vor der Zeit Partei zu ergreifen". Vor allen Dingen bestehe über die Zweckmäßigkeit der Naturgeschichte noch keine Klarheit. Ferner plane das Ministerium mit dem Schulgesetz auch noch die Einführung der Chemie, gedenke die Gymnasien „also mit der ganzen flachen Bildungsweise der französischen Colleges, so Gott will, zu beglücken". Um seinen Argumenten den nötigen Nachdruck zu verleihen, stellt GROSSMANN die provozierende Frage, ob die sächsische Regierung mit diesen Maßnahmen „nicht recht absichtlich die zu mäßigende Unruhe beflügeln" wolle. Er erinnert daran, daß Naturkenntnisse bekanntlich den „Geist der Unruhe" schüren. „Wir leben in einer Zeit, wo gerade diese Aufgabe alle Regierungen aufs Höchste beschäftigt." Die „classischen Studien" hingegen hätten ihre Bewährungsprobe doch „in den Stürmen des Jahres 1830 als eine wesentliche Stütze der Ordnung" bestanden und das Verhalten der Jugend gezügelt. Daher sei es ihm unverständlich, „daß unsere erleuchtete Regierung den Geist der Pariser école politecktiique et militaire über den Rhein zu uns herüber wünsche". GROSSMANN macht auf die Gefahren „politischer Art" für die Monarchie aufmerksam: „Muß nicht jeder Freund wahrer Geistesbildung, der nicht vor dem goldenen Kalbe des wandelbaren Zeitgeistes mit anbetet, den verehrten Volksvertretern aus aller Brust zurufen: ,Halt, was Du hast, daß Dir Niemand Deine Krone raube'?" Mit diesem Appell gewann GROSSMANN die Mehrheit. Die Bemühungen der Staatsregierung um die Einführung des naturwissenschaftlichen Unterrichts waren damit gescheitert. Nach dieser Niederlage herrschte unter Naturwissenschaftlern, Lehrern und selbst beim „aufgeklärten Theil der Humanisten" große Verbitterung. Das Ministerium ließ nunmehr Gutachten einholen, um den Nachweis zu erbringen, daß andere Länder „den Werth der Naturwissenschaften als allgemeines Bildungsmittel der gesamten Menschheit anerkannt" und schon längst entsprechende schulgesetzgeberische Maßnahmen getroffen hatten. 16 * Aber erst im Jahre 1846 gelang es in erneuten Verhandlungen, eine Revision der Schulordnung zu erzwingen. Solange lastete nunmehr auch in Sachsen — ebenso wie in Bayern — „dieser einseitige und blinde Humanismus auf den Naturwissenschaften wie ein böser Alp".170 Unter dem Eindruck der Ereignisse in Bayern und Sachsen wird von nun an auch in Preußen die Unterrichtsverfassung der Gymnasien lebhaft erörtert. Bis
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zum Erlaß der neuen Lehrordnung im Jahre 1 8 3 7 , die JOHANNES SCHULZE im sogenannten „blauen Buch" niederlegte, stehen die Vorschläge von STEPHANI und OKEN im Mittelpunkt der pädagogischen Diskussion.171 In völliger Übereinstimmung mit den Grundsätzen STEPHANIS entwarfen zum Beispiel die Direktoren der Provinz Preußen auf ihrer 1. Konferenz vom 30. Juni bis 2. Juli 1831 einen Lehrplan für höhere Lehranstalten. Den Vorsitz führte Provinzialschulrat Dr. LUCAS. Außer den 1 2 anwesenden Direktoren nahm HERBART an den Beratungen teil, dessen rege Beteiligung im Protokoll ausdrücklich vermerkt wurde. Die erste Verhandlungsphase galt dem Bemühen, über die „Idee des Gymnasiums" Klarheit zu gewinnen.172 Die Direktoren vertraten bei der Festlegung des Bildungszieles die Ansicht, daß in der höheren Schule eine „vollständige und allgemeine Bildung der Jugend" erreicht werden müsse. Sie übertrugen das Bild von „Wurzel" und „Stamm" auf das Verhältnis von „Elementarbildung" und „Gymnasialbildung". Allgemeinbildung bestimmten sie wie STEPHANI nach formalen und materialen Gesichtspunkten. Der „Entwickelung der Denkkraft" sei größte Aufmerksamkeit zu schenken, weil „der Mensch ein denkendes Wesen" ist. Dem Inhalte nach umfasse das durch die Schule zu vermittelnde Wissen „drei große Kreise: Mensch, Natur, Gott". Dieses Einteilungsprinzip habe der Lehrplangestaltung zugrunde zu liegen. Danach richte sich in jedem Falle die Auswahl der „Bildungsmittel". Im Hinblick auf Anordnung und Aufteilung der Lehrstoffe zeigt sich ebenfalls eine enge Berührung mit der Version STEPHANIS. So rückt in der Rubrik „Mensch" die Mathematik als „hervorragendes Bildungsmittel" ganz nach vorn. Auf Ablehnung stoßen Latein und Hebräisch. Griechisch soll wegen der „inneren Vorzüge" beibehalten werden. Die „historische Bildung" gehört neben den künstlerischen Fächern Musik und Zeichnen zu den „Elementen der allgemeinen Bildung". Zur „Bildung des menschlichen Leibes" zählen gymnastische Übungen. Den naturkundlichen Fächern wird besondere Bedeutung beigemessen. Zur Rubrik „Natur" rechnet auch Erdkunde. Der Religionsunterricht leitet auf Gott hin. Die Rubrik „Gott" stellt für den gesamten Unterricht „die große Einheit" dar, „auf welche sich alles beziehen müsse". Dieser Bildungsidee des Gymnasiums entspringen die Ziele und Aufgaben der Einzelfächer. Dabei ergeben sich für die „Naturkunde" folgende Schwerpunkte: „Auf der unteren Stufe sind Einzelbilder zu geben, auf der mittleren ist das System zu lehren. Viele sind dafür, daß der Unterricht auch auf der Oberstufe ertheilt werde und zu dem Physiologischen fortschreite. Der physikalische Unterricht gehört auf die Oberstufe; doch sind die einfachsten Gesetze und Erscheinungen auch schon auf der Unterstufe und Mittelstufe gelegentlich zu behandeln."
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Das Schulsystem gliedert sich in Unter-, Mittel- und Oberstufe mit jeweils 4 Klassenabteilungen. Die Schüler besuchen das Gymnasium vom 6. bis 18. Lebensjahr. Auf diese Weise entsteht der Typ einer Einheitsschule, in der die einzelnen Wissensgebiete aus den Bereichen von Mensch-Natur-Gott vollständig vom ersten Schuljahre an vertreten sind und stufenförmig ihre Ausdehnung erfahren. Das methodische Problem des Anfangsunterrichts wird durch „lebensnahe Bilder" gelöst. Das Ergebnis der mehrtägigen Beratungen ist eine einheitliche Stundentafel. Diese sollte nach übereinstimmender Auffassung aller Konferenzteilnehmer richtungweisend für das zukünftige Gymnasium sein (vgl. Tabelle). Der Anteil der Naturkunde im Lektionsverzeichnis beträgt 28 Planstunden. Davon entfallen auf Naturgeschichte 20 und auf Physik 8 Stunden. Der naturkundliche Unterricht beginnt bereits in der Unterstufe mit wöchentlich 2 Lehrveranstaltungen, wird also durchgängig in allen Klassen erteilt und in der Oberstufe sogar im Plansoll auf 3 Wochenstunden erhöht. Latein kommt ganz in Wegfall! Von den klassischen Studien bleibt lediglich Griechisch erhalten, dem mit 104 Stunden im Gesamtlehrplan nur noch rund 20 %> der verfügbaren Unterrichtszeit eingeräumt werden. Demgegenüber hat sich die Position der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer schon soweit gefestigt, daß sie mit ebenfalls 104 Lektionen in derselben Größenordnung auftreten. Auf ihrer ersten Zusammenkunft widmeten sich die Direktoren der Provinz Preußen einem einzigen Tagesordnungspunkt: dem Lehrplanproblem. Die in diesem Zusammenhang vorgetragenen Gedanken waren zunächst als „ideelle Betrachtung" gedacht. Nachdem die Konzeption ausgearbeitet vorlag, konzentrierten sich die Überlegungen auf die „Realisierbarkeit dieser allgemeinen Idee unter den historisch gewordenen Verhältnissen, in denen der Staat und die Kirche Anforderungen stellten und auch die Gelehrsamkeit ihre Rechte geltend machte". Vorläufig käme daher ein Verzicht auf den Lateinunterricht noch nicht in Frage, weil die Kenntnis der römischen Welt sich an das Lateinische binde. Jedoch bestehe durchaus die Möglichkeit, „daß diese Sprache bei veränderten Culturverhältnissen entbehrlich werden könne". Die Anpassung an die Wirklichkeit zieht Veränderungen im Gefüge des Ideallehrplans nach sich. Am meisten betroffen ist Griechisch, das nunmehr wie im Normalplan von 1816 erst ab Klasse IV mit durchschnittlich 6 Wochenstunden angesetzt wird. Auch die Naturkunde erleidet Einbuße, behält aber trotzdem pro Klasse und Woche 2 Stunden. Im großen und ganzen halten die Direktoren demnach an der bisherigen Regelung fest. Nur Geschichte und Geographie sind um 1 bis 2 Lektionen für jeden Schülerjahrgang vermehrt worden. Obwohl die Debatten allem Anschein nach nahezu ergebnislos endeten, darf der tiefere Sinn der Direktorenkonferenz in der Provinz Preußen im Jahre 1831
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Zahl der Wochenstd.
Religion
Physik
Geographie
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