146 64 24MB
German Pages 349 [352] Year 1995
Hokkaidö 1
Hokkaido
Hakodate
Aomori Akita Iwate
Kinki
Yamagata
24
Mie
Miyagi
25
Shiga
Fukushima
26
Kyoto
27
Nara
28
Osaka
29
Wakayama
30
Hyögo
Sendai
Chügoku 31
Tottori
32
Okayama
33
Hiroshima
34
Shimane
35
Yamaguchi
Kanto
-11 Vj IT^nTokyo 4·;/Yokohama
Ibaraki 10
Gunma Saitama
12
Chiba
13
Tokyo
14
Kanagawa
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Nagoya
33
Tochigi
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Shikoku
Kagoshimar
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Kagawa
Kyushu
37
Tokushima
38
Kochi
40
Fukuoka
39
Ehime
41
Saga
42
Nagasaki
43
Kumamoto
44
Öita
45
Miyazaki
46
Kagoshima
47
Okinawa
\
Chubu 15
Shizuoka
16
Yamanashi
17
Nagano
18
Niigata
19
Toyama
20
Ishikawa
21
Fukui
22
Gifu
23
Aichi
Die Präfekturen Japans (Quelle: Hans A. Deitmer: Einführung in das Studium der Japanischen Geschichte. Darmstadt.
Rudolf Hartmann Geschichte des modernen Japan
Rudolf Hartmann
Geschichte des modernen Japan Von Meiji bis Heisei
Akademie Verlag
Für meine Familie Hannelore Birgit und Ramona
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hartmann, Rudolf: Geschichte des modernen Japan : Von Meiji bis Heisei / Rudolf Hartmann. - Berlin : Akad. Verl., 1996 ISBN 3-05-002637-5
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1996 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Dörlemann-Satz, Lemförde Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Dieter Mikolai, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort
9
Kapitel I Der Aufbruch in die Moderne: Vom Sturz der feudalen Tokugawa-Herrschaft zur konstitutionellen Monarchie
11
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
11 21 25 31 38 47 55 59 63 69
Japan bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Kaikoku. Das Land öffnet sich Die meiji ishin: Verlauf, Ursachen und Charakter Reformen und das Ende der samurai Oppositionelle Bewegungen. Bauernaufstände, ίΛ/ζο/cu-Erhebungen, jiyü minken undo ... Industrialisierung Wandlungen in der Sozialstruktur und deren Wirkung Neue Entwicklungen in Bildung und Kultur Die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie Schwerpunkte der Diplomatie bis zum japanisch-chinesischen Krieg 1894/95
Kapitel II Der Weg zur Großmacht. Vom japanisch-chinesischen über den russisch-japanischen zum Ersten Weltkrieg 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Der japanisch-chinesische Krieg Wirtschaftsaufschwung und politisches Erstarken des Bürgertums Anfänge einer Gewerkschafts- und sozialistischen Bewegung Der russisch-japanische Krieg 1904/05 Innenpolitische Entwicklungen nach dem Kriege Profilierung des Monopolkapitals und der zaibatsu Imperialismus und Expansion Beginn der Periode taisho Eintritt in den Ersten Weltkrieg
79 79 83 88 93 102 104 107 114 118
6
Inhalt
Kapitel III Vom Kriegsende zur Weltwirtschaftskrise
122
1. Nachkriegsjahre 1918-1923 - Kriegsergebnisse und neue gesellschaftliche Tendenzen - Sibirienintervention, „Reisunruhen" und das Hara-Kabinett - Nachkriegswirtschaft - Formierung einer demokratischen Massenbewegung - Von der Pariser zur Washingtoner Konferenz - Geistig-kulturelle Tendenzen 2. Jahre relativer Stabilität - Gedämpfte Wirtschaftsbelebung - Stabilisierung der Parteienkabinette - Rechtsnationalismus und die Spaltung der Linken - Shidehara-Diplomatie - Die Tanaka-Regierung 3. Im Sog der Weltwirtschaftskrise. Ökonomische, soziale und politische Wirkungen
122 122 123 128 131 136 143 146 146 148 152 157 160 165
Kapitel IV Vorbereitung und Verlauf des Asiatisch-Pazifischen Krieges. 1931 bis 1945
172
1. Die militärische Unterwerfung der Mandschurei - Der Überfall und seine Hintergründe - Wirkungen auf die Innen- und Außenpolitik 2. Der Weg in den Krieg - Rüstung, „Neue zaibatsu" und „Reformbürokratie" - Machtkämpfe in der Armee und der Februarputsch 1936 - „Grundprinzipien der nationalen Poliitk" - Die Ausweitung des Krieges gegen China - Generalmobilmachung der Nation - „Japanischer Faschismus"? - Entscheidung für die Expansion Richtung Süden 3. Der Asiatisch-Pazifische Krieg
172 172 176 180 180 183 185 187 190 192 194 199
Kapitel V Die Besatzungszeit. 1945-1952
210
1. Demokratische Wandlungen in Politik, Wirtschaft und Kultur 2. Der Gegenkurs. Japans Einbeziehung in die Politik des Kalten Krieges 3. Friedensvertrag und Sicherheitspakt
210 221 227
Inhalt
7
Kapitel VI Werden und Sein einer Weltwirtschaftsmacht. Japan seit 1952
232
1. Das Dezennium allseitiger Konsolidierung - Die ersten Jahre der Unabhängigkeit - Polarisierung der politischen Kräfte - Normalisierung der Beziehungen zur UdSSR - Das Kishi-Kabinett und die Revision des Sicherheitsvertrages 2. Auf dem Wege zum dritten Machtzentrum unter den Industriestaaten. Die sechziger Jahre - Hohes Wirtschaftswachstum - Soziale und politische Entwicklungen - Japan wird „dritter Pfeiler der Freien Welt" - Außenpolitik unter Ikeda - Anhaltender Wirtschaftsboom unter Satö - Ausbau der Positionen in Asien - Erstarkende Opposition 3. Entwicklungen ab Mitte der siebziger Jahre - Vom Boom zur Rezession und neuerlichen Belebung - Die politische Krise der siebziger Jahre - Entspannungsdiplomatie - Restabilisierung der Wirtschaft und der konservativen Herrschaft. Die achtziger Jahre . . - Epilog: Von shöwa zu heisei
232 232 237 242 247 253 253 255 260 266 268 273 275 275 278 282 287 295
Anhang
299
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
301 302 303 304 307 311 318 320 322 324 325 325 326 335
Bevölkerungsentwicklung Liste der genro Liste der Präsidenten und Vizepräsidenten des sümitsuin Entwicklung wichtiger bürgerlich-konservativer Parteien Entwicklung der Volksparteien Liste japanischer Kabinette 1885 bis 1993 Mandate der Parteien im Unterhaus (shugiin) 1890 bis 1993 Wandlungen in der sozialen Struktur 1888 bis 1975 Glossar japanischer Termini Verzeichnis der Tabellen Verzeichnis der Diagramme Verzeichnis der Karten Literaturverzeichnis Sach- und Namensindex
Vorwort
Die moderne Geschichte Japans beginnt mit der meiji ishin, der großen historischen Umwälzung ab 1868. Sie reicht nach japanischer Zeiteinteilung von der Periode meiji (18681912) über die Perioden taisho (1912-1926) und showa (1926-1989) bis zur Periode heisei (ab 1989). Sie umfaßt damit einen Zeitraum von fast 140 Jahren, ein in der Geschichte nur kurzer Augenblick, in der die Gesellschaft sich indes grundlegend umgestaltete. In dieser kurzen Spanne wuchs Japan von einem im Westen nahezu unbekannten, vergleichsweise zurückgebliebenen und isolierten Lande „am Rande der Welt" zu einer Großmacht ersten Ranges heran. Auf den fernöstlichen Inseln vollzogen sich in rascher Abfolge zahlreiche tiefgreifende Wandlungen in der Entwicklung der Wirtschaft, in der Politik, im geistigkulturellen und im sozialen Leben der Menschen. Nach außen erfolgten der militärischexpansionistische Aufbau eines Großreiches, eines Daitiippon, und dessen totaler Zusammenbruch 1945, der seinerseits wieder zum Ausgangspunkt einer Neubestimmung fur die weitere Entwicklung wurde und Japan den Weg zu einem Wirtschaftsgiganten öffnete. Die japanische Geschichte dieser Zeit ist so vielfältig und farbig, daß sie in einer solch knappen Darstellung nur sehr unvollkommen reflektiert werden kann. Der Autor muß mit dem Vorwurf leben, selbst an wichtigen Begebenheiten vorbeigegangen zu sein oder sie nicht genügend berücksichtigt zu haben. Dies trifft um so mehr zu, da es sich um die Geschichte eines Volkes handelt, das einem uns weniger vertrauten, nichteuropäischen Kulturkreis angehört, diesen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wesentlich mitprägte. Das Buch stellte sich die Aufgabe, aus der Vielfalt der Ereignisse möglichst typischen, den allgemeinen Geschichtsverlauf charakterisierenden Aktionen und Tendenzen nachzugehen. Es versucht, sowohl Wandlungen der sozialökonomischen Strukturen, Veränderungen in der Wirtschaft, als auch innen- wie außenpolitisch relevante Linien zu skizzieren. Auch geistig-kulturellen Prozessen wurde gefolgt, um über sie die Sicht auf neue gesellschaftliche Entwicklungen zu vertiefen. Ein vorangestellter kurzer Rückblick auf die japanische Geschichte vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts will helfen, Gesamtzusammenhänge, besonders aber den Prozeß des Übergangs zum modernen Japan besser zu verstehen. Das Buch wendet sich an Japanspezialisten, aber auch an allgemein an der modernen historischen Entwicklung Japans Interessierte mit der Hoffnung, Orientierungshilfe sein zu können. Es will eine Lücke schließen helfen, die hinsichtlich einer Gesamtschau der modernen japanischen Geschichte existiert.
10
Vorwort
Meinen Dank möchte ich aussprechen der „Japan Foundation", (der Kokusai Köryü Kikin), die durch Gewährung eines mehrmonatigen Studienaufenthaltes in Japan zum Gelingen des Buches wesentlich beigetragen hat. Mein Dank gilt ebenso Frau Astrid Brochlos von der Humboldt-Universität Berlin und Herrn Klaus Müller von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf für zahlreiche fachliche wie allgemeine Hinweise und er gilt nicht zuletzt den Studenten der Japanologie, die während meiner Vorlesungen und Seminare durch ihre Fragestellungen und ihre Sicht der Dinge zu zahlreichen Überlegungen anregten. Verpflichtet bin ich Herrn Bernhard Tesche vom Akademie Verlag für sein nimmermüdes Interesse am Gelingen der Arbeit. Für ihr Verständnis und ihre Unterstützung danke ich besonders meiner Frau Hannelore Hartmann. Einige Bemerkungen zur Schreibweise und Aussprache. Benutzt wurde durchgängig die übliche wissenschaftliche Transkription nach Hepburn (Romajikai). Groß geschrieben wurden alle Eigennamen, d.i. alle Personen- und geographischen Namen, aber auch alle Organisationen, Parteien und Firmen in ihren einzelnen Teilen - wie Rikken Seiyükai oder Mitsui Bussan. Alle anderen Termini folgen - auch im Falle einer substantivischen Bedeutung - der Kleinschreibung etwa tennö, samurai, shugiin (Haus der Abgeordneten), han (Clan), ken (Präfektur). Damit soll dem Japanischen, das nicht zwischen Groß- und Kleinschreibung unterscheidet, Rechnung getragen werden, während die Großschreibung der Eigennamen einen Kompromiß an gängiges deutsches Sprachempfmden darstellt. Aus dem Japanischen abgeleitete, in Europa geprägte und genutzte Worte wie das aus shdgun entstandene Wort Schogunat (japanisch bakufu) oder das von daimyo abgewandelte Daimyat (japanisch han) unterliegen, da nicht japanisch, keiner Transkription. Japanische Begriffe, ausgenommen die Personen- und Ortsnamen, erhielten zur besseren Kennzeichnung kursive Schriftzeichen. Die Literaturangaben verzichten indes darauf. Als Lesehilfe dient hin und wieder ein Apostroph. Es soll darauf aufmerksam machen, daß in einem solchen Fall aufeinanderfolgende Vokale getrennt gesprochen werden, so Taka'aki oder ji'eitai (Selbstverteidigungskräfte). Der Zirkumflex über einem Vokal zeigt die übliche Bedeutung an, eine gedehnte Aussprache des betreffenden Vokals, etwa Tokyo, Kyoto, tennö. Die Nennung von Personennamen folgt dem japanischen Usus: zuerst der Familien- und dann der Rufname. Zur Aussprache sei allgemein festgehalten, daß Konsonanten etwa wie im Englischen (g indes wie im Deutschen) artikuliert werden, s immer scharf (etwa wie in was) und ζ stets wie ein stimmhaftes s (etwa in Susanne) gesprochen wird. Abweichungen von dieser Schreibweise können bei wortgetreu wiedergegebenen Zitaten aus deutschsprachigen Quellen auftreten, sofern dort nicht die Hepburnsche Umschrift verwandt wurde (etwa statt Tokyo - Tokio). Die im Anhang befindliche Literaturliste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie gibt die für die Erarbeitung des Buches „benutzte" Literatur wieder, doch wird der geneigte Leser dabei sicher auch weiterführende Anregungen finden. Das Glossar am Buchende will wiederholt auftauchende japanische Termini kurz erläutern, Verständnis- oder auch nur Erinnerungshilfen geben. Es erhebt ebenfalls keinen Anspruch auf Vollständigkeit. In der Regel wurde im Text darauf geachtet, sie bei ihrer Erstnennung inhaltlich zu definieren.
KAPITEL I
Der Aufbruch in die Moderne: Vom Sturz der feudalen Tokugawa-Herrschaft zur konstitutionellen Monarchie
1. Japan bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Erste Kunde über die Existenz des fernöstlichen Kaiserreiches erreichte Europa im ausgehenden 13. Jahrhundert durch den venezianischen Kaufmann und Weltreisenden Marco Polo. Er nannte das Land Zipangu, abgeleitet von der chinesischen Bezeichnung Riben-guo, „Land, in dem (aus der Sicht Chinas - R. H.) die Sonne aufgeht". Japan prägte diesen Terminus in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, unter Verwendung derselben chinesischen Schriftzeichen und Bedeutung, in der Lautung Nihonkoku. Marco Polo hatte Japan nicht selbst gesehen, von ihm aber während seines 17jährigen Aufenthaltes am chinesischen Hof (1275-92) wiederholt gehört. Seine Berichte enthielten daher neben Wahrheit auch Legende, so die vom großen Goldreichtum des Landes. Gerade letzteres aber spornte in Europa dazu an, das unbekannte Land zu finden. 1543 betraten die ersten Europäer, Portugiesen j a p a n i s c h e n Boden, und seit dieser Zeit nahmen die Kenntnisse über das Reich des Mikado konkretere und zuverlässigere Gestalt an. 1 Woher aber die Japaner kamen, seit wann sie den fernöstlichen Inselbogen besiedelten und einen aktiven Teil der Weltgeschichte bildeten, wird noch heute kontrovers diskutiert. So erkannte man auch erst seit 1949, daß in Japan bereits im Paläolithikum Menschen gelebt haben, etwa vor 100000 Jahren, der Zeit des Neandertalers in Europa. 2 Nachfolgende archäologische Funde ließen die Zeit für die Besiedlung Japans auf etwa 200000 Jahre anwachsen, und 1993 wurden in der Präfektur Miyagi, im Norden Japans, steinzeitliche Gerätschaften ausgegraben, deren Alter sogar auf 500000 Jahre bestimmt wurde. 3
1 Ausgezeichnete Informationen vermittelt der Katalog „Japan und Europa 1543-1929" (Berlin 1993), über die gleichnamige Ausstellung der „43. Berliner Festwoche" im Martin-Gropius-Bau Berlin. 2 1949 wurden bei Ausgrabungen in Iwajuku, Präfektur Gumma, erstmals aus der Zeit des Paläolithikums stammende Steinwerkzeuge gefunden, die von der Existenz einer frühen menschlichen Kultur zeugen. Ähnliche Entdeckungen machten Archäologen danach an zehlreichen Stellen zwischen Hokkaido und Kyüshü. s. Higuchi Takayasu: Nihonjin wa doko kara kita ka. Tökyö 1971 (9. Aufl. 1975), S. 83fT. 3 Astrid Brochlos: Japan: Archäologische Höhepunkte des Jahres 1993 und ihre Bedeutung für die Geschichtsschreibung. In „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft", H.5, 1994, S. 442ff.
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Der Aufbruch in die Moderne
Man geht heute davon aus, daß Japan ursprünglich ein Teil des asiatischen Festlandes gewesen war und sich vor etwa 200 Millionen Jahren von diesem zu lösen begann, bedingt durch tektonische Veränderungen in der Erdkruste. Vor etwa 50000 Jahren war zwar Hokkaidö bereits vom übrigen Japan abgetrennt, Honshü, Kyüshü und Shikoku aber hatten untereinander noch Landverbindung und wurden erst durch nachfolgende weitere tektonische Verschiebungen und Bodenabsenkungen - noch heute zählt die Region zu den erdbebenreichsten Gebieten der Welt - zu eigenständigen Inseln. Bis zum Ende der letzten Eiszeit vor ca. 12 000 Jahren bestanden Verbindungen zum Festland über das Eis. Und erst seit etwa dieser Zeit bildet Japan einen vom Festland völlig losgetrennten Inselbogen. Die heutigen Japaner gelten als ein Mischvolk, als deren Vorfahren man innerasiatische und indonesisch-polynesische Völker annimmt. Sie kamen in mehreren Einwanderungswellen vor allem nach Südwestjapan und breiteten sich von Kyüshü auf die anderen Teile Japans aus. Neuest Erkenntnisse indes lassen eine Einwanderung auch vom Norden her und in noch früherer Zeit als wahrscheinlich erscheinen. 4 Von den älteren Kulturen am besten erforscht sind die jömon- und die Kyo/-Kultur. Die erstere umfaßte etwa die Zeit von 8000 bis 300 v.u.Z. und verdankt ihren Namen den „Schnurornamenten" (jömon) auf Tongefäßen, die man an zahlreichen Orten auf den japanischen Hauptinseln (mit Ausnahme Hokkaidös) gefunden hatte. Neben Tongefaßen und -figuren entdeckte man in Muschelhaufen (kaizuka), in Wohn- und Begräbnisstätten auch aus Stein gefertigte Äxte, Pfeilspitzen und Netzbeschwerer sowie Angelhaken und Harpunen aus Horn und Knochen. Die Träger dieser Kultur lebten als Jäger, Fischer und Sammler. Erst am Ende der Periode - etwa ab 1000 v.u.Z. - zeigten sich Ansätze von Ackerbau und Seßhaftigkeit. Die nachfolende Kzyo/'-Kultur, die ihren Namen nach ersten Funden einer hochwertigen Keramik in Yayoi, einem Stadteil des heutigen Tökyö, erhielt, wird von 300 v.u.Z. bis 300 u.Z. datiert. Sie ist keine Fortsetzung der jömon-Kultur, sondern wird von einer neuen Einwanderungswelle getragen, die vom Fetsland über die koreanische Meerenge nach Kyüshü kam. Ihre Träger kannten Metallgebrauch und Naßfeldbau und erwiesen sich den ansässigen Bewohnern überlegen, verdrängten diese in den Nordosten des Landes oder ordneten sie sich unter und vermischten sich mit ihnen. Sie gelten als die eigentlichen Vorfahren der heutigen Japaner. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten schriftlichen Dokumente über das Land, festgehalten in chinesischen Quellen, den späteren Han- und den Wei-Annalen, geschrieben im 3. Jahrhundert. Dort ist die Rede von einem Land, das „südöstlich von Südkorea mitten im Meer" liege und „mehr denn 100 Königreiche" umfasse, von denen wiederum 30 an China Tribut zahlen würden. 5 Mit den „Königreichen" sind offensichtlich Stammesverbände gemeint, die, aus blutsverwandtschaftlichen Banden hervorgegangen, sich allmählich zu hierarchisch gegliederten Sippen (uji) vereinten. Je nach ihrer Stärke und Größe besaßen sie Einfluß. Die Oberhäupter dieser Sippen oder Clane (uji no kami) leiteten ihre Stellung von unterschiedlichen, zumeist lokalen (Schutz-) Gottheiten her und praktizierten damit den japanischen Natur- und Ahnenkult, den shintö, der bald zur nationalen Religion werden sollte. Den obersten Rang nahm die Sonnengöttin Amaterasu Omikami ein, als deren 4 Ebenda. 5 George B. Sansom: Japan. Von der Frühgeschichte bis zum Ende des Feudalsystems. Aus dem Englischen übertragen von Dr. Peter Fisher. Essen 1975, S. 25 f.
Japan bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
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direkte Nachkommen sich noch heute die japanischen Kaiser betrachten. Der diesen gegebene Name tennö, „Himmlischer Herrscher", weist darauf hin. Etwa um 300 beginnt die Periode der kofurt oder Hügelgräber, die sich bis ins 7. Jahrhundert erstreckt. Sie wird auch als Yamato-Dynastie bezeichnet, da sich das Zentrum der Macht in Yamato, dem heutigen Gebiet um Nara, befand. Mächtige Megalithgräber sind uns überliefert, deren Größe und Grabbeigaben die Macht einzelner Herrscher widerspiegeln. So ist die Grabanlage des Nintoku tennö, dessen Regierungszeit heute auf die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts datiert wird 6 ,475 m lang, bis zu 300 m breit und bis zu 30 m hoch. Es ist die Zeit der Staatsbildung. Die soziale Differenzierung in der Gesellschaft ist bereits weit fortgeschritten. Zwischen den uji gab es eine gewisse Rangfolge, es war ein Abhängigkeitsverhältnis entstanden mit dem mächtigsten von ihnen, dem späteren Kaiserhaus, im Zentrum. Aus den Clansoberhäuptern {uji no kami) entwickelte sich eine Art Erbadel, in dessen Familien Landbesitz sowie bestimmte Regierungs- oder Verwaltungsfunktionen vererbbar wurden. Unter diesen standen Würdenträger von örtlicher Bedeutung (kuni no miyatsuko und agatanushi). Die große Masse des Volkes bestand aus in Wohn- und Berufsgruppen (sog. be) unterteilte Freie und Unfreie. Ob es eine Sklaverei gegeben hat, wird noch heute gegensätzlich debattiert, doch wenn es sie gab, dann war sie ganz sicher nicht ausgeprägt. Selbst die Verfechter derselben schätzen den Anteil der sklavenähnlich Abhängigen auf nur etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung, die fast ausschließlich als Haussklaven lebten. Die Schwierigkeit der Sklavenbeschaffung - etwa durch Eroberungskriege - bildete ebenso ein natürliches Hindernis wie der verbreitete Naßfeldbau, der eine fur Sklaven ungeeignete intensive Landbearbeitung zur Voraussetzung hatte. Eher kann man eine Zwischenstufe ausmachen zwischen Urgemeinschaft (wie in der yomon-Kultur) und einer Sklaverei mit den Hauptmerkmalen einer gemeinsamen Bearbeitung eines gemeinsamen Grundbesitzes und einer Abgabe des über den unmittelbaren eigenen Bedarf hinaus Produzierten an den Monarchen, das Clansoberhaupt oder einfach an den örtlichen Machthaber. Beachtliche kulturelle Einflüsse erreichten Japan in der kofun-Zeit aus China und Korea. Relativ regelmäßige Kontakte zum Festland können in Zusammenhang gebracht werden mit der letzten Einwanderungswelle vor der Zeitenwende. Zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert verfügte Japan über recht stabile Positionen in Korea. Von hier erfolgte die Einfuhrung der chinesischen Schrift (Anfänge um etwa 400) sowie des Buddhismus (Mitte des 6. Jahrhunderts). Letzterer faßte neben der japanischen Religion des shintö Fuß und wirkte mit seiner straffen, disziplinierten Organisation fördernd auf die sich um einen Monarchen herausbildende Zentralgewalt. Teile beider Religionen verschmolzen in den nachfolgen Jahrhunderten miteinander, um erst mit der mey/'-Restauration und der Schaffung des Staats-ίΛ/ηίό (kokka shinto) aus machtpolitischen Gründen wieder säuberlich getrennt zu werden. Das 7. Jahrhundert kann als das Jahrhundert der Reformen angesehen werden, in dem die Grundlagen fur einen zentralisierten frühfeudalen Staat gelegt wurden. Als Einzelperson ragte Shötoku taishf, heraus, der zwischen 593 und 622 unter der Kaiserin Suiko tennö als Regent die Geschicke des Landes leitete. Im Jahre 604 erließ er die „17 Verfassungsartikel" (kempö jushichijö), die u. a. erstmals die alleinige Herrschaft des tennö als oberstes Prinzip 6 Die Mythologie datiert seine Lebenszeit zwischen 259 und 399, seine Regierungszeit auf 313-399. 7 taishi svw. Kronprinz.
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Der Aufbruch in die Moderne
verkündeten. Machtkämpfe unter den mächtigsten Clanen («/'/') gipfelten 645 in einer Palastrevolte. Sie war Ausgangspunkt fur umfassende Reformen (taika), wie sie Shötoku bereits vielfach angedacht hatte, doch noch nicht verwirklichen konnte. Sie erstreckten sich über die zweite Hälfte des 7. Jahrhundert und wurden im Taihö-Kodex (taihö ritsuryö) 701 endgültig fixiert. Die wichtigsten von ihnen betrafen die Abschaffung des Privatbesitzes an Land. Aller Boden wurde dem tenno übereignet, und alle Japaner wurden zu seinen Untertanen erklärt. Die bisherigen Landeigentümer, der „Adel" in Gestalt der uji no kami, wurden zu Verwaltern ihrer ehemaligen Besitzungen bestimmt und vom Kaiser mit Amt und Rang versehen. Das Volk wiederum erhielt nach der Größe der Familien Land (sog. Kopfanteilland, kubunden) zur Bearbeitung zugeteilt, von dem es Abgaben zu entrichten hatte. Nach chinesischem Vorbild wurden ein zentralistischer Verwaltungs- und Beamtenapparat etabliert und das Land in Provinzen und Distrikte unterteilt. Unter den neuen Bedingungen entwickelten sich die Produktivkräfte, Landwirtschaft, Handwerk und Kultur gediehen. 710 entstand mit Nara die erste feste Hauptstadt Japans, in der mehrere tenno nacheinander regierten, während bis dahin die Metropole mit jedem Monarchen gewechselt hatte. In der nun folgenden, nach der Hauptstadt benannten NaraZeit (710-784) entstanden die heute noch erhaltenen ältesten Schriften, darunter das „Kojiki" (Chronik alter Begebenheiten) im Jahre 712, die „Fudoki" (Beschreibungen der Provinzen) 713 und das „Nihongi" (Japanische Annalen) 720, alles wichtige Quellen der frühen japanischen Geschichte. Berühmt auch das „Manyöshü", eine Sammlung von etwa 4500 Gedichten aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts. Als Zeuge hoher architektonischer und handwerklicher Kunst jener Zeit kann die Tempelanlage des Tödaiji in Nara mit ihrem 452 t schweren und über 15 m hohen sitzenden Bronzebuddha gelten. Doch schon in der Nara-Zeit beginnt die Untergrabung der durch die fa/Tca-Reformen beabsichtigten zentralabsolutistischen Macht des tenno. Durch Landschenkungen in Form von „Verdienst-" oder „Rangland" an Würdenträger sowie durch „Rodeland", d.i. neu erschlossenes Land, entstanden erneut private Landbesitzungen. Um der wachsenden Macht des nach der weltlichen Herrschaft greifenden Buddhismus zu entgehen, verlegte der tenno die Hauptstadt nach Heian (auch Heiankyö), dem heutigen Kyoto. Sie blieb Kaiserstadt bis 1868. So beginnt 784 (nach anderen 794) die Heian-Zeit, die bis 1185 dauerte. Heian lag inmitten der anwachsenden Landbesitzungen des mächtigen Geschlechtes der Fujiwara, deren Einfluß das Kaiserhaus und damit die Landesgeschicke die nächsten zwei Jahrhunderte prägte. Durch Einheirat versippten und verschwägerten sie sich mit der Kaiserfamilie und besetzten die wichtigsten Ämter, waren zeitweilig sogar als Regenten an Stelle minderjähriger Monarchen tätig. Es ist dies die Zeit der Blüte und auch des Verfalls der Macht des Hofadels und der höfischen Kultur. Von kulturell anhaltender Bedeutung ist die Schaffung zweier Silbenschriften, kana genannt, durch Hofdamen (die hiragana) und durch Mönche (die katakana) aus Kürzeln chinesischer Zeichen, die noch heute gebräuchlich sind. Hofdamen schrieben auch die berühmtesten literarischen Werke jener Zeit, „Die Geschichte des Prinzen Genji" („Genji monogatar?) aus der Feder von Murasaki Shikibu und „Das Kopfkissenbuch" („Makura no sösh?) der Dame Sei Shönagon, beide u m die Jahrtausendwende entstanden und heute Teil der Weltliteratur. Der Anteil des besteuerten Staatslandes nahm durch weitere Landschenkungen, vor allem an den Hofadel (kuge) und die Klöster, mehr und mehr ab, demgegenüber entstanden große immune und steuerfreie Grundbesitze, sog. sho'en. Der Staat, namentlich der kaiser-
Japan bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
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liehe Hof, verarmte, zumal Luxus und Vergnügungssucht des Hofadels Riesensummen verschlangen. Auf den shö'en erstarkte der Landadel, es begann vor allem aber der soziale Aufstieg der Krieger, bushi oder samurai, die auf den großen privaten wie staatlichen G ü t e r n aufkamen. 8 Eigene Militäreinheiten unterhielten auch die buddhistischen Tempel, die über beträchtliche Ländereien verfügten. Die bushi oder samurai dienten sowohl zum Schutz der Güter als auch zu deren Machterweiterung. Kleinere Grundbesitzer begaben sich oftmals unter die O b h u t der größeren, wofür sie als Gegenleistung Tribut entrichteten. Insbesondere den Familien der Taira und Minamoto, beide aus Nebenlinien des Kaiserhauses hervorgegangen und von diesem zunächst mit militärischen Aufgaben betraut, gelang es, ab d e m 10. Jahrhundert m e h r und m e h r Macht in ihren H ä n d e n zu konzentrieren. Im 12. Jahrhundert dann kam es zwischen beiden zu Kämpfen, in denen sich nach wechselndem Geschehen 1185 in der Schlacht bei D a n n o ' u r a das Geschlecht der Minamoto durchsetzte. Der Sieger in diesem Kampf, Minamoto Yoritomo, ließ sich 1192 vom tenno den Titel eines shogun9 verleihen u n d gründete in der Stadt Kamakura sein bakufu, („Regierung vom Zelt aus"), das zu einer n e u e n Regierungsform wurde. In Europa ist es auch unter dem N a m e n Schogunat bekannt, abgeleitet von shogun. Der Krieger- oder Militäradel begann die Macht zu ü b e r n e h m e n und behielt diese bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fest in seinen Händen. Der tenno und mit ihm der Hofadel aber führten fortan nur ein Schattendasein, die tatsächliche Regierung übte der shogun bzw. andere Personen in seinem N a m e n aus. Die Geschichte kennt das Kamakura-bakufu (1192-1333), das Ashikaga-bakufu (1336-1573) und das Tokugawa-bakufu (1600-1867). Nicht wenige Historiker setzen den Beginn des bakufu gleich mit d e m Beginn des Feudalsystems in Japan. Das Kamakura-ia/cw/u leitet seinen N a m e n vom Sitz der Regierung in Kamakura ab. Hier wurde eine Zentralverwaltung geschaffen mit einem samuraidokoro zur Beaufsichtigung der Vasallen, einem kumonjo als oberste Verwaltungsbehörde und einem obersten Gerichtshof. In die Provinzen entsandte m a n Militärgouvemeure (shugo), die sowohl für die militärische Sicherheit als auch für die Eintreibung der Steuern verantwortlich zeichneten. Hofadel und Bauern standen unter einer strengen Kontrolle. Herausragende Ereignisse der Kamakura-Zeit waren die Einfalle der Mongolen in den Jahren 1274 und 1281 unter Kublai Chan. Beide Male kamen die Mongolen mit einer großen Streitmacht - 1274 mit knapp 1000 Schiffen und 33 000 Mann, 1281 mit 4000 Schiffen und über 100000 Mann - und u n t e r n a h m e n Landeoperationen in Nordkyüshü, nahe der heutigen Stadt Fukuoka. Beide Male kam den sich verteidigenden Japanern ein Taifun zu Hilfe, 8 Das deutsche Synonym für bushi ist „Krieger", in etwa auch „Ritter", das für samurai „militärischer Gefolgsmann", abgeleitet von dem Verb saburau, jdm. „dienen" oder „aufwarten". Die Anfange gehen zurück in die Regierungszeit des Kammu tenno (782-806), der Wachmannschaften z u m Schutz der Magazine und Truppen zum Schutz der nördlichen Grenzen gegen die Ainu aufstellte, deren Herkunft noch immer unklar ist und die sich anthropologisch von den Japanern deutlich unterscheiden. Ursprünglich in Nordhonshü, Hokkaido, Sachalin und den Kurilen ansässig, leben heute noch etwa 15000 Nachfahren auf Hokkaido. Von den bushi stiegen nur wenige zum Hofadel auf, die meisten blieben in der Provinz. 9 Eigentlich sei'i taishögun, d.i. Großer General zur Unterwerfung der Barbaren. Der Titel wurde erstmals im Jahre 720 mit dem Auftrag verliehen, die an den nordöstlichen Grenzen des damaligen japanischen Reiches befindlichen nichtjapanischen Völker zu unterwerfen, namentlich die Ainu. Der Titel shogun verlor bereits im 9. Jahrhundert seine ursprüngliche Bedeutung und war nur mehr ein Rang.
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ein „göttlicher Wind" {kamikaze), der die Operationsbasis der Mongolen, die Schiffe, auf die sie sich immer wieder zurückzogen, weitgehend vernichtete. In den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts schmiedete der damalige tennö Godaigo Pläne, die Macht wieder dem Kaiserhaus zurückzuerobern und sammelte Getreue. Ashikaga Taka'uji, aus einer Nebenlinie der Minamoto stammend, wurde vom bakufu beauftragt, militärisch dagegen vorzugehen. Er nutzte indes sein großes Heer, das bisherige Schogunat zu stürzen und 1336 ein eigenes zu begründen, das Ashikaga- oder - nach deren Regierungssitz - Muromachi-öaArw/u. Anhaltende Machtkämpfe führten dazu, daß 1336 bis 1392 zwei Dynastien existierten, von der japanischen Geschichtsschreibung als nambokuchö jidai, die „Zeit der Nord-SüdDynastien" benannt. Die „südliche" unter Godaigo tennö hatte ihren Sitz in Yoshino, die „nördliche", gestützt von Ashikaga, in Kyoto. In die Auseinandersetzungen beider Höfe wurden nahezu alle Krieger des Landes einbezogen. Erst 1392 setzte sich die nördliche Dynastie durch, das Land wurde wieder geeint. Der Friede währte indes nur kurz. Mitte des 15. Jahrhunderts begannen anhaltende Bürgerkriege. 1467 führten Erbfolgestreitigkeiten unter den Ashikaga zum Ausbruch eines 10jährigen Krieges, den önin no ran. Allein in Kyoto standen sich fast 300000 bushi gegenüber. Die Stadt wurde in diesen Jahren beinahe völlig zerstört, darunter wertvolle kulturhistorische Gebäude. Doch auch nach diesem Krieg fand das Land keine Ruhe. Das Ashikaga-bakufu war durch die verlustreichen Auseinandersetzungen so geschwächt, daß es immer weniger die zentrale Macht aufrechterhalten konnte. Überall im Lande brachen Machtkämpfe aus, und es begann die „Zeit der kämpfenden Länder" (sengoku jidai), die bis 1568 andauerte. In diesem hundertjährigen Bürgerkrieg (1467 bis 1568) kämpfte jeder gegen jeden, wofür der Begriff ge koku jö geprägt wurde, „die unteren besiegen die oberen". Traditionsreiche Familien verschwanden, neue Machtkonstellationen entstanden. Die sogenannten sengoku daimyö kamen auf, worunter lokale Machthaber zu verstehen sind, die sich im Krieg durchgesetzt, Territorien erobert und sich Untertan gemacht hatten. Die daimyö („großer Name") gab es im Sinne von Territorialfürsten fortab bis 1868. Ein Ende der Bürgerkriege leitete erst Oda Nobunaga mit der Eroberung von Kyoto 1568 ein. Er sowie die ihm nachfolgenden Toyotomi Hideyoshi und Tokugawa Ieyasu gelten als diejenigen, die das in den partikularistischen Machtkämpfen zerstückelte Land wieder einten, indem sie mit anderen daimyö Bündnisse eingingen oder ihre Widersacher militärisch unterwarfen. Obwohl die ständigen Bürgerkriege einer Entwicklung der materiellen Kultur vielfach zuwiderliefen, sind dennoch einige neue Erscheinungen zu sehen, die ein stärkeres Aufkommen bürgerlicher Schichten wie Handwerker und Händler anzeigen. So bildeten sich sogenannte za heraus, d. h. Zusammenschlüsse von Handwerkern und Händlern in Berufsvereine, zur Abwehr der Konkurrenz und äußerer Gewalt. Sie sind zu vergleichen mit den Zünften und Gilden in Europa. Für den Vormarsch des Bürgertums spricht das Bild der Stadt Sakai bei Osaka. Die dortigen Kaufleute trieben Handel entlang der japanischen Inlandsee und bis nach Korea und China und mehrten ihren Reichtum. Um ihre Stadt errichteten sie einen Schutzwall gegen die Kriegswirren, unterhielten eigene Verteidigungskräfte, gaben aber auch Belagerern Geld und andere Tribute und sicherten so ihre Stadt vor einer Zerstörung. Sakai war über lange Zeit eine freie Stadt mit eigener Verwaltung und Gerichtsbarkeit.
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Ein wichtiges nationales Ereignis war die Ankunft der ersten Europäer - Portugiesen 1543. Ihnen folgten in den nächsten Jahrzehnten die Spanier, die Holländer und die Engländer. Die Einfuhr von Feuerwaffen und deren nachfolgende Produktion in Japan beeinflußten die Kriegskunst beträchtlich. Wer über sie verfügte, war konventionell ausgerüsteten iamwraz'-Einheiten deutlich überlegen. Auch das Christentum breitete sich besonders in Südwestjapan aus. 1549 kam mit Franciscus Xaverius der erste Missionar, und um 1600 gab es bereits etwa 800000 Gläubige. Die christliche Lehre beeinflußte das philosophische Denken, die Missionare vermittelten zugleich Kenntnisse über Europa, über Literatur, Musik, Medizin und andere Wissenschaften. Die am Ende des 16,/Anfang des 17. Jahrhunderts wiedererrichtete Zentralmacht sah im Christentum aber auch eine zunehmende Gefahr. Zum einen stand es im Gegensatz zu den in Japan verbreiteten Religionen des shintd und Buddhismus und bestärkte das Volk nicht selten in seiner Opposition, wovon der Bauernaufstand 1637/38 in Shimabara auf Kyüshü beredtes Zeugnis ablegt. Zur Niederwerfung dieser unter dem Zeichen des Kreuzes geführten Bauernerhebung gegen die Feudalherren mußte immerhin ein Heer von 124000 Mann aufgeboten werden. Das Christentum stärkte aber auch die südlichen daimyö, indem namentlich Portugiesen und Spanier diejenigen unter ihnen im Handel bevorzugten und mit Waffen belieferten, die sich zur christlichen Lehre bekannten. Und nicht zuletzt gelangte man zu der Erkenntnis, daß in zahlreichen Ländern, einschließlich Asiens, den portugiesischen und spanischen Missionaren bald die Soldaten folgten, um die zuvor christianisierten Länder kolonial zu unterwerfen. All diese Beweggründe führten schließlich zum Verbot des Christentums und zur Abschließung des Landes gegenüber den westlichen Staaten mit Ausnahme Hollands in den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts. 1600 begründete Tokugawa Ieyasu das Tokugawa- oder auch Edo-bakufu, benannt nach dem Regierungssitz Edo, dem heutigen Tokyo. Ieyasu, ursprünglich ein Vasall und Militärfuhrer erst des Oda Nobunaga und dann des Toyotomi Hideyoshi, ergriff nach dem Tode von Toyotomi die Macht, nachdem er seinen Hauptrivalen, Ishida Mitsunari, ebenfalls ein ehemaliger Vasall des Toyotomi, in der Schlacht bei Sekigahara 1600 bezwungen hatte. Auf seiner Seite stand ein Heer von 100000 samurai, auf Seiten seiner Gegner eines von 80000. 1603 ließ er sich vom tennö den Titel eines shögun verleihen. Historisch gesehen ist die EdoZeit die letzte, die entwickelte Phase des Feudalsystems, man spricht in Japan auch von einer „zentralisierten Feudalgesellschaft". Um die Kontrolle des Landes dauerhaft fur seinen Familienclan zu sichern, schaltete Ieyasu zunächst militärisch auch die Familie der Toyotomi aus, so geschehen in der Schlacht von Osaka 1614-15. Mit seinen Gesetzen und Verordnungen legte er den Grundstein für ein straff zentralisiertes Staatswesen. Ein weitverzweigtes, gut organisiertes und ausgeklügeltes Überwachungssystem aller Volksschichten gehörte ebenso dazu wie ein starkes stehendes Heer, deren Angehörige mit Reisdeputaten entlohnt oder auch mit Land belehnt wurden. Den Kern diese Heeres bildeten die hatamoto („Bannerträger"), deren Einkünfte zwischen 300 und 9999 kokuw Reis lagen. Die wirtschaftliche Grundlage der Tokugawa für die Ausübung der Macht bildete die Verfügungsgewalt über einen Landbesitz mit etwa einem Viertel der Landeseinkünfte, zu denen auch die Einnahmen der vom bakufu kontrollierten Städte und Unternehmen (darunter der gesamte Bergbau) zählten.
10 koku ist ein Hohlmaß für Reis, faßt 180,3 I oder etwa 143 kg.
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Z u m Herrschaftsinstrumentarium der Tokugawa gehörte die Unterteilung der über 250 Territorialfürsten in direkte, im erblichen Lehnsverhältnis zu ihnen stehende Vasallen, die fudai-daimyö, und in die tozama-daimyö, die „Herren außerhalb". Die ersteren hatten bereits vor der Schlacht von Sekigahara 1600 zu den Tokugawa gestanden, die letzteren haben ihre Loyalität erst danach bekundet. Die fudai-daimyö waren eindeutig privilegiert, nur sie besetzten wichtige Ämter im Schogunat. Dieser Klassifizierung der Feudalherren zur Seite gestellt war ein sogenanntes kunigae-System, ein „Länder-" oder „Territorialwechsel", ein System, das die Umsetzung zahlreicher Fürsten aus ihrem angestammten in ein anderes Gebiet bedeutete, je nach erwiesener oder mangelnder Loyalität, auf alle Fälle aber aus machterhaltenden Motiven heraus. Die Domänen der fudai-daimyö, oft zwischen denen der tozama oder an den Grenzen der Tokugawa-Territorien gelegen, bildeten zugleich eine Art Schutzgürtel für die Zentralgewalt. Zwischen 1603 und 1845 wurden insgesamt 584 mal daimyö in andere Territorien versetzt. 11 Verständlich, daß es unter den tozama am ehesten diejenigen traf, deren Daimyate dem Herrschaftszentrum am nächsten lagen. Ein weiteres Kontrollmittel bildete das sankin kötai, d. h. die Pflicht für alle daimyö, abwechselnd ein Jahr in Edo und ein Jahr in ihrem Daimyat zu residieren. Der mit großem Gefolge geführte doppelte Haushalt schwächte die wirtschaftliche Kraft der Fürsten. Allein die regelmäßig wiederkehrenden pompösen Umzüge in die Hauptstadt und wieder zurück verschlangen Unsummen. Je nach Ansehen und Reichtum eines daimyö umfaßte ein solcher Hunderte, ja Tausende von Personen, die oft wochenlang unterwegs waren. 12 Ihre legitimen Kinder und Frauen mußten sogar ständig in der Metropole leben - Geiseln gegen eventuelle Unbotmäßigkeit. Zahlreiche weitere Auflagen trafen die Lokalherrscher, so die Pflicht zur Einholung der Genehmigung des shögun für eheliche Verbindungen oder für den Bau von Befestigungen an ihren Burgen, einschließlich Reparaturen. Mit diesen rigorosen Mitteln und Methoden sollte jeder eventuelle Widerstand eines daimyö bereits im Keim erstickt werden, und tatsächlich brach ein solcher auch über Jahrhunderte hinweg nicht aus. Das Volk befand sich unter strenger Kontrolle eines bis ins Detail gehenden Überwachungssystems. Überall bestanden sogenannte goningumi (Fünfergruppen), die sowohl soziale als auch polizeilich-kontrollierende Aufgaben zu erfüllen hatten. Mehrere benachbarte Haushalte bildeten eine soziale Einheit, in der es u. a. eine Sippenhaftung für anzuzeigende Gesetzesverstöße jedes ihrer Mitglieder gab. U m ihre Herrschaft nicht durch Einflüsse vom Ausland her zu gefährden, erließ das bakufu zwischen 1633 bis 1639 mehrere Gesetze und Verordnungen, die zu einer nahezu totalen Isolierung des Landes von der Außenwelt (sakoku) führten. Den Japanern wurden
11 Siehe Reinhard Zöllner: Kunigae. Bewegung und Herrschaft in der Tokugawa-Zeit. In: MO AG Bd. 111: Referate des VII. Deutschen Japanologentages in Hamburg. Hrg. von Klaus Antoni, Peter Pörtner, Roland Schneider. Hamburg 1988, S. 324. 12 Der deutsche Arzt und Japanforscher Engelbert Kaempfer, der 1690 bis 1692 in holländischen Diensten in Japan weilte, berichtet von daimyo-Zügen, bei denen „allein die Fußgänger sich beinahe auf 1000 Mann beliefen". Reisen in Nippon. Berichte deutscher Forscher des 17. und 19. Jahrhunderts aus Japan. Engelbert Kaempfer, Georg Heinrich von Langsdorff, Philipp Franz von Siebold. Berlin 1968, S. 221. An anderer Stelle seiner Aufzeichnungen spricht er sogar davon, daß „der Zug der größten Landesfürsten den Weg auf etliche Tagereisen füllt" (ebenda, S. 99).
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die Rückkehr nach Japan oder das Verlassen des Landes bei Todesstrafe verboten, der Bau oder Besitz ozeantüchtiger Fahrzeuge untersagt. Das sakoku enthielt ferner das Verbot für ausländische Schiffe, in japanischen Häfen oder an Japans Küsten anzulegen, anderenfalls erfolgte deren gewaltsame Vertreibung. Eine Ausnahme machten die Holländer sowie Chinesen, Koreaner, Siamesen und Ryükyü-Bewohner, denen man einen recht begrenzten und strengstens kontrollierten Handel über Nagasaki und die Insel Tsushima gestattete 13 . Das Christentum wurde bei Todesstrafe verboten, Tausende, die ihrem Glauben nicht abschworen, wurden grausam hingerichtet. Der anhaltende Friede im Lande ließ nach den vorangegangenen ständigen Machtkämpfen auch die Wirtschaft aufleben. Zunächst erfolgte ein Aufschwung der Landwirtschaft. Überdies entstanden große Städte. Die Kaiserstadt Kyoto hatte um 1700 etwa 400 000, Osaka ca. 350000 Einwohner. Die Metropole Edo, um 1600 nicht mehr als ein großes Fischerdorf, zählte Mitte des 18. Jahrhunderts über eine Million Bewohner. Die Entwicklung von Edo zu der wohl volkreichsten Stadt der Welt in jener Zeit wurde dadurch begünstigt, daß alle Vasallen des shögun in Edo leben mußten. Vor allem das sankin kotai, die zwangsweise Residenzpflicht der Territorialherren bzw. ihrer Familien in Edo, die den Bau standesgemäßer Wohnungen für sich selbst und ihr zahlreiches Gefolge erforderlich machte, trug wesentlich zum Wachstum von Edo bei. Der Aufschwung der Städte wiederum beschleunigte den Ausbau der Infrastruktur, es entstanden feste Verkehrswege zwischen allen wichtigen Städten des Landes. Die Entwicklung von Handel und Gewerbe machte rasche Fortschritte. Erste Manufakturen kamen auf. Die Naturalwirtschaft verfiel mehr und mehr, Geld- und Warenwirtschaft gewannen an Bedeutung. Es erfolgte eine fortschreitende Differenzierung der Hauptbevölkerungsgruppe, der Bauern. Einerseits bildete sich eine Schicht reicher Bauern heraus, göno genannt, die Grund und Boden in Pacht gaben. Sie konzentrierten Reichtum, weil sie zum einen über das notwendige Kapital verfugten, um Neuland zu erschließen, und zum anderen, weil sie die Not von Bauern nutzten, die durch hohe Steuern und Naturkatastrophen in Armut geraten waren und Grund und Boden verpfänden mußten, um die Schulden zahlen zu können. Die Herausbildung nicht mehr auf dem Lande lebender Grundbesitzer und einer breiter werdenden Schicht von Pächtern 14 trug sozialökonomisch zur Untergrabung des Feudalsystems bei, schuf Anfänge einer Art Agrarkapitalismus. Die reichen Landeigentümer gingen dazu über, Sakebrauereien zu bauen, Soyasauce zu produzieren und andere Industrien vorerst kleineren Maßstabes zu errichten oder aber ihr Geld in kommerziellen Unternehmen anzulegen. Soziale Not mehrte die Unruhen. Aufstände der Bauern, die 50 und mehr Prozent ihrer Ernte abliefern mußten und nicht selten dem Hunger ausgesetzt waren, sowie Unruhen unter der Stadtarmut nahmen zu. Ungezählte Naturkatastrophen und Mißernten erschwerten das Leben des Volkes zusätzlich. Wiederholte Hungersnöte hatten verheerende Wirkungen. Von den kargen Existenzbedingungen zeugt nicht zuletzt, daß die Bevölkerungszahl des Landes über 200 Jahre hinweg mit etwa 25 Millionen Einwohnern vor allem infolge 13 Die Holländer erhielten als einzige Europäer ein Handelsrecht, weil sie nicht katholisch waren und überdies den Tokugawa geholfen hatten, den Shimabara-Aufstand 1637/38 niederzuschlagen, China, Korea etc. weil sie wichtige asiatische Nachbarn waren. 14 Darunter auch Fronarbeiter, insofern die Pacht nicht selten durch Arbeit abgegolten werden mußte. In abgelegenen Gegenden des Landes soll sogar ein „der Sklaverei ähnliches System" existiert haben. Ryosuke Ishii: A history of political institutions in Japan. Tokyo 1980, S. 88.
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einer hohen Kindersterblichkeit nahezu stagnierte. 15 Von den gut 3000 in der Edo-Zeit registrierten Bauernaufständen nennt die Statistik allein für die letzten knapp vier Jahrzehnte, von 1830 bis 1867, 809 Erhebungen, im Schnitt mehr als 20 im Jahr. 16 Auch wenn viele nur lokale Bedeutung hatten, so zehrten sie doch an der Stabilität des Systems. In zunehmenden Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität geriet immer mehr die Stellung des Bürgertums. Seine Rolle im ökonomischen Leben wuchs stetig, und nicht wenige daimyö und samurai waren dem Wucherkapital, den Kaufleuten und Händlern verschuldet. Politisch aber waren sie rechtlos. In der feudalen Ständehierarchie der damaligen Zeit - shi-nö-kö-shö, Krieger - Bauer - Handwerker - Kaufmann -, stand der Adel (einschließlich samurai) auf der obersten Stufenleiter. Ihm folgten die Bauern als die Hauptproduzenten des materiellen Reichtums und die Hauptemährer des Landes. Diesen waren die Handwerker nachgeordnet, und erst ganz am Schluß, auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter, fanden sich die Kaufleute wieder. Reformen, die von der Regierung 1841 gegen MißWirtschaft und dadurch hervorgerufene Staatsverschuldung sowie wachsende soziale Unruhe in Angriff genommen wurden und das feudale System noch einmal stabilisieren sollten (tempo no kaikaku), scheiterten und konnten den Verfallsprozeß nicht aufhalten. Sie waren indes bedeutungsvoll in zweierlei Hinsicht. Zum einen riefen sie den Gedanken einer Reformierung der Gesellschaft wach und zum zweiten führten gleichzeitig einsetzende Reformbestrebungen bei einigen daimyö, namentlich den tozama in Südwestjapan, zu mehr Erfolg, wodurch deren Position im Lande erstarkte. Beides aber sollte sich nach der gewaltsamen Öffnung des Landes 1853/54 gegen das bakufu kehren. Auch philosophische Richtungen gegen die Tokugawa-Herrschaft, wie die Mito-Schule, die kokugaku und die Rangaku, bildeten sich heraus. Die Mito-Schule, gefördert von einer Seitenlinie der Tokugawa, widmete sich umfassenden Studien der japanischen Geschichte von deren Anfängen an und gelangte mehr und mehr zu der Erkenntnis, daß nicht der shögun, sondern der tennö allein auf Grund der weit über tausendjährigen Institution des Kaiserhauses eine Sonderstellung einnahm und oberster Souverän sei. Ähnliches schlußfolgerten auch die kokugakusha, die „Landes-" oder „Japanwissenschaftler", die sich dem Studium und der Aufarbeitung der nationalen Literatur und Mentalität (einschließlich Mythologie und religiöses Leben) widmeten. Und die Rangaku, die „holländische Wissenschaft", die sich mit - wenn auch nur erschwert zugänglichen - wissenschaftlichen Fortschritten im Ausland (besonders Europa) befaßte, erkannte die dort wachsende Macht und Japans Rückständigkeit und forderte Reformen grundlegender Natur, um diesen Mächten gewachsen zu sein. 17 So begegnen wir um die Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreichen offenen und verdeckten Widersprüchen im Lande, die einer Lösung harrten und an den Grundlagen des spätfeudalen Systems zehrten. Die Zeit war reif für tiefgreifende Wandlungen. Deren Inangriffnahme bedurfte allerdings erst eines Anstoßes von außen. Der sollte eintreten mit der gewaltsamen Öffnung des Landes 1853/54.
15 Siehe auch „Bevölkerungsentwicklung" im Anhang des Buches. 16 Tanaka Akira: Meiji kokka. Taikei Nihon rekishi. Bd. 5. Tokyo 1967, S. 76. 17 Zum geistigen Leben der Tokugawa-Zeit siehe Najita, Tetsuo/ Schreiner, Irwin (Ed.): Japanese Thought in the Tokugawa-Period 1600-1868. Methods and Metaphors. Chicago and London 1978.
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2. Kaikoku. Das Land öffnet sich. Am 8. Juli 1853 landete der amerikanische Kommodore Matthew Calbraith Perry, Oberbefehlshaber der Ostindischen Flotte der USA, mit 4 Kriegsschiffen in der Bucht von Edo. Ein ungewöhnliches Ereignis angesichts der Tatsache, daß Japan seit 1637 eine totale Isolationspolitik betrieb, die es Ausländern strikt verbot, an seinen Küsten zu landen - auch nicht im Falle einer Havarie. Gestützt auf seine 4 Kriegsschiffe bestand er auf der Entgegennahme eines Schreibens des amerikanischen Präsidenten Fillmore, in dem dieser die Öffnung japanischer Häfen zur Versorgung amerikanischer Schiffe mit Wasser, Nahrungsmitteln, Holz und Kohle forderte und um den Abschluß eines Handelsvertrages nachsuchte. Perry war nicht der erste, der ein Ende der japanischen Selbstisolation forderte. Auf der Suche nach Absatzmärkten und Rohstoffquellen für die aufstrebende Industrie in Europa und den USA kamen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wiederholt Schiffe auch an die japanische Küste, forderten eine Öffnung des Landes und die Aufnahme von Handelskontakten. Erste ernsthafte Versuche unternahmen die Russen. 1892 kam Laksman im Auftrage der Zarin Katharina II., 1804 Rezanov, diesmal mit einem Begleitschreiben von Zar Alexander I. Beide wollten Handelsvereinbarungen schließen, warteten monatelang auf Hokkaido (Laxman) bzw. in Nagasaki (Rezanov) auf eine Antwort des bakufu, mußten aber unverrichteterdinge wieder abziehen. Nicht anders erging es den Engländern, die ebenfalls seit Ende des 18. Jahrhunderts in Japan anklopften. Die Regierung verschärfte ihre Abschließungsbestimmungen sogar, indem sie 1825 anordnete, jedes fremde Schiff, das sich der Küste näherte, zu zerstören und deren Besatzung, sollte sie an Land kommen, gefangenzunehmen oder zu töten. Der Opiumkrieg 1840-42 in China, in dem die überlegenen englischen Waffen den Chinesen ungleiche Verträge aufzwangen, mahnten indes auch Japan zur Vorsicht. Das bakufu befahl daher 1842, die fremden Schiffe zwar weiterhin abzuwehren, Schiffbrüchige aber freundlich zu behandeln. Engländer und Franzosen tauchten nach dem Opiumkrieg ab 1843 wiederholt auf den Ryükyü-Inseln und in Nagasaki auf, und auch die Amerikaner wurden aktiver. 1846 kam Commodore Biddle mit einem Brief des amerikanischen Präsidenten Polk an den japanischen Kaiser und ersuchte um Handelsvereinbarungen. Die USA sorgten sich vor allem um die Versorgung ihrer Walfischfänger, deren Zahl im Pazifik rasch zugenommen hatte und die oft monatelang unterwegs waren, mit Nahrungsmitteln, Wasser und Brennstoffen, wozu sie die Öffnung einiger Häfen in Japan anstrebten. 18 Im Gegensatz zu all seinen Vorgängern blieb Perry hartnäckig, ließ sich nicht abweisen und zwang die Japaner, die Forderungen offiziell entgegenzunehmen. Er erhielt zwar zunächst keine Antwort, verkündete aber vor seiner Weiterreise unmißverständlich, spätestens im Frühjahr des nächsten Jahres mit einer gegebenfalls größeren Flotte zurückzukeh-
18 Zu den Bemühungen der Europäer und Amerikaner, Japan zur Aufgabe seiner Isolationspolitik zu bewegen, siehe: Kajima, Morinosuke: Geschichte der japanischen Außenbeziehungen. Bd. I: Von der Landesöffnung bis zur Meiji-Restauration. Wiesbaden 1976; Bersihand, Roger: Geschichte Japans von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1963, S. 264ff. und 276ff; Hall, John Whitney: Das Japanische Kaiserreich. Fischer Weltgeschichte Bd. 20. Frankfurt a. M. und Hamburg 1968, S. 242 ff.
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Der A u f b r u c h in die M o d e r n e
1859 = tatsächliche Öffnung für den Handel (1855) = vorgesehene Öffnung lt. Vertrag
Edo Ka η a g a Hyögo
wi
= heute Tökyö = heute Teil von Yokohama = heute Köbe
Η a k od a te 2.6.1 859 rz 1 855)
ο gawa
1 .1869 '(1.1.1 862)
^2.6.1 859_^f 4.7.1 859uf Sh i moda
_
1854-1859
Ο sa Κ a 1.1.1 868 (1.1.1 863)
N a g a s a k i 2.6.1 859 4.7.1 859)
Karte 1: Japans Öffnung zur Außenwelt ab 1854 bis 1869. Bis 1854 - über 200 Jahre hindurch - war Nagasaki Japans einziges Tor zur Welt. Hier fand ein begrenzter Handel mit Holland u n d China statt.
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ren, u m sich den (positiven) Bescheid abzuholen. 1 9 A m 31. März 1854 kam er wieder und erzwang den Abschluß eines „Friedens- und Freundschaftsvertrages Japan-USA" (Nichi-Bei washin jöyaku), nach dem Ort seiner Unterzeichnung auch Vertrag von Kanagawa 2 0 genannt. 12 Artikel sahen u.a. die Ö f f n u n g zweier Häfen, Shimoda an der Südostspitze der Izu-Halbinsel und Hakodate auf Hokkaidö, die Versorgung amerikanischer Schiffe mit Kohle und Proviant gegen Bezahlung, eine freundliche A u f n a h m e amerikanischer Schiffbrüchiger, die Meistbegünstigung sowie die Einrichtung eines amerikanischen Konsulats in Shimoda vor. N o c h im selben sowie im nächsten Jahr folgten die Engländer, Holländer, Franzosen und Russen und schlossen ähnliche Verträge. Die mit den Vertragsabschlüssen einhergehende Abkehr des bakufu von der strikten Isolationspolitik war wesentlich dem Wissen u m die negativen Erfahrungen geschuldet, die China wenige Jahre zuvor im 1. Opiumkrieg mit den militärisch überlegenen Fremden hatte machen müssen. Die Erkenntnis, daß gewaltsamer Widerstand katastrophale Folgen für das Land mit sich gebracht hätte, und der Wille, Japan ein ähnliches Schicksal wie China zu ersparen, bildeten die Hauptmotive fur die Haltung der Tokugawa. Japan war, obgleich ein Land der samurai, militärisch nicht zu ernsthaftem, erfolgversprechendem Widerstand gerüstet. Die Ö f f n u n g des Landes leitete das Ende der Tokugawa-Herrschaft ein. Die unfreiwillige Aufgabe ihrer über 200 Jahre währenden Isolationsdoktrin deutete ihre Schwäche an. Der Druck von außen traf sich mit den angestauten zahlreichen Widersprüchen im Innern und stürzte das Land in eine tiefe politische Krise. Die A n k u n f t Perrys veranlaßte das bakufu, sowohl den Kaiserhof als auch die mächtigsten daimyö u m ihre Meinung zu fragen. Diese wurden damit erstmals seit Jahrhunderten in die politische Entscheidungsfindung einbezogen, was insbesondere den tennö aus seinem bisherigen bloßen Schattendasein hervorhob, seine Stellung deutlich aufwertete. Eine heftige Kontroverse u m das Für u n d Wider die Landesöffnung begann. Als entschiedene Gegner erwiesen sich der Kaiserhof sowie einige daimyö, darunter der mit den Tokugawa verwandte einflußreiche daimyö von Mito 2 1 oder aber die starken tozama daimyö Südwestjapans wie Satsuma und Chöshü. 1858 schloß der amerikanische Gesandte Townsend Harris nach zweijährigen Verhandlungen den „Japanisch-Amerikanischen Vertrag über Freundschaft u n d Handel" (Nichi-Bei shükö tsüshö jöyaku), der die Ö f f n u n g der Häfen Hakodate, Shimoda, Nagasaki, Niigata u n d Hyögo 2 2 sowie der Städte Edo und Osaka für den Handel und die Errichtung ausländischer
19 Die Geburt Japans in Augenzeugenberichten. Hrsg. und eingel. Gertrude C. Schwebeil. München 1970, S. 108ff. 20 Kanagawa ist heute ein Teil von Yokohama. 21 Die daimyö von Mito sind ebenso wie die von Kii direkte Nachkommen des Tokugawa leyasu, des Begründers des Tokugawa bakufu. Aus ihren Reihen wurde ein shögun gewählt, wenn die direkte Linie keinen Regenten stellen konnte. 22 An die Stelle von Shimoda trat auf Drängen der Ausländer, die es näher zur Hauptstadt Edo drängte, zunächst Kanagawa, das aber bald auf Bitten der Japaner durch Yokohama ersetzt wurde. Durch Kanagawa führte damals mit dem Tökaido einer der japanischen Hauptverkehrswege, auf denen die südlich von Edo residierenden daimyö ihre alljährlichen Umzüge in die Hauptstadt unternahmen und das Schogunat befürchtete nicht zu Unrecht daraus resultierende Zusammenstöße zwischen Europäern und Jpanern.
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Niederlassungen vorsah. Er räumte darüber hinaus Konsulargerichtsbarkeit für alle amerikanischen Bürger ein und entzog sie damit japanischer Jurisdiktion für evtl. begangene Untaten. Ferner bestimmte er für den Handel Konventionaltarife, wodurch Japan seine Zollhoheit verlor. 23 Der ungleiche, die japanische Souveränität einschränkende japanischamerikanische Vertrag diente als Muster für die weiteren Abkommen mit den europäischen Mächten England, Frankreich, Rußland und Holland, die sich unmittelbar darauf anschlossen. Der tennd erteilte diesen „Verträgen der Schande" seine Zustimmung erst 1865. Obgleich der Kaiser den Übereinkommen mit den fremden Mächten seine Zustimmung verweigert hatte, unterzeichnete sie der Erste Minister des shögun, der taird Ii Naosuke. Im ganzen Lande löste dies eine Woge der Empörung aus. Um den tennö scharte sich Ende der fünfziger Jahre eine Bewegung „Ehret den tennö - vertreibt die Barbaren!" (sonnöjö'i). Ihren Kern bildeten die südwestlichen tozama, doch befanden sich unter ihnen auch namhafte fudai, wie d e r daimyö v o n M i t o .
Eine Zeit der Gewalt setzte ein. Im März 1860 wurde Ii Naosuke vor dem Schloß in Edo von 18 herrenlosen samurai, Royalisten aus den Clanen Mito und Satsuma, ermordet. Ii mußte sterben, weil er gegen den Willen des Kaisers die Verträge mit den Mächten unterzeichnet und zudem versucht hatte, die Gegner der Landesöffnung durch Massenverhaftungen und selbst physische Vernichtung auszuschalten, darunter zahlreiche Hofadlige (/cuge) und daimyö. Ein Attentat erfolgte auch auf seinen Nachfolger, Andö Nobumasa, ebenfalls von ehemaligen samurai aus Mito und Satsuma verübt. Auch ihm wurde mangelnde Eherbietung gegenüber dem Kaiserhof und Nachgiebigkeit gegenüber den Fremden vorgeworfen. Über Jahre hinweg fanden Überfälle auf Gesandtschaftsgebäude sowie Attentate auf Ausländer statt. Es kam zu zahlreichen Morden an europäischen und amerikanischen Diplomaten, Händlern, Soldaten. Motive dafür waren Beharren an althergebrachtem isolationistischem Denken, aber auch Furcht vor Fremdherrschaft und Zorn über die Ungleichheit der Verträge. Die Vertreter der fremden Mächte antworteten mit Gewalt. So führte die Ermordung des englischen Kaufmanns Richardson durch einen samurai aus Satsuma 1862 auf offener Straße im August 1863 zur Beschießung der Metropole von Satsuma, Kagoshima, durch englische Kriegsschiffe. Nur ein Jahr später, im September 1864, folgte eine gemeinsame Strafexpedition britischer, amerikanischer, französischer und holländischer Schiffe gegen die Hauptstadt des Chöshü-Clans, Shimonoseki. Sie war eine Reaktion auf die Beschießung ausländischer Schiffe durch japanische Küstenbatterien an der schmalen Durchfahrt vom Japanischen Meer zur Japanischen Inlandsee. Die Batterien wurden gestürmt, die Chöshü-Truppen erlitten eine empfindliche Niederlage. Beide Strafexpeditionen machten die militärische Überlegenheit der Mächte sehr deutlich. Unter den Hauptvertretern der fremdenfeindlichen Bewegung reifte die Erkenntnis, daß ein Umdenken, eine Verständigung mit und ein Lernen von den Fremden notwendig sei. Die Bewegung „Ehret den tennö - vertreibt die Barbaren!" wandelte sich in „Ehret den tennö - stürzt das bakuful" (sonnö töbaku). Die tragenden Säulen beider Richtungen waren nahezu identisch. In ihrem Zentrum standen die südwestjapanischen han Satsuma, Chöshü, Tosa, Hizen. 23 Der Konventionaltarif bestimmte, das Japan nicht mehr als 20 % des Wertes der importierten Waren als Zoll erheben durfte. Dieser Tarif wurde 1866 von den Mächten sogar auf 5 % heruntergedrückt. Zu den Verträgen siehe Kenneth Scott Latourette: Geschichte des Fernen Ostens in den letzten 100 Jahren. Frankfurt am Main, Berlin 1959, S. 33.
Die meiji ishin: Verlauf, Ursachen und Charakter
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Unterstützung fand die Anti-ia/cw/H-Bewegung auch im Volk. Eine zunehmende Anzahl von Erhebungen hatte ihre Ursache nicht zuletzt im rapide sich verschlechternden Lebensstandard, geschuldet den großen Unruhen im Lande, den umfassenderen allseitigen Rüstungen, die allenthalben der Bevölkerung neue Steuern und Lasten auferlegten. Eine eskalierende Inflation, an der auch die westlichen Kaufleute ihren Anteil hatten, indem sie massenhaft die höherwertigen japanischen Münzen und billig japanische Goldbestände aufkauften 24 , machte besonders den Einwohnern der Großstädte zu schaffen. Die Konsumpreise in der Hauptstadt Edo verdreifachten sich 1862 bis 1867, die Reispreise in Osaka stiegen in derselben Zeit auf nahezu das sechsfache. 25 1864 kam es zum ersten direkten Aufeinandertreffen von Chöshü-samurai mit bewaffneten Einheiten der Zentralmacht, dem bakufu. Zwar konnten sich die Tokugawa noch einmal durchsetzen, aber ohne nachhaltige Wirkung. 1866 erfolgte eine großangelegte zweite Militärexpedition gegen Chöshü, bei der das bakufu 120000 Mann aufbot. Sie endete überraschend mit einer Niederlage. Der Sieg von Chöshü, einem einzelnen Territorialfursten, gegen eine vereinigte, zahlenmäßig starke Regierungsstreitmacht, ließ jeden, der es sehen wollte, die Verwundbarkeit, ja Unfähigkeit des Tokugawa-Regimes erkennen. 1866 schmiedeten Satsuma und Chöshü, in deren han zahlreiche Reformen zu einer Modernisierung der Streitkräfte geführt hatten, einen Geheimpakt (Sat-Cho dömei) gegen die Zentralregierung und für die Rückgabe der politischen Macht an den tennö. Die südwestlichen Clane verbündeten sich zudem mit Teilen des Hofadels. Die entscheidende Phase des Kampfes um die Macht und die Erneuerung des Landes begann.
3. Die meiji ishin: Verlauf, Ursachen und Charakter Angesichts der seit Jahren anhaltenden, ja zunehmenden Unruhen im Lande und des wachsenden Widerstandes gegen die Tokugawa traf sich am 8. November 1867 der shogun Yoshinobu in Kyöto mit 40 der wichtigsten fudai daimyö und Regierungsvertretern zu einer Beratung über das weitere Schicksal des bakufu. Die Zusammenkunft erfolgte in einer Situation, da sich in und um die alte Kaiserstadt Kyöto starke samurai-Verbände aus den südwestjapanischen han zum Kampf gegen das bestehende Regime konzentriert hatten. Die Beratung endete mit dem Entscheid des shogun, dem tennö seinen Rücktritt anzubieten und damit das seit dem 12. Jahrhundert herrschende Schogunat als Regierungsform zu beenden. Erreicht werden sollte mit dem Angebot vor allem zweierlei: erstens einem Bürgerkrieg auszuweichen, dessen Ausgang für die Zentralgewalt ungewiß war, der aber mit Sicherheit die Position des Landes gegenüber den westlichen Mächten weiter geschwächt hätte; dieses Motiv widerspiegelt zweifelsohne hohes nationales Verantwortungsgefühl. Zweitens war an den freiwilligen Rücktritt die Hoffnung geknüpft, dadurch die politische und ökonomische Herrschaft der Tokugawa-Familie auch weiterhin zu sichern. An die Stelle der bisherigen ftaArw/w-Regierung, so ging die Vorstellung, sollte ein aus verschiedenen daimyö bestehender Rat zur Führung des Landes treten, dessen Spitze erneut er selbst einzunehmen gedachte. Den am 8. November getroffenen Entscheidungen folgend, richtete Yoshinobu, auch Keiki genannt, tags darauf ein Schreiben an den erst 15jährigen tennö Mutsuhito, worin er 24 Siehe Peter Frost: The Bakumatsu Currency Crisis. Cambridge, Mass. 1970. 25 Siehe Conrad Totman: The Collapse of the Tokugawa Bakufu, 1862-1868. Hawai 1980, S. 220.
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die Regierungsgewalt an das Kaiserhaus zurückgab. Mutsuhito nahm das Rücktrittsgesuch am folgenden Tage an. Erwartungsgemäß beauftragte er den shdgun, die Amtsgeschäfte zunächst weiter zu führen, womit dessen politischer Schachzug aufzugehen schien. Die Anhänger der in den sechziger Jahren formierten Anti-öafcz//t/-Gruppierung (töbakuha) zeigten sich mit der Entscheidung des Kaisers jedoch keineswegs einverstanden. Sie strebten selbst nach der Macht und nutzten ihren gewachsenen Einfluß am Hof in Kyoto, um Druck auf den Monarchen dahingehend auszuüben, das bakufu endgültig zu beseitigen und eine kaiserliche Regierung zu bilden. Ihrer Forderung verliehen sie gewaltsam Nachdruck. Truppen der han Owari, Fukui, Chöshü, Tosa und Satsuma, die bei Kyoto zusammengezogen worden waren, verdrängten im Morgengrauen des 3. Januar 1868 unter dem Kommando des Saigö Takamori, einem militärstrategisch begabten samurai aus Satsuma, die Wachmannschaften aus dem Kaiserpalast und besetzten denselben. Unmittelbare Folge dieses Gewaltstreichs war ein noch am selben Tage herausgegebenes kaiserliches Edikt, demzufolge das bisherige Regierungssystem mit dem shögun beendet und ein neues mit dem tennö an der Spitze gebildet wurde. Die Titel shögun, kampaku und sesshö wurden abgeschafft. Die neue kaiserliche Regierung bestand nunmehr aus einem Präsidenten (sösai), 10 Ministern (gijo) und 20 Räten (sanyö). Die Ministerposten besetzten 2 Prinzen, 3 Hofadlige und die daimyö der 5 han, deren Krieger den Palast zuvor eingenommen hatten. 5 Hofadlige und 15 samurai stellten die 20 Räte, unter denen insbesondere Iwakura Tomomi sowie die samurai Saigö Takamori und Ökubo Toshimichi aus dem Satsuma-Aa«, Ökuma Shigenobu aus Hizen, Kido Takayoshi aus dem Chöshü-Λα« und Gotö Shöjirö vom Tosa-han in der Folgezeit herausragten. An die Spitze der Regierung trat als Präsident Prinz Arisugawa no Miya Taruhito Shinnö aus der kaiserlichen Familie. Mit dieser Ämterverteilung sollte unter Nutzung der Autorität des tennö - allen Rivalitäten innerhalb der neuen Machtgruppierungen vorgebeugt werden. Das Ereignis vom 3. Januar 1868 ging als Restauration oder Wiederherstellung der kaiserlichen Regierung (ösei fukko) in die Geschichte ein. Nachdem der Kaiser über Jahrhunderte hinweg nur ein Schattendasein hatte führen dürfen, wurde ihm nun wieder die oberste Repräsentation des Staates eingeräumt. Natürlich war mit den Entscheidungen des 3. Januar 1868 die Machtfrage noch bei weitem nicht entschieden. Zwar zog sich Yoshinobu zunächst aus Kyöto ins benachbarte Osaka und dann nach Edo zurück, doch waren namentlich seine Anhänger, die bislang von ihrer Teilnahme an der Herrschaft profitiert hatten, zum Kampf für den Erhalt ihrer Position und Privilegien auch mit militärischen Mitteln entschlossen. Erfolgsaussichten schienen durchaus gegeben, denn der shögun und seine Anhänger verfügten zu diesem Zeitpunkt sowohl über die größten Ländereien und die höchsten Einnahmen und damit über eine sichere ökonomische Basis als auch über ein zahlenmäßig klar überlegenes Heer. Der tennö hingegen hatte zwar mit Hilfe der südwestlichen han eine neue Regierung berufen, doch besaß er weder eine Armee noch Ländereien oder andere materielle Mittel, mit denen er der neuen Macht hätte zum Durchbruch verhelfen können. Er war nicht mehr als eine Integrationsfigur der Anti-öa/cu/w-Gruppierung, die entscheidend von den tozama daimyö des Südwestens gestellt wurde und im Namen des tennö den eigenen Machtambitionen nachging. Die erste Schlacht lieferten sich die um Kyöto und Osaka zusammengezogenen Truppen aus Satsuma und Chöshü mit denen des bakufu am 27. Januar 1868 bei Fushimi, nahe
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Kyoto. Damit begann ein Bürgerkrieg, der nach eineinhalb Jahren im Juni 1869 sein Ende fand und in die japanische Literatur als boshin no sensö oder boshin no ekP6 einging. Trotz zahlenmäßiger Überlegenheit mußten die Truppen der Tokugawa sowohl bei Fushimi als auch kurz darauf bei Toba (29. 1.) und Osaka (2. 2.) vernichtende Niederlagen einstecken und sich aus dem Raum Kyöto-Ösaka vollkommen zurückziehen. Die südwestlichen han glichen ihre zahlenmäßige Unterlegenheit zu Beginn der Kämpfe (etwa 5000 gegen 15 000) durch eine bessere Militärtechnik, -führung und -organisation aus. Hier zahlte sich die zielstrebige Reformierung des Militärwesens nach der gewaltsamen Landesöffnung in einigen dieser Daimyate aus. Während die Truppen aus Satsuma und Chöshü beispielsweise Artillerie einsetzten, beschreibt der sich damals als Augenzeuge in Osaka befindliche preußische Konsul Max von Brandt die bakufu-Armee wie folgt: „Die geschlagene Armee des Sioguns (shögun) strömte in voller Auflösung nach Osaka zurück. Es war ein eigentümliches Schauspiel, die geharnischten, mit Bogen, Pfeilen und Lanzen bewaffneten Leute zu sehen, die den größten Teil derselben ausmachten; man konnte sich in das Mittelalter versetzt glauben und in der Tat war es der Leichenzug der japanischen Feudalität, dem man beiwohnte." 27 Die Armee der Anti-öaArw/w-Gruppierung, die mit ihren Siegen auch zahlenmäßig rasch erstarkte, verfolgte nunmehr unter der militärischen Führung des Saigö Takamori die Truppen des alten Regimes bis nach Edo. Der shögun hatte seine Absetzung durch den tennö respektiert und sich im März in den von den Tokugawa gegründeten Tempel Kan'eiji im Ueno-Park am Rande von Edo (heute Bestandteil Tokyos) zurückgezogen. Seinen Anhängern untersagte er den Widerstand. 28 Edo, die Hauptstadt des Tokugawa-Zwfcu/w seit Beginn des 17. Jahrhunderts, konnte im Ergebnis von Verhandlungen ohne Blutvergießen genommen werden. Keiki hatte den herannahenden Truppen seine Unterhändler entgegengeschickt. Er übergab das Schloß, den heutigen Kaiserpalast in Tökyö sowie die Waffen, wofür er im Austausch seine ausgedehnten Besitzungen in Mito behalten und sich nach dort zurückziehen durfte. Seine Familie erhielt das fürstliche Jahresbudget von 700000 koku Reis. 29 Er siedelte bald nach Shizuoka über, wo er bis 1897 lebte, dann nach Tokyo ging, 1902 den Titel eines Herzogs erhielt und 1913 starb, ohne je wieder politisch aktiv geworden zu sein. Doch nicht alle seine Vasallen kapitulierten gleich ihm. Statt sich zu unterwerfen, sammelten sie einige Tausend ihrer Mannen auf dem Berg Tö'eizan in Ueno, wo sie indes am 4. Juli besiegt wurden. Nach der Schlacht wurde Edo zum Hauptstützpunkt des neuen Regimes ausgebaut und am 3. September 1868 in Tökyö („Östliche Hauptstadt") umbenannt. 26 Boshin ist die sinojapanische (oder ort-) Lesung für tsuchi no e tatsu, das „Jahr des Drachen" oder das 5. Jahr nach dem 60-jährigen chinesischen Zyklus und steht hier konkret für das Jahr 1868. Boshin no sensö oder boshin no eki heißt damit „Krieg im Jahr des Drachen" (oder „Krieg von 1868"). 27 Max von Brandt: Dreiunddreißig Jahre in Ostasien. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten. In 3 Bänden. Leipzig 1901, Bd. II, S. 173. 28 Max von Brandt, den Keiki auch in Audienz empfing, stellte diesen - sicher zu Unrecht - als einen Feigling dar, der „weder zu siegen ... noch zu sterben" wußte und „dem es im entscheidenden Augenblick stets am Mut gefehlt hat". Ebenda, S. 176. 29 1 koku ist ein Hohlmaß für Reis, faßt 180,3 Liter oder etwa 143 kg. Nur sehr wenige daimyö hatten in der Tokugawa-Zeit ein Jahreseinkommen von über 300000 koku, die meisten zwischen 10000 und 100000.
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Vereinzelte Kämpfe folgten. Hartnäckigen Widerstand leistete der daimyö von Aizu, der über Jahre hinweg im Auftrag des shdgun die Wachen für den Kaiserpalast in Kyoto gestellt hatte und im Februar nebst 26 weiteren daimyö zum Rebellen erklärt worden war. Am 6. November 1868 mußte aber auch er nebst seinen Verbündeten nach einmonatiger Belagerung in seinem Schloß Wakamatsu in der heutigen Präfektur Fukushima kapitulieren. Damit endete der Bürgerkrieg auf der Hauptinsel Honshü. Die letzten noch rebellierenden samurai zogen sich nach Hakodate auf Hokkaido zurück, wo sie noch über Monate Widerstand leisteten. Führender Kopf war der bakufu-Admhal Enomoto Takeaki, der im April 1868 mit 8 Kriegsschiffen aus der Bucht von Edo entkommen war. Doch auch sie mußten am 27. Juni 1869 die Waffen strecken. Die Einnahme der letzten Bastion der einstigen bakufu-Anhänger kennzeichnet zugleich das Ende des Bürgerkrieges. Das neue Regime unter dem tennö hatte sich durchgesetzt. Entsprechend einer langen Tradition, nach der jeder neue Kaiser seiner Regierungszeit eine Regierungsdevise gab, erhielt die Herrscherzeit des Mutsuhito die Devise „meijt\ „Erleuchtete Regierung". Sie dauerte von 1868 bis zum Tode des tenno 1912. Entsprechend ging Mutsuhito als Meiji tenno in die Geschichte ein. Der Prozeß des Machtwechsels 1867-69 wird als meiji ishin, als „/ney/'-Restauration" im Sinne einer Wiederherstellung der Kaisermacht, bezeichnet. Historisch war zunächst nichts weiter geschehen, als daß innerhalb der herrschenden feudalen Schicht die politische Macht ihren Besitzer gewechselt hatte. An die Stelle des mächtigsten Territorialfursten des Landes und seiner feudalen Verbündeten trat der tennö. Dennoch wäre es völlig falsch, die Wiederherstellung der Kaisermacht als einen einfachen Coup d'etat, als eine bloße Erneuerung der Monarchie abzutun. Der Sturz des alten und die Errichtung des neuen, zunächst durchaus noch feudalen Regimes, erwiesen sich in ihrer weiteren Entwicklung als entscheidende Schritte zu einer neuen, der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Die das neue absolutistische Regime tragenden feudalen Kräfte hatten subjektiv sicher nicht die Absicht gehabt, eine neue Gesellschaftsordnung an die Stelle der bisherigen zu setzen. Um aber ihre gerade gewonnene Herrschaft nach innen wie nach außen zu behaupten und auszubauen, waren sie gezwungen, den alten Machtapparat, der über Jahrhunderte den Tokugawa gedient hatte, zu zerschlagen und zahlreiche Veränderungen durchzuführen. Namentlich die in den Folgejahren eingeleiteten ökonomischen Reformen, die zunächst die materielle Basis der neuen Herrschaft stärken sollten, führten - zumal unter den Bedingungen einer zwangsweisen Integration des Landes in den Weltmarkt - letztlich zur Entwicklung eines Kapitalismus von oben. Hinzu kamen in den 70er und 80er Jahren zahlreiche weitere grundlegende Reformen in Politik und Gesellschaft. Begreift man die meiji ishin folglich als einen Prozeß, so erstreckt sie sich über Jahrzehnte, und man muß sie als mey/'-Revolution betrachten; Machtwechsel und Bürgerkrieg, d. h. die Jahre 1867 bis 1869, waren lediglich ihr Beginn. Die radikalen Veränderungen, die der Errichtung des tercno-Regimes mit historischer Logik und Konsequenz folgten, hatten ihre Ursachen letztlich in den sozialen und politischen Zwängen, die zum Sturz des überlebten bakufu geführt hatten. Die entscheidenden unter ihnen, die den 1867 einsetzenden Umwälzungen vorausgingen, waren: - die Wandlungen in der ökonomischen und damit auch sozialen Struktur der Gesellschaft während der Herrschaft der Tokugawa, - die gewaltsame Erschließung des Landes und deren Folgen für die weitere Entwicklung sowie - der offene Ausbruch bereits vorher latent vorhandener rivalisierender Machtinteressen.
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Die neue innen- und außenpolitische Situation verlangte mehr als nur die einfache Fortsetzung der bisherigen Politik durch andere Personen. Dringende Aufgaben standen vor dem neuen Regime. Dazu zählte erstens, die gerade errungene politische Macht überall im Lande durchzusetzen und auszubauen, zweitens, die feudalen Fesseln zu beseitigen, die der Entwicklung einer modernen Wirtschaft entgegenstanden, und drittens galt es, einer kolonialen Bedrohung entgegenzutreten, die mit den ungleichen Verträgen in den fünfziger Jahren eingesetzt hatte, und die teilweise verlorengegangene Souveränität des Landes wieder voll herzustellen. Die für die Lösung dieser Aufgaben notwendigen Reformen auf administrativem, ökonomischem, militärischem, wissenschaftlich-technischem und kulturellem Gebiet wurden ergriffen und führten als ein etwa zwei Jahrzehnte währender Prozeß folgerichtig zu einer totalen Erneuerung der Gesellschaft. So erweist sich die meiji ishin in ihrer umfassenden Bedeutung als eine unvollendete bürgerliche Revolution von oben, als eine Revolution reformerischen Typs. Die Meinungen über die Dauer dieses Umwälzungsprozesses hin zu einer neuen gesellschaftlichen Qualität gehen in der Literatur weit auseinander. Seine Anfänge werden zeitlich und ursächlich unterschiedlich gesehen in Reformen der tempo-Zeit um 1841, in der gewaltsamen Erschließung des Landes 1853/54 oder aber im Abschluß des ungleichen Vertrages mit den USA 1858, der als Muster fur Abkommen mit den anderen Mächten diente. Umstritten ist auch sein Ende. Die einen sehen es in den Reformen von 1871 bis 1873, andere in der Niederwerfung des letzten bewaffneten Aufstandes rebellierender ehemaliger samurai 1877, wieder andere im Regierungswechsel 1881 oder aber in der Einführung von Verfassung und Parlament 1889/90. Alles in allem ein Zeitabschnitt von etwa 50 Jahren. Ausgehend von der Überlegung, daß die Entwicklungen vor 1867 eher als Ursache und Motiv für den Machtwechsel und die nachfolgenden entscheidenden Umgestaltungen wirkten, der gesellschaftliche Erneuerungs- oder auch Reformierungsprozeß in seinen Grundzügen aber erst mit der Errichtung der konstitutionellen Monarchie einen ersten Abschluß fand, erscheint es treffender, die Dauer des eigentlichen Wandlungsprozesses in der Zeit zwischen 1867 und 1890 zu sehen. In diesen gut 20 Jahren - wurden die dezentralisierten feudalen hart sowie die samurai als soziale parasitäre Schicht beseitigt und eine starke Zentralgewalt geschaffen; - wurden Wehrdienst, Steuern, Gerichtsbarkeit, Bildung und Erziehung erneuert und auf Landesebene vereinheitlicht; - begann die industrielle Revolution; - erfolgte die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie, die den Absolutismus beendete und in ihren Grundzügen bis 1945 Gültigkeit hatte; - wurden die Grundlagen und -linien für die weitere, stark militärisch-aggressiv geprägte Außenpolitik gelegt. Von ihrer sozialen Stellung her hatten Bürgertum und Bauern am ehesten ein Interesse an der Beseitigung des Feudalsystems, doch weder die einen noch die anderen zählten zu deren Initiatoren. Während die Rolle der Bauern in der meiji Restauration noch sieht- und und in gewissem Grade sogar meßbar ist (die zahlreichen Erhebungen erschwerten das Funktionieren der Administration, paralysierten teilweise das öffentliche Leben und waren objektiv aktiver Teil der Anti-öa/rw/u-Bewegung), schwächte das Bürgertum mit der Entwicklung von Handel und Gewerbe objektiv zwar die ökonomischen Grundlagen des Feudalsystems, erwies sich insgesamt aber als zu schwach, um maßgeblich eingreifen zu
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können. Es verfügte zu diesem Zeitpunkt weder über eine organisierte Bewegung noch über ein Programm. Den Machtwechsel 1867/68 und die sich anschließende Umwälzung initiierten und organisierten vor allem Kräfte, die zuvor im weiteren Sinne zur herrschenden feudalen Klasse gehört hatten. Daher auch „Revolution von oben". Es ist zweifellos von historischem Interesse zu hinterfragen, warum es in Japan aristokratische Kräfte waren, die der bürgerlichen Revolution zum Sieg verhalfen. Wesentlich erscheint zunächst, daß die Initiatoren des Umsturzes im weiteren Sinne zwar der herrschenden feudalen Klasse angehörten, zum regierenden Clan der Tokugawa indes in Opposition standen und sich nunmehr auch in nationaler Verantwortung gegen die das Land bedrohende Gefahr kolonialer Abhängigkeit auflehnten. Die eigentlichen meiji-Macher waren überdies zumeist niedere samurai, solche, die in ihren han zuvor als Ratgeber ihrer daimyö, als Diplomaten, als Organisatoren neuer Militäreinheiten, als Militärbefehlshaber der Λα/ί-Streitkräfte, als Dolmetscher und anderes dienten. Sie hatten durchweg einen hohen Bildungsstand, waren teilweise mit Ausländern in Japan in Kontakt oder selbst im Ausland gewesen und verfügten über Kenntnisse der Regierungsformen sowie der politischen und ökonomischen Lage in Europa und den USA, was sie die Zurückgebliebenheit des eigenen Landes um so deutlicher empfinden ließ. Handelten sie zunächst im Auftrag ihrer Herren, der (vor allem südwestjapanischen) daimyö, so wuchsen sie mit dem Fortgang der Ereignisse über diese und deren begrenzte Machtinteressen hinaus. Aber auch innerhalb der mey/'-Initiatoren selbst sollte es bald nach der Machtergreifung zu unüberbrückbaren Gegensätzen kommen, was anzeigt, daß die Folgen der meiji ishin nicht vorgezeichnetes Programm und von jedermann gebilligt waren. Ein wichtiger Aspekt fur das gesellschaftsverändernde Agieren vieler samurai ist wohl darin zu sehen, daß ihr Leben in seiner Gesamtheit dem feudalen Gesellschaftssystem, aus dem sie kamen, mehr und mehr entfremdet worden war: Als Angehörige der herrschenden Schicht im spätfeudalen Tokugawa-Japan waren die „Krieger" (bushi) weitgehend landlos, gingen sie vor allem einer verwaltungsbürokratischen Tätigkeit nach, entweder im Dienste der Zentralregierung oder der daimyö. Oft hatten sie Schwierigkeiten, sich selbst und ihre Familien von den in Reis entrichteten feststehenden Einkünften zu ernähren. Das Vasallenverhältnis hatte sich im Laufe der Jahrhunderte gelockert, viele niedere samurai waren gezwungen, ihr Leben zumindest teilweise durch Arbeit zu fristen, und ein nicht unbeträchtlicher Teil hatte seinen Herrn verloren und lebte als ronin (herrenlose samurai).30 Und auch die 258 daimyö, die 1867 existierten 31 , hatten nur eine indirekte Verbindung zum Hauptproduktionsmittel des Feudalsystems, dem Boden. Sie lebten von den festgesetzten Abgaben ihrer Untertanen. Als das neue Regime ihnen ihre Einkünfte auch weiterhin ungeschmälert garantierte, waren sie daher bereit, „Land und Untertanen" an den tennö abzutreten.
30 T.C. Smith verweist in seiner Arbeit „Japan's Aristocratic Revolution" vor allem auf 3 große Veränderungen der feudalen Kriegerkaste seit 1600, dem Beginn der Tokugawa-Herrschaft. Erstens: Veränderungen in ihrer Beziehung zum Land, die nur mehr administrativer Natur war; zweitens: Veränderungen in ihrer Beziehung zur politischen Macht, die bürokratischer Natur wurde; drittens: Veränderungen in ihrer Beziehung zu ihrem Herrn, die unpersönlichen und distanzierenden Charakter annahm, siehe: The Japan Reader. Bd. 1: Imperial Japan 1800-1945. Edited, annotated and with instructions by John Livingston, Joe Moore, and Felicia Oldfather. New York 1973, S. 95. 31 E. Papinot: Historical and geographical dictionary of Japan. Tokyo 1976, S. 830.
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Die Tatsache jedoch, daß das Bürgertum zu schwach war u n d feudale Kräfte die entscheidende Rolle in der gesellschaftlichen Umgestaltung spielten, zeichnet wesentlich dafür verantwortlich, daß sie unvollendet blieb, sich zahlreiche feudale Relikte erhielten und die Demokratie bis 1945 in Ansätzen steckenblieb. Der Hochadel bestand unter n e u e m N a m e n fort und behielt privilegierte Positionen in Politik und Gesellschaft. Es entwickelte sich bald ein enges Bündnis zwischen Aristokratie u n d entstehendem Großbürgertum; die Clane Chöshü und Satsuma beherrschten die Landespolitik bis z u m Ersten Weltkrieg, ehemalige samurai übten entscheidenden Einfluß auf Außenpolitik und Militär aus. So entstand insgesamt ein System mit nach innen besonders repressiven und nach außen aggressiven Merkmalen. Aufgeschlossen gegenüber den Fortschritten des überlegenen Auslandes und bedacht auf die Stärkung des eigenen Staates, begann indes ein umfassender Lernprozeß, eine bewußte Adaption ökonomischer, kultureller, militärischer, wissenschaftlicher Leistungen aus aller Welt, der Japan in wenigen Jahrzehnten zum wirtschaftlich und militärisch stärksten und staatsrechtlich fortgeschrittensten Land Asiens m a c h e n sollte.
4. Reformen und das Ende der samurai Als die bedeutendsten Persönlichkeiten, die die Richtung der n e u e n Politik formulierten und durchsetzten, gelten der Hofadlige Iwakura T o m o m i sowie die samurai der südwestlichen hart Saigö Takamori, Ökubo Toshimichi und Kido Takayoshi. Alle schmiedeten sie zuvor maßgeblich an der Anti-6a£w/«-Koalition Mitte der sechziger Jahre u n d hatten herausragenden Anteil am Sturz der Tokugawa. Iwakura Tomomi (1825-1883) nutzte seinen Einfluß am Kaiserhof, u m die Bewegung z u m Sturz des Schogunats nach Kräften zu fördern. Er knüpfte zu diesem Zweck zahlreiche Verbindungen und spann nicht wenige Intrigen. Man sagt ihm sogar nach, daß er am plötzlichen Tode des tennö Kömei (1831-1866, tennö seit 1847) wesentlichen Anteil gehabt habe. Offiziell verstarb der Vater des meiji tennö zwar an den Pocken, doch hielt sich in Kyoto lange Zeit das Gerücht von seiner Vergiftung auf Initiative des Iwakura, weil er sich nicht auf die Seite der Anti-öa/cw/u-Koalition gestellt habe. 3 2 G e m e i n s a m mit Ökubo bewog Iwakura den späteren meiji tennö zu dem geheimen Erlaß, das bakufu zu stürzen. Die Bildung der ersten kaiserlichen Regierung vom 3. Januar 1868 geht ebenfalls wesentlich auf seine Initiative zurück. In der n e u e n Regierung bekleidete er höchste Ämter, so ab 1871 das des udaijin („Minister zur Rechten"), das zweithöchste Amt nach dem Regierungschef innerhalb des i/a/o&an-Regierungssystems. 33 Von 1871 bis 1873 leitete er eine hochrangige Delegation (Iwakura-Mission) in die USA u n d zahlreiche Länder Europas, u m erste Verhandlungen zur Revision der ungleichen Verträge mit den Mächten zu f ü h r e n sowie
32 Rekishi tokuhon. Jg.23, Tokyo 1978, No.7: Besshü Nihon ansatsu hishi, S. 147; Gakunen no zukan. Nihon no rekishi. Kindai, gendai no hitobito. Hrg. Higuchi Kiyoyuki/Ueda Masa'aki. Tokyo 1973, S. 41. 33 Von der Mitte des 7. Jahrhunderts bis 1885 existierte in Japan das daj0kan-(auch daijökan-)Regierungssystem, das an seiner Spitze den dajö daijin als obersten Minister oder Großkanzler hatte, dem ein sadaijin („Minister zur Linken") und ein udaijin („Minister zur Rechten") als erster und zweiter Minister beigegeben waren.
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Wirtschaft und Politik dieser Länder zu studieren. Die Erkenntnisse, die diese Mission während der Reise gewann, prägten die weitere Modernisierung des Landes beträchtlich. Auf dieser Reise begleiteten Iwakura auch Ökubo und Kido. Ökubo Toshimichi (18321878) zählte zu denjenigen, die am klarsten die Rückständigkeit Japans erkannt hatten und am entschiedensten für dessen Modernisierung eintraten. Die Reise als stellvertretender Leiter der Iwakura-Mission verdeutlichte ihm sehr eindrucksvoll, daß Japan seine volle staatliche Souveränität nur dann zurückgewinnen sowie ein gleichberechtigter Partner unter den Mächten werden kann, wenn es seine Rückständigkeit überwindet. Um dieses Ziel zu erreichen, so schlußfolgerte er, sei eine starke Armee notwendig, die ihrerseits eine starke Wirtschaft voraussetzt. Mit Nachdruck trat er deshalb ein für eine Politik des ,fukoku kyohef (etwa: „Macht reich das Land und stark die Armee"), eine Devise, die der meiji-Regierung seit 1868 über Jahrzehnte hinweg als Leitmotiv diente. Ökubo gilt als der große Reformator auf ökonomischem Gebiet. Er ist der Initiator der Grundsteuerreform von 1873, der Modernisierung der Produktion, der Errichtung moderner staatlicher Unternehmen auf fast allen Gebieten der Wirtschaft. Möglicherweise prädestinierte ihn dazu der Umstand, daß er zwar einer niederen samurai-Famüie entstammte, sein Vater aber ursprünglich der Profession der Kaufleute zugehörte. Als Ratgeber des daimyö Shimazu von Satsuma hielt er bereits vor dem Sturz des bakufu enge Beziehungen zu Iwakura am kaiserlichen Hofe. Seine Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, vor allem aber sein energisches Vorgehen gegen die iamwraz'-Rebellionen in den siebziger Jahren, schufen ihm zahlreiche Feinde und führten am 14. Mai 1878 zu seiner Ermordung durch sieben ehemalige samurai. Kido Takayoshi (auch Takamasa oder Kö'in, 1833-1877) war der Initiator entscheidender administrativer Reformen. Einer niederen samurai-Familie aus Chöshü entstammend, trat er zunächst für die militärische Modernisierung seines han ein und wirkte für den Abschluß des Militärbündnisses Chöshü-Satsuma vom März 1866 gegen das bakufu. Neben ihrem Haß auf die Tokugawa wirkte für den Zusammenschluß der beiden zuvor verfeindeten han das gemeinsame Schicksal als Motiv, von den Fremden bestraft und gedemütigt worden zu sein (Beschießung von Kagoshima 1863 und Shimonoseki 1864), und die daraus resultierende Erkenntnis, von den Fremden zu lernen, um sie zu besiegen. Ihr Bündnis war nicht nur entscheidend für den Umsturzverlauf, Vertreter beider han hatten auch in den nachfolgenden Jahrzehnten eine beherrschende Stellung in der japanischen Gesellschaft inne. In der neuen Regierung arbeitete Kido u.a. maßgeblich an der Abschaffung der feudalen Fürstentümer als Voraussetzung für die Errichtung einer Zentralmacht, einer einheitlichen Leitung des Staates. Saigö Takamori (1827-1877) war der große Militärstratege und wohl eine der widersprüchlichsten Gestalten der mez/z'-Revolution überhaupt. Als Militärexperte des Satsumadaimyd war er der entscheidende Organisator des Anti-öafcw/w-Bündnisses zwischen Satsuma, Chöshü, Tosa und Hizen. Er gilt als der eigentliche Heerführer im boshin no sensö, der die „Armee zur Unterwerfung des Ostens" (töseigun) 1868 siegreich nach Edo und weiter führte. Später war er Befehlshaber der kaiserlichen Garde und wurde als kaiserlicher Ratgeber Mitglied der Regierung. Sein konservatives und wohl auch militärisch eingleisiges Denken brachte ihn indes bald in einen Gegensatz zur Regierung. Er verließ diese 1874 im Unfrieden, nachdem ein von ihm befürworteter Feldzug gegen Korea abgelehnt worden war, zog sich ins Privatleben nach Kagoshima zurück und führte 1877 unzufriedene samurai in den größten militärischen Aufstand gegen das neue Regime. In Saigö vereinen sich
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Fortschritt und Reaktion, Hoffnung und Enttäuschung der zum Untergang verurteilten feudalen Schicht der samurai, die von der Macht träumte, statt dessen aber ihre Einkünfte und Privilegien verlor. Es sei hier angemerkt, daß das gleiche Regime, das Saigö zu stürzen versucht hatte, ihm dennoch in Anerkennung seiner Verdienste fur die Erneuerung des Landes 1899 im Ueno-Park in Tokyo ein großes Standbild aus Bronze errichtete. Nicht kleinliche Rache wurde geübt, sondern historische Größe anerkannt. Ökubo, Kido und Saigö gelten als die „Drei Großen" der meiji ishiti: Ökubo auf ökonomischem, Kido auf administrativem, Saigö auf militärischem Gebiet. Ihre Namen stehen indes fur zahlreiche weitere fähige Politiker, die die meiji-Zeit hervorbrachte, allen voran Itö Hirobumi (1841-1909), Itagaki Taisuke (1837-1919), Gotö Shöjirö (1837-1897), Ökuma Shigenobu (1838-1922), Matsukata Masayoshi (1835-1924) und Yamagata Antonio (18381922). Alle entstammten niederen samwra/'-Familien des südwestlichen Japan, und alle waren zu Beginn der meiji-Zeit erst gut 30 Jahre alt. Sie leisteten in unterschiedlicher Weise Bedeutendes auf Japans Weg in die Moderne. Das Werk der Umgestaltung wurde schon bald von der neuen Regierung in Angriff genommen. Die Leitlinien ihrer Politik verkündete ein „Fünf-Artikel-Schwur" (gokajo no goseimon) des tenno vom 14. März 1868. Der von Kido Takayoshi verfaßte Schwur lautete: „1. Es sollen öffentliche Versammlungen einberufen und die öffentlichen Meinungen bei der Entscheidung aller Staatsangelegenheiten zu Rate gezogen werden. 2. Regierung und Untertanen sollen ihren Willen vereinen und eine Politik zum Erblühen des Staates durchführen. 3. Alle Untertanen, Zivilbeamte und Militärs bis hin zum einfachen Volk sollen ihr Bestes tun und nicht müde werden, die gestellten Ziele zu erreichen. 4. Überkommene schlechte Bräuche sollen beseitigt werden und alles soll auf den gerechten Wegen des Himmels und der Erde basieren. 5. Kenntnisse sollen in aller Welt gesammelt und so die Grundlagen des Kaiserreiches gefestigt werden." 34 Die 5 Artikel versprachen de facto mehr Demokratie für das Volk, mehr Mitbestimmung und die Einberufung einer Art Parlament (Artikel 1). Sie riefen alle Untertanen zu Loyalität und vereinten Anstrengungen zum Wohle des Landes auf (Artikel 2 und 3), kündeten grundlegende gesellschaftliche Reformen und eine neue Rechtsprechung an (4) und forderten, das Wissen der Welt für Japans rasche Entwicklung nutzbar zu machen. Mit dem Artikel 5 wurde zugleich das lange umstrittene Verhältnis zu den über Generationen hinweg als „Barbaren" verachteten Ausländern dahingehend entschieden, die Beziehungen zu ihnen zu entwickeln, um zum Wohle des eigenen Staates von ihnen zu lernen. Ein wichtiger Schritt zur politischen Modernisierung war die Bildung einer neuen Regierung am 11. Juni 1868. In Anlehnung an die Verfassung der USA fand erstmals in der japanischen Geschichte eine Teilung der drei Gewalten statt in Jurisdiktion durch die Schaffung einer Justizbehörde (keihokan), in Legislative durch die Berufung einer Art parlamentarischen gesetzgebenden Organs (giseikan), bestehend aus Mitgliedern der kaiserlichen Familie, des Hofadels, der daimyö und weiteren Vertretern der hart sowie in Exekutive in Gestalt von 5 Behörden für Verwaltung, Religion, Finanzen, Militär und 34 Shinhan Nihonshi shiryö. Hrg. Kiyomizu shoin henshübu, Tokyo 1981, S. 191; Unser Vaterland Japan. Ein Quellenbuch, geschrieben von Japanern. Leipzig 1904, S. 559; Die Geburt des modernen Japan in Augenzeugenberichten. Hrg. und eingeleitet von G.C. Schwebell. München 1981, S. 412.
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Auswärtige Angelegenheiten. Eine weitere Reform 1871 erhöhte die Anzahl der Behörden auf 9 (hinzu kamen die Ministerien fur den kaiserlichen Haushalt, für Bildung, Industrie, Justiz und Erschließung Hokkaidös), die als Exekutivorgane dem dajökan unterstanden. Dieses wiederum unterteilte sich in „Haupthaus" (sei'irt, auch shö'in), „linkes Haus" (sa'in) und „rechtes Haus" (u'in), wobei das zweite als Legislative und letzteres als Verbindungsorgan zwischen den Ministerien und dem „Haupthaus" fungierte. Die neue Regierungsstruktur, in der allerdings die personelle Besetzung der drei Gewalten oft Identität aufwies, dienten zum einen der Stärkung der Zentralgewalt, sie entsprachen aber auch der Forderung der ausländischen Mächte, in Japan umfassende politische und juristische Reformen als Voraussetzung für die Revision der ungleichen Verträge und die Herstellung gleichberechtigter Beziehungen durchzuführen. Alle Veränderungen im Regierungssystem aber bewegten sich noch bis Mitte der achtziger Jahre im traditionellen dajokan, was anzeigt, wie schwer und langwierig sich grundlegende Reformen durchsetzten. Eine wesentliche Maßnahme zur Festigung der Zentralgewalt bildete die Abschaffung der feudalen hart und die Errichtung von Präfekturen. Den Regierungsmitgliedern Kido aus Chöshü, Ökubo aus Satsuma, Itagaki aus Tosa und Ökuma aus Hizen gelang es 1869, die daimyö ihrer hart zu bewegen, „Boden und Menschen an den tennö zurückzugeben" und damit ihre Territorien der Zentralgewalt in Tökyö zu unterstellen. Man nennt diesen Akt in Japan hanseki hökan. Hanseki ist das Synonym für Land- und Bevölkerungsregister, hökan bedeutet Rückgabe an den tennö. Man übergab nach japanischem Rechtsverständnis dem tennö die Register für Boden und Bevölkerung der Territorien und damit zugleich auch die Oberhoheit über diese. „Das Land, in dem wir wohnen", so hieß es in dem Schreiben, „ist des Herrschers Land, das Volk, über das wir herrschen, ist sein Volk. Warum sollten sie uns gehören? Demütig geben wir darum jetzt unsere Lehen dem Herrscher zurück. ... Wir bitten a u c h , . . . daß alle Provinzen neu organisiert werden und alle... Gesetze... unter eine vereinte Kontrolle kommen mögen. Nur dann kann der tennö sich neben den fremden Mächten behaupten." 3 5 Die Behauptung gegenüber den Fremden bildete hier wie in allen entscheidenden Reformen das tragende Motiv. Dem Beispiel der mächtigen südwestlichen Clane folgten notgedrungen auch die anderen nach. Der tennö „gewährte gnädig" und ernannte die Fürsten zu Gouverneuren ihrer han (han chiji). Damit verblieb diesen innerhalb ihrer Territorien zwar noch beträchtlicher Einfluß, doch war ein erster Schritt zum einheitlich gelenkten Zentralstaat getan. Der zweite und entscheidende Schritt folgte 2 Jahre später. Am 29. August 1871 berief der Monarch 56 der einflußreichsten /?a«-Gouverneure zu sich und verkündete ihnen die Auflösung aller ehemaligen Daimyate sowie die Errichtung einheitlich geleiteter, insgesamt 305 Präfekturen (3 fu und 302 ken). Dieser Akt ist bekannt als haihan chiken. Mit dieser Maßnahme war die Abberufung aller bisherigen daimyö von ihren Gouverneursposten verbunden und ihre Residenzpflicht in Tökyö verfügt. An ihre Stelle traten Präfekten der Zentralregierung. Analog erfolgte die Auflösung der alten Territorialarmeen und die Übergabe der Waffen an die Zentralregierung. Der erwartete Widerstand blieb aus - sicher nicht nur aus reiner Loyalität zum tennö oder etwa aus Furcht vor der 10 000 Mann starken kaiserlichen Leibgarde, die zuvor im April 1871 unter dem Oberbefehl von Saigö aus samurai der han Chöshü, Satsuma und Tosa zur
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Hebung der Autorität des Kaisers geschaffen worden war. Entscheidend war wohl, daß die ehemaligen Territorialfursten Abfindungen in einer Höhe erhielten, die ihnen keinerlei materielle Einbußen brachten. Ja das neue Regime übernahm sogar noch deren Schulden. Zudem wurden sie gemeinsam mit dem Hofadel, den kuge, sämtlich in den 1869 neu geschaffenen Adelsstand der kazoku, die „prachtvollen Familien", erhoben und behielten damit eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft bei. Die Abschaffung der feudalen Territorialgebiete, der han, und die Errichtung von Präfekturen bedeuteten, daß die neue Regierung nunmehr das ganze Land politisch, ökonomisch, militärisch, juristisch und anderweitig unter ihre zentrale Kontrolle gebracht hatte. Die neue Macht aber mußte weiter gesichert werden, sowohl nach innen wie nach außen. Zu diesem Zweck erfolgte im Januar 1873 auf Vorschlag des Yamagata Aritomo aus dem Chöshü-/ia« eine Militärreform, die die allgemeine Wehrpflicht einführte. Das Gesetz (chöheirei) machte den Wehrdienst zur Pflicht für jedermann ab vollendetem 20. Lebensjahr für die Dauer von drei Jahren, unabhängig von seiner sozialen Herkunft. Befreit waren jedoch Staatsbeamte, Familienväter und der älteste Sohn sowie diejenigen, die 270 yen Befreiungsgebühr zahlten - für das einfache Volk eine astronomische Summe. Die Aufgabe der Armee bestand zunächst darin, die begonnene Umgestaltung gegen jeden Widerstand im Innern durchzusetzen, zugleich ausländischem Druck zu widerstehen und die nationale Integrität zu wahren. Insofern erscheint die Einführung der Wehrpflicht unverzichtbar. Sie hatte indes auch nicht beabsichtigte schwerwiegende soziale Folgen. Der großen Masse der bushi nahm sie ihr jahrhundertealtes Privileg, allein Waffen zu tragen und Kriege zu führen. Das trug dazu bei, deren Opposition zum neuen Regime weiter zu steigern. Doch auferlegte sie auch den Bauern bedeutende Opfer, so daß es von deren Seite zu zahlreichen Erhebungen gegen die Wehrpflicht kam. Die mey/'-Regierung beseitigte ab 1869 schrittweise auch die bisherige feudale Ständeordnung. An die Stelle der traditionellen Rangfolge Krieger - Bauer - Handwerker - Händler, shi-nö-kö-shö, der Edo-Zeit trat die vereinfachende soziale Einteilung in Adel und Volk. Zunächst erfolgte 1869 die Bildung dreier neuer Adelsränge für die bisherige herrschende Klasse. Für den Hofadel und die daimyö schuf man den erwähnten Rang der kazoku. Deren ehemalige Gefolgsleute, die samurai, wurden zu shizoku, „Kriegerfamilien", ernannt, und für die unteren samurai, die ashigaru, schuf man den Stand der sotsuzoku, „Soldatenfamilien". Letzterer wurde bereits 1872 wieder abgeschafft, seine Mitglieder stiegen entweder zu den shizoku auf oder aber - und das war die Mehrzahl - ins gewöhnliche Volk ab. Die im Feudalismus streng voneinander abgegrenzten drei sozialen Klassen und Schichten Bauern, Handwerker und Händler bildeten ab 1870 die heimin, das „gemeine Volk". Auch die in der feudalen Zeit außerhalb der Gesellschaft stehenden Paria eta und hinin wurden 1871 als sozial diskriminierte Schichten juristisch abgeschafft und dem einfachen Volk de jure gleichgestellt. Die eta bildeten seit Jahrhunderten eine in Ghettos lebende Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige Tätigkeiten nachgingen, die aus religiöser Sicht „schmutzig" waren, so das Töten von Tieren und deren Verarbeitung (etwa als Abdecker oder Gerberer). Sie durften nicht die Wohnungen normaler Japaner betreten. Noch unter diesen standen die hinin, die „Nichtmenschen", im allgemeinen Bettler, deren Tötung durch die Hand eines samurai noch in der Tokugawa-Zeit nicht als Verbrechen galt. 1871 zählte man bei gut 33 Millionen Einwohnern knapp eine Million eta und hinin. Ihre formal-juristische Gleichstellung per Erlaß von 1871 führte indes nicht zu deren wirklicher Befreiung. Noch heute trifft man auf
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sogenannte buraku, ghettoähnliche Ansiedlungen, in denen die Nachkommen der einst aus der Gesellschaft Ausgestoßenen ein isoliertes Leben fuhren. Tabelle 1: Bevölkerungsstruktur 1873 sozialer Stand
Personenzahl
Anteil (%)
heimin kazoku shizoku sotsuzoku Mönche und Nonnen •sfti'nfo-Priester unbekannt
31106514 2829 1548568 343881 66995 79499 150000
93,41 0,01 4,65 1,03 0,20 0.24 0,45
Quelle: Shiryö ni yoru Nihon no ayumi. Tokyo 1959, Bd.4, S. 41 f.
Verboten wurde per Dekret vom Oktober 1872 auch die zwangsweise Prostitution. Menschenrechte wurden gewährt wie das Recht, Familiennamen zu führen, bis dahin allein ein Privileg der samurai, oder die Freiheit der Wahl des Wohnortes und des Berufes bzw. der Tätigkeit - eine wesentliche Vorbedingung für die industrielle Entwicklung. Erlaubt wurde nunmehr auch die Heirat zwischen Angehörigen unterschiedlicher sozialer Klassen und Schichten. Mit der „Rückgabe der han an den tennö" hatte der Staat die Zahlung aller erblichen Zuwendungen an die iamwraz'-Familien mit übernommen. Das waren beträchtliche Ausgaben, denn immerhin zählte man zu diesem Zeitpunkt etwa 400 000 samurai-Haushalte mit 2 Millionen Personen. Der finanzielle Druck auf den Staatsetat wurde immer unerträglicher. Die Pensionen allein verschlangen ein Drittel bis zur Hälfte der Staatseinnahmen. Eine Lösung mußte gefunden werden. Sie erfolgte 1876 dahingehend, daß die Regierung alle überkommenen erblichen oder für besondere Verdienste lebenslänglich verliehenen Pensionen (etwa um die meiji ishin), die noch immer in Reis berechnet wurden, aufkaufte. Grundlage bildete der Durchschnittspreis für Reis aus den vorangegangenen drei Jahren. Die zu diesem Zeitpunkt 484 Angehörigen der kazoku erhielten im Schnitt 60 000 yen, die shizoku 555.36 Die Zahlung erfolgte in Form von staatlichen Schuldverschreibungen mit 5-7 Prozent Zinsen im Jahr. Die Masse der ehemaligen samurai konnte davon nicht leben und verarmte. Diese Maßnahme kam de facto ihrer endgültigen Liquidierung als soziale Schicht gleich und erzwang ihre ökonomische Einbeziehung in die neue gesellschaftliche Entwicklung. Als Polizisten, Lehrer, Angestellte, Bauern oder auch Arbeiter mußten sie nunmehr ihren Lebensunterhalt verdienen. Als 1878 das Verkaufsverbot für die von der Regierung erhaltenen Anleihepapiere aufgehoben wurde, veräußerten die meisten diese, um ihre Schulden oder zumindest einen Teil davon zu begleichen, und es blieb ihnen nichts mehr. Anders hingegen entwickelte sich die Situation beim Hochadel. 1880 befanden sich 36 Nihon shihonshugi hattatsushi no kiso chishiki. Hrg. Ö'ishi Ka'ichirö/Miyamoto Ken'ichi. Tokyo 1975, S. 96. Die Unterschiede waren im Einzelnen beträchtlich. So erhielt der daimyö von Satsuma, Shimazu Tadayoshi, über 1,3 Millionen yen; ein beträchtlicher Teil der niederen samurai aber bekam nicht einmal 25 yen. Nihon kokushi daijiten (chitsuroko kösai).
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42 Prozent aller Bankaktien des Landes im Besitz der kazoku, womit sie sich aus ehemaligen feudalen Territorialherren und Hofadligen zu mächtigen Aktienbesitzern entwickelt hatten. Ihr Kapital legten sie weitgehend in der entstehenden Industrie an, was den historischen Kompromiß zwischen Adel und Bürgertum auf natürliche Weise förderte. Zeitgleich zu all diesen Maßnahmen kam es zu einschneidenden wirtschaftlichen Reformen. Zunächst ging es der Regierung darum, ihre finanziellen Einnahmen aufzustokken, um die eigene materielle Basis zu stabilisieren. Zur Erhöhung der Einkommenssteuer beseitigte sie u.a. 1871 die Anbaubeschränkungen in der Landwirtschaft und hob im März 1872 das aus dem Jahre 1643 stammende „Ewige Verbot des Bodenan- und -Verkaufs" (tahata eidai baibai kinshirei) auf. Einen noch wichtigeren Platz nahm jedoch die Grundsteuerreform (chiso kaisei) vom 28. Juni 1873 ein. An die Stelle der bislang zu entrichtenden Naturalsteuer, die von der Höhe des Ernteertrages abhing, trat eine Geldsteuer, die 3 Prozent des Bodenpreises ausmachte. Überdies wurden die wichtigsten Steuern im ganzen Land vereinheitlicht, und die me(/7-Regierung verfugte fortan über exakt kalkulierbare, vom Ernteertrag unanbhängige Einnahmen. Mit den Reformen zugleich wurden das Recht des Bauern auf privaten Bodenbesitz anerkannt und der feudale Grundbesitz abgeschafft. Welch weitreichende ökonomische Bedeutung die Grundsteuerreform hatte, sollen einige Zahlen veranschaulichen. 1868, zu Beginn der meiji-Zeit, machten die Einkünfte des Staates aus dieser Quelle erst 6,1 Prozent aus, 1873 aber bereits 70,9. In diesen fünf Jahren wuchsen die staatlichen Einnahmen aus der Bodensteuer nicht nur anteilig, sondern auch absolut auf das 30fache, von 2 auf 60 Millionen yen. Noch Mitte der achtziger Jahre kamen über die Hälfte der Etateinkünfte aus dieser Quelle. 37 Somit stammten die finanziellen Mittel zur Modernisierung des Landes, einschließlich des industriellen Aufbaus, aus der Landwirtschaft. Als wichtige Maßnahme nicht nur zur Sanierung der Finanzen, sondern für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung erwies sich ferner die Einrichtung staatlicher Banken, angefangen mit der Daiichi Kokuritsu Ginko 1873. Zuvor war 1871 ein neues Währungssystem eingeführt worden. An die Stelle des ryö trat der yen38, unterteilt in sen (100 sen = 1 yen) und rin (10 rin = 1 sen). Ursprünglich als Goldwährung aufgebaut, wandelte sich diese 1878 in eine Silberwährung, weil zuviel Gold das Land verließ. Als erste Privatbank erblickte die Mitsui Ginkö 1876 das Licht der Welt. Große Anstrengungen unternahm die Regierung auch zur Modernisierung, ja Revolutionierung des Verkehrs- und Nachrichtenwesens. Zwischen Tökyö und Yokohama wurde 1869 der Telegraphendienst aufgenommen, der sich 1874 bereits von der Hauptstadt bis nach Nagasaki erstreckte. 1871 wurde der Postverkehr Tokyo - Osaka - Kyoto eröffnet, den damals wichtigsten Zentren von Wirtschaft, Politik und Kultur. Und ein Jahr später, am 14. Oktober 1872, erfolgte die feierliche Einweihung der ersten japanischen Eisenbahnlinie. Die Strecke führte vom Bahnhof Shimbashi in Tökyö nach Sakuragichö in Yokohama. Erbaut war sie mit englischer Technik und englischen Anleihen. In den Städten selbst aber 37 Ebenda, S. 7. Anteilig an den Steuereinnahmen machten die Bodensteuern 1873 93, 1878 79 und 1883 noch 64 % aus. Vgl. Öno Shinji/Kadowaki Teiji: Chätoshiki shirizu shin-Nihonshi. Tokyo 1974, S. 306. 38 Der yen hatte damals einen Wert von etwa 4,20 Mark. Siehe J. J. Rein: Japan nach Reisen und Studien. Zweiter Band: Land- und Forstwirtschaft, Industrie und Handel. Leipzig 1886, S. 596.
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blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein die 1869 erstmals gebaute Rikscha (rikisha, eigentlich jinrikisha, d.i. „Menschenkraftwagen") das verbreitetste Verkehrsmittel. Die Regierung initiierte auch entscheidend die industrielle Entwicklung. Sie importierte sowohl die neueste Technik, heuerte aber auch Spezialisten der verschiedensten Fachbereiche aus Europa und den USA an und ließ auf Staatskosten zahlreiche Musterbetriebe errichten. Die industrielle Pioniertätigkeit der Regierung reichte vom Bau bedeutender Rüstungsbetriebe wie der Artillerie-Arsenale in Tokyo und Osaka, der Schiffswerften von Yokosuka, Nagasaki oder Hyögo, über den Aufbau moderner Seiden- und Baumwollspinnereien bis hin zur Einrichtung von Unternehmen und Schulen für die Landwirtschaft. Sie förderte nicht zuletzt die Gewinnung von Neuland, darunter die systematische Erschließung von Hokkaidö. Während dieses mit zahlreichen sozialen Spannungen und Gegensätzen verbundenen stürmischen Entwicklungsprozesses vollzog sich im Innern eine Konzentration der politischen Macht in Gestalt einer hambatsu kantyö oder „Clanscliquen-Bürokratie". Ursprünglich war 1868 eine relativ breit gefächerte Regierung gebildet worden, die in etwa das Bündnis gegen die Tokugawa widerspiegelte und ein gewisses politisches Gleichgewicht wahren sollte. Doch bald wurden seinerzeit aufgenommene Prinzen, Hofadlige und daimyö entfernt, und etwa ab der Zeit des haihan chiken 1871 formierte sich eine Regierung, die fast ausschließlich aus fähigen Persönlichkeiten der ehemaligen 4 südwestlichen Clane Chöshü, Satsuma, Hizen und Tosa bestand. Im Streit um den Koreafeldzug 1873 begann diese politische Kräftekonstellation zu zerfallen, und es profilierte sich über die herausragenden Politiker Kido Takayoshi aus Chöshü und Ökubo Toshimichi aus Satsuma sowie deren unmittelbare Nachfolger Itö Hirobumi (Chöshü), Matsukata Masayoshi (Satsuma) und Inoue Kaoru (Chöshü) bis Anfang der achtziger Jahre eine politische Dominanz der beiden hambatsu Chöshü und Satsuma heraus, die die japanische Politik dann über Jahrzehnte hinweg bis zum Ersten Weltkrieg bestimmten.
5. Oppositionelle Bewegungen. Bauernaufstände, s/j/zo/cw-Erhebungen, jiyü minken undö Wie bei allen tiefgreifenden Wandlungen in der Gesellschaft, so hatte auch die meiji-Revolution nicht nur Befürworter. Die Ursachen der oppositionellen Bewegungen lagen zunächst in einschneidenden Veränderungen des sozialen Status der einzelnen Klassen und Schichten des Volkes, die die grundlegenden Reformen mit sich gebracht hatten. Für die Masse erhöhte sich die soziale Unsicherheit. Die von den Bauern zu entrichtenden Abgaben und Leistungen blieben sehr hoch, der starken Schicht der samurai wurden gewohnte Rechte und Privilegien genommen, neue, oft unverstandene Gesetze mußten befolgt werden. Unzufriedenheit mit der fortschreitenden Machtusurpation durch die Clane Chöshü und Satsuma bildete eine weitere wichtige Quelle der Auflehnung, und drittens muß man berücksichtigen, daß mit der Modernisierung zugleich zahlreiche neue, progressive Ideen in das fernöstliche Inselreich drangen, durch die sich der politische Horizont seiner Bewohner erweiterte, demokratische und liberale Forderungen an die Entwicklung im Lande zunahmen. Auf dem Lande veränderten sich durch die Aufhebung des Bodenan- und -verkaufsverbotes, durch die Anerkennung des Privatbesitzes an Grund und Boden, die Aufhebung der
Oppositionelle Bewegungen. Bauernaufstände, shizoku-Erhcbungen,
jiyü minken
undö
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Anbaubeschränkungen in der Landwirtschaft sowie durch die Abschaffung der Naturalsteuer zwar die bisherigen Besitz- und Produktionsverhältnisse, nicht jedoch das schwere Los der erdrückenden Mehrheit der Bauern. Die Hoffnung, daß sich mit dem Sturz des feudalen Tokugawa-Regimes ihr Leben verbessern werde, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil ruinierte die neue, in Geld zu entrichtende Bodensteuer viele von ihnen. Anders als in der Edo-Zeit, in der für die zu leistenden Abgaben das Dorf gegenüber dem daimyö verantwortlich zeichnete, und für jeden einzelnen eine Gruppenhaftung existierte (goningumiSystem), war nunmehr allein der Bodeneigentümer fur die Entrichtung der Steuer verantwortlich, und es gab keine Stundung derselben. Die Steuern betrugen unabhängig vom Ernteergebnis drei Prozent des Bodenpreises, was in den 1870er Jahren real etwa 30 Prozent der bäuerlichen Ernte gleichkam. 39 Sie wurden selbst bei Mißernten notfalls gewaltsam eingetrieben. Der Bauer, der nicht zahlen konnte, mußte sich entweder bei Wucherern, Grundbesitzern oder anderen Geld leihen oder aber seinen Boden verkaufen und als Pächter arbeiten bzw. in die Stadt abwandern und dort ein Gewerbe suchen. Unter diesen Bedingungen breitete sich das Grundbesitzer-Pächter-System rasch aus. Während der Grundbesitzer (jinushi) die dreiprozentige Bodensteuer entrichtete, forderte er von seinem Pächter bis zu 50 Prozent der Ernte in Naturalien. Stiegen die Preise für landwirtschaftliche Produkte - und das war namentlich in den siebziger Jahren so - dann stiegen auch seine Einnahmen, da die Bodensteuer unverändert blieb. Mit dem Reingewinn kaufte er Boden hinzu und ließ weitere Pächter für sich arbeiten. Dadurch verdoppelte sich bis Anfang der achtziger Jahre der Anteil der Grundbesitzer am Ertrag der landwirtschaftlichen Produktion gegenüber dem Ende der Tokugawa-Zeit. Der Gewinnanteil der Pächter hingegen sank. So waren die Grundbesitzer die eigentlichen Gewinner der Bodenreform. Tabelle 2: Veränderungen am Anteil des Ertrags der landwirtschaftlichen Produktion
Pächter Staat Grundbesitzer
Tokugawa-Zeit
1873
1878-1883
35% 37% 28%
32% 34% 34%
32% 10% 58%
Quelle: Öno Shinji/Kodawaki Teiji, S. 306
Die kleinen Bauern und Pächter wehrten sich gegen die zunehmende Ausbeutung in zahlreichen Erhebungen. In den ersten 10 Jahren meiji, d.h. von 1868 bis 1878, registrierte man gut 500 Unruhen auf dem Lande. Inhalt und Charakter derselben waren oft recht widersprüchlich. In ihnen äußerte sich objektiv sowohl gesellschaftliches Vorwärtsdrängen als auch Beharren am Alten, sie waren Kämpfe für eine soziale Besserstellung einerseits, sie bildeten nicht selten aber auch Opposition gegen progressive Maßnahmen andererseits. Verzweiflung, Unwissenheit und das Verhaftetsein an überlebten Traditonen machten die Bauern leicht zu Opfern von Gerüchten und auch mißbrauchten Mitläufern politischer Hasardeure. So forderten sie in einigen Aufständen die Rücknahme selbst solcher Refor-
39 A n n Waswo: T h e transformation of rural society, 1900-1950. In: T h e Cambridge History of Japan. Vol. 6, S. 543.
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men wie die Einführung des gregorianischen Kalenders, die Legalisierung des Christentums, die Emanzipation der sozial diskriminierten eta, die Errichtung staatlicher Schulen oder gar die Numerierung der Häuser. Viele Bauern glaubten ζ. B. Gerüchten, wonach die Numerierung der Häuser nicht etwa ein Mittel zur besseren Verwaltung, sondern die Vorbereitung zur Entführung ihrer Frauen und Töchter bedeute. Dieses nahezu banale Beispiel demonstriert, wie unsicher und unruhig jene Zeiten waren, wie mißtrauisch man der neuen Administration vielfach begegnete und wie leicht die unsinnigsten Gerüchte ihre Anhänger unter oft verzweifelten Menschen fanden. Gegen die Schulpflicht wandten sich die Landbewohner u. a. deshalb, weil die Unkosten für den Bau und Unterhalt der pädagogischen Einrichtungen, einschließlich der Bezahlung der Lehrkräfte, von der örtlichen Bevölkerung getragen werden mußten und zudem die Kinder während der Schulzeit als Arbeitskräfte ausfielen. Die meisten Erhebungen wandten sich indes gegen die Last der Steuerreform, aber auch gegen das Wehrpflichtgesetz, da es dem Landmann für drei Jahre unentgeltlich wertvolle Arbeitskraft entzog. Sie richteten sich nicht selten direkt gegen die von der Regierung eingesetzten Beamten als die Vollstrecker dieser Maßnahmen. Tabelle 3: Bauemunruhen 1868-1879 Jahr
Anzahl
Jahr
Anzahl
Jahr
Anzahl
1868 1869 1870 1871
87 113 68 52
1872 1873 1874 1875
30 56 21 19
1876 1877 1878 1879
28 49 15 47
Quelle: Köza Nihonshi, Bd.5, Tokyo 1970, S. 286
Ein bedeutender Unruheherd war der Südwesten des Landes. Hier erreichte der Kampf der Volksmassen 1873 die größten Ausmaße seit dem Ende der Tokugawa-Zeit. Ein Aufstand Ende Mai in der Präfektur Okayama, an der japanischen Inlandsee gelegen, richtete sich punktuell gegen das Wehrpflichtgesetz und die Schulpflicht. 46 Grundschulen und 150 Häuser wurden zerstört. Im Juni griff die Bewegung auf die Nachbarpräfekturen Tottori, Hiroshima und Shimane über. Im selben Monat kam es in 130 Dörfern der Präfektur Kagawa auf der Insel Shikoku zu Erhebungen gegen das Wehrpflichtgesetz, wobei ca. 600 Häuser zerstört wurden. Zwar ist die Zahl der Teilnehmer nicht bekannt, doch die der anschließend Bestraften: In Okayama waren es 26000, in Tottori 19000, in Kagawa 20000. Ebenfalls im Juni erhoben sich im Gebiet Fukuoka auf Kyüshü acht Tage lang ca. 100 000 Landbewohner gegen die Erhöhung der Reispreise, wobei sie etwa 4600 Häuser der Händler, Wucherer, Dorfbeamten und Reichen niederrissen, 43 Bürgermeistereien in Brand setzten und 29 Grundschulen zerstörten. Auch diese Erhebung wurde blutig niedergeschlagen, bestraft wurden 63 OOO.40 Die wenigen Beispiele deuten den verzweifelten Widerstand auf dem Lande gegen die erdrückenden Lasten durch den Staat, gegen die Grundbesitzer und Wucherer an. Die Bauern setzten sich zur Wehr gegen den Beginn eines qualvollen Entwicklungsprozesses, in
40 Katö Bunzo, Sato Nobuo, Nishimura Hiroko u.a.: Nihon rekishi. Bd. 2. Tökyö 1981, S. 55.
Oppositionelle Bewegungen. Bauernaufstände, s/i/zofa-Erhebungen, jiyü minkert undo
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dessen Verlauf mehr und mehr von ihrem Grund und Boden verdrängt und zu billigen Lohnarbeitern für die sich herausbildende Industrie wurden. Einen zweiten Unruheherd bildeten die ehemaligen samurai, die shizoku, von denen Teile ab Mitte der siebziger Jahre zu den Waffen griffen und in sogenannten shizokuAufständen {shizoku no ran) offen gegen den Staat rebellierten. Die Träger dieser Bewegung kamen im wesentlichen aus den gleichen sozialen Kreisen, die das Tokugawa-bakufu gestürzt und das neue Regime an die Macht gehoben hatten. Sie fanden Parteigänger selbst unter Hofadligen und Regierungsbeamten. Die Hoffnung der großen Masse des niederen Adels, mit dem Sturz des alten Regimes eine Verbesserung der eigenen sozialen Stellung zu erreichen, hatte sich in keiner Weise erfüllt. Im Gegenteil verloren sie nicht nur ihre privilegierte Stellung in der Gesellschaft, sondern zumeist auch die materielle Grundlage ihres Lebens. Sie lehnten sich dagegen auf, als eine unproduktive und überlebte feudale Schicht ins gesellschaftliche Abseits gestellt zu werden. Verhängnisvolle Entscheidungen diesbezüglich waren für sie die Einfuhrung der allgemeinen Wehrpflicht 1873, die Kürzung und nachfolgende Streichung der erblichen Pensionen und deren Ersetzung durch verzinsbare Staatsobligationen, oder aber auch das Verbot, Schwerter zu tragen - ihr jahrhundertealtes Vorrecht und Statussymbol. Motiv oppositionellen Handelns war für viele aber auch konservatives Beharren gegenüber drohender „Verwestlichung", die mit der Modernisierung des Landes zwangsläufig einherging. Immerhin hatten zahlreiche samurai an der jö'i undo, der Bewegung zur Vertreibung der gewaltsam ins Land gedrungenen Fremden teilgenommen. Der Haß gegen die „Barbaren" saß bei vielen noch immer tief. Höhepunkt des bewaffneten Widerstandes waren die Jahre 1874 bis 1877. An der Spitze der s/i/zofcM-Erhebungen standen zumeist ehemalige Mitglieder der neuen Regierung wie Etö Shimpei (1872/73 Justizminister), der 1874 den Saga-Aufstand (Saga no ran) befehligte, Maebara Issei (1869 Regierungsrat und stellvertrender Minister für Militärwesen), der 1876 den Aufstand von Hagi (Hagi no ran) in der Präfektur Yamaguchi führte, oder Saigö Takamori, der Feldherr des seinan sensö 1877 auf Kyüshü. Sie alle waren zuvor aus Protest gegen die offizielle Politik aus der Regierung ausgetreten. Weitere bewaffnete Unruhen unzufriedener shizoku waren der shimpüren no ran, der „Aufstand der Götterwind-Koalition", in Kumamoto oder der Akizuki no ran im einstigen Akizuki-Λα« in der heutigen Präfektur Fukuoka, beide 1876. Zur Niederwerfung derselben setzte die Regierung die neu geschaffene Wehrpflichtigen-Armee ein, und anfangs, beim Saga no ran, führte diese der mächtige Regierungsrat Ökubo persönlich. Dabei bemühte er sich erfolgreich, eine Vereinigung des oppositionellen Kriegeradels im Süden Japans zu verhindern, die für die Regierung böse Folgen hätte haben können. Diesem Zweck diente auch das Versprechen, eine Militärexpedition gegen Taiwan zu unternehmen, mit deren Führung man geschickt Saigö Tsugumichi, den Bruder des bei den shizoku hoch angesehenen Saigö Takamori, betraute. 41 Den Vorschlag dafür unterbreitete Ökubo der Regierung zusammen mit dem ebenfalls zur Niederschlagung der Revolte nach Kyüshü entsandten Regierungsrat Ökuma Shigenobu nur zwei Tage nach dem Ausbruch derselben. Die meisten Rebellionen fanden im Südwesten Japans statt, in jenen ehemaligen han, die die entscheidende Rolle in der meiji ishin gespielt hatten. Hier war der Kriegeradel noch am 41 Der damalige deutsche Gesandte in Japan schrieb, es sei sogar die Rede davon gewesen, „daß man die Nichtbeteiligung der Satsumaner durch das Versprechen eines Feldzuges gegen Korea erkauft habe". Max von Brandt, Dreiunddreißig Jahre in Ostasien, Bd. 2, S. 302.
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Der Aufbruch in die Moderne
besten organisiert, hier gab es aber auch die wohl größte Enttäuschung über die Entwicklung. Immerhin regierten in Tokyo Vertreter ihrer Clane, und entsprechend hoch waren ihre Erwartungen und letztlich auch ihre Ernüchterung. Der bedeutendste dieser Aufstände war der „Südwestkrieg" (seinan sensö, auch seinan no eki) von 1877. Seinen Namen erhielt er, weil er in Südwestjapan stattfand. An ihm beteiligten sich etwa 40000 Aufständische 42 , darunter ca. 13000 aus der „Privatschule" (shigakkö) des Saigö Takamori, die dieser nach seinem Regierungsaustritt im Juni 1874 in Kagoshima gegründet hatte. Hier in Kagoshima war der Einfluß der Regierung schwach, der Saigös dominierte. Weder die Bodensteuerreform noch die Wehrpflicht waren befolgt worden. J. J. Rein, der 1874/75 im Auftrage der preußischen Regierung eine Studienreise durch Japan machte, konstatierte damals, daß Saigö mit seinen Anhängern „eine Macht (darstellte), die selbst Öyama, den (von der Regierung ernannten) Gouverneur, lenkte und alle Stellen des Gouvernements innehatte, und auf welche die Zentralregierung in Tokio ohne allen Einfluß war".43 Der Südwestkrieg begann am 30. Januar und dauerte bis zum 24. September 1877. Das Kampfgebiet befand sich zwischen Kagoshima und Kumamoto auf Kyüshü. Nach anfanglichen Erfolgen der von Saigö geführten Aufständischen gelang es den auf dem Seewege ständig verstärkten Regierungstruppen den Gang der Ereignisse zu diktieren. Nach heftigen Kämpfen wurde Saigö, der von Kagoshima bis nach Kumamoto vorgedrungen war und der dortigen Garnison erbitterte Gefechte geliefert hatte, wieder zum Ausgangspunkt zurückgedrängt und entscheidend geschlagen. Er selbst wurde verwundet und beging am 24. September harakiri. Der seinan sensö war in mehrfacher Hinsicht von historischer Tragweite. Zunächst markiert er die letzte bewaffnete Erhebung gegen das neue Regime. Die m